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Von
Mariana Sacher
asdfghjk
Duncker & Humblot · Berlin
MARIANA SACHER
Band 172
Sonderwissen und Sonderfähigkeiten
in der Lehre vom Straftatbestand
Von
Mariana Sacher
asdfghjk
Duncker & Humblot · Berlin
Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von
Professor Dr. Dr. h.c. Bernd Schünemann, München
D 19
aa) Vorsatzdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
(1) Standardwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
(2) Sonderwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
(3) Absicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
bb) Fahrlässigkeitsdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
3. Zwischenbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
V. Die Handlungsfreiräume im Rahmen einer gesellschaftsfunktiona-
len Sicht des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
1. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
2. Für das Sonderwissen relevante Konsequenzen einer systembe-
zogenen Strafrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
a) Rollen und Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
bb) Rollentheorie und Sonderwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
cc) Rollentheorie vs. Rechtsgüterschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
dd) Rollentheorie und tatsächliche Gesellschaftsstruktur . . . 105
b) Eine „objektive“ und „subjektive“ Seite der Straftat? . . . . . . 108
aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
bb) Die „objektive Seite“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
cc) Keine „subjektive Seite“, sondern „personale“ Zurech-
nung (i. S. von Maske oder Rolle) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
c) Zurechnung gleich für Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikte . . 114
d) Bestimmung des erlaubten Risikos aufgrund „historischer
Legitimation“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
D. Kritik aus dem Spätfinalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
I. Das Subjektive als Beurteilungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
II. Mangel des Spätfinalismus an rechtlichen Kriterien . . . . . . . . . . . . . . 118
III. Differenzierung des objektiven Tatbestandes der Vorsatz- und Fahr-
lässigkeitsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
E. Generalisierung beim Vorsatzdelikt und Individualisierung beim Fahrläs-
sigkeitsdelikt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
F. Differenzierung der Zurechnungskriterien für Vorsatz- und Fahrlässig-
keitsdelikte in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
I. Die zwei (gegensätzlichen) Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
II. Untergrenzen strafbaren Verhaltens höher beim Fahrlässigkeits- als
beim Vorsatzdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
III. Untergrenzen strafbaren Verhaltens niedriger beim Fahrlässigkeits-
als beim Vorsatzdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
G. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
§ 4 Rechtsgüterschutz und strafrechtsfreier Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
A. Strafrecht und Rechtsgüterschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
B. Interessenabwägung zwischen Handlungsfreiheit und Rechtsgüterschutz 143
C. Die Interessenabwägung gegenüber der Figur des einsichtigen Menschen 153
Inhaltsverzeichnis 11
II. Entstehung von Sorgfaltsregeln für die Allgemeinheit aus den Son-
derfähigkeiten des einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
III. Sonderfähigkeiten des einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
§ 7 Resumée . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
A. Problemdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
B. Zusammenfassende Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
I. Sonderwissen als materielles, nicht nur systematisches Problem . . . 277
II. Rechtsgüterschutz und strafrechtsfreier Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
III. Besonderheiten beim Vorsatzdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
IV. Kategorien zur Begründung der strafrechtlichen Relevanz . . . . . . . . . 280
1. Einstellung gegenüber der Rechtsgutsverletzung beim dolus
eventualis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
2. Sorgfaltswidrigkeit bei der Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
V. Relevanz des Sonderwissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
VI. Die sekundäre Frage der Unrechtssystematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
VII. Ablehnung anderer Zurechnungskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
VIII. Sonderfähigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
Einleitung und Problemdarstellung
Die Problematik der Sonderkenntnisse und Sonderfähigkeiten des Täters über
Umstände des objektiven Straftatbestandes bzw. zur Erfolgsvermeidung wurde
vor allem ab den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts bezüglich der Fahrlässig-
keitsdelikte in der deutschen Literatur ausführlich debattiert und erörtert. Aller-
dings waren diese Begriffe und das Problem selbst bereits mit der Entstehung
des Adäquanzprinzips als objektives Kriterium strafbaren Verhaltens im 19.
Jahrhundert bekannt. Damals hatte man nämlich auf die allgemeine Lebenser-
fahrung vom Standpunkt eines einsichtigen Menschen zurückgegriffen, um die
strafrechtliche Relevanz der Kausalfaktoren zu beurteilen. Die objektive Maß-
figur war mit etwaigen Sonderkenntnissen des Täters zu ergänzen, so daß die
rein subjektiven Merkmale neben dem objektiven Maßstab der für maßgebend
erklärten Modellperson bzw. die allgemeinen Erfahrungsregeln in die objektive
Adäquanzformel eingefügt wurden. Die Sonderkenntnisse und Sonderfähigkei-
ten bekamen aber erst später eine besondere Relevanz für die Verbrechenslehre,
und zwar mit der Annahme der h. M. eines generell-objektiven Sorgfaltsmaß-
stabs für die Fahrlässigkeitsdelikte, der prinzipiell für alle Normadressaten glei-
chermaßen anzuwenden sein soll.1 Spezielle Sorgfaltsregeln für Subjekte, die
entweder besondere Kenntnisse über die Tatumstände oder eine größere Befähi-
gung zur Vermeidung des Erfolges haben, mußten danach allmählich die Aus-
nahme bilden. Die Fahrlässigkeit wird nämlich seitdem von der heute überwie-
genden Ansicht als das Außerachtlassen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt
definiert,2 und die „objektive Sorgfaltspflichtverletzung“ gilt mit unterschiedli-
chen Nuancen, sei es neben der Erkennbarkeit der Gefahr oder/und des erlaub-
ten Risikos,3 als Kriterium zur inhaltlichen Ausfüllung des Fahrlässigkeitsbe-
griffs. Die herkömmliche Fahrlässigkeitslehre hat sich also für den generellen
Sorgfaltsmaßstab entschieden, wobei die Komponenten der Fahrlässigkeit frei-
lich verschieden gewichtet und unterschiedlich zueinander in Beziehung gestellt
werden. Ferner gilt die Bezugsperson des einsichtigen,4 vernünftigen,5 ordent-
lichen, besonnenen und gewissenhaften6 oder durchschnittlichen7 Angehörigen
des jeweiligen Verkehrskreises in der konkreten Lage und der sozialen Rolle
des Betreffenden8 nach der herrschenden Lehre und Rechtsprechung als Orien-
tierung für die Bestimmung der Sorgfaltswidrigkeit. Danach würden den Fahr-
lässigkeitstatbestand alle diejenigen und nur diejenigen Normadressaten erfül-
len, die gegen diese generellen Sorgfaltsanforderungen verstoßen.
Sternberg-Lieben, StGB, § 15, Rdn. 125, 127, 144 ff.; Jescheck/Weigend, Lehrbuch,
§ 54 I 4, § 56 III. Für Roxin, Strafrecht AT I, § 24, Rdn. 10 ff., ferner Wolter, GA
1977, 267; Jakobs, Strafrecht AT, 9/7; Yamanaka, ZStW 102 (1990), 944, genügt die
objektive Zurechnung. Einige Autoren verlangen wiederum anstatt der objektiven
Sorgfaltspflichtverletzung nur die Erkennbarkeit: Schroeder, JZ 1989, 776 ff.; LK-
ders., § 16, Rdn. 125 ff., 157 ff.; Wolter, GA 1977, 267 f.; Maurach/Zipf, Strafrecht
AT II, § 43, Rdn. 19; Schmidhäuser, Festschrift für Schaffstein, S. 131 ff.; Jakobs, Stu-
dien, S. 59 ff., 64 ff., 83 ff.; ders., Strafrecht AT, 9/2, 6 ff.; MünchKommStGB/
Duttge, § 15, Rdn. 106 ff.; Weigend, Festschrift für Gössel, S. 134. Allerdings ist der
Erfolgseintritt auch beim erlaubten Risiko meistens vorauszusehen, deshalb greifen ei-
nige Vertreter des Kriteriums der Erkennbarkeit der Gefahr ausdrücklich auf die Figur
des erlaubten Risikos (bzw. Duttge auf ein Veranlassungsmoment, a. a. O., Rdn. 112,
120 ff.; ders., Fahrlässigkeitsdelikte, S. 356 f.; Weigend, a. a. O., S. 135 f., auf einen
situativen, erkennbaren Anlaß, in Anschluß an Duttge) zurück, weil das Kriterium zur
Haftungsbegründung und -begrenzung nicht ausreicht. Kritisch z. B. Schünemann, GA
1985, 359; Burkhardt, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, S. 122 ff.; und hier infra,
§ 6 D III 1; als unzureichendes, aber notwendiges Basiskriterium der Fahrlässigkeit:
MünchKommStGB/Duttge, § 15, Rdn. 108 f. Vgl. die Darstellung bei Kaminski, Der
objektive Maßstab, S. 20 ff. und die weiteren Nachweise bei Kühl, Strafrecht AT,
§ 17, Rdn. 14 ff.
4 Jescheck/Weigend, § 54 I 3.
5 Münzberg, Verhalten und Erfolg, S. 247 ff.
6 RGZ 126, 329, 331; BGHSt 7, 307, 309 f.; 16, 145, 161; 20, 315, 321; BGH
von Armin Kaufmann, ZfRV 1964, 51; Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt im Straf-
recht, S. 57; Herzberg, Die Verantwortung für Arbeitsschutz, S. 167: „Eine Hausfrau,
die bei einer geheimgehaltenen Geburt Entbindungshilfe leistet, hat »Hebammen-«
und nicht nur »Hausfrauensorgfalt« zu leisten.“
Einleitung und Problemdarstellung 17
Fn. 15 m. w. N.
10 Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht, S. 57; Roxin, Strafrecht AT I,
15 Vgl. z. B. Roxin, Strafrecht AT I, § 24, Rdn. 46; Kühl, Strafrecht AT, § 17, Rdn.
47 m. w. N.
17 Das Schrifttum fordert die Erkennbarkeit der Unfähigkeit, um die Schuld zu be-
jahen, während die Rechtsprechung dies nicht ausdrücklich verlangt, vgl. Jescheck/
Weigend, Lehrbuch, § 57 II 3 m. w. N.
18 Vgl. nur Roxin, Strafrecht AT I, § 24, Rdn. 34, 36, 47; Jescheck/Weigend, Lehr-
Oehler, Festschrift für Eb. Schmidt, S. 245; vgl. ferner Burgstaller, Das Fahrlässig-
keitsdelikt im Strafrecht, S. 65 f.
22 Vgl. z. B. Stratenwerth, Strafrecht AT I, § 15, Rdn. 14; Lesch, Der Verbrechens-
begriff, S. 253 (beide aus der Sicht der sogenannten individualisierenden Fahrlässig-
keitslehre); Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht, S. 66; Schünemann, JA
1975, 513; Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben, StGB, § 15, Rdn. 138;
Hirsch, ZStW 94 (1982), 275.
23 Vgl. z. B. Geilen, Strafrecht AT, S. 219; SK-Samson, Anh. zu § 16, Rdn. 11.
24 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 135; ders., Das Neue Bild des Strafrechtssy-
vgl. Stratenwerth, Festschrift für Jescheck, S. 300 f.; ders., Strafrecht AT I, § 15, Rdn.
13 ff.; Jakobs, Teheran-Beiheft zur ZStW 86 (1974), 20 f., Fn. 45; ders., Gedächtnis-
schrift für Armin Kaufmann, S. 283 ff.; ders., Strafrecht AT, 9/11, 13; 7/50; 15/12;
ders., Norm, Person, Gesellschaft, S. 96 ff.; Otto, Grundkurs Strafrecht, § 10, Rdn.
14 ff.; Samson, Strafrecht I, S. 252; SK-ders., Anh. zu § 16, Rdn. 15; Zaffaroni/Ala-
gia/Slokar, Derecho Penal, PG, Buenos Aires, S. 531 f., u. a. Mit Annahme eines gene-
ralisierenden Sorgfaltsmaßstabes, auch differenzierend, Schünemann, Festschrift für
Schaffstein, S. 166 f.; ders., JA 1975, 514 f. (mit den neueren Präsizierungen seines
Ansatzes in GA 1999, 217, Fn. 42, nachdem die – objektive – Abgrenzung der verbo-
tenen von der erlaubten Risikosetzung für die Verhaltensnorm im ersten Schritt ex
ante aus der Täterperspektive zu erfolgen habe); Mir Puig, Función de la pena, Barce-
lona, S. 78 f.; ders., Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, S. 267; ders., Derecho
Penal, PG, Barcelona, § 11, Rdn. 40 ff., 47; Cerezo Mir, Curso de Derecho penal
español, PG II, Madrid, S. 162 f. (als Unterlassungsdelikt). Auch aus der Perspektive
eines generalisierenden Sorgfaltsmaßstabes, aber für eine stetige belastende Wirkung
der mangelnden Anwendung von Sonderfähigkeiten vgl. Blei, Strafrecht I AT, S. 301;
Haft, Strafrecht AT, S. 167; Deutsch, Fahrlässigkeit und erforderliche Sorgfalt, S. 128
(für das Privatrecht); Herzberg, Jura 1984, 410; Krey, Strafrecht AT 2, § 51, Rdn. 538
(Sonderfähigkeiten seien im Rahmen des Zumutbaren einzusetzen); Kuhlen, Fragen,
S. 85 f.; Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben, StGB, § 15, Rdn. 141; Roxin,
Strafrecht AT I, § 24, Rdn. 54 f.; ferner Wieseler, Sorgfaltspflichtmaßstab, S. 125 ff.,
163 f., allerdings mit einigen Vorbehalte gegenüber der generalisierten (und auch der
individualisierenden) Fahrlässigkeitslehre. Zu diesem Thema vgl. näher infra, § 6 G I 3.
26 Vertreter dieser Theorie sind Stratenwerth, Festschrift für Jescheck, S. 285 ff.;
ders., Strafrecht AT I, § 15, Rdn. 11–15; Jakobs, Studien, S. 41 ff., 48 ff., insbes.
64 ff.; ders., Teheran-Beiheft zur ZStW 86 (1974), 20 f., Fn. 45; ders., Strafrecht AT,
Einleitung und Problemdarstellung 21
9/6 ff.; SK-Samson, Anh. zu § 16, Rdn. 13 ff.; Otto, JuS 1974, 707 f.; ders., Grund-
kurs Strafrecht, § 10, Rdn. 13 ff.; ders., Gedächtnisschrift für Schlüchter, S. 89 f.; Ca-
staldo, Objektive Zurechnung und Maßstab der Sorgfaltswidrigkeit, S. 65 ff.; ders.,
GA 1993, 495 ff.; Gössel, Festschrift für Bruns, S. 49 ff.; ders., Festschrift für Bengl,
S. 35 ff.; Kindhäuser, ZStW 96 (1984), 19; ders., GA 1994, 212 f.; Renzikowski, Re-
striktiver Täterbegriff, S. 241 ff.; Frisch, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, S. 194;
Gropp, Strafrecht AT, § 12, Rdn. 82 ff.; Freund, Erfolgsdelikt und Unterlassen,
S. 56 ff.; ders., Strafrecht AT, § 5, Rdn. 22 ff., 29; Kremer-Bax, Das personale Ver-
haltensunrecht bei der Fahrlässigkeit, S. 59 ff., 65 ff., 100 ff.; Lesch, Der Verbre-
chensbegriff, S. 251 ff.; Mitsch, JuS 2001, 108; Duttge, Fahrlässigkeitsdelikte, S. 353,
490 f., 493; MünchKommStGB/ders., § 15, Rdn. 94 ff., 99; Weigend, Festschrift für
Gössel, S. 134 f., 138 f.; zur Rechtsprechung vgl. BayObLG NJW 1998, 3580 f.;
BGH NStZ 2001, 478. In der spanischen Literatur: Zugaldía Espinar, ADPCP 1984,
Madrid, S. 328 ff.; E. Bacigalupo, Principios, PG, Madrid, S. 240 ff.; Silva Sánchez,
El delito de omisión, Barcelona, S. 215; Robles Planas, La participación en el delito,
Madrid, S. 209; Feijóo Sánchez, Resultado lesivo e imprudencia, Granada, S. 255,
u. a.
22 Einleitung und Problemdarstellung
AT I, § 15, Rdn. 13, 20; Jakobs, Teheran-Beiheft zur ZStW 86 (1974), 12 ff.; ders.,
Strafrecht AT, 9/7 und Fn. 10; SK-Samson, Anh. zu § 16, Rdn. 14, 16 ff.
31 Vgl. dazu infra, § 6 B II 2 c) cc) (3) (a).
32 Freund, Strafrecht AT, § 5, Rdn. 40.
33 Vgl. nur Roxin, Strafrecht AT I, § 24, Rdn. 49.
Einleitung und Problemdarstellung 23
144 ff.; Stratenwerth, Strafrecht AT I, § 15, Rdn. 20 f.; Kühl, Strafrecht AT, § 17,
Rdn. 25; Jescheck/Weigend, Lehrbuch, § 56 III.
35 Jakobs, Teheran-Beiheft zur ZStW 86 (1974), 20 f., Fn. 45; ders., Strafrecht AT,
in Frage, ob diese Kategorien die gleiche Rolle auch beim Vorsatzdelikt spielen.
Wird das Vorsatzdelikt gerade durch das Wissen und Wollen der Tatbestands-
verwirklichung gekennzeichnet, und geht es dabei darum, das Verhalten so indi-
viduell wie möglich zu beurteilen, welche Bedeutung kann dann der Umstand
haben, daß der Täter über die Tatumstände im konkreten Fall mehr als die All-
gemeinheit weiß oder wissen kann?
Heutzutage ist diese Frage nicht leicht zu beantworten, da die Lehre von der
objektiven Zurechnung und bereits ältere Kriterien wie die Figur des erlaubten
Risikos, die Lehre der Sozialadäquanz und die Adäquanztheorie auch beim Vor-
satzdelikt untere haftungsbegrenzende objektive Kriterien etablieren, unter de-
nen eine strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht in Betracht kommt. Fraglich
ist, ob dies ebenso gilt, wenn der Täter spezielle Kenntnisse über die Tat-
umstände hat und/oder sich den tatbestandlichen Erfolg gewünscht hatte. Die
Figur des erlaubten Risikos galt ursprünglich nur für die Fahrlässigkeitsdelikte
bzw. sie wurde nur für diese Art von Delikten entwickelt. Daß die Schaffung
einiger maßvoller Risiken durch unvorsätzliches Verhalten erlaubt sein sollte,
war schon damals eindeutig: Das Verbot aller denkbaren Risikoschaffungen
würde das gesamte Sozialleben verhindern, da sonst z. B. Industrie, Straßenver-
kehr und die Ausübung bestimmter gefährlicher Sportarten nicht möglich wä-
ren. Von einem etwaig erlaubten Risiko war dagegen bei vorhandenem Verwirk-
lichungswillen (= Vorsatz) nicht die Rede: Was konnte daran erlaubt sein, wenn
der Täter wußte und wollte, daß er ein Rechtsgut durch seine Handlung verlet-
zen würde? Die Problematik der Sonderkenntnisse beim Vorsatzdelikt ist des-
halb erst durch die Übertragung der Untergrenzen strafbaren Verhaltens von
Fahrlässigkeits- zum Vorsatzdelikt entstanden: Der Täter kann im Rahmen des
erlaubten Risikos handeln, besitzt aber Sonderkenntnisse über risikoerhöhende
Tatumstände und nutzt dieses Wissen für die Verletzung des Rechtsgutsobjekts:
Dann stellt sich die Frage, ob sein Verhalten tatbestandsmäßig ist.
Vor allem die Lehre von der objektiven Zurechnung hat das Thema des er-
laubten Risikos durch das Erfordernis der Schaffung einer unerlaubten Gefahr
auch beim Vorsatzdelikt entwickelt. Als Beispiel sei der Fall genannt, in dem
der Neffe den Erbonkel zu einer Flugreise überredet in der Hoffnung, das Flug-
zeug möge abstürzen. Damit man eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung
des Erbonkels ausschließen kann, könnte man den bekannten Fall so abwan-
deln, daß der Neffe den Erbonkel zu der Flugzeugreise nötigt.37 Vollzieht sich
auf diese Weise tatsächlich der Tod des Erbonkels, ohne daß der Neffe über
gefahrerhöhende Umstände weiß, handelt es sich bei der Flugreise um ein er-
37 Vgl. dazu Roxin, Strafrecht AT I, § 11, Rdn. 43; Schünemann, Chengchi Law
Review 50 (1994), 294; ders., GA 1999, 220. Otto, Festschrift für Maurach, S. 99 f.,
entscheidet sich für die Straflosigkeit im berühmten Gewitterfall nicht aufgrund des
fehlenden Risikos, sondern wegen der „freien Entscheidung“ des Opfers, „die offen-
sichtliche Gefahr auf sich zu nehmen“.
Einleitung und Problemdarstellung 25
laubtes Risiko, weshalb das Verhalten des Neffen nicht strafbar ist. Statistisch
gesehen ist es zwar nicht gänzlich unwahrscheinlich, daß ein solcher Unfall ge-
schieht; wegen der Nützlichkeit des Flugverkehrs wird aber dieses Risiko ak-
zeptiert, und sogar die Nötigung eines anderen, diese Gefahr einzugehen, ist
deshalb beim Todeserfolg nicht als Totschlag strafbar.
Mit der Frage, ob die Figur des erlaubten Risikos beim Vorsatzdelikt eine
Rolle spielen kann, scheint man sich in jüngster Zeit besonders zu beschäftigen.
Der allgemeine Grundsatz der Lehre von der objektiven Zurechnung bleibt aber
unverändert: Der Schutz von Rechtsgütern kann sich nach dieser Auffassung
nicht auf alle Handlungsspielräume erstrecken, in denen ein riskantes Verhalten
ausgeübt wird, und ihre Kriterien gelten gleichermaßen für Fahrlässigkeits- wie
für Vorsatzdelikte.38 Eine solche pauschale Gleichstellung der Zurechnungskri-
terien bedarf allerdings einer genaueren Überprüfung. Fraglich ist, ob eine In-
teressenabwägung zwischen Rechtsgüterschutz und Handlungsfreiheit auch auf
Vorsatzdelikte anwendbar ist und ob die Zusatzkategorie „Sonderkenntnis“ beim
Vorsatzdelikt nicht ein Zeichen dafür ist, daß der Täterwille die Beurteilung bei
der Interessenabwägung bzw. den Zurechnungskriterien beeinflussen kann.
Diese Frage bildet den Ausgangspunkt der Untersuchung in § 5 B.39 Ob über-
haupt eine solche Kosten-Nutzen-Saldierung und damit eine Risikoerlaubnis bei
vorsätzlichem Handeln bzw. bei vorhandenem Verwirklichungswillen sinnvoll
ist, zeigt sich am besten durch eine Gegenüberstellung von Vorsatz- und Fahr-
lässigkeitskonstellationen. Es handelt sich dabei um eine Art von Fällen, bei
denen das Risiko bezüglich fahrlässiger Verletzungen erlaubt ist. Fraglich wird
dann, ob das gleiche Risiko bei vorhandenem Täterwissen (oder sogar vorhan-
dener Verletzungsabsicht) genauso erlaubt ist oder ob ein Vorsatztäter sich über-
haupt nicht auf Handlungsfreiräume im Rahmen einer Kosten-Nutzen-Abwä-
gung, z. B. wegen sozialnützlicher oder einfach sozialakzeptierter Aktivitäten,
berufen kann. So nötigt beispielsweise jemand einen anderen mit einer Waffe,
einen hohen Berg mitzubesteigen, um eine Wette zu gewinnen. Er weiß dabei
nicht, daß das Opfer an starker Höhenangst leidet, und fragt auch nicht danach.
Das Opfer spürt auf dem Berg Schwindelgefühle, rutscht an einer leichten
Stelle und stürzt ab, obwohl der Aufstieg für jeden normalen Menschen ohne
besondere sportliche Fähigkeiten leicht zu schaffen gewesen wäre. Der Täter ist
dann einer Nötigung schuldig, aber nicht einer fahrlässigen Tötung, da das
Bergwandern eine sozial erlaubte Sportaktivität ist. Die vorsätzliche Variante
des Falles ist wie folgt zu konstruieren: Der Täter weiß nun von der Höhen-
angst des Opfers und nötigt es, den Berg zu besteigen, damit es abrutscht und
stirbt. Hier benutzt der Täter das vorhandene (Klein-)risiko, das eine Bergwan-
derung mit einer Person mit Höhenangst in sich birgt, um einen Totschlag zu
38 Vgl. infra, § 3 C.
39 Zu dieser Fragestellung und Beispiele des Schrifttums vgl. ferner infra, § 3 F II.
26 Einleitung und Problemdarstellung
begehen. Fraglich bleibt also, ob er beim gleichen geschaffenen Maß des Risi-
kos nun wegen vorsätzlicher Tötung zu bestrafen wäre.
Nach den Grundsätzen der modernen Strafrechtsdogmatik würde es sich hier
um einen Fall handeln, bei dem man mit den Begriffen „Sonderkenntnis des
Täters“ und „erlaubtes Risiko“ konfrontiert wird, da der Täter über spezielle
Kenntnisse bzgl. des Risikos verfügte und eine prinzipiell erlaubte Aktivität wie
eine Bergwanderung benutzte, ohne dabei gegen Bergsteigerregeln verstoßen zu
haben. Es stellt sich also die Frage, ob die Zurechnungskriterien für das Vor-
satzdelikt andere als für das entsprechende Fahrlässigkeitsdelikt sind.
Nicht nur die Schaffung von Risiken, die aufgrund ihres Nutzens oder ihrer
sozialen Akzeptanz erlaubt werden, wird unterhalb der Grenze strafbaren Ver-
haltens eingeordnet. Die Fälle von abenteuerlichen Kausalverläufen, bei denen
die Chancen einer Rechtsgutsverletzung sehr niedrig sind, und ferner die Fälle,
bei denen die Figuren der Selbstgefährdung, Vertrauensprinzip, Risikoverringe-
rung, Folgeschäden und Spätschäden eine Rolle spielen, sind weitere Beispiele
vom Ausschluß des Unrechtsgehalts wegen fehlender strafrechtlicher Rele-
vanz.40 Es geht um Verhaltensweisen, die nach dem Gesetzeswortlaut tatbe-
standsmäßig sein könnten, aufgrund von Interessenabwägungen aber aus dem
Tatbestandsbereich ausgeschlossen werden; das Problem wird also im objekti-
ven Tatbestand behandelt. Die Lehre von der objektiven Zurechnung beschäftigt
sich mit der Setzung objektiver Untergrenzen strafbaren Verhaltens, d. h. mit der
Schaffung von Handlungsspielräumen. Handelte aber der Täter mit speziellen
Kenntnissen über Risikofaktoren, gelten die objektiven Untergrenzen strafbaren
Verhaltens nach der h. M. prinzipiell nicht mehr.41 Die Sonderkenntnisse werden
als Zusatzelemente im objektiven Tatbestand eingefügt, die Handlung ist damit
objektiv verboten, und der Täter ist dann wegen der Verwirklichung eines vor-
sätzlichen Delikts strafbar. Man spricht also im Allgemeinen über Sonderkennt-
nisse, wenn es um ein Verhalten geht, das prinzipiell aufgrund von objektiven
bzw. normativen Zurechnungskriterien erlaubt wäre, der Täter aber besondere
Tatumstände kennt, die das Verhalten in ein unerlaubtes umwandeln können.
Obwohl es grundsätzlich um das Täterwissen geht, bezieht man sich dabei nicht
auf den Terminus „Vorsatz“, sondern man differenziert dieses Phänomen durch
den Terminus „Sonderwissen“ oder „Sonderkenntnis“ als Komponenten der ob-
jektiven Zurechnung.
Eine Sondermeinung bildet die von Jakobs, der die Tatbestandsmäßigkeit
der Handlung auch bei vorhandenem Tätersonderwissen über erhöhte Risiko-
faktoren unter bestimmten Umständen ausschließen möchte. Besitze der Täter
die speziellen Kenntnisse aus einer anderen Rolle als derjenigen, die für die
40 Vgl. nur Roxin, Strafrecht AT I, § 11, Rdn. 39 ff.; Jakobs, Strafrecht AT, 7/
A. Überblick
Review 50 (1994).
B. Adäquanztheorie 29
Lehre von der objektiven Zurechnung hat die Zurechnung eines Erfolges in den
Mittelpunkt des Tatbestands gesetzt, grundsätzlich ohne das Subjektive einzu-
schließen. Dennoch hat man dieses „Fremdmerkmal“ in das objektive Zurech-
nungssystem eingebaut. Im Bereich der fahrlässigen Delikte sieht die h. M. wie-
derum einerseits einen rein objektiven Tatbestand, bestehend aus der Sorgfalts-
pflichtverletzung, und andererseits eine rein subjektive Schuld, bei der die
subjektive Voraussehbarkeit des Erfolges untersucht wird. Allerdings haben die
„Sondermerkmale“ in dieser Struktur wieder keinen Platz gefunden und wurden
teilweise als Notlösung in den objektiven Tatbestand bei der Sorgfaltspflichtver-
letzung eingeführt. Nach einer Mindermeinung wäre die Sorgfaltspflichtverlet-
zung und damit das Unrecht der Fahrlässigkeitsdelikte individuell zu gestalten,
so daß die individuellen Kenntnisse und Fähigkeiten des Täters ohnehin zum
Unrecht gehören würden.2 Vor diesem Hintergrund liegen eher als Unklarheiten
in der Systematik des Verbrechensaufbaus grundlegende Schwierigkeiten bei der
Bestimmung des Unrechts der Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikten vor.
B. Adäquanztheorie
2 Siehe Nachweise supra, Einleitung, Fn. 26 und näher darüber infra, § 6 B II 2 c).
3 Vgl. Roxin, Strafrecht AT I, § 11, Rdn. 34; Jakobs, Strafrecht AT, 7/30.
4 Erst ab dem Jahr 1953 ist das eine Voraussetzung, vgl. § 56 StGB a. F. und § 18
StGB n. F.
5 Z. B. kommt das verletzte Opfer im Krankenhaus bei einem Brand um; der Neffe
schickt seinen Erbonkel auf eine Seereise und dabei ertrinkt er: Fall von Honig, Fest-
gabe für Frank, Bd. 1, S. 176 f., 186.
30 § 1 Entstehung der Frage nach den Sonderkenntnissen
6 Vgl. ferner die ausführliche Darstellung bei Gimbernat Ordeig, Delitos cualifica-
y causalidad, Madrid, mit Nachweisen darüber auf S. 28, Fn. 46 bis 48.
14 Thon, Blätter für Rechtspflege in Thü. und Anhalt 42 (1895), S. 37.
15 Hartmann, Das Kausalproblem im Strafrecht, S. 101, 111.
16 Rümelin, Der Zufall im Recht, S. 11 ff., 24, 47.
32 § 1 Entstehung der Frage nach den Sonderkenntnissen
Ausführung der fahrlässigen Handlung installiert war, müßte man diese Bedin-
gung einbeziehen, und die Handlung wäre dann adäquat, um den Erfolg herbei-
zuführen. Wäre die Bombe aber erst nach der Tat gelegt worden, wäre eine
Adäquanz zu verneinen.17
Die subjektiven und objektiven Auffassungen, die bis dahin vorhanden waren,
wurden nicht positiv aufgenommen. Man glaubte, daß es nötig war, eine Formel
zu finden, die die bedenklichen Punkte der anderen beseitigen könnte. Dies war
das von Traeger18 1904 ausgearbeitete Projekt: Er schloß in das Möglichkeits-
urteil alle Umstände ein, die von einem einsichtigen Betrachter erkannt und im
Zeitpunkt der Handlung erkennbar würden, und diejenigen, die dem Täter er-
kennbar waren und ihm – entweder zufälligerweise oder wegen seiner besonde-
ren Kenntnisse – bekannt waren. Dies war die endgültige Formulierung der
Adäquanzlehre.
Diese Idee hatte bereits v. Hippel geäußert: Der Begriff der Gefahr (d. h. der
Wahrscheinlichkeit eines Unerwünschten) würde dabei keinen „objektiven Zu-
stand der Unsicherheit“, sondern ein subjektives Urteil bezeichnen, welches
sich einerseits auf unsere Erfahrung, anderseits auf unsere menschliche Unwis-
senheit gründen würde. Für dieses Urteil würden auch die besondere Kennt-
nisse, welche der Handelnde zur Zeit der Tat besaß, von entscheidender Bedeu-
tung sein.19
Auch v. Bar hatte dieses Kriterium außerhalb des juristischen Bereiches an-
geführt: Kenne der Täter besondere Voraussetzungen seiner Handlung, die auf
den ersten Blick nicht wahrnehmbar seien, handle es sich hier nicht um eine
Unregelmäßigkeit des Täters, sondern derjenigen, die sich nicht an seine Stelle
versetzen könnten. Dann seien dem Täter die von ihm bekannten besonderen
Umstände zurechenbar.20
Das Adäquanzprinzip wurde im Laufe der Zeit weiterentwickelt und wird
heute meistens im Rahmen der Lehre von der objektiven Zurechnung verwen-
det.21 Bei der Beurteilung des Risikos bezieht man sich auf eine sogenannte
objektiv-nachträgliche Prognose.22 Sie wird als nachträglich bezeichnet, da sie
angeblich aus der Beurteilung des Richters im Prozeß entstehen würde. Aller-
dings kommt es nicht auf den Zeitpunkt ihrer Abgabe an, sondern es muß sich
hauptsächlich um ein abstraktes Urteil handeln, das von einem ideellen Subjekt
17 Rümelin, AcP 90 (1900), 299. Kritisch Radbruch, Die Lehre von der adaquäten
getroffen wird. Die Objektivität bezieht sich wiederum darauf, daß der Richter
sich in die Lage eines objektiven Beobachters versetzen müßte, der sein Urteil
ex ante abgeben und über die Kenntnisse eines einsichtigen Menschen des be-
treffenden Verkehrskreises und zusätzlich über das spezielle Sonderwissen des
Täters verfügen würde. Dabei werden nur solche Umstände bei der Bestim-
mung des tatbestandsmäßigen Verhaltens zu berücksichtigen sein, die bei der
Tatbegehung bekannt oder erkennbar gewesen wären.23 Letztendlich ist aber die
Prognose nicht rein objektiv, da sie doch das Sonderwissen des Täters ein-
schließt.
Die Problematik der Sonderkenntnisse und Sonderfähigkeiten des Täters er-
schien zunächst also bei der Adäquanztheorie und der Formulierung des Wahr-
scheinlichkeitsurteils bezüglich einer Ursache und eines Erfolges. Sie stellt sich
in der Verbrechenslehre allerdings jedesmal dann, wenn man objektive Unter-
grenzen strafbaren Verhaltens setzt. Beim Adäquanzurteil handelt es sich um
eine objektive Untergrenze, bei der alle unwahrscheinlichen, entfernten Kausal-
verläufe von der strafrechtlichen Relevanz ausgeschlossen werden. Das ist für
die Entstehung der Problematik der Sonderkenntnisse und Sonderfähigkeiten
selbst von Bedeutung, heute wird aber das Adäquanzurteil als unzureichend an-
gesehen, um die strafrechtliche Relevanz eines Verhaltens zu bestimmen. Näm-
lich kann man mit Hilfe des Adäquanzprinzips nur im empirischen Sinne erfah-
ren, ob ein Verhalten eine adäquate („riskante“) Bedingung für eine Rechtsguts-
verletzung schafft, oder ob ein bestimmter Erfolg die adäquate Konsequenz
eines bestimmten Verhaltens ist, d. h. objektiv vorhersehbar war. Damit werden
absolut unwahrscheinliche Kausalverläufe von der Tatbestandsmäßigkeit ausge-
schlossen. Es bleibt aber noch eine uferlose Zahl von Verhaltensweisen, die
trotz ihres „Riskantseins“ und „Kausalseins“ aus kriminalpolitischen Gründen
tatbestandsirrelevant sein sollten. Daß der rechtsgutsverletzende Erfolg nicht un-
wahrscheinlich war, impliziert nicht immer die Tatbestandsmäßigkeit des verur-
sachenden Verhaltens. Die strafrechtliche Relevanz des Verhaltens kann nämlich
aus anderen Gründen auszuschließen sein, sei es durch das erlaubte Risiko bzw.
Sozialadäquanz, sei es durch das Mitverschulden des Opfers, die Verringerung
der Gefahr oder durch den Schutzzweck der Norm, um einige Kriterien der ob-
jektiven Zurechnung zu nennen, die wiederum eine Interessenabwägung norma-
tiver Art zwischen Handlungsfreiheit und Rechtsgüterschutz erfordern. Daß
Verkehrsunfälle auch bei rechtmäßigem Autofahren nicht unwahrscheinlich
sind, ist eindeutig. Trotzdem handelt es sich beim rechtmäßigen Autofahren um
ein erlaubtes Risiko, und deshalb ist die Tatbestandsmäßigkeit eines solchen
Verhaltens trotz des Wahrscheinlichkeitsurteils ausgeschlossen. Würde man je-
des Verhalten verbieten, bei dem eine Rechtsgutsverletzung nicht auszuschlie-
Rdn. 35. Jakobs, Strafrecht AT, 7/32 äußert Einwände gegen die Adäquanzformel,
weil man mit ihr die objektive und subjektive Seite vermischen würde.
34 § 1 Entstehung der Frage nach den Sonderkenntnissen
ßen ist, wäre die Handlungsfreiheit sehr eingeschränkt. Und es bleiben vielfäl-
tige Erfolgsverursachungen, die wegen ihrer Voraussehbarkeit durch einen
„adäquaten“ Kausalzusamenhang verursacht werden, die aber dem Verursacher
nicht als „sein Werk“ oder als „Verwirklichung der von ihm geschaffenen Ge-
fahr“ zugerechnet werden können, wie im bekannten Krankenwagenfall, bei
dem das Opfer geschlagen wird, aber nicht aufgrund der vom Täter geschaffe-
nen Gefahr stirbt, sondern wegen eines Verkehrsunfalls während des Transports
zum Krankenhaus. Ein solches Geschehen kann man eigentlich von der allge-
meinen Lebenserfahrung nicht ausschließen. Deshalb kann die Tatbestandsmä-
ßigkeit eines solchen Verhaltens nicht aufgrund der objektiven Unvorhersehbar-
keit oder Inädaquanz ausgeschlossen sein. Es gibt also normative Gründe, die
für die strafrechtliche Irrelevanz einiger nicht-risikofreier Verhaltensweisen
sprechen. Es gibt sogar Verhaltensweisen, deren Geeignetheit für die Verursa-
chung eines konkreten Erfolges zwar weit entfernt ist, und trotzdem die Zurech-
nung zu bejahen sein könnte. Wirft beispielsweise jemand einen anderen von
einer Bergspitze hinunter, und wird der Tod nicht durch das Herunterfallen, son-
dern durch den Zusammenprall mit einem plötzlich auftauchenden Hubschrau-
ber verursacht, war dies außerhalb jeder Lebenserfahrung und könnte es trotz-
dem zurechenbar sein. Allerdings könnte man hier natürlich erwidern, daß die
objektive Zurechnung nur zu rechtfertigen wäre, wenn der konkrete Kausalver-
lauf überhaupt wahrscheinlich war.24 Im Ergebnis leidet die Adäquanztheorie
überhaupt daran, daß die wahrscheinlichkeitstheoretischen Überlegungen auf
einer statistischen und deshalb empirischen bzw. rein deskriptiven Grundlage
beruhen. Das Datum des Wahrscheinlichkeitsgrades ist für das Strafrecht eine
notwendige Angabe, sie ist aber für die normative Beurteilung bezüglich der
strafrechtlichen Relevanz eines Verhaltens nicht ausreichend.25 Es müssen also
weitere Kriterien für die Bestimmung bzw. Abgrenzung des strafbaren Verhal-
tens in der dogmengeschichtliche Entwicklung der Vorsatz- und Fahrlässigkeits-
delikte untersucht werden.
26 Auch wenn man berücksichtigen muß, daß die Figur der Sozialadäquanz im Fina-
lismus auch bei den Vorsatzdelikten eine Untergrenze markiert. Für eine Darstellung
und Kritik an den neueren Positionen, die allerdings aus einigen wenigen Bemerkun-
gen Welzels eine eigene normative Säule seines Systems entwickeln wollen, vgl. infra,
§ 2 B und C.
27 Vgl. Larenz, Hegels Zurechnungslehre und der Begriff der objektiven Zurech-
31 v. Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 1. Aufl., S. 105 f.; Beling, Die
Lehre vom Verbrechen, S. 45 ff., 178 ff. Für die vorherige Entwicklung siehe Je-
scheck/Weigend, Lehrbuch, § 29 II 1; § 54 I 1 und die erste Monographie über die
Fahrlässigkeit: Exner, Das Wesen der Fahrlässigkeit, S. 12 ff.; über die Fahrlässigkeit
als ein Element der Schuld: Vorwort, S. 212. Für Exner war die Vermeidung des
rechtswidrigen Erfolges mit Rücksicht auf die persönlichen Fähigkeiten des Täters
(unter Bedachtnahme auf die Umstände des Falles) ein Element der Schuld. Tue aber
der Täter, was der Verkehr erfordert, obwohl er erkenne, daß seine Handlung mit ge-
wissen Gefahren verknüpft sei, werde die Frage der Schuld überhaupt nicht aktuell.
„Es handelt sich um das Problem der Rechtswidrigkeit, mit dem der Schuld in diesem
Punkte untrennbar verknüpft“ (Das Wesen der Fahrlässigkeit, S. 193). Exner setzte so-
mit eine objektive untere Grenze bei der Fahrlässigkeit begründet auf den sozialen
Zweck der Handlung (a. a. O., S. 193 ff.).
32 Vgl. dazu z. B. Schünemann, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen
Strafrechtssystems, S. 21 f.
C. Vom Schwerpunkt Vorsatzdelikt zur Entwicklung objektiver Grundlagen 37
seits die Außerachtlassung der gebotenen und erforderlichen Sorgfalt und ande-
rerseits die Vorhersehbarkeit des eingetretenen Erfolges für den Handelnden.
Beide Elemente waren aber nach damaliger Auffassung in der Schuld zu be-
trachten, ohne daß ihre systematische Stellung beim Verbrechensaufbau disku-
tiert wurde.33 Nach dieser Lehre war der Fall, in dem jemand sorgfaltsgerecht
handelt und ein Rechtsgut verletzt, von dem, in dem der Täter grob die Sorg-
faltspflicht verletzt, im Unrechtsbereich nicht zu unterscheiden. Beide Täter hät-
ten eine rechtswidrige Handlung begangen; der erste wäre aber entschuldigt.
Diese Struktur der Fahrlässigkeitsdelikte änderte sich mit den Ausführungen
von Engisch in seiner Monographie von 1930.34 Er beschäftigte sich mit der
von der damaligen Literatur vorgenommenen Differenzierung zwischen einer
äußeren und einer inneren Sorgfalt.35 Bezüglich der inneren Sorgfalt war ein
psychologischer Sorgfaltsbegriff entwickelt worden, bei dem unter „Aufmerk-
samkeit“ unterschiedliche Konzepte zu verstehen waren, u. a. das Anstrengen
der Sinne, um zu den richtigen Wahrnehmungen zu gelangen, den Verlauf zu
berechnen, den Erfolg (oder die Verwirklichung des Tatbestandes) vorauszu-
sehen, aber auch die Rechtswidrigkeit des Verhaltens zu erkennen.36 Für die
Behandlung der äußeren Sorgfalt verwies Engisch auf die bereits damals von
v. Hippel und Frank entworfene Hypothese, daß ein Täter auch bei gespanntester
Aufmerksamkeit unvorsichtig und deshalb fahrlässig handeln könne. Als Bei-
spiel dafür diente der Fall des Schützen auf der Jagd, der die größte Aufmerk-
samkeit aufwendete, um mit dem Wild nicht zugleich den Nachbarn zu treffen.
Er hätte den Schuß unterlassen müssen, aber unaufmerksam sei er nicht gewe-
sen. Ein weiteres Beispiel war der Fall eines chirurgisch nicht genügend ausge-
bildeten Arztes, der eine schwere Operation übernahm und dabei mit größter
Mühe arbeitete. Seine Fahrlässigkeit bestünde in der Vornahme dieser gefähr-
lichen Handlung, die er nicht vollziehen dürfte. Er hätte ohne Vorsicht, d. h.
ohne Anpassung an die Gefährlichkeit der Situation gehandelt.37 Engisch über-
nahm diese Beispiele und entwickelte damit die Idee der objektiven Sorgfalt.
Der Schütze und der Arzt hätten nicht ungenügend auf Gefahrenquellen geach-
tet, sondern sie hätten (womöglich trotz klarer Erkenntnis der Gefahr) etwas
getan, „was sie nicht tun sollten, nämlich eine gefährliche Handlung vorgenom-
men“38. Als eigene Beispiele fügte er hinzu: „Der Zeuge kann angestrengt
33 Vgl. v. Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 3. Aufl., S. 174 f.; 21.–22.
Aufl., S. 176 f.; 26. Aufl., S. 232, 272 ff., insbes. 273, Num. II. Beling bezog sich erst
später auf die persönliche Fähigkeiten des Täters bei der Fahrlässigkeit, vgl. dazu
Grundzüge des Strafrechts, S. 52.
34 Engisch, Untersuchungen.
35 A. a. O., S. 269 f.
36 A. a. O., S. 271 ff.
37 Beispiele von v. Hippel und Frank, vgl. Engisch, Untersuchungen, S. 273 f.
38 A. a. O., S. 274.
38 § 1 Entstehung der Frage nach den Sonderkenntnissen
nachdenken und sehr bedächtig sein und doch dadurch, daß er sich verspricht,
eine falsche Aussage zustande bringen, ein Arzt kann mit größter psychischer
Anspannung operieren und doch einen Kunstfehler begehen“39. „Damit wird . . .
die Sorgfalt aus der Psyche in das äußere Verhalten verlegt. Das Verhalten des
Täters war nicht sorgfältig, weil es rein äußerlich nicht zur Vermeidung der Tat-
bestandsverwirklichung führte“40.
Engisch entnahm aus der Literatur und Rechtsprechung charakteristische
Handlungen, die als Außerachtlassung der äußeren Sorgfalt erschienen, wie das
zu schnelle Fahren, nicht rechtzeitiges Halten, ein Kind von drei Jahren allein
zu Hause lassen, Schußwaffen geladen in andere Hände gelangen zu lassen,
usw.41 Durch diesen Gedanken erkannte er zwischen dem Kausalzusammenhang
und der Schuld (Erkennbarkeit) ein drittes Moment: „die Außerachtlassung der
äußeren Sorgfalt“42. Dieses Element wurde von Engisch in den Tatbestand ein-
geordnet.43 Der Maßstab für die Bestimmung der erforderlichen Sorgfalt wäre
objektiv zu gestalten. Es käme also nicht auf das an, „was dem Täter als erfor-
derliche Sorgfalt erscheint, nicht auf die subjektive Sorgfalt, sondern auf das,
was erforderliche Sorgfalt ist, auf die objektive Sorgfalt“44.
Ferner reichte die individuelle Erkennbarkeit der Gefahr nach Engisch nicht
aus, um die Fahrlässigkeit zu bejahen. Vielmehr müßte es an äußerer Sorgfalt
fehlen. So wäre es kein unvorsichtiges Verhalten der Mutter, wenn sie dem auf
die Straße gelaufenen Kind hinterhereilen würde, anstatt es zurückzurufen, da
sie von ihrem Haus aus nicht erkennen konnte, ob ein Auto kam oder nicht. Sie
fürchte, daß das Kind in ein gerade daherkommendes Auto hineinlaufen würde,
wenn sie es anrufen würde. Bis die Mutter hinunterkam, war aber das Kind
überfahren. Allerdings konnte ein Nachbarn aus seinem Fenster erkennen, daß
das Kind gerettet worden wäre, wenn es die Mutter Sekunden früher zurückge-
rufen hätte, da gerade in diesem Zeitpunkt noch kein Auto kam. In diesem Bei-
spiel fehlte es nach Engisch nicht an der Erkennbarkeit der Gefahr, sondern am
unvorsichtigen Verhalten. „Jeder Einsichtige hätte vom Standpunkt der Mutter
aus genau so gehandelt“45.
Obwohl der Begriff der „äußeren Sorgfalt“ von Engisch nicht genau dem
heutigen Begriff der Sorgfaltspflichtverletzung entspricht, sind seine Ausführun-
gen ein großer Beitrag für die Fahrlässigkeitslehre mit dem Aufbau des Fahrläs-
sigkeitstatbestandes.
39 A. a. O., S. 279.
40 A. a. O., S. 274.
41 A. a. O., S. 275.
42 A. a. O., S. 277 ff.; 326 ff.
43 A. a. O., S. 326 ff.; insbes. 344 ff.
44 A. a. O., S. 282.
45 A. a. O., S. 277 f.
§ 2 Unterschiedliche Bestimmung des
strafbaren Verhaltens beim Vorsatz- und beim
Fahrlässigkeitsdelikt durch den Finalismus
Durch den Finalismus wurde die Idee, alles Objektive im Unrecht zu regeln,
und die Frage der Adäquanzmaßstäbe einschließlich des Begriffes „Sonder-
kenntnis“ wieder in den Hintergrund gedrängt. Als der Vorsatz plötzlich als das
entscheidende Unrechtsmoment erschien, wurde die objektive Abgrenzung und
damit die Frage oder zumindest die Möglichkeit, die Frage zu stellen, was man
wissen muß und was man nicht zu wissen braucht, zunächst als zweitrangiger
Gesprächsstoff verdrängt. Der Vorsatz wurde als etwas Natürliches, Ontologi-
sches gesehen, und er definierte sich als der finale Verwirklichungswille. Wo-
rauf der Täter diesen Willen und die Kenntnisse bezog, wurde nun im Grunde
genommen (vorerst) gleichgültig. Er gestaltete die Wirklichkeit aufgrund seiner
Kenntnisse und für diese Gestaltung der Wirklichkeit war er strafrechtlich ver-
antwortlich. Deshalb war ein Begriff wie „Sonderkenntnis“ kein bewußter Ge-
genstand der Überlegungen von Welzel, der eine solche Frage grundsätzlich
nicht zu problematisieren bezweckte, sondern gegebenenfalls im Vorsatz selbst
inbegriffen hatte. Sein Konzept bezog sich in seinem ganzen Umfang auf den
finalen Handlungsbegriff mit Konzequenzen für den gesamten Allgemeinen Teil
des Strafrechts. Hauptsächlich führte dies zu einer differenzierten Gestaltung
des Vorsatz- und Fahrlässigkeitsunrechts, was für die heutige Frage der Sonder-
kenntnisse auch eine große Relevanz erlangte.
Wenn man aber den Finalismus näher betrachtet, war doch die Kategorie der
Sonderkenntnisse ohne diese Bezeichnung, aber mit dem gleichen Kernpunkt,
dort nicht unproblematisch. Die Finallehre bezog objektive Kriterien wie die
Sozialadäquanz oder selbst das Adäquanzprinzip in ihren Verbrechensbegriff
ein, die trotz ihrer minimalen Rolle – neben der dem finalen Handlungsbegriff
gegebenen Bedeutung – eine gewisse Spannung zwischen objektiven Untergren-
zen und dem auf dem Täterwillen basierten Handlungsbegriff verursachten. Da
ein Teil des Begriffs „Sonderkenntnisse“ letztendlich aus Systemspannungen
zwischen objektiven und subjektiven Kategorien herrührt, die sich sozusagen
überlappen, ist es unentbehrlich, das finalistische System von seinen Wurzeln
im Gegensatz zu älteren Systemen, über seine Grundsätze hinaus bis zur nähe-
ren Betrachtung des Inhalts der heute sogenannten Sonderkenntnisse bei Welzel
40 § 2 Unterschiedliche Bestimmung des strafbaren Verhaltens
Hokkaigakuen Law Journal (1988), 188 f., zutreffend feststellt, ging Welzel (JuS 1966,
422) von der falschen Tatsache aus, daß v. Ihering das objektive Unrecht entdeckt
hatte und der Kausalismus diese objektive Stufe in den Aufbau des strafrechtlichen
Systems übernahm. Eigentlich habe sich die objektive Rechtswidrigkeit als eigenes
Gliederungsmerkmal bereits seit Feuerbach entwickelt.
A. Hervorhebung des Vorsatzes 41
5 Wie Welzel es selber erkannt hat, in: Das neue Bild des Strafrechtssystems, S. IX;
im Strafrecht, S. 78 ff., 82; ders., ZStW 58 (1939), 502 ff.; ders., Um die finale Hand-
lungslehre, S. 7 ff.; ders., Aktuelle Strafrechtsprobleme im Rahmen der finalen Hand-
lungslehre, S. 4; ders., Naturrecht und Rechtspositivismus, in: Abhandlungen,
S. 283 ff.; ders., Das Neue Bild des Strafrechtssystems, S. 1; ders., Vom Bleibenden
und vom Vergänglichen in der Strafrechtswissenschaft, S. 9, 30; ders., JuS 1966, 423;
ders., Das Deutsche Strafrecht, S. 33 ff.; ders., Naturrecht und materiale Gerechtig-
keit, S. 244.
42 § 2 Unterschiedliche Bestimmung des strafbaren Verhaltens
S. 8.
15 Welzel, ZStW 58 (1939), 516; ders., Das Deutsche Strafrecht, S. 2 f.; ders., Das
auch der innere Wille gehören.19 So wurde der subjektive Tatbestand mit der
Finalität als Vorsatz neben dem objektiven Tatbestand begründet.
Da der Vorsatz nichts anderes als die Finalität war, die die zweckgerichteten
menschlichen Handlungen auswies, war er selbst das Kriterium für die Abgren-
zung der Kausalität. Diese Kategorie war bei Welzel strafrechtlich nur relevant,
wenn sie vom menschlichen Willen final gesteuert war. Die Kombination Fina-
lität – Steuerung der Kausalität wurde von ihm auch ontologisch begründet:
Aufgrund des menschlichen Kausalwissens seien die Handlungsfolgen in be-
stimmtem Umfang vorhersehbar und eine menschliche Steuerung der Tätigkei-
ten auf ein Ziel hin gerichtet und die konsequente Überdeterminierung der Kau-
salverläufe möglich. Dagegen sei das reine Kausalgeschehen nicht vom Ziel her
gesteuert, sondern hänge es vom Zufall ab. Nach dem bekannten Satz von Wel-
zel wäre die Finalität „sehend“, dagegen die Kausalität „blind“.20
Als Beispiel für die Abgrenzung der Kausalität durch den Vorsatz21 wird von
der Literatur der bekannte und immer wieder erwähnte Gewitterfall aufgeführt,
in dem jemand einen anderen bei einem aufkommenden Gewitter mit der Hoff-
nung in den Wald schickt, der andere werde durch einen Blitz erschlagen. Träte
der gewünschte Erfolg ein, taucht die Frage auf, warum die Strafbarkeit schei-
tert. Für die finale Handlungslehre war dies ein Problem des Vorsatzes, da hier
der Auffordernde nur einen „Wunsch“ hatte und keinen Tötungswillen.22 Diese
Art von Abgrenzung der Kausalität, beschrieben anhand des Gewitterfalles, war
gerade einer der Kritikpunkte, die die späteren Tendenzen erhoben haben.
Trotz der Abgrenzung der Kausalität durch den Vorsatz griff Welzel auf ob-
jektive Kriterien zurück, wie die Sozialadäquanz als untere Grenze der Tatbe-
standsmäßigkeit oder die Adäquanztheorie im Rahmen der Kausallehren. Die
Welzelsche Behandlung der Sozialadäquanz ist ein Thema, das die Literatur im-
mer wieder beschäftigt hat, und besonders heute hat es eine intensivere Ausein-
andersetzung ausgelöst. Um ein von Welzel angewendetes weiteres objektives
zeitlicher Dimension (wenn z. B. eine Schlacht im Teutoburger Walde für eine heutige
Beleidigung kausal war) und der Abgrenzung bei abenteuerlichen Kausalverläufe (Fall
des Taschendiebes, parallel zum Gewitterfall).
22 Welzel, Das deutsche Strafrecht, S. 66. Der Fall wurde seit der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts häufig in der Literatur diskutiert. Vgl. auch darüber infra, Fn. 34.
44 § 2 Unterschiedliche Bestimmung des strafbaren Verhaltens
Aufl., S. 33; im gleichen Sinne in: Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl., S. 55 f.; ZStW
58 (1939), 517. Man bezeichnet Welzel als Begründer dieser Theorie (so z. B. Hirsch,
ZStW 74 [1962], 78; Roxin, Festschrift für Klug, Bd. II, S. 304, Fn. 11; Klug, Fest-
schrift für Eb. Schmidt, S. 254 ff.); allerdings gab es „Vorläufer“ der Welzelschen
Lehre in Schrifttum (insbes. v. Bar) und in der Rechtspr., vgl. Schaffstein, ZStW 72
(1960), 369 ff.
24 Welzel, ZStW 58 (1939), 515.
25 Welzel, ZStW 58 (1939), 515, Fn. 35.
26 Welzel, ZStW 58 (1939), 515, dazu gehört auch der Fall der Frau, die sich ihres
Ehemannes dadurch entledigt, daß sie ihn überredet, gefährliche Arbeiten in einem
Steinbruch zu übernehmen, vgl. Das Deutsche Strafrecht in seinen Grundzügen, 1.
Aufl., S. 36.
27 Welzel, ZStW 58 (1939), 515.
28 A. a. O., ZStW 58 (1939), 517, Fn. 37.
29 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl., S. 56.
30 A. a. O., S. 57.
31 Welzel, ZStW 58 (1939), 517, 558; ders., Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl.,
S. 56; vgl. auch ders., El Nuevo Sistema del Derecho Penal, Barcelona, S. 54 (spani-
B. Untergrenzen strafbaren Verhaltens 45
Ansicht, die den Fall durch die Verneinung des Vorsatzes löste, 1940 fol-
gendermaßen kritisiert: „Viel behandeltes Beispiel, ohne daß der entscheidende
Gesichtspunkt der völligen Tatbestandslosigkeit der Handlung wegen ihrer so-
zialen Adäquanz erkannt wurde. So will z. B. Frank § 59 II 2 nur den Vorsatz
verneinen!“32. Diese Meinung behielt Welzel einschließlich der 11. Auflage sei-
nes Lehrbuches bei,33 obwohl er in dieser Auflage den Gewitterfall durch die
Verneinung des Vorsatzes löste, was bei der ähnlichen Struktur von beiden Fäl-
len einen Widerspruch darstellt.34
Wenn man die Auseinandersetzung in der Literatur bezüglich der Nützlich-
keit35 und der systematischen Stellung des Sozialadäquanzprinzips außer acht
läßt, bleibt noch die Debatte hinsichtlich der Bedeutung der Sozialadäquanz in
den Werken Welzels, was hier eine Bedeutung für das Verständnis seines Sy-
stems, vor allem bezüglich der Rolle des Objektiven und Subjektiven in seiner
Lehre hat. Einerseits wird von der „traditionellen“ Sichtweise vertreten, daß
Welzel die Sozialadäquanz nur noch als allgemeines Auslegungsprinzip36 und
sche Version des „Das Neue Bild des Strafrechtssystems“, 4. Aufl., mit einigen Ergän-
zungen wie diese über die Sozialadäquanz, die sich in der deutschen Version nicht
befinden). Vgl. zur Einschränkung der Sozialadäquanz sowohl für Vorsatz- als auch
für Fahrlässigkeitsdelikte in dieser Frühphase des Finalismus auch die Ausführungen
von Schünemann, GA 1999, 211.
32 Welzel, Der Allgemeine Teil des deutschen Strafrechts in seinen Grundzügen, 1.
in 1939 anders als in 1969 löste, im Detail nicht ganz richtig. Cancio Meliá, GA
1995, 179 ff., sieht hier aufgrund der Ähnlichkeit des Gewitterfalls mit dem verwand-
ten Eisenbahnfall eine Veränderung der Meinung Welzels, allerdings hatten die zwei
unterschiedlichen Fälle im Verlauf der Jahre jeweils die gleiche Lösung. Der Gewitter-
fall wurde immer durch die Verneinung des Vorsatzes gelöst (vgl. Welzel, Das Deut-
sche Strafrecht, ab der 7. Aufl., S. 61, bis zur 11. Aufl., S. 66), während der in der
Struktur gleiche Fall der Eisenbahnfahrt immer durch die Bejahung der Sozialadä-
quanz in einer dazu widersprüchlichen Weise gelöst wurde. Der Gewitterfall wurde
neben dem Krankenhausbrand-Fall als eine Art von Fällen behandelt, bei denen der
Erfolg außerhalb der Einwirkungsmöglichkeit des Täters läge. Während der Vorsatz
beim Gewitterfall verneint wurde, verwies Welzel bei dem Krankenhausbrand-Fall auf
Punkt 3 d, S. 73, wo er dann wiederum den Todeserfolg durch den Krankenhausbrand
als nicht zweckhaft vom Täter der Körperverletzung gesteuert beurteilte und hinzu-
fügte, daß der Kausalverlauf nur in seinen allgemeinen Zügen gesteuert werden könnte.
35 Vgl. für die Kritik statt aller Schünemann, GA 1985, 346.
36 Hirsch, ZStW 74 (1962), 133 f.; Roxin, ZStW 74 (1962), 515 ff., 539; ders.,
„Folie zu den strafrechtlichen Tatbeständen“ in: Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl.,
S. 57; ders., El Nuevo Sistema del Derecho Penal (vgl. supra, Fn. 31), Barcelona,
S. 55 f.
37 Roxin, Festschrift für Klug, S. 311.
38 Zum Tatbestand gehörend zunächst einmal in: ZStW 58 (1939), 514 ff., 529;
nur strafrechtlich relevante Handlungen (einer „Person“) umfaßt, vgl. a. a. O., S. 36, 45
und passim, auch infra, § 3 C V 1 a) und § 3 C V 2 b) bb).
B. Untergrenzen strafbaren Verhaltens 47
Die Idee, daß die Lehre Welzels auf zwei großen Stützpfeilern beruht, näm-
lich der Intentionalität und den sozialen Beziehungen i. S. der Sozialadäquanz,
wurde ferner von Reyes Alvarado entwickelt. Er sieht bei den Welzelschen Be-
trachtungen der sozialen Beziehungen einen Faktor, der „von der im wesent-
lichen naturalistischen Ebene abhebt und statt dessen die Beziehungen des
Menschen in der Gesellschaft in den Mittelpunkt rückt“. Laut Reyes Alvarado
wurde diese soziale Komponente auf der Seite gelassen, um Platz für die Inten-
tionalität als Grundelement des Systems zu schaffen, sei es für die Finalisten
selbst wie für ihre Kritiker, die ihre Einwände eher nur gegen das erste Postu-
lat, nämlich die finale Handlungslehre, richteten.42
Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Frage der Normativierung des
objektiven Tatbestandes in der Frühphase von Welzel findet man bei Cancio
Meliá.43 Er untersucht, worauf sich der ursprüngliche Gedanke der Sozialadä-
quanz bezogen hat, ob auf die „Lebenswirklichkeit“, wobei es sich dann um ein
ontologisches Element handeln würde, oder auf den „normativ-gesellschaftli-
chen Tatbestandsinhalt“, was eine Annäherung an die Grundsätze unserer heuti-
gen Lehre der objektiven Zurechnung zeigen würde. Bei der ersten Möglichkeit
würde ein naturalistisches Konzept vorliegen, das nur für die Berücksichtigung
der Lebenswirklichkeit bei der Ermittlung des Gesetzeswillens helfen würde.44
Diese Möglichkeit zeigt übrigens Parallelen mit dem traditionellen Gedanken,
wonach die Welzelsche Sozialadäquanz nur als „allgemeines Auslegungsprin-
zip“ nützen würde. Cancio Meliá verwendet weitere Formulierungen zur Erläu-
terung des ontologischen Begriffes „Lebenswirklichkeit“, nämlich die faktische
Akzeptanz bestimmter Verhaltensweisen, die konkreten gesellschaftlichen Wer-
tungen eines Verhaltens,45 die gesellschaftliche Wirklichkeit als Substrat straf-
rechtlicher Tatbestände (soziale „Normalität“)46 oder die empirischen Wertvor-
stellungen einer Gesellschaft.47 Einige von Welzel verwendete Begriffe könnten
das empirisch-faktische Verständnis der wirklichen Tragweite der Sozialad-
äquanz nach der Ansicht von Cancio Meliá unterstützen, so die Bezugnahme auf
die »sozialethische Ordnung«, »Normalität« oder die soziale Adäquanz als im-
manentes Prinzip der Rechtsbildung.48 Er findet aber einige Stellen bei Welzel,
die den Nachweis liefern würden, daß er sich nicht auf die gesellschaftliche
Wirklichkeit, sondern auf die gesellschaftliche Sinnhaftigkeit als kommunika-
tiven Vorgang (bei Welzel: »soziale Bedeutung«) als das von strafrechtlichen
157.
55 Rueda Martín, Imputación objetiva, Barcelona, S. 232 ff.
56 Vgl. Nachweis supra, Fn. 39.
B. Untergrenzen strafbaren Verhaltens 49
Schwerpunkte bei Welzel in der Abwägung zwischen Sein und Wert als Gegen-
stand des Rechtes: (1) Einerseits sollte die physikalische Wirklichkeit für das
Recht als verbindlich angesehen werden, aber nicht das ganze Sein wie beim
Positivismus, sondern der Lebens- und Tätigkeitsraum in der Gemeinschaft als
Gegenstand der Wertung angenommen werden; (2) andererseits sollte diese
Wirklichkeit gleichzeitig von rechtlichen Begriffen nicht abgedeckt werden, wie
es im neukantianischen System geschah. Beim ersten Schwerpunkt wollte sich
Welzel vom damaligen Positivismus etwa dadurch entfernen, daß das ganze
Sein nicht für das Recht in Betracht kommen solle, sondern „nur derjenige
Wirklichkeitsausschnitt, der durch das praktische Dasein und Wirken des Men-
schen bestimmt wird, d. h. der menschliche Lebens- und Tätigkeitsraum in der
Gemeinschaft. Dieser erschöpft sich nicht in physikalischen, biologischen, phy-
siologischen, assoziations-psychologischen Fakten – zu ihm gehört vielmehr in
erster Linie das ganze höhere geistige Leben mit seinen konkreten Wertbezie-
hungen – . . .“59. Der zweite Schwerpunkt richtete sich gegen den Neukantianis-
mus und dessen Sichtweise der Realität als ein Chaos von Tatsachen, die eine
Formung bedürfen, und das Verständnis des Rechts und des strafrechtlichen Tat-
bestands als ein Produkt methodologischer Begriffsbildungen.60 Danach wurden
nämlich die empirischen Tatsachen durch die Gesetze, die richterliche Ausle-
gung und die Aufgabe der Literatur umgeformt, indem sie mit Strafrechtswer-
ten verbunden wurden, und deshalb waren sie nicht etwas Tatsächliches (Natür-
liches), sondern nach den Worten vom Neukantianer Wolf, etwas wesensmäßig
Rechtliches (Normatives).61 An dem Konzept von Wolf kritisierte Welzel, daß
„das rechtliche Geschehen in eine ,untatsächliche‘ begriffliche Bedeutungswelt
abgedrängt wird, die jene bedeutungsfremde empirische Wirklichkeit wertbe-
grifflich ergänzt“62. Dieser Schwerpunkt ist eigentlich bekannt aus der Fixie-
rung von Welzel in den ontologischen Strukturen, „konkreten Lebenstatbestän-
den“ und die ihnen „immanenten Wertbeziehungen“ gegenüber „abstrakten“,
„allgemeinen Wertbegriffen“, auf die sich die gesetzlichen Tatbestandsmerk-
male beziehen.63 Die „natürlichen“ Fakten wären für die „kulturelle“ Rechts-
sphäre nicht irrelevant, nur weil sie angeblich nicht in die Rechtssphäre hinein-
reich des Strafrechts, vor allem in der Tatbestandslehre, einen enormen Einfluß aus.
Da der Tatbestand und der Handlungsbegriff gerade auf einer Wirklichkeitsbasis beru-
hen, wird im Strafrecht genauso wie im allgemein-philosophischen Bereich die Frage
gestellt, ob nur die „physikalische“ Wirklichkeit in ihrer Sinnfremdheit der Gegen-
stand der Untersuchung sein sollte.
59 Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht, S. 74.
60 Z. B. bei Mezger, Festschrift für Traeger, S. 187 ff., insbes. S. 224 f.; Grünhut,
Wertphilosophie im Strafrecht, S. 69 f.
63 Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht, S. 73.
B. Untergrenzen strafbaren Verhaltens 51
reichten. „Vielmehr können der Mensch und der ihn umgebende Lebensraum
mit ihrem ganzen natürlichen und geistigen Sein, soweit es für die Lebensbezie-
hungen in der Gemeinschaft bedeutungsvoll ist, für das Recht in Betracht kom-
men“64. Für Welzel waren somit die Begriffe des Gesetzes, des Richters und
des Wissenschaftlers keine methodologischen Umformungen eines amorphen
Materials, sondern Deskriptionen eines gestalteten ontischen Seins. Allerdings
war die vorjuristische Handlung keine chaotische Summe von Willensakten und
kausalen Erfolgen, die erst durch das Recht zu einer sinnvollen Einheit umge-
formt werden. Die Teilakte bekämen einen Sinn und eine Einheit nicht erst
durch das Gesetz, sondern das Gesetz würde nur diejenige Akteinheiten aus-
wählen, die für das Gemeinschaftsleben besonders schädlich und darum straf-
würdig erscheinen.65
Diese Gedanken begleiteten eigentlich alle späteren Werke Welzels, aber ge-
rade die geschilderte Art von Abwägung zwischen Sein und Wert als Gegen-
stand der rechtlichen Betrachtung stellte er bereits vier Jahre vor seinem Werk
„Studien“ dar, und in diesem Rahmen wäre sein Konzept von der Sozialad-
äquanz zu interpretieren, nämlich aus dem Gegensatz zum Positivismus einer-
seits und zum Neukantianismus andererseits. Die Sozialadäquanz wurde von
ihm ersichtlich in eine höhere Ebene als das einfache Sein gestellt, aber nur in
der Zwischenstufe des „gesellschaftlichen“ Seins bzw. des „menschlichen Le-
bens- und Tätigkeitsraums in der Gemeinschaft“. Darin kann man alles erfas-
sen, was die Gesellschaft tatsächlich als adäquat beurteilt, bzw. eine Sammlung
aller sozialen Regeln einer bestimmten Gesellschaft als ontologische Grundlage
für das Recht. Man könnte die Interpretation der Fußnote 38 folgendermaßen
skizzieren: Die Begriffe »Verkehrsmäßigkeit« und »im Verkehr erforderliche
Sorgfalt« wären nicht als statische Seinskategorien, sondern in einer lebendigen
Funktion zu begreifen: Ein Austausch von Wirkung und Gegenwirkung auf die
Lebensgüter wäre im Verkehr ständig erforderlich, so daß einige Verhaltenswei-
sen bei einem solchen Austausch in der funktionalen Welt notwendig sozialad-
äquat sein sollten. »Funktionale« Welt wäre hier als faktischer Begriff zu inter-
pretieren, der sich nur auf die lebendige Funktion der Lebensgüter bezieht, auf
die man ständig einwirken muß. Dies wäre die erste Metaebene der Sozialad-
äquanz: Güter in einem ständigen Austausch zu betrachten und in diesem Rah-
men die faktische Adäquanz bestimmter Verhaltensweisen festzulegen. Die
zweite Metaebene wird erreicht, wenn man das Sozialadäquate nicht nur als
eine faktische Übung bei der Einwirkung auf die Lebensgüter betrachtet, son-
dern als die sozialen Regeln, die in einer geschichtlichen Welt, d. h. in einer
konkreten Gemeinschaft herrschen. Wenn Welzel sich hier auf die „normativ-
werthafte Seite“ und das „sozial Angemessene“ bezieht, könnte er auf die sozia-
64 A. a. O., S. 74.
65 A. a. O., S. 74, insbes. Fn. 54.
52 § 2 Unterschiedliche Bestimmung des strafbaren Verhaltens
Bezüglich des hier behandelten Themas der Sonderkenntnisse ist aber die So-
zialadäquanz bei der ersten Phase68 Welzels insofern von Interesse, als daß sie
(sei es als gesellschaftliche Metaebene für die Auslegung der Norm, wie es hier
vertreten wird, oder ggf. nach der Ansicht von Cancio als normativer Stütz-
punkt für die Ausscheidung normirrelevanter Verhaltensweisen) eine objektive
Untergrenze möglichen tatbestandsmäßigen Verhaltens darstellt. Sobald solche
Untergrenzen in der Normengeschichte auftauchen, ergibt sich das Problem, ob
die Sozialadäquanz.
C. Sonderwissen beim Finalismus? 53
diese Untergrenze auch bei Vorsatzdelikten anzuwenden ist, und ob sie auch bei
Tätersonderkenntnissen zum Tragen kommt. Wenn man diese Frage neben dem
Schwerpunkt der Finalität bei Welzel betrachtet, kommt man zum Knotenpunkt
bei seiner Gestaltung der Sozialadäquanz: Hatte die Täterfinalität bzw. etwaige
spezielle Täterkenntnis irgendeine Relevanz für die Bejahung oder Verneinung
der Sozialadäquanz einer Handlung? So wäre die Lehre Welzels monistisch in
dem Sinne gewesen, daß die Sozialadäquanz gegenüber der Finalität keine selb-
ständige Bewertung erfahren hätte, sondern daß es primär die Finalität gewesen
wäre, deren Sozialschädlichkeit geprüft würde und für deren Prüfung dann die
Sozialadäquanz einen ersten Filter abgegeben hätte. Oder war doch das ur-
sprüngliche System Welzels dualistisch in der Hinsicht, daß die Sozialadäquanz
als Untergrenze des strafrechtlich relevanten Handelns völlig unabhängig von
der Frage der Täterfinalität fungierte, d. h. eine Untergrenze, durch die alles Ge-
schehen ausgefiltert wird, das von vornherein keine Sozialschädlichkeit reprä-
sentiert? Zunächst einmal wären alle Verhaltensweisen eliminiert, die sozialad-
äquat sind, und überhaupt erst dann würde die Prüfung der Finalität beginnen.
So deutlich wie die heutigen Forschungen im Bereich der objektiven Zurech-
nung das Problem beschreiben, hatte sich allerdings Welzel die Frage damals
nicht gestellt. Er hatte sich vor allem darauf konzentriert, den mechanischen
kausalen Handlungsbegriff zu überwinden und die von ihm bekämpfte teleologi-
sche Begriffsbildung unbedingt zu vermeiden. Seine oben genannten Beispiele
von Sozialadäquanz betrafen in seinem Werk „Studien“ auch „final“ gerichtete
und nicht nur fahrlässige Handlungen (die Freiheitsbeschränkungen der Fahr-
gäste im öffentlichen Verkehrsmittel; die anstrengenderen Arbeiten; das Pflan-
zen einer Tollkirsche; die unerheblichen Körperverletzungen, Freiheitsbeschrän-
kungen oder Drohungen; die geringfügigen Geschenke an einen Beamten; das
Ausschenken alkoholischer Getränke; die Überredung zu einer Eisenbahnfahrt),
so daß man die Sozialadäquanz hier als Untergrenze des strafrechtlichen Ver-
haltens verstehen könnte.69 Ausdrückliche Erklärungen von Welzel über die
Funktion der Sozialadäquanz als Untergrenze findet man nur im Abschnitt über
die Fahrlässigkeitsdelikte.70 Dort wird die Sozialadäquanz als die „unterste(n)
Grenze, jenseits derer überhaupt erst das Gebiet möglicher Rechtswidrigkeit be-
ginnt“71, „die unterste Grenze möglichen tatbestandsmäßigen rechtswidrigen
Verhaltens“ bzw. „die erste Einschränkung im Unrechtstatbestand der Verursa-
chungsdelikte“ bezeichnet, „sodaß auch für sie niemals die bloße kausale
Rechtsgutsverletzung bereits das tatbestandliche Unrecht darstellt, sondern frü-
hestens ein Verhalten, das die Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt
vernachlässigt“72. Ob diese Bezeichnung „untere Grenze“ auch bedingungslos
für die Vorsatzdelikte gedacht wurde, oder ob sich Welzel hier nur auf die Fahr-
lässigkeitsdelikte beziehen wollte, ergibt sich daraus nicht; allerdings könnte
man diese Aussagen mit den zahlreichen „finalen“ Beispielen von der Sozial-
adäquanz verbinden, so daß die Sozialadäquanz doch den ersten Filter bilden
könnte. Hinzu kommt die ausdrückliche Aussage Welzels, daß sozialadäquate
Handlungen auch „nicht tatbestandsmäßig im Sinne der vorsätzlichen Delikte
[sind], wenn der Handelnde mit diesem möglichen Erfolge gerechnet hat“73.
Allerdings stellt sich dabei die Frage, ob die Untergrenze der Sozialadäquanz
für die Vorsatz- wie die Fahrlässigkeitsdelikte auf der gleichen Ebene angelegt
wurde. Im Ergebnis wäre das ursprüngliche Konzept von Welzel nach dieser
Interpretation dualistisch in dem Sinne, daß die Sozialadäquanz eine absolut
gleichberechtigte Rolle neben der Finalität gespielt hätte, und keine Abhängig-
keit der Sozialadäquanz von den Tätervorstellungen gegeben wäre.
Zweifel an dieser möglichen These entstehen durch zwei Beispiele von Wel-
zel aus seiner ersten Phase. Der Zugriff auf das objektive Kriterium der Sozial-
adäquanz brachte ihn nämlich ohne Umweg auf das Thema der Sonderkennt-
nisse. Obwohl die Bezeichnung „Sonderkenntnisse“ mit diesem Umfang nicht
von ihm verwendet wurde, behandelte er doch letztendlich das Problem, das
diese Kategorie mit sich bringt. Erstens, im Fall des lungenkranken Mädchens,
kam er im Ergebnis zu dem Problem der Sonderkenntnis, als er in seinem Werk
„Studien“ die Sozialinadäquanz des Beischlafs mit ihr bejahte, solange der Tä-
ter über die Krankheit wußte, und ihren Tod durch die Schwängerung be-
zweckte.74 Ab der 9. Auflage seines Lehrbuchs und in der letzten, spanischen
Fassung von „Das Neue Bild“ bejahte er dagegen die Sozialadäquanz trotz der
speziellen Täterfinalität.75 Zweitens wurde die Variante des Eisenbahnfalles in
der 9. Auflage des Lehrbuches und in der letzten, spanischen Fassung von „Das
Neue Bild“ eingefügt, nämlich das Ausnutzen eines geplanten Eisenbahnatten-
tats, wenn der Neffe davon zufällig erfahren hatte.76 Hier verneinte Welzel die
Sozialadäquanz und ging von der Beteiligung des Neffen als Nebentäter aus.77
72 A. a. O., 559.
73 A. a. O., 558.
74 A. a. O., 519 f., insbes. Fn. 41. Graf zu Dohna stellte die ganze Lehre der Sozial-
adäquanz aufgrund dieses Falles in Frage, da man daran sehen würde, „wie wenig mit
dieser Vorstellung gewonnen wird“, vgl. seine Rezension des Lehrbuches von Welzel
in ZStW 60 (1941), 293.
75 Welzel, El Nuevo Sistema del Derecho Penal, Barcelona, S. 54 (dieser Abschnitt
wurde nur für die spanische Übersetzung geschrieben, vgl. supra, Fn. 31); ders., Das
Deutsche Strafrecht, 9. Aufl., S. 50; 11. Aufl., S. 56. Dabei handelte es sich nicht
mehr um die ersten Werke von Welzel, sondern aus dem Jahr 1964.
76 Welzel, El Nuevo Sistema del Derecho Penal, Barcelona, S. 54 (dieser Abschnitt
wurde nur für die spanische Übersetzung geschrieben, vgl. supra, Fn. 31); ders., Das
Deutsche Strafrecht, 9. Aufl., S. 50; 11. Aufl., S. 56.
77 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, ab der 10. Aufl., S. 107; 11. Aufl., S. 111.
C. Sonderwissen beim Finalismus? 55
Wie man anhand der Beispiele erkennen kann, waren einige „spezielle“
Kenntnisse in der Welzelschen „objektiven“ Kategorie der Sozialadäquanz sehr
problematisch. Welzel bildete Fallvarianten und entschied sich für die Strafbar-
keit aufgrund des vorhandenen Vorsatzes, mit der Ausnahme der Schwängerung
des lungenkranken Mädchens, die in einer späteren Phase als sozialadäquat trotz
des vorhandenen Vorsatzes behandelt wurde.
Gerade der Welzelsche Fall des lungenkranken Mädchens in der ursprüng-
lichen Fassung, in der der Vorsatz bejaht und die Sozialadäquanz verneint wird,
wird von Cancio Meliá vorgetragen und analysiert. Dennoch sieht er bei der
ursprünglichen Ansicht von Welzel die Sozialadäquanz als Untergrenze und
keine Identifizierung von Sozialadäquanz und Finalität, d. h. daß die Sozialad-
äquanz nicht psychisch vermittelt oder ersetzt wird,78 wobei Cancio die Unter-
grenze als normativ bezeichnet. Unabhängig von diesem Fall scheint die Inter-
pretation der Lehre Welzels von Reyes Alvarado dualistisch zu sein, wenn er
sich auf die zwei Stützpfeiler bezieht, und die von Jakobs rein monistisch zu
sein, wenn er kritisch ausführt, daß Welzel individualpsychisches Faktum und
sozialen Sinn in eins setzte79 und die Sozialadäquanz zum Handlungsbegriff als
ergänzende Haftungsbegründung hinzufügte.80 Demgegenüber loben die Anhän-
ger der personalen Unrechtslehre81 die Abhängigkeit der Welzelschen Sozial-
adäquanz von den Tätervorstellungen, so daß sie auch eine monistische These
vertreten.
Wenn man die ursprüngliche Lösung für den Fall des lungenkranken Mäd-
chens aber nicht isoliert, sondern im Kontext der weiteren Ausführungen von
Welzel an der gleichen Stelle untersucht, kommt sein Ziel zum Ausdruck, so-
zialadäquate Verhaltensweise wie Beischlafen bzw. Schwängern nicht mehr als
sozialadäquat anzusehen, wenn besondere Umstände gegeben sind, der Täter sie
kennt und speziell für die Rechtsgutsobjektsverletzung ausnutzt. Seine Darstel-
lungen richten sich vor allem auf die besondere Finalität des Verhaltens im Ge-
gensatz zum reinen äußeren Geschehen, das vielleicht als adäquat angesehen
werden könnte. Welzel griff hier auf eine Beschreibung der zu untersuchenden
Tathandlung nach den Tätervorstellungen zurück und betrachtete die Sozialad-
äquanz des Beischlafs oder Schwängerns nicht mehr „objektiv“, wie er es bei der
geringwertigen Schenkung an einen Beamten und allen restlichen Beispielen
von Sozialadäquanz machte. Bei dieser Interpretation könnte man bei Welzel
ein quasi-monistisches Konzept erblicken, in dem die Sozialadäquanz in man-
chen speziellen Fällen von den Tätervorstellungen abhing, und käme zugleich
überraschenderweise zu einer Annäherung an Kategoriefelder, die wir heute
denkbar, und abgesehen davon interessiert hier für die Frage der Sonderkennt-
nisse, daß es gar nicht erforderlich gewesen wäre, sich auf den Täterwillen
beim Fall des lungenkranken Mädchens zu beziehen, da die Handlung „eine
lungenkranke Frau zu schwängern“ sozialinadäquat im „objektiven Bereich“ ge-
wesen wäre. Der Beischlaf mit bzw. das Schwängern einer nicht lungenkranken
Person wäre im Regelfall sozialadäquat, und das gleiche Verhalten bezüglich
einer lungenkranken Frau wäre sozialinadäquat. Wäre nach den Umständen des
Falles überall bekannt, daß sie lungenkrank ist, könnte man diesen Umstand als
dem objektiven Tatbestand gehörend und die Handlung wohl unbestritten als
sozialinadäquat ansehen. Allerdings könnte man die Lösung von Welzel für die-
sen Fall so verstehen, daß es eben gerade nicht sozialadäquat ist, lungenkranke
Frauen zu schwängern, und deshalb hätte er für die Bestrafung des Täters plä-
diert. Trotzdem stimmt diese Lösung nicht mit den expliziten Ausführungen von
Welzel überein, der gerade in diesem Fall die Bedeutung von Tätervorstellungen
bei der Bestimmung der Sozialadäquanz besonders zum Ausdruck bringen
wollte.
Das gleiche geschieht mit der Sozialinadäquanz der Überredung zu einer Ei-
senbahnreise, wenn man von einem geplanten Eisenbahnattentat zufällig erfah-
ren hatte. Hier ist die Handlung „zu einer Fahrt mit einer Eisenbahn überreden,
die überfallen wird“, genauso sozialinadäquat wie der ungeschützte Geschlechts-
verkehr mit einer lungenkranken Frau. Beide Verhaltensweisen werden nur mit
weiteren Umständen ergänzt, die durch den Vorsatz erfaßt werden. Sie sind aber
Varianten des „Grundfalles“, und als solche bilden sie eine ganz neue Fallkon-
stellation. Der Grundfall besteht dagegen darin, mit einer „nicht lungenkranken
Frau ungeschützten Geschlechtsverkehr zu haben“ und „zu einer normalen Ei-
senbahnreise zu überreden“. Grundfall und Variante unterscheiden sich also in
der objektiven wie in der subjektiven Beschreibung der Tat: Im Grundfall ist die
Handlung sozialadäquat, und bei der Variante handelt es sich um einen echten
Fall von Sonderkenntnissen, deshalb ist die Handlung sozialinadäquat.
Ferner sind die Fälle von wissentlichen geringfügigen Schenkungen an einen
Beamten und weitere „finale“ Fallgestaltungen keine Beispiele von Sonderwis-
sen oder speziellen Absichten des Täters. Hier war die Sozialadäquanz also als
Untergrenze zu bejahen. Die Tätervorstellungen wichen nicht vom Wissen der
Allgemeinheit in solchen Fällen ab, und der Täter hatte auch keine besonderen
Absichten, deshalb tauchte das Problem der Unterschreitung von Untergrenzen
nicht auf. Die Sozialadäquanz war für Welzel also die Untergrenze, mit einigen
Ausnahmen wie die zwei ausgesuchten (oben erwähnten) Fälle, bei denen der
Täter über spezielle Kenntnisse oder Absichten verfügte und sie für die Tat-
handlung verwendete.
Diese Setzung von Untergrenzen strafrechtlicher Relevanz und die Bildung
von Ausnahmen bei vorhandenen Sonderkenntnissen des Täters über die Schäd-
58 § 2 Unterschiedliche Bestimmung des strafbaren Verhaltens
lichkeit des eigenen Verhaltens war allerdings nicht weit entfernt von der Vor-
gehensweise der heutigen herrschenden Meinung bei der Behandlung dieser
Problematik. Diese verändert aber die Untergrenzen nur bei Sonderkenntnissen,
nicht aber bei Schädigungsabsichten des Täters im Rahmen einer üblicherweise
„sozialadäquaten“ Handlung. Demgegenüber bezog sich Welzel oft, auch in sei-
ner ursprünglichen Phase, auf die besonderen Absichten des Täters zur Begrün-
dung der strafrechtlichen Relevanz. Diese Erwägungen führen dazu, das System
von Welzel von Anfang an als monistisch anzusehen, d. h., der subjektive
Aspekt des Vorsatzdelikts bekommt die Hauptrolle bei der Bestimmung der
strafrechtlichen Relevanz.
Das Welzelsche System könnte also als monistisch bezeichnet werden; auf
jeden Fall ist es sehr problematisch, wie überall, wo Sonderkenntnisse auftauch-
ten. Dieses Problem wiederholte sich immer wieder in der dogmenhistorischen
Entwicklung der Verbrechenslehre, sobald man eine „objektive“, ggf. „norma-
tive“ Untergrenze für die Zurechnung setzen wollte: Irgendwann wußte der Tä-
ter ein bißchen mehr als die Allgemeinheit oder nutzte ein erlaubtes Risiko aus,
um es gegen ein bestimmtes Rechtsgutsobjekt zu richten.
Es ist allerdings erstaunlich, wie trotz ihrer äußerst knappen Darstellung die
Welzelsche Lehre eine Anwendung objektiver Kriterien für die Abgrenzung des
Tatbestandsbereichs umfaßt. Zwar wird nicht nur eine Untergrenze durch die
Sozialadäquanz gesucht, sondern die Kausalität selbst wird durch ein weiteres
objektives Kriterium abgegrenzt: Die Adäquanztheorie, deren Bezeichnung ähn-
lich ist, aber deren Inhalt sich im Wesentlichen von der Sozialadäquanz unter-
scheidet. Die Adäquanztheorie fragt nicht, ob das Verhalten an sich sozialad-
äquat ist, sondern ob der in Gang gesetzte Kausalverlauf adäquat für die Her-
beiführung des konkreten Erfolges ist. Es wird hier wie bei jeder objektiven
Untergrenze wieder um die Frage der Sonderkenntnisse gehen (auch in der ge-
schichtlichen Entwicklung des Adäquanzprinzips84). Welzel erstreckte die An-
wendung der Adäquanztheorie in seinem Lehrbuch von den Fahrlässigkeits- auf
die Vorsatzdelikte, um wesentliche von unwesentlichen Kausalabweichungen zu
unterscheiden: „Der Begriff der objektiven Voraussehbarkeit ist auch für die
vorsätzlichen Tatbestände von Bedeutung. Da niemand einen Handlungsablauf
bis in die letzten Konkretionen, sondern stets nur in den allgemeinen Zügen
voraussehen und vorherbestimmen kann, sind Abweichungen des wirklichen
Kausalverlaufs vom gewollten insoweit unwesentlich, als sie im Rahmen des
objektiv Voraussehbaren (also Adäquaten) bleiben“85. So hatte Welzel das Ad-
äquanzprinzip auf das angewendet, was wir heute in der Terminologie der Lehre
von der objektiven Zurechnung unter dem Begriff „Verwirklichung der Gefahr“
kennen. Ob die Handlung „adäquat“ für einen Erfolg im Sinne der Vorausseh-
84 Vgl. supra, § 1 B.
85 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 46 f.
C. Sonderwissen beim Finalismus? 59
barkeit des Erfolges ist, d. h. die heutige Kategorie der „Schaffung einer uner-
laubten Gefahr“, hatte Welzel damals noch nicht behandelt. So wäre der Kausal-
verlauf adäquat, wenn das von der Brücke geworfene Opfer nicht erst durch Er-
trinken, sondern schon durch das Aufprallen auf den Brückenpfeiler sterben
würde, oder wenn die Beilhiebe nicht tödlich waren, aber der Tod durch Infek-
tion infolge des Bielhiebes einträte, wobei dieser Fall anders zu beurteilen wäre,
wenn die Infektion auf unsachgemäße Behandlung im Krankenhaus zurückzu-
führen wäre. Sogar für die aberratio ictus bejahte Welzel die Adäquanz der
Kausalität für das tatsächlich getroffene Objekt, wenn die „Möglichkeit des ab-
weichenden Geschehensverlaufs im Rahmen der adäquaten Kausalität“ lag.86
Daß eine solche Lösung der aberratio ictus mit seinem allgemeinen Konzept
der Steuerung der Kausalität durch den Vorsatz nicht leicht zu vereinbaren war,
hat er an der gleichen Stelle angedeutet: „. . . mit nicht unbedenklicher, die Ab-
weichung des tatsächlichen Kausalverlaufs vom vorgestellten vernachlässigender
Begründung“87. In den Fällen, in denen der Erfolg bereits bei der Versuchs-
handlung eintritt, wäre die Abweichung nach Welzel ferner unbeachtlich, wenn
sie im Rahmen der adäquaten Kausalität liegen würde. Zur Erläuterung bietete
er folgende zwei Beispiele von Abweichung im Rahmen der täglichen Erfah-
rung: 1. Bereits beim Hochreißen der Waffe zum Anschlag löst sich der Schuß
und tötet das Opfer; 2. das Opfer stirbt bereits an den Schlägen, mit denen der
Täter es nur betäuben wollte, um es dann töten zu können.88
Interessant ist die Welzelsche Lösung des Krankenhausfalles, in dem der Tä-
ter mit Tötungsvorsatz auf jemanden schießt und ihn nur verwundet; dieser
stirbt aber infolge eines Brandes im Krankenhaus, wo er sich aufgrund der Ver-
letzung befand. Welzel bezog sich hier gleichwohl auf den fehlenden Vorsatz
wie auch auf die fehlende Adäquanz des Kausalverlaufs: „Der Erfolg hängt
zwar mit der Tötungshandlung des A ursächlich zusammen, ist aber in seiner
konkreten Herbeiführung nicht zweckhaft von A gesetzt . . . Allerdings ist eine
bis ins einzelne gehende Lenkung des Kausalverlaufs für den Menschen nie
möglich. Der Mensch kann den Kausalverlauf nur in seinen allgemeinen Zügen
steuern. Bedeutsam ist hierfür das Adäquanzurteil. Diejenige Abweichung des
Kausalverlaufs, die noch im Rahmen der allgemeinen Lebenserfahrung, also der
adäquaten Verursachung, liegt, ist unwesentlich“89.
Während Welzel beim Vorliegen von Sonderkenntnissen im Rahmen eines
sozialadäquaten Verhaltens auf die Untergrenze verzichtet hatte (d. h. das Ver-
halten war nicht mehr als sozialadäquat zu beurteilen, vgl. die obigen Ausfüh-
rungen), war die Untergrenze des Adäquanzprinzips beim Vorsatzdelikt unbe-
rührt, d. h. er bezog sich hier überhaupt nicht auf die Frage der Sonderkennt-
nisse. Bei seinen Ausführungen über das Adäquanzprinzip (im Vorsatzbereich)
ging es gerade darum, daß der Täter den genauen Kausalverlauf nicht in allen
seinen Einzelheiten voraussehen konnte, d. h. es handelte sich gerade um einen
Mangel im Willensbereich, der durch einen objektiven Maßstab zu beseitigen
wäre. Bei Sonderkenntnissen bezüglich der Einzelheiten des Kausalverlaufs
hätte Welzel wahrscheinlich den Vorsatz bejaht, ohne daß die objektive Inad-
äquanz eines solchen Verhaltens ein Hindernis für die Strafbarkeit darstellen
könnte oder ferner, daß weitere objektive Kriterien den vorhandenen Vorsatz
auszuschließen vermögen. Dazu verwendete er das Adäquanzprinzip beim Vor-
satzdelikt nur bei der Frage nach dem Kausalverlauf (d. h. die heute von der
Lehre der objektiven Zurechnung sogenannte „Verwirklichung der Gefahr“),
aber nicht bei der Frage, ob eine (vorsätzliche) Handlung überhaupt adäquat
wäre, den Erfolg herbeizuführen bzw. den Tatbestand zu verwirklichen (d. h.
die heute sogenannte „Schaffung einer unerlaubten Gefahr“). Zur Erweiterung
der Anwendung des Adäquanzprinzips im Vorsatzbereich auf die heutige Kate-
gorie der objektiven Zurechnung „Schaffung einer unerlaubten Gefahr“ siehe
supra, § 1 B und infra, § 3 A bis C.
D. Strenge Unterscheidung
zwischen Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikten
bereits auf der Tatbestandsebene
Der Finalismus nahm bereits auf der Tatbestandsebene eine strikte Differen-
zierung zwischen Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikten vor, d. h. beide waren im
objektiven Tatbestand zu unterscheiden: Diese Unterscheidung des Vorsatz- vom
Fahrlässigkeitsunrecht basierte aber grundsätzlich auf der finalen Handlungs-
lehre, d. h. auf dem Verständnis der Handlung als sachlogische Struktur, die
vom Strafrecht als verbindlich übernommen werden müßte:90 „Ist . . . Gegen-
stand des Strafrechts die Handlung als soziales Phänomen, so ist klar, daß der
Unterschied zwischen der Handlung als Sinnausdruck und »Handlung« als bloß
vermeidbare Verursachung auch rechtlich von größter Bedeutung ist, daß er es
verbietet, die finale Handlung und die vermeidbare Verursachung in ihrer objek-
tiven Struktur irgendwie gleichzustellen. Eine Verquickung der finalen Grund-
struktur mit der fahrlässigen Verursachung (Handlung im weiteren Sinne) –
auch nur im sog. »objektiven« Tatbestand – mußte darum zu grundsätzlichen
Fehlkonstruktionen führen, weil sie die maßgebliche Eigenart der finalen (vor-
sätzlichen) Handlung als eines realen Sinnausdrucks zwecktätigen Willens zu-
gunsten reiner Verursachungsverhältnisse vernichtet hat. Der primäre Ausgangs-
90 Unter den ersten Kritikern siehe Roxin, ZStW 74 (1962), 515 ff.
D. Strenge Unterscheidung zwischen Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikten 61
91 Welzel, ZStW 58 (1939), 503. Auch ausdrücklich auf S. 498 f.: „Wie nun, wenn
dieses dogmatische Bemühen [des Kausalismus] gerade falsch war? Wenn vorsätzli-
ches und fahrlässiges Handeln sich bereits im »objektiven« Tatbestand unterschei-
den?“; und S. 501: „Jene dem Naturalismus entgegenkommende dogmatische Tendenz,
eine für Vorsatz und Fahrlässigkeit gleichartige (und darum rein kausale) objektive
Tatbestandsgrundlage herzustellen, hat sich aus dogmatischen Gründen mehrfach als
verfehlt erwiesen! Die finale Besonderheit des objektiven Tatbestands vorsätzlicher
Verbrechen (gegenüber den Verursachungstatbeständen der fahrlässigen Delikte) hat
sich auf die Dauer nicht unterdrücken lassen!“. Die Unterscheidung zwischen Vorsatz-
und Fahrlässigkeitsdelikten auf der Ebene des objektiven Tatbestandes wird auch in
seinem Lehrbuch dargelegt: Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl., S. 129 ff.
92 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 192 f.
93 A. a. O., S. 187.
62 § 2 Unterschiedliche Bestimmung des strafbaren Verhaltens
94 Vgl. Welzel, ZStW 58 (1939), 558 ff.; ders., Der Allgemeine Teil des deutschen
98 Welzel, ZStW 58 (1939), 561. In ZStW 60 (1941), 469, 473 f. begründete er ge-
nauso wie die Willenstheorie die Strafbarkeit unbewußter Fahrlässigkeit in der fehlen-
den Willenskonzentration bei gegenwärtiger Ausführung von Aufgaben und in der
fehlenden Konzentration bei der Übernahme künftig bedeutsam werdender Aufgaben.
99 Welzel, ZStW 58 (1939), 561.
100 A. a. O., 562.
101 A. a. O., 565.
102 A. a. O., 562.
103 A. a. O., 562 f.
64 § 2 Unterschiedliche Bestimmung des strafbaren Verhaltens
faltsmaß ,ohne Rücksicht auf die Person des Täters‘ bestimmt, so darf das nicht
bedeuten, daß an Stelle des Täters mit seinen individuellen Fähigkeiten, Sinnes-
organen u. dgl. ein ,Durchschnittsmensch‘ mit ,durchschnittlichen‘ Fertigkeiten
gesetzt wird . . . Die objektive Sorgfalt verlangt lediglich ein bestimmtes Maß
an finaler Leistung auf der Grundlage der gegebenen realen Bedingungen; gene-
ralisiert werden nicht die realen Handlungsbedingungen (Situation, Handlungs-
mittel, Fertigkeiten, Sinnesschärfe), sondern die auf Grund dieser realen Bedin-
gungen erwartete einsichtige und besonnene finale Leistung“108.
An dieser Stelle wird deutlich, daß Welzel die Fähigkeiten des Täters noch
im Unrechtsbereich prüfen wollte. Trotzdem betonte er anschließend nochmals,
wie er es im ganzen Abschnitt angedeutet hatte, die Trennung zwischen Un-
recht und Schuld: „Erst bei der Schuldfrage ist zu prüfen, ob der Täter das von
der Rechtsordnung erwartete objektive Sorgfaltsmaß auch persönlich erkennen
und innehalten konnte“109. Als Prüfungsschema wurde vorgeschlagen, erst die
objektive Vorhersehbarkeit nach dem Maßstab des objektiven Beobachters, und
danach die individuelle Vermeidbarkeit zu untersuchen, also ob der Täter die
Rechtsgutsverletzung mit seinen Handlungsmitteln und Fertigkeiten vermeiden
könnte. Bei der Schuld wäre die subjektive Voraussehbarkeit des Erfolges zu
untersuchen.110
Danach änderte Welzel seine Ansicht nun deutlich im Sinne der bereits da-
mals herrschenden Meinung:111 Das Unrecht der Fahrlässigkeit würde nämlich
nicht durch die Finalität gekennzeichnet bzw. das Sorgfaltsmaß wäre nun nicht
mehr individuell, sondern objektiv zu gestalten. Damit schaffte er einen großen
Sprung bei den Vorsatzdelikten, die bei der späteren und grundlegenden Phase
von Welzel nur aus dem Verwirklichungswillen zu der gesetzlich verbotenen
Handlung ohne grundsätzliche Grenzen bestanden. Er griff bei den Fahrlässig-
keitsdelikten auf den von ihm zuvor kritisierten Begriff der „im Verkehr erfor-
derlichen Sorgfalt“ zurück und kennzeichnete ihn als einen objektiven und nor-
mativen Begriff. Die Verletzung der objektiven Sorgfalt gehörte also zum Un-
recht dieser Deliktsart.112 Für die Bestimmung der erforderlichen Sorgfalt kam
es nicht darauf an, welche Sorgfalt der Täter aufgebracht hat oder aufbringen
108 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 4. Aufl., S. 97; ders., Das Neue Bild des Straf-
S. 440 ff. und teilweise in der 6. Aufl., S. 461 f., erscheint dieses Prüfungsschema.
111 U. a. Engisch, Untersuchungen, S. 276 ff.; 326 ff.; 344 ff.
112 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, sogar auch in der 4. Aufl., S. 96 ff.; 5. Aufl.,
S. 104 ff.; 6. Aufl., S. 112 ff.; 7. Aufl., S. 114 ff.; 8. Aufl., S. 114 ff.; 9. Aufl.,
S. 116 ff.; 10. Aufl., S. 126 ff.; 11. Aufl., S. 129 ff., insbes. 134 ff.; vgl. auch ders.,
Das Neue Bild des Strafrechtssystems, sogar auch in den ersten Aufl.: 2. Aufl., S. 25;
3. Aufl., S. 33 f.; 4. Aufl., S. 32 ff.; ders., Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, S. 14 ff.;
ders., Aktuelle Strafrechtsprobleme im Rahmen der finalen Handlungslehre, S. 6 f.
66 § 2 Unterschiedliche Bestimmung des strafbaren Verhaltens
S. 111 ff.
117 Ab der 7. Aufl. seines Lehrbuchs, S. 113 ff.
118 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl., S. 46, 132, 136, 175.
119 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl., S. 46.
E. Bestimmung des Fahrlässigkeitsunrechts 67
120 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 9. Aufl., S. 118; 10. Aufl., S. 127; 11. Aufl.,
S. 132.
121 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl., S. 137.
122 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 4. Aufl., S. 98 f. und in den folgenden Aufla-
gen, z. B. 7., S. 114 ff.; ders., Das Neue Bild des Strafrechtssystems, 1. Aufl., S. 24;
2. Aufl., S. 28 f.; 3. Aufl., S. 33 f.; 4. Aufl., S. 33 f.; genauso wie in seiner früheren
Phase in ZStW 58 (1939), 557 ff.; ders., Der Allgemeine Teil des deutschen Straf-
rechts in seinen Grundzügen, S. 81.
123 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl., S. 132 ff.
124 Vgl. Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 4. Aufl., S. 99 f.; 5. Aufl., S. 108; 6.
Aufl., S. 115 f.; 7. Aufl., S. 116 f.; 8. Aufl., S. 116 f.; ders., Das Neue Bild des Straf-
rechtssystems, 1. Aufl., S. 25 f.; 2. Aufl., S. 29 f.; 3. Aufl., S. 34; 4. Aufl., S. 34 f.
In den ersten Auflagen bezog sich Welzel auf eine Pflicht zur Unterlassung der un-
sachgemäßen Handlung und auf die Prüfung erst bei der Schuld, ob dem individuellen
Täter die Verletzung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt vorzuwerfen war oder
nicht (Das Deutsche Strafrecht, 5. Aufl., S. 105; 6. Aufl., S. 114; ders., Das Neue
Bild des Strafrechtssystems, 1. Aufl., S. 20, 26; 2. Aufl., S. 25, 30; 3. Aufl., S. 32,
35).
68 § 2 Unterschiedliche Bestimmung des strafbaren Verhaltens
Was blieb bei Welzel bei den Fahrlässigkeitsdelikten in der Schuld? Die indi-
viduelle Fahrlässigkeit, d. h. die Frage, „ob der individuelle Täter diese Voraus-
sicht [der Kausalverläufe und des Erfolges] haben und damit den Erfolg vermei-
den konnte“126.
Die finale Handlungslehre hatte also die uferlose Weite der Tatbestände straf-
rechtlicher Erfolgsdelikte grundsätzlich durch drei Wege abzugrenzen versucht,
wie es oben dargestellt wurde. Einerseits gab es sowohl in der ersten als auch in
der späteren Welzelschen Phase127 die bereits oben behandelte Sozialadäquanz:
a) Entweder für Verhaltensweisen wie z. B. die Hingabe eines geringfügigen
Neujahrgeschenks an einen Beamten, wo die Kenntnisse und Absichten des Tä-
ters mit den sozialadäquaten Handlungen übereinstimmten und deshalb ihre So-
zialadäquanz nicht durch besondere subjektive Elemente beeinträchtigt wurde.
b) Oder für Verhaltensweisen, wie beispielsweise die Schwängerung des lungen-
kranken Mädchens oder die Überredung zu einer Eisenbahnfahrt, die
sozialadäquat für das Vorsatzdelikt waren, solange der Täter diese „sozialad-
äquate“ Handlung nicht aufgrund von Sonderkenntnissen oder besonderen Ab-
sichten für die Rechtsgutsverletzung ausnutzte.
Andererseits wurden die – objektiv ex ante – unvorhersehbaren Kausalver-
läufe von der Tatbestandsmäßigkeit eliminiert, indem man ihre Ädaquanz für
die Verursachung des unerwünschten Erfolges verneint hat. Welzel hat damit
das Adäquanzprinzip nicht für die Ermittlung, ob bei einer bestimmten Verhal-
tensweise mit einer Rechtsgutsobjektsverletzung objektiv zu rechnen wäre (die
heutige Kategorie der Lehre von der objektiven Zurechnung „Schaffung einer
unerlaubten Gefahr“) benutzt. Eher hat er das Adäquanzprinzip für die Beant-
wortung der Frage verwendet, ob die konkret eingetretene Rechtsgutsobjekts-
verletzung bei einer bestimmten, schon riskanten Verhaltensweise objektiv vor-
hersehbar wäre (die heute sogenannte Kategorie der „Verwirklichung der Ge-
fahr“).
Das Adäquanzprinzip wurde wiederum von einigen Vertretern der Lehre der
objektiven Zurechnung nicht nur für die Kategorie der „Verwirklichung der Ge-
fahr“, sondern auch für die „Schaffung einer unerlaubten Gefahr“ übernommen
125 Vgl. Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 4. Aufl., S. 99 f.; 5. Aufl., S. 108; 6.
Aufl., S. 115 f. (ab der 7. Aufl. wurde der Fall nicht mehr angesprochen); ders., Das
Neue Bild des Strafrechtssystems, 1. Aufl., S. 25 f.; 2. Aufl., S. 29 f.; 3. Aufl., S. 34 f.
126 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl., S. 46, vor allem aber über die Vor-
Die Probleme, die heute die Kategorie der „Sonderkenntnisse“ aufwirft, wa-
ren beim Finalismus sozusagen in einer Lethargie, verdeckt unter dem Mantel
der „Täterfinalität“ als Gegenstand der Betrachtung. Diese Kohärenz der Sy-
stematik kann aber hier nicht als Vorteil angesehen werden. Ein Rechtssystem,
das von der sachlogischen Struktur der Handlung ausging, um dadurch den
Norminhalt zu bestimmen, war zum Scheitern verurteilt, wie bereits von den
Kritikern nachgewiesen wurde.130 Hinzu kam, daß einige „problematische“ For-
men des Verhaltens im Konzept der finalen Handlung nicht berücksichtigt wur-
den. Der finalistische Zweckgedanke signalisierte nämlich mehr als Kenntnis,
viel mehr als „Kenntnis schaffen müssen“ und überhaupt viel mehr als vermeid-
bare Verhaltensweisen, die keine Finalität im Sinne von „Handeln mit einem
Zweck“ aufweisen. Der Eventualvorsatz und die Fahrlässigkeit waren damit mit
dem Begriff der Finalität kaum zu begründen.131 Das Prinzip der Finalität ist
nämlich in den Fällen bedingten Vorsatzes nicht anwendbar, da dabei das Han-
deln des Täters nicht auf die Herbeiführung bestimmter Folgen abzielt. Bei der
bewußten Fahrlässigkeit ist ggf. eine Kenntnis der Tatumstände vorhanden, aber
der Zweck der Handlung tritt in den Hintergrund, weil der Täter gerade die
Erfolgsverursachung nicht bezweckt.
Der Finalismus ging also von der finalen Struktur der Handlung als sachlogi-
sche Kategorie aus, so daß alle Zwecksetzungen prinzipiell fähig waren, rele-
vant für das Recht zu sein. Um die umfangreichen finalen Handlungen von der
rechtlichen Betrachtung auszuschließen, mußte der Finalismus im Ergebnis zu
einem Zirkelschluß kommen: Aus den zahlreichen Elementen der Wirklichkeit
wurden nur die tatbestandsrelevanten Umstände ausgesucht, um sie wiederum
als Elemente des Seins zu bezeichnen.
Wie die Reihenfolge der Erwägungen bei der Rechtsfindung (und sogar
Rechtsanwendung) zu gestalten ist, bleibt nur ein methodisches Problem.
Hauptsächlich bedarf die Gestaltung normativer Kategorien eigenständiger
rechtlicher Überlegungen und Wertungen nach wiederum normativen Zweckset-
zungen, was allerdings die wirklichen Lebensverhältnisse nicht unberücksichtigt
lassen bzw. diesen entgegengesetzt werden kann.
130 Zuerst Roxin in seiner „Kritik der finalen Handlungslehre“, ZStW 74 (1962),
515 ff. und heute die h. M. Beispielsweise bezeichnet Schünemann, Chengchi Law Re-
view 50 (1994), 283, als „naturalistischen Fehlschluß“ die finalistische Ableitung des
Sollens vom Sein, betrachtet aber richtigerweise die ontologischen Strukturen als un-
verzichtbaren Gegenstand der rechtlichen Bewertung. Allerdings geht die Tendenz im
Schrifttum immer mehr dahin, das Recht von den empirischen Gegebenheiten unab-
hängig zu machen, siehe vor allem das gesamte Werk von Jakobs, aber auch die Auf-
fassungen zahlreicher weiterer Autoren mit jeweils unterschiedlichen Nuancen.
131 Vgl. zu dieser Kritik: Schünemann, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des
1 Vgl. Roxin, Festschrift für Honig, S. 133 ff.; ders., Festschrift für Gallas,
S. 241 ff.
2 Vgl. Nachweise in Jescheck/Weigend, Lehrbuch, § 28 IV, Fn. 39; Schönke/Schrö-
der/Lenckner, StGB, vor §§ 13 ff., Rdn. 92. Die Kategorie der Schaffung einer uner-
laubten Gefahr wird von Frisch außerhalb der Lehre von der objektiven Zurechnung
als Lehre des tatbestandsmäßigen Verhaltens behandelt, vgl. ders., Tatbestandsmäßiges
Verhalten, S. 9 ff., 31 ff., 56 ff., 67, 428 f., 526 et passim; bereits im Ansatz in: ders.,
Vorsatz und Risiko, S. 504 f.; ders., Festschrift für Roxin, S. 231 ff. Zust. Eser/Burk-
hardt, Strafrecht I, Nr. 4 A 61; Freund, Erfolgsdelikt und Unterlassen, S. 9 f., 22 f.;
ders., Strafrecht AT, § 2, Rdn. 72 ff. Kritisch Roxin, Strafrecht AT I, § 11, Rdn. 46;
Schünemann, GA 1999, 216, 218.
C. Übertragung der Zurechnungskriterien 73
I. Überblick
Bezüglich der Fahrlässigkeitsdelikte ist das verbotene Verhalten ohne das Ele-
ment der Sorgfaltswidrigkeit bzw. der Gefahrschaffung für ein Rechtsgutsobjekt
kaum definierbar, da das Element der Unachtsamkeit in unserem täglichen Le-
ben auftaucht, ohne daß alle diese Arten von Verhalten strafrechtlich relevant
werden. Zwar müssen die Mindestanforderungen der strafrechtlich relevanten
Gefahrschaffung erreicht werden. Ob eine Gefahr für ein Rechtsgut geschaffen
ist, wird nach objektiven Maßstäben ex ante beurteilt. Damit hat man die ersten
Ausfilterungen aus dem Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts. Die objektive
Voraussehbarkeit des Erfolges ist aber noch unzureichend, um das verbotene
Verhalten zu konturieren. In jedem Lebensvorgang gibt es riskante Verhaltens-
weisen, die allerdings unter bestimmten Umständen toleriert werden und sogar
bei Verletzung eines Guts strafrechtlich irrelevant werden, wie es bereits oben
ausgeführt wurde: Es handelt sich um die Gewährung von Handlungsfreiräume,
die im Interesse der Handlungsfreiheit von der strafrechtlichen Relevanz aus-
scheiden.
Die Lehre von der objektiven Zurechnung als Gewährung strafrechtlicher
Handlungsfreiräume findet ihren Ursprung in der Struktur der Fahrlässigkeitsde-
likte.3 Was das vorsätzliche Verhalten betrifft, war früher das absichtliche Han-
deln das Musterbeispiel und damit im Vordergrund der Untersuchungen. Weil
der mit Absicht handelnde Täter ein erhebliches und unzweifelhaft unerlaubtes
Risiko für das Rechtsgutsobjekt in der Regel schafft,4 d. h. seine Verletzung
durch die Schaffung ubiquitärer, normaler Lebensrisiken bei ihm kaum in Frage
kommt, stellte man sich nicht die Frage nach einer objektiven Untergrenze vor-
Homenaje a Baigún, Buenos Aires, S. 254 f.; Küpper, Grenzen der normativierenden
Strafrechtsdogmatik, S. 91; Martínez Escamilla, La imputación objetiva del resultado,
Madrid, S. 84, 91; Suárez González/Cancio Meliá, Estudio preliminar, in: Jakobs, La
imputación objetiva, Madrid, S. 62; Jakobs, Objektive Zurechnung, in: Jakobs, Estu-
dios de Derecho penal, Madrid, S. 210; Puppe, Strafrecht AT 1, § 15, Rdn. 1; vgl.
ferner Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 31 f.
4 Vgl. Puppe, Strafrecht AT 1, § 15, Rdn. 1.
74 § 3 Rückkehr von Problemen bezüglich des Sonderwissens
5 Vgl. supra, § 2 A.
6 Vgl. z. B. Roxin, Strafrecht AT I, Verweise in § 11, Rdn. 44; § 24, Rdn. 5 f., 10;
Jescheck/Weigend, Lehrbuch, § 28 IV für die Lehre von der objektiven Zurechnung
beim Vorsatzdelikt, Verweis in § 55 II 2 b über das Fahrlässigkeitsdelikt.
7 Vgl. supra, Einleitung und § 2 A.
8 Vgl. die Darstellung der Einzelmeinungen zur Gleichstellung der Zurechnungskri-
Allerdings hat die objektive Zurechnung für einen Teil der Meinungen nicht
das gleiche Gewicht bezüglich der Fahrlässigkeits- und Vorsatzdelikte, und teil-
weise wird die Lehre von der objektiven Zurechnung abgelehnt. Beispielsweise
sieht eine Ansicht diese Thematik als ein Problem des Ausschlusses der Täter-
schaft9 oder der Tatherrschaft bzw. Steuerbarkeit, Beherrschbarkeit des Gesche-
hens10 und die personale Unrechtslehre behandelt es als ein Problem der „Aus-
legung der Norm“11. Ein anderer Teil des Schrifttums sieht das erlaubte Risiko
grundsätzlich auf die Fahrlässigkeitsdelikte anwendbar, so daß die Zurechnungs-
kriterien nicht immer bzw. nicht gleich bei den Vorsatzdelikten gelten würden.
Damit werden die Untergrenzen des erlaubten Risikos niedriger beim Fahrläs-
sigkeits- als beim Vorsatzdelikt gesetzt.12 Umgekehrt setzt eine andere Ansicht
die Untergrenzen des erlaubten Risikos niedriger beim Vorsatz- als beim Fahr-
lässigkeitsdelikt.13 Ferner wird es von vielen in Frage gestellt, ob das Zurech-
nungsurteil überhaupt objektiv ist, nachdem man die Sonderkenntnisse im ob-
jektiven Tatbestand berücksichtigt.14
Darüber hinaus wird in der Debatte die Frage gestellt, ob das für Vorsatz-
und Fahrlässigkeitsdelikte identische Erfordernis der Schaffung und Verwirkli-
chung einer unerlaubten Gefahr ein Stufenverhältnis zwischen beiden Delikts-
formen impliziere, so daß man bei Nichterweislichkeit des Vorsatzes einen
Fahrlässigkeitsvorwurf wegen der mißbilligten Gefahrschaffung begründen
könnte. Ein Teil der Lehre bejaht diese Frage bzw. geht davon aus, daß Vorsatz
und Fahrlässigkeit kein „entweder/oder“ sind, sondern in einem Plus-Minus
Verhältnis stehen: In jeder Vorsatztat sei eine Fahrlässigkeitstat mitenthalten.15
Armin Kaufmann, S. 240 f.; ders., Strafrecht AT I, § 11, Rdn. 39 ff.; Otto, Festschrift
für Maurach, S. 99 f.; Frisch, Vorsatz und Risiko, S. 13 f., 141 f., 211; ders., Tatbe-
standsmäßiges Verhalten, S. 15; Wolter, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des mo-
dernen Strafrechtssystems, S. 121; Jescheck/Weigend, Lehrbuch, § 28 IV; Schönke/
Schröder/Lenckner, StGB, vor §§ 13 ff., Rdn. 93; SK-Rudolphi, vor § 1, Rdn. 62;
Herzberg, Festschrift für Stree/Wessels, S. 203 ff., 215 f.; Schünemann, GA 1999,
220; Lackner/Kühl, StGB, vor § 13, Rdn. 14, unter vielen anderen.
9 Exner, Festschrift für Frank, Bd. I, S. 590; Hirsch, ZStW 74 (1962), 98, 100 f.;
Rehberg, Zur Lehre vom «Erlaubten Risiko», S. 93 ff.; siehe weitere Nachweise bei
Preuß, Untersuchungen zum erlaubten Risiko, S. 210.
10 Otto, Festschrift für Maurach, S. 92 ff.; ders., Jura 1992, 97; ders., Festschrift für
Spendel, S. 277 ff.; ders., Festschrift für E. A. Wolff, S. 404 f., 407; Ebert/Kühl, Jura
1979, 569; Küpper, Grenzen der normativierenden Strafrechtsdogmatik, S. 91 ff.;
Tröndle/Fischer, StGB, vor § 13, Rdn. 17a; Wolter, in: Gimbernat/Schünemann/Wolter
(Hrsg.), Internationale Dogmatik, S. 8; krit. dazu Herzberg, Festschrift für Stree/Wes-
sels, S. 215 f.; Kratzsch, Festschrift für Oehler, S. 66; NK-Puppe, vor § 13, Rdn. 233;
Roxin, Festschrift für Tröndle, S. 181 f.; Schönke/Schröder/Lenckner, StGB, vor
§§ 13 ff., Rdn. 92.
11 Vgl. infra, § 3 D.
12 Vgl. die Nachweise infra, § 3 F II.
13 Vgl. die Nachweise infra, § 3 F III.
14 Vgl. infra, § 6 B II 2 b) und c).
76 § 3 Rückkehr von Problemen bezüglich des Sonderwissens
Man könne z. B. keinen Totschlag begehen, ohne dabei die im Verkehr erforder-
liche Sorgfalt außer acht zu lassen. Umgekehrt könne kein Beispiel derart gebil-
det werden, daß jemand eindeutig nicht fahrlässig handele und dabei dennoch
ein Vorsatzdelikt begehe. Beispielsweise gefährde ein Boxer das Leben des an-
deren im Rahmen des erlaubten Risikos. Komme es nun unglücklicherweise
trotzdem zur tödlichen Verletzung, dann liege bei mangelnder Sorgfaltspflicht-
verletzung nicht etwa – wegen der bösen Absicht – ein Totschlag vor, sondern
es entfalle schon der objektive Tatbestand.16
Heute wird von der h. M. ein solches begriffslogisches Stufenverhältnis zwi-
schen beiden Deliktsformen abgelehnt: In jeder Vorsatztat stecke nicht begriffs-
notwendig eine fahrlässige Handlung. Werde der Vorsatz durch die Anwendung
des in dubio pro reo-Grundsatzes ausgeschlossen, sei Fahrlässigkeit also nicht
zwangsläufig zu bejahen. Vielmehr müsse bei unklarer Beweislage eine zusätz-
liche Feststellung der Außerachtlassung der erforderlichen Sorgfalt als eigen-
ständiger Vorwurf17 gegenüber dem Täter erfolgen. Damit sei das Stufenverhält-
nis normativ und der Vorsatz wird nicht als ein plus gegenüber der Fahrlässig-
keit, sondern als ein aliud, als etwas anderes als die Fahrlässigkeit, betrachtet.18
Dabei wird allerdings seitens der h. M. kaum die Frage angesprochen,19 wie
das Aliud-Verhältnis zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit und die folgerichtige
getrennte Feststellung der Tatbestandserfordernisse mit der von ihr vertretenen
Gleichstellung des objektiven Tatbestandes des Vorsatz- und Fahrlässigkeits-
delikts zu vereinbaren ist, nachdem eine Art Sorgfaltswidrigkeit beim Vorsatz-
15 Vgl. Herzberg, JuS 1986, 249 ff.; ders., JR 1986, 7 ff.; ders., JZ 1987, 536 ff.;
ders., JuS 1996, 379 ff.; ders., Festgabe BGH, Bd. IV, S. 58 ff.; ders., GA 2001,
270 f.; ders., NStZ 2004, 595 ff.; Schmidhäuser, Strafrecht AT, Studienbuch, 7/122;
Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, S. 188 f.; Jakobs, Strafrecht
AT, 9/4; NK-Puppe, § 15, Rdn. 6 („Vorsatz als Spezialfall der Fahrlässigkeit“), vor
§ 13, Rdn. 143, § 52, Rdn. 9; dies., Strafrecht AT 1, § 15, Rdn. 4; NK-Frister, nach
§ 2, Rdn. 50 ff.; Seebaß, Jahrbuch für Recht und Ethik 2 (1994), 392; Freund, Straf-
recht AT, § 7, Rdn. 39; MünchKommStGB/ders., vor § 13, Rdn. 270, 273; Münch-
KommStGB/Hardtung, § 222, Rdn. 1 f., u. a.
16 Herzberg, JR 1986, 7; ders., JuS 1986, 260, Fn. 48; ders., Festgabe BGH, Bd. IV,
kann ungeachtet der in der unerlaubten Risikoschaffung (sowie ggf. den Elementen
objektiver Zurechnung des Erfolges) liegenden (rechtstheoretischen) Gemeinsamkeit
beider Deliktsformen ein Stufenverhältnis nur wertend ermittelt werden . . .“.
C. Übertragung der Zurechnungskriterien 77
20 Roxin, Strafrecht AT, § 24, Rdn. 72; Maurach/Zipf, Strafrecht AT II, § 42 II,
daß sie in der Sache für ein Plus-Minus Verhältnis von Vorsatz und Fahrlässigkeit
stehe.
78 § 3 Rückkehr von Problemen bezüglich des Sonderwissens
für beide Deliktsformen gleich gelten und kann der Vorsatz nicht bewiesen
werden, müßte zwangsläufig die Fahrlässigkeitshaftung bejaht werden. Das ist
der entgegengesetzte Vorschlag der anfangs geschilderten Ansicht, die auch von
einer Gleichstellung der Untergrenzen für Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikte
ausgeht. Die Hervorhebung der logischen Konsequenz des letztgenannten Ansat-
zes bezüglich eines Plus-Minus-Verhältnisses spricht aber noch nicht zugunsten
einer Annahme der Gleichstellung der Zurechnungsvoraussetzungen bei Vor-
satz- und Fahrlässigkeitsdelikt. Diese Frage bedarf noch einer näheren Erörte-
rung.
In dieser Vielfalt von unterschiedlichen Konzepten und Bezeichnungen stel-
len sich zwei grundsätzliche Fragen, die miteinander verbunden werden: Wie
die einzelnen Autoren die Untergrenzen des Strafrechts begründen, und ob sie
dabei zwischen Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikten differenzieren. Bei der Un-
tersuchung dieser Problematik sind zunächst einzelne Erwägungen des Schrift-
tums zugunsten einer Gleichstellung der Zurechnungskriterien beim Vorsatz-
und Fahrlässigkeitsdelikt zu erörtern. Danach werden die Hauptströmungen der
strafrechtlichen Zurechnungstheorie, die mit unterschiedlichen Begründungen
eine Gleichstellung der Zurechnungskriterien beim Vorsatz- und Fahrlässigkeits-
delikt voraussetzen, sodann die Einwände des Spätfinalismus gegen eine solche
Gleichstellung und schließlich die Begründungen einzelner Autoren für die An-
nahme einer Ungleichstellung der Zurechnungskriterien untersucht.
Ohne sich noch über die Kriterien der Lehre von der objektiven Zurechnung
zu äußern, bejaht Maiwald die Straflosigkeit auch des vorsätzlichen Handelns
im Rahmen des erlaubten Risikos, welcher Sachgrund auch immer zur Gefähr-
dungserlaubnis führe. Er bezieht sich allerdings auf Fälle, bei denen der Han-
delnde sorgfaltsgemäß handelt und nur hofft, daß der unerwünschte Erfolg ein-
tritt: a) Ein Bergwerksunternehmer benutzt den ordnungsgemäß arbeitenden Be-
trieb nur als „Deckmantel“ für sein Vorhaben, anderen Personen Schaden
zuzufügen; dabei beachtet er aber die Sorgfaltsmaßstäbe, etwa die Unfallverhü-
tungsvorschriften der Berufsgenossenschaften; b) der kunstgerecht operierende
Arzt hofft im Innersten, daß der von ihm gehaßte Patient durch die Operation
zu Tode kommen werde.24 Ungeachtet ihrer bösen Gedanken würden beide Tä-
24 Maiwald, Festschrift für Jescheck, S. 422 f.; bereits Schaffstein, ZStW 72 (1960),
vor allem in Fn. 11; vgl. ferner Maihofer, Festschrift für Rittler, S. 158, Fn. 50; dens.,
ZStW 70 (1958), S. 189; Nowakowski, JZ 1958, 390. Auch Rehberg, Zur Lehre vom
„Erlaubten Risiko“, S. 91, behandelt das Beispiel des Arztes, wobei er den Tötungs-
vorsatz verneint, da der Täter die Verletzung nicht gleichzeitig vermeiden und herbei-
führen wollen könne.
C. Übertragung der Zurechnungskriterien 79
ter durch die Einhaltung der Sorgfaltsanforderungen alles tun, um den Schaden
zu vermeiden.
Hierbei muß man aber bereits darauf hinweisen, daß die von Maiwald behan-
delten Fälle nur noch eine reduzierte Gruppe von den möglichen vorsätzlichen
Fallkonstellationen erfassen. Es bleibt bei seinen Ausführungen unbeantwortet,
wie solche Fälle zu behandeln wären, bei denen die vorgenommene Aktivität
keinen Nutzen bringt und für die der mögliche Verletzte kein Einverständnis
erteilt hat, beispielsweise wenn er zu einer (immerhin im Allgemeinen erlaub-
ten) Aktivität gezwungen wird, die ein erhöhtes Risiko mit sich bringt, wie
Bergsteigen oder in einem Raumschiff reisen. Dabei würde m. E. das fehlende
Einverständnis die wichtigste Rolle für das Verbotensein der Handlung spielen,
da man selbst bei nützlichen Aktivitäten, wie dem Arbeiten in einer Branche,
bei der man statistisch mit einigen Todesfällen rechnen muß, nicht mehr vom
„erlaubten Risiko“ sprechen kann, wenn der Arbeiter dazu gezwungen wäre.
Weitere Autoren behandeln auch die Frage des erlaubten Risikos beim Vor-
satzdelikt, bevor sie zu den Grundsätzen der Lehre von der objektiven Zurech-
nung Stellung nehmen. Allerdings ist die Behandlung der Frage bei den meisten
sehr knapp.25 Andere Autoren haben ihre Meinung im Sinne der Lehre von der
objektiven Zurechnung geändert. Bevor Stratenwerth nämlich die Ansätze der
Lehre von der objektiven Zurechnung neuerdings in der 4. Auflage seines Lehr-
buches grundsätzlich sogar bezüglich des Vorsatzdelikts angenommen hat,26
fragte er sich bereits in der 3. Auflage, ob die Grenzen des erlaubten Risikos
bei vorsätzlichem Verhalten anders, nämlich enger zu ziehen wären als bei fahr-
lässigem. Nach seiner Ansicht „dürfte es dafür keine zureichenden Gründe ge-
ben“27, so daß eine Gleichstellung des objektiven Tatbestandes der Vorsatz- und
Fahrlässigkeitsdelikte nunmehr sogar in seiner personalen Handlungslehre mög-
lich ist.
Eine deutliche Gleichstellung der Zurechnungskriterien für das Vorsatz- und
Fahrlässigkeitsdelikt wird hauptsächlich im Rahmen der Lehre von der objekti-
ven Zurechnung vorgenommen, wobei die Begründungen für die strafrechtliche
Zurechnung und für die Beschränkung der strafrechtlichen Haftung auf einer
ganz unterschiedlichen Gedankenbasis stehen, die zugleich die Problematik der
Gleichstellung umreißen und dadurch deren Behandlung beeinflussen. Losgelöst
von den Begründungen der Hauptströmungen der Zurechnungslehre sind ein-
zelne Erörterungen im Schrifttum über die Gleichstellung nachzulesen. So wird
z. B. die Idee, das typischerweise für das Fahrlässigkeitsdelikt erforderliche Ele-
ment der Sorgfaltswidrigkeit auch für das Vorsatzdelikt zu verlangen, immer
wieder im Schrifttum geäußert. Ein Teil der Autoren, die sich auf diese Unter-
grenze beim Vorsatzdelikt beziehen, setzt sie jedoch noch „höher“ beim Vor-
satzdelikt, so daß sie qualifiziertere Gefahren für das Vorsatz- als für das Fahr-
lässigkeitsdelikt fordern und damit sozusagen einen größeren strafrechtlichen
Handlungsfreiraum beim Vorsatzdelikt lassen.28 Ansonsten stößt man bei den
Autoren, die die Sorgfaltswidrigkeit in gleichem Maß für das Vorsatz- wie für
das Fahrlässigkeitsdelikt verlangen, noch auf einige explizite Aussagen zu die-
sem Thema. So verlangt z. B. Krauß das „normative Element der Verletzung
einer im Verkehr erforderlichen Sorgfaltspflicht“ bei den Vorsatzdelikten. Nach
seiner Meinung wird der Verwirklichungswille strafrechtlich relevant nur dann,
wenn seine Betätigung sich zugleich als Verletzung eines objektiven Sorgfalts-
gebotes darstellt. Niemand könne wegen einer vorsätzlichen Tat bestraft wer-
den, der nicht auch ohne Vorsatz bei entsprechender Strafdrohung wegen fahr-
lässiger Begehung bestraft würde. Damit zeige sich deutlich, daß sich die
Erfolgstatbestände bei der Zurechnung des Erfolges im Prinzip nicht unterschie-
den.29 Genauso stellt sich nach Lenckner die Frage nach der unerlaubten Ge-
fahrschaffung oder Sorgfaltswidrigkeit nicht nur bei den Fahrlässigkeitsdelikten,
sondern auch in gleicher Weise für Vorsatztaten, „da auch für diese gilt, daß ein
nach objektiver Wertung unverbotenes Risiko diese Eigenschaft nicht deshalb
verliert, weil der Täter den Erfolg will“.30 Ferner kann nach Seebaß die Beson-
derheit des vorsätzlichen Handelns nicht darin liegen, daß die Folgen hier, an-
ders als beim fahrlässigen Handeln, absolut sicher seien. Beide Handlungstypen
würden vielmehr, wenn das erlaubte Risiko überschritten sei, die Kriterien der
„Fahrlässigkeit“ erfüllen. Diese stelle insofern keine gesonderte Spezies neben
dem Vorsatz dar, sondern ein Genus, das ihn als Sonderfall mitumfasse. Der
Vorsatz des professionellen Gunkillers, der seine Opfer mit einer Trefferwahr-
scheinlichkeit von 0.999 töte, unterscheide sich zwar in der Risikohöhe, nicht
aber in seiner Handlungsstruktur vom Leichtsinn des Autobahndränglers, dessen
Tötungsrisiko gegenüber sich selbst oder anderen vielleicht bei 0.001 liege.
Vorsätzliche und fahrlässige Handlungen haben nach Seebaß eine gemeinsame
Basis: „das Kontinuum von Wahrscheinlichkeiten, das durch normierte Risiko-
grenzen geteilt wird und alle Handlungen jenseits der Grenze als ,fahrlässige‘
ausweist“.31 Damit bekennt er sich neben der Gleichstellung der erforderlichen
Risikohöhe des Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikts zu einem Plus-Minus-Ver-
hältnis zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit. Seebaß macht aber eine Ausnahme
rung von Renzikowski, Restriktiver Täterbegriff, S. 217, zählt die Ansicht Seebaß nicht
zu denjenigen wie z. B. Puppe, die die Untergrenze beim Vorsatzdelikt niedriger als
beim Fahrlässigkeitsdelikt setzen, vgl. dazu infra, § 3 F III.
C. Übertragung der Zurechnungskriterien 81
von diesen Grundsätzen beim Boxer-Fall von Herzberg:32 Tötet der Boxer den
Gegner zwar mit sportlich korrekten Mitteln, aber böswillig, könne dieses Ri-
siko nicht toleriert werden.33 Nach Mitsch ist die Sorgfaltswidrigkeit ein unge-
schriebenes, aber jedem Tatbestand immanentes objektives Tatbestandsmerkmal,
und zwar auch der Vorsatzdelikte.34
Ansonsten bezieht sich das Schrifttum im Rahmen der Lehre von der objekti-
ven Zurechnung oder sogar der Adäquanztheorie beim Vorsatzdelikt meistens
nicht auf den Begriff der Sorgfaltswidrigkeit, sondern wendet allgemein die Zu-
rechnungskriterien auf diese Deliktsform an, auch wenn dies in der Regel aus-
drücklich nur bezüglich einiger Zurechnungskriterien geschieht. So rekurriert
z. B. Jescheck auf die Anwendung der Sozialadäquanz auf das Vorsatzdelikt,
„sofern der Täter die ihm obliegende Sorgfaltspflicht erfüllt hat“35, und auf die
Anwendung der Zurechnungskategorie des Fehlens einer rechtlich relevanten
Gefahr bzw. der normalen Lebensrisiken auch auf das Vorsatzdelikt.36
Aus der Sicht einer individualisierenden Fahrlässigkeitslehre wäre gerade eine
Gleichstellung der Zurechnungskriterien beim Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt
nicht auszuschließen. So ist z. B. für Otto die Pflicht beim Fahrlässigkeitsdelikt
situationsbezogen, denn was Menschen möglich sei und was nicht, welche Mög-
lichkeiten, der Pflicht zu genügen, überhaupt bestehen, könne nicht abstrakt,
sondern nur unter Berücksichtigung der Gegebenheiten der konkreten Situation
festgestellt werden. Insofern seien die Voraussetzungen der Erfolgszurechnung
im Vorsatz- und im Fahrlässigkeitsbereich gleich. Damit ergebe sich, daß die
Rechtspflicht, einen bestimmten Erfolg zu vermeiden, dahin gehe, diesen Erfolg
im Rahmen des dem Täter Möglichen und des von der Rechtsgesellschaft Ver-
langten zu vermeiden.37
1. In der Zurechnungslehre Roxins wird der vom Wortlaut her uferlose Um-
fang der strafrechtlichen Tatbestände allgemein im objektiven Tatbestand, auch
der Vorsatzdelikte, unter Berücksichtigung von kriminalpolitischen Erwägungen
und strafrechtlichen Zwecksetzungen im Rahmen der von ihm begründeten
Lehre von der objektiven Zurechnung beschränkt.38 Eine gesonderte Lehre des
38 Vgl. Roxin, hauptsächlich in Festschrift für Honig, S. 133 ff.; ders., Strafrecht AT
Frisch ab: „Dem Verursacher wird der Erfolg nicht zugerechnet, wenn er sich von
vornherein sachgemäß verhalten hat, und ebenso dann nicht, wenn der Kausalverlauf
besonders abenteuerlich war“, Roxin, Strafrecht AT I, § 11, Rdn. 46.
40 Roxin, Strafrecht AT I, § 11, Rdn. 39 ff.; ders., Festschrift für Honig, S. 137.
41 Roxin, Strafrecht AT I, § 11, Rdn. 43.
42 Roxin, Strafrecht AT I, § 11, Rdn. 49.
43 Vgl. supra, § 2 A.
44 Roxin, Strafrecht AT I, § 11, Rdn. 49 f.; ders., Gedächtnisschrift für Armin Kauf-
mann, S. 237 ff., 250; ders., Chengchi Law Review 50 (1994), 232 f., 247.
45 Roxin, Strafrecht AT I, § 11, Rdn. 61.
C. Übertragung der Zurechnungskriterien 83
„sozial normales Verhalten“ ist. Dies wäre für die Bestimmung des vorsätz-
lichen Verhaltens von Interesse, insofern in dieser Arbeit die Ansicht vertreten
wird, daß die Rechtsordnung die Schaffung einiger Risiken aufgrund einer Ab-
wägung zwischen Handlungsfreiheit und Rechtgüterschutz erlaubt, solange ein
Vermeidewille vorhanden ist, jedoch nicht, wenn anstatt dessen Vorsatz besteht.
Wird aber ein Verhalten von der Gesellschaft überhaupt als nicht riskant ange-
sehen, kann man bei vorhandener Verletzungsabsicht nicht plötzlich deklarieren,
daß die Handlung doch riskant sei.
Somit werden die Zurechnung und damit die „objektive“ Tatbestandsmäßig-
keit im System Roxins bei Schaffung eines Risikos, das aufgrund einer Global-
abwägung erlaubt ist, ausgeschlossen. So erlaube der Gesetzgeber z. B. den
Straßenverkehr, den gesamten öffentlichen Verkehr (auch Luft-, Schienen- und
Wasserverkehr), den Betrieb von Industriewerken, die Ausübung risikobehafte-
ter Sportarten (alles im Rahmen bestimmter Sorgfaltsregeln), ärztliche Heil-
behandlungen im Rahmen der lex artis u. ä., weil überwiegende Interessen des
Gemeinwohls das verlangten. Hier begründet Roxin nochmals den Tatbestands-
ausschluß mit kriminalpolitischen Gesichtspunkten. Diese Abwägung soll nach
seiner Meinung nicht nur für die Fahrlässigkeits-, sondern auch für die Vorsatz-
delikte gelten.46 Hier sollte man bereits darauf aufmerksam machen, daß Roxin
eine Gleichstellung der Zurechnungskriterien bei Vorsatz- und Fahrlässigkeits-
delikten vertritt, wobei er sich aber nicht auf die Extremfälle einer solchen An-
nahme bezieht, sondern auf Fälle, in denen eine solche Gleichstellung ohne De-
batte anzunehmen wäre. So werden von ihm als Beispiele für die Anwendung
der Lehre von der objektiven Zurechnung auf die Vorsatzdelikte die Veranlas-
sung zu einer Flugreise in der Hoffnung, daß der Reisende dabei verunglückt,
und das Überreden zur Beschäftigung mit gefahrenträchtigen Berufen oder
Sportarten angeführt. Das Fehlen des Vorsatzes beruhe dabei auf der Vernei-
nung des objektiven Tatbestandes.47 Ferner bestreitet Roxin, daß das Sonderwis-
sen bei der Bestimmung des strafrechtlich relevanten Verhaltens eine Rolle als
präjuristisches Datum spielen könne. Bei dessen Bestimmung würde es sich nur
um soziale Entscheidungen handeln, weshalb das subjektive Datum nicht aus-
schlaggebend sein könne, um z. B. einen Totschlag zu bejahen. Notwendig sei
dafür z. B. der Nachweis von Veränderungen bezüglich der Bestimmung des
Standards, die das Bedienen von Maschinen im Laufe der Zeit erfuhr. Was ge-
stern ein erlaubtes Risiko war, könne das heute nicht mehr sein. Letztendlich
46 Roxin, Festschrift für Honig, S. 137; ders., Gedächtnisschrift für Armin Kauf-
mann, S. 246 f.; ders., Strafrecht AT I, § 11, Rdn. 60 ff., § 24, Fn. 92; ders., Cheng-
chi Law Review 50 (1994), 231 f.
47 So geschildert gehören aber diese zwei Beispiele eher zur Kategorie der eigen-
steigung veranlaßt. Als Begründung für die Setzung dieser Untergrenze strafba-
ren Verhaltens führt er eine systematische Auslegung an: Da nach geltendem
Recht sogar die Veranlassung einer Selbsttötung straflos sei, müßte die Ver-
anlassung einer bloßen Selbstgefährdung erst recht straflos sein.53 Auf diese
Weise führt Roxin die Untergrenzen des Tatbestandsbereichs noch einmal auf
kriminalpolitische Erwägungen bzw. die Entscheidung des Gesetzgebers zurück.
Keine Untergrenze strafbaren Verhaltens würde nach Roxin die Kategorie der
hypothetischen Kausalverläufe bilden, d. h. die Fälle, in denen das tatbestand-
liche Schutzobjekt auch ohne den Angriff des Täters verloren wäre. Für die Be-
gründung der Tatbestandsmäßigkeit solcher Verhaltensweisen werden teleologi-
sche und kriminalpolitische Gedanken herangezogen: Die Rechtsordnung könne
ihre Verbote nicht deshalb zurücknehmen, weil das Schutzobjekt auf jeden Fall
verloren gewesen wäre.54 In die gleiche Richtung, vor allem aber unter Heran-
ziehung des Gesichtspunkts des Rechtsgüterschutzes, geht seine weitere Argu-
mentation, die zwei Ausnahmen von diesem Prinzip begründet. Eine Ausnahme
bilde die Modifizierung einer Naturkausalität ohne Verschlechterung der Opfer-
situation, weil dies für den Rechtsgüterschutz gleichgültig wäre.55 Eine weitere
Ausnahme bildeten die Fälle von Gefahrverringerung bzw. -ersetzung, bei denen
der Täter das Rechtsgutsobjekt verletzt, dabei jedoch die für das Opfer bereits
bestehende Gefahr verringert oder ersetzt. In allen diesen Fällen wäre der Ver-
letzungserfolg nach dem Adäquanzprinzip voraussehbar und sogar vom Täter
beabsichtigt. Für die Begründung der Setzung dieser Untergrenze strafbaren
Verhaltens bereits im Tatbestandsbereich (anstatt der früheren Lösung bei der
Rechtswidrigkeit) bezieht sich Roxin auf den Rechtsgüterschutz als Sinn und
Zweck des Strafrechts: Es wäre sinnwidrig, Handlungen zu verbieten, die den
Zustand des geschützten Rechtsgutes nicht verschlechtern, sondern verbessern.56
Diese zwei Ausnahmen als Untergrenze strafbaren Verhaltens stellen für un-
ser Thema der Gleichstellung von Zurechnungskriterien bei Vorsatz- und Fahr-
lässigkeitsdelikten kein Problem dar, da sie in der Regel gerade bei Vorsatzde-
likten Anwendung finden. Die erste Ausnahme kann sogar bei besonderen Ab-
sichten als Untergrenze verbleiben, und bei der zweiten Ausnahme handelt es
sich gerade um eine absichtliche Verringerung oder Ersetzung der Gefahr. Fer-
ner kann man sich dabei nur schwer Konstellationen vorstellen, in denen Son-
derkenntnisse auftauchen könnten. Die Erörterung dieser letzten Konstellationen
dient trotzdem der Abrundung der Problematik und gleichzeitig dazu, der Be-
53 Roxin, Strafrecht AT I, § 11, Rdn. 43; ders., Chengchi Law Review 50 (1994),
221, 224.
54 Vgl. Roxin, Strafrecht AT I, § 11, Rdn. 52 ff.
55 Roxin, Strafrecht AT I, § 11, Rdn. 55.
56 Roxin, Strafrecht AT I, § 11, Rdn. 47 f.; ders., Festschrift für Honig, S. 136 ff.;
ders., Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, S. 242 ff.; ders., Chengchi Law Review
50 (1994), 225, 248 f.
86 § 3 Rückkehr von Problemen bezüglich des Sonderwissens
57 Wolter, GA 1977, 257 ff., 266 ff.; ders., Objektive und personale Zurechnung,
S. 29 f., 33 f., 43, 154, 156, 195, 330 ff., 361; ders., in: Gimbernat/Schünemann/Wol-
ter (Hrsg.), Internationale Dogmatik, S. 13, 23.
58 Wolter, GA 1977, 272 ff.
59 Wolter, GA 1977, 262, 265, Fn. 72 b.
60 SK-Rudolphi, vor § 1, Rdn. 62, vgl. aber auch Rdn. 57.
61 Wolter, GA 1977, 263; ders., Objektive und personale Zurechnung, S. 17 ff., 31,
58.
62 Wolter, GA 1977, 264, 269, 272, Fn. 135, 274; ders., Objektive und personale
Zurechnung, S. 61.
63 Wolter, GA 1977, 272.
C. Übertragung der Zurechnungskriterien 87
laubten Risikos für das Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt zu nennen. Sein Kon-
zept führt mit aller Ausführlichkeit eine Ansicht aus, die immer wieder in der
neuen – vor allem deutschen – Literatur angedeutet wird. Er begründet die
Gleichstellung auf der Idee der Rechtsgüterschutzfunktion des Strafrechts: Weil
das Strafrecht zum Schutz der Rechtsgüter diene, könne die bloße Intentionalität
keine strafrechtliche Relevanz erlangen.64 Damit setzt er dem intentionalen Ver-
halten eine grundsätzliche Grenze. Dabei geht er von einer Interessenabwägung
zwischen Rechtsgüterschutz und Handlungsfreiheit für die Bestimmung des er-
laubten Risikos des Fahrlässigkeits- und Vorsatzdelikt aus.65 Seinem Konzept
gegenüber sind die Erwägungen infra, § 5 B und C einzuwenden, bzw. sollte
beim Vorsatzdelikt kein Bezug auf die Idee der Handlungsfreiheit hergestellt
werden.
Für die Bestimmung des strafbaren Verhaltens wird neben weiteren Kriterien
oft eine Interessenabwägung zwischen Handlungsfreiheit und Rechtsgüterschutz
vorgenommen und in der Regel gleichermaßen auf fahrlässige wie vorsätzliche
Verhaltensweisen adaptiert.66 Obwohl es mehrere Autoren sind, die die Erlaubt-
heit oder Mißbilligung von Gefahrschaffungen für Vorsatz- und Fahrlässigkeits-
delikte auf eine solche Interessenabwägung stützen, wird sich dieser Abschnitt
auf die Unrechtslehre von Frisch konzentrieren, weil sie die Interessenabwä-
gung als Grundkriterium der strafrechtsfreien Räume beider Deliktsformen dar-
stellt und sie dementsprechend ausführlich erörtert.
ten, S. 72 ff.; ders., in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, S. 196; ders., Festschrift für
Roxin, S. 222 ff.; Roxin, Strafrecht AT I, § 11, Rdn. 60; 24/37; Jakobs, Teheran-Bei-
heft zur ZStW 86 (1974), 14 ff.; ders., Strafrecht AT, 7/41 i. V. m. 6/51 ff., 59 ff. (aber
nicht als ausschließliches Kriterium, vgl. infra, V 2 d); Wolter, GA 1977, 264 f.; LK-
Schroeder, § 16, Rdn. 162; Freund, Erfolgsdelikt und Unterlassen, S. 52, 163, 165,
174, Fn. 56; ders., in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, S. 48; ders., JuS 1997, 34; See-
baß, Jahrbuch für Recht und Ethik 2 (1994), 388 ff., 391; Robles Planas, La participa-
ción en el delito, Madrid, S. 195 ff. Für eine Abwägung der entgegengesetzten Inter-
essen bei der Bestimmung des sorgfaltswidrigen Verhaltens, aber nicht zur Bestim-
mung der vorsätzlichen Risikoschaffung (deshalb keine Gleichstellung der
Zurechnungskriterien) vgl. Schünemann, JA 1975, 511, 516, 575 ff.; ders., GA 1985,
359; ders., Chengchi Law Rewiew 50 (1994), 294; ders., GA 1999, 20 f.
88 § 3 Rückkehr von Problemen bezüglich des Sonderwissens
Ausgangspunkt der Gedanken von Frisch ist die Idee, daß Risikoschaffungen
bestimmter Höhe oder Risikoerhöhungen eines bestimmten Ausmaßes nicht au-
tomatisch normativ relevant seien.67 Die Erlaubtheit und Unerlaubtheit sowohl
fahrlässigen als auch vorsätzlichen Handelns sei nach einer Interessenabwägung
zwischen der Vornahme der gefährlichen Handlung und dem Unterbleiben der
Gefährdung zu bestimmen.68 Bezüglich des Kriteriums der Interessenabwägung
für die Setzung von Untergrenzen geht Frisch davon aus, daß bestimmte Risiko-
schaffungen im Blick auf die Notwendigkeit, Erwünschtheit, soziale Nützlich-
keit oder auch nur Normalität der diese Risiken auslösenden Handlungen tole-
riert würden. Als Beispiel dafür gälten Tätigkeiten eines Unternehmers, eines
Pilots, eines Impfarztes; die Veranlassung eines Dritten zum Betreten der ent-
sprechenden Bereiche, wie das Überreden zu einer Reise, das Schenken von
Flug- oder Schiffskarten; einige Rettungshandlungen wie bei ärztlichen Heil-
maßnahmen; die Initiierung oder Förderung fremder Selbsttötung oder Selbst-
verletzung u. a. Oft werde es hier ohnehin an einer ex ante konstatierbaren Risi-
koerhöhung fehlen.69
lung führt er weiter an: „Es geht in den Vorsatzdelikten um die im Dienste des
Rechtsgüterschutzes stehende Reaktion auf solche Verhaltensweisen – das dort
vielfach herausgekehrte Moment des Sorgfaltsverstoßes sollte und kann über
diesen »Gefahrenkern« des verbotenen Verhaltens nicht hinwegtäuschen. Ent-
sprechend dieser Übereinstimmung im Grundkriterium des je vorausgesetzten
verbotenen Verhaltens besteht dann natürlich auch Übereinstimmung in der
Grundstruktur des objektiven Tatbestands überhaupt“.73 Das Risiko-Element sei
„im Verhaltensbereich ja kein Novum“, „bei den Fahrlässigkeitsdelikten ist es
der neueren Lehre längst zu einer vertrauten Einsicht geworden. Warum aber
sollte das »tatbestandsmäßige Verhalten« der Vorsatzdelikte insoweit anders aus-
sehen?“74. Trotzdem führt er an einer anderen Stelle an, daß dieses Prinzip es
nicht a priori ausschließe, die Schwellenwerte des erlaubten Risikos bei Vor-
satz- und Fahrlässigkeitsdelikte u. U. verschieden anzusetzen, diese Frage aber
im Rahmen der dortigen Ausführungen nicht weiter vertieft werden könne.75
Da sich Frisch beim Thema der Gleichstellung des objektiven Tatbestands
des Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikts speziell mit der für das Vorsatzdelikt
charakteristischen Subjektivität bzw. Täterwissen, Sonderwissen und Absichten,
aber auch mit dem Sonderwissen beim Fahrlässigkeitsdelikt beschäftigt und Un-
terscheidungen im objektiven Bereich macht, ist auch darauf im Einzelnen Be-
zug zu nehmen.
aa) Vorsatzdelikt
(1) Standardwissen
Besitzt der Täter Standardwissen über die von ihm geschaffene Gefahr, die
toleriert wird, ändert dieses Wissen nach der Meinung von Frisch nichts an der
Erlaubtheit der Gefahr.76
(2) Sonderwissen
S. 28.
90 § 3 Rückkehr von Problemen bezüglich des Sonderwissens
grund seines Sonderwissens erfaßt hat, und dem Täter, der die Gefahr trotz
Sonderwissens nicht erfaßt hat, wobei er sich mit dem Begriff des Sonderwis-
sens auf spezielles Erfahrungswissen und Urteilsvermögen bezieht. Nach seiner
Ansicht wäre es überflüssig, die Relevanz des Sonderwissens als Beurteilungs-
grundlage beim letztgenannten Täter zu ventilieren, während es wohl geradezu
trivial und selbstverständlich wäre, das Sonderwissen für die Beurteilung der
relevanten Riskantheit der Handlung des ersten Täters zugrunde zu legen, weil
hier der einer Relevanz des Sonderwissens etwa entgegenstehende Gesichts-
punkt der Überforderung des über Sonderwissen Verfügenden offensichtlich ent-
fallen würde.77 Habe also der Handelnde jenes Risiko erkannt, das nach dem
optimalen Maßstab, nicht aber nach dem Standard, begründbar sei, dürfe und
müsse der optimale Maßstab zugrunde gelegt werden, weil mit der aktuellen
Kenntnis alle Bedenken gegen eine Zugrundelegung des eine solche Kenntnis
ermöglichenden aussagekräftigeren Maßstabs entfallen würden.78
Die belastende Wirkung des Sonderwissens wird ferner von Frisch dadurch
begründet, daß man von einer Person regelmäßig erwarten dürfe, daß sie ihr
Sonderwissen bei der Verhaltenseinrichtung berücksichtige. Sonderwissen bela-
ste nach seiner Ansicht nicht, weil das Risiko dem Täter individuell erkennbar
sei – wie nach dem Ansatz Burkhardts79 –, sondern weil bei einem Sonderwis-
sen die Erwartung bestehen würde, daß man es einsetze. Das Sonderwissen
werde damit sowohl bei der Gefahrbeurteilung wie auch bei der Frage nach der
individuellen Erkennbarkeit berücksichtigt. Diese Doppelrelevanz wäre noch
deutlicher beim Vorsatzdelikt, bei dem das Sonderwissen regelmäßig die Einbe-
ziehung der entsprechenden Umstände in die Basis des Gefahrurteils rechtfer-
tige, solches Sonderwissen aber nicht den Tatvorsatz begründen müsse.80
(3) Absicht
77 Frisch, Vorsatz und Risiko, S. 134 f.; ferner ohne Differenzierung ders., in: Wol-
ter/Freund (Hrsg.), Straftat, S. 183 f.; ders., Festschrift für Roxin, S. 230 f.
78 Frisch, Vorsatz und Risiko, S. 138.
79 Vgl. infra, § 6 B II 2 a); § 6 B II 2 b) cc) (2).
80 Frisch, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, S. 184, Fn. 134.
81 Frisch, Vorsatz und Risiko, S. 141.
C. Übertragung der Zurechnungskriterien 91
fahren oder der Tod des sich durch eine Injektion mit Drogen selbst Gefährden-
den für den, der die Spritze zur Verfügung stelle.82 Solche prinzipiell tolerierten
Betätigungen würden aber ihre Erlaubtheit nicht dadurch verlieren, daß der
Handelnde sich das (erlaubte) Risiko auch bewußt mache und/oder böse Hinter-
gedanken habe. Alles andere sei nach den Worten von Frisch „ein Abgleiten ins
Gesinnungsstrafrecht“ und eine Benachteiligung des bloß Skrupulösen. Denn
mißbilligt werden könnte hier angesichts der Erlaubtheit der Risikoschaffung ja
nichts weiter als das „Haben böser Gesinnungen“ oder das Wissen um das (er-
laubte) Risiko.83 Anders sei zu entscheiden, wenn das subjektive Moment eine
Erhöhung des (tolerierten) Risikos mit sich bringe.84 Mit dieser letzten Aussage
läßt allerdings Frisch nochmals offen, wie bereits auch supra, a) dargelegt,85
unter welchen Voraussetzungen das Subjektive die Schwellenwerte des erlaub-
ten Risikos verändern könnte.
Ferner gehören diese Probleme nach Frisch zur Stufe des fehlenden unerlaub-
ten Risikos bzw. des Fehlens eines verbotenen Verhaltens und nicht des Vorsat-
zes als Gegenüberstellung von Wünschen und Wollen.86
bb) Fahrlässigkeitsdelikt
Das Sonderwissen ist im Konzept von Frisch „in der Regel“ bedeutsam, d. h.
es werden Ausnahmen gebildet, nämlich beim Fahrlässigkeitsdelikt wirkt es
nicht ohne weiteres zu Lasten des Täters. Diese Differenzierung zwischen der
Wirkung des Sonderwissens beim Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt wird da-
durch begründet, daß es sich bei dessen Berücksichtigung um ein normatives
Problem handeln würde und es deshalb nicht auszuschließen wäre, daß gewis-
ses Sonderwissen nicht veranschlagt werden könne.87 Beim Fahrlässigkeitsde-
likt würde man nämlich nach Frisch zu weit gehen, wenn man das besondere
Erfahrungswissen und Urteilsvermögen des einzelnen stets berücksichtigen
würde, weil man immer zu persönlichen Höchstleistungen im Urteilsbereich
zwingen würde. Er schlägt dann vor, das Postulat der Mobilisierung zusätzli-
chen Wissens und zusätzlicher Beurteilungsfähigkeiten auf Fälle zu beschrän-
ken, in denen diese Mobilisierung den Täter nach der Art des Wissens nicht
wesentlich belastet (z. B. wenn vom Täter nur verlangt wird, seine besondere
82 Diese zwei letzten Beispiele werden von Frisch in: Tatbestandsmäßiges Verhal-
ten, S. 122 f., ferner S. 28 f., 94 f.; ders., Festschrift für Roxin, S. 224.
84 Frisch, Vorsatz und Risiko, S. 141 mit Fn. 80.
85 Mit Verweis auf: Vorsatz und Risiko, S. 158, Fn. 148.
86 Frisch, Vorsatz und Risiko, S. 141 f.
87 Frisch, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, S. 189, Fn. 145; vgl. auch ders., Vor-
3. Zwischenbewertung
Frisch modifiziert also die Untergrenze des erlaubten Risikos beim Vorsatz-
delikt durch das Standardwissen oder böse Absichten des Täters nicht. Aller-
dings wird die Untergrenze der strafrechtlichen Relevanz bei vorhandenem –
tatsächlichem – Sonderwissen verschoben. Was das Fahrlässigkeitsdelikt betrifft,
wird die Untergrenze nicht in allen Fällen durch das Täterwissen beeinflußt.
Damit differenziert er doch in den konkreten Folgen im objektiven Unrechtsbe-
reich beider Deliktsformen.
Allerdings gehören die von ihm gelieferten Beispiele zur Irrelevanz der Täter-
absichten bei der Entscheidung über die Tolerierbarkeit einer Gefahrschaffung
zu dem Bereich, in dem die objektiven Untergrenzen bzw. die Zurechnungskri-
terien zweifellos beim Vorsatzdelikt anwendbar wären und damit die subjektive
Seite die Erlaubtheit der Gefahrschaffung nicht beeinflussen könnten: Eine
Flug- oder Schiffreise sind ohne Ausnahmen zugelassene Tätigkeiten, bzw. un-
abhängig von den individuellen Zwecken und Motivationen, solange man die
internen Regeln der jeweiligen Aktivität einhält. Ferner bildet das Beispiel der
Übergabe einer Drogenspritze, solange das Opfer das Geschehen in der gesam-
ten Dimension überblickt, einen typischen Fall der Förderung einer Selbstverlet-
zung, bei der die Frage nach der Respektierung der Handlungsfreiheit des För-
dernden, die Spritze zur Verfügung zu stellen, keine Berücksichtigung zu finden
braucht: Die Übergabe der Spritze gehört nicht deshalb zum strafrechtsfreien
Raum, etwa weil die Freiheit der Bürger in diesem Bereich geschützt werden
sollte, sondern weil der Rechtsgutsträger über Selbstschutzmöglichkeiten ver-
fügt, so daß ein strafrechtlicher Rechtsgüterschutz als nicht unerläßlich er-
scheint.89 Eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Bankvorstands kann dem-
gegenüber nicht ohne weiteres, bzw. ohne eine nähere Überprüfung der Art sei-
ner Kenntnisse über die Möglichkeit der Zahlungsunfähigkeit, ausgeschlossen
werden. Insgesamt fehlen dabei Beispiele, bei denen die Abwägung der Gü-
tererhaltungsinteressen gegenüber dem Interesse an der Handlungsfreiheit des
Normadressaten keine so deutlichen Ergebnisse liefert und deshalb das Pendel
bei vorhandener Verletzungsabsicht des Handelnden hin zum Rechtsgüterschutz
ausschlagen sollte.
1. Grundlagen
a) Die Lehre von der objektiven Zurechnung unter dem Aspekt der Schaf-
fung von Freiheitsräumen wird in der Strafrechtstheorie von Jakobs nicht an
kriminalpolitische Zwecke angeknüpft, sondern stellt auf die Luhmannsche Sy-
stemtheorie mit einer rein beschreibenden Aufgabe ab.90 Das Recht wird in die-
sem Kontext als „System“ und die Kriterien der objektiven Zurechnung als die
in einer pluralistischen Gesellschaft mit anonymen sozialen Kontakte notwen-
digen Freiräume betrachtet. Man erwarte nur die Einhaltung eines Standards,
so daß, wer den Standard einhalte, nicht zur Verantwortung gezogen werden
könne.
Für die Bestimmung der strafrechtlich nicht relevanten Freiheitsräume distan-
ziert sich Jakobs wiederum enorm von der Kausal- und Finallehre, da die physi-
kalische oder psychische Welt seiner Ansicht nach das System nicht konstituie-
ren. Aber er distanziert sich auch überhaupt von der heutigen herkömmlichen
Strafrechtslehre. In seiner Lehre geht es grundsätzlich um die soziale Welt oder
die Welt der Kommunikation. Die Bedeutung eines Verhaltens werde in einigen
Bereichen vom Recht bestimmt (so z. B. beim Straßenverkehr), und in anderen
von der sozialen Struktur selbst, so daß teilweise die Gesellschaft entscheide,
was ein bestimmtes Verhalten für das Strafrecht bedeute.91 Dabei werden Frei-
heitsräume anerkannt, die aus anonymen sozialen Kontakten entstehen. Da die
strafrechtlich relevante Handlung für Jakobs nicht aus einem physisch-psychi-
schen Geschehen, sondern aus dem Sinnausdruck besteht, daß die Norm nicht
gelte, sei das vorhandene, tatsächliche Wissen des Handelnden über die Tat
nicht immer von Relevanz, sondern erst dann, wenn das äußerliche und innerli-
che Geschehen einen kommunikativen Beitrag, einen Sinnausdruck darstelle.92
Da Jakobs eine weitere Untergrenze strafbaren Verhaltens beim Vorsatzdelikt
durch das Abstellen auf die vom Täter bei der Tat eingenommene soziale Rolle
setzt, sind seine Rollentheorie, aber auch die Grundlagen seiner Zurechnungs-
lehre und sogar des Strafrechts gesondert darzustellen.93
Es ist interessant nachzuvollziehen, wie sich die Systembegriffe etwa bei Ja-
kobs aufeinander beziehen. Die Funktion des Strafrechts sei die Bestätigung der
Identität der Gesellschaft und der Normen94, so daß man zu den Definitionen
von Norm und Gesellschaft geführt wird. Gesellschaft, und auch Person, wer-
den durch Norm definiert: Gesellschaft und Person gebe es, wenn zumindest
eine Norm gelte. Gesellschaft wird wiederum wie Norm definiert: Gesellschaft
und Norm wurzelten in einer gesellschaftlichen Verständigung.95 Damit bezie-
hen sich die Begriffe Norm, Person und Gesellschaft auf sich selbst und be-
schreiben nur den Zustand, daß es sie gibt. Gegen eine solche Beschreibung
spricht aber, daß im Bereich des Rechts eine rechtliche Relevanz zugesprochen
werden muß, d. h. es müssen Aussagen auf einer Metaebene der begrifflichen
Erfassung getroffen werden, die für diese Begründung relevant sind, was im
oben beschriebenen Gedankengang eigentlich fehlt.
Die Begriffe soziale Erwartung, Rolle und Zuständigkeit bieten auch keinen
Erkenntnisfortschritt. Die sozialen Erwartungen würden in den Normen kristalli-
sieren und würden wiederum in einer gesellschaftlichen Verständigung wurzeln.
Rolle und Zuständigkeit bedeuten nichts anderes, als daß man Normadressat
sei96 und daß die gesellschaftliche Verständigung eine Gesellschaft und Normen
feststellt, wo Aufgabenbereiche erkannt werden.
Ferner wird die Person durch ihr Verhältnis zu anderen Personen, also durch
ihre Rolle, bestimmt. Personen gebe es nur in einer Gesellschaft.97 Person wird
von Jakobs dadurch definiert, daß für sie die objektive Welt, also mindestens
eine Norm, gültig sei.98 Dadurch definiert Jakobs Person genauso wie Gesell-
schaft: daß zumindest eine Norm gelte. In seinem Bestreben, ein soziales Sy-
stem zu beschreiben, bringt Jakobs zum Ausdruck, daß die von der Gesellschaft
94 Jakobs, ZStW 107 (1995), 844 ff.; indirekt in: ders., ARSP-Beiheft 74, 57 ff.;
von Normgeltungsschaden und Normverletzung bei der Lehre von Jakobs aufmerksam
macht.
97 Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, S. 38; ders., ZStW 107 (1995), 859.
98 Jakobs, ZStW 107 (1995), 859.
C. Übertragung der Zurechnungskriterien 95
99 Jakobs, ZStW 107 (1995), 854 f., 867; ders., Norm, Person, Gesellschaft,
S. 35 ff.
100 Vgl. Jakobs, ZStW 97 (1985), 783 f.; ders., Strafrecht AT, 2/25c; ders., in:
System, zuletzt in: Festschrift für Roxin, S. 13 ff.; ferner Puppe in der Diskussion zur
Strafrechtslehrertagung 1995 in Rostock, in: Zieschang, ZStW 107 (1995), 925. Zur
Tautologie im System von Jakobs und Luhmann näher Sacher, ZStW 118 (2006).
102 Wie Luhmann selbst erkennt, vgl. z. B. in: Luhmann/Schorr (Hrsg.), Zwischen
Intransparenz und Verstehen, S. 72. Über die Zirkularität des Gedankens vgl. auch
ders., etwa in: Das Recht der Gesellschaft, S. 50. In der Philosophie wird ein tautolo-
gisches Denken nicht immer als negativ angesehen (ungeachtet der enormen theoreti-
schen Unterschiede zwischen der Anwendung solcher Tautologien), wie z. B. Heideg-
ger mit seiner phänomenologischen Seins-Konzeption und mit dem Rückgriff auch auf
Differenzierungen, vgl. dazu Kwan, Die hermeneutische Phänomenologie und das tau-
tologische Denken Heideggers, S. 108, 103 ff.; Grotz, Vom Umgang mit Tautologien,
insbes. S. 85 ff. Kritisch gegenüber Luhmann, aber doch wie andere lobend bezüglich
seines tautologischen Denkens vgl. Obermeier, Zweck – Funktion – System, S. 5, 25.
96 § 3 Rückkehr von Problemen bezüglich des Sonderwissens
103 Vgl. dazu Schünemann, Festschrift für Roxin, S. 14 ff.; ders., Festschrift für Lü-
derssen, S. 330.
104 Siehe näher Sacher, ZStW 118 (2006). So auch gegen eine Systemtheorie: Stü-
binger, KJ 26 (1993), 42 f. Ferner über die externe und interne Perspektive des Rechts
vgl. Ost/van de Kerchove, Jalons pour une théorie critique du droit, Brüssel, S. 27 ff.
(30 f.), 75 ff. (78 f.), 251 ff.; Günther, Der Sinn für Angemessenheit, S. 328 f. (der
die interne Entscheidungen über Recht und Unrecht als eine Verschleierung – mit
„Placebo-Funktion“ – der extern beobachtbaren absoluten Kontingenz des Rechts-
systems bezeichnet); vgl. auch Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 496 ff.
105 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 526, ferner 275 mit Fn. 77, 344,
347 f., 368, 373; ders., Grundrechte als Institution, S. 209, vgl. auch S. 205, aber auch
die gesamten Ausführungen über das Verhältnis zwischen Soziologie und Grundrechts-
dogmatik, S. 201 ff.; ders., ZfRS 6 (1985), 4; ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 500
mit Fn. 5. So auch über die Systemtheorie m. w. N. Kleinknecht, Positivität des Rechts
bei Niklas Luhmann, Florenz, S. 130, 171, 254 f.
106 Vgl. unter vielen z. B. W. Lübbe, Legitimität kraft Legalität, S. 128 ff. Im Straf-
Verfahren; ders., Rechtssoziologie, S. 259 ff.; ders., in: Legitimation des modernen
Staates (= Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 15), S. 65 ff. Ferner
ders., Macht, S. 55 f., 68 f.; ders., in: Lautmann/Maihofer/Schelsky (Hrsg.), Die
Funktion des Rechts in der modernen Gesellschaft (= Jahrbuch für Rechtssoziologie
und Rechtstheorie, Bd. I), S. 176 ff.; ders., in: ders., Soziologische Aufklärung – Bd.
4: Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, S. 152 ff. In der neu-
eren, radikalen Version des strafrechtlichen Normativismus vgl. Jakobs, ZStW 107
(1995), 853 ff.; ferner über die Geltung der Normen vgl. ders., ARSP-Beiheft 74, 58;
über die Wirklichkeit der Normen vgl. ders., Norm, Person, Gesellschaft, S. 51 ff.
C. Übertragung der Zurechnungskriterien 97
Luhmann nur Möglichkeiten für das rechtliche und politische System und des-
halb kontingent.108
Allerdings ist eine Reduktion der wissenschaftlichen Bestrebungen auf eine
bloße Beschreibung des Vorfindlichen und des Menschen auf die Kategorie der
„Umwelt“ in einem Bereich wie dem Strafrecht, wo die härtesten staatlichen
Mitteln gegenüber dem Individuum in Einsatz gebracht werden, nicht hinzuneh-
men. Deshalb ist die extreme Verdinglichung der Systemtheorie mit dem bloßen
Verweis aller Wertungsfragen auf die Politikwissenschaft109 und die Begründung
eines nicht nur „empiriefreien“, sondern auch „wertfreien“ Strafrechts110 nicht
nachvollziehbar. Demgegenüber kann für die Legitimation der Strafrechtsan-
wendung auf externe Zwecke und auf die reale Beziehung des Handelnden zu
seiner sozialschädlichen Tat nicht verzichtet werden, so wie auch externe, reale
Elemente, namentlich eine Konsensgrundlage, überhaupt für die Legitimation
des positiven Rechts unentbehrlich sind.111
Die Zuspitzung der Anwendung des systemtheoretischen Gedankenguts auf
das Strafrecht und zugleich ein Musterbeispiel seiner Legitimationslosigkeit bil-
det die bereits oben erwähnte Differenzierung von Jakobs in ein Bürgerstraf-
recht und ein „Feindstrafrecht“.112 Dabei beschränkt sich Jakobs nicht nur auf
eine bloße Beschreibung, sondern er rechtfertigt sogar die Anwendung eines
speziellen Strafrechts auf bestimmte Individuen.113 Das Feindstrafrecht ist im
Ergebnis eine viel zu kurz greifende Vereinfachung bei der Suche nach einer
Lösung der modernen Probleme der Kriminalität und ein ausdrücklicher Ver-
zicht auf das durch enorme Bemühungen erreichte rechtsstaatliche Strafrecht,
auch wenn Jakobs meint, daß ansonsten das „allgemeine Strafrecht“ durch
„feindstrafrechtliche“ Regelungen infiltriert würde.114 Wenn man aber entgegen
der Meinung von Jakobs die Funktion des Strafrechts im Rechtsgüterschutz an-
siedelt, bedarf man keiner weiterer Maßnahmen außerhalb des Strafrechts zur
Prävention von Gefahren für Rechtsgüter, da die Strafrechtsnormen und die
Strafe selbst dieser Aufgabe dienen sollten.115 Ferner ist dem Ansatz von Ja-
kobs entgegenzuhalten, daß die Kategorie des „Feindes“ zirkulär definiert ist,
108 Vgl. beispielsweise Habermas, in: Habermas/Luhmann (Hrsg.), Theorie der Ge-
nemann, Festschrift für Roxin, S. 13 f., und die Ergänzung „wertfrei“ auf Gracia Mar-
tín in seinem Beitrag im Donnerstags-Seminar an der Universität München im Jahr
2002, zurückzuführen.
111 Näher Sacher, ZStW 118 (2006).
112 Vgl. dazu supra, bei Fn. 100.
113 Jakobs, in: Hsu (Hrsg.), Foundations and Limits, Taipei, S. 53, 56 und 61.
114 Jakobs, in: Hsu (Hrsg.), Foundations and Limits, Taipei, S. 56 f.
98 § 3 Rückkehr von Problemen bezüglich des Sonderwissens
und zwar als prinzipieller Gegner der etablierten Rechtsordnung,116 daß diese
Kategorie unbestimmt ist (Muß er gegen alle Einzelnormen der Rechtsordnung
sein? Um welche Rechtsordnung handelt es sich?) und daß sie gegen das Verbot
eines Sonderstrafrechts und gegen die Unschuldsvermutung verstößt, wenn man
bereits vor der Urteilsverkündung als „Feind“ behandelt wird.117
e) Darüber hinaus sollte der Einwand einer latenten Ontologie innerhalb der
Systemtheorie nicht unberücksichtigt bleiben. Einige Kritiker des systemtheore-
tischen Ansatzes sehen nämlich eine ontologische Grundlage bei ihm in der
Tatsache, daß die Existenz der Systeme einfach vorausgesetzt wird118 und diese
damit als ontologisch vorgegeben anzusehen wären,119 auch wenn die System-
theorie sie als Beobachtungsresultate behandeln möchte. Bei Jakobs ist die Be-
zugnahme auf allgemeine Systemkomponenten reduziert, so daß ein Element
wie das System an sich in seinem strafrechtlichen und rechtsphilosophischen
System nicht erwähnt wird. Trotzdem sind in seinem Strafrechtssystem einige
Voraussetzungen näher zu betrachten:120
Jakobs geht von einem Individuum aus, das nach einem Schema von Lust
und Unlust (und nicht von Sollen und Freiraum wie die Person) vorgehe und
dem die Sorge für den Bestand der Gruppe fehle. Man müsse mit Protest (auch
ein Luhmannscher Begriff121) gegen die Normgeltung rechnen, außer daß die
115 Zu dieser Kritik bezüglich der Kategorie des „Feindstrafrechts“ vgl. Schüne-
mann in seinem Koreferat; ferner allgemein gegen die Idee, daß die primäre Aufgabe
des Strafrechts in der Erhaltung der Normgeltung bestehe, ders., Festschrift für Roxin,
S. 13 ff.; ders., Festschrift für Lüderssen, S. 327 f.; Eser, in: Eser/Hassemer/Burkhardt
(Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft, S. 444, u. a.
116 Jakobs, in: Hsu (Hrsg.), Foundations and Limits, Taipei, S. 57, vgl. auch S. 52.
Zu der Zirkularität der Kategorie der „Unperson“ vgl. bereits Schünemann, GA 2001,
212.
117 Vgl. näher dazu Schünemann in seinem unveröffentlichten Koreferat zu Jakobs,
in: Hsu (Hrsg.), Foundations and Limits, Taipei, S. 41 ff.; ferner Sacher, ZStW 118
(2006).
118 Vgl. die oben erwähnte Luhmannschen Aussage: „Die folgenden Überlegungen
S. 319 ff.; Nassehi, Wie wirklich sind Systeme? Zum ontologischen und epistemologi-
schen Status von Luhmanns Theorie selbstreferentieller Systeme, in: Krawietz/Welker
(Hrsg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme: „Eine Ontologisierung des Systembe-
griffs liegt tatsächlich insofern vor, als Luhmann das Sein von etwas je als Operation
von real existierenden Systemen denkt und so an die klassischen Fragestellungen der
Ontologie/Metaphysik anschließt“ (S. 53); es sei zu bedenken, „daß offenbar ontolo-
giefreies Operieren gar nicht möglich ist, daß das Sein von etwas im autopoietischen
Operieren als Seinsmodus von selbstreferentiellen Systemen immer schon vorausge-
setzt ist“ (S. 67; vgl. auch die Antwort von Luhmann an Nassehi im gleichen Werk,
S. 381); Jahraus, in: Jahraus (Hrsg.), Niklas Luhmann, Aufsätze und Reden, S. 306.
Zur Erklärung der Rolle der Empirie in einem System aus einem systemtheoretischen
Standpunkt vgl. Teubner, in: Martinsen, Das Auge der Wissenschaft, S. 137 ff.
120 Dazu näher Sacher, ZStW 118 (2006).
C. Übertragung der Zurechnungskriterien 99
Gruppe aus Engeln mit Gott bestünde.122 In dieser Begründung, warum die
Normen stabilisiert werden müssen, erscheint ein empirisches Element, das
auch ein strukturunabhängiger Bezugspunkt der Analyse sein kann, nämlich die
Tatsache, daß dem Menschen die Sorge für den Bestand der Gruppe tatsächlich
fehlt. Die Normen setzen also Normadressaten voraus, die von Natur aus be-
stimmte Eigenschaften besitzen: Es handelt sich nicht um „Engel“, sondern um
Menschen, die gegen die Normen rebellieren könnten.
aa) Allgemeines
121 Vgl. insbes. die Schriften Luhmanns in: Hellmann (Hrsg.), Protest – Systemtheo-
S. 277 f.; ders., Norm, Person, Gesellschaft, S. 9 ff., 31, 39 und passim; ders., ARSP-
Beiheft 74, 60 ff.
123 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 80 ff.
100 § 3 Rückkehr von Problemen bezüglich des Sonderwissens
siert“125 werden und daher nicht auf ein konkretes Individuum, sondern auf eine
bestimmte soziale Rolle bezogen sein.
In diesem Rahmen ist für eine Systemtheorie nicht die Rede von kognitiven
Erwartungen, sondern nun von normativen Verhaltenserwartungen. Bei Enttäu-
schung der kognitiven Erwartungen werde man daraus lernen und sie aufgeben.
Bei Enttäuschung normativer Erwartungen verändere sich nicht die Norm und
man werde sie nicht aufgeben. Normen seien demnach kontrafaktisch stabili-
sierte Verhaltenserwartungen: Ihre Geltung werde als unabhängig von der fak-
tischen Erfüllung oder Nichterfüllung der Norm erlebt und so auch institutiona-
lisiert.126
Die Erklärung von Luhmann, wie die Standardisierung stattfinden soll, kann
man zusammenfassend wie folgt formulieren: Verhaltenserwartungen werden
durch die Vermittlung einer gemeinsamen Welt, durch eine Abstraktionslei-
stung, festgehalten. Bereits für die Steuerung der Interaktionen des täglichen
Lebens sei relativ kontextfrei verständlicher Sinn erforderlich, der zunächst rela-
tiv konkret bleibe, d. h. er könne einen raschen Zugriff auf konkrete Wahrneh-
mungen ermöglichen. Die Abstraktionsleistung wird gesteigert und vom konkre-
ten Wer, Wie, Wann, Wo des aktuellen Erlebens mehr und mehr abgelöst wer-
den. Ergebnis der Selektion seien nicht die einzelnen Erwartungen, sondern nur
abstrakte Typen. Die normativen Verhaltenserwartungen würden als Normen
ausdifferenziert, die nicht „seien“, sondern nur „gälten“. Ein höherer Abstrak-
tionsgrad des Erwartungskontextes werde erreicht, wenn die Verhaltenserwar-
tungen auf soziale Rollen bezogen werden. Durch die Identifikation eines Er-
wartungszusammenhanges durch Rollen würden die individuell-persönlichen
Merkmale weggelassen. Erwarte man nur die Ausführung einer Rolle, werde
der Erwartungszusammenhang gegen persönliche Einzelheiten der Ausführung
indifferenter und zugleich würden Erwartungen von Person zu Person übertrag-
bar. Durch die Differenzierung in Rollen für die Identifikation von Erwartungs-
zusammenhängen würde also die Gesellschaft neuartige Chancen der Stabilisie-
rung des Erwartens gewinnen.127
Jakobs übernimmt diese Idee der anonymen sozialen Kontakte von Luhmann,
so daß damit auch die strafrechtlichen Verhaltenserwartungen durch eine Art
Abstraktionsfilter gehen müßten: Die Bedeutung eines Verhaltens werde objek-
tiv nach seiner Äußerung festgelegt, die im Kontext dessen interpretiert werden
Soziale Welt 20 (1969), S. 35; Jakobs, ARSP-Beiheft 74, 58 f. Kritisch darüber Ha-
bermas, Faktizität und Geltung, S. 70.
127 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 81 ff.
C. Übertragung der Zurechnungskriterien 101
müsse, was noch an Äußerungen vorliege. Das Raster, vor dem sich jedes Ver-
halten mit seiner Bedeutung verbindlich zeige, müsse an Standards, an Rollen,
an objektive Muster anknüpfen. Da die Erwartungen sich an Personen, also an
Rollenträger, in einer pluralistischen Gesellschaft richten würden, wäre die Min-
destvoraussetzung für eine Enttäuschung der Bruch einer Rolle, sei es einer be-
sonderen Rolle oder der allgemeinen Rolle des rechtstreuen Bürgers. Damit
würde der spezifisch strafrechtliche Witz an der objektiven Zurechnung einzig
in der Beschränkung der Aufgaben und der Haftung auf einen umrissenen Be-
reich bestehen. Zuständigkeit wäre in diesem Kontext also der zugeschriebene
Aufgabenbereich.128
Neben der rechtssoziologischen Begründung einer Systemtheorie gibt Jakobs
auf dem dogmatischen System basierende Gründe an für die Differenzierung in
Rollen, indem der Gedanke der Garantenstellung der Unterlassungsdelikte in die
Begehungsdelikte eingefügt wird: Das Täterwissen plus das Nicht-Retten könne
bei den Unterlassungsdelikten noch keine Strafbarkeit begründen; dementspre-
chend sei auch bei den Begehungsdelikten der Wissende ohne Garantenstellung
nicht dafür zuständig, sein Wissen zu gebrauchen.129
Schließlich ist den Behauptungen von Jakobs zu entnehmen, daß das Spe-
zielle an seinem Zurechnungssystem überhaupt die Frage des Sonderwissens
mit der Rollenbegrenzung ist. Die spezielle Folge seines ganzen systemtheoreti-
schen Konzepts ist also – neben den Besonderheiten seines äußerst normativen
Vorsatz- und Schuldbegriffs – der Ausschluß der strafrechtlichen Verantwort-
lichkeit aufgrund von Rollen auch bei vorhandenem Sonderwissen über die So-
zialschädlichkeit des Verhaltens.
Aus der Idee der anonymen sozialen Kontakte wird von Jakobs in die Beur-
teilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eine Differenzierung nach Rollen
eingeführt, die eine haftungseinschränkende Wirkung auch bei vorhandenem
Sonderwissen haben soll. Danach sei vorhandenes zufälliges Täterwissen (Son-
derwissen) nicht immer ein Grund dafür, die Grenzen des erlaubten Risikos zu
128 Jakobs, ZStW 107 (1995), 859 ff.; ders., Das Schuldprinzip, S. 29; ders., ZStW
101 (1989), 518 f.; ders., Strafrecht AT, 1/8, 6/22; ders., Handlungsbegriff, S. 31 f.;
ders., ARSP-Beiheft 74, 66 f.; auch im gleiche Sinne: Vehling, Die Abgrenzung von
Vorbereitung und Versuch, S. 93 (mit Fn. 18), 97 ff.; Derksen, Handeln auf eigene Ge-
fahr, S. 179 f.; Reyes Alvarado, ZStW 105 (1993), 116 ff., 131; Wolff-Reske, Berufsbe-
dingtes Verhalten als Problem mittelbarer Erfolgsverursachung, S. 131 ff.; Otto,
Grundkurs Strafrecht, § 9, Rdn. 30 ff. (für das Unterlassungsdelikt); Sánchez-Vera,
Pflichtdelikt und Beteiligung, S. 56 ff., u. a.
129 Jakobs, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, S. 283 ff.; vgl. auch ders.,
Lasten des Handelnden zu ändern. Daher wird von Jakobs die strafrechtliche
Verantwortlichkeit des Täters, der von der Tatbestandsverwirklichung weiß, da-
von abhängig gemacht, aus welchen Rollen der Täter seine Kenntnisse erworben
hat und in welcher Rolle er bei der zu beurteilenden Tat handelte. Während das
Sonderwissen jedenfalls beim Vorsatzdelikt für die völlig herrschende Ansicht
immer zu Lasten des Täters berücksichtigt werden muß, nimmt Jakobs sogar
hier eine Differenzierung vor: Wisse der Täter in einer Rolle etwas, was er in
der bei der Tat eingenommenen Rolle nicht wissen muß, sei er – jenseits von
§ 323c StGB – nicht verpflichtet, dieses Wissen zu gebrauchen. Im Fall des
Biologiestudenten, der aufgrund seiner im Studium erworbenen Kenntnisse eine
giftige Frucht zufällig in einem exotischen Salat erkennt und diesen als Aus-
hilfskellner trotzdem serviert, werde dieser nur wegen unterlassener Hilfelei-
stung (§ 323c StGB) verantwortlich gemacht werden können. Er dürfe nämlich,
was er in einer Rolle wisse, in einer anderen nicht wissen. Suche er dagegen
unter den Gästen sein Opfer aus, so werde sein Sonderwissen relevant, und
seine Handlung gehe infolge dessen über das erlaubte Risiko hinaus. Auch
wenn also der Täter aufgrund seiner Rolle nicht verpflichtet sei, seine Sonder-
kenntnisse einzusetzen, gehöre das Wissen dennoch dann zur Rolle, wenn er es
in Beziehung zum Opfer einsetze oder zu Lasten des Opfers ausnutze.130 So
werde der Täter also bei der strafrechtlichen Beurteilung seiner Pflichten zur
Vermeidung eines Risikos, das er nach seiner Vorstellung geschaffen hat, nicht
als ein Mensch im Sinne eines psycho-physischen Subjekts, sondern als ein
Rollenträger betrachtet.
Freilich weist Jakobs auch auf die Unsicherheiten hin, die bei der Anwen-
dung der Rollentheorie entstehen können. Als Beispiel dafür bietet er den Fall
des Autohalters, der von einem Kind, das einen unter sein Auto gerollten Ball
hervorhole, erfahre, daß die Bremsleitung lecken würde. Der Halter dürfe dann
mit dem Auto nicht fahren, auch wenn ein Fahren bei Nichtwissen innerhalb
des erlaubten Risikos gelegen hätte.131
130 Jakobs, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, S. 286; ders., Strafrecht AT, 7/
ausscheidet. Der Ingenieur leitet nicht mit Energieeinsatz ein, führt fort oder
verstärkt den rechtsgutsverletzenden Geschehensablauf. Selbst wenn man mit
der Rechtsprechung auf den Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit abstellt, kommt
man hier zu dem Ergebnis, daß ein Unterlassen vorliegt.136 Denn vorwerfbar ist
nicht die Rückgabe des Fahrzeugs (das ist sogar die Pflicht des Probefahrers),
sondern die unterlassene Mitteilung. Ein möglicher rettender, erfolgsabwenden-
der Kausalverlauf entsteht in unserem Fall nur durch die Aktivierung der Er-
kenntnisse des Ingenieurs, der allerdings diesen erfolgsabwendenden Kausalver-
lauf nicht einleitet, weil er den Wagen ohne Bemerkungen zurückgibt. Die
Rückgabe des Wagens erlangt also bei der strafrechtlichen Verantwortlichkeit
keine Relevanz. Ansonsten könnte sie eine Einordnung des Verhaltens des Inge-
nieurs in die von Roxin entwickelte Kategorie des „Unterlassens durch Tun“137
ermöglichen. Dabei wäre ein phänomenologisches Tun (hier die Rückgabe des
Wagens; es könnte sich auch um das Abstellen im Hof der Autofirma handeln)
nach Unterlassungsregeln zu behandeln, weil die Situation vergleichbar wäre
mit der, daß die Erkenntnis des Ingenieurs und die damit entstandene Möglich-
keit der Vermeidung der Rechtsgutsverletzung durch ein rettendes Verhalten
bzw. eine rettende Mitteilung über die Defekte in der Bremsleitung nicht exi-
stent gewesen wären. Letztendlich handelt es sich um eine Unterlassung, bei
der der Ingenieur wegen fehlender Garantenstellung für den Erfolg nicht straf-
rechtlich haften sollte.138 Anders wäre der Fall zu entscheiden, wenn der Ingeni-
eur den Wagen nach Erkennen des Defektes und vor dessen Rückgabe seinem
Onkel zwecks Tötung und anschließendem Erbfall zur Verfügung stellen würde.
Hier würde er einen neuen Kausalverlauf aktiv einleiten, so daß ein vorsätz-
liches Begehungsdelikt in Betracht käme.
Ferner ist eine Bejahung der Strafbarkeit nach § 323c StGB wegen unterlas-
sener Hilfeleistung bei Ausschluß der Strafbarkeit wegen Tötung oder Sach-
beschädigung kraft Rollentheorie durch Jakobs in seinem gedanklichen Ansatz
nicht nachzuvollziehen, sondern schlicht inkonsequent: Wenn die Strafbarkeit
bezüglich des im Vordergrund stehenden Tatbestands aus dem Grund ausge-
schlossen wird, daß dabei nicht ein Subjekt mit Fachwissen zur Erkennung von
Gefahren vorausgesetzt wird, sondern bloß eine Person in der ausgeübten Rolle,
sei es die eines Kellners bzw. die eines Autokäufers, müßte folgerichtig die
Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung wegen des Verhaltens in der
S. 36 ff.
136 Zur Debatte über die Abgrenzung von Begehung und Unterlassung vgl. z. B.
Rdn. 99 ff. mit der historischen Entwicklung und Verweis auf weitere Nachweise in
Fn. 137.
138 Anders im Rahmen des § 323c.
C. Übertragung der Zurechnungskriterien 105
Rolle eines „normalen“ Bürgers auch verneint werden. Da sich § 323c StGB
auch nicht an besondere, sondern an alle Bürger richtet, können Sonderkennt-
nisse für diesen Tatbestand keine strafrechtliche Relevanz erlangen. Hier muß
nach dem Ansatz von Jakobs ein Bürger gefordert werden, bei dem nur ein
Standardwissen vorausgesetzt werden sollte, so daß die Eigenschaft, unbekannte
giftige Früchte oder versteckte Defekte der Bremsleitung zu entdecken, nicht zu
seinen Lasten durch eine differenzierte Anwendung der Rollentheorie gewertet
werden könnte.
Ein weiterer Angriffspunkt gegen die Zurechnungslehre von Jakobs mit der
strengen Berücksichtigung der sozialen Rollen und vor allem gegen ihre „inter-
kulturellen Verbreitung“ betrifft den Standpunkt von Jakobs, daß der Inhalt des
Strafrechts bzw. der strafrechtlichen Normen nicht von einer wünschenswerten
Gesellschaft abhänge, sondern von derjenigen, die das Rechtssystem ausdiffe-
renziert habe. Damit müsse die konkrete gesellschaftliche Werterfahrung139 und
die Ordnung der sozialen Beziehungen berücksichtigt werden.140 Wenn man
aber mit einer solchen Aussage konsequent sein möchte und wenn man mit
Jakobs von einem soziologischen Ansatz als Grundlage des Strafrechts ausge-
hen würde, müßte man folgerichtig erkennen, daß nicht alle formulierten Zu-
rechnungsregeln ohne weiteres auf jede heutige Gesellschaft und jedes Straf-
rechtssystems angewendet werden können. Ein Bezug auf die konkreten, in der
Realität unterschiedlich gestalteten Gesellschaften impliziert allerdings bei Ja-
kobs keinen Bezug auf reale Gegebenheiten, da sein Gesellschaftsbegriff nor-
mativ ist bzw. kein Zeichen einer rechtlichen Berücksichtigung etwa einer
(vor)gegebenen Organisationsart der Gesellschaften hat, weil die Gesellschaft in
seinem Konzept durch die Normen definiert ist.141 Der Bezug auf konkrete ge-
sellschaftliche Gestaltungen, wie z. B. die moderne pluralistische Gesellschaft
mit der Anonymität der Kontakte und der starken Trennung in Zuständigkeiten,
muß deshalb wohl bloßes Beispiel in seinem rein abstrakten System und damit
als kontingent (= nicht notwendig und auch anders möglich), nicht aber als ein
empirisches Element mit Realitätsbezug in seiner Systemtheorie angesehen wer-
den.
Wenn nun aber von den Rechtssystemen die Organisationsart der Gesellschaft
berücksichtigt wird, so müssen doch die Unterschiede der verschiedenen Gesell-
139 Jakobs, Das Schuldprinzip, S. 29 f.; ders., ZStW 107 (1995), 846, 855; bezüg-
lich der Legitimation der Strafe: ders., Strafrecht AT, 1/21, 1/23.
140 Jakobs, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, S. 285.
141 Vgl. Jakobs, ZStW 107 (1995), 843; ders., Norm, Person, Gesellschaft, S. 30,
142 Für die spanischsprachigen Länder vgl. den Einfluß von Jakobs in den Werken
von z. B. Reyes Alvarado, Imputación objetiva, Santa Fe de Bogotá, mit einer Zusam-
menfassung in ZStW 105 (1993), 108 ff.; Cancio Meliá, im Ansatz in: Conducta de la
víctima, Barcelona, S. 216, 287 ff., 291 f., 369; ders., ZStW 111 (1999), 373, 377 ff.;
Silva Sánchez, La expansión del Derecho penal, Madrid, S. 163 ff.; E. Bacigalupo,
Principios, PG, Madrid, z. B. S. 247; S. Bacigalupo, in: Cuadernos de política crimi-
nal, Madrid, 1999, S. 11 ff., insbes. S. 31 ff., 34 ff. (auch wenn sie sich in einigen
Fragen von der Lehre Jakobs deutlich distanzieren, siehe z. B. die Einwände von Can-
cio Meliá gegen die Idee eines Feindstrafrechts in Jakobs/Cancio Meliá, Derecho
penal del enemigo, Madrid, S. 59 ff.). Vgl. sogar die Werke in deutscher Sprache
der spanischen Wissenschaftler Sánchez-Vera, Pflichtdelikt und Beteiligung, und
González-Rivero, Strafrechtliche Zurechnung bei Defektzuständen. Zur Feststellung,
daß die Theorie von Jakobs einen großen Einfluß in Lateinamerika hat, vgl. Ambos,
Völkerstrafrecht, S. 62 f.; Cancio Meliá, in: Jakobs/Cancio Meliá, a. a. O., S. 92. In
asiatischsprechenden Länder erregt diese Lehre immer mehr wissenschaftliches Inter-
esse.
C. Übertragung der Zurechnungskriterien 107
143 Vgl. Jürgens, in: Matthes (Hrsg.), Soziale Welt, Zwischen den Kulturen?, S. 309;
aa) Allgemeines
Eine objektive und eine subjektive Seite des strafrechtlichen Unrechts, so wie
die herkömmliche Lehre differenziert, ist im System von Jakobs in dieser Ge-
stalt nicht zu finden. Das Objektive bezeichnet bei ihm nicht speziell die ex-
terne Handlung und den verursachten Erfolg wie bei der Kausal- und Final-
lehre, aber auch nicht wie bei moderneren Konstruktionen wie etwa dem
Zweckrationalismus, sondern die Tat als Sinnausdruck, als kommunikativer Bei-
trag im sozialen Kontext. Ferner wird anstatt der herkömmlichen subjektiven
Unrechtsseite die von ihm sogenannten Kategorie der personalen Zurechnung
konstituiert. Eine subjektive Zurechnung i. S. einer „individualisierenden“ Zu-
rechnung wird in seinem System abgelehnt.145
Beide Seiten des Verbrechens werden frei von jeglicher Ontologie konstitu-
iert, so wie auch Luhmann das Objektive und das Subjektive versteht: „Objektiv
ist das, was sich in der Kommunikation bewährt. Subjektiv ist das, was sich in
Bewußtseinsprozessen bewährt, die dann ihrerseits subjektiv das für objektiv
halten, was sich in der Kommunikation bewährt, während die Kommunikation
ihrerseits Nicht-Zustimmungsfähiges als subjektiv marginalisiert.“146 Aufgrund
der vielen Selbstreferenzen ist es schwer, die Bedeutung von Objektivität und
Subjektivität aus dieser Aussage zu entnehmen. Jakobs greift aber auch auf eine
Selbstkonstitution der objektiven und personalen Seite im strafrechtlichen Un-
recht zurück, was im folgenden zu verdeutlichen versucht wird.
Handlungsbegriff solle also nicht vor der Gesellschaft gesucht werden, sondern
in der Gesellschaft.149
Sinnausdruck sei nur als kommunikativer Vorgang begreifbar: Es komme so-
wohl auf die Perspektive des Ausdrückenden, als auch diejenige des Empfän-
gers an, der nicht über das individuelle Deutungsschema des Ausdrückenden
verfüge, oder, wenn er darüber verfüge, sei dieses Schema jedenfalls nicht al-
lein schon maßgeblich, nur weil es sich um das individuelle Schema handeln
würde. Die subjektive Erfolgsvorstellung sei nur dann kommunikativ relevant,
wenn sie auf einem kommunikativ relevanten Deutungsschema beruhe. Werde
das Deutungsschema etwa von einem Kind konstruiert oder beruhe es auf über-
irdischen Kräften, sei es nicht kommunikativ relevant. Ferner sei ein Verhalten
wegen seiner Finalität, seines Kausalzusammenhanges zum Erfolg oder dessen
Voraussehbarkeit nicht unbedingt kommunikativ relevant. Das gesellschaftliche
Deutungsschema hebe bestimmte Zusammenhänge als maßgeblich heraus. Da-
mit Sinnausdruck einem bestimmten Verhalten zugeordnet werde, müsse es als
maßgebliche, nicht nur zufällige Bedingung für den Verlauf zum Erfolg verstan-
den werden. Der Erbauer einer viel befahrenen Straße sei beispielsweise auch
für die auf dieser Straße geschehenen tödlichen Unfälle ursächlich, allerdings
„töte“ er nicht, auch wenn er diese Unfälle beabsichtigt habe. Nach dem gesell-
schaftlichen Deutungsschema gelte die Auslösung einer solche Ursache als
nicht erfolgsrelevant. Dies sei von der subjektiven Seite ganz unabhängig.150
Diese Interpretation des Verhaltens im sozialen Kontekt heiße also „objektive
Zurechnung“. Durch die objektive Zurechnung würden die Erwartungen für die
unterschiedlichen Situationen stereotypisiert. Die Person werde also als Stereo-
typ, als Rollenträger, als rechtstreue Person eingesetzt, und die Erwartungen
richteten sich an Personen, also an Rollenträger.151 Die oben geschilderte Rol-
lentheorie und der Gedanke der anonymen sozialen Kontakte werden hier einge-
setzt.
149 Jakobs, Handlungsbegriff, S. 12; vgl. auch ders., ARSP-Beiheft 74, 64.
150 Jakobs, Handlungsbegriff, S. 27 ff.; vgl. auch ders., ARSP-Beiheft 74, 63 f.
151 Jakobs, ZStW 101 (1989), 518; ders., ZStW 107 (1995), 860 f.; ders., ARSP-
konkreten strafrechtlichen Bedürfnissen, den Vorsatz des Täters bei der Tatbeur-
teilung zu berücksichtigen. Die traditionelle Strafrechtsdogmatik überprüft im
konkreten Fall das Vorhandensein einer tatsächlichen psychischen Beziehung
des Täters zu seiner Tat. Nach den heutigen Werteinstellungen ist ein Verzicht
auf die Berücksichtigung irgendeiner „personellen“ Einstellung des Täters zu
seiner Tat im Strafrecht nicht möglich, deshalb müßte eine Systemtheorie diese
Einstellung in das Programm des autopoietischen Systems „Strafrecht“ ein-
bauen. Allerdings kann sich ein rein normatives Programm einen etwaigen Be-
zug zur Natur nicht leisten: Das Subjekt ist aus der Perspektive einer System-
theorie eine Konstruktion, die in der Wirklichkeit kein Korrelat erfordert.152
Der Verzicht auf eine Subjektbezogenheit ist allerdings nicht nur in einem sol-
chen theoretischen Rahmen zu finden: Mehrere einflußreiche Strömungen der
deutsch-französischen Gegenwartsphilosophie üben nämlich ebenfalls eine Sub-
jekt-Kritik mit der postmodernen Metapher vom „Tod des Subjekts“153. Die
Individualität des Täters, d. h. seine individuellen Kenntnisse, müßten deshalb
auch im Bereich des Rechts auf der Seite gelassen werden. Wie und ob ein
subjektsbezogenes Element in die selbstreferenzielle Strafrechtsdogmatik einzu-
beziehen wäre, bedürfte einer weiteren Begründung.
Die erste Frage ist also, wie der Vorsatz nach Jakobs zu konstruieren ist. Es
entsteht aber eine zweite Frage, die sogar Vorrang hat: Wieso muß im System
von Jakobs überhaupt irgendein Bezug zum Vorsatz genommen werden, bzw.
warum reicht bei einer gesellschaftlichen Sicht des Strafrechts nicht ein objekti-
ver Sinnausdruck der Person für die Zurechnung aus?154 Geschichtlich betrach-
tet entsteht subjektive Zurechnung nach Jakobs aus der Entzauberung der Welt
seit der Epoche der Aufklärung.155 Nun geht es um die fundamentale Frage
nach der Subjektbezogenheit in der Spannung zwischen der Systemtheorie und
dem Teilsystem Strafrecht (das auf eine solche Bezogenheit, wie bereits er-
wähnt, nicht verzichten kann). Beide Fragen, die die Zurechnungslehre von Ja-
kobs auf den Prüfstein stellen, werden nun parallel behandelt.
Den Ausführungen von Jakobs über die personale Zurechnung kann man ent-
nehmen, daß die Unkenntnis des Täters über die Tatumstände ihn in einigen
Konstellationen entlastet, so daß der Eindruck erweckt wird, daß Subjektbe-
zogenheit bei der personalen Zurechnung von Jakobs zum Ausdruck kommen
würde. Deshalb ist zunächst Bezug auf die Konstellationen zu nehmen, bei de-
nen die Unkenntnis nach Jakobs entlasten würde. Nach seiner Auffassung ent-
lastet Unkenntnis beim Irrtum, beispielsweise bei irrtümlich entstandenen Kal-
kulationsfehlern, verzeihlicher Verwirrung oder ähnlichem. Unkenntnis entlaste,
weil sie sich dem Grunde nach nicht spezifisch gegen fremde Güter richte (also
keinen Mangel an Normbefolgungsmotivation zeige), sondern vielmehr mit der
Gefahr einer Selbstverletzung als poena naturalis verbunden sei. Diese Art von
Unkenntnis impliziere noch eine Normbefolgungsbereitschaft. Sie sei keine Er-
klärung gegen die Norm selbst, sondern eine unrichtige Einschätzung deren
kognitiver Anwendungsbedingungen. Demgegenüber würde die Unkenntnis aus
Gleichgültigkeit gegenüber der Norm oder aus feindschaftlicher Einstellung den
Täter belasten, weil dies ein Zeichen seiner fehlenden Normbefolgungsbereit-
schaft sei. Dabei sei der Vorsatz zu bejahen, auch wenn der Täter keine tatsäch-
lichen Kenntnisse über die Tatsituation habe (= Figur der Tatsachenblindheit,
gerichtete Fahrlässigkeit).156 Wenn Jakobs einen Kenntnismangel überhaupt als
strafrechtlich relevant ansieht, berücksichtigt er also dabei nicht die Unkenntnis
als psychisches Faktum, sondern die Wertung dieses Faktums bzw. des Entste-
hungsgrundes der Unkenntnis.
In der personalen Zurechnung von Jakobs ist die Rede nur über kommunika-
tiv relevanten Sinn, d. h. nicht über einen subjektbezogenen Sinn, sondern über
den äußerlichen, gesellschaftlichen Sinn der Handlungen. Wissen oder Wissen-
Können werden aus dem einzelnen Bewußtsein gelöst und als Teil eines kom-
munikativen Vorgangs begriffen. So gehörten psychische Fakten zur Straftat nur
als äußere Träger des Sinnausdrucks einer Person. Relevant für das Strafrecht
sei nicht die wissentliche Schädigung eines anderen, sondern die Mißachtung
der Geltung der Norm, weil sie das den Personen Gemeinsame sei.157 Das
Strafrecht interessiere sich nur für den Output der Person; es berücksichtige
psychische Fakten nur selektiv und nicht in ihrem individuellen Zusammen-
hang.158 Unter diesen Prämissen wären also die Aussagen von Jakobs über die
156 Jakobs, Teheran-Beiheft zur ZStW 86 (1974), 8 f.; ders., ZStW 101 (1989),
529 ff.; ders., Strafrecht AT, 8/5a, ferner 8/21 ff.; ders., ZStW 107 (1995), 861 ff.
Dagegen Puppe, ZStW 103 (1991), 38; NK-dies., vor § 13, Rdn. 145; dies., Strafrecht
AT 1, § 16, Rdn. 44; Schünemann, Festschrift für Hirsch, S. 373; Köhler, Die be-
wußte Fahrlässigkeit, S. 369, Fn. 18. Vgl. ferner infra, § 3 E; § 5 A II 5; § 5 C II 1;
§ 6 D I.
157 Jakobs, ARSP-Beiheft 74, 68; ders., Handlungsbegriff, S. 39 f.
112 § 3 Rückkehr von Problemen bezüglich des Sonderwissens
Die Tat als ausgedrückter Sinn, als Kundgabe des Handelnden, wie er sich
die Gestaltung der Welt denkt, wird also bei Jakobs nicht um ihrer selbst willen
dem Handelnden zugerechnet, sondern sie wird ihm zugerechnet, weil er die
Normgeltung nicht anerkenne.161 Dieses Nichtanerkennen der Normgeltung be-
dürfe als kommunikativer Vorgang immer einer Objektivierung der subjektiven
Nichtberücksichtigung. Die Körperbewegung bei der Straftat sei Objektivierung,
aber auch der äußere Deliktserfolg sei eine weitere Objektivierung, die quantita-
tiv die Körperbewegung steigere. Zugerechnet werde also das Nichtanerkennen
der Normgeltung durch den Sinnausdruck einer Person, wobei die Objektivie-
rung mehr oder weniger heftig, also quantitativ differenziert ausfallen möge.162
Damit sind die oben gestellten Fragen beantwortet: In der personalen Zurech-
nung ist keine Spur von Individualisierung ersichtlich; sie differenziert sich von
der objektiven Zurechnung dadurch, daß bei ihr der Wille zur Normbefolgung
standardisiert wird, während die Erwartungen bei der objektiven Zurechnung
standardisiert werden; und sie ist mit den Begriffen einer Systemtheorie absolut
vereinbar, da sie es erreicht, von der Individualität in ihren Begriff nichts zu
übernehmen.
In früheren Werken von Jakobs wurde noch ein Bezug zur Individualität her-
gestellt – auch wenn es selbstverständlich nie zu einem Bezug zur psychophysi-
schen Individualität als realer Gegebenheit kam. Jakobs hatte sich bemüht, eine
Erklärung für die Vereinbarkeit seiner Zurechnungslehre mit der Erforderlich-
keit einer subjektbezogenen Seite des Verbrechens zu geben. Diese Erforderlich-
keit ergäbe sich daraus, daß die Person im Strafrecht nicht nur in einer Rolle
betrachtet werde, sondern als Einheit. Während das Subjekt beim Zivilrecht im
Standard verschwinden könne, übergreife dagegen die strafrechtliche Zurech-
nung, die an den individuellen Fähigkeiten ausgerichtet werde, Rollen. Aus
dem Versagen in einer Rolle könnten (nicht zwingend) strafrechtliche Konse-
quenzen auch in jeder anderen Rolle der Person gezogen werden. „. . . denn das
Versagen beruht bei individueller Vorwerfbarkeit nicht nur auf den Identitäts-
merkmalen eines Rollenträgers, sondern betrifft auch den Teil des Subjekts, der
bei verschiedenen Rollen die Einheit des Trägers stiftet, also die rollenunabhän-
gigen Identitätsmerkmale des Subjekts.“163 Die Individualisierung hätte also bei
der Zurechnung die Aufgabe, Rollentrennung aufzuheben. Versage beispiels-
weise eine Person in ihrer Rolle als Chirurg, könne sie dann Zweifel an ihrer
Kompetenz in anderen Rollen nicht durch den Hinweis ausräumen, ihr Versa-
gen sei rollenspezifisch gewesen; denn es wäre ein Versagen desjenigen Teils
des Subjekts gewesen, das mehreren, wenn nicht allen Rollen gemeinsam sei.
161 A. a. O., S. 33 f.
162 A. a. O., S. 35.
163 Jakobs, in: Witter (Hrsg.), Der psychiatrische Sachverständige im Strafrecht,
Der Standard würde bei den Instituten der objektiven Zurechnung (garantenbe-
zogene Begehung, erlaubtes Risiko, Vertrauensgrundsatz) bleiben, dies aber ne-
ben, nicht statt der Individualisierung.164
Heutzutage, wie oben angeführt, findet man aber bei Jakobs die Begründung
über die Erforderlichkeit einer Individualisierung nicht mehr. Sein neuerer Vor-
satzbegriff wird deshalb als die „totale postmoderne Objektivierung“ bezeich-
net.165 Die Bewertung und Kritik der Vorsatzlehre von Jakobs werden in § 5 C
II 1 und § 6 D I ausgeführt, an diese Stelle wird darauf nur hingewiesen.
Madrid, S. 119 ff.; Kindhäuser, GA 1994, 218 (er sieht dort die Abwägung der entge-
gengesetzten Interessen beim erlaubten Risiko als „Gedankenspielereien“ und sieht die
Legitimation dieser Rechtsfigur aus der gesellschaftlichen Akzeptation); Schumann,
Strafrechtliches Handlungsunrecht, S. 10; Köhler, Strafrecht AT, S. 185 f.
C. Übertragung der Zurechnungskriterien 115
dung angesehen, daß die Risikohöhe nicht immer genau prognostiziert werden
könne. Deshalb läßt er neben dem erlaubten Risiko per Interessenabwägung ein
erlaubtes Risiko per „historische Legitimation“ treten. Danach sei das Risiko
nicht stets aufgrund einer rationalen Abwägung erlaubt oder nicht erlaubt, son-
dern es sei teils Akzeptation des Überkommenen.170
Man könnte in Frage stellen, ob diese historische Legitimation des erlaubten
Risikos im System von Jakobs nicht einen Bezug zu ontologischen Gegebenhei-
ten impliziert, indem man auf die tatsächliche Akzeptanz von Risiken seitens
der verschiedenen Gesellschaften zurückgreifen würde. Dagegen ließe sich sa-
gen: Weil es sich bei dem von Jakobs entwickelten Konzept der historischen
Legitimation von Risiken um eine gesellschaftliche Leistung mit einer ge-
schichtlichen Entwicklung handelt, könnte man einen Bezug zur „Natur“ (scil.
als Objekt der Ontologie) als ausgeschlossen ansehen – dies mit einigen allge-
meinen Vorbehalten bezüglich einer Empiriefreiheit der Systemtheorie in ihren
Ausgangspunkten und speziell bezüglich des Rückgriffs von Jakobs auf den
„kommunikativen Sinnausdruck“, der mal als eine rechtliche Bewertung, mal
als eine gesellschaftliche Tatsache begriffen wird –. Zugleich wäre der Bezug
auf akzeptierte und nicht akzeptierte Risiken in einer Gesellschaft eine bloße
Beschreibung des Ist-Zustands keiner konkreten Gesellschaft, sondern des ab-
strakten Gesellschaftsbegriffs im Sinne von gesellschaftlicher Verständigung
und Geltung von Normen und damit würde das Konzept in der System-Begriff-
lichkeit bleiben. Die Erlaubnis bzw. das Verbot einer Risikoschaffung würde
auch nicht konkrete Zwecke im Modell von Jakobs verfolgen, da die Normen
nicht die Stabilisierung der Gesellschaft als Zweck verfolgen, sondern sie die
Stabilisierung selbst darstellen würden.
Auf jeden Fall müßte richtigerweise die gesellschaftliche Akzeptanz be-
stimmter Risikoschaffungen für das Recht überhaupt als ein Aspekt der realen
Welt und nicht als ein abstraktes System-Element angesehen werden. Die einfa-
che Tatsache, daß ein Risiko gewohnheitsgemäß in der Gesellschaft akzeptiert
wird, kann nicht zugleich für den Gesetzgeber in dem Sinne verbindlich sein,
daß die Risikoschaffungen im strafrechtlichen Sinne erlaubt oder verboten wer-
den, weil dies in der Gesellschaft so verankert sei. Die gesellschaftliche Akzep-
tanz einiger Risiken ist wohl ein Argument von Gewicht für die gesetzgeberi-
schen Entscheidungen bzw. deren Interpretation, aber die Erlaubnis eines Risi-
kos wird letztendlich durch einen rationalen Abwägungsvorgang in und vom
Recht, nicht von der Gesellschaft durchgeführt. Wenn man wie in dieser Arbeit
im Einklang mit der h. M. die Funktion des Strafrechts im Rechtsgüterschutz
sieht,171 wird man die Untergrenzen strafbaren Verhaltens nach bestimmten ra-
tionalen Zwecken setzen. Anders formuliert: Daß eine Aktivitätsart trotz ihres
Risikopotentials nützlich sein kann und deshalb erlaubt wird, kann durchaus hi-
storische Gründe haben; aber die Abwägung, ob der Nutzen und die gesell-
schaftliche Verankerung der riskanten Handlung mehr Gewicht als der Schutz
der betroffenen Rechtsgüter erhalten soll, ist ein rationaler Vorgang, der erst bei
der Gesetzgebung und -interpretation vorzunehmen ist.
Ergebnis:
Insgesamt ist die Behandlung der Frage des Sonderwissens durch Jakobs ein
deutliches Zeichen der Entsubjektivierung der Strafrechtsdogmatik, der einseiti-
gen Betrachtung des Strafrechts aus einer bloßen soziologischen Perspektive
und des Legitimationsbedarfs eines selbstreferenziellen Prozesses, der die Be-
dürfnisse des Rechtsgüterschutzes bei vorhandenem Rechtsgutsverletzungswil-
len nicht in Betracht zieht und die strafrechtliche Haftung wegen der vom Han-
delnden ausgeübten sozialen Rolle ausschließt. Die von Jakobs bei der Frage
des Sonderwissens gezogenen Ergebnissen bilden geradezu die Zuspitzung sei-
nes systemtheoretischen Ansatzes, der aus den im gesamten Abschnitt angege-
benen Gründen für die Strafrechtsdogmatik ungeeignet und deshalb abzulehnen
ist.
Die Kritik an der Lehre von der objektiven Zurechnung nicht in ihrer vorste-
hend betrachteten, extrem normativistischen, sondern bereits in ihrer „gemä-
ßigten“ Form kommt vor allem aus der personalen Unrechtslehre, für deren An-
hänger die allgemeinen Merkmale aller Erfolgsdelikte für die Erfüllung des ob-
jektiven Tatbestandes sowohl des Vorsatz- als auch des Fahrlässigkeitsdelikts
ausreichen sollten, wie Handlung und Kausalität (zusätzlich natürlich auch die
weiteren Elemente des entsprechenden Tatbestandes). Der Haupteinwand des
hier sog. Spätfinalismus gegenüber der Lehre von der objektiven Zurechnung
besteht vor allem darin, daß die subjektive Unrechtsseite als Gegenstand des
Unwerturteils unentbehrlich sein müßte172 und deshalb bei der rechtlichen Be-
urteilung eines Geschehens bzw. bei der von der Lehre der objektiven Zurech-
nung verwendeten Kategorien der „Gefahrschaffung“ und der „rechtlichen Miß-
billigung“ nicht auf ihre äußere Erscheinung abgestellt werden sollte.173 Als
Nachweis dafür werden ganz entscheidend die Fälle angeführt, in denen sich
172 Vgl. Armin Kaufmann, Festschrift für Jescheck, S. 260; Hirsch, Festschrift für
Lenckner, S. 141; Struensee, GA 1987, 97 ff.; ders., JZ 1987, 53 ff.; ders., JZ 1987,
541 ff.; ders., ZStW 102 (1990), 27 f.; Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert,
S. 68 ff., 124 f., 127, 190 f. und passim.
173 So Armin Kaufmann, Festschrift für Jescheck, S. 260.
D. Kritik aus dem Spätfinalismus 117
ein in der Regel erlaubtes Risiko durch die Sonderkenntnisse des Täters in ein
unerlaubtes umwandle.174 Setze beispielsweise der Stiefvater den zwölfjährigen
Stiefsohn in einem Zug, gerade weil er wisse, daß der Stellwärter an der näch-
sten Station betrunken sei und deshalb der Zug verunglücken werde, könne hier
von allgemeinen Verkehrsrisiken oder einem erlaubten Risiko nicht die Rede
sein.175 Es sei nicht „Sonderwissen“ des Täters zusätzlich zu berücksichtigen,
sondern allein das Täterwissen als Risikosachverhalt zugrunde zu legen.176 Die
personale Handlungslehre geht davon aus, daß das Unwerturteil nur über den
Akt „mit und wegen seiner inhaltlich bestimmten Finalität“ fallen solle.177 Der
anläßlich des Einzelfalls erforderlichen Begriffsbildung seien nur Umstände zu
unterlegen, die dem Täter bewußt seien.178 So sind für die personale Unrechts-
lehre die Tätervorstellungen das Wertungssubstrat des Normwidrigkeitsurteils.
Damit erweise sich die Frage der Berücksichtigung von Sonderwissen des Tä-
ters als Scheinproblem. Da sein Handlungsprojekt zu beurteilen sei, komme es
überhaupt nur auf seine Vorstellung an.179 Dieser Ansatz stützt sich entweder
auf eine ontologische Begründung, nämlich die finale Struktur der Handlung,
oder auf die Bestimmungsfunktion der Verhaltensnormen.180
Die Schwerpunkte der personalen Handlungslehre und der Finalstruktur der
Handlung liegen allerdings nicht darin, Grenzen beim Unwerturteil zu setzen
und Freiheitssphären im strafrechtlichen Raum zu schaffen, sondern eher nur,
den Gegenstand des Unwerturteils zu bestimmen: „Die Finalstruktur der Hand-
lung und das Erfordernis des Handlungsunwerts können der Aufstellung von
Sorgfaltsnormen so wenig inhaltliche Grenzen setzen, wie das Vorsatzerforder-
nis den Gesetzgeber etwa daran hindern kann, weitere Tatbestände der Eigen-
tumsverletzung oder der Vermögensbeschädigung zu schaffen; sie liefern und
verändern keine Maßstäbe, sondern geben nur das zu normierende Material
vor“181. Der Schwerpunkt der Kritik an der Lehre von der objektiven Zurech-
nung wird also auf die Frage abgestellt, welches der Gegenstand der rechtlichen
174 Struensee, ZStW 102 (1990), 27; ders., GA 1987, 99 f.; ders., JZ 1987, 53,
59 ff.; ders., JZ 1987, 541 f.; ders., Libro-Homenaje a Baigún, Buenos Aires, S. 265;
Armin Kaufmann, Festschrift für Jescheck, S. 265 ff., 268 (vgl. auch die Auseinander-
setzung mit Roxin, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, S. 237 ff.; und Jakobs, vor
allem in Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, S. 275 ff.).
175 Armin Kaufmann, Festschrift für Jescheck, S. 266, 268; ähnliche Fälle befinden
sich zum Beispiel in: Struensee, JZ 1987, 61; ders., JZ 1987, 541 f.; ders., GA 1987,
99 f.; ders., Libro-Homenaje a Baigún, Buenos Aires, S. 265.
176 AK-StGB-Zielinski, §§ 15, 16, Rdn. 95.
177 Struensee, JZ 1987, 54; vgl. auch Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 106 f.;
Beurteilung sein soll. Daß die rechtliche Bewertung auf die äußeren Umstände
des Tatbestandes rekurriert, wird strikt abgelehnt.182 Das zu beurteilende Ge-
schehen sei nur die von der Täterpsyche geleitete Tat. Der Norminhalt bestehe
aus der Umschreibung der verbotenen oder gebotenen Handlungen nach ihrer
Finalität.
S. 72, 124 (Fn. 152), 157, 160 f. Die Nützlichkeit dieser Figur wird von Hirsch, ZStW
74 (1962), 78 ff. bestritten.
D. Kritik aus dem Spätfinalismus 119
beständen auf der Seite gelassen, und damit würde ein großes, notwendiges Ka-
pitel des Allgemeinen Teils leider verlorengehen. Einige weitere Kriterien findet
man neuerdings bei Hirsch, der die allgemeinen Grenzen des objektiven Tatbe-
stands beim Vorsatzdelikt aus dem Handlungsbegriff,188 aus den allgemeinen
Kriterien des Versuchsbeginns,189 aus der Beherrschung des Kausalgeschehens
und der ausreichenden gestaltenden Einwirkungsmöglichkeit auf den Erfolgsein-
tritt190 ableitet, weil es in einigen Konstellationen nicht befriedigen würde, „erst
den Vorsatz zu verneinen“, beispielsweise wenn jemand durch verkehrsgerech-
tes Autofahren einen tatbestandlichen Erfolg verwirklichen möchte und es tat-
sächlich zum Erfolgseintritt komme.191 Bei der Ausarbeitung dieser Kriterien
führt nun Hirsch aus, daß eine subjektive Eingrenzung des Tatbestandes nicht
genüge, sondern auch Restriktionen im Objektiven notwendig seien,192 weil es
bei der Setzung von Untergrenzen der Strafbarkeit eigentlich darum gehe, „die
Anwendung der präzisen Gesichtspunkte restriktiver Tatbestandsauslegung und
der profilierten dogmatischen Gesichtspunkte, etwa bei der Fahrlässigkeit des
Erfordernisses der objektiven Sorgfaltsverletzung“193.
Weniger kompromißbereit gibt sich Struensee: Er anerkennt die Kriterien der
Lehre von der objektiven Zurechnung, meint aber, daß diese Lehre sich in der
Sache mit dem subjektiven Tatbestand befaßt, weil sie den erforderlichen Inhalt
des aktuellen Täterbewußtseins festlegt. Die Allgemeingültigkeit des tatbestand-
lichen Verhaltens gelte, wie oben ausgeführt, auch für Begriffe, die Täterpsychi-
sches erfassen, d. h. für die Bewertung des Subjektiven. Dabei erfordere der
Inhalt des aktuellen Täterbewußtseins einen Mindestumfang der erfolgsverursa-
chenden Kausalfaktoren. Dieser Mindestumfang sei gesetzlich nicht vorgegeben,
nach der Formulierung von Struensee wird er „normativ“ ausgewählt. Die Krite-
rien der objektiven Zurechnung gälten als Abgrenzung des subjektiven Tatbe-
standes und würden nicht Tatbestandsmerkmale formulieren, sondern sie seien
„Tatbestandsermittlungsmerkmale“ 194.
187 Armin Kaufmann, Festschrift für Jescheck, S. 269 f. Vgl. die Einwände von Ja-
kobs an die Konzeption Armin Kaufmanns in: Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann,
S. 273 ff.
188 Hirsch, Festschrift für Lenckner, S. 131 f., 137 f., 140 f.
189 A. a. O., S. 133 f., 141 f.
190 Hirsch, ZStW 74 (1962), 98, 133; LK-ders., vor § 32, Rdn. 32; ders., Festschrift
für Lenckner, S. 135 f.; ferner Küpper, Grenzen der normativierenden Strafrechtsdog-
matik, S. 91 ff.
191 Hirsch, Festschrift für Lenckner, S. 136.
192 A. a. O., S. 141.
193 Hirsch, Festschrift Universität Köln, S. 421.
194 Struensee, GA 1987, 98, 105; ders., JZ 1987, 63, der sich hier allerdings auf das
Die Kriterien für die Bestimmung des strafbaren Verhaltens sind ferner nach
einem Teil der personalen Unrechtslehre anders für die Vorsatz- als für die
Fahrlässigkeitsdelikte.197 Es wird eine Übertragung objektiver Tatbestandsanfor-
derungen vom Fahrlässigkeits- zum Vorsatzdelikt abgelehnt. Dazu wendete sich
Armin Kaufmann gegen den „verführerischen Satz“ von Jakobs, daß „nicht je-
den alles angeht“198. Er meinte, daß im Bereich des Tötungsverbotes doch wohl
gälte: „Jeden vorsätzlich Tötenden geht sein Opfer etwas an“199.
Allerdings ist die Position von Struensee anders als diejenige vom Rest der
Anhänger einer personalen Unrechtslehre, die eine andere Struktur und Begrün-
dung für die Fahrlässigkeitsdelikte ausgebaut haben. Nach der Auffassung
Struensees haben die Fahrlässigkeitsdelikte auch einen subjektiven Tatbestand,
was dadurch nachgewiesen werde, daß die Sonderkenntnisse im Tatbestand mit-
berücksichtigt werden müssten.200 Sogar sei bei der unbewußten Fahrlässigkeit
Armin Kaufmann, Festschrift für Welzel, S. 406, 408 f.; AK-StGB-Zielinski, §§ 15,
16, Rdn. 99 ff.
196 Hirsch, Festschrift für Lenckner, S. 127, 136 f., 140; der gleiche Gedanke auch
in Ablehnung der Figur der Sozialadäquanz bereits in: ders., ZStW 74 (1962), 93 ff.,
133.
197 Armin Kaufmann, Festschrift für Jescheck, S. 265 ff.; auch Rueda Martín, Impu-
tación objetiva, Barcelona, S. 165 ff., 305 ff. und passim, obwohl sie auf einer finali-
stischen Basis die Lehre von der objektiven Zurechnung annimmt.
198 Jakobs, ZStW 89 (1977), 30.
199 Armin Kaufmann, Festschrift für Jescheck, S. 270.
200 Struensee, JZ 1987, 53 ff., 60; ders., JZ 1987, 541; vgl. auch Zielinski, infra,
gleich im Text, der allerdings das Gewicht auf eine normative Einschränkung setzt. Im
D. Kritik aus dem Spätfinalismus 121
1987, 62.
204 Dies nur als Konsequenz eines mit einer subjektiven Seite begriffenen Fahrläs-
sigkeitsdelikts; ansonsten kritisiert Struensee die von der Lehre von der objektiven Zu-
rechnung vorgenommene Übertragung von Zurechnungskriterien vom Fahrlässigkeits-
zum Vorsatzdelikt, vgl. Libro-Homenaje a Baigún, Buenos Aires, S. 255.
205 Struensee, GA 1987, 105; ders., JZ 1987, 542.
206 Vgl. näheres infra, § 6 B II 2 b) cc) (4). Mittlerweile wird von den weiteren
207 Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert, S. 156 ff., insbes. 160, 162, 165 f.,
168.
208 A. a. O., S. 168 ff., 181, 191.
209 AK-StGB-Zielinski, §§ 15, 16, Rdn. 89 ff., 90, 92; ders., Handlungs- und Er-
folgsunwert, S. 160 ff., 191, 185 ff.
210 AK-StGB-Zielinski, §§ 15, 16, Rdn. 95.
211 Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert, S. 185 ff., insbes. 187, 190.
212 Vgl. dazu die Übersicht in Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert, S. 157; vgl.
Das vorsätzliche Handeln hat sich mit den neuen Tendenzen im Rahmen der
Lehre von der objektiven Zurechnung gewissermaßen standardisiert.215 Wer den
Standard einhalte, werde nicht zur Verantwortung gezogen,216 auch wenn er
konkret mehr als der „normale“ Mensch über das Risiko wisse oder, bei bloß
vorhandenem Standardwissen, riskante „sozialnützliche“ Handlungen absichtlich
vornehme, um eine Rechtsgutsverletzung konkret hervorzurufen. Breite Frei-
heitssphären und eine Kosten-Nutzen-Abwägung sollten auch bei absichtlichen
Handlungen oder Handlungen mit speziellen Kenntnissen über das Risiko ge-
währt werden. Ein Unrecht läge danach erst vor, wenn das Handlungssubjekt
die Grenzen der – nach dieser Ansicht gewährten – Handlungsfreiheit über-
schreitet.
Auf der anderen Seite plädieren einige Autoren, darunter Jakobs selbst,217 für
eine Individualisierung der Sorgfaltsmaßstäbe beim Fahrlässigkeitsdelikt. Es ent-
steht gleichzeitig so eine Generalisierung im Sinne der Standardisierung der
Verhaltensregeln für das Vorsatzdelikt und eine Individualisierung der Verhal-
tensregeln für das Fahrlässigkeitsdelikt. Das Verbrechensmodell würde damit
auf dem Kopf gestellt und erscheint geradezu paradox: „Generalisierte“ Regeln
für den, der mehr weiß und den Verletzungserfolg möchte? „Individualisierte“
Sorgfaltsregeln für jeden einzelnen Menschen? Im Bereich der Vorsatzdelikte
sollte dann ein einziger Verhaltenskatalog für alle Normadressaten existieren,
dessen Regeln nicht nach dem individuellen Potential für eine Rechtsgutsverlet-
zung gestellt würden, sondern nach abstrakten Verhaltensmustern, die die Indi-
vidualität der vorsätzlichen Risikoschaffung nicht berücksichtigen. Bei der Re-
gelung der Sorgfaltspflichten, die das Fahrlässigkeitsdelikt betreffen, sollte es
dagegen einen Verhaltenskatalog für jeden einzelnen Normadressaten geben, des-
Ein Beispiel dafür bildet der Fall eines Autofahrers, der aufgrund seines Alters
nicht fähig ist, das Auto sicher zu fahren, und der diesen Umstand bei der
Übernahme der Tätigkeit nicht erkennen konnte. Für die individualisierende
Lehre ist hier die Tatbestandsmäßigkeit zu verneinen. Der Täter würde von den
entsprechenden Sorgfaltsnormen für die Autofahrer gar nicht angesprochen.
Setzt man solche strengen generellen Standards beim Vorsatzdelikt und indi-
vidualisiert man die Sorgfaltsmaßstäbe daneben beim Fahrlässigkeitsdelikt,
kommt man paradoxerweise zu dem Ergebnis, daß einerseits die Verhaltens-
norm bezüglich der Tat des ersten Autofahrers (Fall der sog. Tatsachenblind-
heit) standardgemäß für diese Art von gleichgültigem Verhalten „nicht bewußt
töten“ lauten, und man damit den Vorsatz annehmen würde, obwohl das erfor-
derliche psychische Substrat gar nicht vorhanden ist. Andererseits würden sich
die Straßenverkehrsnormen im zweiten geschilderten Extremfall gar nicht an
den zweiten unfähigen Autofahrer richten, d. h. keine Sorgfaltsnorm wäre für
ihn anwendbar, da er in dieser individuellen Konstellation gar nicht sorgfältig
handeln könnte (was richtigerweise ein Problem der Schuld und nicht des Un-
rechts darstellen sollte).
Beim ersten Fall wird der gleichgültige Autofahrer sozusagen mit der Figur
eines „Normalbegabten“ konfrontiert, der in der gleichen Konstellation daran
gedacht hätte, daß der Polizist sich nicht rechtzeitig auf die Seite gerettet hätte.
Uninteressant bleibt es dabei, was er sich tatsächlich gedacht hat. Demgegen-
über wird das Verhalten des zweiten, unterbegabten Autofahrers mit keiner Fi-
gur eines „Normalbegabten“ konfrontiert. Sorgfaltsnormen wären damit nach
dieser Ansicht zu individualisieren.
Folgte man dieser Auffassung, müßte man letztendlich die bloße Erkennbar-
keit der Tatbestandsverwirklichung für die Bejahung des Vorsatzes in den Fäl-
len der Tatsachenblindheit, bei denen die Kenntnis der Tatbestandsverwirkli-
chung fehlt, als ausreichend ansehen, auch wenn Jakobs an anderer Stelle das
Gegenteil behauptet hat: „Vorsatz wie Fahrlässigkeit sind Formen der Vermeid-
barkeit; beide sind auch durch die Erkennbarkeit der Tatbestandsverwirklichung
bestimmt; beim Vorsatz ist die Erkennbarkeit zur Kenntnis entfaltet, bei der
Fahrlässigkeit nicht“225.
Wie aber dann die Zurechnungskriterien der Vorsatz- und Fahrlässigkeitsde-
likte im rechten Verhältnis zueinander funktionieren sollten, wird nicht deutlich
beschrieben. Zunächst wäre es erforderlich, eine Untersuchung über die Gleich-
stellung bzw. Ungleichstellung des objektiven Tatbestandes der Vorsatz- und
Fahrlässigkeitsdelikte durchzuführen. Eine Paradoxie bedeutet aber erst dann
eine endgültige Widerlegung, wenn auch eine Verfehlung der maßgeblichen
Als zwei diametral gegenüberstehende Ansätze erweisen sich die zwei Strö-
mungen, die die Zurechnung beim Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt grundsätz-
lich unterschiedlich behandeln. Eine Meinung gewährt dem Fahrlässigkeitstäter,
die andere dem Vorsatztäter im Ergebnis einen größeren strafrechtsfreien Raum
bei vorhandener Voraussehbarkeit des tatbestandlichen Erfolges. Trotz der ge-
radezu auffälligen Kriterienverschiedenheiten vermisst man eine ausführlichere
Debatte hierüber bzw. gar eine Systematisierung im Schrifttum. Damit zeigt
sich, daß die Zurechnungslehre nach wie vor im Fluß ist und eine Befassung
nicht nur, wie in der Regel, mit den Einzelheiten der Zurechnungskriterien, son-
dern vor allem mit einer übergreifenden Konzeption für Vorsatz- und Fahrläs-
sigkeitsdelikte erforderlich wird.
Unter dieser Kategorie werden hier die Meinungen erfaßt, die sich die
Grundsätze der Lehre von der objektiven Zurechnung zu eigen machen, aber
die Zurechnungskriterien beim Vorsatzdelikt, z. B. die Grenze des erlaubten Ri-
sikos, vom Wissen des Täters abhängig machen und dadurch zu Lasten des
Handelnden strengere Zurechnungsmaßstäbe für das Vorsatz- als für das Fahr-
lässigkeitsdelikt ansetzen. Auch wenn das geschaffene Risiko bezüglich eines
Fahrlässigkeitsdeliktes erlaubt sein sollte, kann es also aus bestimmten, rechtli-
chen Erwägungen bei vorhandenen, bestimmten subjektiven Momenten, die eine
Vorsatzbestrafung begründen, unerlaubt sein. Dabei werden von den Vertretern
dieser hier erstmals vorgenommen Kategorisierung unterschiedliche Einschrän-
kungen vorgenommen, und zwar 1. quantitativer Art, d. h. die Untergrenzen
strafbaren Verhaltens werden höher beim Fahrlässigkeits- als beim Vorsatzdelikt
gesetzt, oder 2. qualitativer Art, also entweder a) soll der für das Fahrlässig-
keitsdelikt entwickelte Gedanke der strafrechtsfreien Risikoschaffungen auf das
Vorsatzdelikt nicht übertragbar sein, oder b) werden die Einschränkungen im
objektiven Tatbestand des Vorsatzdelikts nur bei einigen Zurechnungskriterien
angewendet.
F. Differenzierung der Zurechnungskriterien für Vorsatz-/Fahrlässigkeitsdelikte 127
226 Vgl. BGH StV 2000, 22, 23, kritisch Freund, JuS 2000, 754 ff. Zu zustimmen-
den Ausführungen von Kudlich siehe unten im Text. Vgl. ferner BGHSt 21, 301, 302;
23, 4, 7; 41, 231, 234; BGH NStZ 1992, 182 f.
227 LK-Schroeder, § 16, Rdn. 160.
128 § 3 Rückkehr von Problemen bezüglich des Sonderwissens
230 Schünemann, Chengchi Law Review 50 (1994), 294; vgl. den Fall auch in ders.,
GA 1999, 220.
231 Schünemann, GA 1999, 220 f.
232 Schünemann, Chengchi Law Review 50 (1994), 294 f. Vgl. ferner zum unter-
Kap., 5.
246 A. a. O., 2. Teil, 1. Kap., 5.
247 Torío López, ADPCP 1986, Madrid, S. 42.
248 Luzón Peña, Curso de Derecho Penal, PG I, Madrid, S. 390 f.
F. Differenzierung der Zurechnungskriterien für Vorsatz-/Fahrlässigkeitsdelikte 133
für die Differenzierung des objektiven Tatbestandes des Vorsatz- und Fahrlässig-
keitsdelikts auch auf den objektiven Gefährlichkeitsgrad (ex ante) der vorge-
nommenen Handlung: Eine auf eine Rechtsgutsverletzung gerichtete Handlung
würde ex ante eine höhere objektive Gefährlichkeit aufweisen als eine mit Ver-
meidbarkeitswillen vorgenommene Handlung.250 Das Kriterium der höheren
Gefährlichkeit der vorsätzlichen Gefahrschaffung muß aber bereits an ihrer em-
pirischen Grundlage scheitern, weil fahrlässige Gefahrschaffungen ein enormes
Risikopotential aufweisen können, wie die großen Risiken der modernen Indu-
striegesellschaft zeigen. Schließlich hat das Element der objektiven Sorgfalts-
pflichtverletzung bei Vorsatzdelikten nach Cerezo Mir und Rueda Martín kei-
nen Platz.251
Vor allem in Kombination mit der Idee, daß Vorsatz und Fahrlässigkeit in
einem Plus-Minus Verhältnis252 zueinander stehen würden, entwickelte sich die
Ansicht, daß Vorsatz und Fahrlässigkeit auch im objektiven Tatbestand zu un-
terscheiden seien. Diese Ungleichstellung im objektiven Bereich findet aber in
einer genau umgekehrten Weise als die von den soeben ausgeführten Meinun-
gen vertretene Ungleichstellung statt: Während letztere253 dem Wissen bzw. der
Absicht die Eigenschaft zusprechen, ein bei entsprechend fahrlässiger Handlung
erlaubtes Risiko in ein unerlaubtes zu verwandeln, und damit den Bereich uner-
laubter Handlungen bei vorsätzlichem Handeln breiter fassen als denjenigen des
fahrlässigen Handelns, stellt die nunmehr zu behandelnde, vor allem von Herz-
berg und Puppe, aber auch von Hirsch und Sancinetti vertretene Ansicht, umge-
kehrt höhere Anforderungen für die Bejahung einer Vorsatzgefahr im Vergleich
zu einer Fahrlässigkeitsgefahr. Damit sieht sie den Bereich unerlaubter Hand-
lungen bei fahrlässigem Handeln breiter als denjenigen bei vorsätzlichem Han-
deln. In der Mitte dieser beiden Auffassungen, die die Untergrenzen strafbaren
Verhaltens für das Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt unterschiedlich ansetzen,
liegt jene – herrschende – Lehre, die solche Grenzen für beide Deliktsformen
gleich zieht und nur im subjektiven Tatbestand unterscheidet.254
Nach der in diesem Abschnitt behandelten Ansicht sind also die Anforderun-
gen an die Zurechnung des Erfolges beim Vorsatz höher als diejenigen an die
Zurechnung des Erfolges bei der Fahrlässigkeit. Sie geht teilweise zuerst wie
ein Teil der herrschenden Meinung davon aus, daß das Element der Sorgfalts-
widrigkeit auch zum Vorsatzdelikt gehört. Sie stellt dazu an die Vorsatzgefahr
höhere Ansprüche als an die Fahrlässigkeitsgefahr und verengt damit den Vor-
satzbegriff: Bei einer Vorsatztat müsse es sich im Vergleich zu einer Fahrlässig-
keitstat um eine qualifiziertere Gefahr handeln, ansonsten sei die Handlung
nicht tatbestandsmäßig.255 Realisiere sich nur eine „einfache Fahrlässigkeitsge-
fahr“, so könne der Erfolg dem Täter nur im Rahmen der Fahrlässigkeit, nicht
aber im Rahmen des Vorsatzes zugerechnet werden. Auch die Absicht der Er-
folgsherbeiführung könne beim Vorsatzdelikt die Schaffung einer spezifischen
Vorsatzgefahr nicht ersetzen.256 Als Beispiel diene der Fall eines HIV-Infizier-
ten, der einmalig ungeschützten, gewaltlosen Geschlechtsverkehr ausübe. Er
handele sorgfaltswidrig in Bezug auf das Leben seines Partners, aber angesichts
der Infektionswahrscheinlichkeit von unter 2 % handele er nicht vorsätzlich,
auch wenn er dadurch den Tod des Partners beabsichtige. Das gleiche gelte für
denjenigen, der mit Brandstiftungsabsicht eine angezündete Zigarette im Wald
wegwerfe.257
Diese Auffassung stützt sich teilweise in ihrer Begründung auf die Lehre
vom Versuch. So wird es für widersprüchlich gehalten, daß die herrschende
Lehre die Verbotsmaterie des Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikts inhaltlich als
identisch ansieht, obwohl sie in den Fällen, in denen die Verursachung des Er-
folges bereits durch eine Vorbereitungshandlung geschehe, nur Fahrlässigkeit,
nicht aber Vorsatz trotz Schaffung einer unerlaubten Gefahr annehme. Wenn
nicht jede bewußte Schaffung eines unerlaubten Risikos ein Versuch sein solle,
müsse der Vorsatz des Täters eine Gefahrvorstellung enthalten, die über die
Schaffung eines unerlaubten Risikos hinausgehe.258 Diese auf der Versuchslehre
ausgearbeitet von Herzberg, JuS 1986, 260 ff.; ders., NJW 1987, 1464; ders., JZ
1988, 573 ff., 635 ff., 639 ff.; ders., Festgabe BGH, Bd. IV, S. 68 ff.; ders., NStZ
2004, 595 ff.; mit einigen Differenzen Puppe, ZStW 103 (1991), 14 ff.; dies., Vorsatz
und Zurechnung, S. 36 ff.; NK-dies., § 15, Rdn. 85, 89 ff. (Rdn. 86: Herzberg setzt
„das Niveau der Vorsatzgefahr zu niedrig an“, vgl. auch dies., ZStW 103 [1991], 19;
dies., Vorsatz und Zurechnung, S. 42); dies., Strafrecht AT 1, § 15, Rdn. 1, 4, § 16,
Rdn. 4, 40 ff., 48; Sancinetti, Teoría del delito y disvalor de acción, Buenos Aires,
S. 199 ff.; ders., in: Teorías actuales en el Derecho penal, Buenos Aires, S. 193 ff.;
vgl. ferner auch Hirsch, Festschrift für Lampe, S. 518 ff., 524, 536; Renzikowski, Re-
striktiver Täterbegriff, S. 217 f.
256 Puppe, Strafrecht AT 1, § 15, Rdn. 36.
257 Puppe, Vorsatz und Zurechnung, S. 45, dies., Strafrecht AT 1, § 16, Rdn. 41;
258 So Puppe, Vorsatz und Zurechnung, S. 37 f., 41; dies., Strafrecht AT 1, § 16,
Rdn. 1 ff. (mit dem Beispiel, daß jemand eine vergiftete Weinflasche im Keller depo-
niert, um ihn seiner Frau anzubieten; die Frau aber von sich aus zu dieser Weinflasche
greife und an dem Gift sterbe), 47. Das gleiche gelte für die wesentlichen Irrtümer im
Kausalverlauf, vgl. dazu Puppe, Vorsatz und Zurechnung, S. 41; dies., Strafrecht AT
1, § 16, Rdn. 2 f., 47.
259 Allerdings werden die Argumente zur Begründung des Versuchsbeginns bei der
mittelbaren Täterschaft eine Anwendung oft bei dieser Problematik finden. Noch wei-
ter zeitlich entfernt ist der Architektenfall von Hirsch, Festschrift für Lampe, S. 518 f.
260 Herzberg, NStZ 2004, 597 f. Vgl. ferner ders., JA 1981, 371.
136 § 3 Rückkehr von Problemen bezüglich des Sonderwissens
etwa von einer Entscheidung zur Selbstgefährdung abhängt und der Verletzte
über das statistische Risiko in abstrakto informiert ist, wie z. B. das bloße Ein-
geschaltetlassen eines technisch einwandfreien Fernsehers, sowie anderen Bei-
spielen, die beim Thema der Untergrenzen vorsätzlichen Verhaltens gegeben
werden.263 Ferner sind Rechtsgutsverletzungswünsche durch die Ausübung eini-
ger hochstandardisierter Aktivitäten (auch mit Kenntnissen des Verletzten über
das statistische Risiko in abstrakto), wie z. B. im Bereich des Bauens oder des
Straßenverkehrs bloße begleitende Hoffnungen des Handelnden, solange die Ak-
tivität nicht ausschließlich zur Rechtsgutsverletzung vorgenommen wird, was
selten in der Praxis vorkommen wird.264 Diese Ausnahmen reichen allerdings
nicht aus, um an das Element der Sorgfaltswidrigkeit als Voraussetzung des
Vorsatzdelikts bzw. an ein Plus-Minus-Verhältnis zu denken. Natürlich erreicht
man bei diesen Differenzierungen die Schmerzgrenze. Aber eine allgemeine
Heranziehung eines Standards, sei es für Vorsatz- oder Fahrlässigkeitsdelikte,
oder sogar nur zu Gunsten des Vorsatztäters und zu Lasten des Fahrlässigkeits-
täters, ist viel zu undifferenziert. Dabei berücksichtigt man nicht genügend die
Gründe der schwereren Vorsatzbestrafung und die kriminalpolitischen Gründe
der Gewährung von Handlungsfreiheitssphären bei der Schaffung von Risiken
für Rechtsgüter.
G. Fazit
Für die Beantwortung der hier behandelten Frage, ob der objektive Tatbe-
stand des Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikts eine strukturelle Gleichheit i. S. des
Risikograds bzw. der Risikoart aufweisen sollte, oder ob der objektive Tatbe-
stand des Vorsatzdelikts die Schaffung einer höheren oder niedrigeren Intensität
des Risikos bzw. eine schwerere oder leichtere Risikoart als diejenige des Fahr-
lässigkeitsdelikts umfassen sollte, kann eine Berücksichtigung erstens der Ratio
der verhängten Vorsatzstrafe und zweitens einer Differenzierung bei der Gewäh-
rung strafrechtlicher Handlungsfreiräume nicht außer Betracht gelassen werden.
Erstens sind die zweck- und wertrationalen Gründe der erhöhten Vorsatzbestra-
fung eine unverzichtbare Richtlinie für die nähere Bestimmung der Vorsatzvor-
aussetzungen im Vergleich zu den Fahrlässigkeitsvoraussetzungen. Zweitens ist
die Gewährung strafrechtsfreier Räume auch unter Wertungsaspekten zu be-
trachten, so daß die Idee der strafrechtlich nichtrelevanten Bereiche einer diffe-
renzierten Untersuchung bezüglich der Struktur des vorsätzlichen und des fahr-
lässigen Handelns bedarf.
Bevor eine endgültige Antwort auf die Frage nach der Gleichstellung oder
Differenzierung der Zurechnungskriterien beim Vorsatz- und Fahrlässigkeitsde-
likt gegeben werden kann, sind also zunächst drei Themen zu erörtern, die in
methodologischer Hinsicht eine zentrale Rolle bei unserer Hauptfrage spielen:
1. die Gründe für die Schwererbewertung der Vorsatz- bezüglich der Fahrlässig-
keitstat; 2. die strafrechtlichen Handlungsfreiräume i. V. m. der Funktion des
Strafrechts (hier als Rechtsgüterschutz verstanden); und 3. die Arten der straf-
rechtlich erforderlichen Handlungsfreiräume. Diese Themen sind Untersu-
chungsgegenstand der nächsten §§ 4 und 5 A. Eine Erörterung der für die bis-
her behandelte Frage nach der Gleichstellung der Zurechnungskriterien darge-
stellten Positionen des Schrifttums erfolgt dann in § 5 B.
Eine nähere Untersuchung der Ansicht des Spätfinalismus, vor allem bezüg-
lich der von ihm vertretenen Relevanz der Tätervorstellungen als Beurteilungs-
gegenstand und eines subjektiven Tatbestandes des Fahrlässigkeitsdelikts erfolgt
noch beim Thema des Sonderwissens [§ 6 B II 2 b) aa) und dd) (4) und (5)] als
Prototyp der Tätervorstellungen. Um welche Vorgegebenheiten und rechtlichen
Strukturen es bei den Unrechtsvoraussetzungen der Vorsatz- und Fahrlässig-
keitsdelikte geht, wird noch in § 6 D mit Berücksichtigung sowohl der realen
(objektiven und subjektiven) als auch der rechtlichen Aspekte erörtert werden.
§ 4 Rechtsgüterschutz und strafrechtsfreier Raum
1 Die Vertreter einer personalen Unrechtslehre würden sich eher auf die „Auslegung
der strafrechtlichen Norm“ beziehen (vgl. supra, § 3 D), während die Anhänger der
Lehre von der objektiven Zurechnung sich mehr oder weniger um den Aufbau des
Elements „Schaffung einer unerlaubten Gefahr“ kümmern.
2 Vgl. dazu z. B. Roxin, Strafrecht AT 1, § 2, Rdn. 1.
3 Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 3, Rdn. 10 ff.; Otto, Grundkurs Straf-
4 Vgl. näher dazu bei Schünemann, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die
Mitsch, Strafrecht AT, § 3, Rdn. 19; ders., Strafrecht AT I, § 2, Rdn. 1 ff.; Jescheck/
Weigend, Lehrbuch, § 1 I 2, § 26 I 2.
A. Strafrecht und Rechtsgüterschutz 141
7 Vgl. die Darstellung und Nachweise bei Günther, JuS 1978, 11 ff.; ders., Straf-
rechtswidrigkeit und Strafrechtsausschluß, S. 192 ff., 236 ff.; Volk, ZStW 97 (1985),
872 ff.; Otto, Grundkurs Strafrecht, § 1, Rdn. 48 ff.; Luzón Peña, in: Schünemann/Fi-
gueiredo Dias (Hrsg.), Coimbra-Symposium S. 97 ff.
8 Vgl. Otto, Grundkurs Strafrecht, § 1, Rdn. 49. Jescheck/Weigend, Lehrbuch, § 7 I
barkeit: Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, insb. S. 132 ff.; Appel, Verfassung und
Strafe, S. 395 ff.; ferner vgl. die allgemeine Kritik von Volk, ZStW 97 (1985), insbes.
899 ff.
11 Vgl. Schünemann, SchwZStr 97 (1978), 147 ff.; ders., Festschrift für Bockel-
mann, S. 129 ff. (mit Berücksichtigung der Strafbedürftigkeit bei der Tatbestandsaus-
legung, vgl. S. 131); ders., Festschrift für Faller, S. 358.
12 Vgl. z. B. Luzón Peña, in: Schünemann/Figueiredo Dias (Hrsg.), Coimbra-Sym-
posium S. 97 ff.; Appel, Verfassung und Strafe, S. 400 f.; Roxin, Strafrecht AT I,
§ 23, Rdn. 34 ff.; vgl. auch den umfassenden Überblick von Volk, ZStW 97 (1985),
872 ff.
13 Vgl. vor allem Volk, ZStW 97 (1985), 876 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner,
StGB, vor § 13 ff., Rdn. 13 f.; Roxin, Strafrecht AT, § 23, Rdn. 34 ff. und seine Be-
urteilung der Ergebnisse des Coimbra-Symposiums von 1991, § 23, Rdn. 40; Jakobs,
Strafrecht AT, 10/2 ff., 10/15 ff., 10/18 ff.
14 Appel, Verfassung und Strafe, S. 395; Müller-Emmert, GA 1976, 301; SK-Rudol-
Rechtsgüter, S. 95 ff. m. w. N., auch der Rechtsprechung und Erläuterung der Differen-
zen bei der Einschätzung diesen Kriterien.
18 Auch in diesem Sinne z. B. Volk, ZStW 97 (1985), 876 ff.; Roxin, Strafrecht AT
Fast jeder Lebensvorgang bringt eine Gefährdung von Gütern mit sich. Die
Möglichkeiten, Schäden durch unsere täglichen Handlungen an Rechtgutsobjek-
ten zu verursachen oder sie zumindest in eine konkrete Gefahr zu bringen, sind
nicht aufzählbar, d. h. das Feld der Vorhersehbarkeit bzw. Erkennbarkeit von Ri-
siken und Schäden ist unerschöpflich. Man denke nur daran, daß die im eigenen
Haushalt befindlichen Elektrogeräte aufgrund eines Kurzschlusses einen Woh-
nungsbrand verursachen können, oder daß man zur Haustür hinausgeht und just
den Nachbarn umrennt, der gerade um die Ecke biegt. Gleiches gilt aus der
Sicht des Opfers von Risiken und Schäden, das nämlich nach dem Öffnen der
Haustür die verschmutze Luft des Straßenverkehrs einatmet, wegen einer Bau-
stelle einen unerwünschen Umweg machen muß, in eine Trambahn einsteigt
und erst bei geschlossenen Türen bemerkt, daß sie nicht die richige ist, jetzt
aber nicht mehr aussteigen kann und damit seiner persönlichen Freiheit „be-
raubt“ wird. Die Gefahr also, daß wir rechtlich geschützte Güter beeinträchti-
gen oder selber Opfer solcher Beeinträchtigungen sind, ist im täglichen Leben
nicht unerheblich, und dies nicht nur bei den typischen Tätigkeiten einer Indu-
striegesellschaft, sondern, wie man an den oben ausgeführten Beispielen merkt,
überhaupt im üblichen sozialen Kontakt. Da die Aufgabe des Strafrechts der
Rechtsgüterschutz ist, könnte man den Schluß ziehen, diejenigen Handlungen
um der Sicherheit und Erhaltung der Rechtsgüter willen dann prinzipiell zu ver-
bieten, wenn eine Beeinträchtigung vorauszusehen ist.
Rechtsgutstheorie, S. 142 ff., 146 f.; ders., in: Schünemann (Hrsg.), Strafrechtssystem
und Betrug, S. 53 ff., 56; ders., Festschrift für Roxin, S. 26 ff., 29; Hefendehl, Kollek-
tive Rechtsgüter, S. 44 f., 92 ff.
21 Vgl. z. B. Lagodny, a. a. O., S. 164 ff. und die Kritik dazu von Hefendehl, a. a. O.,
S. 93.
144 § 4 Rechtsgüterschutz und strafrechtsfreier Raum
Das Vorliegen einer Gefahr für ein Gut kann allerdings das verfassungsrecht-
lich verbürgte Recht der Handlungsfreiheit nicht ohne weiteres einschränken.
Das Recht kann nicht jede Verhaltensweise verbieten, die eine Beeinträchtigung
von Rechtsgutsobjekten mit sich bringen kann. Dies würde eine Lahmlegung
des sozialen Lebens bedeuten. Sogar impliziert die Überschreitung der eigenen
Freiheitssphäre nicht unbedingt strafrechtliche Relevanz. Vielmehr bedarf die
Einschränkung in jedem Fall der Legitimation, d. h. sie muß geeignet, erforder-
lich, angemessen und verhältnismäßig in Bezug auf den Güterschutz sein. Der
Einsatz des Strafrechts zur Durchsetzung der Handlungsbeschränkung muß also
auch begründbar sein.22
Als sich Kant auf den Freiheitsbegriff und seine Einschränkung durch das
Recht bezog, forderte er ein Hindernis der Freiheit anderer für die Bejahung
des Unrechts und für die entsprechende Freiheitseinschränkung des Subjekts.
Der freie Gebrauch der Willkür dieses Subjekts dürfte dabei nicht mit der Frei-
heit von jedermann bestehen können. „Das Recht ist also der Inbegriff der Be-
dingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach
einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“23.
Der Freiheitsbegriff im rechtlichen Sinne bedarf heute aber einer näheren Kon-
turierung, mehrere Bedingungen müssen dabei in Betracht gezogen werden. In
der Kompliziertheit unserer Gesellschaft spielen mehrere Interessensarten bei
der Entscheidung mit, ob die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen zu
vereinbaren ist.
Die Untersuchungen des Schrifttums haben sich vielmehr um die Vorherseh-
barkeit und Erkennbarkeit von Gefahren beschäftigt, d. h. mit dem Begriff der
„gefährlichen Handlung“ (in der Terminologie der Lehre von der objektiven
Zurechnung „Schaffung einer Gefahr“), als mit der Legitimation der Handlungs-
beschränkung und der Abgrenzung zu den Handlungsfreiheitssphären (in der
Terminologie der Lehre von der objektiven Zurechnung: Begriff der „unerlaub-
ten Gefahr“). Während das Feststellen der Voraussehbarkeit der Gefahr eher
eine quantitative Entscheidung ist, erfordert die Untersuchung strafrechtlicher
Relevanz der geschaffenen Gefahr eine qualitative Erörterung: Es geht dabei
um eine Interessenabwägung zwischen dem Rechtsgüterschutz und der Hand-
lungsfreiheit. Die Bestimmung strafbaren Verhaltens erfolgt bei Fahrlässigkeits-
delikten durch Abwägung der kollidierenden Interessen der Gütererhaltung und
der Möglichkeit, die in Betracht kommende Handlung vorzunehmen.
32 Beck, Risikogesellschaft, S. 13, 28 f.; ders., Gegengifte, S. 109, 120. Auch kri-
tisch bezüglich der neuen Gefahren Perrow, Normale Katastrophen, S. 100 ff., 355 ff.,
395 ff.
33 Vgl. Heilmann/Urquhart, Keine Angst vor der Angst – Risiko; weitere Nach-
AIDS, S. 476 ff.; ders., in: Busch/Heckmann/Marks (Hrsg.), HIV/AIDS und Straffäl-
ligkeit, S. 111 f.
150 § 4 Rechtsgüterschutz und strafrechtsfreier Raum
Geschlechtsverkehr mit einem anderen hat, ohne diesen vorher über das Risiko
aufzuklären. Es handelt sich hier um Leib oder Leben bzw. Gesundheit des an-
deren,42 die auch vor dieser Art minimaler Risiken strafrechtlich geschützt wer-
den.
Die Formel der Naturwissenschaftler, bei der das Risiko nach der Größe des
Schadens und der Wahrscheinlichkeit seines Eintritts kalkuliert wird, sollte so
interpretiert werden, daß ein (für die Rechtswissenschaft unerlaubtes) „Risiko“
auch bei extrem minimalen Wahrscheinlichkeiten des Schadenseintritts ange-
nommen wird, wenn der u. U. eintretende Schaden enorm sein sollte. Vor allem
bei Umweltschäden oder überhaupt bei massiven lebensbedrohenden Schäden
wie z. B. bei einem Reaktorunglück kommt vor allem in Frage, ob eine An-
nahme einer – sei es auch minimalen – Selbstzerstörungsmöglichkeit zu recht-
fertigen ist.
Der soziale Nutzen muß abstrakt bzw. kollektiv bestimmt werden, und da-
durch erlangt er Allgemeingültigkeit. Wäre die Handlung nur im konkreten Fall
bzw. individuell vom Nutzen, würde es sich um die typische Abwägung des
rechtfertigenden Notstands handeln.43 Demgegenüber handelt es sich beim tat-
bestandsausschließenden erlaubten Risiko um eine Interessenabwägung, die das
konkrete Individuum auf der Seite läßt. Die Abwägung wird hier nicht vom
Richter über die jeweiligen Situation, sondern im voraus vom Gesetzgeber ge-
macht.
Ferner bilden die Selbstschutzmöglichkeiten des Opfers und der Grad der
Freiwilligkeit des eingegangenen Risikos noch einen Grund dafür, solche nütz-
liche Aktivitäten zuzulassen und bei Einhaltung der Sicherheitsvorkehrungen in
den strafrechtsfreien Raum zu stellen. Beispiele dafür sind Autofahren oder
Rauchen, Treiben gefährlicher Sportarten oder bestimmte Beschäftigungen in
der Industrie oder am Bau, die die Gesundheit der Arbeiter beeinträchtigen.44
kommt, kann hier dahingestellt bleiben. Zur Diskussion vgl. nur Schönke/Schröder/
Eser, StGB, § 223, Rdn. 7 m. w. N.
43 Für diese Differenzierung und einen Ausschluß solcher Fällen aus dem Bereich
des erlaubten Risikos der objektiven Zurechnung: Jakobs, Strafrecht AT, 7/41 f.; ders.,
La imputación objetiva en Derecho penal, Madrid, S. 123 f.; Frisch, Tatbestandsmäßi-
ges Verhalten, S. 75 ff.; ders., Vorsatz und Risiko, S. 158; Roxin, Strafrecht AT I,
§ 11, Rdn. 60; vgl. auch Rudolphi, Gedächtnisschrift für Schröder, S. 81 ff.
44 Zum Gedanken der Viktimodogmatik im Rahmen einer allgemeinen kriminal-
Die Tatsache, daß der Täter das Risiko selbst eingeht, kann ein Kriterium für
die Abgrenzung zwischen strafrechtlich relevanter Handlung und strafrechts-
freiem Raum oder nur eine Hilfe bei der Abgrenzung zwischen dolus eventualis
und bewußter Fahrlässigkeit sein. Im Straßenverkehr geht normalerweise der Tä-
ter eine Verletzungsgefahr selbst ein, so daß nur Fahrlässigkeit bei einer
unerlaubten Verhaltensweise zu bejahen wäre (außer, daß er etwa mit einem
Panzer auf der Straße fährt oder daß die tatsächlichen Verhältnisse ihn in eine
vorteilhaftere Position stellen, z. B. wenn der Täter mit einem großen LKW und
das Opfer mit einem kleinen Motorrad fährt).
Die Risikogewöhnung der Gesellschaft bezüglich bestimmter Handlungen
und die Entstehung neuer Risiken, die Unbekanntheit des Risikos oder die ge-
sellschaftliche Wahrnehmung bereits vorhandener oder neuer Risiken sind wei-
tere Aspekte, die bei der Interessenabwägung in die Waagschale fallen sollen.
Die Risikowahrnehmung der Gesellschaft folgt keinen mathematischen Regeln,
da die Medien und das soziale Sicherheitsempfinden nach den verschiedenen
Lagen und Lebensstandards unterschiedlichen Kriterien folgen. Eine reine quan-
titative Beurteilung wäre wohl nicht ausreichend, um alle Aspekte bei der recht-
lichen Werteinschätzung zu berücksichtigen. Das ist einer von mehreren Grün-
den, warum der Straßen-, Flug-, Bahn-, Schiffsverkehr oder der Verkauf von
Tabak erlaubt ist, während die Schaffung einer Aids-Ansteckungsgefahr im
Rahmen der oben geschilderten Konstellationen strafrechtlich relevant sein
sollte.45 Es sind in der heutigen modernen Lebensweise weitere Risiken vorhan-
den, die noch eine Ungewißheit bezüglich ihrer Schädlichkeit erweisen, wie
z. B. die Produktionsart bestimmter Lebensmittel, der Verzehr von Rindfleisch
im europäischen Raum, die Benutzung einiger medizinischer Früherkennungs-
methoden wie die Computertomographie oder die derzeit massive Benutzung
von Mobiltelefonen oder Mikrowellen. Die Ungewißheit des Risikos ist in sol-
chen Fällen mit dem Kriterium der Freiwilligkeit der Eingehung des Risikos zu
kombinieren. Beispielsweise entscheidet der Benutzer des Mobiltelefons freiwil-
lig, sich der Strahlung auszusetzen; demgegenüber kommt aber eine Exposition
von Nichtfreiwilligen bei der Errichtung von Basisstationen in Frage, allerdings
mit einer wesentlich niedrigeren Intensität als bei den Mobiltelefonbenutzern.
Langfristige Studien zur chronischen Exposition im Niedrigdosisbereich liegen
derzeit nicht vor,46 damit bleibt das Einordnen der Basisstationen im Rahmen
des erlaubten Risikos. Was den Bereich der Gentechnik bei Nahrungsmitteln
betrifft, ist er im europäischen Mark derzeit weniger offensiv als in den USA,
wo gentechnisch behandelte Pflanzen angebaut werden.47 Für die Eingehung
48 Thomas, a. a. O.
49 Schünemann, Festschrift für Hirsch, S. 374.
50 Schünemann JA 1975, 576.
51 Schünemann JA 1975, 575: „kein Zauberhut“.
C. Die Interessenabwägung gegenüber der Figur des einsichtigen Menschen 153
die Materie, die sie regelt, um einen flexiblen Ansatz, der auch an den Einzel-
fall und den dem Wandel der Zeit unterliegenden Wertungen anzupassen ist.
32 f. (zur Adäquanztheorie); Roxin, Strafrecht AT I, § 11, Rdn. 50; Welzel, Das Deut-
sche Strafrecht, S. 132.
53 Roxin, Strafrecht AT I, § 24, Rdn. 32.
54 Roxin, Strafrecht AT I, § 11, Rdn. 50.
55 Gegen die Figur des objektiven Beobachters vgl. allgemein die Ausführungen
1. Die aus der Sicht der finalen Handlungslehre angegebene Begründung für
die Schwererbewertung des Vorsatzes in der finalen Steuerung des Geschehens2
leidet an dem Mangel, der dem Finalismus überhaupt anhaftet, nämlich daß der
Vorsatzbegriff mit der ontischen Finalität identifiziert wird. Sowohl der Vorsatz-
begriff als auch der Grund der hervorgehobenen Vorsatzbestrafung werden da-
gegen in einem wertungsorientierten System bzw. in rechtlichen Kriterien ihre
Wurzeln finden müssen.
2. Eine andere Ansicht bietet demgegenüber die Begründung, daß der Vor-
satztäter sich für die Rechtsgutsverletzung entscheidet.3 Allerdings ist der Be-
griff der Entscheidung gegen das Rechtsgut in den realen Fällen vor allem des
dolus eventualis schwer konkretisierbar.
1 Vgl. infra, § 5 C II 2.
2 Vgl. Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 33 ff., 37 f., 64 ff.; Armin Kaufmann,
Normentheorie, S. 69 f.; ders., ZStW 70 (1958), 64 ff. u. a.
3 Vgl. z. B. Roxin, JuS 1964, 58; Stratenwerth, Strafrecht AT I, § 8, Rdn. 66; SK-
Ferner wird als Begründung angegeben, daß die Vermeidung nicht erkannter
Erfolge eine größere Leistung darstellt als die Unterlassung vorsätzlicher Hand-
lungen.4 Aus diesem Ansatz ist richtigerweise die Idee zu entnehmen, daß das
Täterwissen die Appellfunktion des Vorsatzes auslöst und eine höhere Verant-
wortlichkeit begründet.
3. Weiterhin betont Zielinski, daß die Fahrlässigkeitsdelikte keine ausformu-
lierten Straftatbestände enthalten, so daß er die Schuld beim Vorsatz- schwerer
als beim Fahrlässigkeitsdelikt ansieht, weil der Vorsatztäter die Normwidrigkeit
seines Handlungsprojekts infolge der Existenz einer dieses beschreibenden ge-
setzlichen Verhaltensnorm leichter erkennen könne.5
4. Frisch geht bei seiner ausführlicheren Behandlung der Ratio der Vorsatz-
strafe in den 80er Jahren einerseits von zweckrationalen und andererseits von
wertrationalen Gründen aus und kombiniert die Begründung aus mehreren Kri-
terien: die speziell vom Vorsatztäter ausgehende Gütergefährlichkeit wegen der
bewußten Entscheidung gegen das Rechtsgut (zweckrationaler Grund); und die
besonders gewichtige personale Fehlleistung, die im Vorhandensein einer erhöh-
ten Vermeidemacht durch die Kenntnis des Verhaltens in seinen tatbestandsrele-
vanten Dimensionen bestünde (wertrationaler Grund).6 Der zweckrationale
Aspekt werde von der Rechtsgüterschutzaufgabe des Strafrechts und vom
Zweck des staatlichen Strafens gekennzeichnet. Der Rechtsgüterschutz werde
durch die generalpräventive und spezialpräventive Wirkung der Strafe erreicht.
Diese Gründe des Strafeinsatzes würden auf den Vorsatztäter im besonderen
Maße zutreffen: Was den generalpräventiven Aspekt betrifft, erschüttere vor-
sätzliches Handeln die Rechtstreue und das Vertrauen in die Unverbrüchlichkeit
der Rechtsordnung eher und stärker als fahrlässiges. Ein Verzicht auf eine staat-
liche Reaktion komme deshalb hier mit Blick auf die angedeuteten Gefahren
offenbar weniger in Betracht. Bezüglich des spezialpräventiven Aspekts verkör-
pere der Vorsatztäter offenbar dasjenige Subjekt, das typischerweise eher in be-
sonderem Maße der Strafe bedürfe.7
Für den wertrationalen Grund nimmt Frisch Bezug nun nicht auf die Zwecke,
sondern auf die Legitimation staatlichen Strafeinsatzes und damit auf die Vor-
aussetzungen des Strafeinsatzes. Die Geeignetheit und Erforderlichkeit des
Strafeinsatzes zum Rechtsgüterschutz i. S. der Generalprävention würde zu sei-
ner Legitimation nicht ausreichen, dazu müsse die Strafe das angemessene Mit-
tel sein. Dabei müsse ein spezifisch personaler Bezug des Täters („personale
Fehlleistung“) zu jener Tat gefordert werden, zu deren sozialpsychologischer
„Entschärfung“ (i. S. der bewirkten sozialpsychologischen Schäden für die
Rechtstreue und das Vertrauen) auf ihn Zugriff genommen werden solle. Diese
personale Fehlleistung gegenüber den Anforderungen des Rechts sei unverzicht-
bares Legitimationserfordernis auch der Bestrafung vorsätzlichen Handelns, und
sie müsse typischerweise größer sein als beim fahrlässigen Verhalten.8 Der
Grund der erhöhten Fehlleistung liege in der Nichtausnutzung einer Vermeide-
macht, die im Falle des Wissens gegenüber dem Fall des Nichtwissens typi-
scherweise erhöht sei. Wer um jene Dimension seines Verhaltens wisse, die den
Anlaß zum gesetzlichen Verbot gebe, könne die Tat mit Blick auf die Anforde-
rungen des Rechts eher vermeiden und damit dem Normbefehl leichter nach-
kommen als der, dem diese Kenntnis abgehe und der die relevante Gefährlich-
keit noch gar nicht erfaßt habe. Er verfüge bereits über Voraussetzungen der
Normbefolgung, die der andere sich noch schaffen müsse.9
Ferner geht Frisch der Frage nach, ob das Wissen über die Tatbestandsver-
wirklichung auch erhöhte Bedürfnisse für den Strafeinsatz weckt. Der Vorsatz-
täter zeige durch seine Tat, daß er den Konflikt der Interessen nach anderen
Maßstäben entscheide als die Rechtsordnung. Er handele, wo die Rechtsord-
nung zum Rechtsgüterschutz Abstandnahme von der Handlung fordere. Seine
Entscheidung zum Handeln sei in diesem Sinne eine Entscheidung gegen das
Rechtsgut. Die „Entscheidungsformel“ wird von Frisch präzisiert: Es gehe um
eine Entscheidung gegen die Verhaltensnormen.10
Wiederum signalisiere die Entscheidung nach abweichenden Prinzipien und
damit gegen das Rechtsgut eine typischerweise erhöhte Gütergefährlichkeit.
Von dem Täter sei nicht nur versehentlich falsches oder aus Leichtfertigkeit
falsches Handeln zu erwarten, er entscheide u. U. auch dort anders, wo er ei-
gentlich alles erfaßt habe, worauf es ankomme. Dabei bezieht sich Frisch nicht
nur auf das konkret gefährdete Rechtsgut, sondern auf einen allgemeinen Ge-
fährdungszustand aufgrund der eröffneten Möglichkeit der Ansteckung und Ver-
unsicherung. Nach seiner Auffassung sei die Erschütterung des Vertrauens in
die Geltung der Rechtsordnung und damit die Gefahr für deren Anerkennung
und Befolgung, also letztlich der Gefährdungszustand für die Rechtsgüter, alle-
mal größer, wenn sich die Tat nicht nur als Ausdruck eines Versehens, mangeln-
der Sorgfalt, Schlamperei usw., sondern als Ausdruck einer bewußten Entschei-
dung der Person entpuppe. Die Einsicht, daß unter uns jemand sei, der sich bei
seinen Entscheidungen an anderen Wertmaßstäbe halte, verunsichere und er-
schüttere besonders.11 Bei seinem Kriterium der erhöhten Gütergefährlichkeit
geht es also letztendlich um die Idee der Generalprävention.
12 A. a. O., S. 109 f.
13 Vgl. dazu supra, § 3 C V.
14 Jakobs, ZStW 101 (1989), 527 ff.
15 Über die Figur der Tatsachenblindheit siehe § 3 C V 2 b) cc); § 3 E; § 5 C II 1;
§ 6 D I m. w. N.
A. Ratio der Vorsatzstrafe, Schwererbewertung des Vorsatzes 159
Die Vorsatztheorie von Jakobs wird in der Regel unter die Vorstellungstheo-
rien eingegliedert,16 allerdings begründet er die Schwererbewertung der Vor-
satztat nicht nur durch das kognitive Element, wie er selbst erkennt,17 sondern
auch durch ein eher als Willenskomponente zu charakterisierendes Element der
„Akzeptabilität der Tatfolgen“. So würde der Fahrlässigkeitstäter anders als der
Vorsatztäter die Folgen seines unaufmerksamen Verhaltens nicht akzeptieren.
Dies würde sich darin zeigen, daß er mit seinem Verhalten das Risiko einer
poena naturalis tragen würde, d. h. auch selbst Geschädigter zu sein oder aber
ein anderer, dessen Schädigung er wie eine eigene Schädigung miterleiden
würde.18
Das Differenzierungskriterium der Akzeptabilität bzw. Nichtakzeptabilität der
Tatfolgen scheint mit Hilfe weiterer Kriterien überzeugend zu sein. Der Fahrläs-
sigkeitstäter lehnt die rechtsgutsverletzenden Folgen seines Verhaltens ab, wäh-
rend der Vorsatztäter ihre Verwirklichung annimmt, sonst würde er bei der vor-
handenen Folgenkenntnis gar nicht handeln. Ansonsten ist es nicht eindeutig,
wie die Wahrscheinlichkeitstheorie des Vorsatzes, die nur auf die Wissenskom-
ponente abstellt, auf diese Willenskomponente bei der Differenzierung der Be-
wertung der Vorsatz- und Fahrlässigkeitstat zurückgreift.
Gegen das Kriterium des Normwiderspruchs seitens des Vorsatztäters ist da-
gegen anzuführen, daß es im Strafrecht um den realen Rechtsgüterschutz und
nicht primär um die Geltung der Verhaltensnorm geht.19 Deshalb kann die Ver-
neinung der Norm nicht der entscheidende Aspekt für die Schwererbewertung
der Vorsatztat sein. Zugleich manifestiert die Gleichgültigkeit des Täters keine
Behauptung gegen die Verhaltensnorm eines Vorsatzdelikts, vielmehr äußert
sich der Täter skrupellos bezüglich der Aneignung der erforderlichen Kennt-
nisse, um die Tatsituation besser einzuschätzen. So hätte sich der betrunkene
Autofahrer Gedanken über die Tatsituation im oben erwähnten Rechtspre-
chungsfall machen müssen, entweder um weitere Tatkenntnisse zu erlangen
oder die Konsequenzen seines Handelns besser einzuschätzen, nämlich daß der
Polizist nicht rechtzeitig auf die Seite springen und deshalb ums Leben kommen
könnte. Dies widerspricht eher der Norm eines Fahrlässigkeitsdelikts.
20 Über den Begriff der Tatherrschaft siehe infra, § 5 C II 2 a) cc) (1) (a), mit Ver-
28 Vgl. dazu Schiemann, JuS 1989, 345 ff.; W. Lübbe, ARSP-Beiheft 74 (2000),
73 ff.
29 Vgl. zum Vorsatzbegriff infra, § 5 C II.
30 Siehe dagegen die Beispiele infra, § 5 C I und die Erwägungen zum untaugli-
tes stirbt; sei es, daß der Golfball unter den gleichen Umständen wie im Grund-
fall, aber ohne weitere Gedanken, abgeschlagen wird und den Kontrahenten zu-
fällig trifft. Denn hier überwiegt bei einer Kosten-Nutzen-Abwägung das Inter-
esse an der Handlungsfreiheit.
Allerdings stellt sich die Frage, ob die strafrechtlich relevanten Konstellatio-
nen des minimalen, aber beachtlichen Risikos, welches der Täter in Verlet-
zungsabsicht auslöst, von den Handlungen zu unterscheiden sind, die zwar auch
in Verletzungsabsicht vorgenommen werden, die aber aus bestimmten Gründen
die strafrechtlich relevante Risikoschwelle nicht überschreiten. D. h., ob wirklich
alle vom Täter vorgestellten Risiken, auch wenn diese nicht auszuschließen wä-
ren, ein Vorsatzdelikt begründen oder ob eine gewisse Annäherung an die
Grundsätze der h. Lehre in dem Sinne vorzunehmen ist, daß das vorsätzlich
strafbare Verhalten auch Untergrenzen hat, deren Konkretisierung im Folgenden
erfolgen wird.
I. Im objektiven Tatbestand
34 Vgl. supra, § 5 B.
C. Untergrenzen des Vorsatzdelikts 167
men die gleiche Grenze zieht. Nach der hier vertretenen Konzeption geht es
dagegen um drei Grenzlinien, die gezogen werden müssen: Erstens geht es um
die Untergrenze fahrlässigen Verhaltens, für das die supra, § 4 B geschilderte
Abwägung der Interessen maßgeblich ist. Zweitens kommen Konstellationen in
Frage, bei denen der Täter mit – strafrechtlich relevantem – Sonderwissen
(Bergwander- oder Bluterfall) oder Verletzungsabsicht (Lift- oder Golffall) han-
delt und er sich deshalb nicht auf sein Interesse an der Handlungsfreiheit be-
rufen kann, während er bei einer fahrlässigen Begehungsform keine Sorgfalts-
pflichten haben würde. Und drittens muß eine Grenzlinie zwischen der ersten
und zweiten gezogen werden, falls festzustellen ist, daß nicht alle wissentlich-
willentlichen Verhaltensweisen die strafrechtliche Norm verletzen, sondern die
Setzung von Untergrenzen beim Vorsatzdelikt erforderlich ist.
In diesem Abschnitt geht es um die dritte Grenzlinie, die zunächst einmal
von der Strafbarkeit alle diejenigen Handlungen ausschließt, die lediglich auf
abergläubischen Gedanken beruhen. Die Ansicht des Täters kann nämlich das
Vorliegen eines rechtlich relevanten Risikos nicht begründen, so daß es bei
abergläubischen Versuchen überhaupt um erlaubte Handlungen geht. Für die
weitere Begründung eines solchen Ausschlusses der strafrechtlichen Relevanz
ist auf die Erwägungen supra, § 3 D hinzuweisen. Demgegenüber beruht der
untaugliche Versuch auf einer falschen Tätervorstellung über die Wirklichkeit
(oder über die Naturgesetze bei grob unverständigem Versuch). Bei zutreffender
Sachverhaltskenntnis würde die Handlung geeignet sein, die Tatbestandsele-
mente zu verwirklichen, was beim abergläubischen Versuch nicht der Fall ist.
Zugleich liegt die Betätigung einer rechtsgüterfeindlichen Tätereinstellung nur
beim untauglichen Versuch vor.35
Schwierig einzuordnen ist die Gruppe von Fallgestaltungen, bei denen der
Täter absichtlich handelt, und zugleich die Wahrscheinlichkeit des Erfolgsein-
tritts wie im Lift- und Golffall äußerst niedrig ist. Hier lassen sich zunächst
Fälle denken, in denen die Bejahung einer Strafbarkeit als geradezu unvernünf-
tig erscheint. So würde kein unerlaubtes Risiko schaffen, wer beispielsweise ei-
nen anderen im 50. Stock eines Wolkenkratzers eingesperrt läßt in der Hoff-
nung, daß das Gebäude zusammenstürzt. Gleiches gilt für den, der eine Gashei-
zung anläßt in der Hoffnung, daß sie defekt ist und die Hausbewohner an einer
Gasvergiftung sterben.36 Ebenfalls handelt auch nicht vorsätzlich, wer den Fern-
seher ständig angeschaltet läßt, damit irgendwann ein Kurzschluß und dadurch
ein Brand entsteht. Kennt der Täter nicht die Umstände, die den Verdacht eines
erhöhten Risikos in sich tragen, so schafft er kein rechtlich relevantes Risiko.
S. 200, der es allerdings zur Begründung einer höheren Einschränkung der Strafbar-
keit beim Vorsatz- als beim Fahrlässigkeitsdelikt anbietet.
168 § 5 Folgerungen für das Vorsatzdelikt
Ebenso handelt nicht vorsätzlich, wer das Kind in der Mitte des Zimmers zum
Schlafen auf das Bett hinlegt, damit irgendwann die Schlafzimmerlampe auf es
hinunterfällt, wenn er keine weitere Maßnahme für die Schaffung einer konkre-
ten Gefahr ergriffen hat. Lockert er aber die Schrauben der Lampe ein wenig,
so handelt er vorsätzlich.
Die geschilderten Konstellationen haben etwas gemeinsam: Der Bau des
Wolkenkratzers, die Herstellung der Gasheizung, des Fernsehgeräts, die Befesti-
gung der Lampe bzw. die Statik der Decke sind verwaltungsrechtlich zugelas-
sen, sie unterliegen einer technischen Prüfung (u. U. sogar mit Erteilung eines
Prüfsiegels) und der Benutzer kennt den – bestmöglichen – Ausschluß von Risi-
ken durch die normgerechte Handhabung. Dagegen sind die Opfer im Lift- und
Golffall gegenüber anderen Risikoarten exponiert: Diese sind nur bei eigenver-
antwortlicher Selbstgefährdung des Betroffenen erlaubt, was sogar mit einem
Warnschild „auf eigene Gefahr“ im Lift signalisiert wird, und wer einen Golf-
spielplatz betritt, muß mit herumfliegenden Golfbällen rechnen, was eigentlich
vom Opfer des Eingriffs nicht akzeptiert worden wäre, wenn es über das ge-
zielte Verhalten seines Golfpartners Bescheid gewußt hätte. In der Gebrauchsan-
weisung eines Fernsehgerätes wird dagegen kein Hinweis auf eine maximale
Einschaltdauer gemacht, so daß bei einem neuen Fernseher durch das bloße
Einschalten kein rechtlich relevantes Todesrisiko geschaffen wird – also auch
nicht, wenn das Gerät vor einem gefesselten Opfer längere Zeit eingeschaltet
ist, ohne daß der Täter weitere Ziele als einen Kurzschluß und dadurch einen
Brand mit Todesfolge verfolgt. Ein Kurzschluß ist dabei erfahrungsgemäß nicht
völlig unwahrscheinlich, trotzdem handelt es sich um ein zugelassenes Objekt
mit einer regelkonformen Benutzung. Die Schwelle des erlaubten Risikos wäre
allerdings überschritten, wenn es sich um einen selbst gebastelten Fernseher
handeln würde, oder bei Hinzufügung eines zusätzlichen Risikofaktors.
Bei der Beurteilung der rechtlich relevanten Risikoschaffung spielt das Ele-
ment der Beharrlichkeit des Täters, den Verletzungserfolg herbeizuführen, eine
wichtige Rolle. Das kontinuerliche Hoch- und Runterfahrenlassen des unge-
schützten Opfers im Lift erhöht das Verletzungsrisiko gerade durch das Handeln
des Täters, weil durch jede (insbesondere kontinuierliche) Benutzung das Risiko
steigt. Die bloße Hoffnung des Täters wird auch zur strafrechtlich relevanten
Absicht, wenn er im obigen Beispiel den veralteten und bereits stark gebrauch-
ten Fernseher mehrere Monate lang 24 Stunden am Tag vor dem Opfer ein-
schaltet. Entsteht dadurch ein Brand, bei dem das Opfer zu Tode kommt, kann
man die Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens nicht verleugnen.
Eine weitere Untergrenze strafbaren Verhaltens wäre beim Vorsatzdelikt in
den Fallkonstellationen zu sehen, in denen der Täter an einer nützlichen bzw.
standardisierten und bis ins Detail geregelten Aktivität wie z. B. dem Bauen oder
dem Straßenverkehr mit rechtsgutsverletzenden Wünschen, dennoch aber sorg-
faltsgemäß teilnimmt, wie z. B. derjenige, der durch die Stadt verkehrsgerecht
C. Untergrenzen des Vorsatzdelikts 169
tion von Schünemann, NStZ 1982, 60 ff. übernommen hat. Vgl. ferner ein Beispiel in
Roxin, Strafrecht AT I, § 11, Rdn. 92, der den Fall BGHSt 24, 342 („Motorradwett-
fahrt“), der nur Fahrlässigkeit betrifft, in einen Vorsatzfall umwandelt.
40 Vgl. zu diesem Kriterium die Übersicht von Kühl, Strafrecht AT, § 4, Rdn.
86 ff.; Roxin, Strafrecht AT I, § 11, Rdn. 105 ff., m. w. N. aus der Literatur und Recht-
sprechung. Roxin schlägt eine Übertragung dieses Zurechnungskriteriums aus den
Fahrlässigkeits- in die Vorsatzdelikte ausdrücklich vor, vgl. a. a. O., Rdn. 110.
41 Die vom Schrifttum angeführten Beispiele beziehen sich normalerweise nur auf
sigkeitskonstellation des BGH NStZ 94, 394 (Schießen mit Tötungsvorsatz, wenn nur
das Bein des Opfers getroffen wird, das wiederum keine Bluttransfusion will und des-
halb stirbt).
45 Vgl. statt vieler Kühl, Strafrecht AT, § 4, Rdn. 66 ff.
C. Untergrenzen des Vorsatzdelikts 171
46 Vgl. Frisch, Vorsatz und Risiko, S. 26 ff., 101, 255 ff. 482 ff., 486 und passim;
ders., JuS 1990, 366; ders., Gedächtnisschrift für Meyer, S. 533 ff.; ders., NStZ 1991,
23 ff.
47 Vgl. Herzberg, JuS 1986, 260 ff.; ders., JuS 1987, 780 f.; ders., NJW 1987,
1464; ders., NJW 1987, 2283 ff.; ders., JZ 1988, Teil 1, 573 ff.; Teil 2, 638 ff.; ders.,
JZ 1989, 476.
48 Puppe, ZStW 103 (1991), 1 ff., 14 ff.; dies., Vorsatz und Zurechnung, 35 ff., ins-
bes. 39 f., 43; NK-dies., § 15, Rdn. 88 ff.; dies., Strafrecht AT 1, § 16, Rdn. 40 f.
49 Dazu vgl. § 3 C V 2 b) cc); § 3 E; § 5 A II 5; § 6 D I mit Nachweisen. Dieser
Vorsatzbegriff von Jakobs wurde von Schünemann, Chengchi Law Review 50 (1994),
265, als die „totale postmoderne Objektivierung“ bezeichnet, während die restlichen
objektiven Einschränkungen im Bereich der Vorstellungstheorien als eine „einge-
schränkte postmoderne Objektivierung“ eingestuft werden.
172 § 5 Folgerungen für das Vorsatzdelikt
Probleme, Strafrecht AT, S. 1 ff.; ferner Roxin, Strafrecht AT I, § 12, Rdn. 21 ff.;
Kühl, Strafrecht AT, § 5, Rdn. 43 ff.
51 Vgl. Grünwald, Festschrift für Hellm. Mayer, S. 288; Ross, Über den Vorsatz,
52 Vgl. Roxin, Strafrecht AT I, § 12, Rdn. 39; ders., JuS 1964, 60.
53 Vgl. z. B. Kühl, Strafrecht AT, § 5, Rdn. 87; Jescheck/Weigend, Lehrbuch, § 29
III 3 c (Beispiel der Autobahn).
54 Im Gegensatz zur Figur der Tatsachenblindheit von Jakobs, der nur auf die
von Hillenkamp, 32 Probleme, Strafrecht AT, S. 3 f. gefaßt, vgl. Frisch, Vorsatz und
Risiko, S. 26 ff., 101, 255 ff., 482 ff., 486 und passim; ders., JuS 1990, 366; ders.,
Gedächtnisschrift für Meyer, S. 533 ff.; ders., NStZ 1991, 23 ff.; AK-StGB-Zielinski,
§§ 15, 16, Rdn. 18, 73 ff.; ders., Handlungs- und Erfolgsunwert, S. 162 ff.; Bottke, in:
Schünemann/Pfeiffer (Hrsg.), Die Rechtsprobleme von AIDS, S. 194 ff.; ders., AIFO
1989, 471 f.; Freund, JR 1988, 117; ders., Strafrecht AT, § 7. Dazu gehört nicht der
Vorsatzbegriff von Philipps, vgl. ZStW 85 (1973), 38 und ders., Festschrift für Roxin,
S. 365 ff., der auch auf normative Kriterien abstellt, die voluntative Seite des Vorsat-
zes aber auf keinen Fall außer Betracht lassen will.
C. Untergrenzen des Vorsatzdelikts 175
Der hier vertretene Vorsatzbegriff setzt drei Prämissen voraus: Einerseits wer-
den die Gründe der Schwererbewertung der Vorsatz- gegenüber der Fahrlässig-
keitstat in Betracht gezogen. Ferner wird der reale psychische Vorgang berück-
sichtigt, der Gegenstand der rechtlichen Bewertung ist. Zugleich bedarf die
Bestimmung, was Vorsatztat ist, einer rechtlichen Bewertung und damit der An-
gabe von Kriterien, die hierzu dienen. Diese Voraussetzungen werden im fol-
genden ausgeführt.
66 Vgl. dazu die Übersicht bei Hillenkamp, 32 Probleme, Strafrecht AT, S. 6 ff.
67 Vgl. u. a. Roxin, Strafrecht AT I, § 12, Rdn. 23, 30. Für weitere Nachweise, auch
bezüglich der Formeln des „Sich-Abfindens“ und „Hinnehmens“, vgl. Kühl, Strafrecht
AT, § 5, Rdn. 72 ff.
68 So bereits Schünemann, Festschrift für Hirsch, S. 367 f.; ders., Chengchi Law
Zur Untersuchung des Vorsatzbegriffs und speziell der Untergrenzen des Vor-
satzes als Abgrenzung zur bewußten Fahrlässigkeit ist auf die Gründe der
Schwererbewertung des Vorsatzes gegenüber der leichteren Fahrlässigkeitsbe-
strafung zurückzugreifen. Wie supra, § 5 A III angeführt, sind die Gründe einer
schwereren Vorsatzbestrafung hauptsächlich das Wissen der Sozialschädlichkeit,
die die Tatherrschaft begründen, und bei einer bloßen Möglichkeitsvorstellung
eine besondere subjektive Einstellung des Täters bezüglich der Möglichkeit der
Tatbestandsverwirklichung, die für den Rechtsgüterschutz unerträglich ist.
70 Vgl. die Darstellung von Kripke, Wittgenstein über Regeln und Privatsprache,
S. 24, 33. Vgl. auch die Kritik an Wittgenstein, die Schünemann, Festschrift für Roxin,
S. 30, im Rahmen der Kritik an dem strafrechtlichen radikalen Normativismus übt,
indem er eine ontologische Basis in der Umgangsprache sieht.
71 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §§ 240–242.
72 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §§ 156 ff.; vgl. auch Kripke, a. a. O.,
S. 62 f.
178 § 5 Folgerungen für das Vorsatzdelikt
S. 124.
74 So z. B. bei Jakobs, vgl. supra § 3 C V 2 b) cc), § 3 E, § 5 C II 1.
75 Vgl. Kindhäuser, ZStW 96 (1984), 5 ff., 21 ff.; Hruschka, Festschrift für Klein-
knecht, 191 ff., 201 f.; ders., Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, S. 425 f.;
Prittwitz, JA 1988, 497 ff.; vgl. ferner Volk, Festgabe BGH, Bd. IV, S. 749 f.
76 Vgl. Volk, Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 611 ff.; ders., Festgabe BGH, Bd.
IV, S. 739 ff., 744 ff.; ferner ders., GA 1973, 161 ff.; ders., Festschrift für Bockel-
mann, S. 75 ff.; Hassemer, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, S. 304 ff.; Ragués
i Vallès, El dolo y su prueba en el proceso penal, Barcelona, S. 18 und passim.
77 Zur Kritik an der Objektivierung des Vorsatzbegriffs siehe Schünemann, Fest-
schrift für Hirsch, S. 363 ff., 376, der auch auf das Problem des Mitbewußtseins auf-
merksam macht, vgl. a. a. O., S. 366 m. w. N. U. a. fordern auch ausdrücklich eine Mög-
lichkeitsvorstellung als Mindestvoraussetzung des Eventualvorsatzes Samson, Straf-
recht I, S. 50 f.; Kühl, Strafrecht AT, § 5, Rdn. 52 f.
78 Vgl. die von den in supra, Fn. 55 genannten Autoren dargestellte Form der Wahr-
scheinlichkeitstheorie, nicht aber die von den in supra, Fn. 56 genannten Autoren ver-
tretene normative Gestaltung der Kategorie der Wahrscheinlichkeit, die hier unter
„Risikotheorien“ eingegliedert wird.
C. Untergrenzen des Vorsatzdelikts 179
sichtigung. Allerdings sind gegen die dabei getroffene Auswahl des psychischen
Substrats die bereits oben erhobenen Einwände anzubringen.
Vorsätzlich ist ein Verhalten nicht schon wegen des „factum brutum“, weil es
mit tatsächlichem Wissen über die Tatumstände begangen wurde, sondern weil
dieses Wissen die Tatherrschaft begründet, die das Vorsatzdelikt erfordert. Hier
ist man also an einem Vorsatzbegriff orientiert, der bestimmte Täterkenntnisse
voraussetzt, die diesem eine Tatbeherrschung sichern. Dabei geht es um die
Kenntnisse über die potentielle Sozialschädlichkeit bzw. über die Fähigkeit zur
Rechtsgutsobjektsverletzung eines Verhaltens, wodurch der Täter die Herrschaft
über das Geschehen besitzt, solange er keinen – berechtigten – Vermeidewillen
hat. Der Vorsatz muß also die Sozialschädlichkeit umfassen, vgl. dazu die Aus-
führungen supra, § 5 A III.
Der hier vorgenommene Bezug auf den Begriff der Tatherrschaft deutet auf
eine tatsächliche Tatherrschaft im empirischen Sinne: Tatherrschaft ist eine ge-
steigerte Steuerungsfähigkeit des Geschehens. Der Täter beherrscht das Gesche-
hen, wenn die Vermeidung der Rechtsgutsverletzung in seinen Händen liegt.
Beim Vorsatz geht es um den Mißbrauch dieser Vermeidemacht.79 Obwohl es
bei der Tatherrschaft um eine sachlogische Struktur geht, ist die Auswahl dieser
Gegebenheit für die tatbestandliche Relevanz eine rechtliche Wertung. Daß Tä-
terkenntnisse über die Sozialschädlichkeit des eigenen Verhaltens eine Tatherr-
schaft begründen und beim Vorsatzbegriff von Gewicht sind, ist auf die Rechts-
gründe für die Schwererbewertung des Vorsatzes und auf die Rechtsgüterschutz-
funktion des Strafrechts zurückzuführen.
Liegt sicheres Wissen vor, so besitzt der Täter die absolute Kontrolle, und es
ist folglich nicht erforderlich, zusätzlich die Frage nach der Willenskomponente
zu stellen. Eine solche Ergänzung des Vorsatzbegriffs wird erst bei einer schwä-
cheren Wissenskomponente erforderlich, was Gegenstand der Untersuchung im
nächsten Abschnitt sein wird.
ten Unterlassungsdelikte, S. 229 ff., 281 ff.; für die Sonderdelikte ders., Unterneh-
menskriminalität und Strafrecht, S. 84 ff.; ders., GA 1985, 375 ff.; ders., GA 1986,
331–336; LK-ders., § 14, Rdn. 17 m. w. N.; ders., Chengchi Law Review 50 (1994),
260, 269; ders., Festschrift für Hirsch, S. 371.
180 § 5 Folgerungen für das Vorsatzdelikt
80 Vgl. Schünemann, Festschrift für Hirsch, S. 370 ff.; ders., Chengchi Law Review
50 (1994), 266 ff. Zur Präzisierung des vor allem von Arthur Kaufmann (in: Analogie
und Natur der Sache) ausgearbeiteten Konzepts der Typusbegriffe, nun mit einer Be-
rücksichtigung der unterschiedlichen Ausprägungen der Merkmale vgl. Puppe, Ge-
dächtnisschrift für Armin Kaufmann, S. 25 ff., speziell über den dolus eventualis:
S. 31; Kuhlen, in: Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken, ARSP-
Beiheft 45 (1992), 119 ff.; Duttge, Fahrlässigkeitsdelikte, S. 410 ff., 423 ff., 429 ff.,
495; MünchKommStGB/ders., § 15, Rdn. 126 ff.; ders., in: Byrd/Hruschka/Joerden
(Hrsg.), Jahrbuch für Recht und Ethik 11 (2003), S. 103 ff.; Warda, Festschrift für
Hirsch, S. 412 f.; ferner auch Schünemann, Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 305 ff.
C. Untergrenzen des Vorsatzdelikts 181
(2) Wollensseite
Die Frage, welche Einstellung der Täter bei Begehung der Tat hat, bedarf
also einer Berücksichtigung beim Vorsatz, wenn kein sicheres Wissen über die
(mögliche) Tatbestandsverwirklichung besteht. Allerdings ist nicht jede Willens-
betätigung im Sinne einiger Ansätze der Willenstheorien rechtlich relevant, son-
dern nur diejenigen, die durch objektive Kriterien als solches bestimmt werden.
Die in der realen Welt existierende psychische Beziehung des Täters zu seiner
Tat ist als solche also nicht gleich als Vorsatz zu beurteilen, sondern sie gilt nur
als Gegenstand der rechtlichen Beurteilung und dabei als Indiz des Vorhanden-
seins einer aus rechtlicher Sicht negativen Einstellung gegenüber dem Rechts-
gut.81 Für die Bestimmung der für den Vorsatz rechtlich relevanten Tätereinstel-
lung (Wollensseite) sind eine subjektive und eine objektive Seite zu berücksich-
tigen:82 Ob der Täter seine Handlung gegen das Rechtsgut richtet bzw. ohne
Vermeidewillen handelt (objektive Seite der Tätereinstellung), wird seiner emo-
tionalen Einstellung zur Tat und ihren Folgen entnommen (subjektive Seite der
Tätereinstellung).
Es muß die subjektive Seite der Tätereinstellung bestimmt werden, d. h. die
Frage, um welche psychischen Strukturen es sich bei der Schaffung der Mög-
lichkeit der Tatbestandsverwirklichung handelt. Die psychischen Phänomene der
Billigung, Gleichgültigkeit, Unerwünschheit oder Ablehnung bezüglich der Tat-
bestandsverwirklichung beschreiben für sich allein nicht den vollständigen psy-
chischen Vorgang, der bei der Schaffung der Möglichkeit der Tatbestandsver-
wirklichung in der Regel wirklich abläuft:83 Ist ein Subjekt an der Vornahme
einer Handlung interessiert, die die Möglichkeit einer Rechtsgutsverletzung er-
öffnet, kann seine Einstellung zu dieser Möglichkeit unterschiedliche Ausfor-
mungen aufweisen. Ist die Rechtsgutsverletzung unerwünscht, aber das Interesse
an der Vornahme der Handlung übermächtig, kann ein Verdrängungsprozeß
beim Handelnden einsetzen, aufgrund dessen von ihm die Sozialschädlichkeit
seines Verhaltens als doch nicht so immanent bewertet wird. Dieser Verdrän-
gungsprozeß entspricht im Prinzip etwa der Formulierung der Rechtsprechung
und einem Teil der Willenstheorien des Vertrauens auf das Ausbleiben des Er-
folges – allerdings ist eine sachliche Beschreibung des Ablaufs dieses Prozesses
einer Vorsatzbestimmung auf rein sprachlichem Wege vorzuziehen.84 Ist demge-
genüber dem Handelnden die Rechtsgutsverletzung gleichgültig, wird es in der
81 Als „Indiz“ bezeichnet auch von Frisch, Vorsatz und Risiko, S. 333 ff., 475,
489 f.; Schroth, NStZ 1990, 324; Kühl, Strafrecht AT, § 5, Rdn. 55.
82 Vgl. die Differenzierungen in zwei Seiten bereits bei Schünemann, Festschrift für
Hirsch, S. 367; ders., Chengchi Law Review 50 (1994), 266 f.; ders., JA 1975, 788 f.;
ders., GA 1985, 362 f.
182 § 5 Folgerungen für das Vorsatzdelikt
84 Schünemann, JA 1975, 789; ders., Festschrift für Hirsch, S. 368 und passim be-
zeichnet das Vorgehen der herrschenden Meinung als ein bloßes „Jonglieren mit philo-
logischen Varianten“.
85 Vgl. Stratenwerth, ZStW 71 (1959), 56; Roxin, JuS 1964, 60 f.; ders., Strafrecht
AT 1, § 12, Rdn. 21 ff., insbes. 31; Wolter, Alternative und eindeutige Verurteilung auf
mehrdeutiger Tatsachengrundlage im Strafrecht, S. 178 f.; Grünwald, Festschrift für
H. Mayer, S. 288; Schroth, JuS 1992, 7; Lackner/Kühl, StGB, § 15, Rdn. 24.
86 Gegen ein ungerechtfertigtes Honorieren der stärksten psychologische Verdrän-
gungskraft vgl. LK-Schroeder, § 16, Rdn. 89; zu einer Betrachtung der Verdrängungs-
bereitschaft unter Rechtsgüterschutzaspekten vgl. Schünemann, JA 1975, 788; ders.,
JR 1989, 93; zu einer Unterscheidung zwischen Täter, die sich in einem allgemein
akzeptierten Rollenbild befinden, und „ohnehin kriminell tätigen Täter“, vgl. Haft,
ZStW 88 (1976), 382 f., 389, 391. Aus der Perspektive der – modernen – Vorstel-
lungstheorien vgl. z. B. Herzberg, JuS 1986, 252; ders., Festgabe BGH, Bd. IV, S. 81;
Puppe, ZStW 103 (1991), 11 ff.; NK-dies., § 15, Rdn. 56, 78; dies., Strafrecht AT 1,
§ 15, Rdn. 9.
C. Untergrenzen des Vorsatzdelikts 183
das Risiko eingeht wie beim Straßenverkehr, ist der Bedrohungseffekt einer sol-
chen Verdrängungsbereitschaft bei der Schaffung einer unerlaubten Gefahr sehr
niedrig, und deshalb erreicht er das Maß der für den Vorsatz erforderlichen
rechtsgüterfeindlichen Einstellung nicht. Fährt z. B. jemand über eine rote Am-
pel bei einer ex ante nicht vorhersehbaren Gefahr, weil der Wille, schneller
zum Ziel zu kommen, überwiegt, und begnügt er sich dabei mit der Erklärung,
daß nichts geschehen werde, schafft er einerseits ein unerlaubtes Risiko, ande-
rerseits erreicht seine Verdrängungsbereitschaft auch angesichts des Eingehens
des Risiko nicht den Bedrohungsgrad für das Rechtsgut, der der Ratio der er-
höhten Vorsatzsbestrafung entspricht. Demgegenüber wirkt eine Verdrängungs-
bereitschaft des Täters, die auf rein individuelle und deshalb unberechtigte Im-
pulse und nicht auf eine in der Gesellschaft verankerte Risikobereitschaft zu-
rückzuführen ist, sehr bedrohlich für die Rechtsgüter, selbst bei sehr niedrigen
Risikoschaffungen, wie z. B. bei der Gefahr der Ansteckung mit HIV. Man
könnte aber bei den Aids-Fällen an die Möglichkeit denken, daß der Täter die
Rechtsgutsverletzung aus dem Grund verdrängt, weil der Sexualpartner sowieso
über ein allgemeines Verletzungsrisiko bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr
informiert ist. Eine solche Erklärung der Verdrängungsbereitschaft hat einen
niedrigeren Bedrohungseffekt als diejenige, die aus rein individuellen Impulsen
entsteht.
Ob die Verdrängungsbereitschaft des Handelnden berechtigt ist mit der Folge
eines bloßen Fahrlässigkeitsdelikts, weil sie als Leichtsinn erscheint, der für ein
Vorsatzdelikt nicht genügt, hängt vor allem von der Art der vorgenommenen
Tätigkeit ab, die das Endziel des Täters bildet, von der Erlaubtheit oder Uner-
laubtheit der Tätigkeit (die Handlung des Täters im Rahmen dieser Tätigkeit
wird u. U. als solche unerlaubt sein, wie beispielsweise das Fahren über eine
rote Ampel), vom Grad der Tatherrschaft über das Opfer, d. h., ob dieses um
das Risiko weiß, und von der Bereitschaft des Täters, das von ihm geschaffene
Risiko selbst einzugehen.87 Geht der Handelnde das Risiko selbst ein, wie es
beim Straßenverkehr üblich ist, wird die Verdrängungsbereitschaft in der Regel
keine rechtsgüterfeindliche Einstellung manifestieren und damit nur eine Fahr-
lässigkeitshaftung begründen. Darüber hinaus sind weitere objektive Kriterien in
Betracht zu ziehen, die wiederum einer Anpassung an die Situationselemente
von Fall zu Fall bedürfen. Beispielsweise ist die Tatsache, daß der Mensch oft
zur Verdrängung der Möglichkeit eines Todeseintritts (d. i. die sogenannte
„Hemmschwelle“ vor dem Tötungsvorsatz88) bei einer selbst geschaffenen Ge-
fahr neigt, nicht als solche bestimmend für die rechtliche Bewertung. Vielmehr
müßte diese Verdrängungsbereitschaft aus der Perspektive des Rechtsgüterschut-
Hirsch, S. 374; ders., Chengchi Law Review 50 (1994), 272 f., 292 f., entwickelt.
88 Vgl. BGHSt. 15, 117.
184 § 5 Folgerungen für das Vorsatzdelikt
S. 364; Roxin, Strafrecht AT I, § 12, Rdn. 48; Lackner/Kühl, StGB, § 15, Rdn. 24;
ders., Strafrecht AT, 3. Aufl., § 5, Rdn. 81. Vgl. ferner die Zusammenfassung der Kri-
tik in Hillenkamp, 32 Probleme, Strafrecht AT, S. 9.
C. Untergrenzen des Vorsatzdelikts 185
schaft und begründet bereits für sich allein den Vorsatz, auch wenn der Täter
mit Vermeidewillen handelt oder Vermeidefaktoren einsetzt. Dieser Standpunkt
impliziert auf keinen Fall eine normative Zuschreibung der Willenskomponen-
ten, sondern er berücksichtigt den Grad der realen Steuerungsfähigkeit des Tä-
ters über das Geschehen und läßt die Wissenskomponente – ohne eine etwaige
Ergänzung durch die Willenskomponente – in den Vordergrund treten, sobald
die Tatherrschaft absolut gesichert ist. Die Willenskomponente hat eher eine
Funktion, wenn der Täter nur von der Möglichkeit der Tatbestandsverwirkli-
chung Kenntnis hat. In diesem Fall ist Vorsatz nur bei vorhandenem Verlet-
zungswillen anzunehmen.
Der Vermeidewille bzw. der Einsatz von Gegenfaktoren ist allerdings ein wei-
terer Aspekt, der zur Bestimmung der zur Vorsatzhaftung relevanten Einstellung
des Täters dient. Diese Auffassung entspricht auch dem oben beschriebenen
Verdrängungsprozeß: „Schlichten“ Vermeidewillen zu haben, obwohl man um
die erhöhte Möglichkeit bzw. Wahrscheinlichkeit der Tatbestandsverwirklichung
weiß, bedeutet eine nicht akzeptable Verdrängung der Verletzungsfähigkeit eige-
ner Handlungen, was einen hohen Bedrohungseffekt für das Rechtsgut impli-
ziert und deshalb die höhere Vorsatzstrafe verdient. In diesem Sinne ist den
Vorstellungstheorien darin recht zu geben, daß das (erhöhte) Wissen einen Wil-
len zur Tatbestandsverwirklichung impliziert.94
De lege ferenda scheint es angebracht, im Allgemeinen Teil eine gestufte
Differenzierung bezüglich der Strafrahmen zwischen den unterschiedlichen Vor-
satz- und Fahrlässigkeitsformen vorzunehmen.95 Auf einer Stufe zwischen der
Vorsatz- und der Fahrlässigkeitsstrafandrohung würde dann das Verhalten des-
jenigen anzusiedeln sein, der eine bloß individuelle, rechtsgüterfeindliche Ver-
drängungsbereitschaft und dabei tatsächliche Kenntnis von der Möglichkeit der
Tatbestandsverwirklichung besitzt.
Als Ergebnis ist festzuhalten, daß das Wissenselement des Vorsatzes psychi-
sche Strukturen in Bezug nimmt, die entscheidend für die Bejahung der Tat-
herrschaft sind. Aus der Vielfalt der in der Psyche des Täters existierenden Ele-
mente bezüglich seiner Tat sind also solche rechtlich relevant, die eine Tatherr-
schaft begründen können. Die Tatherrschaft selbst ist etwas Empirisches; die
Auswahl dieses Kriteriums zur Bestimmung der strafrechtlichen Relevanz ist
eine Frage der rechtlichen Bewertung. Das Willenselement des Vorsatzes hat
94 Vgl. z. B. Frisch, Vorsatz und Risiko, S. 262 ff.; Freund, Strafrecht AT, § 7, Rdn.
55 f.
95 Vgl. bereits Weigend, ZStW 93 (1981), 657 ff.; Schünemann, GA 1985, 363 f.;
ders., Chengchi Law Review 50 (1994), 269 f.; ders., Festschrift für Hirsch, S. 371 f.
186 § 5 Folgerungen für das Vorsatzdelikt
268 ff.; ders., Festschrift für Hirsch, S. 370 ff., der sich eher auf eine rechtsgüterfeind-
liche Gesinnung bezieht.
§ 6 Sonderwissen und Sonderfähigkeiten des Täters
Antwort auf das Problem des Sonderwissens bereits in sich enthalten, erscheint
nunmehr eine Gesamtbetrachtung nicht nur mit Darlegung der eigenen Auffas-
sung, sondern auch unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Meinungen zu
dem punktuellen Thema des Sonderwissens angezeigt. Es handelt sich dabei
letztendlich abermals um die Auffassungen der Lehre von der objektiven Zu-
rechnung mit ihren unterschiedlichen Varianten, des Spätfinalismus und der in-
dividualisierenden Fahrlässigkeitslehre, nun aber nur bezüglich des Themas des
Sonderwissens, das ein selbständiges und äußerst weites Feld bildet. Und ob-
wohl die Debatte über die Einführung des Sonderwissens in die objektive Zu-
rechnung teilweise auf einen Streit über Systemfragen hinausläuft, wird hier das
Problem des Sonderwissens als eine materielle, grundsätzliche Frage des Un-
rechtsinhalts angesehen, weshalb die Diskussionspunkte, die sich auf das Syste-
matische beschränken, nur als zweitrangig behandelt werden.
Selbständig daneben steht die Frage der Berücksichtigung etwaigen Sonder-
könnens beim Fahrlässigkeitsdelikt, die nicht unumstritten ist und teilweise dif-
ferenzierend beantwortet wird. Sie ist infra, § 6 G, noch gesondert zu erörtern.
1. Allgemeinheiten
3 Exemplarisch Roxin, Strafrecht AT I, § 11, Rdn. 60, vgl. ferner hier supra, § 3 C.
B. Die Debatte über das Sonderwissen 189
Engisch4 und später von Welzel5 aus dem Schuldbereich in den Tatbestand ver-
setzt, und diese Einordnung wird bis heute von der herrschenden Lehre und
Rechtsprechung beibehalten. Ob ein Verhalten eine Gefahr geschaffen hat und
ob diese Gefahr mißbilligt war bzw. das Maß der im konkreten Fall aufzuwen-
denden Sorgfalt wird nach dem Maßstab eines gedachten objektiven Beurteilers
des Verkehrskreises des Täters ex ante bestimmt, zu dem auch etwaiges Sonder-
wissen des Täters zählt.6 Wiederum wird die subjektive Voraussehbarkeit des
Erfolges im Schuldbereich neben den sonstigen Merkmalen (Schuldfähigkeit,
potentielles Unrechtsbewußtsein, Unzumutbarkeit) geprüft.
Gemäß dieser deutlichen Unterscheidung zwischen Unrecht und Schuld, die
in der ursprünglichen Auffassung Welzels noch nicht vorhanden war,7 ist der
Aufbau der Fahrlässigkeitsdelikte bis Ende der 60er Jahre des vorigen Jahrhun-
derts unbestritten geblieben.8 Dann entwickelte sich eine individualisierende
Strömung, die vom traditionellen, heute noch herrschenden generalisierenden
Maßstab für die Bestimmung der Sorgfaltswidrigkeit abweicht. Da diese Auffas-
sung die Sorgfaltsanforderungen individualisiert, braucht sie etwaige Sonder-
kenntnisse des Täters nicht als Zusatzelement des Tatbestandes einzubeziehen,
sondern sie werden einfach innerhalb des individualisierten Beurteilungsmaßsta-
bes mitberücksichtigt.9
Inzwischen wird der Begriff der Sorgfaltswidrigkeit der herrschenden Mei-
nung im Rahmen der Lehre von der objektiven Zurechnung präzisiert, ergänzt
und zugleich näher begrenzt, so daß er von der dogmatischen Kategorie der
Schaffung einer unerlaubten Gefahr quasi überwunden oder „überdeckt“ wird.10
Die durch die Lehre von der objektiven Zurechnung geschaffenen strafrechtli-
chen Handlungsfreiräume werden dagegen bei vorhandenem Sonderwissen des
Täters wieder abgeschafft. Sonderwissen schließt nämlich nach der herrschen-
den Lehre entlastende Zurechnungskriterien wie das erlaubte Risiko sowohl
beim Vorsatz- als auch beim Fahrlässigkeitsdelikt aus, d. h. Sonderwissen wirkt
sich ausnahmslos unter der Maxime „Wissen verpflichtet“11 zu Lasten des Tä-
ters aus.12 Damit Sonderwissen bei der objektiven Zurechnung überhaupt be-
lastend wirken kann, wird die zur Bestimmung der Vorhersehbarkeit des Erfol-
ges und der Sorgfaltsanforderungen verwendete Figur des ex ante-Beobachters
(Modellfigur des gewissenhaften und einsichtigen Menschen aus dem jeweili-
gen Verkehrskreis) zusätzlich mit den Kenntnissen des Täters gefüttert. Die Zu-
rechnungskriterien werden nach der h. L. beim Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt
also immer gleichgestellt, gleichgültig ob der Täter zusätzlich über Sonderwis-
sen verfügt oder nicht. Sonderwissen belastet also nach einhelliger Meinung bei
beiden Deliktsformen auch bei einem Tätigwerden im Rahmen des sonst erlaub-
ten Risikos.
Aus systematischer Perspektive ergeben sich bei der Berücksichtigung des
Sonderwissens im objektiven Tatbestand einige Besonderheiten. Während die
h. L. in der Regel das Subjektive beim subjektiven Tatbestand des Vorsatzde-
ZfRV 1964, 25 f. (bezüglich der Fahrlässigkeit); vgl. ferner Burgstaller, Das Fahrläs-
sigkeitsdelikt im Strafrecht, S. 66 f.
12 Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 22, Rdn. 46 (Fahrlässigkeit); Bindokat,
likts und bei der Schuld des Fahrlässigkeitsdelikts prüft, verortet sie die Prüfung
der Sonderkenntnisse, wenn diese vorhanden sind, im objektiven Tatbestand des
Vorsatzdelikts oder im Unrecht des Fahrlässigkeitsdelikts.
Im Gegensatz zu der belastenden Wirkung des Sonderwissens beurteilt die
h. L. eine absichtliche, auf einen Verletzungserfolg gerichtete Handlung des Tä-
ters, solange sie im Rahmen des erlaubten Risikos begangen wird, als eine Be-
tätigung im strafrechtlich freien Raum und damit als nicht strafbar. Im End-
effekt haben damit die Ausführungen der h. L. über das Institut des erlaubten
Risikos beim Vorsatzdelikt überhaupt nur Relevanz bei solchen absichtlichen
Konstellationen.13 Demgegenüber ist nach der h. L. bei vorhandenem Sonder-
wissen keine Rede vom erlaubten Risiko, weil hiernach das Sonderwissen das
Risiko sowieso in ein unerlaubtes verwandeln würde.
Während die h. M. die Sonderkenntnisse des Täters beim Aufbau der objekti-
ven Zurechnungslehre in den objektiven Tatbestand einführt und zugleich diesen
Vorgang erkennt und rechtfertigt, lehnt es Frisch ab, daß subjektive Elemente
überhaupt in die „Urteilsbasis“ einbezogen werden, auch wenn er von einem
ähnlichen Zurechnungsrahmen ausgeht. Bereits oben14 wurde die Meinung von
Frisch bezüglich der materiellen Frage der belastenden Wirkung des Sonderwis-
sens im Rahmen seiner für Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikte gleichlaufenden
Zurechnungslehre dargestellt. Nun wird hier seine Argumentation gegen den
vom Spätfinalismus erhobenen Einwand der Systemwidrigkeit15 erörtert. Nach
Frisch wird nicht das Wissen des Täters bzw. sein Sonderwissen in die Urteils-
basis einbezogen, sondern „vielmehr ein unbestreitbares Stück Wirklichkeit au-
ßerhalb der Psyche des Täters – nämlich der in der Wirklichkeit vorhandene
Gegenstand seines Wissens oder die in der Wirklichkeit vorhandenen Um-
stände, die er hätte wissen können usw.“16. Die Urteilsbasis bestünde nach sei-
ner Ansicht nur aus „objektiven“ Elementen. Nur bestimmte objektive Um-
stände würden in Betracht kommen, nämlich solche, die vom Täter gewußt wur-
den oder für ihn erfahrbar waren. Das Täterwissen sei nur ein Kriterium für die
Auswahl des für die Urteilsbasis relevanten Ausschnitts der Wirklichkeit.17
13 Vgl. zu eigener Ansicht darüber supra, § 5 B und § 5 C II 2 a) cc) (1) (b) und
man durch die Berücksichtigung des Sonderwissens auf das Subjektive zugreift, ders.,
Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 42, Fn. 158. Vgl. auch Robles Planas, La participa-
ción en el delito, Madrid, S. 206 f.
192 § 6 Sonderwissen und Sonderfähigkeiten des Täters
Zur weiteren Erklärung des Vorgriffs auf das Subjektive beim objektiven Ge-
fahrurteil geht Frisch nach folgender Vorgehensweise bei der Fallprüfung vor:
a) Objektives Gefahrurteil:
aa) Nach einem optimalen Wissen ex ante
Nach der richterlichen Prüfung der Kausalität werde erkennbar, infolge welcher Be-
dingungen der Erfolg eingetreten sei. Entsprechend dem Norminhalt werde dann ge-
fragt, ob das durch diese Bedingungen begründete Risiko nach dem optimalen Wis-
sen ex ante erkennbar gewesen und ob die entsprechende Risikoschaffung aus einer
Interessenabwägung heraus zu mißbilligen wäre. Wäre das geschaffene Risiko für
niemanden erkennbar gewesen bzw. nicht zu mißbilligen, wäre der Fall auf der rein
objektiven Ebene zu erledigen.18
bb) Nach einem objektiven Standardwissen (oder Durchschnittswissen)
Daß das Risiko nach dem optimalen Wissen erkennbar und mißbilligt sei, würde
nicht unbedingt bedeuten, daß auch das vom Täter geschaffene Risiko mißbilligt
wäre. Täterkenntnisse bzw. -unkenntnisse und Kenntnisverschaffungspflichten müß-
ten ebenfalls berücksichtigt werden. Maßgebend für den Unrechtsbegriff wäre dann
ein objektives Standardwissen (oder Durchschnittswissen).19
cc) Berücksichtigung des Sonderwissens
Solle das darüber hinausgehende Sonderwissen aus materiellen Gründen bedeutsam
sein, so wäre dem durch die Einstellung auch der entsprechenden Umstände Rech-
nung zu tragen.20
Die Frage nach der Subjektivität des Täters für das Gefahrurteil (bzw. die Frage
nach dem hypotetischen Einsatz entsprechender Tatumstände in das Gefahrurteil)
käme nach Frisch im Ergebnis bei einer Risikomißbilligung nach dem optimalen ex
ante-Urteil trotz Risikoerlaubtheit nach dem standardisierten ex ante-Urteil, und
wenn es dazu denkbar erschiene, daß der Täter Sonderwissen bezüglich des insoweit
entscheidenden Umstands hatte.21
b) Berücksichtigung der Subjektivität
Sei die Risikoschaffung nach dem angegebenen Verfahren rechtlich mißbilligt,
stünde nach Frisch nun erst die Frage nach der Subjektivität des Täters: Das Be-
stehen von Sonderwissen oder subjektiver Erkennbarkeit bei vorhandener Kenntnis-
verschaffungspflicht.22
Mit seiner Vorgehensweise für die Fallprüfung möchte Frisch den Vorgriff
auf das Subjektive im Gefahrurteil erklären und damit den gegenüber der h. M.
17 Frisch, a. a. O.; ders., Festschrift für Roxin, S. 230. Diese spezielle Erklärung der
3. Erwägungen zur h. M.
a) Zwischenbewertung
higkeiten des Täters weitere Sachfragen auf wie die Frage des Verhältnisses
zwischen der Subjektivität des Täters und dem erlaubten Risiko. Für welche
Fallprüfungsmethode man sich entscheidet, sollte hinter der Sachfrage nach der
Unrechtsauffassung für die jeweilige Deliktsform zurückstehen. Im folgenden
Abschnitt werden dementsprechend die Fragen bezüglich der Unrechtsstruktur
näher dargestellt, die vor allem aus dem komplexen objektiven/subjektiven
Konzept der h. M. mit dem Sonderwissen als Zusatzkategorie entstehen.
Die These der h. M. bezüglich der Behandlung von Objektivem und Subjek-
tivem beim Unrecht ist also dahingehend zusammenzufassen, daß sie (1) von
einem objektiven ex ante-Gefahrurteil für Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikte
mit Berücksichtigung der psychischen Beziehung des Täters zu seiner Tat
„nach oben“ (Sonderwissen), (2) von einer folgerichtig belastenden Wirkung
des Sonderwissens und (3) von allgemeinen und nicht von individuellen Sorg-
faltsmaßstäben für die Fahrlässigkeitsdelikte ausgeht. Eine zusätzliche Berück-
sichtigung subjektiver Elemente im objektiven Gefahrurteil kommt also erst in
Frage, wenn man wie die h. M. von objektiven und generellen Verhaltensanfor-
derungen ausgeht. Bei ihrem Konzept sind also drei Grundsätze hervorzuheben:
Objektivität eines ex ante-Gefahrurteils, belastende Wirkung des Sonderwissens
und Allgemeinheit der Verhaltensnormen.
Aus dem Konzept der h. M. ergeben sich also diese drei soeben beschriebe-
nen Nebenthemen, die das Problem des Sonderwissens umrahmen, und die in
dieser Arbeit terminologisch folgendermaßen festgemacht werden: (1) Die Ob-
jektivität und der ex ante-Standpunkt der Urteilsbasis und die Rolle der Täter-
vorstellungen; (2) die belastende Wirkung des Sonderwissens; (3) die Allge-
meinheit oder Individualisierung der Sorgfaltsnormen beim Fahrlässigkeitsde-
likt. Zu den ersten zwei großen Komplexen kommt die Grundsatzfrage hinzu,
ob Differenzierungen beim Unrecht des Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikts vor-
zunehmen sind, d. h. (1) wie objektive und subjektive Elemente bei der Mißbilli-
gung des vorsätzlichen bzw. fahrlässigen Verhaltens mitwirken, und (2) ob Son-
derwissen genauso bei Vorsatz- wie bei Fahrlässigkeitsdelikten belastet bzw.
entlastet. In diesem Netz von Fragen findet sich also das Thema des Sonderwis-
sens im aktuellen Diskussionsstand wieder.
Das Thema des Objektiven und Subjektiven im Unrechtsbegriff weist also
eine Vielfalt von Aspekten auf, wie bereits die Kompliziertheit des Gefahr-
urteils der h. M. zeigt. Aus diesem Grund ergeben sich Gegenansichten in unter-
schiedliche Richtungen, die (1) basierend auf den sozialen Rollen eine stetig
belastende Wirkung des Sonderwissens bestreiten oder (2) bei Annahme einer
B. Die Debatte über das Sonderwissen 195
belastenden Wirkung den Begriff von Sonderwissen als Zusatzelement des ob-
jektiven Tatbestandes nicht anerkennen, weil sie wiederum:
a) die Ausgangssituation nach dem Täterwissen beschreiben und damit die Objek-
tivität des Beurteilungsgegenstandes bestreiten (Einwand des Spätfinalismus und
weiterer, auf rechtliche Kriterien abstellende Ansichten);
b) oder die Sorgfaltsnormen individualisieren, wie die individualisierende Lehre.
Für diese im folgenden näher darzustellenden Gegenansichten taucht die
Frage des Sonderwissens jeweils beim Vorsatz- oder ggf. beim Fahrlässigkeits-
delikt gar nicht in der Verbrechenslehre auf, weil bereits der objektive Beurtei-
lungsgegenstand bestritten wird. Die so klassifizierten Gegenmeinungen sind im
folgenden in kurzer Form darzustellen.
Was die materielle Frage der belastenden Wirkung des Sonderwissens be-
trifft, ist die auf systemtheoretischen Ansätzen fundierte Lehre von Jakobs mit
ihren Anhängern zu nennen, die eine Berücksichtigung des Sonderwissens zu
Lasten des Handelnden in allen Fallkonstellationen ablehnt. Die objektive Zu-
rechnung und damit die strafrechtliche Relevanz wird auch bei vorhandenem
Sonderwissen nach dieser Ansicht ausgeschlossen. Die Darstellung dieses An-
satzes und die Argumente gegen eine Entlastung des Täters mit Sonderwissen
aufgrund der Rollentheorie sind bereits oben dargelegt worden, so daß in die-
sem Punkt darauf verwiesen werden kann.25
Eine Besonderheit ergibt sich beim Sonderwissen im Bereich der Fahrlässig-
keitsdelikte. Während die individualisierende Fahrlässigkeitslehre, zu der auch
Jakobs gehört, die Figur des Sonderwissens nicht benötigt, weil sie den Sorg-
faltsmaßstab nicht generell, sondern individuell betrachtet,26 objektiviert Jakobs
wiederum den individuellen Maßstab bei vorhandenem Sonderwissen des Tä-
ters, d. h. er macht die Strafbarkeit des Täters mit speziellem Wissen von seiner
Rolle abhängig. Damit individualisiert Jakobs einerseits den Beurteilungsmaß-
stab des Fahrlässigkeitsdelikts, aber das zu beurteilende Verhalten wird von ihm
bei vorhandenem Sonderwissen nach den vom Handelnden ausgeübten Rollen
25 Vgl. dazu supra, § 3 C V 2 a), aber auch den gesamten Abschnitt über die Theo-
rie von Jakobs, vgl. § 3 C V. Eine stetig belastende Wirkung des Sonderwissens wird
auch von Robles Planas (La participación en el delito, Madrid, S. 210 ff.) verneint,
allerdings aus einer normativistischen Perspektive, die nicht auf die Rollentheorie zu-
rückgreift. Vgl. auch Silva Sánchez, Medicinas alternativas e imprudencia médica,
Barcelona, S. 18.
26 Vgl. näheres infra, § 6 B II 2 c).
196 § 6 Sonderwissen und Sonderfähigkeiten des Täters
beurteilt und damit wieder objektiviert. Das zeigt, daß es sich um ein parado-
xes, in sich widersprüchliches Konzept handelt.
33 A. a. O., S. 112.
34 Burkhardt, a. a. O., S. 133, Fn. 154.
35 Roth, Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, S. 135 ff., 145 ff.
36 Diese Differenz wird sogar von Roth ausdrücklich erwähnt, vgl. a. a. O., S. 147,
auch wenn er auf S. 140 vorschlägt, die subjektive ex ante-Kenntnis bzw. Erkennbar-
keit im subjektiven Straftatbestand zu behandeln.
37 Vgl. z. B. Roth, a. a. O., S. 199 f.
38 Roth, a. a. O., S. 137 ff., insbes. S. 138.
198 § 6 Sonderwissen und Sonderfähigkeiten des Täters
lig, sondern auch vorteilhaft.39 Nur mit diesem Bezug auf die Gefahrverwirkli-
chung ist die Begründung für die Annahme einer ex post-Perspektive auch beim
Zurechnungselement der Gefahrschaffung aber noch nicht gegeben, weil die
Gefahrverwirklichung zweifellos auch im Strafrecht auf eine ex post-Beurtei-
lung angewiesen ist.
Dies macht Schwierigkeiten bei der Anwendung der von ihm vorgeschlagenen
ex post-Perspektive auf konkrete Beispiele. Ferner würde nach Burkhardt neben
der Gefahrschaffung auch die Gefahrverwirklichung im tatbestandsmäßigen Er-
folg zum objektiven Tatbestand bei Erfolgsdelikten gehören.41 Die Behandlung
dieser zwei Elemente aus einer ex post-Perspektive könnte wiederum bei der
Fallanwendung weitere Schwierigkeiten verursachen.
(3) Was das erste Element der Gefahrschaffung anbelangt, hilft die ex post-
Perspektive nicht weiter zur Erforschung der Sorgfaltswidrigkeit eines Verhal-
tens, d. h. das aus einer ex post-Perspektive zu betrachtende Element der
Gefahrschaffung getrennt von seiner Mißbilligung kann keine nützliche Infor-
mation zur strafrechtlichen Relevanz liefern. Die Unterschiede des Ansatzes
Burkhardts zur herrschenden Zurechnungslehre liegen darin, daß sich die letzt-
genannte42 auf die getrennte Prüfung der Risikoschaffung oder Voraussehbarkeit
der Gefahr bei den Fahrlässigkeitsdelikten aus einer ex ante Perspektive bezieht,
was bereits etwas die Sorgfaltswidrigkeit des Verhaltens antizipiert. Die Prüfung
der Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens wird nach der herrschenden Zurech-
nungslehre dadurch ergänzt, daß man die Mißbilligung bzw. Erlaubtheit der ge-
schaffenen Gefahr zusätzlich untersucht, d. h. ob die Gefahr nicht aus irgend-
einem Grund erlaubt ist. Damit sind beide Prüfungen, die der Gefahrschaffung
und der Unerlaubtheit der Gefahr, normative Angelegenheiten, sei es, daß man
dafür die Figur des einsichtigen Menschen mit einer ex ante-Perspektive ver-
wendet oder daß man auf eine Interessenabwägung zurückgreift. Aus dieser
zweistufigen Analyse ergibt sich die Antwort auf die Frage nach der Sorgfalts-
widrigkeit eines Verhaltens. Auch wenn man mit diesem Verfahren nicht einver-
standen ist, ist die Nützlichkeit der geprüften Elemente zur Erforschung der
Sorgfaltswidrigkeit eines Verhaltens nicht zu bestreiten. Demgegenüber ist die
von Burkhardt vorgeschlagene ex post-Perspektive für die Beurteilung des Ele-
ments der Schaffung einer Gefahr ungeeignet, um die Sorgfaltswidrigkeit eines
Verhaltens zu erforschen. Betrachtet man die Gefahrschaffung ex post (sei es
nach dem Erfolgseintritt oder ex ante mit Berücksichtigung der nachträglich be-
kannt gewordenen Umstände), wird wohl immer eine Gefahrschaffung zu beja-
hen sein. Es sind nämlich kaum Fälle vorstellbar, die vor Gericht wegen eines
Fahrlässigkeitsvorwurfs kommen, bei denen kein menschliches Verhalten über-
haupt eine Gefahr geschaffen hätte.43 Burkhardt müßte bei einer Fallprüfung
zum Ergebnis kommen, daß z. B. die Produktion eines aus einer ex ante-Per-
44 A. a. O., S. 111.
B. Die Debatte über das Sonderwissen 201
A einen Zusammenstoß bei dichtem Verkehr auf der rechten Spur nicht vermei-
den könnte. Ein solches Geschehen steht zwar nicht außerhalb aller Lebens-
erfahrung. Aus einer ex ante-Betrachtung würde aber eine rechtlich relevante
Gefahrschaffung des A abzulehnen sein, weil das Interesse an der Handlungs-
freiheit, auf deutschen Autobahnen grundsätzlich ohne Tempolimit zu fahren,
überwiegt. Erfolgt die Interessenabwägung ex post, d. h. mit Berücksichtigung
der wirklichen Umständen (oder ggf. ex ante mit Berücksichtigung der nach-
träglich bekannt gewordenen Umstände), wird sich wahrscheinlich die Waag-
schale zugunsten des Schutzes von Leib und Leben der Teilnehmer am Auto-
bahnverkehr neigen gegenüber der Handlungsfreiheit des rechtmäßig fahrenden
A, so daß die Gefahrschaffung ex post unerlaubt wäre. Eine endgültige Ent-
scheidung ist allerdings für die hier verfolgten Zwecke nicht erforderlich, da
man mit folgender Hypothese genauso arbeiten kann: Nehmen wir für diese
Überlegungen an, daß die Gefahrschaffung des ex ante rechtmäßig fahrenden
Autofahrers aus einer ex post-Perspektive als unerlaubt angesehen werden
würde, dann würde dieses Ergebnis noch nichts über die eigentliche Mißbilli-
gung des Verhaltens des A selbst besagen, was eigentlich der Gegenstand der
Überlegungen sein sollte. Zwar untersucht Burkhardt die Sorgfaltswidrigkeit ja
noch später im subjektiven Tatbestand, die Untersuchungen im objektiven Tat-
bestand ergeben aber bis dahin keinen nützlichen Beitrag für die Erforschung
der rechtlichen Relevanz eines Verhaltens.
Burkhardt möchte mit der ex post-Perspektive wegen des Ökonomieprinzips
verhindern, daß man eine für ihn unnützliche ex ante-Untersuchung durchführt
oder eine aufwendige und schwierige Erforschung der Täterperspektive durch-
zieht, wenn die Gefahrschaffung aus einer ex post-Beurteilung sowieso erlaubt
wäre,45 wie wenn der Fahrer B durch rechtmäßiges Autofahren einen Unfall
verursachen würde. Das Sparsamkeitsprinzip, das durch die Untersuchungsme-
thode von Burkhardt favorisiert wird, dürfte zwar bei der prozessualen Frage
der Reihenfolge der Beweisführung eine Hilfe für den Rechtsanwender anbie-
ten. Die Methode kann aber für die dogmatischen Falllösungen verwirrend wir-
ken und bei einer falschen Anwendung zu einer Rückkehr zur naturalistischen
Erfolgshaftung führen.
Die Annahme einer ex post-Perspektive aufgrund des Sparsamkeitsprinzips
würde ferner nur gelten können, solange der Ausschluß der Gefahrschaffung
aus einer ex post-Perspektive dafür ausreichen würde, um von einer Erlaubtheit
der geschaffenen Gefahr sprechen zu können. Bei der Überprüfung der Methode
von Burkhardt müßte also in Frage gestellt werden, ob die Prüfung der Interes-
senabwägung aus einer ex post-Perspektive imstande wäre, die Tatbestandsmä-
ßigkeit des Verhaltens auszuschließen, ohne daß weitere Analysen erforderlich
wären. In diesem Punkt ist das System von Burkhardt nicht zu beanstanden.
wie und an welcher systematischen Stelle sie berücksichtigt werden sollten. Auf
jeden Fall ist die ex post-Perspektive diesbezüglich zu wenig differenzierend:
Dabei werden die Verhaltensweisen nicht selektiert, die eine Relevanz aus dem
Blickwinkel der Verhaltensnorm, also ex ante, haben. Ein Rechtsgüterschutz
durch Verhaltensnormen kann eben nur dadurch erfolgen, daß man Gefahrschaf-
fungen verbietet, die rechtlich ex ante als unerträglich erscheinen.
Ferner legt sich Burkhardt in dem Punkt nicht fest, ob individuelle oder ge-
nerelle Sorgfaltsmaßstäbe anzunehmen wären. Damit bleibt auch die Frage of-
fen, wie die Figur der Übernahmefahrlässigkeit bei individueller Unfähigkeit
bei Annahme genereller Sorgfaltsregeln in seinem System funktionieren sollte.
Von dem gesamten Ansatz von Burkhardt bleiben damit nur diejenigen Erwä-
gungen übrig, die eine strafrechtliche Relevanz gewisser Vorstellungen des Tä-
ters über die Tatumstände beim Fahrlässigkeitsdelikt nicht verleugnen. Dieser
Aspekt wird in der hiesigen Arbeit noch erörtert.49 Demgegenüber ist eine ex
post-Betrachtung beim Fahrlässigkeitsdelikt nur relevant, solange sie zur Über-
prüfung des Zurechnungselements der Verwirklichung der Gefahr verwendet
wird. Eine ex ante Beurteilung der Gefahrschaffung ist aus den vorstehend an-
gegebenen Gründen vorzuziehen.
48 A. a. O., S. 122.
49 Vgl. dazu infra, § 6 B II 2 b) und D III 2.
50 Vgl. die Ausführungen über Burkhardt supra, § 6 B II 2 a).
51 Vgl. Nachweise supra, § 3 D.
52 Vgl. Wolter, GA 1977, 269, Fn. 116; Brehm, Gefährdungsdelikt, S. 128.
53 Vgl. u. a. Bockelmann/Volk, Strafrecht AT, § 13 A V 4 c und d, § 20 B I 4 b dd;
In den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde die Frage nach der Be-
rücksichtigung subjektiver Merkmale im objektiven Tatbestand in einer Debatte
zwischen Vertretern des Spätfinalismus und der Lehre von der objektiven Zu-
rechnung erörtert. Die erste Stellungnahme der personalen Unrechtslehre gegen
die Lehre von der objektiven Zurechnung erfolgte erst nach längerer Zeit im
Jahre 1985 von Armin Kaufmann. In seiner grundlegenden Kritik an der Lehre
von der objektiven Zurechnung machte er darauf aufmerksam, daß ihr Rückgriff
auf subjektive Elemente ein Indiz ihrer Unrichtigkeit darstellen würde: „Es
zeigt sich also, daß bei allen Merkmalen, die aus der Formel der imputatio
obiectiva zu entwickeln sind, offensichtlich das Wissen des Täters als Beurtei-
lungsgrundlage unentbehrlich ist: so schon für die ,Gefahrschaffung‘ und erst
recht für die ,rechtliche Mißbilligung‘, die sonst noch mehr als ohnehin in der
Luft hinge“56. Es könne ein und dieselbe Handlung mehrere „Gefahren“ für
mehrere gleichermaßen tatbestandsmäßige Erfolge schaffen, und erst der Vor-
satz würde nach seiner Ansicht die Auswahl treffen.57 Weil man immer auf das
Wissen des Täters für die Frage nach der Tatbestandsmäßigkeit angewiesen sei,
habe der Vorsatz eine Entscheidungsrolle.58 Derselbe Einwand gegen die Ein-
führung des Sonderwissens in die objektive Zurechnung wurde anschließend
noch von Struensee ausführlicher entwickelt, der zudem die Einführung des
Sonderwissens in den objektiven Tatbestand seitens der Lehre von der objek-
tiven Zurechnung als ein Zeichen der Erforderlichkeit eines subjektiven Tat-
bestandes des Fahrlässigkeitsdeliktes ansah.59 Denn ob die Tatsachen, die der
Rdn. 35, 50, § 24, Rdn. 69; Schünemann, Festschrift für Schaffstein, S. 166; ders.,
GA 1999, 216; Stratenwerth, Strafrecht AT I, § 8, Rdn. 22 (Vorsatz), § 15, Rdn. 14
(Fahrlässigkeit); Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 132; Wessels/Beulke, Strafrecht
AT, Rdn. 170 (Vorsatz), 670 (Fahrlässigkeit); Wieseler, Sorgfaltspflichtmaßstab,
S. 118 f.
54 Vgl. die Nachweise im nachfolgenden Text bb).
55 Vgl. infra, cc).
56 Armin Kaufmann, Festschrift für Jescheck, S. 260.
57 A. a. O., S. 266.
58 A. a. O., S. 261 ff., 265.
59 Vgl. Nachweise supra, § 3 D.
B. Die Debatte über das Sonderwissen 205
Aus der Sicht der Lehre von der objektiven Zurechnung räumte Roxin ein,
daß diese „die Erfüllung des objektiven Tatbestandes zwar nicht notwendig,
aber doch möglicherweise und in der Praxis recht häufig auch von subjektiven,
innerpsychischen Faktoren abhängig“ mache. „Der objektive Tatbestand heißt
nicht deswegen objektiv, weil die Zurechnung zu ihm auf ausschließlich objekti-
ven Fakten basiert, sondern deshalb, weil das Zurechnungsergebnis, die Feststel-
lung einer Tötung, Verletzung, Beschädigung usw. etwas Objektives und von der
vorsätzlichen Tötung, Verletzung, Beschädigung usw. zu unterscheiden ist“61.
Roxin verleugnet nicht, daß auch finale Elemente bei der Begründung fahrlässi-
gen Unrechts eine Rolle spielen könnten und sich mit der Lehre von der objek-
tiven Zurechnung verknüpfen lassen würden.62 Schließlich muß man seine An-
sicht über die Unrechtssystematik insgesamt im Rahmen seiner Konzeption ei-
nes wertungsorientierten Systems und einer teleologisch-kriminalpolitischen
Verbrechenslehre betrachten. Hiernach wäre eine rein klassifikatorische Sy-
stematik als zweitrangig gegenüber der nach Wertungsaspekten systematisieren-
den Konzeption anzusehen. So gälten beispielsweise die Betrachtung des Un-
rechts unter dem Gesichtspunkt der Sozialschädlichkeit und die Schuld unter
dem Aspekt strafzweckorientierter Verantwortlichkeit als leitende Hinsichten,
als Wertmaßstäbe und nicht als bloß systematische Kategorien bzw. Teile eines
festgelegten Systems. Von Bedeutung wäre also die kriminalpolitische Aufgabe
des in Frage kommenden Instituts und nicht bloß ihre systematische Stellung.63
Weitere Autoren erklären die Einbeziehung subjektiver Elemente in die ob-
jektive Zurechnung auch mit Sachgründen. So schließt sich Wolter der Auffas-
dächtnisschrift für Radbruch, S. 260 ff.; ders., Festschrift für Honig, S. 146 ff.; aus-
führlicher in: ders., Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S. 15 ff., 42 f.
206 § 6 Sonderwissen und Sonderfähigkeiten des Täters
sung von Roxin an und führt dazu aus: „Im übrigen macht das Sonderwissen
oder die ,Sondererkennbarkeit‘ von Risikofaktoren oder Erfolgsgefahren die ob-
jektive nicht zu einer subjektiven Zurechnung. Vielmehr formen solche Bewußt-
seinsinhalte die Grenzen der objektiven Zurechnung um. Sie betreffen die ob-
jektive Spannbreite der unerlaubten Risikoschaffung. Vielfach machen sie aus
einem sozialadäquaten Verhalten eine rechtlich unerlaubte Gefahrschaffung.“64
Ferner geht es nach Mir Puig beim objektiven Tatbestand um die Wertung eines
einsichtigen Menschen. Dabei wären alle Kenntnisse zu berücksichtigen, die ein
solch einsichtiger Mensch ex ante gehabt hätte, der das gleiche Geschehen wie
der Täter erlebt hätte.65 Köhler greift zur Begründung auf die Maxime „no-
blesse oblige“ zurück; Sonderwissen repräsentiere erweitertes Allgemeinwissen,
so daß es durch sich selbst den Sorgfaltsmaßstab verschärfe.66 Nach Cancio
Meliá ist die Wertung im objektiven Tatbestand, in den ein subjektives Datum
wie die Kenntnis einer bestimmten Tatsache eingeführt wird, anders als die
Wertung, die im subjektiven Tatbestand erfolgt.67 Zur Ansicht von Frisch vgl.
die Ausführungen supra, § 6 B I 2.
Es beziehen sich nicht alle Ansichten auf beide Deliktsformen (fahrlässig und
vorsätzlich), sondern einige nur auf die Fahrlässigkeitsform:
S. 23.
65 Mir Puig, Derecho Penal, PG, Barcelona, § 10, Rdn. 43, 45 und 52, auch § 6,
Rdn. 54, § 11, Rdn. 35; vgl. auch ders., Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann,
S. 266 f.
66 Köhler, Strafrecht AT, S. 184.
67 Cancio Meliá, Conducta de la víctima, Barcelona, S. 82.
B. Die Debatte über das Sonderwissen 207
Darauf kommt es vielmehr erst bei der weiteren Frage an, welche zusätzlichen
Kenntnisse der Täter sich bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt hätte ver-
schaffen müssen. Infolgedessen bereitet es nicht die geringsten Schwierigkeiten,
das sog. Sonderwissen des Täters (etwa über die Blutereigenschaft eines Gegen-
spielers beim Rugby-Spiel) bei der Formulierung der Verhaltensnorm zu berück-
sichtigen.“68 Die objektive Abgrenzung der verbotenen von der erlaubten Risi-
kosetzung für die Verhaltensnorm hätte nach seiner Ansicht im ersten Schritt ex
ante aus der Täterperspektive zu erfolgen. An diesen subjektiven Ausgangs-
punkt würden allerdings die objektiven Anforderungen der Rechtsordnung in
Gestalt der erforderlichen Sorgfalt oder – als ihre Kehrseite – des erlaubten Ri-
sikos herangetragen.69 An diesem Punkt macht Schünemann eine Differenzie-
rung bezüglich des Unrechts der Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikte, die bereits
supra, § 3 F II erörtert wurde.
Wäre die Perspektive des Täters unvollständig, würde ihn dies auch belasten
können: Hier würde Schünemann im zweiten Schritt auf die Figur der Übernah-
mefahrlässigkeit zurückgreifen, um individuelle Wissensdefizite als sorgfalts-
widrig beurteilen zu können.70
Nach Puppe gilt als Metaregel für die Bestimmung der Sorgfaltspflichten (die
sie als Voraussetzung sowohl der Fahrlässigkeits- als auch der Vorsatzdelikte
ansieht78) das Verhalten eines besonnenen und gewissenhaften Angehöriger des
betreffenden Verkehrskreises in der Situation des Täters. Zu dieser Situation
würde all das gehören, was der Täter wisse, weil jede normative Bestimmung
von Verhaltensregeln von irgendwelchen vorgegebenen Tatsachen ausgehen
müsse.79 Jede Sorgfaltspflicht gehe von einem Wissen des Täters um die Situa-
tion aus (sogar bei der unbewußten Fahrlässigkeit), das ihn verpflichte, die ge-
schaffene Gefahr zu erkennen.80 Damit bestimmt Puppe die Ausgangssituation
nach den vom Täter erkannten Tatsachen und spricht sich zugleich ausdrücklich
gegen eine normative Bestimmung der Einzeltatsachen der Ausgangssituation
aus,81 indem man nur diejenigen berücksichtigen würde, die der Täter nach der
von ihm in dieser Situation eingenommenen sozialen Rolle hätte wissen sollen,
wie dies Jakobs propagiert.
73 A. a. O., S. 116.
74 A. a. O., S. 121.
75 A. a. O., S. 120, 130.
76 A. a. O., S. 130.
77 A. a. O., S. 131 oben.
78 NK-Puppe, vor § 13, Rdn. 143; dies., Strafrecht AT 1, § 15, Rdn. 4, vgl. näher
supra, § 3 F III.
79 A. a. O., vor § 13, Rdn. 145.
80 A. a. O., § 15, Rdn. 13.
81 A. a. O., vor § 13, Rdn. 145; vgl. auch dies., ZStW 103 (1991), 38.
B. Die Debatte über das Sonderwissen 209
82 Vgl. AK-StGB-Zielinski, §§ 15, 16, Rdn. 93, 95, 99 ff.; ders., Handlungs- und
Rdn. 8.
88 Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert, S. 82 f.
210 § 6 Sonderwissen und Sonderfähigkeiten des Täters
dd) Zwischenbewertung
(1) Nach dem hier vertretenen Konzept handelt es sich beim Problem des
Sonderwissens nicht primär um ein Systemwidrigkeitsproblem, bzw. um einen
Verstoß gegen die strikte Trennung zwischen dem objektiven und subjektiven
Tatbestand, wie die Kritik vom Spätfinalismus und von Burkhardt an der Lehre
von der objektiven Zurechnung teilweise betont,91 sondern um die materielle
Frage nach den zu berücksichtigenden Aspekten der Straftat für die Bestim-
mung des strafbaren Verhaltens. Insbesondere geht es um die Grundfrage,
warum das Sonderwissen den Täter belasten bzw. entlasten sollte, und letztend-
lich um das Thema, welche Rolle das Wissensphänomen (in seinen unterschied-
lichen Erscheinungsformen) für das (Straf-)Recht spielt. Dabei ist zwischen den
Elementen des Sachverhaltes und den Normanforderungen zu differenzieren.
(2) Hierbei müßte die Festlegung der Ausgangssituation oder des zu überprü-
fenden Sachverhalts aus der Täterperspektive geschehen und die allgemeine
Wissensbasis und Wissenskräfte des Täters müßten berücksichtigt werden,
wenn man die generalpräventiven Bedürfnisse und die Bedürfnisse der Norm-
bildung einhalten möchte und solange der Besitz einer solchen Wissensbasis
selbst nicht vorwerfbar ist bzw. solange die Verschaffung weiterer Situations-
kenntnisse von der Verhaltensnorm nicht erwartet wird. Ohne diese Anknüpfung
an das reale Täterwissen als Ausgangspunkt würde die Festlegung der zu be-
wertenden Tatsituation (Sachverhalt) und der Erkenntniskräfte des Täters auf
diejenige Situation, die ein einsichtiger Mensch wahrgenommen hätte, und auf
diejenige Erkenntniskapazität, die er besitzen würde, auf einen Zirkelschluß hin-
auslaufen, weil das Fahrlässigkeitsurteil auf einen selbst normativ bestimmten
Gegenstand bezogen würde. Statt dessen kann die „Maßfigur“ erst zur Bestim-
mung der rechtlichen Relevanz eines vorhandenen oder fehlenden Täterwissens
verwendet werden, was der normalen Methode der Rechtsanwendung, d. h. der
Anwendung der Norm auf einen realen Sachverhalt, entsprechen würde.92
Daß das Wissenselement im konkreten Fall tatsächlich vorliegt, reicht ande-
rerseits für sich allein für die Begründung der rechtlichen Relevanz nicht aus.
Es sind vielmehr die unterschiedlichen Aspekte der Normzwecke (und letztend-
lich der Strafrechtszwecke) auf das Wissen des Täters zu beziehen, sei es die
Funktion des Rechtsgüterschützes, das ultima-ratio-Prinzip mit der Gewährung
von strafrechtsfreien Handlungssphären oder die generalpräventive Aufgabe der
Strafrechtsnormen. Welche Relevanz die unterschiedlichen Erscheinungsformen
des Wissens in diesen normativen Perspektiven aufweisen und welche davon
den Toleranzgrad für den Rechtsgüterschutz unter Berücksichtigung der oben
genannten leitenden Aspekte übersteigen, bedarf noch der Überprüfung. Die
Berücksichtigung der Strafrechtszwecke für die internen Entscheidungen des
Rechts ist dabei notabene kein Zeichen von Willkür, sondern die Anwendung
der Grundsätze eines Rechtsstaates auf das Strafrecht an Hand der kriminalpoli-
tische Wertungen, was im modernen Strafrecht wünschenswert ist.93
(3) Ferner könnte man der Kombination von sachlogischen und normativen
Begründungen für die Annahme der Täterperspektive als Ausgangspunkt entge-
genhalten, daß letztendlich auch die meisten Ansichten, die eine normative Per-
spektive einnehmen, von einer empirischen, subjekbezogenen Ausgangssituation
ähnlich dem Spätfinalismus ausgehen, genauso wie der Spätfinalismus eine
rechtliche Beurteilung der empirischen, subjektiven Ausgangssituation als sol-
che nicht bestreitet. Insofern liegen tatsächlich die Ansätze des „gemäßigten
Normativismus“ à la Puppe und des Spätfinalismus sehr nahe beieinander. Die
Unterschiede liegen zunächst in den Begründungsnuancen, indem man die
Schwerpunkte auf die ontische Finalität als unverzichtbares Kennzeichen des
Verhaltens oder auf rechtliche, teleologische Begründungen legt. Vorzuziehen
ist die Grundlage beider Auffassungen, nämlich daß man im Recht von realen
(also nicht normativ „konstruierten“) subjektiven und objektiven Tatsachen aus-
gehen muß. Die Zuerkennung von Relevanz dieser Tatsachen wird aber im
Rechtsbereich nach den wertenden Zwecksetzungen erfolgen müssen, so daß
die Kenntnis des Täters bezüglich einer aus seinem Handeln entstehenden Ge-
fahrensituation bei Fahrlässigkeitsdelikten nicht immer eine strafrechtliche Rele-
vanz haben muß, und deshalb liegt der Unterschied zwischen dem normativen
und dem finalistischen Ansatz auch in der Lösung der praktischen Fällen.
(4) So braucht die Kenntnis des Täters von einer aus seinem Handeln entste-
henden Gefahrensituation nicht immer eine strafrechtliche Relevanz im Sinne
der bewußten Fahrlässigkeit zu haben. Der Idee einer schlichten Ableitbarkeit
der Rechtswidrigkeit aus der gesonderten Kategorie des subjektiven Tatbestan-
des des Fahrlässigkeitsdelikts ist entgegenzuhalten, daß die psychische Bezie-
hung des Handelnden zur Tat nicht ohne weiteres als strafbegründender oder
strafausschließender Faktor dienen kann. Das Verhalten könnte nämlich trotz
Kenntnis der Tatumstände bzw. der Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung
aus kriminalpolitischen Gründen, z. B. wegen der nur entfernten Steuerungs-
möglichkeit des Handelnden bezüglich der Rechtsgutsverletzung, strafrechtlich
irrelevant sein. Dieses Thema könnte zwar vom Spätfinalismus unter der Ru-
brik der Auslegung der Norm bzw. des erlaubten Risikos behandelt werden, je-
doch scheint es dem Spätfinalismus an einer intensiveren Beschäftigung mit der
rechtlichen Unrechtsbegründung bzw. dessen Ausschluß zu fehlen. Die auf on-
tologischer Basis (der Finalstruktur der Handlung) fundierte Unrechtsbegrün-
dung bzw. -ausschluß reicht für die Strafbarkeit oder den Ausschluß der Straf-
barkeit nicht aus. Daß das Bestehen einer psychischen Beziehung des Handeln-
den zu seiner Tat eine rechtliche Relevanz für das Unrecht haben könnte, müßte
also noch mit normativen Kriterien begründet werden, vor allem für die Beant-
wortung der Frage, wie man bei tatsächlich bestehendem Wissen über die Mög-
lichkeit der Tatbestandsverwirklichung den bedingten Vorsatz von der bewußten
Fahrlässigkeit unterscheiden sollte.
Was die unbewußte Fahrlässigkeit betrifft, müßte eine Fahrlässigkeitshaftung
auch und gerade deshalb zu begründen sein, weil dem Handelnden die notwendi-
gen Kenntnisse bzw. Erkenntnisse fehlen. Fraglich bleibt, wie es in einem sol-
chen Fall bei bestehender Kenntnisverschaffungspflicht ist, und dabei haben die
bestehenden bzw. fehlenden Tätervorstellungen prinzipiell keinen entscheiden-
den Platz;94 sie sind nur der Ausgangspunkt der hinzukommenden Bewertung.
Im Ergebnis ist die vom Spätfinalismus vertretene prinzipielle Ablehnung der
normativen Zurechnungskriterien, die Behandlung gewisser Tatbestandsfragen
als Vorsatzprobleme und die Identifizierung des Vorsatzbegriffs mit der onti-
schen Finalität nicht zu akzeptieren, weil die ontischen Strukturen nicht ver-
bindlich für das Recht sind und die Beantwortung der Tatbestandsfragen der
Heranziehung rechtlicher Gesichtspunkte bedarf. Dazu treffen auch hier die su-
94 Vgl. infra, § 6 D III. Vgl. ferner die kritischen Meinungen gegenüber einem sub-
jektiven Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts, vor allem Herzberg, JZ 1987, 536 ff.;
Jakobs, Strafrecht AT, 9/10, Fn. 18; Roxin, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann,
S. 249 ff.; ders., Strafrecht AT I, § 8, Rdn. 23; § 24, Rdn. 66 ff., 68; Frisch, Tatbe-
standsmäßiges Verhalten, S. 34, Fn. 140; gegen die Meinung von Struensee ferner
Duttge, Fahrlässigkeitsdelikte, S. 131 ff.
B. Die Debatte über das Sonderwissen 213
pra, § 2 G ausgeführten Argumente gegen den Finalismus von Welzel zu, wes-
halb darauf verwiesen wird.
(5) Eine Berücksichtigung der Tätervorstellungen und Tätereigenschaften als
Beurteilungsgrundlage wäre schließlich mit den später durchzuführenden Präzi-
sierungen prinzipiell zu akzeptieren, solange nur die zu beurteilenden Tatum-
stände und Tätereigenschaften, aber nicht die strafrechtliche Relevanz des ge-
schaffenen Risikos von der Ansicht des Täters abhängig gemacht würde. Im
Ergebnis kann man diesen Vorschlag in einer ersten, noch zu analysierenden
Prämisse ausdrücken, nämlich daß die strafrechtlich zu beurteilenden Umstände
zumindest beim Vorsatzdelikt und bei der klar bewußten Fahrlässigkeit solche
seien, die der Täter sich real vorstellte. Denkt jemand, daß er Gift in das Glas
Wasser eines anderen schüttet, obwohl er eigentlich Salz einstreut, kommt die
vorgestellte Abgabe von Gift für die strafrechtliche Beurteilung in Betracht,
wenn das Handeln von der Rechtsordnung als riskant für das Rechtsgut Leben
beurteilt wird. Die Ansicht des Täters sollte aber nicht bestimmen, ob eine sol-
che Handlung die Norm verletzt, da dies eine Aufgabe der Rechtsordnung ist.
In diesem Punkt gehen diejenigen Vertreter der personalen Unrechtslehre zu
weit, die die strafrechtliche Relevanz des abergläubischen Versuchs95 mit der
Konsequenz bejahen, daß die Tätervorstellungen nicht nur als Objekt der recht-
lichen Bewertung, sondern auch als Maßstab für die Beurteilung, ob das Risiko
rechtlich relevant sein sollte oder nicht, dienen würden. Mit einer solchen Auf-
fassung wird das Vorliegen eines rechtlich relevanten Risikos unzutreffend nach
der Ansicht des Täters bestimmt. Bildet sich der Täter ein, daß er Salz in das
Glas Wasser streut – was kein Risiko einer Rechtgutsverletzung darstellt – und
glaubt er daran, daß das Salz aus magischen Gründen den Tod desjenigen ver-
ursachen würde, der das Salzwasser trinkt, handelt es sich um eine Tat, die kein
Risiko verursacht; das Risiko wird nur vom Täter angenommen, und die Tat ist
deshalb nicht strafbar.96
95 Armin Kaufmann, Festschrift für Welzel, S. 403; Zielinski, Handlungs- und Er-
folgsunwert, S. 134 mit Fn. 14, S. 161 mit Fn. 33, der allerdings beim abergläubi-
schen Versuch keine Strafbedürftigkeit annimmt, vgl. die zitierte Fn. 14. Dagegen
stempelt Struensee, ZStW 102 (1990), 30 ff., 36 ff., aus der Sicht der personalen Un-
rechtslehre nicht nur den abergläubischen, sondern auch den von ihm sogenannten
„nomologisch untauglichen Versuch“ als „Wahnkausalität“ ab, weil der Täter dabei
seine Erfolgserwartung auf Kausalregeln gründe, die nur in seiner Einbildung exi-
stieren würden. Kritisch bezüglich der Strafbarkeit des abergläubischen Versuchs die
h. M., vgl. Jescheck/Weigend, Lehrbuch, § 50 I 6; Jakobs, Gedächtnisschrift für Armin
Kaufmann, S. 277 ff.; ders., Strafrecht AT, 25/22; Schönke/Schröder/Eser, StGB, § 23,
Rdn. 13a m. w. N.
96 Zur Begründung der Straflosigkeit des abergläubischen Versuchs wird von der
aa) Grundsätze
(vgl. Kühl, a. a. O., § 15, Rdn. 41), weil sie nur auf kriminalpolitischen Grundsätzen
beruhe und keine Anknüpfung des Versuchs an die Tatbestandsverwirklichung leiste
(so auch Jakobs, Strafrecht AT, 25/20). Ein solcher Verstoß dürfte bei der Begründung
der Strafbarkeit des Versuches, d. h. zu Lasten des Täters, aber nicht wie hier bei der
Begründung der Straflosigkeit des abergläubischen Versuchs berechtigt sein (i. E. auch
Kühl, a. a. O., § 15, Rdn. 93).
97 Weigend, Festschrift für Gössel, S. 139.
98 Vgl. z. B. die Zunahme von Anhängern der sog. individualisierenden Lehre in der
letzten Zeit, siehe die letztgenannten Autoren von supra, Einleitung, Fn. 26.
B. Die Debatte über das Sonderwissen 215
lässigkeitsbegriffs lösen könnten. Zunächst einmal ist die einerseits von Ja-
kobs99 und andererseits von Stratenwerth100 entwickelte individualisierende
Lehre zu betrachten, die die Beurteilung des fahrlässigen Verhaltens auf der ur-
sprünglichen Ansicht Welzels aufbaut.101 Diese Lehre bekam inzwischen meh-
rere weitere Anhänger.102
Hiernach ist die Sorgfaltspflicht individuell zu bewerten, d. h. ein allgemeiner
Sorgfaltsmaßstab wie der eines einsichtigen Menschen sollte für die Beschrei-
bung des tatbestandmäßigen Verhaltens nicht verwendet werden. Das fahrlässige
Verhalten sollte vielmehr in Bezug auf die individuellen Fähigkeiten und Kennt-
nisse des Täters, d. h. nach seinen Handlungsmöglichkeiten, bestimmt werden.
Deshalb wird nach dieser Ansicht die individuelle Voraussehbarkeit des Erfol-
ges nicht mehr im Schuldbereich, sondern systematisch bereits im Tatbestand
eingeordnet. Nach den Worten von Stratenwerth gehört zur Tatbestandsmäßig-
keit der Fahrlässigkeitsdelikte „die Verletzung einer (auch) nach den individuel-
len Fähigkeiten des Täters zu bemessenden Sorgfaltspflicht“103. Das im Einzel-
fall gebotene Verhalten würde sich danach nicht nur nach der jeweiligen Situa-
tion, sondern auch nach den individuellen Fähigkeiten des Täters richten.104 Der
Sorgfaltspflichtige müsse auch erkennen können, welches (unerlaubte) Risiko
gegeben ist und auf welcher Weise es sich mit seiner Handlung verbindet.105
Dazu betont Jakobs, daß die objektive Voraussehbarkeit keine Funktion hat,
„die nicht schon das erlaubte Risiko erfüllen würde“106. Nur konkrete Subjekte
könnten Erfolge vermeiden und nur gegen konkrete Subjekte würden Sanktio-
nen verhängt. Als Leitbildverhalten sei das richtige Verhalten ebenso ungeeignet
wie der reale Kausalverlauf.107
Die herrschende Meinung individualisiert die Sorgfaltsmaßstäbe im Ergebnis
nur „nach oben“, d. h. bei vorhandenem höheren Wissensstand (und ggf. Fähig-
keiten) des Täters. So läßt sie den generellen Maßstab bei vorhandenem Sonder-
wissen des Täters auf der Seite und berücksichtigt dieses Wissen im Tatbe-
99 Vgl. Jakobs, Studien, S. 41 ff., 48 ff., insbes. 64 ff.; ders., Teheran-Beiheft zur
ZStW 86 (1974), 20 f., Fn. 45; ders., Strafrecht AT, 9/6 ff.
100 Vgl. Stratenwerth, Strafrecht AT I, § 15, Rdn. 11–15; ders., Festschrift für Je-
wurde der Ausschluß genereller Sorgfaltsnormen betont. Dort hieß es: „die Verletzung
nicht einer generellen, sondern der dem individuellen Täter obliegenden Sorgfalts-
pflicht“.
104 Stratenwerth, Strafrecht AT I, 3. Aufl., Rdn. 1103; ähnlich in der 4. Aufl., § 15,
Rdn. 18.
105 Stratenwerth, Strafrecht AT I, § 15, Rdn. 30.
106 Jakobs, Strafrecht AT, 9/13.
107 Jakobs, Studien, S. 53.
216 § 6 Sonderwissen und Sonderfähigkeiten des Täters
Jakobs bezieht sich auf das für ihn für die Fahrlässigkeitsdelikte notwendige
Erfordernis der Erkennbarkeit des Erfolgseintritts, damit die jeweilige Folge
vermeidbar wäre. Dieses Erfordernis solle aus der Perspektive der Rechtsunter-
worfenen bestimmt werden, „also danach, was der Rechtsunterworfene mit dem
Motiv zur Erfolgsvermeidung zum Zweck der Erfolgsvermeidung erkannt
hätte“111. Sei die Erkennbarkeit des Erfolges beim Täter nicht vorhanden, ent-
falle deshalb nicht die Schuld, sondern bereits die Verhaltensnorm.112 Bei Ja-
kobs beruhen die Gedanken einer individualisierenden Sorgfaltspflicht auf einer
von ihm entwickelten besonderen Unrechtsbegründung, die sowohl für die fahr-
lässige als auch für die vorsätzlichen Delikte gelten soll. Es ist deshalb erforder-
lich, zunächst einmal die Ausgangspunkte seiner individualisierenden Lehre zu
erörtern, deren ausführlichere Darstellung sich in seinem Werk „Studien zum
fahrlässigen Erfolgsdelikt“ von 1972 findet und die sich deshalb in einigen
Punkten noch im Rahmen des früheren Stadiums seiner Strafrechtslehre bewegt.
Aus der Kombination der Kategorien Motivation und Vermeidbarkeit begrün-
det Jakobs den Inhalt der Norm sowohl der fahrlässigen als auch der vorsätzli-
chen Delikte. Die Grundlage seiner These besteht darin, daß Zweck des Straf-
rechts die Vermeidung bestimmter Erfolge sei. Dieser Zweck werde durch die
Beeinflussung der Motivation des einzelnen erreicht.113 Die Normen seien auf
Vermeidung bestimmter Folgen gerichtet.114 Entscheide sich der Täter nicht für
die Erfolgsvermeidung oder fehle bei ihm die intellektuelle Fähigkeit zur Er-
folgsvoraussicht oder die physische Fähigkeit zur Erfolgsabwendung, bleibe die
Macht der Motivation aus.115 Die Bestimmungsfunktion der Norm spielt für
Jakobs also eine wichtige Rolle.116
Es müssen nach ihm Sätze für das System ausgewählt werden, die auf die
Motivation wirken, d. h. die für den Zweck der Erfolgsvermeidung tauglich sein
können.117 Jakobs versucht nun zu ermitteln, welcher Inhalt der Norm zur Er-
folgsvermeidung tauglich wäre.118 Es gibt Folgen, die vom fahrlässigen Täter
nicht erkannt werden, die aber von ihm erkannt werden sollten. Um diese Fall-
konstellationen in seinem Konzept zu erfassen, möchte Jakobs nicht etwa auf
das Subjektive in der Fahrlässigkeit oder auf Begriffe wie Wille oder Vorstel-
lung zurückgreifen.119 Weder das Wissen noch das Wissen und Wollen einer
Folge würden seiner Meinung nach die psychischen Vorgänge abbilden, die bei
der auf Vermeidung der Folgen zielenden Norm sowohl der fahrlässigen als
auch der vorsätzlichen Delikte vorausgesetzt werden. Vielmehr sei die zum
Zweck der Erfolgsvermeidung taugliche psychische Disposition das dominante
Motiv zur Vermeidung der Folgen, d. h. ein dominanter Antrieb des Täters, der
auf die Vermeidung der Folgen ziele.120
Bei einer solchen Beschreibung des Inhalts der Norm der fahrlässigen und
vorsätzlichen Delikte steht Jakobs aber vor dem Problem, daß das Vermeiden
von Folgen die (Er-)Kenntnis der Folgen voraussetzt. Denn die Erkennbarkeit
113 Jakobs, Studien, S. 1, 28, 47; vgl. auch ders., Strafrecht AT, 9/1 ff.
114 Jakobs, Studien, S. 47.
115 A. a. O., S. 2.
116 Jakobs, Studien, S. 7 f.; ders., Festschrift für Welzel, S. 309.
117 Jakobs, Studien, S. 3, 28.
118 A. a. O., S. 28.
119 A. a. O., Jakobs, Studien, S. 41.
120 Jakobs, Studien, S. 34, 46; im gleichen Sinne ders., Strafrecht AT, 9/2.
218 § 6 Sonderwissen und Sonderfähigkeiten des Täters
sei der erforderliche Antrieb, um die Kenntnis über die (noch) nicht erkannten,
aber möglichen Folgen zu erlangen.121 Eine fahrlässige Handlung sei aber wie-
derum nicht Unrecht, weil die Tatbestandsverwirklichung erkennbar wäre, son-
dern weil eine erkennbare Tatbestandsverwirklichung vermeidbar sei. Es gäbe
ansonsten keine Pflicht, sich Kenntnis zu verschaffen.122 Fehle beim Täter das
Wissen, d. h. erkenne er nicht die Verhaltensfolgen, müsse er jedoch aufgrund
dieses beschriebenen – im folgenden näher zu behandelnden – „Vermeide-
mechanismus“ verantwortlich gemacht werden.123
Für Jakobs ist das Kennzeichnen der Vermeidbarkeit, „daß der Erfolg bei do-
minanter Motivation, ihn zu vermeiden, nicht eingetreten wäre“124. Beim Zu-
sammenhang zwischen Motivation und Erfolg ist die Vermeidbarkeit im System
von Jakobs von großer Bedeutung. Er unterscheidet zwischen dem Vermeidba-
ren, bei dem eine rechtmäßige Motivation zur Erfolgsvermeidung geeignet sei,
und dem Unvermeidbaren, bei dem sogar eine rechtmäßige Motivation den Er-
folg nicht vermeiden könne.125 Mit anderen Worten: bei fehlender Vermeidbar-
keit des Erfolges hat das betreffende Verhalten für Jakobs keine strafrechtliche
Relevanz, gleichgültig, ob der Täter sich rechtmäßig motiviert hat oder nicht.
Zugleich spielt im System von Jakobs die individuelle Erkennbarkeit oder
Unerkennbarkeit des Erfolges bei der Bestimmung des Vermeidbaren und Un-
vermeidbaren eine wichtige Rolle. Seien die Verhaltensfolgen vom Subjekt er-
kannt und vermieden oder dem Subjekt überhaupt nicht erkennbar und deshalb
unvermeidbar, so liege eine rechtmäßige Motivation zur Erfolgsvermeidung
vor.126 Das Motiv des Täters zur Erfolgsvermeidung bestehe nicht im konkreten
Erfolg, der vom Täter nicht vorausgesehen wurde, sondern in der Vermeidung
von Folgen einer bestimmten Art, „ohne daß deren konkretes Bedingtsein durch
das Verhalten damit schon für das Subjekt feststünde“127. Die Bestimmung der
Folgen sollte dabei zweckmäßigerweise (aber nicht notwendig) nach von ihm
nicht näher beschriebenen Gattungen vorgenommen werden. Aus der Verarbei-
tung des rechtlichen Verhaltensmusters im Subjekt könne man den Schluß auf
das konkrete Verhalten herleiten. Allerdings können die Verarbeitungsmethoden
(Nachdenken, Ablenkungen meiden, Ergebnisse prüfen) rechtlich fixiert sein.
Die Ergebnisse der Verarbeitung seien aber Leistung des Subjekts. Es müsse
nun nur die konkrete Folge unter die Gattung, d. h. unter die Folgen einer be-
stimmten Art, subsumieren.128
Erkenne aber der Täter eine Folge seines Verhaltens nicht, könne man nicht
lediglich die Nichtwahrnehmung der Folge konstatieren und keine weiteren
Schlüsse aus dem Vermeidemotiv ziehen. Das Vermeidemotiv erstrecke sich
nicht nur auf die vom Täter erkannten Folgen, sondern auch auf alle erkennba-
ren Folgen einer bestimmten Art. Nach Jakobs ist Voraussetzung der Vermeid-
barkeit, daß die Folgen dem Subjekt erkennbar waren. Die nicht erkennbaren
Folgen sind dagegen nicht Inhalt des Vermeidemotivs. „Das Vermeidemotiv
setzt keine Folgenkenntnis voraus, sondern ist selbst der Antrieb, Folgenkennt-
nis als psychische Voraussetzung der Folgenvermeidung zu erlangen.“129 Sei der
gegebene Kenntnisstand des Täters nicht geprüft und deshalb zufällig, müsse
dieser Antrieb angewendet werden. Inhalt des Vermeidemotivs wären solche
nicht erkannten Verhaltensfolgen, „die unter der Hypothese eines dominanten
Vermeidemotivs, unter der allein auch vorausgesehene Folgen ausbleiben, ver-
mieden würden.“130
Das Vermeidemotiv lenke, „soweit Fahrlässigkeit in Frage kommt, die An-
triebe in ein Stadium der Prüfung ihrer möglichen Folgen oder, soweit die An-
triebe diesen Aufwand subjektiv nicht wert sind, neutralisiert Antriebe mit un-
bekannten Folgen . . .“. Das Vermeidemotiv „führt, soweit fahrlässige Unterlas-
sung in Frage kommt, zum Willen, tatbestandsmäßige Situationen zu erkennen
oder auf Wege zu deren Beseitigung zu achten und sich ergebende Rettungs-
handlungen zu vollziehen“. Es komme für die Vermeidbarkeit nicht in Frage,
ob das Subjekt die konkrete Möglichkeit hatte, das entsprechende Vermeidemo-
tiv zu entwickeln. „Es geht nicht darum, was ein Subjekt tatsächlich oder wahr-
scheinlich will, sondern welche Alternativen seines Wollens überhaupt Alterna-
tiven seines Verhaltens und deren Folgen bieten“. Jakobs unterscheidet damit
zwischen der Ermittlung der Macht des Subjekts und der Bewertung des Ge-
brauchs dieser Macht.131
Auf der Basis des im Vermeidungsmotiv bestehenden Inhaltes der Norm be-
gründet Jakobs seine Verbrechenslehre und entwickelt im folgenden eine indivi-
dualisierende Betrachtung bei der Bestimmung des Sorgfaltspflichtmaßstabes.
Dabei erlangt nur die innere Sorgfalt Relevanz, während die äußere Sorgfalt als
Leitbildverhalten ausgeschlossen wird.132
Für den Ausschluß der äußeren Sorgfalt aus dem normativen Bereich geht
Jakobs davon aus, daß Erfolge nur von konkreten Subjekten vermieden werden
können. Die Figur der abstrakten vernünftigen Person sei wegen des Umfangs,
den kein konkretes Subjekt ausmessen kann, als Leitbildverhalten so ungeeignet
halt der Verhaltensnorm sei, werde die Norm dadurch konkretisiert, daß der
individuelle Täter bestimmte Erfolge vermeiden solle, die er vermeiden könne.
Die Pflicht zur Vermeidung werde durch das Erkennen-Können des Täters kon-
stituiert.143
Zur Begründung der Zuordnung der individuellen Vermeidbarkeit und Er-
kennbarkeit des Erfolges zur Verhaltensnorm und nicht zum Schuldbereich
greift Jakobs nicht wie Stratenwerth auf eine Differenzierung zwischen instru-
mentellem und sittlichem Können [siehe infra, (2)] zurück, sondern er macht
auf die zur Verhaltensnorm gehörende Erkennbarkeit aufmerksam, die sich
nicht auf etwas Normatives, die Pflicht, sondern auf den Erfolgseintritt bezie-
hen sollte.144 Die Erkennbarkeit betreffe „die Steuerung und nicht das Verhält-
nis zum Recht“.145 „Der Norminhalt kann dann (im Rahmen der Schuld) wie-
derum als Norminhalt erkannt werden, soweit der Täter sein vorrechtliches Kön-
nen als rechtlich beansprucht erkennen kann“. Es gehe beim Können nicht nur
um die Motivationsfähigkeit, sondern auch um die anderen Momente, die bei
gegebener Motivation das resultierende Verhalten (mit-)bedingen würden.146
Damit reduziert er zunächst einmal die Sorgfalt auf das Motiv zur Erfolgsver-
meidung und individualisiert die Vermeidbarkeit auf das dem konkreten Täter
mit dem Motiv zur Erfolgsvermeidung Steuerbare.147 Obwohl Jakobs von der
traditionellen Trennung zwischen Unrecht und Schuld ausgeht,148 ist für ihn das
Recht nur in solchen Bereichen wirksam, wo der Intellekt des ihm Unterworfe-
nen hinreicht. „Ob das Recht sogleich je nach Vermögen fordert oder das Über-
maß des Leistungsvermögens eines einsichtigen Menschen verschämt bei der
Schuld korrigiert, zählt für die Vermeidung der unerwünschten Erfolge gleich
viel.“149
Bei der Begründung eines rein individuellen Sorgfaltsmaßstabes steht Jakobs
vor einer schwierigen Frage: Wird die Sorgfalt nach den „Schlüssen jedes
Dummkopfes“ bestimmt? Jakobs weicht diesem Problem aus, indem er meint,
daß man den Rechtsunterworfenen über die Gefahren bestimmter Verhaltens-
weisen aus kriminalpolitischen Gründen aufklären sollte.150
Im Rahmen der individualisierenden Lehre argumentiert auch Castaldo mit
der Motivierungsfunktion der Verhaltensnorm. Nach seiner Ansicht soll sich die
Erforderlichkeit des individualisierten Sorgfaltsmaßstabes auch aus der Motiva-
143 A. a. O., S. 64 f.
144 A. a. O., S. 65.
145 A. a. O., S. 67.
146 A. a. O., S. 65.
147 Jakobs, Studien, S. 83; ders., Strafrecht AT, 9/12.
148 Z. B. in Studien, S. 12.
149 A. a. O., S. 68.
150 A. a. O., S. 68.
222 § 6 Sonderwissen und Sonderfähigkeiten des Täters
tionsfunktion der Normen ergeben. Die Normen können von den Rechtsadressa-
ten nicht mehr verlangen, als was in seinen Möglichkeiten steht. Wenn man den
gleichen Maßstab für jeden Menschen eines abstrakten Verkehrskreises setze,
berücksichtige man damit nicht, daß die Norm ihre Funktion vor unterdurch-
schnittlichen Tätern verliere, da man von diesen verlange, was nicht in ihren
Möglichkeiten stehe.151
Gegen den Ansatz von Jakobs argumentiert Schünemann, daß die individuelle
Vermeidbarkeit kraft des unser Strafrecht beherrschenden Schuldprinzips, das
ein Anders-Handeln-Können erfordert, unabdingbare Voraussetzung der Sankti-
onsnorm sei und sie deshalb nicht ohne weiteres in die Verhaltensnorm vorgela-
gert werden sollte.152 Bevor man aber diesen gewichtigen, allgemeinen Einwand
gegen die individualisierende Lehre, also die fehlende Trennung zwischen Un-
recht und Schuld eingeht [siehe infra, cc) (1)], ist besonders die von Jakobs
angesprochene fehlende Erkennbarkeit der Tatbestandsverwirklichung beim Un-
terbefähigten als Grund für den Ausschluß der Tatbestandsmäßigkeit zu untersu-
chen. Es ist nämlich fraglich, ob die Erkennbarkeit in allen Fallkonstellationen
des Unterbefähigten fehlt. Was erkennbar für den Normadressaten der Sorgfalts-
normen ist, sollte von der Rechtsordnung festgelegt werden, d. h. er hat bei der
Vornahme bestimmter Aktivitäten die Pflicht, bestimme Dinge zu erkennen und
zu vermeiden, ansonsten darf er die Aktivität gar nicht erst beginnen. Jeder-
mann kann auf die Vornahme bestimmter, für Dritte riskante Aktivitäten, wie
z. B. Autofahren, einige Sportarten, das Handeln mit Waffen und sogar den ärzt-
lichen Beruf verzichten. Wird eine solche Aktivität übernommen, ist höchste
Sorgfalt Pflicht: Alterungsprozesse, Sehschwächen usw. müssen zunächst ausge-
schlossen sein, weil sie keinen Grund darstellen, um die Rechtswidrigkeit der
Handlung auszuschließen, auch wenn sie für einen Schuldvorwurf unzureichend
wären. Hier geht es also um die rechtliche Bestimmung der Sorgfaltspflichten
nach einer Interessenabwägung zwischen dem Rechtsgüterschutz und den zu
gewährenden Handlungsfreiheiten. Der Begriff der Erkennbarkeit im Bereich
der Fahrlässigkeit sollte nur innerhalb dieses rechtlichen Rahmens angewendet
werden.
ten bildeten das „instrumentelle“ Können, um das unerlaubte Risiko, das der
Täter schafft, auszuschließen, d. h. dieses Risiko zu erkennen und zu beherr-
schen. Die zweiten Fähigkeiten sollten darin bestehen, die „sittliche“ Anstren-
gung bringen, d. h. entsprechend verantwortlich und gewissenhaft handeln zu
können. Dies sei bei den Fahrlässigkeitsdelikten die Sorgfaltskenntnis. Straten-
werth bringt als Beispiel für beide Arten von Fähigkeiten den Alkoholkonsum.
Der Alkohol beeinträchtige einerseits die Fahrtüchtigkeit im Sinne von „instru-
mentellen“ Fähigkeiten: das Fahrzeug zu beherrschen, Gefahren rechtzeitig zu
erkennen oder angemessen zu reagieren. Dies gehöre zum Bereich des Un-
rechts. Andererseits könne der Alkohol die Fähigkeit des Täters beeinträchtigen,
das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, d. h. sich
gemäß dem rechtlich Gesollten zu verhalten.153 Ferner meint Stratenwerth, daß
die h. M. die „subjektiven“ Anforderungen der Sorgfaltspflichtverletzung in die
Schuld einstellt, obwohl „sie nicht unmittelbar die Freiheit betreffen, sich zum
rechtlich Gesollten zu bestimmen.“ Die individuelle Handlungsmöglichkeit solle
deshalb wie sonst bereits im Tatbestandsbereich geprüft werden.154
Den Differenzierungen von Stratenwerth nach dem „instrumentellen“ und
dem „sittlichen“ Können wurde von Schünemann entgegengehalten, daß kein
„qualitativer Unterschied zwischen der Unfähigkeit, den allgemeinen rechtli-
chen Anforderungen nachzukommen, und der Unfähigkeit, eine gefährliche Si-
tuation den Rechtsanforderungen entsprechend zu meistern“, ersichtlich sei.155
Abgesehen davon, daß die hier angesprochene, mangelnde individuelle Befähi-
gung für die vorgenommene Aktivität oft letztendlich die Unrechtseinsicht des
Handelnden verhindern wird, müßte im Einzelfall überprüft werden, ob die Er-
kennbarkeit der Tatbestandsverwirklichung tatsächlich immer fehlt, wie es be-
reits oben bei der Kritik an der Argumentation von Jakobs ausgeführt wurde.
153 Stratenwerth, Festschrift für Jescheck, S. 286 ff.; kritisch Schünemann, Fest-
156 Stratenwerth, Strafrecht AT I, § 15, Rdn. 13; ders., Festschrift für Jescheck,
S. 290.
157 Jakobs, Studien, S. 65 f.
158 So z. B. ausdrücklich Schünemann, Festschrift für Schaffstein, S. 163; ders., JA
delns zu erkennen, einen Schaden hervorruft. Das erste Verhalten ist rechtmä-
ßig, weil etwas anderes gar nicht verlangt werden kann; die Rechtswidrigkeit
des zweiten Verhaltens kann man dagegen jedenfalls nicht mit dieser Begrün-
dung verneinen, so daß das Argument aus dem Vergleich mit dem Unterlas-
sungsdelikt nicht schlüssig ist.
160 Vgl. u. a. Stratenwerth, Strafrecht AT I, § 15, Rdn. 12, 14; Kremer-Bax, Das
162 Schünemann, Festschrift für Schaffstein, S. 160, 163, 168, dabei hält er auch die
Binding, Bd. II, S. 295, 311 ff., 318 ff. 335 ff.; Armin Kaufmann, Normentheorie,
S. 123 ff. Kritisch gegenüber der individualisierenden Lehre wegen einer Rückkehr
zur Imperativentheorie vgl. Schünemann, JA 1975, 513, 516; in diesem Sinne auch
ders., Festschrift für Schaffstein, S. 163 ff.; ferner Hirsch, ZStW 94 (1982), 269 f.;
Roxin, Strafrecht AT I, § 24, Rdn. 53.
165 Vgl. z. B. Jakobs, Studien, S. 66 f.; ders., Strafrecht AT, 9/6 ff.; Stratenwerth,
47 m. w. N.
167 Für die individualisierende Lehre vgl. Stratenwerth, Strafrecht AT I, § 15, Rdn.
22 f.; Jakobs, Strafrecht AT, 9/14; Freund, Strafrecht AT, § 5, Rdn. 40. Für die – zu-
mindest „nach unten“ – sog. „generalisierende Lehre“ vgl. die Nachweise supra, Ein-
leitung, Fn. 18.
B. Die Debatte über das Sonderwissen 227
Fn. 42.
173 Vgl. näheres infra, § 6 D III.
228 § 6 Sonderwissen und Sonderfähigkeiten des Täters
Unfähige ja entschuldigt wird, während auf der Ebene der Abgrenzung der Frei-
heitssphären die Mindestanforderungen der Sorgfaltsmaßstäbe für den Rechtsgü-
terschutz ohne die Ausnahme der Unfähigkeit eingehalten werden müssen. Da-
gegen ist oft eine Individualisierung der Sorgfaltsmaßstäbe „nach oben“ recht-
lich erforderlich, vor allem wenn das Interesse am Rechtsgüterschutz in der
Abwägung mit dem Interesse an der Handlungsfreiheit, die hier auch durch ge-
nerelle Sorgfaltsregeln gewährt wird, überwiegen sollte. Ob der Handelnde sorg-
fältiger agieren kann,174 als das von der generellen Sorgfaltsregel gefordert
wird, kann freilich auch einmal zu seiner Handlungsfreiheit gehören, die dann
einen strafrechtsfreien Raum bilden würde.
Eine Individualisierung „nach unten“ erscheint also im Rahmen einer Interes-
senabwägung zwischen Rechtsgüterschutz und Handlungsfreiheit nicht erforder-
lich und damit nicht überzeugend, weil das Interesse an strafrechtsfreien Räu-
men gegenüber dem Schutz von Rechtsgütern hier nicht überwiegt. Die generel-
len Sorgfaltsanforderungen sollten also auch für den Unterbefähigten gelten. Es
sollte „nach unten“ generalisiert175 und dadurch die Trennung zwischen Unrecht
und Schuld aufrechterhalten werden.
Die Kritiker der individualisierenden Lehre beharren auf dem Prinzip der All-
gemeinheit und generalpräventiven Wirkung der strafrechlichen Normen. Deren
Formulierung müßte generell sein, und sie müßten den gleichen Verbotsbereich
für alle Rechtsunterworfenen festlegen. Damit würden die Normen eine allge-
meine Anerkennung erfahren.176 Mit der individualisierenden Fahrlässigkeits-
norm verliere man die Motivations- und Präventionskraft. Es werde nur auf die
ganz konkrete Situation abgestellt, und damit erfolge die Beurteilung ex post.
Ferner gebe eine solche Norm dem Adressaten keine Richtlinie an die Hand,
sondern sie Verweise ihn schlicht auf die Resultate der eigenen Verstandes-
kräfte.177 Da die entsprechende individualisierende Fahrlässigkeitsnorm lauten
solle: „Tue das Dir zur Erfolgsvermeidung mögliche“, seien Handlungsricht-
linien für den Täter nicht vorhanden. Begebe sich der Täter in eine riskante
174 Vgl. dazu Schünemann, JA 1975, 514; ders., Festschrift für Schaffstein, S. 166;
ders., GA 1999, 216 f.; in Anschluß an Schünemann vgl. Hirsch, ZStW 94 (1982),
273, ferner die näheren Ausführungen infra, § 6 B II 2 e).
175 Vgl. zur Methodik nach „unten“ zu generalisieren, nach „oben“ zu individuali-
ter, GA 1977, 265; Hirsch, ZStW 94 (1982), 270 f.; LK-Schroeder, § 16, Rdn. 146;
Kaminski, Der objektive Maßstab, S. 98 ff.
177 Schünemann, Festschrift für Schaffstein, S. 165. Schünemann verweist hier – ob-
wohl in einem anderen Zusammenhang – auf Armin Kaufmann, ZfRV 1964, 47.
B. Die Debatte über das Sonderwissen 229
Situation, die er irrtümlich steuern zu können glaube, könne die Norm ihn über-
haupt nicht zur Unterlassung der Handlung motivieren.178
Das Verständnis von Jakobs, daß die „äußere Sorgfalt“ eine Konsequenz der
„inneren Sorgfalt“ sei, führt nach Meinung von Schünemann ferner nur dazu,
daß der Normverstoß nicht in dem deskriptiv faßbaren äußeren Verhalten, son-
dern in der „ungenügenden Anspannung der Verstandeskräfte“ besteht. Zudem
sei die Motivation auf Nachdenken gerichtet und nicht auf ein bestimmtes
außenweltgerichtetes Verhalten, und die Verhaltensnorm werde in eine „Besin-
nungsnorm“ verwandelt.179
Stratenwerth hat auf diesen Einwand erwidert, daß die gebotene Sorgfalt bei
ein und demselben äußeren Verhalten – je nach dem, wer sich so verhält – für
die nicht näher reglementierten Verhaltensweisen, die das Leben eines anderen
unter bestimmten Umständen gefährden können (wie zum Beispiel Skifahren),
unterschiedlich zu beurteilen sei. Bei den Tätigkeiten, die genauer reglementiert
sind, gebe es zwar bestimmte allgemeine Vorschriften, wie beispielsweise eine
Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit im Straßenverkehr. Auch in einem sol-
chen Fall dürfe aber der Fahrzeugführer „nur so schnell fahren, daß er sein
Fahrzeug ständig beherrscht“ (§ 3 Abs. 1 StVO). Er habe „seine Geschwindig-
keit insbesondere den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen sowie
seinen persönlichen Fähigkeiten (!) und den Eigenschaften von Fahrzeug und
Ladung anzupassen“. Könne er sein Fahrzeug nicht sicher führen, so dürfe er es
überhaupt nicht benutzen (§ 315 c StGB).180 Weigend schließt sich dieser Ar-
gumentation an. Für ihn wäre das Strafrecht mit der Aufgabe, die für jeden
Lebensbereich geltenden Verhaltensnormen im Detail festzulegen, bei weitem
überfordert.181
178 A. a. O.
179 A. a. O.
180 Stratenwerth, Festschrift für Jescheck, S. 294 f.
181 Weigend, Festschrift für Gössel, S. 141 f.
230 § 6 Sonderwissen und Sonderfähigkeiten des Täters
(a) Wie schon oben ausgeführt wurde, verneint die individualisierende Lehre
die Tatbestandsmäßigkeit einer Handlung, wenn es an der individuellen Voraus-
sehbarkeit des Erfolges fehlt. Hieraus ergibt sich das Problem, daß die Tatbe-
standsmäßigkeit der Handlung bei Unfähigkeit des Täters zur Voraussicht der
Gefahr immer zu verneinen wäre. Beispielsweise würde der Autofahrer mit ver-
mindertem Reaktionsvermögen nicht tatbestandsmäßig handeln, wenn er auf-
grund seiner Unfähigkeit nicht rechtzeitig vor einer Gefahr anhalten könnte und
deshalb ein Rechtsgutsobjekt verletzen würde. Damit solche Handlungen auch
als tatbestandsmäßig beurteilt werden können, greift die individualisierende
Lehre zur Lösung dieses Problems wie die h. M.183 auf die Figur der Übernah-
mefahrlässigkeit zurück, solange die Unfähigkeit für den Handelnden selbst er-
kennbar gewesen ist. So wird dem Autofahrer die Übernahme der Tätigkeit
„Autofahren“ im gegebenen Beispiel vorgeworfen.184 Diese Lösung wird damit
begründet, daß das Interesse der Rechtsordnung nicht in der Befolgung auch
solcher Verhaltensnormen bestehe, die den Einzelnen überfordern, sondern
darin, ihm die Vornahme der entsprechenden Tätigkeit in einem solchen Fall
überhaupt zu verbieten.185
Dieser Rückgriff der individualisierenden Lehre auf die Figur der Übernah-
mefahrlässigkeit, um die Verantwortlichkeit in bestimmten Fallkonstellationen
zu begründen, wird aber mit Recht kritisiert, weil dies eine Rückkehr zur objek-
tiven Sorgfaltspflichtverletzung darstellt186 und außerdem eine Systemwidrigkeit
hervorruft, da die Verursachung einer nach der individualisierenden Lehre
rechtmäßigen Handlung selbst rechtmäßig sein müßte.187 Man kann nicht die
Fähigkeit auf die eigene Unfähigkeit des Täters gründen, d. h. der Gegenstand
des Vorwurfs kann nicht die Erkenntnis des Täters sein, daß er später unfähig
für die Voraussicht des Erfolges sein würde.188
S. 295; Freund, Strafrecht AT, § 5, Rdn. 39 ff. Nach Jakobs, Strafrecht AT, 9/14,
besteht die Übernahmefahrlässigkeit nur, wenn der Täter zum früheren Zeitpunkt
schon Garant für die Qualität seines späteren Verhaltens wäre, vgl. die nächsten Aus-
führungen.
185 Stratenwerth, Festschrift für Jescheck, S. 296.
186 So z. B. Armin Kaufmann, Festschrift für Welzel, S. 406; Schünemann, Fest-
schrift für Schaffstein, S. 167; Wolter, GA 1977, S. 266; LK-Schroeder, § 16, Rdn.
146.
187 Vgl. Schünemann, Festschrift für Schaffstein, S. 167.
188 Vgl. Armin Kaufmann, Festschrift für Welzel, S. 405 f.; dieselbe Meinung ver-
von Jakobs bestand also früher darin, daß solche Handlungen ohne weitere
Gründe bestraft werden sollten. Er entschied sich für die Sanktionsbedürftigkeit
solcher Täter, da sich für ihn die Sanktionsnorm nicht auf eine Pflichtverletzung
zu stützen brauchte, d. h. es wäre keine Normwidrigkeit notwendig, um eine
strafrechtliche Sanktion zu verhängen.194 Hiergegen traf aber die Kritik von
Schünemann zu, daß Jakobs mit der Begründung der Übernahmefahrlässigkeit
in eine Bestrafung ohne Normverstoß geriet. Dies würde gegen den nullum-cri-
men- und den Schuldgrundsatz verstoßen.195
Die Fälle, in denen keine Pflicht zu Vermeidung im Zeitpunkt der Über-
nahme der Handlung besteht, müßten also konsequenterweise straffrei sein, und
das ist auch die heutige Lösung von Jakobs. Als Beispiel führt er nun den Fall
eines Zeugen eines schweren Unfalls an: Dieser habe keine Pflicht, sich um
eine Fixierung des Erlebten zu bemühen, um später eine falsche Aussage zu
vermeiden. Der Rückgriff auf die Figur der Übernahmefahrlässigkeit ist also im
heutigen System von Jakobs nur möglich, wenn der Täter zum früheren Zeit-
punkt nicht nur fähig sei, die Konzequenzen seines kommenden Tuns zu über-
blicken, sondern auch verpflichtet und damit Garant sei, für deren Ausbleiben
zu sorgen.196 Ansonsten wendet Jakobs seine früheren Gedanken über den Er-
werb von Fähigkeiten auf die Kenntnisverschaffungspflichten an: Es gäbe keine
Pflicht, sich Kenntnis zu verschaffen, sondern nur eine Pflicht, erkennbar tatbe-
standsmäßige Handlungen im Fall ihrer Rechtswidrigkeit zu vermeiden.197
Neben den eher seltenen Fällen, bei denen der Täter bezüglich eines weit ent-
fernten, rechtlich irrelevanten Ereignisses noch keine Pflicht zur Vermeidung
hat, bleiben die typischen Fälle, bei denen das Subjekt eine Pflicht hat, sich zu
vergewissern, daß es die vorzunehmende Handlung beherrschen kann. Sobald
das Subjekt beispielsweise erkannt hat, daß das von ihm verwendete Material
ein Skalpell ist und daß das vor ihm liegende Objekt eine Person ist, müßte
parallel zum Handlungsentschluß die Pflicht entstehen, mit diesem Objekt sorg-
fältig umzugehen. Diese Pflicht übersetzt sich in der konkreten Situation eines
medizinischen Laien als „Nicht operieren!“, bei einem für diese bestimmte me-
dizinische Operation unkundigen Arzt dahingehend, daß er ggf. nur eine ent-
sprechende Diagnose stellen darf, wohingegen der für diese bestimmte Opera-
tion ausgebildete Arzt bei der Operation nach den Regeln der ärztlichen Kunst
handeln muß. Die Fähigkeit, eine medizinische Operation durchzuführen, be-
steht nur bei entsprechend qualifizierten Ärzten, deshalb müssen die restlichen
Subjekte diese Handlung überhaupt unterlassen. Ein Rückgriff auf die Figur der
Übernahmefahrlässigkeit scheint in solchen Fällen nicht erforderlich zu sein, da
sich die Sorgfaltspflicht in den meisten Fällen auf einen rechtlich relevanten
Moment beziehen kann.
Bei der Übernahmefahrlässigkeit im Bereich von Automatismen, d. h. auto-
matischen Reaktionen des Subjektes, die sich als nicht gesteuertes, unbewußtes,
aber trotzdem eingeübtes oder instinkthaftes Verhalten aufweisen, gründet Ja-
kobs die strafrechtliche Verantwortlichkeit des durch Automatismen handelnden
Täters auf die Vermeidbarkeit dieser Art von Situationen; deshalb sei Übernah-
mefahrlässigkeit oder Vorsatz anzunehmen.198 Der Täter solle „Handlungsent-
schlüsse, die nach seiner Erkenntnis verletzende Folge haben (können), nicht
erst fassen.“199
(b) Andererseits wird von der individualisierenden Lehre bejaht, daß die
Grenze des erlaubten Risikos generell bestimmt werden kann. Fahrlässig sei die
Handlung, wenn der Täter ein Risiko vorausgesehen habe, das außerhalb des
erlaubten Risikos liege.200 In diesem Punkt wird ebenfalls von den Kritikern
der individualisierenden Lehre der Einwand erhoben, daß man dadurch auch
auf objektive Maßstäbe zurückgreife und sich darin eine „weitgehende Des-
avouierung der subjektiven Fahrlässigkeitsbestimmung“ zeige.201
Auf diesen Einwand hat Stratenwerth erwidert, daß die individualisierende
Auffassung nie geleugnet habe, daß individuelle Fähigkeiten auf objektive An-
forderungen bezogen werden müssen.202 Jakobs meint, daß das Objektive beim
Vorsatz wie bei der Fahrlässigkeit Bezugspunkt des Subjektiven sei, „ohne daß
dadurch jedoch die Beziehung objektiv würde; der subjektive Tatbestand ist
nicht objektiv, weil er sich auf den objektiven Tatbestand zu beziehen hat“.203
Aber das überzeugt nicht, denn objektive Sorgfaltswidrigkeit und erlaubtes Ri-
siko sind zwar Seiten derselben Medaille.
Bei der von der individualisierenden Lehre vorgenommenen Annahme des er-
laubten Risikos und der Übernahmefahrlässigkeit zeigt sich also erneut, daß
letztlich doch auch nach ihren Grundsätzen objektive Maßstäbe den Stützpunkt
des Verhaltens bilden und deshalb den Rahmen für die Verhaltensnormen ab-
geben.
198 Jakobs, Studien, S. 77; ders., Strafrecht AT, 6/39. In einer atypischen Situation
wie z. B. Glatteis bei Autofahren muß nach Jakobs der Automatismus ausgeschaltet
werden; daher handele es sich nicht mehr um Übernahmefahrlässigkeit bei Automatis-
mus, sondern um eine gesteuerte Handlung, vgl. dazu Studien, S. 77; Strafrecht AT, 6/
38.
199 Jakobs, Studien, S. 78.
200 Vgl. Nachweise supra, Einleitung, Fn. 30.
201 Schünemann, JA 1975, 514; vgl. auch Wolter, GA 1977, S. 257 ff., 265 f.;
Hirsch, ZStW 94 (1982), 273, 275 f.; AK-StGB-Zielinski, §§ 15, 16, Rdn. 99; ferner
Burkhardt, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, S. 122.
202 Stratenwerth, Festschrift für Jescheck, S. 296, Fn. 41.
203 Jakobs, Strafrecht AT, 9/7, Fn. 10.
234 § 6 Sonderwissen und Sonderfähigkeiten des Täters
(a) Maßregeln der Besserung und Sicherung wie z. B. ein Berufsverbot kön-
nen nur getroffen werden, wenn der Täter eine rechtswidrige Tat begangen hat
und er verurteilt wurde oder nur deshalb nicht verurteilt wurde, weil er mög-
licherweise oder sicher schuldunfähig war (§ 70 StGB, weitere Maßregeln in
§§ 61 ff. StGB). Folgt man den Grundsätzen der individualisierenden Lehre,
gäbe es Schwierigkeiten bei der Verhängung von Maßregeln für ein für die
jeweilige Tätigkeit unfähiges Subjekt (trotz der Bezeichnung von Weigend als
„technische Fragen“ von „geringer Relevanz“204), wie z. B. einen altersbedingt
berufsunfähigen Arzt, da die individuelle Unfähigkeit des Täters nach dieser
Lehre bereits den Tatbestand ausschließen soll. Damit hätte der Täter bei vor-
handener Unfähigkeit keine rechtswidrige Tat begangen und er wäre auch nicht
erst für schuldunfähig zu erklären, was Voraussetzung für die Anordnung der
Maßregel ist. Dadurch zeigt sich im Anschluß an Schünemann, daß die indivi-
dualisierende Lehre mit dem im StGB enthaltenen Maßregelrecht nicht zu ver-
einbaren ist.205
Die individuelle Gestaltung der Sorgfaltswidrigkeit kommt auch mit dem Er-
fordernis des rechtswidrigen Angriffs in § 32 StGB in Begründungsschwierig-
keiten.206 Die Rechtswidrigkeit des fahrlässigen Angriffs müßte nämlich nach
der individualisierenden Auffassung konsequenterweise auch nach den indivi-
duellen Fähigkeiten des Angreifers betrachtet werden. Dies würde aber zu dem
unzutreffenden Ergebnis führen, daß man z. B. gegen den unfähigen Autofahrer
keine Notwehr ausüben dürfte.
Zur Lösung des Problems, daß die Verhängung von Maßregeln an individuell
unfähigen Tätern eine rechtswidrige Tat voraussetzt, oder daß man bei einer
Notwehrhandlung auch von einem rechtswidrigen Angriff ausgehen muß, ver-
wendet die individualisierende Lehre einen anderen Rechtswidrigkeitsbegriff für
die Notwehr und teilweise auch für die Maßregeln.207 So ist nach Jakobs der
Begriff der „Rechtswidrigkeit“ im Maßregelrecht aus dem Regelungszweck die-
ses Bereichs herzuleiten, „wobei sich Objektivierungen für Fahrlässigkeit wie
Vorsatz ergeben mögen.“208 Das ergibt aber eine überflüssige Verdoppelung des
Stratenwerth unterscheidet hier ebenso wie bei den Maßregeln zwischen einem
rauschbedingten Ausschluß des instrumentellen Könnens („Handlungskompe-
tenz“; beispielsweise, wenn der Täter infolge des Rausches nicht in der Lage
war, die von ihm geschaffene Gefahr zu erkennen oder zu beherrschen) und
einer rauschbedingten Schuldunfähigkeit. Nur im Fall einer rauschbedingten
Schuldunfähigkeit solle der Tatbestand des Vollrausches in Frage kommen. Der
Fall des rauschbedingten Ausschlusses des instrumentellen Könnens solle dage-
gen wie der rauschbedingte Ausschluß des Vorsatzes (rauschbedingter Irrtum)
behandelt werden.213
Der Ansatz von Stratenwerth widerspricht jedoch der Idee der Maßregelver-
hängung,214 weil er sich zu sehr der Idee der Strafverhängung (jedoch mit viel
mehr Voraussetzungen) anpaßt. Könnten Maßregeln bei „bloßem“ „Mangel an
instrumentellem Können“ nicht verhängt werden, wie Stratenwerth bei seiner
Differenzierung zwischen dieser Kategorie und der „eigentlichen“ Kategorie der
Schuldunfähigkeit vorschlägt, könnte die Vornahme riskanter Aktivitäten durch
Unfähige, für die ihre Unfähigkeit unerkennbar ist und die auch nicht i. S. von
Stratenwerth schuldunfähig wären, gar nicht verhindert bzw. diese nicht resozia-
lisiert oder geheilt werden. Das beträfe das Verhalten z. B. von altersbedingt
nicht mehr fähigen Ärzten oder Autofahrern, die ihre Unfähigkeit nicht erken-
nen können und zugleich i. S. von Stratenwerth nicht schuldunfähig wären. Die
Verhängung einer Maßregel ist aber gerade in solchen Fällen kriminalpolitisch
erforderlich, weil solche Taten sich ansonsten künftig kaum verhindern lassen:
Die handelnden Personen können in der Regel nicht mehr kuriert oder durch
Ausbildung für die Vermeidung künftiger Fehler geschult werden. Deshalb
sollte man dem Arzt ein Berufsverbot auferlegen und dem Autofahrer die Fahr-
erlaubnis entziehen, was mit dem Verhältnismäßigkeitprinzip durchaus vereinbar
ist.
(c) Im Ergebnis ähnlich, in der Begründung jedoch anders ist die Lösung von
Samson für die Maßregeln und die „Notwehrprobe“: Er stellt bei der Frage, ob
Maßregeln bei individueller Unfähigkeit anzuordnen wären und ob fahrlässiges
Verhalten bei individueller Unfähigkeit einen rechtswidrigen Angriff i. S. von
§ 32 StGB darstellt, nicht auf den Handlungsunwert des Fahrlässigkeitsdelikts,
sondern auf die Bedürfnisse des Maßregelrechts bzw. auf den Zweck der Not-
wehrregelung und die durch die Tat indizierte Gefährlichkeit des Täters ab. Ei-
nen Verzicht auf die Rechtswidrigkeit des Aktes als Voraussetzung der Maßre-
gel nimmt er allerdings nicht an.215 Ein solcher Verzicht auf die Voraussetzung
der Begehung einer rechtswidrigen, nicht schuldhaften Tat wird ebenso wie die
213 Stratenwerth, Festschrift für Jescheck, S. 299; ebenso Jakobs, Studien, S. 69,
216 Schünemann, JA 1975, 515; im Anschluß hieran Hirsch, ZStW 94 (1982), 272.
217 Weigend, Festschrift für Gössel, S. 143.
218 Schünemann, JA 1975, 515; kritisch auch LK-Schroeder, § 16, Rdn. 148;
451 ff.
221 Duttge, Fahrlässigkeitsdelikte, S. 353 f. und passim.
238 § 6 Sonderwissen und Sonderfähigkeiten des Täters
nen, die regelmäßig besondere Gefahren mit sich bringen, seien allgemeine
Vorgaben, notwendig auf den Regelfall hin ausgerichtet und daher nicht in der
Lage, den für die Entscheidung eines konkreten Problemfalles wirklich relevan-
ten Maßstab zu verkörpern. Sie stünden also unter dem „Vorbehalt des Regel-
falls“ und bedürften daher letztlich einer „selbständigen Prüfung und Feststel-
lung“ der Fahrlässigkeit.222
Die Fahrlässigkeit liege also nicht im „Überschreiten des erlaubten Risikos“,
sondern in dessen individueller Erkennbarkeit.223 Fahrlässigkeitsspezifisch sei
also nicht die vorhandene oder fehlende „rechtliche Missbilligung“ des Verhal-
tens als solches, – nach einem täter- und situationsfremden „objektiven“ Maß-
stab bestimmt, bei dem die Besonderheiten des Einzelfalls gerade unberücksich-
tigt blieben –, sondern allein die Beziehung zu einem situativ und personal kon-
kretisierten Tatsubjekt. Denn ein solch „objektiver“ Maßstab sei niemals in der
Lage, die konkrete Vermeidbarkeit in die Bewertung einzubeziehen.224
Die Erkennbarkeit der Tatbestandsverwirklichung sei ein notwendiger Be-
standteil der Pflichtwidrigkeit, reiche aber als einzelnes fahrlässigkeitsspezifi-
sches Kriterium nicht aus. Hinzukommen muß nach Duttge ein rechtliches Mo-
ment, weil der Erkennbarkeit (bzw. ein Voraussehen-Können) die „normative
Begrenzung“ fehle, und zwar ein sowohl täter- als auch situationsspezifisches
Voraussehen-Müssen.225 Aus einer normativen Betrachtung heraus, die aller-
dings die Lebensverhältnisse nicht außer Acht läßt,226 wird der fahrlässigkeits-
spezifische Handlungsunwert durch ein „Veranlassungsmoment“ gekennzeich-
net. Kern des fahrlässigkeitsspezifischen Handlungunwertes sei also nicht, über-
haupt eine gefährliche Verhaltensweise unternommen zu haben. Gegenstand
dieses Vorwurfs sei es vielmehr, „trotz triftigen Anlasses (in den äußeren Gege-
benheiten oder aufgrund eigenen Wissens) zum Überdenken des eigenen Tuns“
nicht oder nicht rechtzeitig von dem weiteren Verlauf in Richtung einer Rechts-
gutsbeeinträchtigung Abstand genommen zu haben.227 Dies setze voraus, daß in
jener Situation „besondere Umstände“ vorgelegen haben, die dem Täter die
akute Gefahr hätten nahelegen und ihn zu einer Reaktion hätten auffordern
müssen.228 Solche „augenfälligen“ und „greifbaren“ Warnsignale würden sich
weder allein (objektiv) in den äußeren und damit sichtbaren Gegebenheiten
222 A. a. O., S. 273 ff., 334 ff., 343 f., 347, 353 f., 493.
223 MünchKommStGB/Duttge, § 15, Rdn. 106.
224 MünchKommStGB/Duttge, § 15, Rdn. 104 ff.
225 Duttge, Fahrlässigkeitsdelikte, S. 279 ff., 311, 356, 372; MünchKommStGB/ders.,
StGB/ders., § 15, Rdn. 126 ff.; ders., in: Byrd/Hruschka/Joerden (Hrsg.), Jahrbuch für
Recht und Ethik 11 (2003), S. 109 ff.
233 Anders beim Vorsatzbegriff, bei dem die Merkmale „Wissen“ und „Wollen“ eine
Duttges Herleitung letztlich wieder zu einer für Situationen der betreffenden Art
generalisierbaren Sorgfaltsnorm kommen.
auf ein anderes Fahrlässigkeitsmoment) erhoben und damit wiederum die Vor-
aussehbarkeit bejaht werden, wenn der Handelnde in der Lage gewesen wäre,
den entsprechenden Mangel zu erkennen. War aber diese Erkenntnis für ihn
nicht möglich, ist die Voraussehbarkeit und der Schuldvorwurf nicht zu begrün-
den. Zwar wird es sich um Ausnahmesituationen und nicht um den Regelfall
handeln; materiellrechtlich ist trotzdem auf das Element der subjektbezogenen
Voraussehbarkeit nicht zu verzichten, auch wenn man im Normalfall im Prozeß
auf Erfahrungssätze zur Feststellung der Voraussehbarkeit zurückgreift – also
nicht aus dem Vorschriftenverstoß allein auf einen Schuldvorwurf schließt, son-
dern nur aus strafprozessualen Gründen auf eine weitere Aufklärung des Sach-
verhaltes verzichtet, wenn hinreichende Indizien vorliegen, daß die Gefahr bzw.
Verletzung dem Handelnden tatsächlich voraussehbar war.
239 So Schünemann, JA 1975, 514; ders., Festschrift für Schaffstein, S. 166; ders.,
GA 1999, 216 f.; in Anschluß an Schünemann vgl. Hirsch, ZStW 94 (1982), 273.
C. Sonderwissen als Zeichen der Ungleichheit beider Deliktsformen 243
Das oben Dargestellte ist der Stand der Dinge im Rahmen der Frage nach
dem Sonderwissen bei Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikten. Darüber hinaus –
auch wenn die h. L. zu dem Ergebnis kommt, daß Sonderwissen genauso bei
Fahrlässigkeits- wie bei Vorsatzdelikten zu Lasten des Täters wirkt – werden im
Vorsatz- und Fahrlässigkeitsbereich nicht gleichartige Fallkonstellationen zur
Überprüfung dieser Feststellung gegenübergestellt. Ein solcher Vergleich wäre
aber erforderlich, nicht nur um die unterschiedlichen Zurechnungskriterien bei
beiden Deliktsformen festzulegen, sondern auch um überhaupt zu demonstrie-
ren, daß das Sonderwissen bzw. die Sondererkennbarkeit nicht immer zu Lasten
des Handelnden i. S. eines Fahrlässigkeitsdelikts wirken soll, wie dies durch den
oben geschilderten Bluterfall mit fehlender Prüfungspflicht gezeigt wird. Die
h. L. würde die Prüfungspflicht in diesem Fall mit Sicherheit ebenfalls vernei-
nen, so daß sie ausdrücklich anerkennen müßte, daß Sonderwissen bzw. Sonder-
erkennbarkeit beim Fahrlässigkeitsdelikt im Unterschied zum Vorsatztäter nicht
immer zu Lasten des Handelnden verwertet werden kann.241
Zugleich vermißt man bei der h. L. eine Überprüfung der von ihr gesetzten
Untergrenzen strafbaren Verhaltens und Zurechnungsmaximen angesichts der
Tatsache, daß sie eine Niedrigerstufung der Untergrenzen bei vorhandenem Son-
derwissen annimmt und damit die objektiven Untergrenzen des verbotenen Ver-
haltens von subjektiven Gegebenheiten abhängig macht. Dabei handelt es sich
nicht primär um eine systematische Frage, sondern um die materielle, funda-
mentale Frage nach der Festlegung der Kriterien für die Bestimmung des straf-
baren Verhaltens. Es geht also nicht nur um eine Einführung subjektiver Ele-
mente in den objektiven Bereich der objektiven Zurechnung, sondern das si-
chere Wissen des Täters um die Sozialschädlichkeit eigenen Handelns
impliziert die erforderliche Tatherrschaft, die die Unerlaubtheit des Verhaltens
überhaupt begründet.242
Ob die gesamte Problematik des Sonderwissens ein Zeichen für die Erforder-
lichkeit einer unterschiedlichen Behandlung der strafrechtlichen (objektiven)
Untergrenzen beim Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt sein könnte, wird aber in
der dogmatischen Debatte in der Regel nicht thematisiert. Wie bereits oben er-
wähnt, konzentriert sich die Diskussion über das Sonderwissen beim Vorsatzde-
likt, abgesehen von der Auseinandersetzung mit der Ansicht von Jakobs, haupt-
sächlich auf die mögliche Systemwidrigkeit einer solchen Einführung subjekti-
ver Elemente in den objektiven Tatbestand bzw. in die objektive Zurechnung.
244 Vgl. näher über die Tatherrschaft kraft Wissens mit Nachweisen supra, § 5 C II
Jakobs schließt dagegen die Strafbarkeit wegen eines Vorsatzdelikts schon bei
zufälligem Wissen aus, wenn es nicht zur Täterrolle gehört,245 und schreibt Tat-
herrschaft nur zu, wenn man das Wissen benutzt, das man sich beschaffen
sollte. Seine Lehre ist also so zu verstehen, daß eine Tatherrschaft nur zuzu-
rechnen ist, wenn sie vom Täter erstellt wurde und auf die er aus diesem Grund
zugreifen kann, d. h. wenn der Täter sich die Tatherrschaft erworben hat. Gegen
den Jakobsschen Ausschluß der Verantwortlichkeit bei vorhandenem (Son-
der)Wissen aufgrund von Rollen ist einzuwenden, daß das bereits vorhandene
Täterwissen, sei es absichtlich oder zufällig erworben, eine effektive Tatherr-
schaft begründet, von der nicht durch Zurechnungskriterien abstrahiert werden
kann. Wiederum ist gegen die auch von Jakobs begründete belastende Wirkung
der Gleichgültigkeit bei fehlendem Wissen der Sozialschädlichkeit (Figur der
Tatsachenblindheit oder gerichteten Fahrlässigkeit) vorzubringen, daß eine für
den Vorsatz unabdingbare Tatherrschaft mindestens das reale Wissen über die
Möglichkeit der Sozialschädlichkeit bzw. der Rechtsgutsverletzung voraussetzen
muß, weshalb die Rechtsfeindlichkeit für die Bejahung einer Vorsatztat nicht
ausreicht.246 Damit ist die Entlastung durch die Rollentheorie im Bereich der
objektiven Zurechnung und die Belastung durch die Zuschreibung der Tatsa-
chenblindheit beim Vorsatz im Bereich der personalen Zurechnung abzulehnen.
Eine solche Zurechnungstheorie berücksichtigt nämlich bei den gezogenen Kon-
sequenzen nicht, ob der Täter das Geschehen tatsächlich beherrscht, was eigent-
lich bei der Vorsatzstrafbarkeit unabdingbar ist. Zuständig sein und sich gegen
die strafrechtliche Norm entscheiden bzw. nicht normbefolgungsbereit sein,
reicht für die Begründung einer Vorsatzstrafbarkeit allein nicht aus.
Wird die Gefahr ohne sicheres Wissen, sondern nur mit Wissen um die Mög-
lichkeit der Tatbestandsverwirklichung geschaffen, ist das gesamte Geschehen
nicht in einem erhöhten Maße gesteuert. Diese schwache Herrschaft über das
Geschehen reicht nicht aus, um die Unerlaubtheit des geschaffenen Risikos und
damit die Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens alleine zu begründen. Strafrecht-
lich relevant im Sinne einer Vorsatzhaftung wird erst ein solches Verhalten,
wenn der Handelnde dazu eine rechtsgüterfeindliche Einstellung oder zumin-
dest eine gleichgültige Einstellung gegenüber dem Rechtsgut aufweist, sei es,
daß er die Tatbestandsverwirklichung beabsichtigt, daß sie ihm gleichgültig ist
oder daß er etwa ihre Möglichkeit aus rein individuellen Gründen verdrängt,
1. Allgemeines
247 Näher über die Vorsatzhaftung bei Wissen von der Möglichkeit der Tatbestands-
schließen. Fraglich ist, welche Aspekte das Unrecht der bewußten Fahrlässigkeit
begründen.
Eine Fahrlässigkeitshaftung kann nicht allein auf das Wissenselement zurück-
geführt werden, weil diese Schwäche beim Wissenselement ohne eine rechts-
güterfeindliche Einstellung für sich allein nicht ausreicht, um die Unerlaubtheit
des Risikos bzw. strafrechtliche Relevanz zu begründen. Es besteht bei der
Fahrlässigkeitshaftung keine gesteigerte Steuerungsfähigkeit des Geschehens
bzw. gesicherte Tatherrschaft kraft Wissens. Es kann allerdings sein, daß der
Täter konkret eine Tatherrschaft über den unaufmerksamen Umgang mit dem
Rechtsgutsobjekt besitzt, z. B. wenn er bewußt über eine rote Ampel (bei nicht
übermäßigem Verkehr) fährt und dabei die tatsächlichen Bedingungen völlig
unter seiner Kontrolle hat, die eine Verletzung der im Verkehr erforderlichen
Sorgfalt unter einer rechtlichen Bewertung begründen: Nur er setzt die gefähr-
lichen Bedingungen in Gang und gegenüber weiter denkbaren Fahrlässigkeits-
konstellationen wie die der unbewußten Fahrlässigkeit besitzt der Autofahrer
sicheres Wissen um die Gefahrschaffung. Das ist aber noch keine Tatherrschaft
über die Bedingungen, die zur Tatbestandsverwirklichung bzw. zum Erfolgsein-
tritt direkt führen: Der Handelnde beherrscht bei der bewußten Fahrlässigkeit
mit seinem begrenzten Wissen nur die Möglichkeit, daß der Erfolg eintritt, und
dagegen setzt er Gegenfaktoren oder zumindest seinen Willen zur Erfolgsver-
meidung. Bei Vorliegen von (1.) unsicherem Wissen über die Tatbestandsver-
wirklichung und (2.) einem – berechtigten – Vermeidewillen ergibt sich also die
Unerlaubtheit der geschaffenen Gefahr und damit die rechtliche Relevanz nicht
aus einer gesteigerten Steuerungsfähigkeit des Geschehens bzw. gesicherten
Tatherrschaft kraft Wissens oder rechtsgüterfeindlicher Einstellung.
Darüber hinaus bleibt der Bereich der unbewußten Fahrlässigkeit übrig, von
deren Behandlung in dieser Arbeit über Bewußtseinsvorgänge auf den ersten
Blick abgesehen werden könnte, weil diese Fahrlässigkeitsform in der Regel ge-
rade durch das Fehlen kognitiver Aspekte gekennzeichnet wird. Dennoch ist
eine Erörterung der unbewußten Fahrlässigkeit durchaus auch hier von Inter-
esse: Erstens sollte untersucht werden, ob das Bewußstsein des Handelnden da-
bei in allen Fallkonstellationen absolut ausgeschaltet ist. Zweitens kennzeichnet
sich die These dieser Arbeit vor allem dadurch, daß die strafrechtlichen
Aspekte, die eine Belastungsfunktion haben, auf etwaige Bewußtseinsphäno-
mene zurückgeführt werden. Die unbewußte Fahrlässigkeit würde dann den
Prüfstein solcher Erwägungen bzw. die Ausnahme bilden. Drittens braucht das
Vorliegen von Sonderwissen bei unbewußter Fahrlässigkeit nicht ausgeschlossen
zu sein. Es wäre auch möglich, daß der Täter sein Sonderwissen beim unbewußt
unsorgfältigen Handeln nicht anwendet, auch wenn er dazu verpflichtet war.
Grund der strafrechtlichen Relevanz bei der bewußten und unbewußten Fahr-
lässigkeit ist also nicht eine erhöhte Steuerung des Geschehens kraft Wissens,
D. Kategorien zur Begründung der strafrechtlichen Relevanz 249
sondern ein sorgfaltswidriges Verhalten, oder präziser: die Schaffung einer un-
erlaubten Gefahr für ein Rechtsgut.249 Die bloße Erkennbarkeit der Gefahr
reicht wiederum nicht allein zur Bestimmung der Fahrlässigkeit aus, weil bei
ihr die normativen Untergrenzen fehlen.250 Verlangt man neben der Erkennbar-
keit der Gefahr ein unerlaubtes Risiko, sind die Unterschiede zur Lehre von der
Sorgfaltswidrigkeit rein terminologischer Natur:251 Die Erkennbarkeit birgt das
Problem der Maßstäbe für den Gefahrbegriff, was hier sogleich unter der Kate-
gorie der Schaffung einer Gefahr behandelt wird (2). Das erlaubte Risiko wird
wiederum unter der Kategorie der Unerlaubtheit der Gefahr erörtert (3).
Wenn also nunmehr auf die zwei belastenden Elemente der Kategorie der
Schaffung einer unerlaubten Gefahr näher eingegangen wird, nämlich die Ge-
fahrschaffung selbst und die Unerlaubtheit der Gefahr, so müssen diese zwei
Elemente richtigerweise auseinandergehalten werden – beispielsweise werden
Gefahren für Rechtsgüter durch das Autofahren geschaffen; diese Gefahrschaf-
fungen sind aber erlaubt –, und es dürfen deshalb auch nicht beide Elemente
etwa unter dem Maßstab des einsichtigen Menschen als eine Einheit untersucht
werden. Allerdings ist eine exakte Differenzierung nicht in allen Fallkonstella-
tionen möglich: Ob der Tatbestand des Totschlags bei einer Nötigung zum
Treppensteigen mit Todesfolge aufgrund fehlender Gefahrschaffung oder auf-
grund der Erlaubtheit einer solchen Gefahrschaffung auszuschließen ist, ist
schwer festzulegen. Angesichts solcher Schwierigkeiten könnte man die Gefahr-
schaffung und die Erlaubtheit bzw. Mißbilligung der Gefahr unter der umfassen-
deren Kategorie der Sorgfaltswidrigkeit behandeln. Damit würde man aber so-
wohl normative als auch oft rein empirische, z. B. subjektive Aspekte der Straf-
tat, gleichzeitig behandeln, was zur üblichen Verwirrung der Elemente beitragen
würde.
Die Festlegung, aus welcher Perspektive und unter welchen Maßstäben ent-
schieden werden muß, wann eine Gefahr überhaupt geschaffen worden ist, aber
auch die Frage, ob die Gefahrschaffung rechtlich mißbilligt ist, kann man ge-
trost als äußerst schwierige Probleme der Strafrechtsdogmatik bezeichnen. Hier
geht es um das supra, § 6 B I 3 b aa) als die Objektivität oder Subjektivität des
Gefahrurteils gekennzeichnete Problem. Im Schrifttum konzentriert sich die De-
batte über das Gefahrurteil auf die Auswahl der Tatumstände, die für das Ge-
fahrurteil relevant sein sollten. Dabei geht es darum, welche Tatumstände im
Gefahrurteil berücksichtigt werden müssen, bevor man über die Sorgfaltswidrig-
keit des Verhaltens eine Aussage treffen kann. Zur Auswahl der zu berücksich-
tigenden Tatumstände für die Frage nach der Gefahrschaffung werden im Prin-
zip drei Möglichkeiten in der Diskussion in Betracht gezogen: (1) Eine Betrach-
tung der Gefahrschaffung ex post, sei es nach dem Erfolgseintritt, sei es ex ante
mit Berücksichtigung der nachträglich bekannt gewordenen Umstände,252 sei es
aus der Perspektive einer allwissenden Person oder auf Basis des optimalen
Wissens eines Beurteilers. (2) Die zweite Möglichkeit besteht in der Berück-
sichtigung des Tatwissens eines einsichtigen, objektiven Beurteilers ex ante.253
(3) Die dritte Möglichkeit geht ferner nur vom Täterwissen über die Tatum-
stände aus.254
Was die rechtliche Erlaubtheit oder Mißbilligung der Gefahr betrifft, sind zu-
sätzlich folgende Varianten in Betracht zu ziehen: (1) Man könnte wie Jakobs
rein normativ einige dem Täter bekannte Tatumstände vom Gefahrurteil aus-
schließen, weil es nicht zu seiner sozialen Rolle gehören würde, sie zu kennen,
und damit bei der Frage nach der Mißbilligung der Gefahr nur diejenige Tatum-
ständen berücksichtigen, die er hätte wissen sollen.255 (2) Man könnte entgegen
der Ansicht von Jakobs alle vom Täter gekannten Tatumstände, die auf die
Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung verweisen, für die Frage nach der
Mißbilligung der Gefahr in Betracht ziehen. (3) Man könnte, wie in der vorlie-
genden Arbeit, das Wissen um bestimmte Tatumstände, die auf die Möglichkeit
der Tatbestandsverwirklichung hinweisen, bei entfernter Steuerungsfähigkeit des
fahrlässig Handelnden aus kriminalpolitischen Gründen als strafrechtlich irrele-
vant beurteilen.
Die Frage nach der unerlaubten Risikoschaffung und den Beurteilungsper-
spektiven wird in der Regel vom Schrifttum auch bei den Vorsatzdelikten ge-
stellt. Nach der hier vertretenen Auffassung werden aber etwaige Perspektiven
und Maßstäbe für die Gefahrbeurteilung beim Vorsatzdelikt gar nicht in Be-
tracht gezogen: Bei sicherem Wissen über die Tatbestandsverwirklichung (sog.
dolus directus) wird das Vorliegen der Gefahr und die Unerlaubtheit der ge-
schaffenen Gefahr mit der Tatherrschaft (kraft Wissens) begründet. Beim Wis-
sen um die Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung (sog. bedingter Vorsatz)
wird wiederum eine Gefahrschaffung erfordert, und die Unerlaubtheit der ge-
schaffenen Gefahr wird durch die rechtsgüterfeindliche oder zumindest gleich-
gültige Einstellung begründet.
Demgegenüber tauchen beim Fahrlässigkeitsdelikt unvermeidbar die Fragen
nach der Perspektive und den Maßstäben für die Gefahrbeurteilung auf, die nun
im folgenden Abschnitt mit der Differenzierung zwischen Gefahrschaffung und
rechtlicher Mißbilligung der Gefahrschaffung näher erörtert werden.
252 So die Interpretation von Frisch, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, S. 173, über
AT, 7/50.
D. Kategorien zur Begründung der strafrechtlichen Relevanz 251
a) Bewußte Fahrlässigkeit
256 Vgl. Maurach/Zipf, Strafrecht AT II, § 43, Rdn. 119. Mit einer Funktion nur für
die Strafzumessung, vgl. Otto, Grundkurs Strafrecht, § 10, Rdn. 6 f.; Roxin, Strafrecht
AT I, § 24, Rdn. 59 ff.; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rdn. 661.
252 § 6 Sonderwissen und Sonderfähigkeiten des Täters
vanz beruht hier also nicht auf fehlender Tatkenntnis bzw. Erkenntnis von Ge-
fahren, sondern auf einer für die Rechtsgüter bedrohlichen Verdrängungsbereit-
schaft bezüglich der Realisierung der erkannten Gefahr. Der Handelnde muß
sich nicht weitere Tatkenntnisse verschaffen. Nach dem Maßstab der h. M.
könnte man bezüglich dieser Fallkonstellation sagen, daß die vom Täter vorge-
stellten Tatumstände und erkannten Möglichkeiten der Tatbestandsverwirkli-
chung mit dem übereinstimmen, was ein einsichtiger Beurteiler ex ante erkannt
hätte. Hier wird die Frage nach den Beurteilungsmaßstäben für das Vorliegen
einer Gefahrschaffung keine wichtige Rolle spielen. Bis hierher wäre die Beur-
teilung, ob eine Gefahr vorliegt, dogmatisch betrachtet nicht so problematisch.
Hauptsächlich müßte man abergläubische Gedanken des Täters darüber, daß
sein Verhalten gefährlich oder ungefährlich sei, vom Gefahrurteil ausschließen.
Im einzelnen wird für die Feststellung, ob diese Gefahrschaffung erlaubt oder
mißbilligt ist, auf eine Interessenabwägung zwischen Handlungsfreiheit und
Rechtsgüterschutz (bzw. nach der h. M. auf die Figur des einsichtigen Men-
schen) zurückgegriffen, was infra 3, behandelt wird. Dabei können Schwierig-
keiten bei der Auswahl der Kenntnisbasis für die Entscheidung über die Er-
laubtheit oder Mißbilligung einer Gefahr auftreten, wenn man wie hier die Mei-
nung vertritt, daß nicht alle Täterkenntnisse bei Fahrlässigkeitsdelikten stets
eine strafrechtliche Relevanz haben.
b) Unbewußte Fahrlässigkeit
Bei der zweiten Fallkonstellation, bei denen der Handelnde die Tatumstände
oder die Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung gar nicht oder falsch er-
kannt hat, tauchen die wirklichen Komplikationen des Gefahrurteils auf, und es
stellt sich die Frage, welche Wissensbasis angenommen werden sollte. Bei der
unbewußten Fahrlässigkeit besteht in der Regel kein tatsächliches oder kein aus-
reichendes Tatwissen des Handelnden. Daß der Handelnde sich die Tatbestands-
erfüllung überhaupt nicht vorstellt, kann auf unterschiedlichen Gründen beru-
hen: etwas vergessen, nicht an etwas gedacht haben, nur Mitbewußtsein, Rand-
wissen bzw. keine ausreichende Kenntnisse über die Situation oder über den
Umgang mit dem Rechtsgutsobjekt u. a. besitzen. Es kann sich auch um ein
nicht aktualisiertes Sonderwissen handeln, wenn z. B. der Arzt aufgrund eines
ganz speziellen Fortbildungskurses Kenntnisse erwirbt, die er aber im konkreten
Fall nicht aktualisiert.257
In all diesen Fällen geht es im Normalfall um ein „Wissen-Können“, was die
Steuerungskapazität über das Geschehen enorm reduziert, so daß eine rechtliche
Relevanz aufgrund von Tatherrschaft gar nicht in Frage kommen kann. Es wer-
257 So das Verständnis von Schroeder über das Sonderwissen, und zwar bei Fahrläs-
sigkeitsdelikten als nicht aktualisiertes Wissen, vgl. LK-Schroeder, § 16, Rdn. 148.
D. Kategorien zur Begründung der strafrechtlichen Relevanz 253
Auf die Struktur der unbewußten Fahrlässigkeit mit fehlendem Wissen (oder
unzureichender Aufmerksamkeit) des Handelnden um die Tatumstände bzw. um
die vorgenommene Aktivität und damit um die Möglichkeit der Tatbestandsver-
wirklichung könnte der für einige spezielle Fahrlässigkeitskonstellationen ausge-
arbeitete Gedanke der Erkundigungspflichten anwendbar sein. Zwar wird die er-
forderliche Sorgfalt in einigen Fällen in der Erfüllung von Vorbereitungs- und
Informationspflichten vor Ausführung der gefährlichen Handlung gesehen.259
Dabei geht es um eine vorbereitende Aufgabe vor der Vornahme der jeweiligen
Tätigkeit. Allerdings sollte bei der Ausführung dieser Gedanken berücksichtigt
werden, daß die erforderliche Sorgfalt auch darin bestehen kann, nicht nur eine
Vorinformation über die vorzunehmende Aufgabe, sondern überhaupt grundsätz-
liche Kenntnisse über die Situation selbst zum Zeitpunkt der Tat zu erlangen.
So hat der Arzt nicht nur die Erkundigungspflicht, die Krankengeschichte zu
erheben,260 sondern überhaupt die Pflicht, sich Kenntnisse über die aktuelle Si-
tuation des Patienten zu verschaffen und etwa das ärztliche Material und die
Heilmittel bei der Behandlung richtig anzuwenden. Bei der unbewußten Fahr-
lässigkeit wird es in der Regel darum gehen, daß der Handelnde sich nicht aus-
reichende Kenntnisse über die Tatsituation verschafft hat oder daß er nicht ge-
nügend aufmerksam gegenüber bestimmten Tatreizen war. Dabei könnte man
allgemein von Kenntnisverschaffungspflichten261 (bzw. Aufmerksamkeitspflich-
ten) sprechen.
vgl. Burkhardt, a. a. O., S. 122, oder als Zurechnungskriterium, vgl. Kindhäuser, in:
Byrd/Hruschka/Joerden (Hrsg.), Jahrbuch für Recht und Ethik 2 (1994), S. 344 f.
254 § 6 Sonderwissen und Sonderfähigkeiten des Täters
Die Sorgfaltswidrigkeit bei Schaffung einer Gefahr für ein Rechtsgut kann
folglich nicht in einer falschen Einschätzung der – erkannten – Möglichkeit der
Tatbestandsverwirklichung wie bei der bewußten Fahrlässigkeit, sondern in
einer Verletzung von Kenntnisverschaffungspflichten (bzw. Aufmerksamkeits-
pflichten) liegen, wenn der Handelnde die Möglichkeit der Tatbestandsverwirk-
lichung gar nicht erkannt hat und eine solche Pflicht im konkreten Fall besteht.
Beispielsweise können folgende Fragen über die Täterkenntnisse gestellt wer-
den: ob sich der Täter noch Wissen für die konkrete Tat und Tatsituation zusätz-
lich beschaffen mußte, ob er noch sein grundsätzliches Wissen und sein Wissen
über die Tatsituation verbessern mußte, ob er sein bereits vorhandenes techni-
sches Wissen in der Situation anwenden mußte oder ob er das bereits vorhan-
dene Wissen über die Tatumstände auf der Seite lassen und die rechtsguts-
verletzende Handlung vornehmen durfte.
Eine Beurteilung der Gefahrschaffung kann deshalb alleine auf der Basis der
vorhandenen Tätervorstellungen über die Situation und über die Gefahr bei die-
ser Art von Fallkonstellationen nicht vorgenommen werden, weil sie der von der
Verhaltensnorm erwarteten Kenntnisverschaffung nicht entsprechen. Die Gefahr-
schaffung und die Mißbilligung der Gefahr liegen gerade im fehlenden oder
falschen Tatwissen. Darin besteht das Hauptproblem der Beurteilungsmaßstäbe
bei der Fahrlässigkeit (und nicht nur bei vorhandenem Sonderwissen): Die aus
der Sicht des Täters wahrgenommenen Tatumstände würden sich als unschäd-
lich für das Rechtsgut erweisen, und deshalb sind die Sorgfaltsnormen nicht auf
diesen, aus der Sicht des Täters angenommenen Sachverhalt anzuwenden, weil
man andernfalls immer zum unpassenden Ergebnis kommen würde, daß das
Verhalten sorgfaltsgemäß wäre. Die Sorgfaltswidrigkeit besteht in solchen Fäl-
len also in der Verletzung von Kenntnisverschaffungspflichten. Würde man bei-
spielsweise die Tätervorstellungen über die Situation als Beurteilungsgrundlage
annehmen, wenn beispielsweise ein Arzt aufgrund einer unzureichenden Unter-
suchung des Patienten trotz dessen Beschwerden nicht bemerkt, daß dieser an
einer Blinddarmentzündung leidet, müßte man sein Verhalten als sorgfaltsge-
mäß beurteilen, da der Patient nach seiner Vorstellung an keiner akuten Krank-
heit litt. Tätervorstellungen können hier also nicht ohne weiteres als „Beurtei-
lungsbasis“ verwendet werden.
Die Schwierigkeiten bei der Auswahl der Perspektive für die Gefahrbeurtei-
lung bei der Fahrlässigkeit ergeben sich also insbesondere, wenn die – vorhan-
denen – Tätervorstellungen über die Tatsituation anders als die ex ante erkenn-
baren Tatumstände sind, sei es weil dem Täter Tatwissen fehlt oder – auch –
weil er über Sonderwissen verfügt.
D. Kategorien zur Begründung der strafrechtlichen Relevanz 255
Auf der anderen Seite wäre es auch nicht angebracht, von den Tätervorstel-
lungen völlig abzusehen und sie vollständig durch die Kenntniserwartungen zu
ersetzen. Die Kenntnisverschaffungspflichten setzen schon eine gewisse Kennt-
nisbasis voraus. Die Verhaltensnormen gelten für irgendeinen schon vorhande-
nen Sachverhalt,262 und die Tatsachen dieses Sachverhaltes sind auch psychi-
scher Natur, d. h. eine reine normative Bestimmung des zu beurteilenden Sach-
verhaltes würde in einem Zirkelschluß enden.263 So müssen die vom Täter mehr
oder weniger zufällig vorgestellten Tatumstände richtigerweise als Beurteilungs-
gegenstand mit in Betracht gezogen werden, sowohl wenn sie eine aktuelle
bzw. akute Appellfunktion erfüllen (z. B. das verwendete Fahrzeug wurde seit
sehr langer Zeit nicht benutzt bzw. nicht kontrolliert; oder in dem soeben ge-
schilderten Arztfall die Kenntnis der Aussage des Patienten, daß er Beschwer-
den hat), aber auch ganz grundsätzlich, wenn diese Tatumstände weit entfernt
von einer Erkenntnis der relevanten konkreten Gefahrfaktoren liegen (z. B. daß
man sich überhaupt im Straßenverkehr oder bei den Haushaltsaufgaben befin-
det, oder daß sich das Kind im Haus und damit unter der eigenen Aufsicht
befindet). Der Täter muß nämlich nach den ihm bekannten Umständen zum
sorgfältigen Umgang mit dem Rechtsgutsobjekt verpflichtet werden.264 Fallkon-
stellationen, bei denen der Handelnde die grundsätzliche Tatsituation falsch
einschätzt und sich daher die erforderlichen weiteren Kenntnisse nicht ver-
schafft, müßten allerdings fast konstruiert werden, da sie in der Realität kaum
auftauchen. Fährt jemand auf einer normalen Straße und glaubt dabei aufgrund
eines Scherzes eines Anderen irrtümlich, daß er auf einer Formel 1-Rennstrecke
ist, und überfährt er sodann unbewußt eine rote Ampel, handelt er nicht sorg-
faltswidrig, wenn die Straße so inszeniert wurde, daß er keinen weiteren Anlaß
zum Zweifeln an den vorgestellten Tatsachen haben mußte. Hier besteht keine
Pflicht in Verbindung mit den vorhandenen Tatkenntnissen des Handelnden, die
rote Ampel zu erkennen.
Bei der unbewußten Fahrlässigkeit ergibt sich also zusätzlich das Problem,
daß dem Handelnden die relevanten Tatkenntnisse fehlen, aber auch nicht alle:
Oft verfügt er über eine unrichtige Wissensgrundlage, deren Vorhandensein so-
gar „berechtigt“ sein kann, wie der geschilderte Fall der Formel 1-Rennstrecke
262 Ausdrücklich NK-Puppe, vor § 13, Rdn. 145: „Von irgendwelchen vorgegebenen
129 und passim; ähnlich Puppe, Vorsatz und Zurechnung, S. 26, Fn. 59; NK-dies., vor
§ 13, Rdn. 145; dies., Strafrecht AT 1, § 15, Rdn. 39.
264 Vgl. Burkhardt, a. a. O., S. 119 f., ähnlich bezüglich der unbewußten Fahrlässig-
zeigt. Oft ist ferner nicht nur die „Wissensgrundlage“ über die Tatsituation, son-
dern auch das (unrichtige) Wissen über die Tateinzelheiten „berechtigt“, d. h.
der Handelnde irrt über die Tatumstände, es besteht aber für ihn keine Kennt-
nisverschaffungspflicht zum Erwerb des richtigen Tatwissens. Versteht beispiels-
weise eine Krankenschwester eine ärztliche Anordnung falsch265 und gibt es
keine Anhaltspunkte dafür, an dem Verstandenen zu zweifeln, besteht für sie
keine Pflicht, sich über die Richtigkeit der Anordnung zu vergewissern. Ihr un-
richtiges Wissen über die Tatsituation ist deshalb berechtigt. Dies muß bei der
strafrechtlichen Beurteilung miteinbezogen werden und zum Ausschluß des Tat-
bestandselements der Schaffung einer Gefahr und damit insgesamt der Sorg-
faltswidrigkeit führen.
Ansonsten sollte im Regelfall das Prinzip gelten, daß nicht solche Tatum-
stände für die Beurteilung in Betracht gezogen werden, die der Täter bei der
Tat kannte, sondern solche, deren Kenntnis von der Verhaltensnorm erwartet
wird (dies wäre im Konzept der h. M.: die ex ante für einen objektiven Beob-
achter in der Rolle des Täters ersichtlichen Tatumstände), z. B. bestimmte Ein-
zelheiten einer Verkehrssituation, die der Fahrzeugführer nicht bemerkte; oder
die Herzkrankheit eines Patienten, worüber sich der behandelnde Arzt nicht er-
kundigte, obwohl er ein Medikament verschrieb, das für diesen Patient schäd-
lich wirkte. Es fehlt hier nämlich beim Handelnden an ausreichenden Kenntnis-
sen über die Tatumstände, und dies wird ihm gerade vorgeworfen. Das Wissen
kann also eine Rolle bei der Fahrlässigkeit spielen: (1) als Grundlage und zur
Begründung von Kenntnisverschaffungspflichten, da sie nicht ohne weiteres ent-
stehen; (2) mit einer entlastenden Funktion, falls dieses Wissen berechtigt ist;
(3) mit einer belastenden Wirkung bei bestehendem Sonderwissen, falls dessen
Einsatz erwartet wird (zu diesem Punkt vgl. infra, E).
Es kann nun eingewendet werden, daß die Frage, ob das Tatwissen „berech-
tigt“ ist, bereits eine rechtliche Beurteilung bzw. eine Entscheidung über die
Sorgfaltswidrigkeit des Verhaltens erfordert. Das ist auch richtig: Im Fahrlässig-
keitstatbestand geht es letztendlich um die Sorgfaltswidrigkeit, und dabei wer-
den sowohl objektive als auch subjektive Elemente in Betracht gezogen. Hier
wird eben nur die Relevanz beider Aspekte anhand unterschiedlicher Fallkon-
stellationen aufgezeigt.
dern aufgrund des Tätigwerdens (oder Untätigwerdens bei Unterlassen) mit Ver-
letzung der Sorgfaltspflicht beim Umgang mit Rechtsgutsobjekten, sei es durch
Vergessen, Nicht-daran-Denken oder weil der Täter sich nicht das erforderliche
Wissen über die Tatsituation oder über die geschaffene Gefahr bei Ausführung
der Tätigkeit oder in einem früheren Zeitpunkt verschafft oder angewendet hat.
Dies gilt, solange eine Kenntnisverschaffungs-, Kenntnisanwendungs- oder Auf-
merksamkeitspflicht im konkreten Fall für den Handelnden besteht. Hier bezieht
sich also die strafrechtliche Relevanz grundsätzlich nicht auf empirische Gege-
benheiten wie etwa eine vorhandene Tatherrschaft, sondern auf die Verletzung
der Sorgfaltsnormen.
Während die strafrechtliche Haftung wegen Vorsatz oder bewußter Fahrläs-
sigkeit auf einem realen Bewußtseinsphänomen beruht, fundiert die unbewußte
Fahrlässigkeit ihre strafrechtliche Relevanz also grundsätzlich auf der Verlet-
zung einer Pflicht, bei der vom Täter ein „Daran-Denken“ bzw. ein Aktivieren
seines Bewußtseins und seiner Aufmerksamkeit bzw. ein „Wissen-müssen“ bei
bestimmtem Tätigwerden (oder Untätigwerden) verlangt wird. Beim Vorsatz
oder bewußter Fahrlässigkeit ist die Vorstellung der möglichen Tatbestandsver-
wirklichung vorhanden, und dies begründet immer eine größere Tatherrschaft,
als wenn die Tatbestandserfüllung im Bewußtsein gar nicht aktualisiert ist.
Selbst wenn Leib oder Leben eines anderen etwa vom „Nicht-Vergessen“ sei-
tens des Täters abhängt, erreicht die Beziehung des Täters zu seiner Tat und
damit die konkrete Steuerung des Geschehens bis zum Ziel hier den niedrigsten
Grad, so daß dies einen schwächeren Vorwurf begründet, was in der Strafzu-
messung zu berücksichtigen ist.266 Damit sind die Auffassungen abzulehnen,
die davon ausgehen, daß die Unaufmerksamkeit bei der unbewußten Fahrlässig-
keit schwerer als die bewußte Fahrlässigkeit wiege oder sein könnte267 oder daß
sie genauso schwer wäre.268
Ferner bedeutet die Tatsache, daß die dem Täter bekannten Tatumstände Be-
urteilungsgegenstände sind, nicht, daß die Beurteilung selbst nicht objektiv bzw.
„rechtlich“ erfolgen kann.269 Die Begründung der strafrechtlichen Relevanz un-
bewußter Fahrlässigkeit ist nämlich vorwiegend rechtlicher Natur. Dabei wer-
266 Roxin sieht die bewußte Fahrlässigkeit aus anderen Gründen strafwürdiger an als
die unbewußte, so daß sich der Unterschied seiner Meinung nach bei der Strafzumes-
sung auswirken sollte, vgl. Strafrecht AT I, § 24, Rdn. 61. Für einen Überblick zur
Debatte über den Unwertgehalt der unbewußten Fahrlässigkeit vgl. auch a. a. O., Rdn.
59 ff.
267 So die h. M., vgl. Maurach/Zipf, Strafrecht AT II, § 43, Rdn. 121; Stratenwerth,
Strafrecht AT I, § 15, Rdn. 31; NK-Puppe, § 15, Rdn. 13; LK-Schroeder, § 16, Rdn.
121 m. w. N.
268 Vgl. Karlsruhe VRS 35, 365; Tenckhoff, ZStW 88 (1976), 904; Jakobs, Straf-
Rdn. 144 f.; Kuhlen, Fragen, S. 101 ff.; AK-StGB-Zielinski, §§ 15, 16, Rdn. 90, 95.
258 § 6 Sonderwissen und Sonderfähigkeiten des Täters
270 So auch bezüglich der unbewußten Fahrlässigkeit NK-Puppe, § 15, Rdn. 13.
271 Vgl. Struensee, JZ 1987, 62 und supra, § 3 D III.
272 Zum tatbestandslosen Verhalten des übervorsichtigten Handelnden im Rahmen
der bewußten Fahrlässigkeit vgl. z. B. Roxin, Strafrecht AT I, § 24, Rdn. 63; vgl. fer-
ner die Begründungen von Duttge in MünchKommStGB, § 15, Rdn. 120 bei Fn. 578
m. w. N.
D. Kategorien zur Begründung der strafrechtlichen Relevanz 259
Teilweise wird behauptet, daß es keine Pflicht gebe, sich Kenntnis zu ver-
schaffen, sondern nur die Pflicht, die Rechtsgutsverletzung zu vermeiden.273
Dagegen ist einzuwenden, daß es sich nicht um eine selbständige Pflicht han-
delt, die für sich allein eine strafrechtliche Relevanz begründen könnte.274 Es
geht um eine von mehreren denkbaren (Sorgfalts-)Pflichten, die es beim Um-
gang mit strafrechtlich geschützten Rechtsgutsobjekten gibt, um deren Verlet-
zung zu vermeiden.275 Durch die Beschreibung der konkreten Sorgfaltspflichten
wird bestimmt, was der Handelnde konkret machen bzw. unterlassen müßte, um
den Erfolg zu vermeiden. Wurde beispielsweise eine Tätigkeit bereits übernom-
men, entstehen Sorgfaltspflichten, u. a. betreffend den Erwerb bestimmter Tatsa-
chenkenntnisse während ihrer Durchführung. So muß der Arzt die entsprechen-
den Informationen über den Zustand des Patienten für eine richtige Diagnose
einholen oder der Autofahrer, sobald er am Straßenverkehr teilnimmt, seine
Aufmerksamkeit zum Erwerb aller relevanten „Informationen“ (sei es Verkehr-
signale, Reaktionen weiterer Teilnehmer, aber auch des Wagenzustandes usw.)
anspannen.
Fehlen dem Handelnden die Fähigkeiten zur Vermeidung im Zeitpunkt der
Verpflichtung, ist die Sorgfaltspflichtverletzung in einem früheren Moment zu
suchen, ohne daß die Übernahme der Tätigkeit etwas anderes als eine Beschrei-
bung der Sorgfaltspflichtverletzung selbst sein müßte. Zu diesem Problem vgl.
supra, § 6 B II 2 c) cc) (3) (a).
Wann die Gefahr unerlaubt ist, hängt beim Fahrlässigkeitsdelikt nicht vom
individuellen Kriterium der Tatherrschaft ab wie das der Fall bei sicherem Wis-
sen über die Tatbestandsverwirklichung ist, sondern von dem auf alle Norm-
adressaten generell anwendbaren Kriterium der Sorgfaltswidrigkeit, das Rechts-
normen, Regeln der Kunst und den Vertrauensgrundsatz einschließt, und letzt-
endlich von einer generell vorzunehmenden Abwägung, die die Bedürfnisse des
staatlichen Rechtsgüterschutzes, aber auch die Handlungsfreiheit der Bürger in
Betracht zieht. Zwar ist nicht jede Schaffung einer Gefahr mit Vermeidewillen
strafrechtlich relevant. Das Strafrecht muß nämlich Handlungsfreiräume dort
273 Vgl. Jakobs, Studien, S. 83 ff., 151; ders., Strafrecht AT, 9/2, 14; ferner Münz-
berg, Verhalten und Erfolg, S. 244; AK-StGB-Zielinski, §§ 15, 16, Rdn. 88; Struensee,
JZ 1987, 62, Fn. 101; Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte,
S. 11 f., 144 ff.; ders., Festschrift für Eberhard Schmidt, S. 329 f.; Horn, Verbotsirr-
tum und Vorwerfbarkeit, S. 61 ff.; Schöne, Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann,
S. 652 f.
274 So auch Burkhardt, a. a. O., S. 122 m. w. N.
275 Im Ergebnis doch auch Jakobs, Strafrecht AT, 9/2 bei Fn. 3: „. . . letzteres [die
gewähren, wo die Subjekte zwar Gefahren schaffen, aber (1) Verletzungen von
Güter vermeiden wollen und die Vorstellung der Gefahr bzw. der Möglichkeit
der Rechtsgutsverletzung verdrängen, (2) diese Verdrängung im konkreten Fall
nicht unberechtigt bzw. nicht äußerst bedrohlich ist und (3) das Interesse an der
Handlungsfreiheit aus unterschiedlichen (bereits oben in § 2 über Rechtsgüter-
schutz und strafrechtsfreien Raum behandelten) Gründen überwiegt. Eine Inter-
essenabwägung zwischen Rechtsgüterschutz und Handlungsfreiheit sowie ferner
entlastende Zurechnungskriterien sind also Kernpunkte der Erlaubtheit und Un-
erlaubtheit des Risikos beim Fahrlässigkeitsdelikt.276 Erst bei der Frage nach
der Fahrlässigkeitshaftung ist also in der Regel die Interessenabwägung vorzu-
nehmen und sind die Kriterien der objektiven Zurechnung ohne Einschränkun-
gen anzuwenden, die zugleich weitere tatbestandsbegründende oder -ausschlie-
ßende Kategorien bilden. Gegebenenfalls hätte der Vergleich des in Betracht
kommenden Verhaltens mit der Figur des einsichtigen Menschen erst bei dieser
Stufe Relevanz.
Bei der Beurteilung der Unerlaubtheit der Gefahrschaffung muß man wie-
derum berücksichtigen, daß man beim Fahrlässigkeitsdelikt nicht ohne weiteres
von den vom Handelnden vorgestellten Tatumständen ausgehen kann, weil die
Sorgfaltswidrigkeit auch darin bestehen kann, (1) daß der Handelnde, wie be-
reits bei der Gefahrschaffung ausgeführt, etwas nicht wußte, was er nach den
Sorgfaltsregeln bzw. Kenntnisverschaffungspflichten hätte wissen müssen; (2)
daß der Handelnde etwas über die Tatumstände wußte, die zur Rechtsgutsverlet-
zung geführt haben, allerdings die Handlungsfreiheit bei der Interessenabwä-
gung überwiegt, was bei der Fahrlässigkeitsfrage bei bestehendem Wissen der
Möglichkeit der Rechtsgutsverletzung möglich ist. Damit wäre das Verhalten
strafrechtlich nicht relevant. Entlastende Zurechnungskriterien können beim
Fahrlässigkeitsdelikt anwendbar sein und ein Täterwissen umwandeln in ein
rechtlich irrelevantes. Das Wissen gewährt nämlich bei der Fahrlässigkeit in der
Regel keine Steuerungsfähigkeit, so daß ein Wissen über die Tatsituation unter
Umständen aus der Zurechnung ausgegrenzt werden kann. So müßte im Aus-
gangsbeispiel der Fußballspieler nicht besonders auf den anderen Fußballspieler
aufpassen, auch wenn er speziell über dessen Bluterkrankheit Bescheid weiß,
weil der Bluter sich selbst eigenverantwortlich in die Gefahr begibt (ein entspre-
chendes vorsätzliches Verhalten müßte man dagegen als strafrechtlich relevant
ansehen).
Nimmt man die oben genannten Kategorien zur Begründung der Tatbestands-
mäßigkeit an, sind der objektive und der subjektive Tatbestand nur Bestandteile
umfangreicherer, die Tatbestandsmäßigkeit insgesamt begründender Aspekte.
Selbstverständlich ist die Prüfung des objektiven und subjektiven Tatbestandes
bei der Fallbearbeitung eine unersetzbare Hilfe. Allerdings wird sich dabei im
System der h. M. immer die Frage stellen, warum der Vorsatz bzw. das Sonder-
wissen eine Rolle beim objektiven Tatbestand spielt, oder warum gewisse sub-
jektive Elemente beim Fahrlässigkeitsdelikt relevant werden, und dafür müssen
weitere (bereits dargestellte) tatbestandsbegründende Kategorien die richtige
Antwort im Hintergrund liefern.
Als Ergebnis ist festzuhalten, daß das Sonderwissen beim Vorsatzdelikt in der
Regel wie die Konstellation der Schaffung einer Gefahr für ein Rechtsgut mit
sicherem Wissen zu behandeln ist, also eine Tatherrschaft kraft Wissens zu be-
jahen ist, und die strafrechtliche Relevanz des Verhaltens mit Sonderwissen des
Handelnden damit begründet wird. Spezielle theoretische Überlegungen über
die systematische Stellung der rechtlich relevanten subjektiven und objektiven
Elemente sind in diesem Konzept unangebracht, weil das Konzept eine rechtli-
che (und deshalb „objektive“) Gesamtbetrachtung sowohl subjektiver als auch
objektiver realer Gegebenheiten des Geschehens voraussetzt.
Es können sich auch Fallkonstellationen ergeben, bei denen der Handelnde
über Sonderwissen verfügt, dieses Wissen sich aber nur auf die Möglichkeit der
Tatbestandsverwirklichung bezieht. In diesem Fall ist eine rechtsgüterfeindliche
oder zumindest gleichgültige Einstellung des Täters zu fordern. Diese Art von
Fällen wäre dann wie der entsprechende Vorsatzfall zu behandeln; eine straf-
rechtliche Relevanz liegt also genauso vor.
II. Fahrlässigkeitsdelikt
Bei der sog. bewußten, aber auch bei der unbewußten Fahrlässigkeit kann
ebenfalls die Rede von Sonderwissen bzw. von subjektiver Sondererkennbarkeit
für den Handelnden sein. Die Begründung der strafrechtlichen Relevanz von
Fahrlässigkeitskonstellationen mit Sonderwissen bzw. Sondererkennbarkeit für
den Täter bedarf im Vergleich zum Vorsatzdelikt einer gesonderten Erörterung,
vor allem angesichts der unterschiedlichen Fallmöglichkeiten, bei denen dieses
Element auftauchen kann. Eine Tatherrschaft ist bei Vorliegen eines berechtig-
ten Vermeidewillens selbst bei vorhandenem Sonderwissen bzw. Sondererkenn-
262 § 6 Sonderwissen und Sonderfähigkeiten des Täters
barkeit in der Regel nicht anzunehmen, weil dieser bei dieser Art von (fahrläs-
sigen) Konstellationen nicht die Sicherheit der Tatbestandsverwirklichung lie-
fert, sondern ggf. nur (1) die Kenntnis über eine erhöhte Gefahr für das Rechts-
gut oder (2) die Möglichkeit, die Gefahr bei entsprechender Prüfung der Tat-
umstände, für die der Handelnde besonders befähigt ist, zu erkennen. Aus
Sonderwissen entstehen also nicht immer Sorgfaltspflichten, die eine Fahrlässig-
keitshaftung begründen können, sondern es müssen folgende Differenzierungen
vorgenommen werden: Bei der ersten Konstellation wird dann oft eine Fahrläs-
sigkeitshaftung anzunehmen sein, außer wenn das Interesse an der Handlungs-
freiheit aus irgendeinem Grund überwiegt; bei der zweiten müßte danach diffe-
renziert werden, ob für den Handelnden im konkreten Fall eine Kenntnisver-
schaffungs- oder Kenntnisanwendungspflicht besteht. Zur Erläuterung der zwei
Erscheinungsformen des Sonderwissens bzw. Sondererkennbarkeit beim Fahrläs-
sigkeitsdelikt und zur Begründung der strafrechtlichen Relevanz bzw. Nichtrele-
vanz des entsprechenden Verhaltens dienen die folgenden Beispiele:
(1) Das Sonderwissen des Autofahrers, der von der Gefährlichkeit einer Kreuzung
weiß, und trotzdem in die Kreuzung ohne die erforderliche Geschwindigkeitsverrin-
gerung einfährt,277 liefert nicht die Sicherheit über die Tatbestandsverwirklichung
(dann würde es sich sogar um ein Vorsatzdelikt handeln), sondern nur die Kenntnis
über die erhöhte Gefahr bei der Straßenkreuzung. Eine Unerlaubtheit der geschaffe-
nen Gefahr kann nicht alleine auf eine Tatherrschaft kraft Wissens begründet werden.
Der Autofahrer verdrängt hier die Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung, und
seine Verdrängungsbereitschaft ist nicht als äußerst bedrohlich zu bewerten, weil es
sich beim Autofahren um eine an sich erlaubte Tätigkeit handelt und er überdies
selbst sein Leben exponiert. Damit handelt er mit einem „berechtigten“ Vermeide-
willen trotz Wissens um die erhöhte Gefahr. Zugleich besitzt er keine ausreichende
Tatherrschaft, die für sich allein die Unerlaubtheit der geschaffenen Gefahr begrün-
den könnte: Sein Sonderwissen bezieht sich nicht auf die Tatbestandsverwirklichung
selbst. Eine strafrechtliche Relevanz kommt hier also nicht in der Vorsatzform, son-
dern nur aufgrund der Schaffung einer unerlaubten Gefahr für ein Rechtsgut und
der sorgfaltswidrigen Tatbestandsverwirklichung in Frage. Zur Frage nach der Per-
spektive und dem Maßstab für die Gefahrbeurteilung ist auf infra, F über die Un-
rechtssystematik zu verweisen.
(2) Die Ausführungen über den vorstehenden Fall sind allerdings nicht anwendbar
auf den Fall des Fußballspielers, der aufgrund seiner Ausbildung bei entsprechender
Prüfung erkennen könnte, daß der Mitspieler Bluter ist. Der Täter besitzt hier auch
Sonderwissen. Dieses Wissen ist aber nicht aktualisiert wie beim Straßenkreuzungs-
fall, sondern der Fußballspieler hat hier seine Sondererkennbarkeit trotz Möglichkeit
nicht eingesetzt. Es besteht für ihn keine Kenntnisanwendungspflicht, und deshalb
ist sein Verhalten nicht strafrechtlich relevant.
Das Sonderwissen muß also auch bei Fahrlässigkeitsdelikten zu Lasten des
Täters gehen, wenn das Wissen über risikosteigernde Faktoren so aktualisiert
278 LK-Schroeder, § 16, Rdn. 148. Die Idee, daß die Berücksichtigung des Sonder-
wissens dessen Erwerb geradezu behindern würde, wurde von Schroeder bereits in
LK, 9. Aufl., § 59, Rdn. 166, dargelegt.
264 § 6 Sonderwissen und Sonderfähigkeiten des Täters
schaft bei sicherem Wissen mit Erwägungen auch über das Fahrlässigkeitsdelikt
und supra, § 6 D über die Kategorien zur Begründung der strafrechtlichen Rele-
vanz zu verweisen.
der sowohl äußere, als auch psychische Momente aufweist,280 ist es von Bedeu-
tung, daß der Rechtsanwender seinen Blick vom Sachverhalt (mit objektiven
und subjektiven realen Gegebenheiten) zur Verhaltensnorm (und umgekehrt)
„hin- und herwandern“ läßt, wie es die allgemeine Maxime der Rechtsanwen-
dung gebietet.281 Er wird sich dabei fragen müssen, ob das vorhandene Tatwis-
sen des Handelnden ihn zur Verschaffung weiterer Kenntnisse verpflichtet. Für
den Rechtsgüterschutz sind in der Regel bestimmte Standards bezüglich der
Kenntnisverschaffung und des Umgangs mit den Gütern vorausgesetzt, so daß
der Blick des Rechtsanwenders zwischen diesem Standard und den beim Han-
delnden bestehenden Tatkenntnissen schweifen muß, um festzustellen, ob die
Verschaffung weiterer Kenntnisse oder überhaupt ein sorgfältigerer Umgang mit
dem Gut von der Sorgfaltsnorm verlangt wird. Ferner wird sich der Rechts-
anwender mit der Frage beschäftigen müssen, ob ein etwaiges Wissen (bzw.
Sonderwissen) um die Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung beim Fahrläs-
sigkeitsdelikt seine Belastungsfunktion durch die Anwendung entlastender Zu-
rechnungskriterien (wie beispielsweise das erlaubte Risiko, Vertrauensprinzip,
Selbstgefährdung) verliert.
Vorhandenes Täterwissen (Sachverhalt) und rechtliche Erwartungen (Verhal-
tensnorm) sind also in eine interaktive Relation zu setzen, und dies wird allge-
mein für die Systematik der Vorsatz- und der Fahrlässigkeitsdelikte gelten müs-
sen. Bei der rechtlichen Beurteilung einer Tat sind nur solche Umstände heraus-
zufiltern, die eine rechtliche Relevanz haben, und das Wissen des Handelnden
ist eine Tatsache, die genauso wie die äußeren Tatsachen miteinzubeziehen ist.
Ob man bei der Fallprüfung mit dem Täterwissen oder mit den rechtlichen Er-
wartungen anfängt, ist dann eine Frage der Rechtsanwendung auf den konkreten
Fall und sollte nicht in den Vordergrund der Debatte über die Unrechtsstruktur
gerückt werden.
Im Rahmen der Interaktion zwischen Verhaltensnorm und Sachverhalt wäre
die herkömmliche Einteilung in den objektiven und den subjektiven Tatbestand
bei den Vorsatzdelikten und die einseitige Konzentration auf den objektiven
Tatbestand bei den Fahrlässigkeitsdelikten an sich eine große Hilfe beim Sub-
sumtionsprozeß. Allerdings zeigen diese systematischen Strukturen eine Unvoll-
ständigkeit gegenüber den materiellen Problemen, die bei bestimmten Fallkon-
stellationen auftauchen können, wie etwa bei der unbewußten Fahrlässigkeit
und bei vorhandenem Sonderwissen. Deshalb ist eine Gesamtbehandlung der
materiellen Unrechtsfragen in diesen Fällen gegenüber der Anwendung strikter
systematischer Gliederungen vorzuziehen.
1. Problemdarstellung
4. Differenzierende Auffassungen
Fn. 44.
289 Stratenwerth, a. a. O.
268 § 6 Sonderwissen und Sonderfähigkeiten des Täters
hätte.290 Aus den gleichen Gründen dürfe der hervorragende Schwimmer bei
Rettung einer Frau nicht nur durchschnittliche Schwimmkünste aufbieten. Des-
gleichen solle der besonders befähigte Chirurg bei einer riskanten Operation
nicht nur diejenigen Techniken anzuwenden verpflichtet sein, die den Mindest-
standard für jeden bilden.291 So wäre es „unerträglich, wenn man demjenigen,
der aus Gleichgültigkeit gegenüber fremden Rechtsgütern, gemessen an seinen
Fähigkeiten, unsorgfältig handelt, die Begrenzung zugute halten würde, der sol-
che Fähigkeiten bei anderen, aber eben nicht bei ihm, normalerweise unterlie-
gen.“292
Diese Auffassung kommt mit der individualisierenden Lehre in den drei fol-
genden Fällen zur gleichen Lösung wie die generalisierende Lehre: Bei normal
befähigten Autofahrern werden Höchstleistungen in der Regel nicht verlangt.
Dies werde auch nicht von dem besonders Befähigten gefordert, „der das ver-
bleibende Risiko mit geringerer Anstrengung zu meistern vermag.“ Dagegen
werde von dem Anfänger in bestimmten Situationen verlangt, daß er „all seine
Kräfte“ zusammennimmt, obwohl es nur um die üblichen Schwierigkeiten
gehe.293
Diese Ansicht kann man wie folgt zusammenfassen: Generelle Sorgfaltsan-
forderungen könne es nur bei standardisierten Tätigkeiten geben. Gehe es aber
um die Abwendung konkreter Gefahren oder überhaupt um nicht standardisier-
tes Verhalten, könnten immer nur die individuellen Fähigkeiten maßgebend
sein.294
In der funktionalen Lehre von Jakobs ist die Frage nach der Berücksichti-
gung der Sonderfähigkeiten eine Frage der Zuständigkeit des Täters für den
schadensträchtigen Umstand. Beispielsweise müsse ein Forscher seine Sonder-
fähigkeiten für die Risiken im Rahmen seiner Tätigkeit einsetzen, während ein
Student des Bauwesens nicht dazu verpflichtet sei, wenn er in den Semester-
ferien als Handlanger auf einer Baustelle arbeite. Falls der Student vorsätzlich
in Kenntnis des Risikos gehandelt hat, könne er wiederum nur wegen unterlas-
sener Hilfeleistung (§ 323c StGB) verantwortlich gemacht werden.295 Deshalb
ist für Jakobs die Frage nach der Berücksichtigung der Sonderfähigkeiten ein
290 Stratenwerth, a. a. O.
291 Stratenwerth, Strafrecht AT I, § 15, Rdn. 14.
292 Stratenwerth, Festschrift für Jescheck, S. 301.
293 Stratenwerth, a. a. O., S. 300.
294 Stratenwerth, a. a. O., S. 301 f.
295 Jakobs, Strafrecht AT, 9/11, 7/50; ders., Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann,
S. 283 ff., 286; vgl. ferner ders., Norm, Person, Gesellschaft, S. 96 ff.
299 Vgl. Jakobs, Strafrecht AT, 29/14.
300 A. a. O., 15/12.
301 Näher a. a. O., 15/12.
302 Jakobs, Strafrecht AT, 7/49 f.; ders., Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann,
286 f.
270 § 6 Sonderwissen und Sonderfähigkeiten des Täters
weil der Täter seine Sonderfähigkeiten einsetzen könnte, aber dies nicht wolle.
Demgegenüber handele nicht sorgfaltswidrig der Täter, der in der Regel Sonder-
fähigkeiten besitze, im konkreten Moment es aber unabsichtlich nicht schaffe,
sie einzusetzen.303
Prinzipiell geht Schünemann von der Idee der Sorgfaltsmaßstäbe für die All-
gemeinheit aus: Zwar dürften die meisten Menschen in der Lage sein, mehr als
die verkehrserforderliche Sorgfalt aufzuwenden; die Rechtsordnung fordere aber
keine äußerste, sondern nur die unter besonnenen Menschen erforderliche Sorg-
falt als Ergebnis einer Interessenabwägung, wonach gewisse maßvolle Risiken
im Interesse der Zivilisation und des „Fortschritts“ in Kauf genommen werden.
Eine Ausnahme würden die Sonderfähigkeiten bilden, die eine technische „In-
novation“ zur Folge hätten.304 Schünemann differenziert also bei der Berück-
sichtigung der Sonderbegabung zwischen zwei verschiedenen Fallkonstellatio-
nen:
(1) Sonderfähigkeiten, die keinen neuen Sorgfaltsmaßstab kreieren, weshalb
ihre Nicht-Einsetzung noch im Bereich des sozialverträglichen Risikos bleibt:
Nutzt das besonders fähige Subjekt seine Sonderbegabung bei einem von der
Gesellschaft in Kauf genommenen Risiko nicht aus, akzeptiert Schünemann die-
ses Verhalten als sorgfältig. Als Beispiel für ein von der Gesellschaft in Kauf
genommenes Risiko bietet er eine fiktive richterliche Konkretisierung des
Rechtsfahrgebots in einem Höchstabstand von 50 cm vom rechten Straßenrand
an: Halte der besonders fähige Fahrer einen Abstand von 50 cm und nicht von
für ihn auch möglichen 30 cm ein, handele er dennoch sorgfältig.305
(2) Sonderfähigkeiten, die einen neuen Sorgfaltsmaßstab kreieren
Anhand des Beispiels eines Chirurgen mit Sonderbegabung zeigt Schüne-
mann, wie die Entwicklung einer neuen Technik oder Methode in einem Fach-
bereich wie dem der Medizin eine Änderung der objektiven Sorgfaltsregeln her-
vorbringen könnte, an denen sich alle in diesem Bereich Tätigen anpassen
müssten. Würden die Ärzte die neu entwickelte Methode nicht beherrschen, wä-
ren sie aufgrund der fehlenden individuellen Vermeidbarkeit bei der Ausführung
der Handlung entschuldigt. Jedoch seien sie wegen der Übernahme der Tätig-
keit verantwortlich, außer wenn Rechtfertigungsgründe wie Notstand oder Ein-
willigung greifen.306
303 Mir Puig, Derecho Penal, PG, Barcelona, § 11, Rdn. 42 bis 47.
304 Schünemann, JA 1975, 514 f.
305 Schünemann, Festschrift für Schaffstein, S. 166.
G. Einsatz von Sonderfähigkeiten 271
Daß der Täter das Risiko in beiden Konstellationen, also im Fall des Auto-
fahrers und des Chirurgen, zu verringern vermag, wird von Schünemann bejaht.
Die von ihm vorgenommene Differenzierung beruht vielmehr auf kriminalpoliti-
schen Gründen: Es würde ansonsten keine allgemeine Straßenverkehrsordnung
existieren, sondern eine unübersehbare Vielzahl individueller Verkehrsregeln,
und dies würde den Vertrauensgrundsatz stark beeinträchtigen und zudem große
Schwierigkeiten beim forensischen Nachweis der Sonderfähigkeiten liefern.
Deshalb würden keine neuen Sorgfaltsregeln bei Sonderfähigkeiten im Straßen-
verkehr entstehen.307
306 Schünemann, Festschrift für Schaffstein, S. 166 f.; ders., JA 1975, 515.
307 Schünemann, Festschrift für Schaffstein, S. 166 f.; ders., JA 1975, 514 f. Kri-
tisch Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben, StGB, § 15, Rdn. 140.
308 In diesem Abschnitt wird nur auf durch die Entwicklung perfektionierbare Tech-
niken und Methoden Bezug genommen und nicht auf außerordentliche Fälle von Son-
derbegabung, die nur bei einem bestimmten Subjekt gegeben sein kann. Beispiel dafür
wäre ein Fall eines Sportlers, der einen Rekord in einer Olympiade erreicht. Mit solch
außerordentlichen Fällen von Sonderbegabung kann man zweifellos keine Änderung
irgendeines Sorgfaltsmaßstabes für die Allgemeinheit begründen.
272 § 6 Sonderwissen und Sonderfähigkeiten des Täters
müssen (zum Problem siehe infra, III), und zweitens, ob die Sonderbegabung
neue Sorgfaltsanforderungen für die Allgemeinheit schafft. Die zweite Frage ist
richtigerweise zu verneinen, da die Übertragung einer Sonderbegabung auf den
Rest der Verkehrsteilnehmer, vor allem auf solche, die den Führerschein bereits
erworben haben, unrealistisch wäre.
Dagegen entfalten sich die Sorgfaltsmaßstäbe im medizinischen Bereich auf
eine ganz andere Weise. Der Regelkatalog ist nicht so konkret umrissen wie der
des Straßenverkehrs, und neue Entwicklungen ändern in der Regel die alten
Methoden. Was von Ärzte erwartet werden kann, ist allerdings einerseits davon
abhängig, mit welcher Schwierigkeit die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse
an andere Ärzte weitergegeben werden können. Es geht also darum, wie die
Regeln der Anerkennung der jeweiligen Sorgfaltsmaßstäbe ausgestaltet sind,
was für jedes Fach oder Kunst in jedem Land anders sein kann. Diese wären
Regeln, nach denen eine Sorgfaltsanforderung anerkannt wird oder eine neue
die alte ersetzt. Ein wesentlicher Maßstab für die Bestimmung solcher Regeln
bildet die wissenschaftliche Methode. Andererseits wird die Bestimmung der
Sorgfaltsmaßstäbe vom Standardisierungsgrad des entsprechenden Bereiches be-
einflußt. Die Standardisierung tritt nun deutlicher im Straßenverkehr zu Tage als
im Bereich der Medizin. Zugleich sind die heutigen Standards im Bereich der
Medizin gewiß bestimmter als in früheren Zeiten oder in anderen Gesellschaf-
ten, in denen die Übertragung der Regeln der Medizin schwieriger war oder ist.
Ein Verlust der heute erreichten Standardisierung kann allerdings nicht ausge-
schlossen werden, z. B. wenn die Spezialisierung fast einen rein individuumsbe-
zogenen Grad erreichen sollte oder wenn neue, z. B. im Rahmen des Universi-
tätsstudiums gesetzte Standards eine äußerst schnelle Entwicklung durchmachen
sollten und eine Verfolgung der neuen Regeln nicht praktikabel und damit nicht
zumutbar wäre.
309 Vgl. zur Problematik des Nachweises persönlichen Erkenntnis- und Urteilsver-
mögens des Täters supra, § 6 B II 2 d) und vor allem Volk, GA 1973, 167 ff.; Jakobs,
Teheran-Beiheft zur ZStW 86 (1974), 22 f.; Herzberg, Die Verantwortung für Arbeits-
schutz, S. 170; Neumann, Zurechnung und „Vorverschulden“, S. 194 f.
G. Einsatz von Sonderfähigkeiten 273
sondern es sind wie auch im Bereich der Medizin mehrere Faktoren zu berück-
sichtigen. Diese Faktoren greifen wie in der Kybernetik ineinander: Die er-
kannte Gefahr wirkt auf das Verhalten; der Handelnde muß sich auf die Ver-
meidung des unerwünschten Erfolges mit einer negativen Rückmeldung einstel-
len. Die Parallele zur Kybernetik wurde bereits bei den Untersuchungen über
allgemeines fahrlässiges Verhalten gezogen: Die Straßenbedingungen ver-
schlechtern sich, der Fahrer wird unsicher und fährt dann langsamer und vor-
sichtiger; wenn sich die Verkehrssituation wieder verbessert, fährt er wieder
schneller. Die Verhaltensnorm besteht hier also nicht aus einfachen Verboten
oder Geboten, sondern es ergibt sich ein Kreisprozeß.
§ 7 Resumée
A. Problemdarstellung
B. Zusammenfassende Thesen
I. Sonderwissen als materielles, nicht nur
systematisches Problem
Der Rahmen zur Ermittlung der Relevanz des Täterwissens muß richtiger-
weise von der Idee des Rechtsgüterschutzes als Aufgabe des Strafrechts, des
ultima-ratio-Prinzips und der generalpräventiven Wirkung der Strafrechtsnor-
men gesteckt werden (§ 4 A). Das Interesse am Schutz von Rechtsgütern kann
durch das Strafrecht nicht ohne Einschränkungen gewahrt werden, d. h. es be-
stehen strafrechtsfreie Räume, deren Bestimmung eine schwierige Aufgabe je-
der Zurechnungslehre darstellt. Für die Festlegung des strafrechtlich relevanten
Verhaltens kommt man also ohne eine allgemeingültige, nicht nur auf den kon-
kreten Fall anwendbare Abwägung zwischen dem staatlichen Interesse am
Rechtsgüterschutz und dem Interesse an der Gewährung von Handlungsfreiheit
nicht aus. Dabei spielen eine wichtige Rolle die Aspekte der sozialen Nützlich-
keit, Erwünschtheit oder Notwendigkeit des in Frage kommenden Verhaltens,
d. h. hauptsächlich der Kosten dessen Nichtvornahme. Zu deren Konkretisierung
dienen weitere Kriterien, wie der Wert des bedrohten Rechtsgutes, die Größe
der Gefahr, die Selbstschutzmöglichkeiten des Opfers bzw. der Grad der Frei-
B. Zusammenfassende Thesen 279
willigkeit des eingegangenen Risikos, die Tatsache, daß der Täter das Risiko
selbst eingeht, die Risikogewöhnung der Gesellschaft bezüglich bestimmter
Handlungen, die Unbekanntheit des Risikos, die gesellschaftliche Wahrnehmung
bereits vorhandener oder neuer Risiken, die Herrschaft des Täters über das Op-
fer, der Zeitpunkt des Eintritts der Folgen, die Verfügbarkeit von Sicherheitsvor-
kehrungen, der Grad der Beeinflußbarkeit und Kontrollierbarkeit der Gefahr, das
Interesse des Täters an Handlungsfreiheiten bei bestimmten Fallkonstellationen,
usw. Das Bedürfnis nach Handlungsfreiheit kann also nicht nur aus quantitati-
ven, sondern auch aus qualitativen Gesichtspunkten zurücktreten, weil eine rein
quantitative Beurteilung nicht alle Aspekte bei der rechtlichen Werteinschätzung
berücksichtigen kann (§ 4 B). Damit zeigt sich die Interessenabwägung als ein
flexibles und wirklichkeitsbezogenes Kriterium für die Setzung von Untergren-
zen strafbaren Verhaltens. Demgegenüber werden bei der Anwendung der Figur
des einsichtigen Menschen keine Kriterien etabliert, die auf die Vielfalt der
realen Fallkonstellationen im Einzelnen anzuwenden wären. Es handelt sich nur
um eine ideale Maßfigur, deren Komponenten im Dunkeln bleiben und die des-
halb Willkür hervorrufen können (§ 4 C).
Bei einem vorsätzlichen Verhalten kann allerdings keine Rede von Hand-
lungs- und Entfaltungsfreiheiten der Bürger sein und damit findet eine solche
Kosten-Nutzen-Saldierung zur Abgrenzung von Freiheitssphären beim Vorsatz-
delikt anders als bei Verhaltensweisen mit Vermeidewillen keinen Platz (§ 5 B).
Folglich wird hier die verbreitete Auffassung (§ 3 C) abgelehnt, nach der die
Zurechnungskriterien für Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikte stets gleichlaufen.
Es leuchtet nämlich eine Gewährung von strafrechtsfreien Handlungssphären
bei der wissentlichen bzw. absichtlichen Schaffung von Risikofaktoren nicht
ein. Dabei überwiegt die Rechtsgüterschutzfunktion des Strafrechts das Inter-
esse der Bürger an Handlungsfreiheiten. Das Interesse des Vorsatztäters an sei-
ner Handlungsfreiheit kann nach einer (straf-)rechtlichen Wertung nicht respek-
tiert werden, weil die (von ihm erkannte, ggf. beherrschte oder zumindest als
einziges verfolgte) Beeinträchtigung von Rechtsgütern nach dem allgemeinen
Schädigungsverbot (neminem laede) zu vermeiden ist (§ 5 B). Dabei müßte al-
lerdings zwischen strafrechtlich relevanten und nicht relevanten Verletzungsab-
sichten des Täters differenziert werden, um nicht ein reines Gesinnungsstraf-
recht zu konstituieren – hier wird aber nicht auf die Idee der Gewährung von
Handlungsfreiheiten zurückgegriffen (§ 5 C I).
Der mit sicherem Wissen handelnde Täter kennt die Sozialschädlichkeit des
eigenen Verhaltens und damit besitzt er Tatherrschaft über das Opfer und das
Geschehen bzw. steuert das Geschehen. Diese gegenüber Fahrlässigkeitstätern
280 § 7 Resumée
Andererseits geht es bei diesem Ansatz auch nicht darum, den subjektiven
Tatbestand gegenüber dem objektiven Tatbestand in den Vordergrund zu stellen,
sondern darum, die Elemente festzulegen, die eine rechtliche Relevanz unter
dem Blickwinkel des Rechtsgüterschutzes (mit Berücksichtigung tolerabler
Handlungsfreiheiten) aufweisen. Damit ergibt sich die rechtliche Mißbilligung
einer Gefahrschaffung nicht nur aus der Berücksichtigung objektiver, sondern
1 Im übrigen siehe die Zusammenfassung der Kritik an Jakobs infra, VII, sowie
auch subjektiver Aspekte. Daß objektive oder subjektive Elemente für die tatbe-
standliche Zurechnung rechtlich relevant sein können, beruht auf der strafrecht-
lichen Funktion des Rechtsgüterschutzes, unter Umständen auch unter Einbezie-
hung der strafrechtlichen Handlungsfreiräume, auf den Bedürfnissen der Gene-
ralprävention und insgesamt auf den Zwecken des Strafrechts und findet eine
Konkretisierung in rechtlichen Kategorien wie die oben genannte Tatherrschaft
kraft sicheren Wissens, aber auch folgenden (§ 6 D): a) eine rechtsgüterfeindli-
che oder zumindest gleichgültige Einstellung gegenüber der Rechtsgutsverlet-
zung bei Fehlen sicheren Wissens (der sog. dolus eventualis) oder b) die Sorg-
faltswidrigkeit bei Fahrlässigkeitsdelikten mit Berücksichtigung von Handlungs-
freiräumen aufgrund einer Kosten-Nutzen-Rechnung bei der Beurteilung von
Risikoschaffungen.
Neben dem sicheren Wissen begründet nur die Kenntnis der Möglichkeit der
Tatbestandsverwirklichung zwar noch keine Tatherrschaft, verdient aber Berück-
sichtigung aus der Perspektive der Vorsatzhaftung, weil Wissen ein Machtfaktor
ist, der eine wesentliche Relevanz zur Bejahung einer Vorsatzstrafbarkeit besitzt.
Dieses Erkennen kann allerdings bei vorhandenem – berechtigtem (vgl. sogleich
supra) – Vermeidewillen nur Fahrlässigkeit begründen, weil die Möglichkeits-
kenntnis dadurch gewissermaßen kompensiert wird. Deshalb ist für die Bejahung
einer Vorsatzstrafbarkeit beim Erkennen der bloßen Möglichkeit der Tatbe-
standserfüllung zusätzlich eine rechtsgüterfeindliche oder zumindest -gleich-
gültige Einstellung gegenüber der Rechtsgutsverletzung zu fordern. Beim Feh-
len des sicheren Wissens ist also ein Verhalten vorsätzlich, wenn die innere Ein-
stellung des Täters zur Tatbestandsverwirklichung eine dem Vorsatzdelikt
typische Haltung gegenüber der Rechtsgutsverletzung kennzeichnet. Die innere
Einstellung gegenüber der Rechtsgutsverletzung (d. i. das Subjektive bei der
Wollensseite) ist allerdings als solche nicht gleich als Vorsatz zu beurteilen
bzw. nicht jede Willensbetätigung ist im Sinne einiger Ansätze der Willenstheo-
rien rechtlich relevant. Sie gilt nur als Gegenstand der rechtlichen Beurteilung
und dabei als Indiz des Vorhandenseins einer aus rechtlicher Sicht negativen
Einstellung gegenüber dem Rechtsgut (d. i. das Objektive bei der Wollensseite)
[§ 5 A III; § 5 C II 2 a) cc) (1) (b); § 6 D II].
Problematisch ist, wenn die innere Einstellung in einem Verdrängungsprozeß
besteht, in dem der Handelnde die Sozialschädlichkeit des eigenen Verhaltens
als doch nicht so immanent bewertet. Dabei wäre die Rechtsgutsverletzung für
den Täter unerwünscht, aber sein Interesse an der Vornahme der Handlung
übermächtig. Zu dieser subjektiven Seite bzw. dieser Tätereinstellung bezüglich
der möglichen Rechtsgutsverletzung kommt als objektive Seite die Beurteilung
282 § 7 Resumée
Wann die Gefahr unerlaubt ist, hängt beim Fahrlässigkeitsdelikt nicht vom
individuellen Kriterium der Tatherrschaft bzw. von einer erhöhten Steuerung
des Geschehens kraft Wissens ab, wie das der Fall bei sicherem Wissen über
die Tatbestandsverwirklichung ist, sondern von dem auf alle Normadressaten
generell anwendbaren Kriterium der Sorgfaltswidrigkeit, das Rechtsnormen, Re-
geln der Kunst und den Vertrauensgrundsatz einschließt, und letztendlich von
einer generell vorzunehmenden Abwägung, die die Bedürfnisse des staatlichen
Rechtsgüterschutzes, aber auch die Handlungsfreiheit der Bürger in Betracht
zieht. Bei der Beurteilung der Unerlaubtheit der Gefahrschaffung muß man be-
rücksichtigen, daß man beim Fahrlässigkeitsdelikt nicht ohne weiteres von den
vom Handelnden vorgestellten Tatumständen ausgehen kann, weil die Sorgfalts-
widrigkeit auch darin bestehen kann, (1) daß der Handelnde etwas nicht wußte,
was er nach den Sorgfaltsregeln bzw. Kenntnisverschaffungspflichten hätte wis-
sen müssen [auch wenn die Kenntnisverschaffungspflichten eine gewisse Kennt-
nisbasis voraussetzen; speziell zur Relevanz der „berechtigten“ oder „unbe-
rechtigten“ unrichtigen Wissensgrundlage des Täters bei der sog. unbewußten
Fahrlässigkeit vgl. § 6 D III 2 b), insbes. cc)]; oder (2) daß der Handelnde et-
was über die Tatumstände wußte, die zur Rechtsgutsverletzung geführt haben,
allerdings die Handlungsfreiheit bei der Interessenabwägung überwiegt, was bei
der Fahrlässigkeitsfrage bei bestehendem Wissen der Möglichkeit der Rechts-
gutsverletzung möglich ist. Damit wäre das Verhalten strafrechtlich nicht rele-
vant. Entlastende Zurechnungskriterien können beim Fahrlässigkeitsdelikt also
anwendbar sein und ein Täterwissen umwandeln in ein rechtlich irrelevantes.
Das Wissen gewährt nämlich bei der Fahrlässigkeit in der Regel keine Steue-
B. Zusammenfassende Thesen 283
rungsfähigkeit, so daß ein Wissen über die Tatsituation unter Umständen aus
der Zurechnung ausgegrenzt werden kann (§ 6 D III, insbes. 1 und 3).
Nimmt man die oben genannten Kategorien zur Begründung der Tatbestands-
mäßigkeit an, sind der objektive und der subjektive Tatbestand nur Bestandteile
umfangreicherer, die Tatbestandsmäßigkeit insgesamt begründender Aspekte.
Selbstverständlich ist die Prüfung des objektiven und subjektiven Tatbestandes
bei der Fallbearbeitung eine unersetzbare Hilfe. Allerdings wird sich dabei im
System der h. M. immer die Frage stellen, warum der Vorsatz bzw. das Sonder-
wissen eine Rolle beim objektiven Tatbestand spielt, oder warum gewisse sub-
jektive Elemente beim Fahrlässigkeitsdelikt relevant werden, und dafür müssen
weitere tatbestandsbegründende Kategorien wie die vorstehend dargestellten die
richtige Antwort im Hintergrund liefern (§ 6 E I).
Damit ist bereits die Grundlage geschaffen, die direkt zur Untersuchung des
Problems des Sonderwissens führt. Die in den ersten Teilen der Arbeit ausge-
führten Themen der Untergrenzen strafbaren Verhaltens und des Vorsatzes – vor
allem bei sicherem Wissen – enthalten bereits in sich die Antwort auf das Pro-
blem des Sonderwissens. Dabei zeigt sich die Erforderlichkeit einer unterschied-
lichen Behandlung dieses Themas bei Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikten, weil
die Zurechnungskriterien als Untergrenzen strafbaren Verhaltens nach der hier
vertretenen Auffassung ebenfalls unterschiedlich zu bestimmen sind.
Das Sonderwissen beim Vorsatzdelikt ist nämlich in der Regel wie die Kon-
stellation der Schaffung einer Gefahr für ein Rechtsgut mit sicherem Wissen zu
behandeln, also eine Tatherrschaft kraft Wissens zu bejahen, und damit wird die
strafrechtliche Relevanz des Verhaltens mit Sonderwissen des Handelnden be-
gründet. Spezielle theoretische Überlegungen über die systematische Stellung
der rechtlich relevanten subjektiven und objektiven Elemente sind in diesem
Konzept unangebracht, weil das Konzept eine rechtliche (und deshalb „objek-
tive“) Gesamtbetrachtung sowohl subjektiver als auch objektiver realer Gege-
benheiten des Geschehens voraussetzt.
Es können sich auch Fallkonstellationen ergeben, bei denen der Handelnde
über Sonderwissen verfügt, dieses Wissen sich aber nur auf die Möglichkeit der
Tatbestandsverwirklichung bezieht. In diesem Fall ist eine rechtsgüterfeindliche
oder zumindest gleichgültige Einstellung des Täters zu fordern. Diese Art von
Fällen wäre dann wie der entsprechende Vorsatzfall zu behandeln; eine straf-
rechtliche Relevanz liegt also genauso vor (§ 6 E I).
Demgegenüber ist eine Tatherrschaft bei Vorliegen eines berechtigten Vermei-
dewillens selbst bei vorhandenem Sonderwissen bzw. Sondererkennbarkeit in der
284 § 7 Resumée
Regel nicht anzunehmen, weil dieser bei dieser Art von (fahrlässigen) Konstella-
tionen nicht die Sicherheit der Tatbestandsverwirklichung liefert, sondern ggf.
nur (1) die Kenntnis über eine erhöhte Gefahr für das Rechtsgut, oder (2) die
Möglichkeit, die Gefahr bei entsprechender Prüfung der Tatumstände, für die der
Handelnde besonders befähigt ist, zu erkennen. Aus Sonderwissen entstehen also
nicht immer Sorgfaltspflichten, die eine Fahrlässigkeitshaftung begründen kön-
nen, sondern es müssen folgende Differenzierungen vorgenommen werden: Bei
der ersten Konstellation wird dann oft eine Fahrlässigkeitshaftung anzunehmen
sein, außer wenn das Interesse an der Handlungsfreiheit aus irgendeinem Grund
überwiegt. Das Sonderwissen muß zu Lasten des Täters gehen, wenn das Wissen
über risikosteigernde Faktoren so aktualisiert ist, daß eine Sorgfaltspflicht zur
Vermeidung rechtsgutsverletzender Folgen entsteht bzw. der Schutz von Rechts-
gütern die Handlungsfreiheit überwiegt. Bei der zweiten Konstellation müßte da-
nach differenziert werden, ob für den Handelnden im konkreten Fall eine Kennt-
nisverschaffungs- oder Kenntnisanwendungspflicht besteht: Besitzt der Han-
delnde kein tatsächliches Wissen über risikosteigernde Faktoren, sondern könnte
er dieses Wissen nur – aufgrund des Sonderwissens – erwerben, besteht für ihn
nicht immer die Pflicht, sich dieses Wissen zu verschaffen. So ist beispielsweise
ein Fußballspieler mit medizinischen Kenntnissen zur Prüfung der Blutereigen-
schaft eines Mitspielers nicht verpflichtet. Genauso sind ein Gastgeber oder ein
Restaurantführer nicht verpflichtet, sich über die körperlichen Beschwerden ihrer
Gäste beim Verzehr bestimmter Lebensmittel zu erkundigen, auch wenn sie dazu
aufgrund spezieller Kenntnisse in der Lage gewesen wären. Handelt es sich also
nicht um ein tatsächliches, sondern um ein „Könnte-Wissen“ (Wissen-Können)
im Rahmen der Fahrlässigkeitsdelikte, sind Differenzierungen bei der Entschei-
dung über die strafrechtliche Relevanz vorzunehmen. Dies zeigt die schwächere
Wirkungskraft des Sonderwissens bzw. der Sondererkennbarkeit beim Fahrlässig-
keits- gegenüber dem Vorsatzdelikt, bei dem das Wissen an sich ein Machtfaktor
ist und immer die Tatherrschaft begründet (§ 6 E II).
Geht man wie in dieser Arbeit bei Fahrlässigkeitsdelikten einerseits von der
Allgemeinheit der Sorgfaltsnormen, andererseits von einer Objektivität des Ur-
teils über einen Sachverhalt und von einem zu bewertenden Sachverhalt aus,
der sowohl äußere, als auch psychische Momente aufweist, ist es von Bedeu-
tung, daß der Rechtsanwender seinen Blick vom Sachverhalt (mit objektiven
und subjektiven realen Gegebenheiten) zur Verhaltensnorm (und umgekehrt)
„hin- und herwandern“ läßt, wie es die allgemeine Maxime der Rechtsanwen-
dung gebietet. Er wird sich dabei fragen müssen, ob das vorhandene Tatwissen
des Handelnden ihn zur Verschaffung weiterer Kenntnisse verpflichtet. Für den
Rechtsgüterschutz sind in der Regel bestimmte Standards bezüglich der Kennt-
nisverschaffung und des Umgangs mit den Gütern vorausgesetzt, so daß der
Blick des Rechtsanwenders zwischen diesem Standard und den beim Handeln-
den bestehenden Tatkenntnissen schweifen muß, um festzustellen, ob die Ver-
schaffung weiterer Kenntnisse oder überhaupt ein sorgfältigerer Umgang mit
dem Gut von der Sorgfaltsnorm verlangt wird. Ferner wird sich der Rechts-
anwender mit der Frage beschäftigen müssen, ob ein etwaiges Wissen (bzw.
Sonderwissen) um die Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung beim Fahrläs-
sigkeitsdelikt seine Belastungsfunktion durch die Anwendung entlastender Zu-
rechnungskriterien (wie beispielsweise das erlaubte Risiko, Vertrauensprinzip,
Selbstgefährdung) verliert.
Vorhandenes Täterwissen (Sachverhalt) und rechtliche Erwartungen (Verhal-
tensnorm) sind also in eine interaktive Relation zu setzen, und dies wird allge-
mein für die Systematik der Vorsatz- und der Fahrlässigkeitsdelikte gelten müs-
sen. Bei der rechtlichen Beurteilung einer Tat sind nur solche Umstände heraus-
zufiltern, die eine rechtliche Relevanz haben, und das Wissen des Handelnden
ist eine Tatsache, die genauso wie die äußeren Tatsachen miteinzubeziehen ist.
Im Rahmen der Interaktion zwischen Verhaltensnorm und Sachverhalt wäre
die herkömmliche Einteilung in den objektiven und den subjektiven Tatbestand
bei den Vorsatzdelikten und die einseitige Konzentration auf den objektiven
müßte also aus der Täterperspektive geschehen und die allgemeine Wissensbasis und
Wissenskräfte des Täters müßten berücksichtigt werden, wenn man die generalpräven-
tiven Bedürfnisse und die Bedürfnisse der Normbildung einhalten möchte und solange
der Besitz einer solchen Wissensbasis selbst nicht vorwerfbar ist bzw. solange die Ver-
schaffung weiterer Situationskenntnisse von der Verhaltensnorm nicht erwartet wird.
Ohne diese Anknüpfung an das reale Täterwissen als Ausgangspunkt würde die Fest-
legung der zu bewertenden Tatsituation (Sachverhalt) und der Erkenntniskräfte des Tä-
ters auf diejenige Situation, die ein einsichtiger Mensch wahrgenommen hätte, und auf
diejenige Erkenntniskapazität, die er besitzen würde, auf einen Zirkelschluß hinauslau-
fen, weil das Fahrlässigkeitsurteil auf einen selbst normativ bestimmten Gegenstand
bezogen würde. Statt dessen kann die „Maßfigur“ erst zur Bestimmung der rechtli-
chen Relevanz eines vorhandenen oder fehlenden Täterwissens verwendet werden, was
der normalen Methode der Rechtsanwendung, d. h. der Anwendung der Norm auf ei-
nen realen Sachverhalt, entsprechen würde.
286 § 7 Resumée
Tatbestand bei den Fahrlässigkeitsdelikten an sich eine große Hilfe beim Sub-
sumtionsprozeß. Allerdings zeigen diese systematischen Strukturen eine Unvoll-
ständigkeit gegenüber den materiellen Problemen, die bei bestimmten Fallkon-
stellationen auftauchen können, wie etwa bei der unbewußten Fahrlässigkeit
und bei vorhandenem Sonderwissen. Deshalb ist eine Gesamtbehandlung der
materiellen Unrechtsfragen in diesen Fällen gegenüber der Anwendung strikter
systematischer Gliederungen vorzuziehen (§ 6 F).
(§ 3 C V 1): Erstens ist die Rechtswissenschaft ohne den Bezug zur Wirklich-
keit, zu externen Zwecken und ohne die Möglichkeit der Bestätigung oder
Falsifizierbarkeit ihrer Elemente durch empirische Untersuchungen kaum vor-
stellbar. Zweitens kann die soziologische (und damit externe) Erklärung des
Rechtssystems (d. i., daß die Normen und die Strafe zur Bestätigung der gesell-
schaftlichen Identität durch Erwartungssicherung dienen würden) nicht vom
Rechtsanwender bei der Rechtsanwendung zu eigen gemacht werden, wie es
von Luhmann selbst erkannt wird. Die rechtliche Begründung darf nicht in ei-
ner soziologischen Perspektive wurzeln, sie muß von einem anderen Standpunkt
aus argumentieren, der die Teilnehmerperspektive berücksichtigt. Die externe
Beobachtung vermittelt die Motive der Normanerkennung und Normbefolgung
nicht, vor allem nicht die Gründe der Legitimität des vom Rechtsteilnehmer
akzeptierten Rechtssystems. Drittens ist die Nicht-Festlegung auf Legitimations-
gründe bzw. die Reduktion der wissenschaftlichen Bestrebungen auf eine bloße
(„empiriefreie“ und „wertfreie“) Beschreibung des Vorfindlichen in einem Be-
reich wie dem Strafrecht, wo die härtesten staatlichen Mitteln gegenüber dem
Individuum in Einsatz gebracht werden, nicht hinzunehmen. Die Zuspitzung der
Anwendung der Rollentheorie auf das Strafrecht und zugleich ein Musterbei-
spiel eines legitimationslosen Strafrechts bildet die nicht mal im Ansatz akzep-
table Kategorie von Jakobs eines garantielosen „Feindstrafrechts“. Viertens
bleibt es fraglich, ob das System eine reine Abstraktheit und Unabhängigkeit
von einer empirischen Grundlage aufweist oder aber ein Bezug zur wirklichen
Welt irgendwo in der Definitionskette der Systemelemente ersichtlich ist. Fünf-
tens scheinen nicht alle im System von Jakobs formulierten Zurechnungsregeln,
die von einer modernen pluralistischen Gesellschaft mit Anonymität der Kon-
takte und einer starken Trennung in Zuständigkeiten ausgehen, ohne weiteres
auf jede heutige Gesellschaft und jedes Strafrechtssystems anwendbar zu sein
[§ 3 C V 2 a) dd)]. Sechstens sind die von Jakobs bei der Frage des Sonderwis-
sens gezogenen Ergebnisse geradezu die Pointierung seines systemtheoretischen
Ansatzes, die die Unhaltbarkeit einer Differenzierung nach Rollen bei der straf-
rechtlichen Zurechnung im Vorsatzdelikt demonstriert: Im Fall des Biologiestu-
denten besteht richtigerweise für den Kellner keine Sorgfaltspflicht, zu servie-
rende Gerichte auf giftige Substanzen hin zu untersuchen. Weiß er aber, daß ein
Gericht eine tödliche Substanz enthält, und serviert er es trotzdem, begeht er
ein Kapitaldelikt in mittelbarer Täterschaft kraft vorsatzlosen Werkzeugs, näm-
lich dem ahnungslosen Gast als Opfer. Es ist also die finale Steuerung des Ge-
schehens, die von der Rollenerwartung völlig unabhängig ist und den Biologie-
studenten zum Herrn der Tat macht; dabei spielt auch die Schutzlosigkeit des
Opfers eine wichtige Rolle. Im auch bekannten Fall des Ingenieurs (Bemerken
eines Bremsdefektes bei einer Probefahrt) ist ein Rückgriff auf die Rollentheo-
rie zum Ausschluß der Strafbarkeit des Ingenieurs nicht erforderlich, weil es
sich hier entgegen der Meinung von Jakobs um ein Unterlassen und nicht um
288 § 7 Resumée
VIII. Sonderfähigkeiten
* Die Zitierweise von verkürzt angegebener Literatur ist vermerkt, sofern sie nicht
eindeutig zuzuordnen ist.
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