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Handbuch
Liechtenstein isches
Zivi Iprozessrecht
Handbuch MANZ,;
Handbuch
Liechtenstein isches
Zivi I p rozessrecht
herausgegeben von
Univ.-Prof. Dr. Hubertus Schumacher
Präsident des Fürstlichen Obersten Gerichtshofs
Wien 2020
MANZ'sche Verlags- und Universitätsbuchhandlung
Zitiervorschlag:
Autor in Schumacher (Hrsg), Handbuch Liechtensteinisches Zivilprozessrecht (2020) Rz ...
Autor in Schumacher, HB LieZPR Rz ...
Printed in Austria
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung,
vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein
anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Ver.ven-
dung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr; eine
Haftung des Herausgebers, der Autorinnen und Autoren sowie des Verlages ist ausgeschlossen.
ISBN 978-3-214-09822-3
Schon anhand dieser Beispiele wird deutlich, dass der liechtensteinische Zivilprozess, der
zuletzt 2018 novelliert wurde, nicht nur teilweise anders normiert ist, sondern auch sein
usus fori vom österreichischen teilweise erheblich abweicht. Der Fürstliche Oberste Ge-
richtshof hat im Hinblick auf diese Vielfalt der verfahrensrechtlichen Rechtsquellen und
die dichte Rezeptionslage mehrfach ausgesprochen, dass das liechtensteinische zivilge-
richtliche Verfahren ein in sich geschlossenes ganzes und selbstständiges System bildet:
„Zwar sind viele Elemente dieses Systems, der besonderen geographischen Lage dieses
Landes Rechnung tragend, aus den Verfahrensordnungen der Nachbarländer, Oster-
G v 10. 12. 1912 über das gerichtliche Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten (Zivilpro-
zessordnung) LGBI 1912/9/1; zu dieser Rezeption Kohlegger, Franz Gschnitzer Lesebuch 2 (2013)
1061 f.
2 Hiezu Bußjäger in FS Delle Karth 81.
3 StGH 2017/132 LES 2018, 73/2 (zur Streitwertfestsetzung); StGH 2018/071 LES 2018 245 (zur
Ablehnung eines Schiedsrichters).
4 OGH Nz 182/87-16 LES 1991, 6; 05 C 285/81-17 LES 1983, 125.
Schumacher. HB LieZPR V
Vorwort
reichs und der Schweiz, übernommen worden. Diese übernahmen erfolgten aber nicht
planlos oder bruchstückhaft, sondern in einer sich gegenseitig ergänzenden Art und Wei-
se, so dass in Verbindung mit landeseigenen Regelungen eine durchaus eigenständige, in
sich geschlossene Verfahrensordnung entstand, von der allerdings einzelne Bestandteile
ihre Herkunft weder verleugnen können noch wollen. Charakteristisch an diesem liech-
tensteinischen Verfahrensrecht ist die einheitliche Verbindung gerade der Bestandteile
verschiedenartiger Herkunft."
Diese spezielle verfahrensrechtliche Rechtssituation war Anlass und Impetus dazu, eine
umfassende Darstellung des liechtensteinischen Zivilprozessrechts mit Beiträgen ausge-
wiesener Praktiker und Theoretiker aus dem liechtensteinischen, österreichischen und
schweizerischen Rechtsbereich herauszugeben. Das Ergebnis ist das vorliegende Hand-
buch, das der Praxis vor den Fürstlichen Gerichten eine tragfähige Grundlage für die
tägliche Anwendung und Fortentwicklung des liechtensteinischen Zivilprozessrechts bie-
ten soll.
Ganz besonderen Dank schulde ich Frau Univ.-Ass. Dr. Barbara Köllensperger und Frau
Univ.-Ass. Mag.• Fanny Rohmann für die höchst engagierte und unermüdliche Unter-
stützung bei der Erstellung und Druckreifmachung dieses Werkes.
VI Schumacher. HB LieZPR
Inhaltsübersicht
Vorwort ................................................................... . V
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ...................................... . XXXI
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXVII
Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XLVII
Schumacher, HB LieZPR IX
Inhaltsverzeichnis
C. Nachtragsgesetz 1924 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
1. Historische Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
2. Inhaltliche Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
IV. Entstehung anlässlich der großen Justizreform 1906 bis 1915 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
A. Vorarbeiten (1906 bis 1908)............................................ 16
1. Änderung der Allgemeinen Gerichtsordnung 1906...................... 16
a) Historische Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
b) Inhaltliche Beiträge.............................................. 17
2. Gutachten Josef Peer 1907/1908 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
a) Historische Umstände........................................... 17
b) Inhaltliche Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
3. Erste Siebnerkommission und Resolution des Landtags 1907; fürstliches Hand-
billett 1908........................................................ 18
a) Historische Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
b) Inhaltliche Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
B. Ausarbeitung (1909 bis 1912)........................................... 20
1. Rezeptionsvorlage: Franz Kleins österreichische Civilproceßordnung von 1895 20
a) Historische Umstände........................................... 20
b) Inhaltliche Beiträge.............................................. 21
2. Gesetzesentwürfe Gustav Walker 1911 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
a) Historische Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
b) Inhaltliche Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
3. Erstberatung Fürstliches Appellationsgericht 1911 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
a) Historische Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
b) Inhaltliche Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
4. Kommissionelle Vorberatung und Erstbehandlung im Landtag 1911 . . . . . . . 25
a) Historische Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
b) Inhaltliche Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
5. Kurzgutachten Schöpf 1912.......................................... 26
a) Historische Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
b) Inhaltliche Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
6. Gutachten Martin Hämmerle 1912.................................... 26
a) Historische Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
b) Inhaltliche Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
7. Zweitberatung Fürstliches Appellationsgericht 1912...................... 28
a) Historische Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
b) Inhaltliche Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
8. Zweite Siebnerkommission und Zweitbehandlung im Landtag 1912........ 28
a) Historische Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
b) Inhaltliche Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
9. Stammfassung des Inkrafttretens 1913 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
C. Ergänzung (1913 bis 1915)............................................. 30
1. Vermittlerämtergesetz 1915.......................................... 30
a) Historische Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
b) Inhaltliche Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
V. Vorgeschichte im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
A. Verfahrensordnung .................... , . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
B. Organisationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
C. Rechtswirklichkeit und Missstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
X Schumacher, HB LieZPR
Inhaltsverzeichnis
Schumacher, HB LieZPR XI
Inhaltsverzeichnis
Schumacher, HB LieZPR XV
Inhaltsverzeichnis
3. Parteihandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397
4. Fristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397
5. Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397
6. Rechtsfolgen bei Missachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398
7. Sanierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
F. Aufnahme des unterbrochenen Verfahrens............................... 399
1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
2. Antrag einer Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400
3. Beschluss des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401
4. Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402
5. Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403
6. Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403
7. Rechtsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403
II. Ruhen des Verfahrens(§§ 168ff ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404
A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404
B. Ruhen auf Antrag der Parteien (§§ 168f ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404
1. Vereinbarung der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404
2. Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405
3. Dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405
4. Entscheidung des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406
5. Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406
6. Rechtsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
7. Fortsetzung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
C. Ruhen von Amts wegen(§ 170 ZPO).................................... 408
1. Säumnis der Partei(en) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408
2. Zeitpunkt und Dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408
3. Entscheidung des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408
4. Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
5. Rechtsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
6. Fortsetzung des Verfahrens.......................................... 409
XX Schumacher. HB LieZPR
Inhaltsverzeichnis
1. Klagsänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431
2. Klagseinschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433
3. Klagszurücknahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433
D. Klagenhäufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436
E. Abgrenzung zum Antrag im Außerstreitverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437
II. Die Klagebeantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438
111. Vorbereitende Schriftsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440
b) Grundurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624
c) Grundlagenurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626
4. Verzichtsurteil (§ 394 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626
5. Anerkenntnisurteil (§ 395 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627
6. Versäumnisurteil (§§ 396ff ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628
a) Echtes Versäumnisurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628
b) Unechtes Versäumnisurteil(§ 399 ZPO)............................ 631
7. Ergänzungsurteil (§ 423 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 I
G. Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633
1. formelle Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633
2. Materielle Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633
3. Beseitigung der Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635
H. Vollstreckbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636
I. Mängel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637
I. Nichturteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637
2. Wirkungslose/wirkungsgeminderte Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637
3. Anfechtbare Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638
II. Beschluss (§§ 425 ff ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639
A. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639
B. Arten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639
1. Prozessbeendende Beschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639
2. Verfahrensgestaltende Beschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640
3. Prozessleitende Beschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640
C. Form und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640
I. Allgemeines _. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640
2. Begründung....................................................... 641
a) Begründungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641
b) Umfang........................................................ 641
D. Kundmachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642
E. Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642
F. Anfechtbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643
1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643
2. Nicht und selbstständig anfechtbare Beschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643
3. Nicht selbstständig anfechtbare Beschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645
G. Vollstreckbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646
H. Sinngemäße Anwendbarkeit der für Urteile geltenden Bestimmungen . . . . . . . . . 647
1. Unmittelbarkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647
2. Erteilung von Ausfertigungen und Auszügen, Berichtigung und Ergänzung . 647
3. Rechtsmittelbelehrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647
3. Hauptverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 700
a) Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 700
b) Mündliche Berufungsverhandlung................................. 701
c) Ablauf der mündlichen Berufungsverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 702
aa) Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 702
bb) Beweiswiederholung/zulässige neue Beweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703
cc) Beweisergänzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 704
dd) Sonstiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 706
4. Berufungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707
a) Beschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707
b) Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707
III. Rekursverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 708
A. Verfahren vor dem Landgericht......................................... 708
B. Verfahren vor dem Obergericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 837
Dr. Stefan Becker, LL. M.-ULB ist seit dem Jahr 2005 als selbstständiger
Rechtsanwalt und Partner der Kanzlei Wohlmacher Hirn Kaiser Becker in
Vaduz (Fürstentum Liechtenstein) tätig und seit 2006 auch als Stellvertre-
tender Richter am Fürstlichen Obersten Gerichtshof. Vor seiner Anwalts-
tätigkeit und der Promotion an der Universität Freiburg i.Ue. im Jahr 2004
war er juristischer Mitarbeiter der Regierung des Fürstentums Liechtenstein
sowie Leiter des Amts für Kommunikation der liechtensteinischen natio-
nalen Regulierungsbehörde im Bereich der elektronischen Kommunikation.
Mehrere Publikationen auf dem Gebiet des EWR- und des liechtensteini-
schen Staats- und Verwaltungsrechts.
Dr. Johannes Gasser ist Senior Partner der Kanzlei Gasser Partner in Va-
duz, Liechtenstein, mit den Tätigkeitsschwerpunkten Wirtschaftsrecht, Zi-
vilverfahren, Stiftungsrecht und liechtensteinisches Gesellschaftsrecht.
Chambers Global führt Dr. Gasser als "leading individual" in Liechtenstein.
Dr. Gasser ist Verfasser des Praxiskommentars Liechtensteinisches Stif-
tungsrecht, seine regelmäßige Vortrags- und Publikationstätigkeit umfasst
insb die Bereiche Stiftungsrecht, Trustrecht, Zivilverfahren und Schieds-
verfahrensrecht. Dr. Gasser ist Vorsitzender des Liechtensteinischen
Schiedsvereins (LIS) sowie Mitglied des Richterauswahlgremiums in
Liechtenstein.
Dr. Bernhard Lorenz, LL. M., ist Partner bei LNR Lorenz Nesensohn Ra-
banser Rechtsanwälte, Vaduz. Er studierte an den Universitäten Innsbruck
und Chicago. Seine Beratungstätigkeit konzentriert sich auf Stiftungsrecht,
Trustrecht und Gesellschaftsrecht und er publiziert auch hauptsächlich auf
diesen Gebieten. Er ist Lektor an der Universität Liechtenstein (Lehrgang
„Master auf Laws [ LL. M. n im Gesellschafts-, Stiftungs- und Trust recht
sowie an der Universität Wien im Universitätslehrgang „Familienunter-
nehmen und Vermögensplanung".
Lic. iur. Uwe Öhri, LL. M., Studium der Rechtswissenschaften an der
rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich (Li-
zenziat 1991). Liechtensteinische Rechtsanwaltsprüfung (1996). Von 1998
bis 2010 Richter am Fürstlichen Landgericht in Vaduz, ua Präsident des
Kriminalgerichts (2003 bis 2009) und des Jugendgerichts (2001 bis 2010).
Nachdiplomstudium im Internationalen Wirtschaftsrecht an der Universi-
tät Zürich (2002 bis 2004). Seit 2010 Vorsitzender des in Zivil- und Straf-
sachen zuständigen 3. Senats des Fürstlichen Obergerichts; seit 2014 Prä-
sident des Fürstlichen Obergerichts. Mitglied der Rechtsanwaltsprüfungs-
kommission (seit 2012). Von 2010 bis 2016 Präsident der Vereinigung
Liechtensteinischer Richter (VLR). Diverse Publikationen zum liechten-
steinischen Recht und Redaktionsmitglied der Liechtensteinischen Juris-
tenzeitung (LJZ).
Dr. Wolfram Purtscheller ist seit Oktober 1985 als Richter im Zivil-
rechtsbereich tätig. Nach Stationen am Bezirksgericht und am Landesge-
richt Innsbruck ist er seit April 2000 am Oberlandesgericht Innsbruck tätig.
Im April 2010 wurde er zum Senatspräsidenten des Oberlandesgerichts
ernannt und ist seither Vorsitzender eines zivilen Rechtsmittelsenats. Ne-
ben allgemeinen Zivilrechtsangelegenheiten sind Schwerpunkte der Tätig-
keit das Arbeits- und Sozialrecht, Firmenbuchsachen, gesellschaftsrechtli-
che Außerstreitsachen sowie Stiftungsangelegenheiten. Seit 1. 1. 2015 ge-
hört Dr. Purtscheller als stellvertretender Oberstrichter dem in erster Linie
für Zivilrechtssachen zuständigen ersten Senat des Fürstlichen Obersten
Gerichtshofs an.
Dr. Manuel Walser, LL. M., ist Rechtsanwalt und Verwaltungsrat der
Walser Rechtsanwälte AG in Vaduz. Seit 2014 ist er Vorstandsmitglied der
Liechtensteinischen Rechtsanwaltskammer sowie des Liechtensteinischen
Schiedvereins. Zu seinen Tätigkeitsschwerpunkten gehört die Vertretung
von privaten und institutionellen Mandanten in zivil- und handelsrechtli-
chen Streitigkeiten vor den staatlichen Gerichten, insb in internationalen
Gesellschafts-, Stiftungs- und Trustangelegenheiten. Er ist auch regelmäßig
als Berater und Schiedsrichter in internationalen und nationalen Schieds-
gerichtsverfahren tätig. Seit 2017 ist er offizieller Schiedsrichter des Fürs-
tentums Liechtenstein am Vergleichs- und Schiedsgerichtshof der OSZE;
Publikationen zu Fragen des Zivilverfahrens- und Schiedsverfahrensrechts
und Vorträge auf nationalen und internationalen Konferenzen.
Dr. Wigbert Zimmermann ist seit 1987 Richter in Österreich. Er war zu-
nächst am Bezirksgericht Silz mit Zivil- und Exekutionssachen befasst. Ab
dem Jahr 1991 war er als Richter des Landesgerichts Innsbruck einige Jahre
Vorsitzender eines arbeits- und sozialrechtlichen Senats, ab Mitte 1994
Einzelrichter in Zivilsachen. Im Jahr 2001 wurde er zum Richter am
Oberlandesgericht Innsbruck ernannt. Er war dort viele Jahre als leitender
Visitator und als Aus- und Fortbildungsreferent tätig. Seit 2011 bekleidet er
das Amt des Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts Innsbruck. Er leitet
einen Rechtsmittelsenat in Zivil-, Arbeits- und Sozialrechtssachen und ist
im Rahmen der Justizverwaltung für das richterliche Personal in Tirol und
Vorarlberg und für die Öffentlichkeitsarbeit des Oberlandesgerichtsspren-
gels Innsbruck verantwortlich. Seit 2010 ist er auch Richter des Fürstlichen
Obersten Gerichtshofs.
BG a) Bundesgesetz
b) (österreichisches) Bezirksgericht
BGBI = (österreichisches) Bundesgesetzblatt
BGE = Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts (1879 ff)
BGer (schweizerisches) Bundesgericht
BGFA Bundesgesetz über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte (An-
waltsgesetz) SR 935.61
BGH (deutscher) Bundesgerichtshof
BGHZ = Entscheidungen des deutschen Bundesgerichtshofs in Zivilsachen
(1951ft)
BlgNR = Beilage zu den stenographischen Protokollen des Nationalrats
BMJ Bundesministerium für Justiz
BPVG Gesetz über die betriebliche Personalvorsorge LGBI 1988/12
Brüssel 1-VO = s EuGVVO alt
Brüssel Ia-VO s EuGVVO
Bsp Beispiel, -e
bspw beispielsweise
Bst Bestimmung
BuA Berichte und Anträge der Regierung an den Landtag des Fürstentums
Liechtenstein
BWG = (österreichisches) Bankwesengesetz BGBI 1993/532
bzgl = bezüglich
bzw beziehungsweise
ders derselbe
dgl = dergleichen
dh das heißt
dies dieselbe, -en
DSG = Datenschutzgesetz LGBl 2018/272
dt deutsch, -e, -er, -es (nur zur Kenntlichmachung deutscher Gesetze)
G = a) Gericht
b) Gesetz, -e
GE = Gerichtsentscheidungen
GebAG (österreichisches) Gebührenanspruchsgesetz BGBI 1975/136
gern gemäß
GemG Gemeindegesetz LGBI 1996/76
GEN Gerichtsentlastungsnovelle
GerFerV = Verordnung über die Gerichtsferien LGBI 1987/51
GesG = Gesundheitsgesetz LGBI 2008/30
ggf gegebenenfalls
GGG = Gesetz über die Gebühren der Gerichte und Beschwerdekommissionen
(Gerichtsgebührengesetz) LGBI 2017/169
ggt gegenteilig
GlU Sammlung von civilrechtlichen Entscheidungen des k.k. Obersten Ge-
richtshofes; von Glaser, Unger
GlUNF Sammlung von civilrechtlichen Entscheidungen des k.k.. Obersten Ge-
richtshofes, Neue Folge; begonnen von Glaser, Unger, fortgeführt von
Pfaff. Schey, Krupsky, Schrutka von Rechtenstamm und Stephan
(1898-1915)
GO Geschäftsordnung
GOG Gesetz über die Organisation der ordentlichen Gerichte (Gerichtsorga-
nisationsgesetz) LGBl 2007/348
GP = Gesetzgebungsperiode
grds grundsätzlich
hA herrschende Ansicht
HfD Hofdekret
hins = hinsichtlich
hL herrschende Lehre
hM = herrschende Meinung
Hrsg Herausgeber
hRsp = herrschende Rechtsprechung
HS Halbsatz
XL Schumacher, HB L1eZPR
Abkürzungsverzeichnis
nF neue Fassung
NJW (deutsche) Neue Juristische Wochenschrift (1947148ft)
NKT = (österreichische) VO des Bundesministers für Justiz über den Normal-
kostentarif BGB! II 2017/175
Nov = Novelle
Nr Nummer
NYÜ New Yorker übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung
ausländischer Schiedssprüche v 10. 6. 1958 LGBI 2011/325
RGBI = Reichsgesetzblatt
RHVÖ Vertrag v 1. 4. 1955 zwischen dem Fürstentum Liechtenstein und der
Republik Österreich über Rechtshilfe, Beglaubigung, Urkunden und
Vormundschaft inklusive Zusatzprotokoll LGBI 1956/ 10
RIS = Rechtsinformationssystem des (österreichischen) Bundes
rk = rechtskräftig, -e, -er, -es, -en
RL Richtlinie (der EU)
RO Rechtsordnung
RPflG = Rechtspflegergesetz LG BI 1998/77
RPflSlgE (österreichische) Sammlung von Rechtsmittelentscheidungen in Exeku-
tionssachen, hrsg von der Arbeitsgemeinschaft der Rechtspfleger in
Exekutionssachen beim EG Wien ( 1959 f0
RS Rechtssatz
RSO = Rechtssicherungsordnung LGBI 1923/8
Rsp Rechtsprechung
RV = Regierungsvorlage
RZ Österreichische Richterzeitung
Rz Randzahl, -ziffer
s siehe
s = a) Satz
b) Seite, -n
SCE-VO VO (EG) 1435/2003 des Rates v 22.7.2003 über das Statut der Europä-
ischen Genossenschaft (SCE) ABI L 2009/207, 1
SchG Gesetz betreffend das Scheckrecht (Scheckgesetz) LGBI 1971/51 /2
SchKG = (schweizerisches) Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs
SchlT PRG Schlusstitel zum PGR
SOG (österreichisches) Sachverständigen- und Dolmetschergesetz BGB! 1975/
137
SE-VO VO (EG) 2157/2001 des Rates v 8. 10. 2001 über das Statut der Europä-
ischen Gesellschaft (SE) ABI L 2001/294, 1
SJZ Schweizerische Juristen-Zeitung
Slg Sammlung (der Rechtsprechung des Gerichtshofes und des Gerichts
Erster Instanz)
sog so genannt, -e, -en, -er, -es
SR = a) Sachenrecht LGBI 1923/4
b) Systematische Sammlung des Bundesrechts (Schweiz)
StGB Strafgesetzbuch LGBI 1988/37
StGH Staatsgerichtshof
StGHG Gesetz über den Staatsgerichtshof LGBI 2004/32
StPG Staatspersonalgesetz LGBI 2008/144
StPO = Strafprozessordnung LGBI 1988/62
str = strittig
stRsp = ständige Rechtsprechung
stv stellvertretend/ e/ r
SV a) Sachverständiger
b) Sozialversicherung
SV = sub voce (unter dem Stichwort)
SVG = Strassenverkehrsgesetz LGBI 1978/ 18
sz Entscheidungen des österreichischen Obersten Gerichtshofs in Zivil-
( und Justizverwaltungs-)sachen
V vom, von
va vor allem
VAG Gesetz über die Vermittlerämter LGBI 1916/3
VersAG Gesetz betreffend die Aufsicht über Versicherungsunternehmen (Versi-
cherungsaufsichtsgesetz) LGBI 1996/23
VfGG (österreichisches) Verfassungsgerichtshofgesetz BGBI 1953/85
VfGH (österreichischer) Verfassungsgerichtshof
VfSlg = Sammlung der Erkenntnisse und wichtigsten Beschlüsse des (österrei-
chischen) Verfassungsgerichtshofes
VGH Verwaltungsgerichtshof
vgl vergleiche
vo Verordnung
VRV Verkehrsregelnverordnung LGBI 1978/ l 9
VSG Vereinssachwaltergesetz LGBI 2010/123
z Zahl, Ziffer
Zak = (österreichische) Zeitschrift Zivilrecht aktuell
ZAS (österreichische) Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht
zB zum Beispiel
ZGB (schweizerisches) Zivilgesetzbuch
Baumbach!Hueck, Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung: GmbHG 11 (2017)
- Baumbach/Hueck, GmbHG 21
ßaumbach/Lauterbach!Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung mit FamFG, GVG und anderen Ne-
bengesetzen76 (2018) - Baumbach!Lauterbach!Albers/Hartmann, ZPO 76
G. ßaur, Kommentar zum Gutachten des EFTA-GH vom 10. 12. 1998 E-3/98, Jus & News 3/1998, 283
BeckOK ZPO, s Vorwerk/Wolf
Beran/K/aus/Liebhart/Nigl!Pühringer/Rassi/Roch/Steinhauer, (Franz) Klein aber fein, RZ 2002, 258 -
Beran et al, RZ 2002, 258
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(2011) - Berger, Rezeption 2
Berner Kommentar Schweizerische Zivilprozessordnung 1, II (2012), III (2014) - BK chZPO
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Bösch, Liechtensteinisches Stiftungsrecht (2005) - Bösch, Stiftungsrecht
Bösch, Monopol des Ausserstreitverfahrens zur Klärung der Rechtswirksamkeit von Stiftungsratsbe-
schlüssen? - Eine (kritische) Rechtsprechungsanalyse und zugleich ein Beitrag zum stiftungs-
rechtlichen Beschlussmängelrecht, LJZ 2012, 99
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Fürstlicher Oberster Gerichtshof - Festschrift für Gert Delle Karth (2013) 81 - Bußjäger in FS
Delle Karth
Bußjäger, Aktuelles aus der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes, LJZ 2014, 23
Bußjäger, Der Staatsgerichtshof und die Europäische Menschenrechtskonvention - Bemerkungen
zur Europäisierung des Grundrechtsschutzes in Liechtenstein, in Liechtenstein-Institut (Hrsg),
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Wandel
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2/2013, 41
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Fürstlicher Oberster Gerichtshof - Festschrift für Gert Delle Karth (2013) 985 - Ungerank in FS
Delle Karth
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Ungerank, Liechtenstein Courts, in Baudenbacher (Ed), The Handbook of EEA Law (2016) 293 -
Ungerank in Baudenbacher, Handbook of EEA Law
Ungerank, EuGH stärkt die Stellung der vorlegenden Gerichte im Vorabentscheidungsverfahren,
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Ungerank, Novelle ermöglicht Weichenstellung zwischen Streit- und Ausserstreitverfahren: Unzu-
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248
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Vogt, Das Willkürverbot und der Gleichheitsgrundsatz in der Rechtsprechung des liechtensteini-
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Vogt, Aktuelle Rechtsprechung des liechtensteinischen Staatsgerichtshofes zum Anspruch auf recht-
liches Gehör, Jus & News 1/2010, 7
Übersicht
Rz
1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. 1
II. Entwicklungen von 1925 bis dato . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2
A. Zivilprozessordnung und Jurisdiktionsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2
B. 2018: Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens . . . . . . . 1.5
1. Historische Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5
2. Inhaltliche Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6
C. 2017/2010: Schiedsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7
1. Historische Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7
2. Inhaltliche Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.9
D. 2016/1994: Verfahrenshilfe.............................. 1.11
1. Historische Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.11
2. Inhaltliche Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.13
E. 2016: Bestandstreitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.15
1. Historische Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.15
2. Inhaltliche Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.16
F. 2011/1999/1974: Verfahren in Ehesachen ................... 1.17
1. Historische Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.17
2. Inhaltliche Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.18
G. 2010: Ausserstreitgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.20
1. Historische Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.20
2. Inhaltliche Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.21
H. 2009: Aktorische Kaution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.22
1. Historische Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.22
2. Inhaltliche Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.23
I. 2008: Zustellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.24
1. Historische Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.24
2. Inhaltliche Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.25
J. 1987: Diverses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.26
1. Historische Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.26
2. Inhaltliche Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.27
III. Konsolidierung im Nachgang zur Verfassung von 1921 . . . . . . . . . . . 1.28
A. Neuer Rahmen: Verfassung I 921 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.28
1. Historische Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.28
2. Inhaltliche Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.29
B. Gerichtsorganisations-Gesetz 1922 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.32
Scllumacher, HB L1eZPR
Kap 1 Geschichte der liechtensteinischen ZPO - Rückblick Schädler
2 Schumacher, HB LieZPR
Schädler II. Entwicklungen von 1925 bis dato
1. Allgemeines
Der Rechtsanwender findet die liechtensteinische Zivilprozessordnung heute in einer Ge- 1.1
stalt vor, die das Ergebnis ihrer mehr als einhundertjährigen Geschichte ist. Will man
ihm daher für eine historische Auslegung die erforderlichen Mittel an die Hand geben,
kann dies nur vom gegenwärtigen Standpunkt aus rückblickend in umgekehrter Chro-
nologie geschehen, indem Schicht für Schicht der eingetretenen Entwicklungen freige-
legt wird. Für jede dieser Schichten sind ihre jeweiligen historischen Umstände sowie
ihre inhaltlichen Beiträge zur ZPO nachzuzeichnen, wobei nebst der ZPO selbst in erster
Linie deren Materialien, andere Erlasse und weitere historische Quellen zu befragen sind,
um ein authentisches Bild zu erhalten. Die Leitfrage, die sich dabei stellt, lautet: Wann
wurden welche wesentlichen Änderungen an der ZPO herbeigeführt und weshalb? Die
rechtshistorische Sicht, der es um einen Gesamtüberblick geht, darf sich bei der Beant-
wortung dieser Frage zwar nicht in Details verlieren, muss aber die einzelnen Entwick-
lungen der ZPO dennoch so konturieren, dass ihre gewandelten Teile klar erkennbar
werden. Den Endpunkt des Rückblicks, der den zeitlichen Rahmen absteckt, muss die
eigentliche Ausarbeitung der ZPO bzw müssen die Vorarbeiten hierzu bilden (wohl wis-
send, dass die Vorläufer sowie die geistesgeschichtlichen Wurzeln noch weit tiefer ins I 9.
Jh und in noch frühere Zeiten 1 hinabreichen, worauf allerdings, weil thematisch an der
Peripherie liegend, vorliegend nur noch summarisch hingewiesen werden kann). Mit
dem beschriebenen Vorgehen gelangt man schließlich nicht nur zu einem grundsätzlich
besseren Verständnis des Unter- und Hintergrunds der heutigen Erscheinungsform der
liechtensteinischen ZPO. Vielmehr erlaubt es darüber hinaus auch, bei Bedarf genau zu
lokalisieren, in welchem Zeitraum bei welchen Fundstellen sich die eingehendere rechts-
historische Suche in einer konkreten Frage lohnt.
Rechtshistorische überblicke bei Ospelt in LAG, Beiträge (passim), sowie bei Ospelt, JBL 109
(2010) (passim); s auch HLFL I 289-291 (sv Gerichtswesen).
2 So entfällt LGBl 2003/24 (rein terminologische Anpassungen infolge Änderung des RAG).
3 So entfallen (in chronologischer Reihenfolge): LGBI 1997/132; 1997/152; 2003/246; 2004/34;
2005/32; 2007/349; 2008/13; 2010/127; 2010/450; 2010/455; 2011/339; 2013/416; 2014/303;
2015/35; 2015/270; 2015/368.
Schumacher. HB LieZPR 3
Kap 1 Geschichte der liechtensteinischen ZPO - Rückblick Schädler
4 LGBI 1912/9/1.
5 So auch resümierend BuA 2018/19, 9.
6 Siehe zB LGBI 2007/351 zu § 8 Abs 2 JN.
7 Siehe zB LGBI 2010/456 iZm dem AussStrG (dazu unten Rz 1.200; LGBI 2011/372 iZm dem
Eheverfahren bzw Partnerschaftsgesetz (dazu unten Rz 1.17 -1.19).
B Fundste/len: LGBI 2018/207; BuA 2018/19, 2018/61; LTP 2018, 880-909 (1. Lesung 3.5.2018),
2018, 1689-1727 (2. Lesung 6.9.2018).
9 Vgl BuA 2018/19, Sf mwH.
4 Schumacher, HB LieZPR
Schädler II. Entwicklungen von 1925 bis dato
dem Nachtragsgesetz von 1924 (dazu unten Rz 1.34-1.38). Ihr erklärtes Ziel 10 war es,
den Zivilprozess rascher, kostengünstiger und insgesamt effizienter auszugestalten; zu-
gleich wurden dabei zwischenzeitliche Novellierungen der ZPO zwecks Prozessökonomie
berücksichtigt und Anpassungen an die herrschende Gerichtspraxis vorgenommen. 11 Er-
gänzend kam es auf gerichtsorganisatorischer Seite zur personellen Aufstockung des
Landgerichts durch Schaffung einer 15. Richterstelle. 12 Alle diese Änderungen sind per
1.1.2019 in Kraft getreten. 13
2. Inhaltliche Beiträge
14
Die rund 90 Änderungen der (Teil-)Reform zur Vereinfachung und Beschleunigung 1.6
des Verfahrens erstreckten sich über die gesamte ZPO und verliehen ihr mittels einer
prozessökonomischen Auffrischung ein neues Antlitz. Besonders hervorhebenswert
sind folgende Neuerungen 15 : das OG entscheidet vielfach endgültig über Rekurse ge-
gen bestimmte Beschlüsse (zB § 9 Abs 3, § 23 Abs 3, § 72 Abs 3, § 170 a, § 179 Abs 2
ZPO); eine mündliche Verhandlung im Berufungsverfahren findet nur noch aus-
nahmsweise statt (§ 449 ZPO [vgl dazu unten Rz 1.36)); gegen Beschlüsse des OG
mit Rechtskraftvorbehalt oder gegen dessen kassatorische Rekursentscheidungen ent-
scheidet im Fall von berechtigten Revisionsrekursen bei Spruchreife direkt der OGH
16
ohne weiteren Rechtsgang (§ 487 Abs 2, § 495 Abs 2 bis 4 ZPO); die Streitwertgren-
ze für Bagatellverfahren wurde von CHF 1.000,- auf CHF 5.000,- angehoben (§ 535
Abs 1 ZPO [vgl dazu unten Rz 1.271). Weitere Änderungen betrafen insb die aktori-
sche Kaution (§ 59 Abs 2, § 60 Abs 1 und 2, § 62 ZPO), die Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand (§ 146 Abs 1, § 147 Abs 1, § 148 Abs 3, § 149 Abs 2 ZPO) und die
materielle Prozessleitungsbefugnis des Gerichts (§ 182a ZPO), die Klagsänderung
(§ 243 Abs 3 und 5 ZPO) und die Zurücknahme der Klage (§ 245 Abs 1 und 3
ZPO). Die Begriffe der „Verfahrensökonomie" (§ 52 Abs 2 ZPO) und der parteilichen
,,Prozessförderun?spflicht" (§ 178 Abs 2 ZPO) haben in die ZPO Eingang gefunden.
Hinzugekommen 7 ist ferner, allerdings im GOG 18 situiert (Art 49a GOG), ein Frist-
setzungsantrag gegenüber dem Gericht selbst, falls es mit einer Verfahrenshandlung
säumig bleibt.
10 Eine Würdigung aus rechtshistorisch-konzeptueller Sicht bei E. Schädler, LJZ 3/2017 (passim).
11 BuA 2018/ 19, 5 f und 9 f. - Vgl zu den Desiderata bereits im Jahr 2000 aus Sicht der Praxis Delle-
Karth, LJZ 2/2000 (passim).
12 Siehe zunächst (ertolglos) BuA 2017/75, alsdann ausf und vom Landtag angenommen BuA
2018/20 (s LTP 2018, 871-878 [Landtagssitzung v 3. 5. 2018)).
13 LGBI 2018/207 (IV. Inkrafttreten).
14 Siehe LGBI 2018/207.
15 Überblick in BuA 2018/19, 5, vgl LGBI 2018/207. Die wesentlichen Neuerungen beleuchtet ver-
gleichend zur öZPO Schumacher, LJZ 3/2019 (passim).
16 Vgl BuA 2018/19, 3lf.
17 Siehe LGBI 2018/209.
18 G v 24. 10. 2007 über die Organisation der ordentlichen Gerichte (Gerichtsorganisationsgesetz;
GOG), LGBI 2007/348, LR 173.30.
Schumacher, HB LieZPR 5
Kap 1 Geschichte der liechtensteinischen ZPO - Rückblick Schädler
2. Inhaltliche Beiträge
1.9 Die Änderungen von 2017 bezogen sich spezifisch auf die Rechtswirksamkeit von
Schiedsvereinbarungen, besonders zwischen Unternehmen und natürlichen Personen
(§ 634 ZPO).
1.10 Die Totalrevision des Schiedsverfahrens von 2010 hatte im 5. Teil (Besondere Arten des
Verfahrens) der ZPO den gesamten 8. Abschnitt (Schiedsverfahren; §§ 594ff ZPO)
grundlegend und vollständig neu geregelt. 25
D. 2016/1994: Verfahrenshilfe
1. Historische Umstände
1.11 Die Reform des Verfahrenshilferechts in den Jahren 2015/2016 26 erfolgte in zwei Schrit-
ten. Deren erster 27 widmete sich allgemein den juristischen Personen als Verfahrenshi!-
19 Fundste/len: 2017: LGBI 2017/170; BuA 2016/163, 2017/3; LTP2016, 2921-2916 (1. Lesung
2.12.2016), 2017, 221-223 (2. Lesung 4.5.2017). 2010: LGBI 2010/182; BuA 2008/151,
2010/53; LTP 2008, 3597-3609 (1. Lesung 12.12.2008), 2010, 656-670 (2. Lesung 26.5.2010).
20 LGBI 2017/170 (III. Inkrafttreten).
21 Vgl BuA 2016/163, 7-9.
22 BuA 2008/151, 7f, 9f.
23 BuA 2008/151, 8 f.
24 BuA 2008/151, 5.
25 Siehe LGBI 2010/182.
26 Fundstellen: 2016: LGBl 2016/405; BuA 2016/69, 2016/113; LTP 2016, 1455-1477 (1. Lesung
10.6.2016), 2016, 1944-1960 (2. Lesung 28.9.2016). 1994: LGBl 1994/10; BuA 1992/65,
1993/31; LTP 1993, 233-249 ( 1. Lesung), 1993, 706- 716 (2. und 3. Lesung).
27 Siehe BuA 2015/112 (Teil l: Juristische Personen; Tarif in Verfahrenshilfesachen), dazu
LTP 2015, 2366-2380 (1. und 2. Lesung 6.11.2015).
6 Schumacher, HB LieZPR
Schädler II. Entwicklungen von 1925 bis dato
feberechtigten und dem Tarif in Verfahrenshilfesachen. Der zweite 28 Schritt betraf so-
dann unmittelbar das diesbezügliche Verfahrensrecht der ZPO; seine Neuerungen traten
am l. l. 2017 in Kraft 29 • Angestrebt war va, den stark angestiegenen Kosten der Verfah-
renshilfe bzw der stark steigenden Zahl an Verfahrenshilfefällen kanalisierend zu begeg-
nen, ohne dieses rechtsstaatlich wichtige Institut unnötig einzuschränken. 30 Es musste
hierbei eine „Liechtenstein-spezifische Lösung" 31 gefunden werden, da in der öZPO eine
vergleichbare Reform, die als Vorbild hätte herangezogen werden können, bislang nicht
unternommen \o\'Urde.
Bereits 1994 war das Recht der Verfahrenshilfe Gegenstand einer grundlegenden Erwei- 1.12
terung und Aktualisierung gewesen, um es wieder auf den (damaligen) Stand der Zeit zu
bringen, insb mit Blick auf die parallelen Entwicklungen der öZPO. 32 Der Schluss liegt
nahe, dass bei der Verfahrenshilfe das mechanische, weitgehend zeitlose Prozessrecht ex-
plizit an wirtschaftliche und gesellschaftliche, sich wandelnde Umstände andockt und
infolgedessen periodisch einer Aktualisierung bedarf, um sie tauglich zu erhalten.
2. Inhaltliche Beiträge
Die Reform des Verfahrenshilferechts von 2016 brachte namentlich: eine Konzentration 1.13
der Zuständigkeit für die Verfahrenshilfe beim Prozessgericht erster Instanz und mithin
die frühzeitige Beantragung derselben eben dort (§ 65 Abs I ZPO); eine tendenzielle Be-
grenzung der Verfahrenshilfe auf Verfahren mit schwierigen Sach- und Rechtsfragen
(§ 64 Abs 1 Z 3 ZPO); eine generelle Verschärfung der Melde- und Rückerstattungs-
pflicht bei ausgerichteter Verfahrenshilfe(§§ 70b und 71 ZPO). 33
Die Änderungen von 1994 hatten in der ZPO im 1. Teil (Allgemeine Bestimmungen) im 1.14
l. Abschnitt (Parteien) den 7. Titel (bisher: Armenrecht, neu: Verfahrenshilfe; 34 §§ 63 bis
73 ZPO) neu gestaltet. 35 Sie orientierten sich am bestehenden Grundgerüst der Vorschrif-
ten und erweiterten sie. Die Ordnungs- und Mutwillensstrafe (§ 220 ZPO) sowie eine
Vorschrift zum Rekurs(§ 490 ZPO) mussten entsprechend angepasst werden. 36
E. 2016: Bestandstreitigkeiten
1. Historische Umstände
Nachdem es seit den l 990er-Jahren Bestrebungen zu einer Revision des liechtensteinischen 1.15
Miet- und Pachtrechts im ABGB gegeben hatte und verschiedene Anläufe hierzu miss-
glückt waren, 37 konnte die Revision 2016 endlich zu einem erfolgreichen Abschluss geführt
Schumacher, HB LieZPR 7
Kap 1 Geschichte der liechtensteinischen ZPO - Rückblick Schädler
werden. 38 In der Folge galt es, auch in der ZPO das Verfahren in Bestandstreitigkeiten
einer Totalrevision zu unterziehen und dem neuen materiellen Recht anzupassen, wobei
zugleich eine zwischenzeitliche Novellierung in der Rezeptionsvorlage der öZPO nachvoll-
39 40
zogen werden konnte. Die Neuregelungen traten am 9.6.2016 in Kraft.
2. Inhaltliche Beiträge
1.16 Die Änderungen der§§ 560 bis 574 ZPO erfassten als Totalrevision alle Vorschriften des
Verfahrens in Bestandstreitigkeiten, das sich als 6. Abschnitt im 5. Teil (Besondere Arten
41
des Verfahrens) der ZPO befindet.
2. Inhaltliche Beiträge
1.18 In Angleichung an das neue PartG wurde in der ZPO insb das betreffende Verfahren
sinngemäß demjenigen in Ehesachen unterstellt(§ 516a ZPO); weiters wurden der Weg-
fall einer aktorischen Kaution (§ 57 Abs 2 Z 3 ZPO) sowie Zeugnisverweigerungsrechte
46
des eingetragenen Partners(§ 321 Abs 1 Z 1 und§ 322 ZPO) statuiert.
1.19 Das Verfahren in Ehesachen als 1. Abschnitt(§§ 516-534 ZPO) im 5. Teil (Besondere
Arten des Verfahrens) der ZPO wurde als Ganzes zweimal von Grund auf und systema-
tisch47 neu gestaltet: Die Einführung eines neuen Trennungs- und Scheidungssystems
samt Scheidung auf gemeinsames Begehren bedingte 199948 dementsprechende Anpas-
38 Fundstellen: LGBI 2016/268; BuA 2015/133, 2016/67; LTP 2016, 289-291 (1. Lesung 3.3.2016),
2016, 1259-1263 (2. Lesung 9.6.2016).
39 Vgl BuA 2015/133, 145f mwH.
40 LGBI 2016/268 (Jll. Inkrafttreten).
41 Siehe LGBI 2016/268.
42 Fundstellen: 2011: LGBI 2011/371; BuA 2010/139; LTP 2010, 2691-2693 (1. Lesung 16. 12.
2010), 2011, 192f (2. Lesung 16.3.2011). 1999: LGBI 1999/29; BuA 1998/21; LTP 1998,
1089-1099 (1. Lesung 14. 5. 1998), 1998, 3455-3474 (2. Lesung 17. 12. 1998). 1974: LGBI
1974/35; LTP 1974 I 45-48 (1. Lesung 2. 5. 1974) (samt Blg BuA v 16. 4. 1974), 1974 I
106-110 (2. und 3. Lesung 30. 5. 1974).
43 G v 16. 3.2011 über die eingetragene Partnerschaft gleichgeschlechtlicher Paare (Partnerschafts-
gesetz; PartG), LGBI 2011/350, LR 212.41.
44 Ehegesetz v 13.12.1973, LGBI 1974/20, LR 212.10.
45 G v 17. 12. 1998 über die Abänderung des Ehegesetzes, LGBI 1999/28.
46 LGBI 2011/371; vgl BuA 2010/139, 107f.
47 Von "Systemwechsel" spricht zB BuA 1998/21, 48.
48 Siehe LGBI 1999/29.
8 Schumacher, HB LieZPR
Schädler II. Entwicklungen von 1925 bis dato
sungen; zuvor war 197449 Vergleichbares geschehen in Angleichung an das damals über-
haupt neu erlassene Ehegesetz.
G. 2010: Ausserstreitgesetz
1. Historische Umstände
Mit dem AussStrG 50· 51 ,
welchem als Rezeptionsvorlage das öAußStrG diente, 52 wurde 1.20
eine komplementäre, neuerdings konzentrierte 53 Verfahrensordnung für all jene Verfah-
ren54 geschaffen, die von ihrem Sinn und Zweck her gerade nicht ins kontradiktorische
Verfahren der ZPO passen. infolge einiger dennoch unvermeidbarer Verweise 55 des Au-
ßerstreitverfahrens auf die ZPO musste auch diese gewisse Anpassungen erfahren. Das
AussStrG trat am l. l. 201 l in Kraft. 56
2. Inhaltliche Beiträge
In der ZPO wurden iZm dem Erlass des AussStrG ua geändert: die Kostentragung (§ 43 1.21
Abs l ZPO); die Verfahrensöffentlichkeit(§ 171 Abs 3, § 175 ZPO); in Ehesachen die
Koordination zwischen streitigem und Außerstreitverfahren (§ 520 Abs 2, § 525 Abs 3,
§ 527 ZPO).
2. Inhaltliche Beiträge
Ein Großteil der Bestimmungen der §§ 56 bis 62 ZPO konnte, mit kleineren Streichun- 1.23
gen, Umstellungen und sprachlichen Anpassungen, wieder in Kraft gesetzt werden. 59 Ei-
ne EWR-rechtskonforme aktorische Kaution für ausländische Kläger wurde va in § 57
Schumacher, HB LieZPR 9
Kap 1 Geschichte der liechtensteinischen ZPO - Rückblick Schädler
Abs 2 Z l und § 57 a ZPO geschaffen mit dem Kriterium der tatsächlichen Vollstreckbar-
keit am ausländischen Wohnsitz des Klägers, welche gegebenenfalls von einer Kautions-
60
pflicht befreit.
1. 2008: Zustellungen
1. Historische Umstände
61 62
1.24 Der Erlass eines Zustellgesetzes als „behörden- und verfahrensübergreifend[e]" , ,,ei-
genständige Kodifikation" 63 bedingte in den Vorschriften zur Zustellung in der ZPO, wo
bislang die sedis materiae gelegen hatte, 64 tiefgreifende Veränderungen und Auslagerun-
gen. Die Reform des Zustellwesens65 wandte sich gegen das verstreute, lückenhafte und
va veraltete Zustellungsrecht; nicht zuletzt mit Blick auf die Fortschritte der Informa-
tionstechnologie bezweckte sie eine konzentrierte, ausbaufähige und konsistente Neure-
66 67
gelung im ZustG. Das ZustG ist am l. l. 2009 in Kraft getreten.
2. Inhaltliche Beiträge
1.25 Die Änderungen bezogen sich auf die §§ 87 bis 122 ZPO, also den gesamten 2. Titel
(Zustellunfen) im 2. Abschnitt (Verfahren) des l. Teils (Allgemeine Bestimmungen)
der ZPO. 6 Infolge verschiedener inhaltlicher Auslagerungen an das ZustG kam es zu
zahlreichen ersatzlosen Streichungen ganzer Paragraphengruppen (bspw §§ 96 bis 105
ZPO).
J. 1987: Diverses
1. Historische Umstände
1.26 Der Verein Liechtensteinischer Rechtsanwälte unterbreitete Ende 1986 der Regierung
einen Entwurf zur Änderung der ZPO mit dem Vorschlag, die Gerichtsferien und die
69
Berufun~s- und Revisionsfrist neu zu gestalten. Die Regierung ergriff diese Gelegenheit
O
zugleich für eine inhaltliche Aktualisierung der ZPO und bezog auch noch das Armen-
recht (heute: Verfahrenshilfe) und das Bagatellverfahren mit ein. 71
10 Schumacher. HB LieZPR
Schädler III. Konsolidierung im Nachgang zur Verfassung von 1921
2. Inhaltliche Beiträge
Unter den diversen Änderungen fanden sich ua folgende: Der Kreis der grundsätzlich 1.27
Anspruchsberechtigten beim Armenrecht wurde auf natürliche Personen beschränkt
(§ 60 Abs 2, § 63 Abs 1 ZPO). Die Gerichtsferien über die Weihnachtszeit sollten künftig
zwei Wochen betragen (§ 222 ZPO). Die Streitwertgrenze für Bagatellverfahren wurde
von CHF 100,- auf CHF 1.000,- erhöht (§ 535 ZPO). Die Rechtsmittelfristen von 14 Ta-
gen wurden auf 4 Wochen ausgeweitet (§§ 434, 438, 474, 476 Abs I und 2 ZPO). Hinzu
kamen Änderungen im Verfahren in Wechselstreitigkeiten (§§ 555, 557, 558 ZPO).
2. Inhaltliche Beiträge
Die Verfassung von 1921 trug neuerdings iS einer Staatsaufgabe dem Gesetzgeber auf, für 1.29
ein rasches, das materielle Recht schützendes Prozess- und Vollstreckungsverfahren zu
sorgen (Art 27 Abs 1 LV). In diesen beiden Postulaten der Prozessökonomie (,,rasch")
und des Rechtsschutzes (,,schützen[d)") konnte damals für die erst jüngst geschaffene
ZPO nur eine nachträgliche Bekräftigung ihrer ohnehin verfolgten Ziele liegen. Sie soll-
ten diese aber darüber hinaus zeitlos verankern, falls dereinst - wie nach rund einhundert
Jahren in der (Teil-)Reform zur Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens von
72 Fundstellen: LGBI 1921/15 (StF). Siehe zum Ganzen ausf Quaderer-Vogt, Bewegte Zeiten II
221-328 mit weiteren Quellen- und Materialiennachweisen.
73 Verfassung des Fürstentums Liechtenstein v 5. 10. 1921, LGBI 1921/15 (StF).
74 Siehe eingehend Quaderer-Vogt, Bewegte Zeiten II 221-328.
Schumacher. HB LieZPR 11
Kap 1 Geschichte der liechtensteinischen ZPO - Rückblick Schädler
2018 (dazu oben Rz 1.50 geschehen - eine entsprechende Modernisierung nötig werden
würde. Ferner beauftragte die Verfassung den Gesetzgeber ausdrücklich, die berufsmäßi-
75
ge Ausübung der Parteienvertretung, also das Anwaltsrecht im weitesten Sinn, gesetz-
76
lich zu regeln (Art 27 Abs 2 LV).
1.30 Nebst der generellen richterlichen Unabhängigkeit und der Begründungspflicht von
Entscheiden und Urteilen (Art 99 Abs 2 LV) verlangte die Verfassung spezifisch für
den Zivilprozess, dass er nach den Grundsätzen der Mündlichkeit, Unmittelbarkeit
und freien Beweiswürdigung geregelt wird (Art 102 Abs I Satz I LV), was ja auf die
ZPO bereits zutraf. Wiederum lag hierin kein Desiderat, sondern eine nachträgliche
Bekräftigung und verfassungsmäßige Absicherung künftighin gegen Rückfälle ins Ge-
genteil.
1.31 Die wichtigste Neuerung brachte die Verfassung von 1921 für die Zivilprozess- als Ver-
fahrensordnung, indem sie deren Komplement, nämlich die Gerichtsorganisation, neu
ordnete. Unscheinbar, aber folgenschwer statuierte Art 108 LV nämlich neu, dass sämt-
liche Behörden - wozu systematisch im VII. Hauptstück auch die Rechtspflege und mit-
hin die Gerichte zählten - ins Land zu verlegen und per Gesetz zu regeln seien. Daraus
77
gingen das GOG von 1922 (dazu unten Rz 1.32 0 und vorerst ein provisorisches Gesetz
für die Gerichtsgebühren hervor und traten neben die ZPO, welche alle drei gemäß Ver-
fassung auch künftig gesetzlich geregelt bleiben sollten (Art 101 Abs 2 LV). Für den ins
Inland verlegten zivilprozessualen lnstanzenzug konkretisierte die Verfassung ferner
(Art 101 Abs I LV): In erster Instanz wird die Gerichtsbarkeit durch das Fürstliche Land-
gericht in Vaduz (durch einen oder mehrere Einzelrichter; Art 102 Abs 2 LV), in zweiter
Instanz durch das Fürstliche Obergericht in Vaduz und in dritter Instanz durch den
78 79
ebendort gelegenen Fürstlichen Obersten Gerichtshof (beide als Kollegialgerichte;
Art 102 Abs 3 LV) ausgeübt. Damit war der bis heute geltende inländische Instanzenzug
geschaffen und der zuvor bestehende lnstanzenzug von Vaduz über Wien nach Inns-
bruck (dazu unten Rz 1.85 - 1.87) ein für alle Mal überholt.
75 Das Nachtragsgesetz von 1924 (dazu unten Rz 1.34- 1.38) sprach in den Schluss- und über-
gangsbestimmungen (IV.) folglich von (inländischen und ausländischen) Anwälten/Fürspre-
chern, Geschäftsagenten (Rechtsagenten) und Notaren (Art 2 Abs 2- 4).
76 Siehe zur späteren diesbezüglichen Gesetzgebung E. Schädler, APLI 56 (2016) passim.
77 G v 1. 6. 1922 betreffend vorläufige Einhebung von Gerichts- und Verwaltungskosten und Ge-
bühren, LGBI 1922/22. Alsdann (nebst etlichen anderen verstreuten Bestimmungen zu den Ge-
bühren) abgelöst durch das G v 30. 5. 1974 betreffend die Gerichts-, öffentlichkeitsregister• und
Grundbuchsgebühren, LGBI 1974/42. Heute gilt als dessen Nachfolgererlass das G v 4. 5. 2017
über die Gebühren der Gerichte und Beschwerdekommissionen (Gerichtsgebührengesetz;
GGG), LGBI 2017/169, LR 173.31.
78 Art 101 Abs 1 LV nennt allein beim OGH nicht explizit dessen Sitz in Vaduz, welcher aber sehr
wohl dort liegen sollte bzw lag; vgl § 1 Abs 1 und 2 GOG: "den Fürstlichen Obersten Gerichtshof
in Vaduz"; vgl auch Dür in FS Delle Karth 148-150 mwH; E. Schädler, Prozessökonomie 483
mit FN 9 mwN.
79 Art 101 Abs 1 LV spricht zwar vom „Fürstlichen Gerichtshof', meint damit aber den Fürstlichen
Obersten Gerichtshof; vgl Art 102 Abs 3 und Art 103 Abs 3 LV, wo beide Male von "der Oberste
Gerichtshof' die Rede ist; vgl auch § 1 Abs 1 und 2 GOG: "den Fürstlichen Obersten Gerichts-
hof in Vaduz".
12 Schumacher. HB LieZPR
Schädler III. Konsolidierung im Nachgang zur Verfassung von 1921
B. Gerichtsorganisations-Gesetz 1922
1. Historische Umstände
Es mag auf den ersten Blick zwar nicht unmittelbar einleuchten, aber die beschriebenen 1.32
Neuerungen in der Verfassung von 1921 und die daraufhin nötigen Anpassungen im
Verfahrensrecht und bei der Gerichtsorganisation 80 „hängen innerlich zusammen" 81 ,
wie Wilhelm Beck im von ihm verfassten Bericht und Antrag 82 zum GOG 83 von
1922 eingangs betonte. Denn ein (verfassungsrechtlich) weitestgehend 84 autonomer,
unabhängiger und eigenständiger Staat Liechtenstein bedingte einen (gerichtsorganisa-
torisch) vollständigen inländischen Instanzenzug, welcher (verfahrensrechtlich) die Ver-
wirklichung der (dort bereits vorgesehenen 85 ) Mündlichkeit und Unmittelbarkeit er-
laubte, was alles zusätzliche Kosten verursachte, denen ua mittels Gerichtsgebühren 86
begegnet werden sollte. Das GOG brachte idS die Neugestaltung des Organisations-
rechts.
2. Inhaltliche Beiträge
Das GOG regelte, stark angelehnt an die oben (Rz 1.29- l.31) dargelegten Bestimmungen 1.33
der Verfassung und diese ausformulierend sowie konkretisierend, in 28 Paragraphen fol-
gende Bereiche: Gerichte und gerichtliche Organe/Gerichte(§ 1 GOG); Organisation und
Instanzenverhältnisse der Gerichte in bürgerlichen Rechtssachen(§§ 2 f GOG); Organisa-
tion und Instanzenverhältnisse der Strafgerichte (§§ 4 bis 7 GOG); Beratung und Abstim-
mung(§ 8 GOG); Gerichtskanzleien und Schriftführer (§ 9 GOG); Ablehnung von Rich-
tern und anderen Gerichtsorganen(§§ 10 bis 13 GOG); Ausschluss- und Ablehnungsver-
fahren(§§ 14 bis 17 GOG); Ablehnung anderer gerichtlicher Organe(§ 18 GOG); Aus-
schließung des Staatsanwalts (§ 19 GOG); Verschiedene Bestimmungen (§ 20 bis 27
GOG); Zeitliche Anwendung(§ 28 GOG).
Schumacher, HB LieZPR 13
Kap 1 Geschichte der liechtensteinischen ZPO - Rückblick Schädler
C. Nachtragsgesetz 1924
1. Historische Umstände
87
1.34 Ein erstes Nachtragsgesetz zur ZPO war bereits 1921 rasch nach dem Erlass der neuen
88
Verfassung ergangen. Ein zweites Nachtragsgesetz folgte 1922 im Verbund mit dem
GOG, für welche Wilhelm Beck einen gemeinsamen Bericht und Antrag 89 verfasste.
Das dritte Nachtragsgesetz 90 schließlich datiert von 1924;91 es vereinte, ersetzte und er-
weiterte die beiden früheren Nachtragsgesetze und stellte dadurch im 20. Jh rückblickend
„gewiss die wichtigste" 92 Novellierung der ZPO dar. 93
2. Inhaltliche Beiträge
1.35 Das Nachtragsgesetz von 1921 betraf im 5. Teil (Besondere Arten des Verfahrens) der
ZPO den 7. Abschnitt. Zum einen benannte es dort das „Mahnverfahren" zum „Schul-
dentriebverfahren" um, machte es neuerdings zum Unterabschnitt a) und vollzog in
einigen Paragraphen Änderungen und Aufhebungen (§§ 577 bis 580, 585, 591 ZPO).
Zum anderen brachte es daneben mit den §§ 593a bis 593e ZPO den neuen Unterab-
schnitt „b) Rechtsbotverfahren" 94 für den einstweiligen Rechtsschutz.
1.36 Das Nachtragsgesetz von 1922 regelte nebst § 26 ZPO (Bevollmächtigung) und § 246
ZPO (erste Tagsatzung 95 ) va die Berufung in den §§ 431, 432, 43 7, 449 und 452
96
ZPO neu. Es vollzog den Wechsel von einer beschränkten Berufung (mit Neue-
98
rungsverbot97) hin zu einer volleren Berufung (mit beschränkter Neuerungserlaub-
87 G v 17.10.1921 betreffend Abänderung und Ergänzung des Gesetzes über das gerichtliche Ver-
fahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, LGBl 1921 / 19.
88 G v 7. 4. 1922 zur Zivilprozessordnung, LGBI 1922/18.
89 LI LA DM l 922/2A (Bericht GOG/NachtrG Dr. Beck).
90 G v 26. 5. 1924 zur Jurisdiktionsnorm, Zivilprozessordnung und zu deren Einführungsgesetz,
LGBI 1924/9.
91 Fundstellen: LGBl 1921/19, 1922/18, 1924/9; LI LA DM 1922/2A (Bericht GOG/NachtrG Dr.
Beck).
92 Delle-Karth, LJZ 2/2000, 44.
93 Zum vorangehenden Absatz E. Schädler, Prozessökonomie 484 f.
94 Vgl dazu auch das ein Jahr später erlassene G v 21. 4. 1922 über die allgemeine Landesverwal-
tungspflege (die Verwaltungsbehörden und ihre Hilfsorgane, das Verfahren in Verwaltungssa-
chen, das Verwaltungszwangs- und Verwaltungsstrafverfahren) (LVG), LGBl 1922/24, in der
StF, besonders die Parallelen des Rechtsbots in§ 593d ZPO mit dem Verwaltungsbot in Art 49
LVG, mit der Ausfertigung von Entscheidungen in Art 82 LVG oder mit dem Verwaltungsst-
rafbot in Art 148 LVG.
95 Siehe E. Schädler, Prozessökonomie 485 f.
96 Siehe E. Schädler, Prozessökonomie 194- 198 zur beschränkten Berufung nach Franz Klein in
der öCPO von 1895.
97 Siehe nur Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1721 - 1724 (Neuerungsverbot allgemein) und Rz 1725- 1733
(Neuerungsverbot im österr Zivilprozess).
98 Wilhelm Beck hob im zugehörigen BuA (LI LA DM 1922/2A [Bericht GOG/NachtrG Dr. Beck]
5) besonders hervor, dass es sich nicht um eine schlechthin volle Berufung handle, sondern -
nur, aber immerhin - ,,dass die Berufung im Rahmen der Berufungserklärung, der Anträge und
Berufungsgründe eine volle Berufung ist, dass die Streitsache innerhalb dieser Grenze von neu-
em verhandelt und entschieden wird".
14 Schumacher, HB LieZPR
Schädler IV. Entstehung anlässlich der großen Justizreform 1906 bis 1915
99 Vgl E. Schädler, Prozessökonomie 487-489 mwN sowie mit Gegenüberstellungen der alten
und neuen Vorschriften.
100 Siehe E. Schädler, Prozessökonomie 489-491.
101 Siehe E. Schädler, Prozessökonomie 491 f mit Gegenüberstellungen der alten und neuen Vor-
schriften.
102 Im Nachtragsgesetz von 1924 ist - wohl versehentlich - Abs 3 angegeben.
103 Siehe E. Schädler, APLI 56 (2016) Sf.
104 Zum vorangehenden Absatz und der zeitlichen Einteilung vgl E. Schädler, Prozessökonomie
286 mwH.
Schumacher, HB LieZPR 15
Kap 1 Geschichte der liechtensteinischen ZPO - Rückblick Schädler
a) Historische Umstände
1.41 Am 11. 12. 1906 behandelte der Landtag in erster Lesung zwei so benannte „Justizge-
setzentwürfe", die mittels „Zusatzbestimmungen" eine Novellierung der damals gelten-
den zivil- und strafrechtlichen Prozessordnungen, also einerseits der Allgemeinen Ge-
richtsordnung von 1781 105 (AGO) sowie andererseits der Strafprozessnovelle von
1881 106 , zum Ziel hatten. 107 Beide Entwürfe waren vom Fürstlichen Appellationsgericht
in Wien ausgearbeitet worden. 108 Am 13. 12. 1906 nahm der Landtag die Zusatzbestim-
mungen zur AGO 109 sodann in zweiter Lesung ohne Debatte einstimmig an, 110 sie erhiel-
ten ihre fürstliche Sanktion am 26.12.1906 und traten mit LGBl 1907/1 111 in Kraft. In
dieser geänderten Fassung galt die AGO bis zum Inkrafttreten der ZPO am l. 6. 1913.
1.42 Den Zusatzbestimmungen zur Strafprozessnovelle hingegen, die ua die freie Beweiswür-
digung im Strafprozess einzuführen bezweckten und die aber schon in den Vorberatun-
gen stark umstritten gewesen waren, wurde eine hitzige parlamentarische Debatte zuteil,
woraufhin die Vorlage seitens der Regierung zurückgezogen wurde. 112 (Die strafprozes-
sualen Zusatzbestimmungen sollten vom Landtag erst in seiner Sitzung v 15. l l. 1909
wieder aufgegriffen, gutgeheißen und, fürstlich sanktioniert, mit LGBI 1910/l in Kraft
gesetzt werden.) Der Landesfürst Johann II. drückte daher in einem fürstlichen Hand-
billett v 30. 12. I 906 an die Regierung seine Hoffnung aus, dass alle nötigen prozessrecht-
lichen Reformen trotz allem baldmöglichst unter tatkräftiger Mitwirkung des Landtags
113
würden durchgeführt werden können. Auch für die zivilrechtliche Prozessordnung
wurde daraus klar, dass die erlassenen Zusatzbestimmungen nur der raschen Behebung
einiger arger Missstände in der Praxis dienten und lediglich einen Zwischenschritt hin
16 Schumacher. HB LieZPR
Schädler IV. Entstehung anlässlich der großen Justizreform 1906 bis 1915
b) Inhaltliche Beiträge
Die Zusatzbestimmungen zur AGO sollten den zivilprozessualen „Haupt-Übelstand" der 1.43
,,überflüssigen Weitläufigkeiten" beheben, indem sie va das Erfordernis einer ausdrück-
lichen Bestreitung allen Tatsachenvorbringens der Gegenseite beseitigten. 116 Die (vier)
§§ 5, 6, 11 und 104 der AGO wurden deshalb gestrichen und stattdessen neu verlangt
(gegliedert in fünf Ziffern eines LGBI), tatsächliches Vorbringen „in gedrängter Kürze"
(Z 1) und möglichst beschränkt auf das Unrichtige (Z 2) zu bestreiten; die Beweislast bei
tatsächlichem Vorbringen wurde vom formellen Bestreiten entkoppelt und neuerdings an
die Entscheidrelevanz geknüpft (Z 3 und 4); und wegen wissentlich unrichtiger Tatsa-
chenbehauptungen oder sonstiger überflüssiger Weitläufigkeiten konnte ferner neu eine
117
Ordnungsstrafe verhängt werden (Z 5).
b) Inhaltliche Beiträge
Peers rund zehnseitiges Gutachten aus der Frühzeit der großen Justizreform äußerte sich 1.45
sowohl zum Zivilverfahrensrecht als auch zum Strafprozessrecht. Es warf alle sich bei
diesen Reformen stellenden grundsätzlichen Fragen auf und erörterte vorschlagsweise
die grundlegenden Weichenstellungen, was sich in der Folge von beachtlichem rechts-
politischem Gewicht erweisen sollte. Im Hinblick auf das Zivilverfahrensrecht trat Peer
für eine neue Kodifikation anstelle bloßer Novellierungen ein und empfahl aufgrund des
bestehenden Naheverhältnisses (dazu unten Rz 1.83 f und 1.85- 1.87) die Orientierung
am Vorbild Österreichs, dessen fortschrittliche ZPO (Öffentlichkeit, Mündlichkeit, freie
Beweiswürdigung, Erforschung der materiellen Wahrheit) er besonders herausstrich. 121
Schumacher, HB LieZPR 17
Kap 1 Geschichte der liechtensteinischen ZPO - Rückblick Schädler
1.46 Der dementsprechende Instanzenzug, so schlug Peer vor, sollte vom erstinstanzlichen
Vaduzer Landgericht mit weiterhin einem einzigen Landrichter über (zwecks mündli-
cher, öffentlicher Verhandlung) hiesige „Appellsenate im Zivilverfahren" 122 , die sich
aus zwei österr Richtern und einem liechtensteinischen Laienrichter zusammensetzten
und die periodisch tagen oder ad hoc einberufen werden sollten, schließlich in dritter
Instanz an das Fürstliche Appellationsgericht in Wien als Obersten Gerichtshof (mit
schriftlichem und geheimem Verfahren) führen. 123 Mit der Erweiterung der Reform
von der bloßen Verfahrensordnung ( wie zuvor noch die Änderung der AGO 1906 [dazu
oben Rz 1.41-1.431) auch auf das komplementäre Organisationsrecht und insb auf den
Instanzenzug machte Peer sie erstmals zu einer eigentlichen und „großen" ,,Justiz"-Re-
form.
1.47 Besonderes Augenmerk richtete Peer durchwegs darauf, dass die Justizreform zum einen
unter allen Umständen die Justizhoheit des Landesfürsten, manifestiert hauptsächlich
im Fürstlichen Appellationsgericht in Wien, wahre 124 und sie zum anderen keinen neuen
Zustand schaffe, der dem liechtensteinischen Staat Mehrkosten bzw übermäßige Kosten
aufbürde 125 .
18 Schumacher, HB LieZPR
Schädler IV. Entstehung anlässlich der großen Justizreform 1906 bis 1915
mediateingabe 131 an den Landesfürsten Johann II., welcher darauf mit einem fürstlichen
133
Handbillett 132 v 9. l 0. 1908 grundsätzlich befürwortend reagierte.
b) Inhaltliche Beiträge
Der Bericht und Antrag der (ersten) Siebnerkommission 1907 gipfelte in der Resolution 1.49
des Landtags, im Zivil- wie auch im Strafverfahren anstelle von stückweisen Novellierun-
gen eine gesamthafte „gründliche Reform" 134 , also sowohl der Verfahrensordnung als
auch des Organisationsrechts, zu unternehmen und hierfür „die bewährte moderne Ge-
setzgebung des benachbarten Oesterreich, mit dem wir in regen Beziehungen stehen, zu
rezipieren." 135 Öffentlichkeit, Mündlichkeit, freie Beweiswürdigung 136 und - wie mehr
137
oder weniger immer - Prozessökonomie im erstinstanzlichen und zweitinstanzlichen
Verfahren einerseits und zu deren Verwirklichung dementsprechend im Inland gelegene
Instanzen andererseits (ganz iS des von Gutachter Peer vorgeschlagenen Instanzenzugs
1311
einer großen Justizreform [dazu oben Rz l.46]) wurden angeregt. Als grundsätzliche
(vorerst bewusst nur aufgeworfene und offen gelassene) Fragen stellten sich folglich, ob
ein zweiter Landrichter berufen werden solle, ob die Zweitinstanz ins Inland verlegt wer-
den könne und welche Auswirkungen auf die Kosten für den liechtensteinischen Staat
das jeweilige Für und Wider nach sich zöge: 39
In seinem fürstlichen Handbillett von 1908 begrüßte Landesfürst Johann II. das Ansin- 1.50
nen einer großen, ,.durchgreifenden Reform" im gewünschten Sinne und erklärte, ,.für
die Ausarbeitung der betreffenden Gesetzentwürfe theoretisch und praktisch bewährte
Fachmänner berufen" zu wollen, wobei er sich „über das Ergebnis der bezüglichen Arbei-
ten die weitere Schlußfassung vor[behielt]". 140 Das betraf namentlich die Festlegung der
Gerichtsorganisation per fürstlicher Verordnung sowie die Richterernennungen, die ver-
141
fassungsrechtlich damals ausschließlich in der Zuständigkeit des Landesfürsten lagen.
Die Wahl des besagten Fachmanns für die Ausarbeitung der Gesetzentwürfe fiel schließ-
lich auf Gustav Walker (dazu unten Rz l.56f), der sich seinerseits bei seinen Arbeiten
wiederum auf Franz Kleins österreichische Civilproceßordnung von 1895 stützte.
131 Vgl§ 42 Konstitutionelle Verfassung 1862 (LI LA SgRV 1862/5); s Liechtensteiner Volksblatt v
3. 1. 1908, 6.
132 LI LA RE 1908/0570 (Handbillett 1908); auch abgedruckt im Liechtensteiner Volksblatt v 6. 11.
1908, 5.
133 Fundstellen: LI LA LTA 1907 LI (Antrag Siebnerkommission), LI LA RE 1908/0570 (Hand-
billett 1908); Liechtensteiner Volksblatt v 3. 1. 1908, v 6. 11. 1908.
134 LI LA LTA 1907 LI (Antrag Siebnerkommission) 3.
135 LI LA LTA 1907 LI (Antrag Siebnerkommission) 3f.
136 Siehe E. Schädler, Prozessökonomie 336 f.
137 Siehe E. Schädler, Prozessökonomie 333 f.
138 LI LA LT A 1907 LI (Antrag Siebnerkommission) 3 f.
139 Siehe E. Schädler, Prozessökonomie 342f (zweiter Landrichter), 343-345 (zweite inländische
Instanz), jeweils auch zu den Kosten, und 345- 350 (Kosteneinsparungen).
140 Alle wörtlichen Zitate aus LI LA RE I 908/0570 (Handbillett 1908) 1.
141 Vgl§§ 28 und 33 Konstitutionelle Verfassung 1862 (LI LA SgRV 1862/5).
Schumacher, HB LieZPR 19
Kap 1 Geschichte der liechtensteinischen ZPO - Rückblick Schädler
142 Fundstellen: Materialien: (Franz Klein) Erläuternde Bemerkungen CPO, Materialien I (1897).
Wichtige Schriften Franz Kleins: Pro futuro (1891), Civilprozess-Gesetzentwürfe, ZZP 19
(1894) 1, Vorlesungen über die Praxis des Civilprocesses (1900}; Klein/Engel, Zivilprozess Oes-
terreichs (1927).
143 Klein, Pro futuro.
144 Ferner: G v 1. 8. 1895 über die Ausübung der Gerichtsbarkeit und die Zuständigkeit der or-
dentlichen Gerichte in bürgerlichen Rechtssachen (Jurisdiktionsnorm), RGBI 1895/111 (in der
StF}; G v 25. 5. 1896 über das Exekutions- und Sicherungsverfahren (Exekutionsordnung),
RGBI 1896/79 (in der StF}; G v 27. 11. 1896, womit Vorschriften über die Besetzung. innere
Einrichtung und Geschäftsordnung der Gerichte erlassen werden (Gerichtsorganisationsge-
setz), RGBI 1896/217 (in der StF).
145 G v 1. 8. 1895 über das gerichtliche Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten (Civilpro-
ceßordnung), RGBI 1895/113 (in der StF).
146 Ein Überblick deren Vorgeschichte, Entstehung und Novellierungen bspw bei Schoibl, Ent-
wicklung (passim).
147 Zur liechtensteinischen Rezeptionskultur im Bereich des Rechts s (aus dem Jahr 1963, inzwi-
schen klassisch) Gschnitzer in GedS Marxer (passim).
148 Zum vorangehenden Absatz E. Schädler, Prozessökonomie 83 (zusammenfassend), 84f (Franz
Klein und dessen Beauftragung), 87-89 (die Klein'schen Entwürfe und der parlamentarische
Gesetzgebungsprozess) und 90 f (Franz Kleins Schöpfung).
20 Schumacher, HB LieZPR
Schädler IV. Entstehung anlässlich der großen Justizreform 1906 bis 1915
b) Inhaltliche Beiträge
Die CPO 1895 löste formell die öAGO von 1781 bzw die Westgalizische Gerichtsordnung 1.53
(WGO) von 1796 ab, deren Grundsätze (Dispositionsgrundsatz, Heimlichkeit, Verhand-
lungsgrundsatz, Schriftlichkeit, Mittelbarkeit, dies alles mit überwiegendem Parteibetrieb,
Anwaltszwang und festen Beweisregeln) sich im Laufe der Zeit als praktisch unzweck-
mäßig herausgestellt hatten. 149 Dem stellte Franz Klein einen neuen Zivilprozess gegen-
über, der sich seiner wirtschaftlichen Unproduktivität, ja sozialen Schädlichkeit und spie-
gelbildlich damit seiner gesellschaftlichen Bedeutung als „Wohlfahrtseinrichtung" 150 für
alle Rechtsunterworfenen bewusst war. 151 Klein postulierte infolgedessen unter dem zivil-
prozessualen Endzweck des „Privatrechtsschutz[es]" 152 als besondere Zwecke des Zivil-
prozesses dessen Prozessökonomie (Effizienz, Raschheit, Billigkeit), die Erforschung der
materiellen Wahrheit sowie die Befriedung der Parteien und Herstellung von Gerechtig-
keit zwischen ihnen. 153 Als Verfahrensgrundsätze - gesamthaft austariert und betont in
Gegengewichtung zum früheren Zivilprozess, ohne jedoch ins ebenso schädliche konträre
Extrem zu verfallen - betonte er den Dispositionsgrundsatz, die Öffentlichkeit, einen
stärkeren Untersuchungsgrundsatz, die Mündlichkeit und die Unmittelbarkeit, 154 dies
alles unter Konzentration des Verfahrens mit weitgehender gerichtlicher Prozessleitung,
grundsätzlich ohne Anwaltszwang, mit freier Beweiswürdigung sowie durchwegs mit be-
sonderem Blick auf die Praktikabilität und forensische Praxis.
In ihrer dogmatischen Gestalt präsentierte sich die österreichische Civilproceßordnung 1.54
von 1895 wie folgt:
• Allgemeine Bestimmungen (§§ l bis 225 CPO): Parteien(§§ l bis 73 CPO, ua Process-
fähigkeit, Processkosten, Sicherheitsleistung, Armenrecht); Verfahren (§§ 74 bis 170
CPO, ua Schriftsätze, Zustellungen, Fristen, Tagsatzungen); Mündliche Verhandlung
(§§ 171 bis 225 CPO, ua Öffentlichkeit, Protokolle);
• Verfahren vor den Gerichtshöfen erster Instanz (§§ 226 bis 430 CPO): Verfahren bis
zum Urtheile (§§ 226 bis 389 CPO, ua Klage, vorbereitendes Verfahren, Beweise); Ur-
theile und Beschlüsse (§§ 390 bis 424 CPO);
• Verfahren vor den Bezirksgerichten (§§ 431 bis 460 CPO);
• Rechtsmittel (§§ 461 bis 528 CPO): Berufung(§§ 461 bis 501 CPO); Revision (§§ 502
bis 513 CPO); Recurs (§§ 514 bis 528 CPO);
• Nichtigkeits- und Wiederaufnahmsklage (§§ 529 bis 547 CPO);
• Besondere Arten des Verfahrens(§§ 548 bis 602 CPO): Mandatsverfahren (§§ 548 bis
554 CPO); Verfahren in Wechselstreitigkeiten (§§ 555 bis 559 CPO); Verfahren bei
Streitigkeiten aus dem Bestandvertrage (§§ 560 bis 576 CPO); Schiedsgerichtliches Ver-
fahren (§§ 577 bis 599 CPO); Verfahren in Streitigkeiten wegen der von richterlichen
Beamten zugefügten Rechtsverletzungen (§§ 600 bis 602 CPO).
Schumacher, HB LieZPR 21
Kap 1 Geschichte der liechtensteinischen ZPO - Rückblick Schädler
1.55 Franz Klein sprach allegorisch vom Zivilprozess als einer Maschinerie 155 und aufgrund
dieser mechanistischen Auffassung konzipierte er ihn im beschriebenen Sinn aus einzel-
nen dogmatischen „Bauelemente[n)" 156 modular, aber insgesamt als kohärentes und kon-
sistentes Ganzes. Was die Verfahrensart betraf, unterschied er das standardmäßige Ge-
richtshofverfahren vor einem Richtergremium (va §§ 226 bis 389 CPO zum „Verfahren
vor den Gerichtshöfen erster Instanz") gegenüber dem bezirksgerichtlichen Verfahren
(§§ 431 bis 460 CPO), das bei tieferen Streitwerten vor einem Einzelrichter stattfand und
daher insgesamt gestrafft ausgelegt war - weshalb es sich als geradezu maßgeschneidert
für die damalige kleindimensionierte liechtensteinische Justiz zur Rezeption eignete (da-
zu sogleich unten Rz 1.600.
1.57 Nach Abschluss der Arbeiten reichte die Fürstliche Regierung am 19. II. 1911 die Wal-
ker'schen Entwürfe 160 zur ZPO, JN und zum zugehörigen Einführungsgesetz samt er-
161
läuternden Bemerkungen Walkers sowie das Protokoll der Beratungen hierüber am
Fürstlichen Appellationsgericht v 6. 11. 1911 (dazu unten Rz l.63f) beim Landtag
ein. 162 In der Landtagssitzung v 20. 11. 1911 konnten somit die Entwürfe dem Landtag
offiziell zur Kenntnis gebracht und den Abgeordneten kurz vorgestellt werden, 163 bevor
sie in die ordentliche kommissionelle Vorberatung sowie in weitere Beratungen geschickt
wurden.
22 Schumacher, HB LieZPR
Schädler IV. Entstehung anlässlich der großen Justizreform 1906 bis 1915
b) Inhaltliche Beiträge
Die Walker'schen Entwürfe 164 erschienen in einem rund 250-seitigen, gedruckten Korn- 1.58
pendium, das in erster Linie als Arbeitsunterlage im Gesetzgebungsprozess und nicht zur
allgemeinen Veröffentlichung gedacht war. Das Kompendium gliederte sich folgender-
maßen: Gesetzesvorlagen zur liechtensteinischen ZPO (I.; S 1-163), zur liechtensteini-
schen JN (II.; S 164-178) sowie zum Einführungsgesetz (III.; S 179-185); erläuternde
Bemerkungen zur ZPO (IV.; S 186-238) und zur JN (V.; S 239-244); eine Konkordanz-
tabelle mit Gegenüberstellung der Paragraphennummerierung der österr Erlasse und ih-
rer liechtensteinischen Pendants, sowohl zur ZPO (VI.; S 245-253) als auch zur JN (VII.;
S 254-255), mit jeweiligem Vermerk „geändert" oder „unverändert". 165 Die Nummerie-
rung der Paragraphen der Walker'schen Entwürfe blieb übrigens später in den in Kraft
tretenden StF weitgehend gleich.
Die besagten erläuternden Bemerkungen zur ZPO (IV.; S 186-238) - die vorliegend 1.59
von besonderem Interesse sind - setzten sich zusammen aus einem allgemeinen Teil
(S 186-196), welcher die rechtspolitisch-rechtshistorische Situation, aus der heraus die
große Justizreform und die ZPO entstanden, umfassend darstellte, sowie aus einem be-
sonderen Teil (S 196-238), der die einzelnen Vorschriften insofern erläuterte, als sie von
den österr Vorlagen abwichen. Die Materialien zur österr Civilproceßordnung von 1895
galten nämlich, wie Walker eingangs ausdrücklich festhielt, grundsätzlich auch für seinen
liechtensteinischen Zivilprozessordnungsentwurf, wo nicht ausdrücklich etwas anderes
vermerkt war. 166
Infolge der damaligen liechtensteinischen Gerichtsorganisation mit nur einem einzigen 1.60
Landrichter am Vaduzer Landgericht kam für eine Rezeption allein das österr (besonders
gestaltete) bezirksgerichtliche Verfahren, nicht hingegen das (dort standardmäßige) Ge-
richtshofverfahren infrage. Somit wurde hierzulande als Standardverfahren ein an sich
schon besonders (va prozessökonomisch) ausgestaltetes Verfahren festgelegt, was in die-
ser Umkehrung allerdings in dogmatischer Hinsicht die Rezeption verkomplizierte.
Zur Frage der Gratwanderung zwischen Rezeption der Vorlagen und Adaption an die 1.61
hiesigen Verhältnisse äußerte sich Gustav Walker selbst in einem Schreiben an den Lan-
desfürsten mit folgenden Worten: .,Diese Gesetzesentwürfe sind, wie schon der Augen-
schein zeigt, keineswegs mit den österreichischen Gesetzen identisch. Da die österreichi-
schen Gesetze eine ganz andere Gerichtsorganisation, ganz andere staatliche und wirt-
schaftliche Verhältnisse zur Voraussetzung haben, da die österreichischen Gesetze die
Trennung des Gerichtshofverfahrens und des einzelrichterlichen Verfahrens in erster In-
stanz und innerhalb gewisser Grenzen den Anwaltszwang enthalten, konnten die öster-
reichischen Gesetze nicht einfach übernommen werden, sondern mussten fast vollständig
umgearbeitet werden, um für die liechtensteinische Rechtspflege anwendbar zu sein. Die-
se Umarbeitung gestaltete sich bei der Masse des Stoffes und dem Ineinandergreifen der
gesetzlichen Bestimmungen außerordentlich schwierig und wie die Tabellen, die den Ge-
setzentwürfen angeschlossen sind, zeigen, konnten von den 602 Paragraphen der öster-
Schumacher, HB LieZPR 23
Kap 1 Geschichte der liechtensteinischen ZPO - Rückblick Schädler
reichischen Zivilprozessordnung [... ) nur ganz wenige nach vorheriger genauester Ue-
berprüfung rücksichtlich ihrer Einpassung in den geänderten Rahmen der übrigen ge-
setzlichen Normierungen, unverändert übernommen werden. Alle Bestimmungen der
österreichischen Zivilprozessgesetze aber mussten auf ihre Anwendbarkeit im Fürsten-
tume untersucht" 167 werden. - Einerseits konnte Walker also seine Entwürfe stark an
die österr Vorlagen anlehnen, was deren Konzept und Struktur anging, indem er vieles
aus den Vorlagen einfach ersatzlos strich, namentlich was nicht zum bezirksgerichtlichen
Verfahren gehörte oder passte; andererseits bereitete ihm die - später im Gesamten sei-
nes Erachtens zu Unrecht etwas untergehende - Feinarbeit an jeder einzelnen Bestim-
mung und ihrem Wortlaut viel Arbeit, da kaum eine davon komplett unverändert, ge-
schweige denn unbesehen rezipiert werden konnte. 168
1.62 Jedenfalls in ihrer untergründigen, grundsätzlichen Auffassung des Zivilprozesses deck-
ten sich die Vorstellungen und Ausführungen Walkers vollständig, ja teilweise sogar
wortwörtlich mit jenen (oben unter Rz l.53-1.55 beschriebenen) Franz Kleins: der Zivil-
prozess infolge seiner gesellschaftlichen Bedeutung als Wohlfahrtseinrichtung, sein
Zweck als effizienter, rascher und billiger Privatrechtsschutz, ein öffentliches, mündliches
und unmittelbares Verfahren, das konzentriert und unter gerichtlicher Prozessleitung
durchgeführt wird. 169 (Den Geist dieses Klein'schen Konzepts atmen die jeweiligen dog-
matischen Ausprägungen der liechtensteinischen ZPO bis heute und haben ihn mangels
tiefgreifender, mangels konzeptionell gegenläufiger oder auch mangels gutgemeinter,
aber beeinträchtigend wirkender Novellierungen womöglich besser bewahrt als andern-
orts.)
24 Schumacher, HB LieZPR
Schäd/er IV. Entstehung anlässlich der großen Justizreform 1906 bis 1915
b) Inhaltliche Beiträge
Bei seinen Änderungen 175 votierte das Appellationsgericht nebst einigen bloß redaktio- 1.64
nellen Bereinigungen für eine Verlängerung 176 der Frist zur Behebung von Formmängeln
in Schriftsätzen (§ 85 Abs I Satz 4 ZPO) von drei auf acht Tage. überdies erwog es ver-
schiedene Erleichterungen der gerichtlichen Schreibarbeit, so den Verzicht auf die Aus-
formulierung eines eigenen Urteilstatbestands, die Abschaffung der Parteiunterschriften
auf dem Verhandlungsprotokoll oder die Ermächtigung des Gerichts, dem Beklagten ei-
nen vorbereitenden Sc~_riftsatz mit seinen Einwendungen ~igen die Klage aufzutragen -
letztlich wurden diese Uberlegungen aber alle verworfen. 1
b) Inhaltliche Beiträge
Wie sie in ihrem Bericht vorausschickte, 184 war die vorberatende Kommission angesichts 1.66
der umfangreichen Entwürfe weder zu einer Detailprüfung noch zu endgültigen Ent-
scheidungen in der Lage; beides sollte einer besonderen (zweiten) Siebnerkommission
vorbehalten bleiben. Die Ausführungen der vorberatenden Kommission beschränkten
sich demnach auf grundsätzliche und hinweisende Erwägungen rechtshistorischer
und rechtspolitischer Natur: ein chronologischer Überblick der zivilprozessual relevan-
ten Gesetze wurde gegeben; der Hergang der bisherigen Ereignisse der Justizreform re-
kapituliert; die Fortschrittlichkeit der Walker'schen Entwürfe in Abkehr vom früheren
Zivilprozess der AGO und ihre verständliche Ausfertigungsweise lobend hervorgehoben.
Als Grundsatzfragen warf die vorberatende Kommission auf - was sich alsdann auch in
der Debatte des Landtags widerspiegelte 185 -, ob gegenüber dem bestehenden Instanzen-
---- - . ------- . ------
175 ZPO: §§ 85, 119, 120, 122,191,257,413,417; JN; §§ 5, 24, 26, 43. Einführungsgesetz: Art 1, III.
176 LI LA RE 1911/1390 (Protokoll Appellationsgericht) 1.
177 LI LA RE 1911/1390 (Protokoll Appellationsgericht) 2-4.
178 LI LA LTP 1911 (Landtagssitzung 20.11.1911) 14f(If).
179 Fundstel/en: LI LA RE 1911/1390 (Landtag Gesetzentwürfe), LI LA RE 1911/1390 (Schreiben
Schädler 12.12.1911); LI LA LTP 1911 (Landtagssitzung 20. II. 1911).
180 Siehe LI LA RE 1911/1390 (Landtag Gesetzentwürfe) 3-7.
181 LI LA RE 1911/1390 (Landtag Gesetzentwürfe) 7, vgl 3.
182 A. Schädler, fBL 12 (1912) 70.
183 Siehe LI LA RE 1911/1390 (Schreiben Schädler 12. 12. 1911).
184 Vgl LI LA RE 1911/1390 (Landtag Gesetzentwürfe) 3, vgl 6.
185 Vgl A. Schädler, JBL 12 (1912) 70f.
Schumacher, HB LieZPR 25
Kap 1 Geschichte der liechtensteinischen ZPO - Rückblick Schädler
b) Inhaltliche Beiträge
1.69 Das Kurzgutachten Schöpf enthielt nahezu ausschließlich Änderungen 190 iSv redaktionel-
len Bereinigungen der ZPO und der JN, für welche es jeweils auf die Pendants in den
österr Erlassen verwies. 191
26 Schumacher, HB LieZPR
Schädler IV. Entstehung anlässlich der großen Justizreform 1906 bis 1915
Gutachten in ihrem Kommissionsbericht auf und auch Gustav Walker, der informiert
worden war, pflichtete mehreren davon bei. 195
b) Inhaltliche Beiträge
Hämmerle bewertete die Walker'schen Entwürfe insgesamt als „ausgezeichnete Arbeit" 196 , 1.71
197
an denen er in redaktioneller Feinarbeit noch einige Anpassungen anregte.
Hämmerle bereicherte die Debatte hinsichtlich des Instanzenzugs überdies um eine bis- 1.72
her nicht erwogene (und mancherseits daraufhin harsch kritisierte 198 ) Möglichkeit: Er
schlug als Zweitinstanz das nahegelegene, regionalkundige Kreisgericht Feldkirch (oder
ein vom Landesfürsten ernanntes Gremium von drei zum Richteramt befähigten Vorarl-
berger Juristen) vor, das zwecks mündlicher Berufungsverhandlung in Vaduz tagen wür-
199
de. Aus der bisherigen Zweitinstanz des Fürstlichen Appellationsgerichts in Wien wür-
de demzufolge neuerdings die Drittinstanz (unter Wahrung der fürstlichen Justizhoheit)
werden, eventualiter sei wie bislang das Innsbrucker Oberlandesgericht weiterhin als
Oberster Gerichtshof beizubehalten.100
Ein Kritikpunkt Hämmer/es bildete die (seines Erachtens allzu strikte und mit mindes- 1.73
tens 14 Tagen zeitlich allzu lange) Absonderung der ersten Tagsatzung von der Tag-
satzung zur eigentlichen Streitverhandlung (§ 250 201 ZPO). Er empfahl deshalb, einen
Passus in die einschlägige Vorschrift aufzunehmen, der dem Gericht uU bereits anläss-
lich der ersten Tagsatzung erlaubte, meritorische Einwendungen und Beweismittel pro-
tokollarisch aufzunehmen. Zumal mit § 257 ZPO sinngemäß ein Mechanismus zur Be-
hebung des beschriebenen (vermeintlichen) Missstands vorlag, gingen weder das Fürst-
202
liche Appellationsgericht in seiner Zweitberatung (dazu sogleich unten Rz 1.74 t)
noch die zweite Siebnerkommission 203 (dazu unten Rz l.76t) auf Hämmer/es Vorschlag
ein.204
Schumacher, HB LieZPR 27
Kap 1 Geschichte der liechtensteinischen ZPO - Rückblick Schädler
b) Inhaltliche Beiträge
1.75 Die auf Anregung der zweiten Siebnerkommission hin vom Appellationsgericht befür-
worteten Änderungen 208 erstreckten sich weitgehend auf Redaktionelles, betrafen dane-
ben aber auch das Mahn- bzw Mandatsverfahren 209 sowie die Übergangsbestimmun-
gen210 im Einführungsgesetz.
28 Schumacher, HB LieZPR
Schädler IV. Entstehung anlässlich der großen Justizreform 1906 bis 1915
schloss 215 und am 16. 11. 1912 alsdann die restlichen beantragten Änderungen einstim-
mig guthieß 216.
b) Inhaltliche Beiträge
Der Bericht217 beschrieb in einem ersten Abschnitt (S 1-3) all die verschiedenen Statio- 1.77
nen der Beratung und Begutachtung, die die Walker'schen Entwürfe durchlaufen hatten.
Sodann listete er unter Nennung der Urheberschaft die jeweils vorgeschlayen~n - und
nun von der Siebnerkommission befürwortend übernommenen - konkreten 18 Anderun-
gen am Entwurf zur ZPO (S 3- 5), zur JN (S 5 f) und zum Einführungsgesetz (S 6) auf. In
der Sache nahm im ersten Abschnitt die vorwiegend rechtspolitische Frage des Instan-
zenzugs, für dessen Beibehaltung in bisheriger Form die Siebnerkommission (unter den
herrschenden liechtensteinischen Umständen: zumindest vorerst) im Anschluss an Gus-
tav Walker 19 plädierte, 220 den größten Raum ein, wobei durchgehend der Leitgedanke
der „Wahrung unserer Selbständigkeit" 221 in verschiedenen Variationen zum Ausdruck
kam. (Ein gänzlich inländischer Instanzenzug aus eben dieser rechtspolitischen Überle-
gung heraus sollte alsdann mit der neuen Verfassung von 1921 eingerichtet werden [dazu
oben Rz 1.31 und 1.32).) Bei den Änderungen des Entwurfs zur ZPO dominierte vom
Umfang her gesehen das Mahnverfahren (§§ 577 ff ZPO). 222
Schumacher, HB LieZPR 29
Kap 1 Geschichte der liechtensteinischen ZPO - Rückblick Schädler
1. Vermittlerämtergesetz 1915
a) Historische Umstände
1.80 Die Einführung von Vermittlerämtern 223 war in Liechtenstein schon mehrfach debattiert
worden (dazu bspw unten Rz 1.91), zumal die Vermittlung auf eine gewisse Tradition 224
zurückblicken konnte und Vermittlerämter in den Nachbarregionen dazumal angeblich
erfolgreich zur Gerichtsentlastung eingesetzt wurden. 225 Am 8. 11. 1913 wählte der Land-
tag eine (dritte) Siebnerkommission, um die Einführung von Vermittlerämtern zu prü-
fen.226 Deren Bericht und Antrag 227 erging noch in derselben Session und fiel zugunsten
der Schaffung eines Vermittlerämtergesetzes aus. 228 Die Regierung erstellte einen Ge-
setzesentwurf, den ein ausführlicher Kommissionsbericht 229, verfasst von Wilhelm Beck,
begleitete und im Landtag am 25. 11. 1915 behandelt wurde. 230 In seiner Sitzung v 27. 11.
1915 nahm der Landtag den Entwurf an 231 und die fürstliche Sanktion folgte am 12. 12.
1915, so dass das Gesetz über die Vermittlerämter 232 (V AG) in seiner StF am 1. 5. 1916 in
Kraft treten konnte.
1.81 Das Vermittlerämtergesetz wurde nach nahezu einhundertjähriger Geltung per 1. 7.
2015 ersatzlos aufgehoben, 233 da es sich inzwischen in der Praxis als überlebt und iS
einer bloßen verfahrensrechtlichen Formalität als nicht mehr zielführend erwiesen
hatte. 234
b) Inhaltliche Beiträge
1.82 Die Einrichtung von Vermittlerämtern bezweckte in erster Linie eine Entlastung des
Landgerichts durch Vermeidung unnötiger Zivilprozesse, indem vermittelbare Streitig-
keiten vorgängig aussortiert wurden, anstatt sie direkt zum Zivilprozess vor dem Land-
30 Schumacher, HB LieZPR
Schädler V. Vorgeschichte im 19. Jahrhundert
gericht zuzulassen. In jeder Gemeinde wurde folglich ein Vermittleramt eingerichtet und
ein Vermittler gewählt (vgl § 1 Abs l und § 2 Abs 2 VAG). Ua „in allen bürgerlichen
Rechtsstreitigkeiten" (§ 8 Abs I V AG) war eine mündliche und formlose (§ 14 Abs 2
VAG) Vermittlungsverhandlung durchzuführen, bei deren Scheitern der Vermittler ei-
nen Leitschein ausstellte(§ 28 VAG), dessen Vorliegen bzw zweimonatige Gültigkeit für
die Klagserhebung vor dem Landgericht eine ex officio zu prüfende Prozessvoraussetzung
darstellte (vgl § 39 Abs l und § 41 Abs I V AG).
Schumacher, HB LieZPR 31
Kap 1 Geschichte der liechtensteinischen ZPO - Rückblick Schädfer
B. Organisationsrecht
1.85 Die Aufnahme des Fürstentums Liechtenstein in den Deutschen Bund 1815 bedingte
nicht nur den Erlass einer bzw der Landständischen Verfassung von 181814 3, sondern
auferlegte auch, dass künftig ein dreistufiger Instanzenzug in Zivil- und Strafsachen ein-
zurichten war. 244 § 1 der Landständischen Verfassung hielt hierzu fest, dass man sich
.,bey Konstituirung einer dritten und obersten Gerichtsstelle an die diesfällige österrei-
chische Gesetzgebung auch für die Zukunft angeschlossen" habe. Im Instanzenzug folgte
somit auf das Oberamt in Vaduz als Regierungs- und erstinstanzliche Gerichtsbehörde
und auf die Fürstliche Hofkanzlei in Wien in der Funktion als Appellationsgericht (in-
dessen noch nicht so tituliert) neuerdings als dritte Instanz das (bis 1848 so benannte)
.,Appellationsgericht Innsbruck" bzw das (ab 1849 neu so bezeichnete) .,k. k. Oberlandes-
gericht für Tirol und Vorarlberg". 245 Dadurch war der zivilprozessuale Instanzenzug
Vaduz-Wien-Innsbruck geschaffen, wie er bis zur Verfassung von 1921 (dazu oben
Rz 1.31) bestehen bleiben sollte.
1.86 Gemeinsam mit der Konstitutionellen Verfassung von 1862 246 für das Fürstentum
Liechtenstein ergingen eine Amts-Instruktion 247 und eine fürstliche Verordnung zur
Verwaltungs- und Justizorganisation 248 • Beide bestätigten den bisherigen dreistufigen ln-
stanzenzug, ersetzten aber in erster Instanz das mit der neuen Verfassung entfallende
Oberamt in Vaduz mit dem Landgericht. Die fürstliche Amtsinstruktion von 1871 249
hielt später ebenfalls in der Sache am bisherigen Instanzenzug fest (§ 34). Sie setzte als
Zweitinstanz aber - auch in dieser neuen Benennung und Unterscheidung zur bisherigen
Hofkanzlei mit ihren Hofkanzleibeamten - explizit ein „Fürstliches Appellationsgericht"
250
(§§ 42 bis 45) aus drei vom Fürsten ernannten „Richtern" ein.
1.87 Bereits 1852 hatte sich das Fürstentum Liechtenstein durch einen Zollvertrag 251 an das
wirtschaftlich starke Nachbarland Österreich anbinden können, zu welchem infolge der
Beziehungen des Fürstenhauses Liechtenstein zur Donaumonarchie ohnehin ein beson-
deres Naheverhältnis bestand. 252 Im Jahr 1884 sicherte alsdann ein eigener Staatsver-
trag253 mit Österreich bezüglich der Justizverwaltung, und zwar unter Gewährleistung
32 Schumacher, HB LieZPR
Schädler V. Vorgeschichte im 19. Jahrhundert
Schumacher, HB LieZPR 33
Kap 1 Geschichte der liechtensteinischen ZPO - Rückblick Schädler
tensteinischen Inland denkbar waren. 260 Hier musste ein durchführbarer Ausgleich ge-
funden werden, der unter Wahrung der liechtensteinischen Eigenständigkeit sowie fürst-
lichen Justizhoheit eine moderne, naheliegender- und vorteilhafterweise österr geprägte
Ausgestaltung der Justiz zuließ.
1.91 Immer deutlicher zeigte sich auch zulasten des Rechtsschutzes der liechtensteinischen
Bevölkerung eine Überlastung des Vaduzer Landgerichts bzw des einzigen dort ange-
stellten Landrichters. Schon iZm der Rezeption des österr Bagatellverfahrens261 im Jahr
1883 war seitens des Fürstlichen Appellationsgerichts gegenüber dem Landtag die An-
stellung eines zweiten Landrichters angeregt, alsdann von diesem jedoch angesichts der
daraus voraussichtlich erwachsenden Kosten verworfen worden. 262 1887 jedoch beschloss
und übermittelte der Landtag infolge offensichtlicher „Ueberbürdung des Landgerichts
mit Arbeiten" 263 an den Landesfürsten Johann II. einstimmig eine Petition, die Überle-
gungen zu einer Justizreform enthielt; nebst einer Modernisierung der Verfahrensord-
nung wurde darin insb die Schaffung von (das Landgericht entlastenden) Vermittleräm-
tern oder die Anstellung eines zweiten Landrichters angeregt. 264 Letzteres blieb, nach
einem gescheiterten Versuch im Jahre 1891, 265 allerdings aus. Erst 1910 sollte im liech-
tensteinischen Staatsbudget zumindest eine Stelle für eine juristisch gebildete Hilfskraft
am Landgericht bewilligt werden. 266
1.92 Im beschriebenen Sinn sprach Josef Peer in seinem Gutachten von 1907/1908 (dazu oben
Rz 1.44- 1.47), ohne aber auf Einzelheiten einzugehen, schlichtweg von der allgemeinen
,.Unhaltbarkeit bisheriger Einrichtungen und Zustände im Fürstentum Liechtenstein" 267 ,
welche zu beheben sich die große Justizreform zwischen 1906 und 1915 namentlich mit
der Schaffung der Zivilprozessordnung anschickte.
34 Schumacher, HB LieZPR
2. Kapitel
Verfassungsrechtliche Grundlagen des Zivilverfahrens,
Aufbau der Zivilgerichtsbarkeit, Gerichtspersonen und
Gerichtsbesetzung, Prozessgrundsätze
68
Hugo Vogt2
Übersicht
Rz
I. Verfassungsrechtliche Grundlagen des Zivilverfahrens . . . . . . . . . . . . 2.1
II. Aufbau der Zivilgerichtsbarkeit, Gerichtspersonen und Gerichtsbeset-
zung ................................................ 2.3
A. Aufbau der Zivilgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3
B. Gerichtspersonen und Gerichtsbesetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9
l. Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. 9
2. Rechtspfleger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. 10
3. Gerichtsbesetzung .................................. 2.11
III. Prozessgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.15
A. Allgemeines ........................................ 2.15
B. Dispositionsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.17
C. Verhandlungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.21
D. Grundsatz der Rechtsanwendung von Amts wegen . . . . . . . . . . . . 2.26
E. Grundsatz der Mündlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.28
F. Grundsatz der Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.33
G. Unmittelbarkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.37
I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.37
2. Persönliche Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.39
3. Sachliche Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.40
4. Zeitliche Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.41
5. Unmittelbarkeit bei Beweiswiederholung durch das Berufungsge-
richt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.43
H. Anspruch auf rechtliches Gehör . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.44
l. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.44
2. Sachlicher Gewährleistungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.45
3. Rechtsfolgen einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Ge-
hör. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.53
4. Grundrechtskollisionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.58
I. Waffengleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.60
J. Vorrang der Sacherledigung/Verbot des überspitzten Formalismus . 2.61
K. Freie Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.64
L. Prozessökonomie und Verfahrenskonzentration . . . . . . . . . . . . . . 2.65
268 Der Verfasser dankt Dr. iur. Robin Schädler für die kritische Durchsicht des Manuskripts und
wertvolle Anregungen.
Schumacher. HB LieZPR 35
Kap 2 Verfassungsrechtliche Grundlagen des Zivilverfahrens Vogt
M.Grundsatz von Treu und Glauben und Verbot des Rechtsmissbrauchs 2.72
1. Grundsatz von Treu und Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.72
2. Verbot des Rechtsmissbrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.73
36 Schumacher, HB LieZPR
Vogt II. Aufbau der Zivilgerichtsbarkeit, Gerichtspersonen und Gerichtsbesetzung
spruch auf eine rechtsgenügliche Begründung (Art 43 Satz 3 LV) 277 , das Recht auf eine
effektive Beschwerde (Art 43 Satz I und 2 LV) 278 sowie das Recht auf den ordentlichen
279
Richter (Art 33 Abs I LV) .
Die liechtensteinische LV verlangt keine völlige Trennung von Justiz und Verwaltung. 2.2
IdS ist die Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen durch Gerichtsbehörden zuläs-
sig.280 So entscheidet in Verfahren wegen Leistungen nach dem AHVG, dem IVG und
dem FZG zunächst jeweils eine selbstständige Anstalt des öffentlichen Rechts über die
geltend gemachten Ansprüche und zwar unter Anwendung des Landesverwaltungspfle-
gegesetzes (L VG). Die Berufung gegen eine solche Entscheidung richtet sich dann an das
2111
OG und es findet die ZPO Anwendung •
277 Schon gern Art 95 Abs 2 LV haben die Richter ihren Entscheidungen und Urteilen Gründe
beizufügen. Zu dieser Begründungspflicht tritt Art 43 Satz 3 LV hinzu, wonach jeder Rechts-
unterworfene einen subjektiven Anspruch auf eine Entscheidungsbegründung besitzt. Einge-
hend zum verfassungsmäßig gewährleisteten Anspruch auf eine rechtsgenügliche Begründung
T. Wille in Kley/Vallender, Grundrechtspraxis 541 ff.
278 Eingehend zum verfassungsmäßig gewährleisteten Beschwerderecht T. Wille in Kley!Vallender,
Grundrechtspraxis 505 ff.
279 Zum gern Art 33 Abs 1 LV verfassungsmäßig gewährleisteten Recht auf den ordentlichen Rich-
ters T. Wille in Kley!Vallender, Grundrechtspraxis 331 ff.
280 Vgl dazu StGH 2009/2, Erw 3. Der StGH hält dort fest: nledoch beinhaltet weder die Gewalten-
teilung noch eines der vom Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang geltend gemachten
Grundrechte eine Einschränkung der Kompetenz des Gesetzgebers darüber zu entscheiden, ob
er eine Materie der Verwaltung oder der Gerichtsbarkeit zuteilt, solange er sich dabei an die
von der Verfassung selbst festgelegte Entscheidungsstruktur hält~. Vgl auch T. Wille in Kley/
Vallender, Grundrechtspraxis 349ff. Zur österr Rechtslage s Art 94 Abs I und 2 B-VG; s auch
Mayer/Kucsko-Stad/mayer/Stöger, Bundesverfassungsrecht 11 Rz 556ff (Rz 559/1).
281 Vgl Art 84ff AHVG; Art 78 IVG iVm Art 84ff AHVG; Art 51 FZG iVm Art 84ff AHVG.
282 Für Ö s hierzu Deixler-Hübner/K/icka, Zivilverfahren 10 !Off.
283 Vgl dazu unten Rz 2.6.
284 Diese verfassungsrechtliche Bestimmung wird einfachrechtlich in Art 1 Abs 1 und 2 GOG wie-
derholt.
Schumacher, HB LieZPR 37
Kap 2 Verfassungsrechtliche Grundlagen des Zivilverfahrens Vogt
dem ist in Bagatellsachen gegen Urteile des Berufungsgerichts ein weiterer Rechtszug
unzulässig (§ 471 Abs I ZP0). 285
2.5 Dasselbe gilt auch generell für Beschlüsse des OG, welche einen Beschluss des LG
bestätigen. Es besteht dann eine Konformatsperre (§ 496 Abs l ZPO), sodass der
Revisionsrekurs gegen solche Beschlüsse an den OGH nicht zulässig ist. Darüber hi-
naus hat der Gesetzgeber zuletzt mit der ZVN 2018 den Rechtszug an den OGH
gegen Beschlüsse des OG, mit welchen dieses als Rekursgericht über den von einer
Partei gegen einen erstinstanzlichen Beschluss des LG erhobenen Rekurs entscheidet,
weitgehend ausgeschlossen, und zwar selbst dann, wenn es sich dabei um einen ober-
286
gerichtlichen Beschluss handelt, der einen erstinstanzlichen Beschluss abändert.
2.6 Der Gesetzgeber hat auch die Anfechtbarkeit eines Urteils des Berufungsgerichts
heim OGH mit der ZVN 2018 eingeschränkt. Die Revision ist daher in allgemeinen
Zivilsachen gegen Urteile des Berufungsgerichts grundsätzlich nicht zulässig, wenn
der Streitgegenstand, über den das Berufungsgericht entschieden hat, in der Haupt-
sache den Betrag von CHF 50.000,- nicht übersteigt und das angefochtene Urteil des
LG vom Berufungsgericht in der Hauptsache zur Gänze bestätigt wurde (§ 471
ZP0)_2s7
2.7 In einigen Verfahren entscheidet das OG als erste Instanz und der OGH als zweite
Instanz. So grundsätzlich in Amtshaftungsfällen (§ 10 Abs I und 4 AHG)2 88 sowie in
Verfahren wegen Leistungen nach dem AHVG (Art 86 Abs I AHVG), dem IVG (Art 78
289
Abs l IVG) und dem FZG (Art 51 Abs l FZG). Es handelt sich bei Klagen auf Leis-
tungen gegen die AHV-Anstalt, die IV-Anstalt und die Familienausgleichskasse um
285 Eine Bagatellsache liegt vor wenn die in der Klage geforderte Geldsumme oder der Wert des
Streitgegenstands den Betrag von CHF 5.000,- nicht übersteigt oder der Kläger erklärt, anstelle
des in der Klage geforderten Gegenstands einen CHF 5.000,- nicht übersteigenden Geldbetrag
annehmen zu wollen (§ 535 Abs 1 ZPO).
286 G v 6. 9. 2018 über die Abänderung der Zivilprozessordnung, LGBI 2018/207, s dazu BuA
2018/19, 20ff. Die Individualbeschwerde an den StGH ist gegen Beschlüsse des OG aber jeden-
falls grundsätzlich möglich, wenn die Beschlüsse auch enderledigend sind. Vgl ausf hierzu
T. Wille, Verfassungsprozessrecht SSSff, 581 f; s zur Thematik der Auslegung des Begriffs „en-
derledigend" auch Bußjäger in FS Delle Karth 81 ff.
287 Die Revision ist in diesen Fällen dennoch zulässig und zwar: 1. gegen Urteile des Berufungs-
gerichts, mit denen dieses über Berufungen gegen Entscheide der AHV-IV-FAK-Anstalten als
erste Gerichtsinstanz entscheidet und 2. wenn das erstinstanzliche Urteil vom LG unter Bin-
dung an eine vom Berufungsgericht zuvor geäußerte Rechtsansicht gefällt wurde, es sei denn,
das Berufungsgericht hatte seinem im ersten Rechtsgang gefällten Aufhebungsbeschluss einen
Rechtskraftvorbehalt beigefügt und 3. gegen Urteile des Berufungsgerichts in Verfahren in Ehe-
und Partnerschaftssachen (§ 471 Abs 3 ZPO).
288 Vgl aber auch Art 10 Abs 5 AHG, wonach das OG über Amtshaftungsklagen, die sich auf die
Tätigkeit des OGH oder seiner Mitglieder beziehen, endgültig entscheidet.
289 Diesen sozialversicherungsrechtlichen Verfahren geht allerdings ein Verwaltungsverfahren vo-
raus. Das Rechtsmittel der Berufung richtet sich dann an das OG. Vgl dazu Hotz in FS Delle
Karth 485 ff.
38 Schumacher, HB lieZPR
Vogt II. Aufbau der Zivilgerichtsbarkeit, Gerichtspersonen und Gerichtsbesetzung
Verfahren nach der ZPO, wobei in diesen Verfahren abweichend vom (klassischen)
Zivilprozess der Untersuchungsgrundsatz gilt. 290
Der OGH ist neben dem VGH und dem StGH eines der drei Höchstgerichte. Der StGH 2.8
ist darüber hinaus zugleich ein Verfassungsorgan, das zu Landtag, Regierung und Fürst
hinzutritt. Zur Rolle des StGH im liechtensteinischen Verfassungsgefüge hat Herbert Wil-
le treffend ausgeführt: ,,Er [der Staatsgerichtshof] ist diejenige Instanz, die die ,Einhaltung
der Verfassung' garantiert." 291 „Es gehört zu seinen Aufgaben, die Verfassungsbindung
der kontrollierten Staatsorgane durchzusetzen. Bezeichnend dafür ist, dass der Staatsge-
richtshof keinem anderen Verfassungsorgan unterworfen ist. Eine so verstandene Ver-
fassungsgerichtsbarkeit wird zum Mittel staatlicher Machtbegrenzung." 292 Im Unter-
schied zum österr Verfassungsgerichtshof (VfGH) zeichnet sich der StGH dadurch aus,
dass er gegenüber den ordentlichen Gerichten und gegenüber dem Verwaltungsgerichts-
hof, ,,nicht nur eigenständig, sondern ihnen ,sachlich und funktionell' übergeordnet
ist". 293 Anders als in Österreich können in Liechtenstein daher alle letztinstanzlichen
und enderledigenden Entscheidungen des VGH sowie der obersten Zivil-, und Strafge-
richte gern Art 104 Abs 1 LV mit Individualbeschwerde beim StGH wegen Verletzung
verfassungsmäßig gewährleisteter Rechte angefochten werden. Dh auch alle letztinstanz-
lichen zivilgerichtlichen Entscheidungen (Beschlüsse und Urteile) des LG, des OG und
des OGH, die zugleich enderledigend sind, unterliegen der Kontrolle durch den StGH.
Die liechtensteinische Verfassungsordnung lässt sich diesbezüglich mit dem deutschen
Justizsystem der Urteilsverfassungsbeschwerde vergleichen. 294 Die gesetzlichen Regelun-
gen der ZPO sowie deren Anwendung durch die ordentlichen Gerichte müssen sich an
der Verfassung ausrichten, die durch den StGH konkretisiert wird. IdZ ist von Bedeu-
tung, dass die ZPO in ihrer Stammfassung auf das Jahr 1912 zurückgeht. 295 Trotz mehre-
rer Novellen können einzelne Gesetzesbestimmungen durch Zeitablauf verfassungswidrig
werden und sind dann vom StGH aufzuheben. Die ordentlichen Gerichte haben die Vor-
schriften der ZPO zudem immer im Licht der vom StGH konkretisierten Verfahrens-
290 Siehe Art 96 AHVG; Art 78 Abs 2 IVG iVm Art 96 AHVG sowie Art 51 Abs 2 FZG iVm Art 96
AHVG. Vgl hierzu auch unten Rz 2.23.
291 H. Wille, Staatsordnung 602 mit Hinweis auf Friesenhahn in FS Scheuner 94. Vgl zum StGH als
Verfassungsorgan eingehend H. Wille, Staatsordnung 599ff; vgl dazu auch T. Wille, Verfas-
sungsprozessrecht 46f.
292 H. Wille, Staatsordnung 602 mit Hinweis auf Klecatsky/Walzel v. Wiesentreu in FS Schambeck
464f.
293 H. Wille, Staatsordnung 604 mit Hinweis auf Böckenforde, NJW 1/1999, 9 (14).
294 Dieses Konzept der (konzentrierten) Verfassungsgerichtsbarkeit stellt eine wegweisende Wei-
terentwicklung der Verfassung von 1921 dar. Erst das deutsche Bundesverfassungsgericht hat
deutlich später ähnliche umfassende Kompetenzen erhalten, wie diese dem StGH bereits in der
Verfassung von 1921 eingeräumt worden sind. Siehe für Liechtenstein Höfling, Grundrechts-
ordnung 33 FN 74; Höfling, Verfassungsbeschwerde 129ff; H. Wille, Staatsordnung 603ff; s
dazu auch Hoch in FS Delle Karth 421 mit Hinweisen zu Höfling, Grundrechtsordnung 33
FN 74, sowie auf Hoch in H. Wille, Verfassungsgerichtsbarkeit 66.
295 G v 10. 12. 1912 über das gerichtliche Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten (ZPO),
LGBl 1912/9/ I. Zur historischen Entwicklung s Rz 1.1 ff.
Schumacher, HB LieZPR 39
Kap 2 Verfassungsrechtliche Grundlagen des Zivilverfahrens Vogt
grundrechte auszulegen. Hinzu kommt die Rsp des EGMR, insb zu Art 6 EMRK, die
ebenfalls auf die ZPO einwirkt. 296
296 ldS hat der EGMR etwa ausgesprochen, dass auch in Verfahrensordnungen, in denen der Dis-
positionsgrundsatz gilt - wie dies etwa nach der dZPO der Fall sei - , das Verhalten der Par-
teien die Gerichte nicht davon entbinde, dass diese das nach Art 6 Abs I EMRK gebotene
zügige Verfahren sicherstellen. Siehe dazu EGMR 11. 1. 2007, 20027/02, Herbst/Deutschland,
Rn 78; s auch EGMR 3. 9. 2015, 34459/10, Bekerman/Liechtenstein, wo es unter Rn 91 heißt:
„However, the Court reiterates in this respect that even in civil proceedings, where it is for the
parties to take the initiative with regard to the progress of the proceedings, the national courts
are not dispensed from ensuring compliance with the requirements of Article 6 of the Conven-
tion as regards the reasonable-time requirement (see, for example, Duclos v. France, 17 De-
cember 1996, § 55, Reports of Judgments and Decisions 1996-Vl; H.T. v. Germany, no. 38073/
97, §§ 35-36, 11 October 2001; and Laudon v. Germany, no. 14635/03, § 71, 26 April 2007).
Moreover, when staying proceedings pending the outcome of different proceedings, the do-
mestic courts must duly establish the relevance of those proceedings for the case before them
(compare, inter alia, H.T. v. Germany, cited above, § 36). Having regard to the fact that at the
time of the Supreme Court's remittal on I October 2009, the proceedings as a whole had
already been pending for more than eight years and that this Court communicated the ap-
plicant's application (on 12 July 2013) only in respect of the allegedly unreasonable length of
the proceedings, the Court considers that the domestic courts did not duly further the procee-
dings at issue."
297 Für Ö s hierzu Deixler-Hübner/Klicka, Zivilverfahren 10 10 ff.
298 Die uneingeschränkte persönliche und fachliche Eignung als Voraussetzung für die Ernennung
zum nebenamtlichen Richter ist im Gesetz zwar nicht ausdrücklich genannt; sie wird aber als
selbstverständlich vorausgesetzt.
40 Schumacher, HB LieZPR
Vogt II. Aufbau der Zivilgerichtsbarkeit, Gerichtspersonen und Gerichtsbesetzung
pflichtet. 299 Sie sind zudem unabsetzbar und unversetzbar (Art 2 Abs 3 RDG). 300 Wäh-
rend die Mitwirkung von Laienrichtern in Strafverfahren noch immer bedeutsam ist,
301
kennt das Zivilverfahren kaum Laienbeteiligung.
2. Rechtspfleger
Die Verfassung normiert in Art 98 LV, dass mit Gesetz die Besorgung einzelner, genau zu 2.10
bezeichnender Arten von Geschäften der Gerichtsbarkeit erster Instanz besonders ausge-
bildeten und weisungsgebundenen nichtrichterlichen Angestellten des LG, sog Rechtspfle-
gern, übertragen werden kann. Das Gesetz umschreibt die dem Rechtspfleger zugewiesenen
Aufgaben unter dem Begriff„ Wirkungskreis" im RPflG, insb in Art 14 ff. Die konkreten Ar-
beitsgebiete werden den Rechtspflegern im Rahmen der jährlichen Geschäftsverteilung des
LG zugewiesen. Rechtspfleger sind bei Besorgung der in ihre Arbeitsgebiete fallenden Ge-
schäfte ausschließlich an die Weisungen des nach der Geschäftsverteilung zuständigen
Landrichters gebunden (Art 7 Abs l RPflG). Gegen Entscheidungen eines Rechtspflegers
sind dieselben Rechtsmittel zulässig wie gegen Entscheidungen eines Landrichters (Art 10
Abs 1 RPflG). Aktuell sind drei Rechtspfleger (im Rahmen der ordentlichen Gerichtsbar-
keit) beim LG tätig, die ihrerseits wiederum drei Rechtspflegerabteilungen repräsentieren. 302
3. Gerichtsbesetzung
Die ordentliche Gerichtsbarkeit und damit auch die Zivilgerichtsbarkeit wird zum einem 2.11
durch Einzelgerichte und zum anderen durch Kollegialgerichte ausgeübt. In erster Ins-
tanz entscheidet grundsätzlich stets das LG. Dieses spricht im Zivilverfahren Recht durch
die Landrichter als Einzelrichter (Art Sf GOG) oder im Rahmen ihres Wirkungskreises
durch die Rechtspfleger. Das LG besteht in Zivil- und Strafsachen aktuell aus 15 Einzel-
richtern,303 die ebenso viele Gerichtsabteilungen repräsentieren (Art 6 GOG). Beim LG
299 Das Abolitionsrecht des Fürsten nach Art 12 LV stellt eine Einschränkung der strikten Trennung
von Justiz und Verwaltung und damit auch eine Einschränkung der richterlichen Unabhängig-
keit dar. Siehe dazu auch T. Wille, Verfassungsprozessrecht 227 ff. Zur Problematik des Art 96 LV
und einem damit verbundenen abschreckenden Effekt (.. chilling effectu) iZm der Meinungsäuße-
rungsfreiheit s Vogt in Liechtenstein-Institut, Beiträge zum liechtensteinischen Recht 83.
300 Die richterliche Unabhängigkeit wird durch ein gesetzlich klar geregeltes Dienstenthebungs-
verfahren und Disziplinarverfahren sichergestellt. .. Auf Grund der den Richtern von der Ver-
fassung zugesicherten Stellung (Gewaltenteilung, Legalitätsprinzip) können sie wider ihren
Willen vor Ablauf der Amtszeit nur durch eine richterliche Entscheidung, die sich sowohl
auf materielle als auch formelle Gesetzesbestimmungen stützt, entlassen, dauernd oder zeit-
weise ihres Amts enthoben oder an eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden"
(T. Wille, Verfassungsprozessrecht 229). Die Enthebung vom richterlichen Dienst aufgrund
Dienstunfähigkeit infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen ist in den Art 35 ff RDG gere-
gelt. Die Dienstentlassung für Richter, die ihre Standes- oder Amtspflichten schuldhaft verletzt
haben, ist als mögliche Disziplinarstrafe in Art 39 ff RDG geregelt.
301 Die Mitwirkung von Laienrichtern in Zivilverfahren ist zuletzt mit der Nov zur Gerichtsorga-
nisation des OG weiter zurückgedrängt worden; s hierzu unten Rz 2.12. Zur geschichtlichen
Entwicklung des Laienrichtertums s Ospelt in LAG, Beiträge 19 ff.
302 Vgl Justizpflegebericht 2017, abrufbar unter www.gerichte.li (abgerufen am 21.1.2019).
303 Der Landtag hat im Jahr 2018 die Schaffung einer 15. Richterstelle beim Fürstlichen LG be-
willigt; s LTP v 3. 5. 2018, 871 ff; vgl hierzu auch BuA 2018/20.
Schumacher. HB LieZPR 41
Kap 2 Verfassungsrechtliche Grundlagen des Zivilverfahrens Vogt
2.13 Der OGH spricht in Zivil- und Strafsachen Recht durch zwei Senate, wobei die Senate in
der Besetzung mit einem Senatsvorsitzenden und vier Oberstrichtern entscheiden (Art 23
Abs 3 GOG). Mindestens drei Mitglieder des Senats müssen rechtskundig sein (Art 23
Abs 3 GOG).
2.14 Für alle Kollegialgerichte in Zivilsachen gilt, dass der Vorsitzende die Beratungen und
die Abstimmungen leitet (Art 53 Abs l GOG), wobei die Beratungen und Abstimmun-
gen der Richter nicht öffentlich stattfinden (Art 52 Abs l GOG). Das Gericht entschei-
det dabei in offener Abstimmung mit Stimmenmehrheit. Stimmenthaltungen sind
nicht zulässig (Art 52 Abs 3 GOG). Es stellt eine liechtensteinische Besonderheit dar,
dass beim LG, beim OG und beim OGH neben liechtensteinischen Richtern auch
ausländische Richter, genauer gesagt, Richter mit schweizerischer oder österr Staatsan-
gehöri~keit tätig sind. Der Präsident des OGH ist (bisher) traditionell ein Österrei-
cher.30'
304 Darüber hinaus gibt es noch das Kollegium der Landrichter. Dieses besteht aus dem Landge-
richtspräsidenten als Vorsitzendem und den vollamtlichen Landrichtern. Es fuhrt Aussprachen
zur Förderung einer einheitlichen Rsp am LG durch (Art 11 GOG).
305 Siehe LGBl 2014/276 sowie BuA 2014/46 und BuA 2014/70.
306 Allerdings verfügen in der Praxis auch die „Laienrichter" über ein abgeschlossenes Studium der
Rechtswissenschaften. Sie gelten damit aber nicht als rechtskundig iSd RDG, wonach als
rechtskundig gilt, wer die Voraussetzungen für die Ausübung des Rechtsanwalts-, des Staats-
anwalts- oder des Richterberufs erfüllt.
307 Vgl zur historischen Entwicklung Rz 1.1 ff.
42 Schumacher, HB LieZPR
Vogt III. Prozessgrundsätze
III. Prozessgrundsätze
A. Allgemeines
308
„Die Prozessgrundsätze (Prozessmaximen) sind die Leitideen, die der Gestaltung des 2.15
Prozesses zu Grunde liegen." 309 Die Prozessgrundsätze sind teilweise in der Verfassung
festgeschrieben, wie etwa der Grundsatz der Mündlichkeit, Unmittelbarkeit und freien
Beweiswürdigung (Art 100 Abs 1 LV) oder stellen sogar verfassungsmäßig gewährleistete
Rechte (Grundrechte) dar, so bspw der Anspruch auf rechtliches Gehör. Andere Grund-
sätze sind lediglich einfachrechtlich normiert (Grundsatz von Treu und Glauben), oder
aus einfachrechtlichen Bestimmungen abzuleiten. 310 Die Prozessgrundsätze werden in
der ZPO nicht in ihrer reinen Form umgesetzt, da unter ihnen teilweise auch Zielkonf-
likte bestehen. 311 „Die Prozessgrundsätze sind nicht nur für die wissenschaftliche Durch-
dringung des Prozessrechts, sondern auch für eine nicht bloß kurzsichtige rechtspoliti-
sche Gestaltung [... ] und schließlich für die Auslegung des Verfahrensrechts [... ] von
großer Bedeutung." 312
Folgende Prozessgrundsätze beanspruchen im liechtensteinischen Zivilprozessrecht Gel- 2.16
tung: Dispositionsgrundsatz, Verhandlungsgrundsatz, Grundsatz der Rechtsanwendung
von Amts wegen, Mündlichkeit, Öffentlichkeit, Unmittelbarkeit, Anspruch auf rechtli-
ches Gehör, Waffengleichheit, Vorrang der Sacherledigung bzw Verbot des überspitzten
Formalismus, freie Beweiswürdigung, Prozessökonomie bzw Verfahrenskonzentration,
Grundsatz von Treu und Glauben und Verbot des Rechtsmissbrauchs. Diese Grundsätze
sollen im Folgenden dargestellt werden.
B. Dispositionsgrundsatz
Der Dispositionsgrundsatz „besagt, dass ein Verfahren nur auf Antrag (nicht von Amts 2.17
wegen, wie dies der Offizialmaxime entspräche) durchgeführt werden kann." 313 Die Par-
teien legen den Beginn und Gegenstand eines Rechtsstreits fest. Sie können auch dessen
Beendigung herbeiführen. 314 Der Dispositionsgrundsatz ist die prozessrechtliche Seite
der für das Privatrecht geltenden Privatautonomie. 315
308 Die nachfolgende Einteilung der Prozessgrundsätze und deren Darstellung orientiert sich an
der Darstellung dieses Themas von Konecny in Fasching/Konecny II/ 13 Einleitung Rz I ff. Für Ö
s hierzu auch Fucik in Rechberger/Klicka, ZPO' Vor § 171 Rz I ff. Zur Einteilung der Prozess-
grundsätze s schon Fasching, Lehrbuch 2 Rz 637ff, insb auch Rz 641.
309 Konecny in Fasching/Konecny II/1 3 Einleitung Rz I mit Hinweis ua auf Fasching. Lehrbuch 2
Rz 635ff.
310 Für die österr Rechtsordnung s Konecny in Fasching/Konecny Il/1 3 Einleitung Rz 1/1.
311 Fucik in Rechberger/K/icka, ZPO 5 Vor § 171 Rz I f.
312 Fucik in Rechberger/K/icka, ZPO 5 Vor § 171 Rz I f mit Hinweis auf Bajons, Zivilverfahren
Rz 6 ff; Fasching in FB Franz Klein 97 sowie Fasching, JBI 1990, 757 und Konecny in Fa-
sching/Konecny 11/1 3 Einleitung Rz 4.
313 Fucik in Rechberger/K/icka, ZPO 5 Vor§ 171 Rz 2.
314 Fucik in Rechberger!Klicka, ZPO' Vor§ 171 Rz 2; Konecny in Fasching/Konecny Il/1 3 Einleitung
Rz 6.
315 Staehe/in/Bachofner in Staehelin/Staehelin!Grolimund, Zivilprozessrecht·' 137.
Schumacher, HB LieZPR 43
Kap 2 Verfassungsrechtliche Grundlagen des Zivilverfahrens Vogt
2.18 Die positive Seite des Dispositionsgrundsatzes bedeutet, dass die Parteien über den Streit-
gegenstand verfügen können. 316 IdS entscheidet der Kläger zunächst, ob er überhaupt mit-
tels Klage bei Gericht einen Rechtsstreit einleiten will. Im Weiteren legt der Kläger das Klage-
begehren fest und definiert dadurch auch den Umfang der dem Gericht im konkreten Ver-
fahren zukommenden Entscheidungsbefugnis(§§ 232 und 234 ZPO). 317 Der Kläger kann
das Klagebegehren ändern und erweitern. 318 Er kann ferner die Klagszurücknahme erklären
(§ 245 ZPO). Die Parteien disponieren auch über den Streitgegenstand, wenn sie vor Gericht
einen Vergleich schließen. Das Gericht hat diesen Vergleich lediglich zu beurkunden
(§§ 202 und 203 ZPO). 319 Hinzu kommen der Verzicht durch den Kläger(§ 394 ZPO)
und das Anerkenntnis durch den Beklagten(§ 395 ZPO). In beiden Fällen entscheidet das
Gericht mit Urteil, überprüft die Streitsache aber inhaltlich nicht mehr. 320 Eine von den
Parteien abgeschlossene Ruhensvereinbarung (§§ l68ff ZPO) oder beiderseitige Säumnis
der Parteien(§ 170 ZPO) führt zu einem Stillstand des Verfahrens. 321 Den Parteien kommen
weitreichende Dispositionsbefugnisse nicht nur im erstinstanzlichen Verfahren, sondern
auch im Rechtsmittelverfahren zu. Sie setzen diese Verfahren durch Erhebung von Rechts-
mitteln überhaupt erst in Gang und können eingebrachte Rechtsmittel zurückziehen. 322
2.19 Die negative Seite des Dispositionsgrundsatzes besteht darin, dass das Gericht in der
Entscheidungsgewalt beschränkt ist. So wird der Umfang der richterlichen Entschei-
dungsbefugnis durch die Parteienanträge begrenzt. Nach § 405 ZPO ist das Gericht nicht
befugt, einer Partei etwas zuzusprechen, was nicht beantragt ist. 323 Dieser Grundsatz gilt
auch im Rechtsmittelverfahren. Das Berufungsgericht ist an die Berufungsgründe und
Berufungsanträge der Parteien gebunden (vgl § 432 Abs l ZPO). 324 Dasselbe gilt für
das Revisionsverfahren (vgl § 473 Abs l ZPO). 325
2.20 Vom Dispositionsgrundsatz nicht umfasst ist die Prozessleitung. Zustellungen von
Schriftsätzen und Ladungen sowie die Anberaumung von Tagsatzungen erfolgen somit
von Amts wegen, dh unabhängig von allfälligen Parteianträgen. 326
44 Schumacher, HB LieZPR
Vogt 111. Prozessgrundsätze
C. Verhandlungsgrundsatz
Mit dem Begriffspaar Verhandlungsgrundsatz und Untersuchungsgrundsatz ist die Frage 2.21
angesprochen, .,wem in einem Verfahren die Aufgabe zukommt, für die Ermittlung des
327
für die Sachentscheidung erforderlichen Prozessstoffes zu sorgen." Der Verhand-
lungsgrundsatz weist in erster Linie den Parteien die Verantwortung zur Stoffsamm-
lung zu. Demnach haben die Parteien die erforderlichen Tatsachenbehauptunyen aufzu-
3 8
stellen und die dazu notwendigen Beweismittel zu benennen und anzubieten. Demge-
genüber hat das Gericht nach dem Untersuchungsgrundsatz von Amts wegen die erheb-
lichen Tatsachen zu ermitteln. Das Gericht hat in diesem Fall auch selbstständig alle für
die von den Parteien begehrte Sachentscheidung erforderlichen Beweise beizuschaffen
329
und aufzunehmen.
Die liechtensteinische ZPO geht vom Verhandlungsgrundsatz aus. So hat nach § 232 2.22
Abs l ZPO die mittels vorbereitenden Schriftsatzes anzubringende Klage ein bestimmtes
Begehren zu enthalten. Der Kläger hat zudem die Tatsachen, auf welche sich sein An-
spruch gründet, kurz und vollständig anzugeben und ebenso die Beweismittel genau zu
bezeichnen, deren er sich zum Nachweis seiner tatsächlichen Behauptung bei der Ver-
handlung zu bedienen beabsichtigt. 330 Darüber hinaus räumen vereinzelte Bestimmun-
331
gen auch dem Richter Befugnisse zur Stoffsammlung ein.
Der Verhandlungsgrundsatz ist die Regel. Abweichend davon gilt im Zivilprozess teil- 2.23
weise dennoch der Untersuchungsgrundsatz. So richten sich Klagen gegen die AHV-
Anstalt, die IV-Anstalt und die Familienausgleichskasse auf Ausrichtung von Versiche-
rungsleistungen nach der ZPO mit der Besonderheit, dass der Untersuchungsgrundsatz
zur Anwendung gelangt und zwar auch im Rechtsmittelverfahren. Die Rechtsmittelins-
tanzen haben von Amts wegen die für die Entscheidung oder für das Urteil erheblichen
Schumacher, HB LieZPR 45
Kap 2 Verfassungsrechtliche Grundlagen des Zivilverfahrens Vogt
Tatsachen festzustellen (Art 96 AHVG, Art 78 Abs 2 IVG iVm Art 96 AHVG und
Art 51 Abs 2 FZG iVm Art 96 AHVG). Der Untersuchungsgrundsatz entfaltet in der
Praxis in diesen Verfahren jedoch lediglich eine sehr geringe Wirkung. Nach Ansicht
des OGH äußert sich der Untersuchungsgrundsatz in sozialversicherungsrechtlichen
Verfahren darin, dass sich der OGH „vergewissert, ob die für das Urteil erheblichen
Tatsachen vom Fürstlichen Obergericht hinreichend festgestellt wurden und ob die
entsprechenden Feststellungen auf hinreichender Beweisgrundlage beruhen. Ob die
Feststellungen der für das Urteil erheblichen Tatsachen auf hinreichender Beweisgrund-
lage beruhen, ist eine Frage der Beweiswürdigung. Soweit bei der Beweiswürdigung
Ermessen besteht, setzt der Fürstliche Oberste Gerichtshof nicht ohne Not sein eigenes
Ermessen an die Stelle des Ermessens des Fürstlichen Obergerichts; denn auch im so-
zialversicherungsrechtlichen Verfahren versteht er sich in erster Linie als Rechts- und
nicht als Tatsacheninstanz [... )." 332 Der StGH hat diese Rsp als verfassungskonform
beurteilt. 333 Diese Rsp des OGH und des StGH kann aber krit hinterfragt werden. Es
darf bezweifelt werden, ob der OGH dadurch seine Kompetenzen noch im von Ver-
fassung und Gesetz vorgesehenen Umfang ausübt. Ein Gericht, welches die ihm gesetz-
mäßig eingeräumten Komfetenzen in unzulässiger Weise nicht voll ausübt, begeht aber
eine Rechtsverweigerung. 3 4
2.24 Der Untersuchungsgrundsatz gilt im Zivilprozess ferner für die Ermittlung der Prozess-
voraussetzungen und Nichtigkeitsgründe. Diese sind von Amts wegen wahrzunehmen. 335
Die Bedeutung des Verhandlungsgrundsatzes und dessen Abgrenzung vom Untersu-
chungsgrundsatz sollte allerdings nicht überbewertet werden. So ist der liechtensteinische
Zivilprozess zwar vom Verhandlungsgrundsatz geprägt, aber auch in Verfahren mit Un-
tersuchungsgrundsatz kommen aufgrund der höchstrichterlichen Rsp nicht geringe Mit-
wirkungspflichten der Parteien zum Tragen. 336 Mitwirkungspflichten kann es auch be-
332 Statt vieler: OGH SV.2014.24 und 2015.4, Erw 5.1. Siehe auch schon OGH Sv.2004.4 LES 2006,
464.
333 StGH 2012/132, Erw 4.3 mit Hinweisen zur Rsp.
334 Siehe dazu StGH 2009/139, Erw 2.1. Allg zum Untersuchungsgrundsatz im Bereich des AHVG,
des IVG und des FZG vgl Hatz in FS Delle Karth 490ff, der hinsichtlich der vorstehend auf-
gezeigten Rsp aber keine Bedenken äußert.
335 So schon Fasching, Lehrbuch 2 Rz 663; s auch Konecny in Fasching/Konecny 11/1 3 Einleitung
Rz 21; vgl auch Fucik in Rechberger!Klicka, ZPO; Vor§ 171 Rz 4.
336 Vgl OGH 10 HG.2003.17, Erw 2.1.4. Der OGH hält dort fest: .,Zunächst ist dem zu entgegnen,
dass auch in Verfahren mit Untersuchungsgrundsatz die Parteien grundsätzlich die Behaup-
tungs- und Beweislast tragen (LES 2006, 307). Der Untersuchungsgrundsatz des ausserstreitigen
Verfahrens entbindet die Parteien nicht von jeglicher Beweislast. Denn auch in diesem Ver-
fahrensbereich besteht die ,Arbeitsgemeinschaft Gericht - Parteien' (Rechberger in Rechberger,
Kommentar zum Außerstreitgesetz [2006] Vor§ 13 Rz 1). Wird trotz des Untersuchungsgrund-
satzes der Beweis für erhebliche Tatsachen nicht erbracht, dann gelten die allgemeinen Beweis-
lastregeln (öOGH 12. 07. 2005, 4 Ob 124/05x, RZ 2005, 284). Insbesondere hat der relevierte
Untersuchungsgrundsatz im ausserstreitigen Verfahren nicht zum Ziel, einem Antragsteller
oder Rechtsmittelwerber die ihm obliegende Behauptungslast abzunehmen und von Amts we-
gen jeden nur irgendwie denkbaren Sachverhalt zu erforschen (öOGH 15. 12. 2004, 6 Ob 275/
04s)." Vgl auch StGH 2010/162, Erw 2.4.2. Mit den Worten des StGH gesagt: ,,Wie die Vor-
instanzen zu Recht ausgeführt haben, ist das Verwaltungsverfahren zwar vom Grundsatz der
Amtswegigkeit geprägt (Offizialmaxime), wonach die Behörde den Sachverhalt selber vollstän-
46 Schumacher. HB LieZPR
Vogt III. Prozessgrundsätze
züglich der Aufklärung der vom Prozessgegner aufgestellten Behauptungen geben. 337 Da-
von abzu renzen sind Auskunftspflichten, die sich aus spezialgesetzlichen Bestimmungen
ergeben. 3 8
8
Verstößt ein Gericht gegen die Stoffsammlungsgrundsätze stellt dies idR einen wesent- 2.25
liehen Verfahrensmangel dar. 339
dig abklärt und zur Aufklärung des Sachverhaltes die erforderlichen Erhebungen treffen muss.
Dies bedeutet aber nicht, dass die Behörde sich hierzu nicht der Hilfe der beteiligten Parteien
bedienen kann oder dass die Parteien keine Auskunfts-/Mitwirkungspflichten hätten. Eine
Venveigerung der Mitwirkung im Verwaltungsverfahren darf nicht belohnt werden, indem
der Staat stets die Folgen der Beweislosigkeit zu tragen hätte (vgl. Andreas Kley, Grundriss
des liechtensteinischen Venvaltungsrechts, LPS Bd. 23, Vaduz 1998, 267ff.; vgl. auch explizit
zum neuen Ausserstreitgesetz: BuA Nr. 79/2010, S. 28f.). Insofern ist die Entscheidung des
Venvaltungsgerichtshofes, wonach die Venveigerung der Mitwirkung des Beschwerdeführers
dazu führe, dass bei den Tatsachenfeststellungen allein auf die Ermittlungsergebnisse des APA
[Ausländer- und Passamt) abgestellt werde, nicht zu beanstanden [... )." Zu den Mitwirkungs-
pflichten der Betroffenen, die Leistungen nach dem IVG geltend machen, s OGH Sv.2008.15
LES 2010. 3.
337 Konecny in Fasching/Konecny 11/1 3 Einleitung Rz 18. Zum Grundsatz der Beweisnähe s OGH
02 CG.2014, 55 und 2015.5, Erw 8.5.4; 05 HG.2012.455, Erw 8.1.6.2. In der zuletzt genannten E
hat der OGH ausgeführt: ,,Die allgemeinen Behauptungs- und Beweislastregeln finden ihre
Einschränkung dort, wo dies von der an sich dazu verpflichteten Partei billigerweise nicht er-
wartet werden kann. Zu einer Verschiebung der Beweislast kommt es also (nur) dann, wenn
für die eine Partei mangels genauer Kenntnis der Tatumstände ganz besondere, unverhältnis-
mässige Beweisschwierigkeiten bestehen, während der anderen Partei diese Kenntnisse zur
Verfügung stehen und es ihr daher nicht nur leicht möglich, sondern nach Treu und Glauben
auch ohne weiteres zumutbar ist, die erforderlichen Aufklärungen zu geben (RIS Justiz
RS0039939 [T 32, 33, 35); RS0037797 [T 19, 24, 48, 49); RS0039895 [T 2); Klauser/Kodek,
ZPO 17 (2012) § 266 E 21 a; Rechberger in Fasching!Konecny2 Vor§ 266 ZPO Rz 7f)."
338 Konecny in Fasching/Konecny 11/1 3 Einleitung Rz 18; s dazu etwa Art XVI EGZPO.
339 Fucik in Rechberger!Klicka, ZPO 1 Vor § 171 Rz 3.
340 StGH 1997/3, Erw 4.6. In etwas anderer Formulierung lautet diese Rechtsregel wie folgt: Da
mihi factum, dabo tibi ius.
341 StGH 1997/3, Erw 4.6 mit Hinweis auf Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung 162ff und Thürer
in FG Batliner 539ff; StGH 2017/95, Erw 2.3.
342 Das Gesetz envähnt als inländisches Sonderrecht Gewohnheitsrechte, Privilegien und Statuten.
Schumacher, HB L1eZPR 47
Kap 2 Verfassungsrechtliche Grundlagen des Zivilverfahrens Vogt
So bedarf gern § 271 Abs l ZPO das ausländische Recht des Beweises dann, wenn dieses
dem Gericht unbekannt ist. Kennt das Gericht das anzuwendende ausländische Recht
nicht, hat es dies von Amts wegen zu ermitteln. Es kann dazu die Mitwirkung der Betei-
ligten in Anspruch nehmen, sowie Auskünfte der Regierung und Sachverständigengut-
achten einholen (Art 4 Abs l IPRG). 343
2.27 Der Grundsatz der Rechtsanwendung von Amts wegen bedeutet auch, dass das Gericht
nicht an das rechtliche Vorbringen der Parteien gebunden ist. Es hat aber die wesent-
lichen rechtlichen Gesichtspunkte, auf die es seine Entscheidung stützen will, mit den
Parteien zu erörtern oder den Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. 344
48 Schumacher, HB LieZPR
Vogt III. Prozessgrundsätze
Protokoll des Gerichts geben können (§§ 74, 236, 416a ZPO). Dieselben Möglichkeiten
hat der Prozessgegner für die Rechtsmittelbeantwortung (§§ 438, 474 ZPO). Die prakti-
sche Bedeutung dieser Bestimmungen ist aber gering.
Abweichend vom Verfahren in erster und zweiter Instanz ist das Revisionsverfahren idR 2.31
(ausschließlich) schriftlich. Oh das Revisionsgericht entscheidet ohne vorhergehende
mündliche Verhandlung. Es hat aber die Möglichkeit, eine mündliche Verhandlung auf
Antrag einer Partei oder von Amts wegen anzuordnen, wenn es dies für erforderlich er-
achtet (§ 478 Abs 1 und 2 ZPO).
Wird gegen den Grundsatz der Mündlichkeit verstoßen, kann dies die Nichtigkeitsfolge 2.32
des § 446 Abs 1 Z 4 oder 8 ZPO bewirken. Ist der Verstoß gegen den Grundsatz der
Mündlichkeit nicht zugleich unter eine der vorstehenden Bestimmungen zu subsumie-
348
ren, kann ein erheblicher Verfahrensmangel vorliegen.
348 Siehe hierzu Fucik in Rechberger/K/icka, ZPO; Vor§ 171 Rz 5; Konecny in Fasching/Konecny 11/1 3
Einleitung Rz 25.
349 Siehe statt vieler: StGH 2005/89, Erw 4. Dazu auch T. Wille, Verfassungsprozessrecht 261 f mit
Nachweisen zur Rsp. Siehe auch Hoch, EuGRZ 2006, 641; s auch schon die Überlegungen bei
G. Batliner in Geiger/Waschkuhn, Liechtenstein 149ff.
350 Vgl dazu oben Rz 2.1.
351 Zum Grundsatz der Öffentlichkeit s für Ö Konecny in Fasching/Konecny II/ 13 Einleitung
Rz 28f.
352 Die von Liechtenstein abgegebenen Vorbehalte sind in LGBI 1982/60/1 wiedergegeben, mittels
dessen die EMRK kundgemacht wurde.
353 Der Vorbehalt in der EMRK lautet wie folgt: "Gemäss Art 64 der Konvention setzt das Fürs-
tentum Liechtenstein den Vorbehalt, dass die Bestimmungen des Art 6 Abs 1 der Konvention
bezüglich der Öffentlichkeit des Verfahrens und der Urteilsverkündung nur in jenen Grenzen
gelten sollen, die von Grundsätzen abgeleitet werden, die derzeit in folgenden liechtensteini-
schen Gesetzen zum Ausdruck kommen: G v 10. Dezember 1912 über das gerichtliche Ver-
fahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, LGBI 1912 Nr. 9/1." Zu beachten ist, dass sich Vor-
behalte, die zur EMRK abgegeben wurden, nicht auf gesetzliche Regelungen erstrecken, die
nach Abgabe der Vorbehaltserklärung in Kraft getreten sind (StGH 2006/4, Erw 2.2; s auch
T. Wille, Verfassungsprozessrecht 383 f).
354 StGH 2007/91, Erw 5.1 f; StGH 2007/112, Erw 2.5. 1 f; vgl zum Öffentlichkeitsgrundsatz T. Wil-
le, Verfassungsprozessrecht 382 ff, der kritisiert, dass die Rsp des StGH hinsichtlich der Vor-
behalte des Gesetzgebers zur Öffentlichkeit der Verfahren nicht konsequent sei.
Schumacher, HB LieZPR 49
Kap 2 Verfassungsrechtliche Grundlagen des Zivilverfahrens Vogt
zudem den UNO-Pakt II ratifiziert. Gern dessen Art 14 Abs 1 hat jedermann Anspruch
darauf, dass über seine zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen durch ein zu-
ständiges, unabhängiges, unparteiisches und auf Gesetz beruhendes Gericht in billiger
Weise und öffentlich verhandelt wird. Auch hierzu hat Liechtenstein einen Vorbehalt
abgegeben. 355 Auf verfassungsrechtlicher Ebene bestehen in Liechtenstein daher hin-
sichtlich der Volksöffentlichkeit von Gerichtsverfahren (theoretisch) bedenkliche
Rechtsschutzdefizite. Allerdings hat der StGH festgehalten, dass „das Öffentlichkeits-
prinzip einen wesentlichen Teilgehalt der Garantie auf ein faires Verfahren darstellt
und dergestalt zu den Grundlagen der demokratischen Rechtsstaaten zählt". 356 Indem
der StGH dem Anspruch auf ein faires Verfahren zudem den Status eines innerstaat-
lichen Grundrechts zuerkannt hat, 357 anerkennt er aber zugleich auch den Öffentlich-
keitsgrundsatz als verfassungsmäßig gewährleisteten Anspruch, der einen wesentlichen
Teilgehalt des fairen Verfahrens darstellt. 358 Im Lichte dieser Rechtsprechung erscheint
der Vorbehalt zur Öffentlichkeit des Zivilverfahrens in der Praxis nicht mehr von gro-
ßer Bedeutung. 359
2.34 § 171 ZPO schreibt den Grundsatz der Öffentlichkeit für das Zivilverfahren auf ein-
fachgesetzlicher Ebene fest. Gern dieser Bestimmung finden sowohl die Verhandlung
vor dem erkennenden Gericht als auch die Verkündigung der richterlichen Entscheidung
öffentlich statt ( § 171 Abs 1 ZPO ). Alle unbewaffneten Personen sollen an einer Ver-
handlung teilnehmen können (§ 171 Abs 2 ZPO). Personen, die das 14. Altersjahr noch
nicht vollendet haben, kann der Zutritt als Zuhörer verweigert werden, sofern durch ihre
Anwesenheit eine Gefährdung ihrer persönlichen Entwicklung zu besorgen ist ( § 171
Abs 3 ZPO). Die Öffentlichkeit kann eingeschränkt bzw gänzlich ausgeschlossen werden
(§ 171 Abs 3 ZPO, §§ 172ff ZPO). Auch wenn das Gericht beschließt, die Volksöffent-
lichkeit für ein Verfahren auszuschließen, so kann jede Partei verlangen, dass außer ih-
rem Bevollmächtigten drei Personen ihres Vertrauens die Anwesenheit bei der Verhand-
lung gestattet wird (§ 174 Abs I ZPO).
2.35 Wird im Rechtsmittelverfahren eine mündliche Verhandlung durchgeführt, gelten auch
hier die Regeln über die Volksöffentlichkeit (§§ 433 und 482 ZPO).
2.36 Die Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit hat die Nichtigkeit nach § 446 Abs 1
Z 7 ZPO zur Folge. 360
355 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, LGBI 1999/58.
356 StGH 2007/91, Erw 5.1 f; vgl dazu auch Bußjäger in Liechtenstein-Institut, Beiträge zum liech-
tensteinischen Recht 62 ff.
357 Siehe StGH 2004/58, Erw 3.3.1; StGH 2008/85, Erw 4; vgl dazu auch oben Rz 2.1.
358 T. Wille, Verfassungsprozessrecht 385 f.
359 Siehe dazu auch Bußjäger in Liechtenstein-Institut, Beiträge zum liechtensteinischen Recht 64.
Dieser hält fest, es sei daher davon auszugehen, dass die verbliebenen Vorbehalte zu Art 6
EMRK obsolet seien. Sie ·würden vom Staatsgerichtshof nicht mehr angewendet werden und
sollten von Liechtenstein gegenüber den Vertragspartnern auch offiziell zurückgezogen wer-
den.
360 Für Ö Fucik in Rechberger/Klicka, ZPO' Vor § 171 Rz 8.
50 Schumacher, HB LieZPR
Vogt III. Prozessgrundsätze
G. Unmittelbarkeitsgrundsatz
1. Allgemeines
Art l 00 Abs l LV verlangt ua, dass Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten nach 2.37
dem Grundsatz der Unmittelbarkeit stattfinden. ,,Unmittelbar ist ein Verfahren dann,
wenn Entscheidungsgrundlage firundsätzlich nur das ist, was sich vor dem erkennenden
Gericht selbst abgespielt hat." 3 1 Diese Unmittelbarkeit zwischen Parteien, Gericht und
Beweismitteln soll der materiellen Wahrheit einer Entscheidung zum Durchbruch ver-
helfen.362 Der Unmittelbarkeitsgrundsatz, der Grundsatz der Mündlichkeit und die freie
Beweiswürdigung bedingen sich gegenseitig. Nur wenn sichergestellt ist, dass derjenige
Richter ( derjenige Richtersenat) über den Rechtsstreit entscheidet, der an der Verhand-
lung teilgenommen hat, ist es gerechtfertigt, eine mündliche Verhandlung durchzuführen
363
und dem Gericht die freie Beweiswürdigung einzuräumen.
Der Unmittelbarkeitsgrundsatz hat drei Geltungsansprüche. Zum einen soll die Beweis- 2.38
aufnahme unmittelbar durch den erkennenden (urteilsfällenden) Richter erfolgen (per-
sönliche Unmittelbarkeit). 364 Im Weiteren fordert er, dass die Beweisaufnahme von
Zeugen, Urkunden und Augenschein durch das erkennende Gericht direkt stattfindet.
Dagegen sollen mittelbare Erkenntnisquellen, wie Protokolle von Zeu~eneinvernahmen,
nach Möglichkeit ausgeschlossen werden (sachliche Unmittelbarkeit). 65 Schließlich for-
dert der Unmittelbarkeitsgrundsatz „sowohl die rasche Urteilsfällung noch unter dem
frischen Eindruck der Beweisaufnahme, als auch, dass zwischen dem zu beweisenden
Ereignis und der Beweisaufnahme ein möglichst kurzer Zeitraum liegt" 366 (zeitliche Un-
mittelbarkeit).
2. Persönliche Unmittelbarkeit
Die persönliche Unmittelbarkeit findet sich in§ 412 ZPO. Das Urteil kann nur von den- 2.39
jenigen Richtern gefällt werden, welche an der dem Urteil zugrunde liegenden mündli-
chen Verhandlung teilgenommen haben. Findet vor der Urteilsfällung ein Richterwechsel
statt, so ist die mündliche Verhandlung mit Benützung der Klage, der zu den Aktenge-
brachten Beweise und des Verhandlungsprotokolls von neuem durchzuführen. 367 Be-
weisaufnahmen im Rechtshilfeweg stellen eine Einschränkung der persönlichen Unmit-
telbarkeit dar(§§ 282ff ZP0). 368
3. Sachliche Unmittelbarkeit
Die sachliche Unmittelbarkeit ist in § 276 Abs I ZPO geregelt. Demnach sind Beweise, 2.40
welche das Gericht für erheblich hält, grundsätzlich im Lauf der mündlichen Verhand-
Schumacher, HB LieZPR 51
Kap 2 Verfassungsrechtliche Grundlagen des Zivilverfahrens Vogt
Jung vor dem erkennenden Gericht aufzunehmen. Stehen keine oder keine ausreichenden
unmittelbaren Erkenntnisquellen zur Verfügung, können die Parteien auf indirekte Be-
weismittel, etwa einen Zeugen vom „Hören-Sagen", zurückgreifen. Solche indirekten Be-
weismittel sind nicht grundsätzlich unzulässig. Indem auch diese der freien richterlichen
Beweiswürdigung unterliegen, ist gesichert, dass sie keine unangemessene Bedeutung für
den Prozessausgang erlangen. 369
4. Zeitliche Unmittelbarkeit
2.41 Die zeitliche Unmittelbarkeit ist in §§ 413 und 415 ZPO normiert. Nach § 413 ZPO ist
das Urteil auf Grund der mündlichen Verhandlung, und zwar, wenn möglich, sogleich
nach Schluss derselben zu fällen und zu verkünden. Damit dieses Ziel erreicht werden
kann, gibt die ZPO dem Richter die Möglichkeit, sich bei der Verkündung auf die Be-
kanntgabe des Wortlautes des Urteilsspruchs und auf die Mitteilung der wesentlichsten
Entscheidungsgründe zu beschränken (§ 414 Abs 1 ZPO). Wenn das Urteil nicht sofort
nach Schluss der mündlichen Verhandlung gefällt werden kann, ist das Urteil binnen vier
Wochen nach Schluss der mündlichen Verhandlung auszufertigen(§ 415 ZPO). Die ZPO
geht hinsichtlich der zeitlichen Unmittelbarkeit von einer Idealvorstellung aus. Sie nor-
miert als Regelfall die öffentliche Urteilsverkündung unmittelbar nach Schluss der münd-
lichen Streitverhandlung, damit „die rasche Urteilsfällung noch unter dem frischen Ein-
druck der Beweisaufnahme" erfolgt. Bedauerlicherweise entspricht es der liechtensteini-
schen (gesetzwidrigen) Gerichtspraxis, dass das Gericht am Schluss der mündlichen Ver-
handlung keine Urteile verkündet. Die Rechtswirklichkeit hat dem § 413 ZPO materiell
derogiert. Damit eine Verfahrenspartei ein wirksames Mittel besitzt, um sich gegen un-
gerechtfertigte Verfahrensverzögerungen zur Wehr zu setzen, hat der Gesetzgeber zu-
letzt die Möglichkeit geschaffen, dass die Verfahrensparteien einen Fristsetzungsan-
370
trag stellen können. Ist das Gericht etwa mit der Anberaumung oder Durchführung
einer Tagsatzung oder Verhandlung, der Einholung eines Sachverständigengutachtens
oder der Ausfertigung einer Entscheidung säumig, kann eine Partei bei diesem Gericht
den an die für die Dienstaufsicht zuständige Gerichtsbehörde gerichteten Antrag stellen,
diese möge dem Gericht hierzu eine angemessene Frist setzen (Art 49a GOG). Dieser
Fristsetzungsantrag soll die Verfahrensparteien darin unterstützen, den Anspruch darauf
zu verwirklichen, dass der Richter das Urteil auf Grundlage des frischen Eindrucks der
Beweisaufnahme fällt. 371
2.42 Wird gegen § 412 Abs 1 ZPO verstoßen, verwirklicht dies den Nichtigkeitsgrund des
§ 446 Abs 1 Z 2 ZPO. Ist der Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit nicht
52 Schumacher, HB LieZPR
Vogt III. Prozessgrundsätze
zugleich unter die vorstehende Bestimmung zu subsumieren, kann ein erheblicher Ver-
fahrensmangel vorliegen. 372 Es fragt sich allerdings, welche Sanktion eine Verletzung der
zeitlichen Unmittelbarkeit für das konkrete Verfahren nach sich zieht. fertigt bspw das
Erstgericht ein Urteil während eines längeren Zeitraums nicht aus, sodass die zeitliche
Unmittelbarkeit verletzt wird, kann dieser Verstoß im Prinzip nur dadurch behoben wer-
den, dass das Berufungsgericht eine Beweiswiederholung durchführt, eigene Feststellun-
gen trifft und das Urteil fristgerecht ausfertigt. 373
Schumacher, HB LieZPR 53
Kap 2 Verfassungsrechtliche Grundlagen des Zivilverfahrens Vogt
spruch auf rechtliches Gehör handelt es sich damit um ein verfassungsmäßig gewährleis-
tetes Recht. 379
2. Sachlicher Gewährleistungsbereich
2.45 Der Anspruch auf rechtliches Gehör stellt sicher, dass die Parteien eine dem Verfahrens-
gegenstand und der Schwere der drohenden Sanktion angemessene Gelegenheit erhalten,
ihren Standpunkt zu vertreten. 380 Er umfasst im Zivilprozess zunächst das Recht darauf,
am Gerichtsverfahren persönlich teilzunehmen. Das Gericht hat die Parteien rechtzei-
tig und ordnungsgemäß zu einer Tagsatzung zu laden. 381 Ein Versäumnisurteil nach
§ 396 ZPO ist daher nur möglich, wenn eine Partei aus eigenem Verschulden am Ver-
fahren nicht teilnimmt. 382 Das Recht auf persönliche Teilnahme verpflichtet das Gericht
dazu, Schriftsätze des Prozessgegners sowie die ~erichtlichen Verfügungen und Entschei-
dungen prozessordnungskonform zuzustellen. 3 3
2.46 Im Weiteren beinhaltet der Anspruch auf rechtliches Gehör einen Anspruch auf Orien-
tierung im Gerichtsverfahren. Das Gericht hat den Parteien grundsätzlich jede neue
Urkunde oder Stellungnahme zur Äußerung zukommen zu lassen und zwar unabhängig
davon, ob diese Akten von der Gegenpartei oder von dritten Personen oder von Behör-
den stammen. 384 Die Parteien eines Zivilprozesses sind nicht dazu verpflichtet, dass sie
sich in regelmäßigen Zeitabständen darüber unterrichten, ob das Gericht inzwischen
neue Beweismittel beigezogen hat. 385
2.47 Der Anspruch auf Orientierung im Gerichtsverfahren beinhaltet zudem ein Verbot der
Überraschungsentscheidung. Dh, das Gericht hat das Sach- und Rechtsvorbringen der
Parteien mit diesen zu erörtern. Nach § 182a ZPO darf das Gericht - außer in Neben-
ansprüchen - seine Entscheidung auf rechtliche Gesichtspunkte, die eine Partei erkenn-
bar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, nur stützen, wenn es diese mit den
Parteien erörtert hat und ihnen Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat. 386
2.48 Die Verfahrensbetroffenen haben darüber hinaus das Recht auf Anhörung und das
Recht auf Stellungnahme. Sie können sich zum Sachverhalt in tatsächlicher und
rechtlicher Hinsicht äußern. Dies umfasst etwa Stellungnahmen zu Anträgen und
Vorbringen des Prozessgegners, die Erörteruni von Beweisergebnissen oder tatsäch-
liche und rechtliche Ausführungen zur Sache. 3 7 Das Gericht hat dabei grundsätzlich
54 Schumacher. HB LieZPR
Vogt III. Prozessgrundsätze
Das Recht auf Anhörung und das Recht auf Stellungnahme beinhalten etwa auch ein 2.50
Recht, am Augenschein teilzunehmen, ,,das Recht, einem gerichtlich beeideten Sach-
verständigen Fragen zu stellen, sowie das Recht auf Replik". 393 Aus dem Recht auf
Replik hat die Rsp weiter die Zweiseitigkeit der gerichtlichen Rekursverfahren abge-
leitet. 394
Der Anspruch auf rechtliches Gehör enthält zudem das Recht auf Berücksichtigung bzw 2.51
den Anspruch auf Begründung von Entscheidungen. 395 Der Richter hat frist- und
formgerechte Schriftsätze und Vorbringen materiell zu prüfen. Oh, er muss auf die vor-
getragenen Argumente eingehen und sie in der Entscheidung berücksichtigen. 396 Die Be-
gründungspflicht wird zudem als ein verfassungsmäßig gewährleistetes Recht in Art 43
388 Vogt in Kley/Vallender, Grundrechtspraxis 577f mit umfangreichen Nachweisen zur Rsp.
389 Konecny in Fasching!Konecny II/ I 3 Einleitung Rz 66; s auch Kodek/ Mayr, Zivilprozessrecht'
Rz 762; Konecny in Fasching/Konecny Ill/1 3 § 272 ZPO Rz 10.
390 Für Ö auch Konecny in Fasching/Konecny Ill/1 3 § 272 ZPO Rz 10. Zur freien Beweiswürdigung
s unten Rz 21.69 ff.
391 Vogt in Kley/Vallender, Grundrechtspraxis 578 mit Hinweis auf StGH 2011/69, Erw 2.2.1.
392 Vgl dazu oben Rz 28.
393 Vogt in Kley/Val/ender, Grundrechtspraxis 579 mit Hinweis insb auf Mü/ler/Schefer, Grund-
rechte' 867.
394 Vogt in Kley/Val/ender, Grundrechtspraxis 579; s ferner T. Wille, Verfassungsprozessrecht 350.
Siehe hierzu auch StGH 1997/3; s in der Folge auch etwa OGH 2 Cg 99.00142; Hp 32/2000-12
LES 2001, 32. In diesen E dehnt der OGH das Prinzip des zweiseitigen Rekurses auf alle Re-
kursverfahren der ZPO aus.
395 Vogt in Kley/Vallender, Grundrechtspraxis 579ff.
396 Vogt in Kley!Vallender, Grundrechtspraxis 580.
Schumacher, HB LieZPR 55
Kap 2 Verfassungsrechtliche Grundlagen des Zivilverfahrens Vogt
Satz 3 LV normiert, dessen Verletzung vor dem StG H gerügt werden kann. 397 Einfach-
gesetzlich ergibt sich die Begründungspflicht aus § 272 Abs 3 ZPO, wonach das Gericht
die Umstände und Erwägungen, welche für seine Überzeugung maßgebend waren, in der
Begründung der Entscheidung anzugeben hat. Die Begründungspflicht ist eine notwen-
dige Ergänzung zum Grundsatz der freien Beweiswürdigung. Denn die Begründung ver-
setzt den Verfahrensbetroffenen erst in die Lage, eine Entscheidung mit einem Rechts-
mittel wirksam anzufechten. Weist eine Entscheidung keine Gründe auf, ,,kann der Ent-
scheidung weder sachgerecht entgegengetreten noch sie von der übergeordneten Instanz
einer wirksamen Kontrolle unterzogen werden". 398
2.52 ferner stellt das Recht auf Akteneinsicht einen Teilgehalt des Anspruchs auf recht-
liches Gehör dar. Demnach haben die Parteien eines Rechtsstreits das Recht volle Ein-
sicht in die Akten zu erhalten. ,,Das Akteneinsichtsrecht ergibt sich aus der Partei-
stellung als solcher und gilt somit voraussetzungslos." 399 Das Recht auf Akteneinsicht
kann nur sinnvoll ausgeübt werden, wenn die Akten auch vollständig geführt werden.
Aus diesem Grund ist das Gericht dazu verpflichtet, alle „entscheidungsrelevanten
Vorgän§;"• etwa Zeugen- und Parteieneinvernahmen im Akt nachvollziehbar festzu-
halten.4
397 Vgl eingehend zum verfassungsmäßig gewährleisteten Anspruch auf eine rechtsgenügliche Be-
gründung T. Wille in Kley/Vallender, Grundrechtspraxis 541 ff.
398 T. Wille in Kley/Vallender, Grundrechtspraxis 544. So auch T. Wille, Verfassungsprozessrecht
359 f mit Rechtsprechungshinweisen.
399 StGH 2009/107, Erw 3.
400 Vogt in Kley/Vallender, Grundrechtspraxis 584ff mit Hinweisen zur schweizerischen Staats-
rechtslehre, insb auf Müller/Sehe/er, Grundrechte• 877 f; Kiener/Kälin, Grundrechte 423.
401 Für Ö Konecny in Fasching/Konecny 11/1 3 Einleitung Rz 63.
402 OGH 09 CG.2007.180, Erw 8.1.3.
56 Schumacher, HB LieZPR
Vogt III. Prozessgrundsätze
te Beweiswürdigung, sind gern § 472 Z 2 ZPO beim OGH revisibel. 403 Nach stRsp des
öOGH können „angebliche Mängel des Verfahrens erster Instanz, deren Vorliegen vom
Berufungsgericht verneint wurden, im Revisionsverfahren nicht neuerlich geltend ge-
macht werden". Dies gilt ua dann nicht, .,wenn das Berufungsgericht bei Erledigung einer
Mängelrüge die Verfahrensvorschriften unrichtig angewendet" hat. Trifft dies zu, können
Mängel des Berufungsverfahrens bzw Mängel des Verfahrens erster Instanz vor dem
OGH gerügt werden. 404 Werden Verfahrensvorschriften unrichtig angewendet, indem
vom Erst- oder Berufungsgericht ein Beweisanbot ungerechtfertigt abgewiesen wurde,
bedeutet dies mE auch eine Verletzung des grundrechtlichen Anspruchs auf rechtliches
Gehör. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist richtigerweise vor dem
OGH revisibel. 405 Zudem könnten solche Verletzungen unter die Bestimmung des§ 446
Abs l Z 4 ZPO subsumiert werden, sodass dann eine Nichtigkeit vorläge. Nach § 446
Abs 1 Z 4 ZPO ist ein angefochtenes Urteil vom Berufungsgericht oder Revisionsgericht
403 Vgl dazu StGH 2010/91, Erw 2.2.3. In diese Richtung argumentierten wohl auch die öLehre
und Rsp. Für die öLit s schon die Ausführungen bei Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1910, wonach „die
Beurteilung der abstrakten Tauglichkeit eines Beweismittels keine Beweiswürdigung" darstelle
und auch „die vorgreifende Beweiswürdigung als solche" .,unzulässig und beides daher" beim
OGH revisibel sei. Siehe idS auch die Ausführungen von A. Kodek in Rechberger!Klicka, ZPO 5
2
§ 503 Rz 15 mit Hinweis auf Fasching, Lehrbuch Rz 1910. A. Kodek legt an jener Stelle mit
Hinweis auf Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1910 Folgendes dar: .,Der OGH hat also nicht zu über-
prüfen, ob die vom Berufungsgericht gezogene Schlussfolgerung aus den einzelnen Verfahrens-
ergebnissen - also die Beweiswürdigung - richtig oder fehlerhaft ist; er hat nur auf entspre-
chende Rüge zu untersuchen, ob bei der Stoffsammlung oder Erörterung eine Verfahrensvor-
schrift verletzt wurde." Demnach geht es entscheidend darum, zu prüfen, ob bei der Stoff-
sammlung Verfahrensvorschriften verletzt worden sind. Liegt eine unzulässige antizipierte
Beweiswürdigung vor, wurde dadurch die verfassungsmäßig gewährleistete Verfahrensvor-
schrift „Anspruch auf rechtliches Gehör" verletzt. Der öOGH hat etwa in 10 ObS 91/14a aus-
geführt, nach „ständiger Rechtsprechung" könnten „auch im sozialgerichtlichen Verfahren an-
gebliche Mängel des Verfahrens erster Instanz, deren Vorliegen vom Berufungsgericht ver-
neint" worden seien, .,im Revisionsverfahren nicht neuerlich geltend gemacht werden" (RIS-
Justiz RS0043111 ). .,Nur wenn das Berufungsgericht sich mit der Mängelrüge nicht befasst"
habe, .,den Mangel des Verfahrens erster Instanz mit einer durch die Aktenlage nicht gedeck-
ten Begründung verneint" habe oder „bei Erledigung einer Mängelrüge die Verfahrensvor-
schriften unrichtig angewendet" habe (RIS-Justiz RS00431 II), ,.läge ein Mangel des Berufungs-
verfahrens vor, bzw könnten Mängel des Verfahrens erster Instanz noch in dritter Instanz
wahrgenommen werden." Siehe auch Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht• Rz 1116, die die-
ser restriktiven Rsp ablehnend gegenüberstehen. Eine aA vertritt Schumacher, LJZ 2015, 82 f.
Dieser ist der Ansicht, dass - wenn das „Berufungsgericht angebliche Mängel des Verfahrens
erster Instanz verneint" habe -, ,.diese Mängel im Revisionsverfahren nicht neuerlich geltend
gemacht werden" könnten. Dies ergebe sich aus einem Größenschluss des§ 487 ZPO, wonach
.,vom Berufungsgericht verneinte Nichtigkeiten der ersten Instanz nicht an den OGH heran-
getragen werden" könnten. Daher müsste dies „umso mehr für blosse Verfahrensmängel" gel-
ten. Schumacher räumt aber letztlich selber ein, dass dann, wenn das OG bspw „gar keine
Gründe für die Abweisung eines Beweisantrags" angibt „oder die vom Berufungsgericht ange-
führten Gründe für die Abweisung des Beweisanbots als solche nicht nachvollziehbar wären",
dies vor dem OGH geltend gemacht werden könne. Dies entspricht nun gerade der von Schu-
macher krit Rsp des StGH.
404 Vgl dazu etwa öOGH 10 ObS 91/14a. Siehe hierzu vorstehende FN.
405 Vgl dazu unten Rz 2.57.
Schumacher, HB LieZPR 57
Kap 2 Verfassungsrechtliche Grundlagen des Zivilverfahrens Vogt
als nichtig aufzuheben, wenn einer Partei die Möglichkeit, vor Gericht zu verhandeln,
durch ungesetzlichen Vorgang, insb durch Unterlassung der Zustellung, entzogen wurde.
Es ist daher zu erwägen, ob bei einer zeitgemäßen teleologischen Auslegung dieser Be-
stimmung weitere Verfahrensverstöße, die eine Gehörsverletzung darstellen, unter diesen
Nichtigkeitsgrund subsumiert werden könnten.
2.55 Der OGH vertritt die Meinung, dass „im Allgemeinen dann, wenn das Berufungsgericht
das Vorliegen eines Nichtigkeitsgrundes verneint, diese Nichtigkeit vor dem OGH nicht
mehr geltend gemacht werden" könne. Lediglich dann, wenn die Nichtigkeit erster Ins-
tanz auf das Verfahren zweiter Instanz durchschlage, könne die Nichtigkeit in der Revi-
sion vom OGH trotzdem geprüft werden. 406 Diese Auffassung ist - auch wenn sie sich
auf § 487 ZPO stützen kann - mE nicht völlig überzeugend. So wird einerseits gesagt,
dass Verfahrensfehler der ersten Instanz, die eine Nichtigkeit der Entscheidung bzw des
Verfahrens bedeuten, vom Berufungsgericht von Amts wegen wahrzunehmen sind. Er-
kennt dagegen das Berufungsgericht nicht, dass es sich um einen solchen schwerwiegen-
den Verfahrensfehler handelt, und verneint es zu Unrecht die Nichtigkeit des Verfahrens
erster Instanz, soll diese Nichtigkeit im Revisionsverfahren vor dem OGH nicht einmal
mehr wahrgenommen werden können, wenn sie von der betroffenen Partei in der Revi-
sion gerügt wurde. Dies bedeutet aber Folgendes: Einerseits ist die Entscheidung der
ersten Instanz mit einem so schwerwiegenden Mangel behaftet, dass das Berufungsge-
richt diesen von Amts wegen beheben müsste und andererseits soll die Verneinung dieses
schwerwiegenden Fehlers durch das Berufungsgericht dazu führen, dass dieser (bestehen-
de) schwerwiegende Mangel vom OGH gar nicht mehr überprüft werden kann. Diese
Konzeption ist nicht stimmig. Diesem Umstand trägt letztlich auch der OGH (zumindest
teilweise) Rechnung, indem er in Fällen, in denen sich die allfällige Nichtigkeit erster
Instanz auf das Verfahren zweiter Instanz durchschlägt, trotzdem überprüft, ob in casu
eine Nichtigkeit vorliegt. Zu bedenken ist zudem, dass eine Entscheidung nicht dadurch
richtig wird, weil zwei Instanzen eine Nichtigkeit nicht als eine solche erkennen.
2.56 Diese dogmatischen Überlegungen spielen im Ergebnis aber eine untergeordnete Rolle.
Entscheidend ist vielmehr, dass alle Behörden und Gerichte grundrechtsverpflichtet sind.
Die ordentlichen Gerichte „sind an die Verfassung gebunden und haben bei der Anwen-
dung" des einfachen Rechts „die Grundrechte zu beachten". 407 Mit anderen Worten ge-
sagt, die „Grundrechte werden damit nicht erst oder gar ausschliesslich vom Staatsge-
richtshof geschützt." 408 Der Grundrechtsschutz erfolgt auch durch die ordentlichen Ge-
richte. Der Staatsgerichtshof konkretisiert den Anspruch auf rechtliches Gehör ua dahin-
gehend, dass sich Verfahrensbetroffene zum Sachverhalt in tatsächlicher und rechtlicher
Hinsicht äußern können sollen und etwa auch Beweisanträge stellen können. Werden
verfahrensrelevante, prozessordnungskonforme Beweisanträge vom Gericht nicht abge-
nommen, liegt eine unzulässige antizipierte Beweiswürdigung und somit eine Verletzung
des verfassungsmäßig gewährleisteten Anspruchs auf rechtliches Gehör vor. Die ordent-
406 OGH 2018.78 (07 CG.2016.8), Erw 13.4 mit Hinweisen zur Rsp sowie auf Zechner in Fasching/
Konecny IV /1 2 § 503 ZPO Rz 69.
407 Vogt, Willkürverbot 443f; s auch T. Wille, Verfassungsprozessrecht S0f.
408 T. Wille, Verfassungsprozessrecht S0fmit Hinweis für Deutschland auf Korioth in FS 50 Jahre
Bundesverfassungsgericht I 60.
58 Schumacher, HB LieZPR
Vogt III. Prozessgrundsätze
liehen Gerichte, insb auch der OGH, haben die ZPO daher verfassungskonform dahin-
gehend auszulegen und anzuwenden, dass Verstöße gegen den Anspruch auf rechtliches
Gehör sanktioniert werden können. Auf diese Weise wird eine einheitliche Rsp des OGH,
des StGH und des EGMR sichergestellt. Scheidet eine verfassungskonforme Auslegung
aus, hat ein Gericht nach Art 18 Abs I lit b StGHG ein Normprüfungsverfahren beim
StGH zu beantragen.
Aufgrund des Vorrangs der Verfassung 409 gilt mE daher Folgendes: Werden durch 2.57
schwerwiegende Verfahrensverstöße zugleich Grundrechte verletzt, kann dies vor
dem OGH gerügt werden, und zwar auch dann, wenn das Berufungsgericht diese Ver-
stöße nicht als Verfahrensmängel oder als Nichtigkeiten beurteilt hatte. Entsprechendes
gilt auch, wenn materielle Grundrechte verletzt werden. So ist zwar grundsätzlich - im
dreigliedrigen Instanzenzug - die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts vor dem OGH
nicht revisibel. Liegt hingegen in entscheidungswesentlichen Punkten eine unhaltbare
Beweiswürdigung vor, verstößt dies gegen das (ungeschriebene) Grundrecht Willkür-
verbot.410 In diesem beschränkten Umfang ist der vom Erst- und vom Berufungsgericht
411
festgestellte Sachverhalt vom OGH überprüfbar.
4. Grundrechtskollisionen
Der Anspruch auf rechtliches Gehör stellt nicht nur einen Prozessgrundsatz dar, sondern 2.58
ist zugleich ein verfassungsmäßig gewährleistetes Recht (Grundrecht). Darüber hinaus
hat der StGH auch den Anspruch auf ein faires Verfahren als innerstaatliches Grundrecht
412
anerkannt, das jedenfalls im Zivilverfahren Anwendung findet. Der Anspruch auf ein
faires Verfahren nach Art 6 Abs I EMRK beinhaltet ua auch das Recht auf eine Entschei-
409 „Vorrang der Verfassung bedeutet demnach normativer Höchstrang in Verbindung mit unein-
geschränkter Rechtsverbindlichkeit der Verfassung." (H. Wille, Staatsordnung 274 mit Hinweis
auf Peters, Theorie der Verfassung Europas 58). Siehe dazu eingehend H. Wille, Staatsordnung
231 ff, 273 ff, 603 ff. Zum Vorrang der Verfassung gegenüber dem Gesetz s schon G. Batliner in
G. Bat/iner, Liechtensteinische Verfassung 21 ff). ldZ ist auch der Grundsatz der Einheit der
Rechtsordnung zu berücksichtigen; s hierzu schon StGH 1979/3 LES 1981, 109 (110). Zudem
·würde es einen Wertungswiderspruch darstellen, wenn "Entscheidungen, die der Revision zu-
gänglich sind", nicht in jeder Hinsicht auf ihre Verfassungsmäßigkeit kontrolliert werden
könnten, wohingegen Entscheidungen, ,,gegen die das Rechtsmittel der Revision nicht gegeben
ist", einer umfassenden verfassungsrechtlichen Kontrolle unterliegen würden ( Vogt, Willkür-
verbot 435 f).
410 Statt vieler StGH 1995/6 LES 2001, 63 (67); s hierzu auch Vogt, Willkürverbot 159 und 207.
411 Siehe hierzu OGH 09 CG.2015.308, Env. 9.1.1. Der OGH hält dort fest: .,Der Revisionsgrund
der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens ist von einer blassen Beweisrüge streng zu un-
terscheiden. Der Verfahrensmangel kann immer nur in der Verletzung einer Verfahrensvor-
schrift gelegen sein, während die Beweiswürdigung Sache der Tatsacheninstanzen ist. Das Re-
visionsgericht fungiert ausschliesslich als Kontrollinstanz in materiell-rechtlicher und formel-
rechtlicher Beziehung. Eine Mängelrüge kann deshalb von vornherein nicht dazu führen, das
Ergebnis der unterinstanzlichen Stoffsammlung zu überprüfen. Der vom Erst- und vom Beru-
fungsgericht in freier Beweiswürdigung festgestellte Sachverhalt ist für das Revisionsgericht -
ausgenommen die Fälle krass unrichtiger, durch die Beweisaufnahme nicht gedeckter Feststel-
lungen oder einer offensichtlich unhaltbaren Beweiswürdigung - unüberprüfbar (LES 2010,
296; LES 2002, 313; LES 1999, 49 ua)."
412 Siehe dazu oben Rz 2.1.
Schumacher, HB LieZPR 59
Kap 2 Verfassungsrechtliche Grundlagen des Zivilverfahrens Vogt
dung innert angemessener Frist. 413 Es kann zwischen dem Anspruch auf rechtliches
Gehör und dem Recht auf eine Entscheidung innert angemessener Frist in einem
Mehrparteienverfahren - ein solches ist der Zivilprozess als typisches Zweiparteienver-
fahren - zu einer Grundrechtskollision kommen, bei der sich die Grundrechte von ver-
schiedenen Parteien (und zugleich Grundrechtsträgern) entgegenstehen. 414
2.59 So kann eine Partei bspw gestützt auf den Anspruch auf rechtliches Gehör Vorbringen
erstatten und Beweisanträge stellen. Der Verfahrensgegner möchte demgegenüber keine
weiteren kostenintensiven Verhandlungen und keine weitere Zeitversäumnis in Kauf
nehmen. Der (grundrechtliche) Anspruch auf rechtliches Gehör steht hier in einem Span-
nungsverhältnis mit dem (grundrechtlichen) Anspruch auf eine Entscheidung innert an-
gemessener Frist (Beschleunigungsgebot). Ergibt sich bei der Anwendung einer Bestim-
mung der ZPO eine solche Grundrechtskollision, hat das Gericht iS der „praktischen
Konkordanz" einen Interessenausgleich zwischen den Prozessparteien herzustellen
und dabei eine optimale Wirksamkeit des Grundrechtsschutzes sicher zu stellen. 415
Diese Vorgehensweise ist dann nicht möglich, wenn die anzuwendende Bestimmung der
ZPO ihrerseits verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet. Diesfalls ist ein Normprü-
fungsverfahren beim StGH einzuleiten.
1. Waffengleichheit
2.60 Der Grundsatz der Waffengleichheit ist aus dem Anspruch auf ein faires Verfahren des
Art 6 Abs l EMRK herzuleiten. 416 Der Grundsatz der Waffengleichheit entfaltet seine
überragende Bedeutung zwar im Strafverfahren. Er gilt gleichwohl auch im Zivilverfahren
und will sicherstellen, dass die Parteien eines Zivilverfahrens prozessrechtlich gleich
behandelt werden. 417 Die Parteien müssen vom Verfahrensgang gleichermaßen unter-
richtet werden und unter den gleichen Bedingungen zur Sache Vorbringen erstatten kön-
nen.418 Dh, es darf nicht eine Partei gegenüber der anderen Partei bevorteilt werden. 419
Insoweit entspricht der Grundsatz der Waffengleichheit im Wesentlichen dem verfas-
sungsmäßig gewährleisteten Anspruch auf rechtliches Gehör, wonach jede Partei eine
dem Verfahrensgegenstand und der Schwere der drohenden Sanktion angemessene Ge-
legenheit zu erhalten hat, ihren Standpunkt vor Gericht zu vertreten. 420 Der StGH hat
den Anspruch auf ein faires Verfahren als innerstaatliches Grundrecht anerkannt. 421 Da-
her findet dieser Grundsatz unbestritten zumindest im sachlichen Geltungsbereich des
60 Schumacher, HB LieZPR
Vogt III. Prozessgrundsätze
Art 6 Abs I EMRK, sohin auch im Zivilverfahren Anwendung. 422 Der Grundsatz der
Waffengleichheit ist auf einfachgesetzlicher Ebene in der ZPO nicht ausdrücklich festge-
schrieben. Die ZPO sieht aber grundsätzlich für die Parteien gleichwertige Handlungs-
möglichkeiten vor. Die Gerichte müssen die ZPO im Lichte dieses grundrechtlichen An-
spruchs konkretisieren und auslegen. Verstöße gegen den Grundsatz der Waffengleich-
heit sind im Rechtsmittelverfahren als erhebliche Verfahrensmängel, allenfalls als Nich-
423
tigkeiten zu rügen.
422 Zur Frage des sachlichen Gewährleistungsbereichs des innerstaatlichen Grundrechts auf ein
faires Verfahrens T. Wille, Verfassungsprozessrecht 377ff, 381 f; s auch Vogt, Jus & News 1/
2010, 8f.
423 Konecny in Fasching/Konecny 11/1 3 Einleitung Rz 64/2ff.
424 T. Wille, Verfassungsprozessrecht 43.
425 Fucik in Rechberger/Klicka, ZPO' Vor§ 171 Rz 12; s auch Konecny in Fasching/Konecny 11/1 3
Einleitung Rz 65.
426 Fucik in Rechberger/Klicka, ZPO 5 Vor§ 171 Rz 12; Konecny in Fasching/Konecny 11/1 3 Einlei-
tung Rz 65.
427 Dieser Themenbereich orientiert sich in wesentlichen Punkten an den Ausführungen von Vogt
in Kley/Vallender, Grundrechtspraxis 611 ff; s auch Kley, Grundriss 239f.
428 Kiener/Kä/in/Wyttenbach, Grundrechte 3 508 Rz 15; s auch StGH 2009/99, Erw 4.1.
429 Vogt in Kley/Vallender, Grundrechtspraxis 614 mit Hinweisen zur schweizerischen Staats-
rechtslehre, insb auf Steinmann in Ehrenzeller/Mastronardi/Schweizer/Vallender, chBV Art 29
Rz 14 ff; Müller/Sehe/er, Grundrechte• 833 f; Keller in Merlen/Papier, Handbuch der Grund-
rechte Vll/2 § 225 Rz 24.
430 Vogt in Kley/Val/ender, Grundrechtspraxis 614 mit Hinweisen zur schweizerischen Staats-
rechtslehre, insb auf Steinmann in Ehrenzeller/Mastronardi/Schweizer/Vallender, chBV Art 29
Rz 14 ff; Müller/Sehe/er, Grundrechte• 833 f; Keller in Merlen/Papier, Handbuch der Grund-
rechte VII/2 § 225 Rz 24.
Schumacher, HB LieZPR 61
Kap 2 Verfassungsrechtliche Grundlagen des Zivilverfahrens Vogt
eile Ansprüche (mit verhältnismäßigem Aufwand) durchgesetzt werden können. 431 Liegt
432
ein rechtskräftiges Urteil vor, muss dieses auch vollstreckbar sein.
2.62 Der StGH anerkennt einen „teleologischen Auslegungsgrundsatz" für Verfahrensordnun-
gen, wonach jene Auslegung Vorranf beansprucht, die „für die Rechtsdurchsetzung des
materiellen Rechts günstiger ist". 43 So ist bei einem Rechtsmittel, bei dem unklar ist, ob
es die formellen Voraussetzungen erfüllt, im Zweifel die Zulässigkeit des Rechtsmittels
434
anzunehmen. Entsprechendes hat mE auch für alle erstinstanzlichen Eingaben Anwen-
dung zu finden. JdS können bei Klagen seit der ZVN 2018 nunmehr sowohl Formgebre-
435
chen als auch inhaltliche Mängel weitgehend verbessert werden(§ 84 Abs 2 und 3 ZPO).
2.63 Weisen Eingaben Formfehler auf, die einfach zu beheben sind, folgt aus dem das Verbot
des überspitzten Formalismus, dass das Gericht den Parteien eine Nachfrist setzt, damit
der Mangel behoben werden kann. Dies gilt ua, wenn bei einem Schriftsatz die „Unter-
schrift" oder „die Vollmacht des Rechtsvertreters" fehlen. 436 Gleiches gilt, wenn einem
437
Schriftsatz etwa die Beilagen oder deren Übersetzungen nicht beigefügt sind.
K. Freie Beweiswürdigung
2.64 Art 100 Abs I LV legt für das Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten den Grund-
satz der freien Beweiswürdigung fest. Die freie Beweiswürdigung des Gerichts stellt über-
dies einen elementaren Grundsatz des liechtensteinischen Prozessrechts dar und gilt in
438
allen Verfahren vor liechtensteinischen Gerichten. Nach§ 272 Abs 1 ZPO beurteilt das
Gericht unter sorgfältiger Berücksichtigung der Ergebnisse der gesamten Verhandlung
und Beweisführung nach freier Überzeugung, ob eine tatsächliche Angabe für wahr zu
halten sei oder nicht. Aus der freien Beweiswürdigung folgt auch, dass das Gericht die
aufgenommenen Beweise nach seiner Überzeugungskraft und Schlüssigkeit zu beurteilen
und sachlich zu begründen hat. Es hat nachvollziehbar darzulegen, aus welchen Gründen
es einen Beweis für erbracht bzw für nicht erbracht hält. 439 Die freie Beweiswürdigung
,,betrifft nicht die Sammlung, sondern die Auswertung des Prozessstoffs". 440 Das Ge-
richt hat zunächst die relevanten Beweise vollständig zu erheben, bevor es diese anschlie-
ßend nach freier Überzeugung würdigen kann. 441 Die ZPO kennt nur in engen Grenzen
62 Schumacher, HB LieZPR
Vogt III. Prozessgrundsätze
Schumacher, HB LieZPR 63
Kap 2 Verfassungsrechtliche Grundlagen des Zivilverfahrens Vogt
Streitverhandlung zu verbinden ist. In diesem Fall haben die Parteien und ihre Vertreter bei
der ersten Tagsatzung dafür zu sorgen, dass der Sachverhalt und allfällige Vergleichsmög-
lichkeiten umfassend erörtert werden können. Zu diesem Zweck ist die Partei oder, soweit
diese zur Aufklärung des Sachverhalts nicht beitragen kann, eine informierte Person zur
Unterstützung des Vertreters stellig zu machen(§ 246 Abs 2 ZPO). Ein klarer Beweisbe-
schluss und das Erörtern des Prozessprogramms mit den Parteien in der ersten Tagsatzung
tragen ebenfalls zu einem raschen und gut strukturierten Verfahren bei.
2.68 Der Beschleunigung der Verfahren dient ferner die Einschränkung der Anfechtbarkeit
verfahrensgestaltender und verfahrensleitender Beschlüsse des OG. Diese Unanfecht-
barkeit mit ordentlichen Rechtsmitteln ist nunmehr weitgehend verwirklicht, und zwar
auch dann, wenn difforme Entscheidungen des LG und des OG vorliegen. 450 Zu erwäh-
nen sind hier etwa die Beschlüsse über Anträge auf Erlag einer Sicherheitsleistung für
Prozesskosten(§ 59 ZPO). 451 Das OG entscheidet über einen Rekurs gegen den Beschluss
des LG endgültig und unter Ausschluss jeden weiteren Rechtszugs. Zudem kann der
Erstrichter oder der Vorsitzende die Fortsetzung des Verfahrens anordnen, ohne dass
die Rechtskraft des dem Antrag auf Erlag einer Sicherheitsleistung für Prozesskosten ganz
oder teilweise stattgebenden Beschlusses abgewartet werden muss. Diese Möglichkeit be-
steht dann, wenn die Pflicht zum Erlag einer Sicherheitsleistung für Prozesskosten nur
dem Betrag, nicht aber dem Grunde nach bestritten ist und der Kläger oder Rechtsmit-
telwerber gleichzeitig den nicht strittigen Betrag erlegt und dieser voraussichtlich die dem
Gegner bis zum Vorliegen der rechtskräftigen Entscheidung über die Kautionspflicht ent-
stehenden Prozesskosten deckt (§ 62 Abs 2 ZPO).
2.69 Eine weitere Maßnahme zur Verfahrensbeschleunigung ist darin zu sehen, dass das Gesetz
dem Kläger die Möglichkeit der K.Jagsänderung großzügig zugesteht. So kann das Ge-
richt nach Eintritt der Streitanhängigkeit und trotz Einwendungen des Gegners eine Klags-
änderung zulassen, wenn aus der Änderung eine erhebliche Erschwerung oder Verzöge-
rung der Verhandlung nicht zu besorgen ist(§ 243 Abs 3 ZPO). Dabei entscheidet das OG
über Rekurse gegen die vom LG über die Zulassung einer Abänderung der Klage gefassten
Beschlüsse endgültig und unter Ausschluss jeden weiteren ordentlichen Rechtszugs.
2.70 ferner hat die ZVN 2018 452 etwa eine Verfahrensbeschleunigung für Rekurse gegen
Aufhebungsbeschlüsse des Berufungsgerichts, denen ein Rechtskraftvorbehalt beigefügt
wurde. gebracht. Setzt das Berufungsgericht einem Aufhebungsbeschluss, mit welchem
das angefochtene Urteil des LG aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Ver-
handlung und Entscheidung an das LG zurückverwiesen wird, einen „Rechtskraftvorbe-
halt" bei, hat der OGH über einen Rekurs gegen einen solchen Beschluss in der Sache
450 Siehe hierzu § 9 Abs 3, § 10 Abs 2, § 23 Abs 3, § 38 Abs 3, § 55 Abs 2, § 59 Abs 2, § 72 Abs 3,
§ 82 Abs I, § 141 Abs 2, § 147 Abs l, § 170a Abs l, § 173 Abs 2, § 179 Abs 2, § 220 Abs 4,
§ 243 Abs 3, § 308 Abs 2, § 349 Abs 3, § 366 Abs 3, § 368 Abs 3, § 419 Abs 2 ZPO; s auch
BuA 2018/19.
451 Die Regeln zum Erlag einer Sicherheitsleistung besitzen in Liechtenstein aufgrund des häufigen
Auslandbezugs des Klägers oder Rechtsmittelwerbers sowie aufgrund des häufigen Einbezugs
von Verbandspersonen als Klägerinnen oder Rechtsmittelwerberinnen in Zivilprozessen eine
große praktische Bedeutung.
452 G v 6.9.2018, über die Abänderung der Zivilprozessordnung, LGBl 2018/207.
64 Schumacher, HB LieZPR
Vogt III. Prozessgrundsätze
selbst zu erkennen, wenn die Streitsache entscheidungsreif ist (§ 487 Abs 2 iVm § 487
Abs I Z 3 ZPO). Es bleibt abzuwarten, wie sich diese Kompetenz des OGH in der Praxis
tatsächlich verfahrensbeschleunigend auswirken wird.
Die Stoffsammlung erfolgt zwar idR durch die erste Instanz. Die liechtensteinische ZPO 2.71
kennt aber im Gegensatz zur öZPO kein Neuerungsverbot für das Berufungsverfahren.
Im Berufungsverfahren gilt vielmehr eine beschränkte Neuerungserlaubnis. Daher
können die Parteien zwar innerhalb der Grenzen der Berufungsanträge und Berufungs-
gründe neue Ansprüche und Einreden erheben. Aber neue Angriffs- und Verteidigungs-
mittel, insb neue Beweise, dürfen die Parteien im Berufungsverfahren zur Begründung
der Berufungsanträge oder zu deren Widerlegung nur noch dann vorbringen, wenn die-
ses Vorbringen vorher im Weg der Berufungsschrift oder der Berufungsmitteilung dem
Gegner mitgeteilt worden ist (§ 432 und § 452 Abs I und 2 ZPO). 453 Ein in der Sache
ergehendes Urteil kann damit allerdings sämtliche tatsächlichen Umstände bis zum Zeit-
punkt der Einbringung der Berufung oder der Berufungsmitteilung berücksichtigen. Zu-
dem wurde zuletzt die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung
454
vor dem Berufungsgericht abgeschafft.
453 Ein solches Vorbringen von neuen Ansprüchen oder Einreden, neuen Tatsachen und Beweisen
kann jedoch vom Gericht auf Antrag oder von Amts wegen zurückgewiesen werden, wenn es
schuldhaft nicht bereits im erstinstanzlichen Verfahren vorgebracht worden ist (§ 452 Abs 3
ZPO).
454 Vgl dazu oben Rz 2.28 und Rz 2.49.
455 Dieser Themenbereich orientiert sich in wesentlichen Punkten an den Ausführungen zum
Grundsatz von Treu und Glauben und zum Verbot des Rechtsmissbrauchs im liechtensteini-
schen öffentlichen Recht von Kley/Vogt in Kley/Vallender, Grundrechtspraxis 291 ff. Zum
Grundsatz von Treu und Glauben im liechtensteinischen Privatrecht s eingehend Legerer, Treu
und Glauben insb 181 ff. Für die Schweiz s Sarbach, Verbot überraschender Rechtsanwendung
insb 142 ff.
456 StGH 1979/7,Gutachtenv ll.12.1979LES 1981, 116(118).
457 Kley/Vogt in Kley!Vallender, Grundrechtspraxis 291.
458 Vgl dazu auch Legerer, Treu und Glauben, insb 181 ff.
459 OGH 01 CG. 2011.355, Erw 9.3.
Schumacher, HB LieZPR 65
Kap 2 Verfassungsrechtliche Grundlagen des Zivilverfahrens Vogt
punkt einer Partei nicht zum Durchbruch verhelfen. 460 Es stellt etwa einen Verstoß gegen
Treu und Glauben dar, wenn ein Gericht ohne sachliche Begründung ein Begehren abwei-
chend von einer früheren Rsp, wie sie in guten Treuen verstanden werden durfte, zurück-
weist, ohne dass dem Kläger zuvor die Gelegenheit zur Verbesserung des Begehrens ein-
geräumt worden wäre. 461 Der Grundsatz von Treu und Glauben umfasst auch das Verbot
widersprüchlichen Verhaltens. Das Verbot des widersprüchlichen Verhaltens ist etwa dann
verletzt, wenn eine Partei vor den verschiedenen Gerichtsinstanzen »in widersprüchlicher
Weise bald in der einen und bald in der gegenteiligen Richtung" vorbringt 462 oder wenn
etwa eine Partei im Rechtsmittelverfahren »einen von ihr selbst herbeigeführten allfälligen
Vertretungsmangel als Nichtigkeitsgrund" geltend machen will. 463
66 Schumacher, HB LieZPR
Vogt III. Prozessgrundsätze
Partei arglistig und treuwidrig erhoben werden. 467 Eine Partei, die Rechtsschutz zweck-
widrig in Anspruch nimmt, handelt ebenfalls rechtsmissbräuchlich. So existiert auch
keine Beschwerdelegitimation lediglich zu Zwecken „experimenteller Jurisprudenzu 4611 •
467 OGH 2 CG.2001.317, Erw 3.5.2. Siehe auch OGH 08 CG.2015.461 (OGH 2017.185), Erw.
8.3.1 I, wo der OGH ausführt, "dass die Verjährungseinrede gegen Treu und Glauben verstos-
sen" könne, "wenn die Fristversäumnis des Berechtigten auf ein Verhalten seines Gegners zu-
rückzuführen" sei mit Hinweis auf RIS-Justiz RS00l4838; OGH 07 CG.2015.161, Erw 8.4.5. Für
ö s auch schon öOGH 2 Ob 52/68.
468 Kley!Vogt in Kley/Vallender, Grundrechtspraxis 298 mit Hinweis auf VfSlg 9344/ l 982; vgl auch
VBI 1994/1, E v 16. 3. 1994 LES 1994, 118(119); BGE 122 II 98 mH.
Schumacher. HB LieZPR 67
3. Kapitel
Ausgeschlossenheit und Befangenheit von Richtern
Lothar Hagen
Übersicht
Rz
I. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1
A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1
B. Gesetzliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4
II. Ausschluss- und Befangenheitsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8
A. Ausschlussgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8
1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8
2. Ausschlussgründe im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.9
a) Interessenkonflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.9
b) Verwandtschaft/Schwägerschaft ...................... 3.12
c) Bevollmächtigte und Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.14
d) Teilnahme am Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.16
B. Ablehnungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.21
1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.21
2. Ablehnungsgründe im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.23
III. Verfahren in Ausschluss- und Ablehnungssachen . . . . . . . . . . . . . . . 3.28
A. Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.28
B. Verfahren und Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.32
IV. Exkurs: Missbräuchliche Verwendung des Ablehnungsrechts . . . . . . . 3.38
1. Vorbemerkungen
A. Allgemeines
3.1 Die Bestimmungen über den Ausschluss und die Ablehnung von Richtern (Art 56-61
GOG) sollen die richterliche Objektivität und Unparteilichkeit im Einzelfall garantie-
ren. Die allgemeinen Sicherheiten in der Verfassung, in Art 6 Abs l EMRK und auch in
einzelgesetzlichen Vorschriften, insb im RDG 469 , vermögen die äußeren Bedingungen für
eine größtmögliche Unbeeinflussbarkeit festzulegen, im Einzelfall ist eine Interessenkolli-
sion aber durch nähere Bestimmungen zu regeln. 470
3.2 Konkret wird der Anspruch auf den unbefangenen und unparteiischen Richter aus Art 33
Abs 1 HS 1 LV abgeleitet, wonach niemand seinem ordentlichen Richter entzogen wer-
den darf. 471 Dieser Anspruch auf den unbefangenen Richter steht in einem gewissen
Spannungsverhältnis zum Anspruch auf den (primären) gesetzlichen Richter. Weder soll
68 Schumacher, HB LieZPA
Hagen 1. Vorbemerkungen
sich ein Richter unter Berufung auf eine Ausgeschlossenheit bzw Befangenheit unbeque-
mer Prozesse entschlagen können, noch soll bei einem Gericht durch Parteienantrag oh-
ne weiteres die auch die Unabhängigkeit garantierende feste Geschäftsverteilung durch-
brochen werden können. 472
Die Bestimmungen über den Ausschluss und die Ablehnung von Richtern finden gern 3.3
Art 56 GOG auch auf Rechtspfleger und Protokollführer, Exekutoren und nichtrichter-
liche Urkundspersonen Anwendung. Durch die Normierung der Bestimmungen über
den Ausschluss und die Ablehnung von Richtern und anderen Gerichtspersonen im
GOG ist überdies gewährleistet, dass diese Bestimmungen für alle Richter der ordentli-
chen Gerichtsbarkeit und für alle zivilgerichtlichen, aber auch strafgerichtlichen Verfah-
rensarten anzuwenden sind. Was die zivilgerichtlichen Verfahrensarten betrifft, feiten sie
also auch im Exekutions- und Insolvenzverfahren, im Außerstreitverfahren 47 und im
474
Rechtsöffnungsverfahren.
B. Gesetzliche Grundlagen
Am 10. 12. 1912 erließ der Landtag das Gesetz über die Ausübung der Gerichtsbarkeit 3.4
und die Zuständigkeit der Gerichte in bürgerlichen Rechtssachen (Jurisdiktionsnorm,
JN), das aus dem österr Rechtsbereich übernommen wurde. Damit wurden auch die Be-
stimmungen über die Ablehnung von Richtern und anderen gerichtlichen Organen
(§§ 15 bis 22 JN) in den Rechtsbestand des Fürstentums Liechtenstein eingeführt. Die
JN trat am I. 6. 1913 in Kraft. 475
Mit dem Gerichtsorganisationsgesetz v 7.4.1922 (GOG [aF]), in Kraft seit 20. 4. 1922, 476 3.5
wurden va auch die Ausschlussgründe und Ablehnungstatbestände im Strafprozess in das
GOG übernommen. Im Übrigen gab es im Verhältnis zu den gleichzeitig aufgehobenen
Bestimmungen der JN nur insoweit Änderungen, als die Ablehnungsgründe etwas ausge-
dehnt bzw genauer gefasst wurden. Inhaltlich wurden freilich im GOG (aF) die bis dahin in
der JN enthaltenen Bestimmungen fortgeführt. Es fand sohin eine Fortschreibung der Be-
stimmungen aus der österr Rezeptionsvorlage statt. In weiterer Folge gab es keine substan-
ziellen Änderungen in den Bestimmungen der§§ 10 bis 19 GOG (aF). Diese Bestimmun-
gen blieben bis zum Außerkrafttreten unverändert bestehen mit Ausnahme des§ 16 Abs 2
und 3 GOG (aF), der aufgrund der Einführung des Gesetzes über die Bestellung der Richter
(Richterbestellungsgesetz, RBG) geändert werden musste.
Die derzeitige gesetzliche Grundlage für den Ausschluss und die Ablehnung von Richtern 3.6
und anderen Gerichtspersonen er ibt sich aus Art 56-61 des Gerichtsorganisationsge-
9
setzes vom 24. 10. 2007 (GOG). 4 7 Aus den Gesetzesmaterialien ist zu entnehmen, dass
Art 56 und 57 der Gesetzesvorlage in vereinfachter Form die Ausschluss- und Ableh-
Schumacher, HB LieZPR 69
Kap 3 Ausgeschlossenheit und Befangenheit von Richtern Hagen
70 Schumacher, HB LieZPR
Hagen II. Ausschluss- und Befangenheitsgründe
2. Ausschlussgründe im Einzelnen
a) Interessenkonflikt
Nach Art 56 lit a GOG ist ein Richter ausgeschlossen, wenn er in der Sache ein persönli- 3.9
ches Interesse hat. Diese Bestimmung ist sehr weit gefasst und bedient sich des weiten
Begriffs des persönlichen Interesses. Im Gegensatz dazu ist in der österr Rezeptionsvor-
lage dieser Ausschlussgrund insoweit enger gefasst, als er Richter betrifft, die selbst Partei
sind oder in Ansehung der Rechtssache zu einer der Parteien in dem Verhältnis eines
Mitberechtigten, Mitverpflichteten oder Regresspflichtigen stehen. 488
In Sachen, in denen der Richter selbst Partei ist oder in Ansehung derer er zu einer der 3.10
Parteien im Verhältnis eines Mitberechtigten, Mitverpflichteten oder Regresspflichtigen
steht, ist jedenfalls ein persönliches Interesse nach Art 56 lit a GOG anzunehmen. Der
Begriff der Partei ist im weiten Sinn zu verstehen. Darunter fällt auch der Nebeninter-
venient, nicht aber derjenige, dem nur der Streit verkündet oder der als Auktor benannt
wurde, solange er nicht in den Rechtsstreit eingetreten ist. 489 Ein persönliches Interesse
am Verfahren haben auch Mitberechtigte und Mitverpflichtete einer Partei. Dazu zählen
jedenfalls die Fälle einer Solidarberechtigung oder Solidarverpflichtung. Ein persönliches
Interesse am Ausgang des Verfahrens hat jener Richter, der regresspflichtig werden kann.
So ist von der Entscheidung über den Antrag auf pflegschaftsbehördliche Genehmigung
eines Amtshaftungsprozesses jedenfalls der Richter ausgeschlossen, aus dessen angeblich
grob fahrlässigem Verhalten der Haftungsanspruch abgeleitet wird. 490
Es bedarf also immer eines materiellen Interesses. Rein ideelle persönliche Interessen 3.11
stellen keinen Ausschlussgrund dar. Daraus ergäbe sich eine ausufernde Ausweitung die-
491
ses Ausschlussgrunds.
b) Verwandtschaft/Schwägerschaft
Ein Richter ist in einem Verfahren ausgeschlossen, wenn er mit einer Partei oder einem 3.12
Verfahrensbeteiligten verheiratet ist oder war, in eingetragener Partnerschaft lebt oder
gelebt hat, eine faktische Lebensgemeinschaft führt oder geführt hat oder bis zum vier-
Schumacher, HB LieZPR 71
Kap 3 Ausgeschlossenheit und Befangenheit von Richtern Hagen
ten Grad verwandt oder verschwägert ist. Wahl-, Stief- und Pflegschaftsverhältnisse sind
dem natürlichen Kindesverhältnis gleichgestellt. Dieser Ausschlussgrund deckt sich im
Wesentlichen mit den Bestimmungen der Rezeptionsvorlage, nämlich § 20 Abs 1 Z 2
und 3 öJN. Die Einführung der eingetragenen Partnerschaft erfolgte mit LGBI 201 l/
360. Durch die sprachliche Fassung ist gewährleistet, dass der Ausschlussgrund weiter
besteht, auch wenn das Naheverhältnis der Ehe, der Lebensgemeinschaft oder der einge-
tragenen Partnerschaft nicht mehr aufrecht ist. Der Begriff der „faktischen Lebensge-
meinschaft" ist nicht definiert. Es ist diesbezüglich auf die Definition von Lehre und
Rsp zurückzugreifen. Erfasst sind sowohl heterosexuelle als auch homosexuelle Lebens-
gefahrten.492
3.13 Unter diesen Ausschlussgrund fällt nicht nur ein Verwandtschafts- oder Schwäger-
schaftsverhältnis zur Partei selbst, sondern auch zum Bevollmächtigten einer Partei
und zu einem Nebenintervenienten. 493 Die Blutsverwandtschaft und Schwägerschaft de-
finieren sich nach dem PGR. Nach Art 25 PGR bestimmt sich der Grad der Blutsver-
wandtschaft nach der Zahl der sie vermittelnden Geburten. Nach Art 26 PGR ist, wer
mit einer Person blutsverwandt ist, mit deren Ehegatten und deren eingetragenem Part-
ner in der gleichen Linie und in dem gleichen Grad verschwägert. Es ist sohin die rö-
misch-rechtliche Berechnungsweise anzuwenden. 494 Dieselbe Zählweise gilt für die
Schwägerschaft, die durch die Eheschließung bzw Eintragung der Partnerschaft entsteht.
So sind bspw Onkel und Nichte im dritten Grad verwandt, Cousin und Cousine sowie
Großtante und Großneffe im vierten Grad. Bspw wäre die Ehefrau mit dem Onkel ihres
Gatten im dritten Grad verschwägert, ein Stiefvater mit den Kindern seiner Ehefrau im
ersten Grad verschwägert. Mit den Geschwistern des Ehepartners ist man im zweiten
Grad verschwägert, hingegen besteht keine Schwägerschaft bspw zu den Ehegatten dieser
Geschwister. 495 Aufgrund teleologischer Auslegung gelten diese Bestimmungen für die
Schwägerschaft auch gegenüber den Verwandten des Lebensgefährten. Es wäre nicht
verständlich, dass zwar die Blutsverwandten des Ehepartners bzw des eingetragenen Part-
ners bis zu einem bestimmten Grad ein solches abstraktes Naheverhältnis zum Richter
darstellen, dass ein Ausschlussgrund vorliegt, dies aber nicht in gleicher Weise für einen
Lebensgefährten gelten soll. IaR ist die Beziehung in einer Lebensgemeinschaft zu den
Verwandten des Lebensgefährten gleich anzusetzen wie bei einer Ehe oder eingetragenen
Partnerschaft. Von der Zielsetzung des Gesetzes ist sohin der Ausschlussgrund der
Schwägerschaft auch im selben Grad für Verwandte des Lebensgefährten anzunehmen. 496
Die große Bedeutung der Parteienvertreter im Zivilprozess rechtfertigt die erweiterte
Auslegung, wonach auch eine auf Art 56 lit b GOG begründete Nahebeziehung des Rich-
ters zum Bevollmächtigten einer Partei die Ausgeschlossenheit des Richters bewirkt. 497
72 Schumacher, HB LieZPR
Hagen II. Ausschluss- und Befangenheitsgründe
Dasselbe gilt auch für ein Naheverhältnis zu einem Nebenintervenienten. 498 ME gilt
dieser Ausschlussgrund allerdings nicht bei einem Angehörigenverhältnis zu einem Mit-
glied einer RA-Gesellschaft, wenn dieses Mitglied mit der Causa nicht befasst ist. Dies
ergibt sich aus der gebotenen engen Auslegung der Ausschlussgründe. 499 Nach dem oben
Gesagten fallen Stiefkinder bei einer Lebensgemeinschaft auch unter die Bestimmungen
der Schwägerschaft. Unter die Pflegschaftsverhältnisse fallen alle Pflegschaftsverhältnisse
des dritten und vierten Hauptstücks des ersten Teils des ABGB. 500 Da die Wahl-, Stief-
und Pflegschaftsverhältnisse dem natürlichen Kindesverhältnis gleichgestellt sind, bleibt
die Ausgeschlossenheit auch aufrecht, wenn das Naheverhältnis nicht mehr besteht.
Schumacher, HB LieZPR 73
Kap 3 Ausgeschlossenheit und Befangenheit von Richtern Hagen
teilung zu treffen sein. sos Die Ausgeschlossenheit bei Vertretern, Bevollmächtigten, An-
gestellten oder Organen einer verfahrensbeteiligten Person gilt nur so lange, als diese
Funktion ausgeübt wird. Gerade im Fürstentum Liechtenstein wäre in Bezug auf die ne-
benamtlichen Richter und die dort starke Beteiligung der Rechtsanwaltschaft in der Rsp
eine unübersehbare Aufblähung dieses Ausschlussgrunds zu befürchten. Soweit aus frü-
heren Vertretungen, Vollmachten, Organschaften oder Angestelltenverhältnissen eine
Parteilichkeit zu befürchten wäre, wird dies durch die Befangenheitstatbestände und
die Möglichkeit der Ablehnung aufgefangen.
d) Teilnahme am Verfahren
3.16 Nach Art 56 lit d GOG sind als Richter Personen ausgeschlossen, die in der Sache als Richter
(bzw andere Gerichtspersonen) bei einem untergeordneten Gericht gehandelt haben, die
Rechtsvertreter einer Partei oder eines Verfahrensbeteiligten waren, die als Untersuchungs-
richter, Staatsanwalt, Sachverständiger oder Zeuge gehandelt haben oder die im Verfahren
selbst Zeuge sind. Bei diesem Ausschlusstatbestand wurde durch den Gesetzgeber des GOG
LGBI 2007/348 versucht, die bis dorthin geltenden Bestimmungen nach§ 10 Z 5 GOG (aF)
und die für den Strafprozess besonderen Bestimmungen des§ 12 GOG (aF) zu vereinfachen
und zu vereinheitlichen. Dieser Versuch ging allerdings zu Lasten der Klarheit der Bestim-
mung. Während sich§ 10 Z 5 GOG (aF) ausschließlich auf bürgerliche Rechtssachen bezog
und den Ausschluss von Richtern der Instanzgerichte betraf, ist nun eine Vermischung mit
der Inkompatibilität gewisser Funktionen im Strafverfahren, wie Untersuchungsrichter,
erkennender Richter, Staatsanwalt, gegeben. Während sich nach dem GOG (aF) der Aus-
schluss von Richtern der lnstanzgerichte bei einer Tätigkeit beim untergeordneten Gericht
ausschließlich daraufbezog, dass der Richter an der Erlassung der Entscheidung mitgewirkt
hat oder im Verfahren als Zeuge vernommen wurde oder als Sachverständiger tätig war,
könnte nunmehr aus der Wortfolge „als Richter bei einem untergeordneten Gericht gehan-
delt haben" jede, wenn auch noch so kleine Tätigkeit (bspw Unterschreiben einer Ladungs-
verfügung) im unterinstanzlichen Verfahren interpretiert werden.
3.17 Jedenfalls fallen unter diesen Ausschlussgrund alle Richter der Rechtsmittelinstanz, die
an der Erlassung der angefochtenen Entscheidung teilgenommen haben.s 06 In richtiger
teleologischer und historischer Interpretation der Wortfolge "als Richter bei einem unter-
geordneten Gericht gehandelt haben" ist diese einschränkend so zu interpretieren, dass es
sich, wie nach GOG (aF), nur um die Teilnahme an der Erlassung der angefochtenen
Entscheidung handelt. Wesentlich ist dabei, dass die Auslegung der Ausschlussgründe
einschränkend zu erfolgen hat, um einen ausufernden Ausschluss von Richtern hintanzu-
halten.507 Dies gebietet gerade auch die Problematik des Kleinstaats, in dem die personel-
len Ressourcen in den Rechtsmittelinstanzen mit Beteiligung nebenamtlicher Richter sehr
beschränkt sind. Außerdem ergibt sich aus der historischen Gesetzeswerdung, dass mit
505 Mit der einschränkenden Auslegung des Begriffs „Angestellter" ist ein ausufernder Ausschluss-
grund hintan gehalten. Bei einer abstrakten Betrachtungsweise wäre bspw auch jeder haupt-
amtliche Richter bei Prozessen der öffentlich-rechtlichen Körperschaft Land Liechtenstein als
deren Angestellter ausgeschlossen.
506 Mayr in Rechberger/Klicka, ZPO' § 20 JN Rz 6.
507 Siehe Rz 3.8.
74 Schumacher, HB LieZPR
Hagen II. Ausschluss- und Befangenheitsgründe
der Schaffung des GOG LGBI 2007/348 der Gesetzgeber keinerlei Änderung, also keiner-
lei Einschränkung oder Ausdehnung der Ausschlussgründe im Sinn hatte, sondern nur
eine Vereinfachung und Zusammenfassung.soa Schließlich wurden im Bericht und An-
trag gewollte Änderungen, so jene bei der Schwägerschaft, sehr wohl erwähnt und be-
gründet. 509 Es ist also die Wortfolge „wer als Richter bei einem untergeordneten Gericht
gehandelt hat" dahingehend einschränkend auszulegen, dass darunter nur verstanden
wird, dass der Ausschluss des Richters dann besteht, wenn er beim untergeordneten Ge-
richt an der Erlassung der angefochtenen Entscheidung teilgenommen oder im Verfahren
als Sachverständiger gehandelt hat oder als Zeuge vernommen wurde. Die Funktion als
Rechtsvertreter einer Partei oder eines Verfahrensbeteiligten ist ohnehin schon durch
Art 56 lit c GOG abgedeckt. Die Frage der Tätigkeit als Untersuchungsrichter oder
Staatsanwalt betrifft ausschließlich das Strafverfahren und ist daher hier nicht zu erör-
tern.
Der abweichenden Meinung des Fürstlichen Obergerichts (OG) ist nicht zu folgens 10 • 3.18
Das OG befand, dass der Vorsitzende des zuständigen Senats für das Berufungsverfahren
ausgeschlossen ist, weil er zwar nicht an der Erlassung des angefochtenen Urteils teilge-
nommen, aber über weite Strecken das Verfahren erster Instanz (bis zu seiner Ernennung
zum OG) geführt hat. Der Ausschluss wird damit begründet, dass zwar Art 56 lit d GOG
einschränkend auszulegen sei, aber hier dennoch zum Tragen komme. Danach liege eine
Ausgeschlossenheit vor, wenn aus der konkreten Befassung mit der Rechtssache in erster
Instanz objektiv abzuleiten sei, dass der Richter nun in höherer Instanz über die erstin-
stanzliche Entscheidung des Nachfolgers nicht werde frei und unvoreingenommen ent-
scheiden können. Diese Begründung hält nicht stand. Sie bezieht sich nicht auf die Aus-
geschlossenheit von Richtern, sondern auf deren Befangenheit, die weder von den Par-
teien noch vom Richter selbst geltend gemacht wurde. Darüber hinaus wäre eine solche
Interpretation völlig unpraktikabel. Wegen der Nichtigkeitsfolgen der Ausgeschlossenheit
müsste bei jeder noch so geringen Tätigkeit des Richters im Verfahren erster Instanz der
Akt dem zuständigen Gerichtsorgan vorgelegt werden, da der allenfalls ausgeschlossene
Richter nicht selbst beurteilen kann, ob die erstinstanzliche Befassung so intensiv war,
dass er ausgeschlossen ist oder nicht.
Eine Ausgeschlossenheit des Instanzrichters besteht daher nicht, wenn der Richter bloß 3.19
an der unterinstanzlichen Verhandlung teilgenommen, prozessleitende Verfügungen er-
lassen oder in erster Instanz in einer Rechtssache entschieden hat, die mit der jetzt zu
entscheidenden nur in einem Zusammenhang steht.s 11 Kein Ausschluss des Instanzrich-
ters liegt auch vor, wenn er nicht das angefochtene, sondern ein früher aufgehobenes
Urteil in der Prozesssache gefällt hat.s 12 Wohl eher theoretisch ist auch ein Richter, der
als Mitglied eines Berufungssenats an der Aufhebung einer Entscheidung mitgewirkt hat,
bei einer neuerlichen Entscheidung erster Instanz nicht ausgeschlossen. 513 Eine Aus-
Schumacher. HB LieZPR 75
Kap 3 Ausgeschlossenheit und Befangenheit von Richtern Hagen
schließung ist auch zu verneinen, wenn der Richter in unterer Instanz im Zuge der
Entscheidung über eine einstweilige Verfügung bereits vorläufig über den Anspruch
erkannt hat und im Rechtsmittelverfahren über die Sachentscheidung zu befinden hat.
Dasselbe gilt, wenn der Richter in unterer Instanz bei der Fällung eines Teil- oder Zwi-
schenurteils mitgewirkt hat, das in Rechtskraft erwachsen ist. Andererseits liegt dieser
Ausschlussgrund bei Entscheidungen vor, die bei Kollegialgerichten in erster Instanz vom
Vorsitzenden, in zweiter Instanz vom Senat zu entscheiden sind. 514
3.20 Erweitert wird dieser Ausschlusstatbestand durch die Bestimmung des § 505 ZPO, wo-
nach der Richter, wegen dessen Beteiligung an der Entscheidung die Nichtigkeitsklage
erhoben wurde oder der durch sein Verhalten den Anlass für eine Wiederaufnahmsklage
nach § 498 Z 4 ZPO geboten hat, an der Entscheidung über diese Rechtsmittelklagen
ausgeschlossen ist; dies gilt selbst dann, wenn die auf § 498 Z 4 ZPO gestützte Wieder-
515
aufnahmsklage völlig sinnlos erscheint.
B. Ablehnungsgründe
1. Allgemeines
3.21 Gleich wie die Ausschließungsgründe sind auch die Ablehnungs(Befangenheits)gründe
sowohl auf Parteiantrag (Ablehnung eines Richters) als auch von Amts wegen (Selbst-
meldung des Richters) wahrzunehmen. Gern Art 57 GOG können nämlich Richter und
Gerichtspersonen selbst den Ausschluss verlangen. In Kollegialgerichten kann eine
Selbstmeldung nur durch das betroffene Senatsmitglied selbst erfolgen, eine Befangen-
heitsanzeige eines Senatsmitglieds durch ein anderes Mitglied ist dagegen unzulässig. 516
Ausschließung- und Befangenheitsgründe unterscheiden sich hingegen in zweierlei Hin-
sicht. Die Befangenheitsgründe sind im Gegensatz zu den Ausschließungsgründen nicht
erschöpfend aufgezählt. Dies ergibt sich insb aus Art 57 lit b HS 2 GOG, wonach ein
Richter dann abgelehnt werden kann, ,.wenn er aus anderen Gründen in der Sache be-
fangen sein könnte". Ein zweiter Unterschied liegt darin, dass die Ausschließungsgründe
unverzichtbar und in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen wahrzunehmen sind
und sogar noch nach Eintritt der Rechtskraft durch Nichtigkeitsklage geltend gemacht
werden können. 517 Hingegen kann die Geltendmachung einer Befangenheit durch Ab-
lehnung des Richters verwirkt werden. Es ist nämlich Art 59 Abs l GOG zu beachten,
wonach Vorladungen an die Parteien bis spätestens 10 Tage vor dem Gerichtstag zuzu-
stellen sind und den Namen des Einzelrichters bzw die Namen der Richter des Kollegial-
gerichts enthalten müssen. Diese Vorschrift dient im Hinblick auf die Verwirkung des
Ablehnungsrechts der Prozessökonomie und wird daher auch im Hinblick auf Art 59
Abs 3 GOG ausdehnend dahin interpretiert, dass auch eine Verständigung der Parteien
über die Richter eines Kollegialgerichts bei nicht öffentlichen Sitzungen erfolgen muss. 518
Deshalb müssen diese Verständigungen auch konkret die erkennenden Richter bezeich-
76 Schumacher, HB LieZPR
Hagen II. Ausschluss- und Befangenheitsgründe
2. Ablehnungsgründe im Einzelnen
Nach Art 57 lit a GOG kann ein Richter abgelehnt werden, wenn er zu einer Partei oder 3.23
einem Verfahrensbeteiligten eine enge Freundschaft, eine persönliche Feindschaft oder
ein besonderes Pflicht- oder Abhängigkeitsverhältnis hat. Die besondere Beziehung zu
einer Partei oder einem Verfahrensbeteiligten wird generell als Befangenheit definiert.
Das Wesen der Befangenheit ist nämlich die Hemmung einer unparteiischen Entschei-
521
dung durch unsachliche psychologische Motive. Nach Art 57 lit b GOG kann ein Rich-
ter auch dann abgelehnt werden, wenn er mit einer Partei, dem Staatsanwalt oder einem
Verfahrensbeteiligten in einem Rechtsstreit steht oder aus anderen Gründen in der Sache
befangen sein könnte. Was den ersten HS betrifft, so kann es sich hier nicht um den
Rechtsstreit handeln, der im konkreten Fall zu entscheiden ist, sondern um einen ande-
ren, weil ansonsten der Ausschlussgrund nach Art 56 lit a GOG zum Tragen kommt. An
sich stellt diese Bestimmung nur eine weitere Ausformung der Befangenheit dar. Wer mit
einer Partei irgendwo in einem Rechtsstreit steht und hier in einem anderen Prozess
entscheiden muss, löst wohl die Besorgnis aus, dass andere als rein sachliche Überlegun-
gen eine Rolle spielen könnten. Der zweite HS ist als Generalklausel anzusehen, die der
Definition der Ablehnungsgründe in der Rezeptionsvorlage (§ 19 öJN) entspricht, wo-
nach ein Richter dann abgelehnt werden kann, wenn ein zureichender Grund vorliegt,
seine Unbefangenheit in Zweifel zu ziehen. Es genügt schon die Besorgnis, dass bei der
Entscheidungsfindung andere als rein sachliche Überlegungen eine Rolle spielen könn-
Schumacher, HB LieZPR 77
Kap 3 Ausgeschlossenheit und Befangenheit von Richtern Hagen
ten, dass also die Befangenheit mit Grund befürchtet werden muss oder dass der An-
schein einer Voreingenommenheit entstehen könnte. 522 Es müssen immer gewisse
Gründe (Umstände oder Tatsachen) vorliegen, die eine Beeinträchtigung der richterli-
chen Unabhängigkeit bzw Unparteilichkeit bei der Entscheidungsfindung eines konkre-
ten Falls nahelegen. Die Gründe müssen dabei entweder direkt in der Richterperson
selbst vorhanden oder auf äußere Gegebenheiten zurückzuführen sein. Andererseits muss
es sich um Umstände handeln, die den berechtigten Anschein einer Befangenheit, die
Gefahr einer Voreingenommenheit, hervorrufen können. Das Misstrauen muss in objek-
tiver Weise gerechtfertigt sein. Subjektive Befürchtungen der Verfahrenspartei allein rei-
chen nicht aus. Ebenso genügt es nicht, wenn sich ein Richter zwar subjektiv als befangen
erachtet, wenn dies aber objektiv nicht der Fall ist. 523 Die Beurteilung der Befangenheit
steht in einem Spannungsfeld, dass einerseits jeder Eindruck der Parteilichkeit eines
Richters vermieden werden soll, andererseits aber durch die Ablehnung nicht die Mög-
lichkeit bestehen soll, dass sich Parteien ihnen nicht genehmer Richter entledigen kön-
524
nen. Bei einer Selbstmeldung des Richters ist Befangenheit iaR anzunehmen.
3.24 Als Befangenheitsgründe wurden in der Rsp betrachtet: Private persönliche Beziehungen
zu einer der Prozessparteien, die über rein berufliche Kontakte hinausgehen (wohl der
häufigste Fall); weiters auffallend einseitige Verhandlungsführung; Naheverhältnis zu
Zeugen; 525 unsachliche persönliche Bemerkungen zu Parteien und Parteienvertretern;
abwertende Pauschalurteile gegen gewisse Personengruppen; Mitglied und Tätigkeit im
klagenden oder beklagten Verein; 526 Anleitung zur Erhebung einer Verjährungsein-
rede.527
3.25 Keinen Befangenheitsgrund bilden hingegen etwa Bekanntschaft auf kollegialer Basis; 528
Zugehörigkeit zu einer politischen Partei, soweit sich der Richter nicht zu streitentscheid-
enden Fragen festgelegt hat; Vertretung einer bestimmten Rechtsmeinung durch den
Richter in Form einer wissenschaftlichen Abhandlung in Fachzeitschriften;529 der Um-
stand allein, dass eine Partei gegen den Richter (unbegründet) Straf- oder Disziplinaran-
zeigen erstattet hat; 530 auch der Umstand, dass ein Richter gegen einen Parteienvertreter,
allenfalls auch unbegründet, Straf- oder Disziplinaranzeige erstattet hat; 531 für sich allein
betrachtet die Ankündigung von Amtshaftun§sansprüchen wegen Entscheidungen des
abgelehnten Richters im selben Sachkomplex; 32 Mehrfachbefassung eines Richters bei
Aufhebung einer Entscheidung im Instanzenzug, auch bei Verfahrensmängeln oder un-
522 öOGH 12 Ns 37/lSi JusGuide 2018/48/17260; 22.6.2012, 6 Ob 24/12s; 2 Ob 96/I0x Zak 2011/
25, 19; 2 Ob 43/1 1d Zak 2011/592, 318.
523 StGH 2013/198; StGH 2013/111; StGH 2013/96; StGH 2011/129 ua.
524 Ballon in Fasching/Konecny I3 § 19 JN Rz 8.
525 OGH 6.7.2018 CO.2017.2.
526 Mayr in Rechberger/K/icka, ZPO 5 § 19 JN Rz 6 mit Nachweisen aus der neueren Rsp.
527 StGH 2016/129.
528 öOGH 3 Ob 155/98k EF 87.944.
529 RIS- Justiz RS0045916.
530 RIS-Justiz RS0045970; aA StGH 2017/190; wiederum abgeschwächt StGH 2019/048.
531 öOGH 6 Ob 290/06z Zak 2007/315, 177 = fusGuide 2017/12/4451.
532 RIS-f ustiz RS0046101.
78 Schumacher, HB LieZPR
Hagen III. Verfahren in Ausschluss- und Ablehnungssachen
Für die Ablehnung und den Ausschluss von Schiedsrichtern im Schiedsverfahren gern 3.27
§§ 594ff ZPO gelten die Sonderbestimmungen der§§ 605 und 606 ZPO.
Schumacher, HB LieZPR 79
Kap 3 Ausgeschlossenheit und Befangenheit von Richtern Hagen
3.29 Durch die Zuordnung zu den einzelnen Funktionen ist klargestellt, dass die Zuweisung
der Geschäfte im Ausschluss- und Ablehnungsverfahren keine Sache der Geschäftsver-
teilung ist. Auch wenn die Zuständigkeit vordergründig sonstigen Justizverwaltungsor-
ganen zugewiesen ist, so ist das Verfahren betreffend die Ablehnung und den Ausschluss
von Richtern keine Angelegenheit der Justizverwaltung, sondern Sache der ordentlichen
Gerichtsbarkeit. 541 Bei Eintritt der Stellvertretungsregelung über die ernannten Stellver-
treter bei den Gerichten hinaus kommt im Fall der Verhinderung nicht der Stellvertreter
dieses Richters nach der Geschäftsverteilung zum Zug, sondern eben die weiteren Richter
in der Reihenfolge des Ernennungszeitpunkts. Stellvertretende Beisitzer beim OG bzw
stellvertretende Oberstrichter beim OGH können sohin nicht zum Zug kommen. Vom
Gesetz ungeklärt bleibt auch die Frage, wie in diesen Fällen bei gleichem Ernennungs-
datum zum jeweiligen Gericht vorzugehen ist. Vom Zweck der Regelung her soll der
jeweils erfahrenste Richter, sohin der an diesem Gericht am längsten Ernannte zum
Zug kommen. Es ist daher zulässig, als weiteres Zuordnungskriterium in Analogie zu
den Vorschriften über Abstimmungen 542 das Lebensalter heranzuziehen, sohin, dass
bei gleichem Ernennungszeitpunkt der Ältere vor dem Jüngeren zum Zug kommt.
3.30 Ein wesentlicher Wertungswiderspruch in der Zuständigkeit ergibt sich zwischen Art 60
Abs l und Abs 2 GOG. Nach Art 60 Abs 2 GOG entscheidet nämlich bei Kollegialge-
richten über den Ausschluss oder die Ablehnung von Gerichtspersonen der Vorsitzende.
Ist dieser selbst betroffen, entscheidet der Senat. Diese Bestimmung lässt sich mit Art 60
Abs l GOG wörtlich genommen nicht in Übereinstimmung bringen, weil das OG und
der OGH jedenfalls Kollegialgerichte sind und nur einzelne funktionale Zuständigkeiten
dem Vorsitzenden zugewiesen sind. Würde Art 60 Abs 2 GOG als Sonderbestimmung
gesehen werden, so würde beim OG und beim OGH über den Ausschluss und die Ableh-
nung von Richtern immer der Vorsitzende (des Senats) und nicht der Präsident, wie nach
Art 60 Abs l lit a GOG entscheiden. Über den Ausschluss und die Ablehnung des Präsi-
denten würde der Senat entscheiden und nicht gern Art 60 Abs l lit d GOG dessen Stell-
vertreter. Die historische Auslegung ergibt keine Lösung. Aus den Gesetzesmaterialien ist
zur Einfügung des Art 60 Abs 2 GOG, der auch kein Pendant im GOG (aF) hat, nichts zu
entnehmen. Eine Lösung lässt sich nur durch eine teleologische Reduktion des Art 60
Abs 2 GOG dahin gewinnen, dass bei Kollegialgerichten die Sonderbestimmung nach
dieser Gesetzesstelle nur dann zum Tragen kommt, wenn der Ablehnungsantrag wäh-
rend oder unmittelbar vor der Verhandlung gestellt wurde und eine rechtzeitige Ent-
scheidung nach Art 60 Abs l GOG nicht möglich ist. Dies wird va beim Kriminalgericht
als Kollegialgericht zum Tragen kommen, da durch - wenn auch unbegründete - Befan-
genheitsanträge während der Schlussverhandlung diese ad absurdum geführt werden
könnte. Eine ähnliche Bestimmung sieht die öStPO in § 45 vor. 543
3.31 Bei Kollegialgerichten, sohin dem Kriminalgericht, dem Jugendgericht, dem OG und
dem OGH ist deshalb dann, wenn bei Ablehnungsanträgen kurz vor Beginn oder wäh-
80 Schumacher, HB LieZPR
Hagen III. Verfahren in Ausschluss- und Ablehnungssachen
rend der Verhandlung eine Entscheidung durch das zuständige Organ nach Art 60 Abs l
GOG zu spät käme, die Zuständigkeit nach Art 60 Abs 2 GOG heranzuziehen. Allerdings
muss klargestellt sein, dass in einem möglichen Rechtsmittel bzw in einer Individualbe-
schwerde zum StGH, wenn die Entscheidung enderledigend ist, die Frage der Befangen-
heit aufgegriffen werden kann. Ansonsten würde nach der Rsp des EGMR die Entschei-
dung über die Befangenheit anderer Richter durch einen Richter, dem eine Befangenheit
selbst vorgeworfen wird, gegen Art 6 EMRK verstoßen. 544
544 EGMR 9.7.2014, 38191/12, A.K./Liechtenstein, LES 2016, l; 18.2.2016, 10722/13, A.K./Liech-
tenstein (No 2), LES 2016, 131; Schiess-Rütimann, EuGRZ 2015, 549.
545 Abberaumung einer Tagsatzung; Verständigungen von Zeugen und Sachverständigen; Zustel-
lung des Antrags an den Prozessgegner zur Wahrung des Gehörs; Vorlage an das zuständige
Entscheidungsorgan.
546 Bspw wenn dadurch ein Zeuge oder Sachverständiger nicht mehr rechtzeitig verständigt wer-
den kann.
547 Art 60 Abs 4 GOG.
548 Fucik in Rechberger!Klicka, ZPO 5 § 193 Rz 2.
Schumacher, HB LieZPR 81
Kap 3 Ausgeschlossenheit und Befangenheit von Richtern Hagen
anzusehen, die über den Klagsanspruch endgültig abspricht. 549 Die Unbegründetheit des
Ablehnungsantrags muss offensichtlich sein, also einen hohen Grad der Wahrscheinlich-
keit haben. 550 überdies muss sich eine Prozessverschleppungsabsicht vermuten lassen. 551
Für das Verfahren an sich enthält das GOG keine Bestimmungen mit Ausnahme der
Vorschriften über die Bekanntgabe der erkennenden Richter und die Folgen der Frist-
versäumung nach Art 59 GOG. Bei nicht fristgerechter Bekanntgabe, bspw bei einer Er-
satzbestellung bei Krankheit bei Kollegialgerichten, bleibt die Frist zur Ablehnung of-
fen. 552 Aus den allgemeinen Verfahrensgrundsätzen ergibt sich, dass bei einem Ableh-
nungsantrag die Ablehnungsgründe glaubhaft zu machen sind, dh, dass eine niedrige
Beweisschwelle ausreicht. 553 Die Ablehnungsgründe sind konkret und genau darzustellen
und insb für jeden einzelnen abgelehnten Richter gesondert anzuführen. Pauschalableh-
nungen genügen nicht. 554 Zu einem Ablehnungsantrag hat jedenfalls der abgelehnte
Richter eine Stellungnahme abzugeben. Davon ist nur abzusehen, wenn die Ableh-
nungserklärung nicht hinreichend substanziiert ist. 555 Diese Stellungnahme ist dem An-
tragsteller zuzustellen und es ist ihm zur Wahrung des rechtlichen Gehörs eine Äuße-
rungsmöglichkeit einzuräumen. 556 Ein Verbesserungsverfahren hinsichtlich des Ableh-
nungsantrags gern §§ 84f ZPO ist nur einzuleiten, wenn keine Missbrauchsabsicht zu
erkennen ist und Formgebrechen vorliegen, nicht bei Inhaltsmängeln. 557 Offen ist auch
die Frage, ob bei Einbringung eines Ablehnungsantrags dem Gegner der Partei das recht-
liche Gehör zu gewähren ist. Beim Ausschluss bzw der Ablehnung eines Richters stehen
sich einerseits das Recht der Partei auf ein Verfahren vor einem unparteiischen Gericht
nach Art 6 EMRK und das verfassungsmäßig begründete Recht der anderen Partei auf
ein Verfahren vor dem gesetzlichen, geschäftsverteilungsmäßig zuständigen Richter kont-
rär gegenüber. Damit erfordert aber der Eingriff in das Recht auf ein Verfahren vor dem
geschäftsverteilungsmäßig zuständigen Richter, der Gegenpartei des Ablehnenden das
rechtliche Gehör zu gewähren. Dies entspricht auch der Rsp des StGH, nach der der
Gehörsanspruch formeller Natur ist und es daher nicht darauf ankommt, ob die Anhö-
rung des Gegners voraussichtlich einen Einfluss auf die materielle Entscheidung hat. 558
Dies ist bei vergleichsweise gleicher Rechtslage in Österreich inzwischen stRsp. 559 Die
Zustellung des Ablehnungsantrags und Einholung einer Äußerung der Gegenpartei wer-
den allerdings dort zu unterbleiben haben, wo von vornherein, also schon nach dem
549 Als Endentscheidung ist ein Urteil, aber auch ein Teilurteil und Zwischenurteil anzusehen,
ebenso die Zurückweisung der Klage aus formellen Gründen.
550 Bei verspäteter Ablehnung; mehrfachen unsubstanziierten querulatorischen Eingaben usw.
551 Vgl OGH 06 CG.2008.129 LES 2010.180; 05 C 51/94 LES 1999, 49 (52).
552 StGH 2017/065; StGH 2017/031.
553 Mayr in Rechberger/K/icka, ZPO; § 22 JN Rz 3.
554 OGH 8. 5. 2015 CO.2014.4.
555 Mayr in Rechberger/K/icka, ZPO 5 § 22 JN Rz I.
556 StGH 2011/069 mwN; StGH 2017/190.
557 Bspw wenn aus dem Ablehnungsantrag nicht klar hervorgeht, welcher Richter eines Senats
substanziiert abgelehnt wird.
558 StGH 2008/78 mwN.
559 öOGH 4 Ob 143/I0y (mit ausführlichen Hinweisen auf die dl und Rsp) JBI 2011, 395 =
RZ 2011, 120 = SZ 2011/1; RIS-Justiz RS0126587; Thiele, ÖJZ 2011/98, 944.
82 Schumacher, HB LieZPR
Hagen IV. Exkurs: Missbräuchliche Verwendung des Ablehnungsrechts
Antrag und der Äußerung des Richters die vorzunehmende Abweisung des Antrags klar
ist. Bei einem amtswegigen Ablehnungsverfahren (Selbstanzeige des Richters) bleibt das
Verfahren einseitig. 560 Ist das Verfahren zweiseitig, so ist auch über die Kosten des Zwi-
schenstreits nach den Regeln des Ausgangsverfahrens unabhängig von dessen Ausgang
zu entscheiden. 561
Die Entscheidung über den Ausschluss oder die Ablehnung erfolgt ohne mündliche Ver- 3.36
handlung durch Beschluss. Der stattgebende Beschluss hat gleichzeitig auszusprechen, ob
bzw welche Verfahrensteile durch die Befangenheit des Richters für nichtig erklärt wer-
den. 562 Ein Rechtsmittel gegen diese Entscheidung ist nicht zulässig. 563
Wird ein substanziierter Ablehnungsantrag betreffend Richter der unteren lnstanz(en) in 3.37
einem Rechtsmittel gestellt, so ist das Rechtsmittelverfahren zu unterbrechen und der
564
Antrag zur Entscheidung an das zuständige Organ zu leiten.
Schumacher. HB LieZPA 83
Kap 3 Ausgeschlossenheit und Befangenheit von Richtern Hagen
84 Schumacher, HB LieZPR
Teil 2. Internationales Verfahrensrecht
4. Kapitel
Internationales Zivilprozessrecht
Hannes Mähr
Übersicht
Rz
I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1
II. Inländische Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4
A. Diplomaten und Konsuln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6
B. Staaten und Staatsunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.9
III. Internationale Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.11
A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.11
B. Doppelfunktion der örtlichen Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.14
C. Gerichtsstände der Jurisdiktionsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.17
1. Allgemeiner Gerichtsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.18
2. Besondere Gerichtsstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.19
D. Gerichtsstandsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.38
IV. Verhältnis von inländischer Gerichtsbarkeit und internationaler Zustän-
digkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.43
V. Das Verfahren mit Auslandsbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.47
A. Ermittlung und Anwendung ausländischen Rechts . . . . . . . . . . . . 4.47
1. Ermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.47
2. Erkenntnisquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.49
3. Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.54
4. Ordre public . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.57
B. Beweisrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.58
1. Das Spannungsverhältnis zwischen lex causae und lex fori . . . . . 4.58
2. Grundsatz der lex fori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.60
3. Maßgeblichkeit der lex causae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.64
a) Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.65
b) Beweisvermutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.67
c) Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.71
d) Beweisthemenverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.74
e) Beweisverbot der Estoppel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.75
C. Anspruch in fremder Währung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.76
D. Internationale Rechtshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.81
1. Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.81
2. Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.83
3. Nationales Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.87
4. Zustellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.94
a) Repräsentant und Zustelladresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.94
b) Zustellung inländischer Dokumente im Ausland ......... 4.97
c) Zustellung ausländischer Dokumente im Inland . . . . . . . . . . 4.105
Schumacher, HB LieZPR 85
Kap 4 Internationales Zivilprozessrecht Mähr
1. Begriff
4.1 Das internationale Zivilprozessrecht ist die Summe all jener Normen, die sich mit dem
Verfahrensablauf eines Sachverhalts mit Auslandsbezug befassen. Es ist somit lediglich
ein Teilgebiet des Zivilprozessrechts. Wie beim Rechtsbegriff des „internationalen Privat-
rechts" so ist auch beim internationalen Zivilprozessrecht die Terminologie etwas ver-
fänglich. Es handelt sich dabei vornehmlich nicht um internationales, sondern haupt-
sächlich um nationales Recht.
4.2 Zudem ist zu beachten, dass das internationale Zivilprozessrecht nur die Vorschriften
umfasst, welche sich auf den strittigen Zivilprozess mit Auslandsberührung beziehen.
Demgegenüber ist das internationale Zivilverfahrensrecht wesentlich weiter. Es beinhaltet
auch die Rechtssätze über das außerstreitige Verfahren sowie das internationale Konkurs-
recht.
4.3 Zu unterscheiden ist das internationale Zivilprozessrecht insb auch vom internationalen
Privatrecht. Bei Letzterem handelt es sich größtenteils um nationale Rechtsnormen,
welche jedoch nur festlegen, welches materielle Recht letztlich auf einen Sachverhalt
anzuwenden ist (Kollisionsnormen). Die Rechtssätze des internationalen Privatrechts
führen sohin nur mittelbar zu einer Lösung einer internationalen materiellen Rechtsfrage,
nämlich durch die Verweisung auf die entsprechende Sachnorm. Beim internationalen
Zivilprozessrecht handelt es sich hingegen grundsätzlich nicht um Kollisionsnormen,
sondern es gibt eine Antwort auf die Frage, ob und allenfalls welche besonderen Vor-
schriften des Prozessrechts auf den Sachverhalt inklusive der Frage nach der internatio-
nalen Zuständigkeit Anwendung finden sollen. Das internationale Zivilprozessrecht be-
antwortet somit die internationalen prozessrechtlichen Fragen unmittelbar.
86 Schumacher. HB LieZPR
Mähr III. Internationale Zuständigkeit
Schumacher, HB LieZPR 87
Kap 4 Internationales Zivilprozessrecht Mähr
88 Schumacher, HB LieZPR
Mähr III. Internationale Zuständigkeit
1. Allgemeiner Gerichtsstand
Die §§ 30- 36 JN enthalten Bestimmungen über den allgemeinen Gerichtsstand. Das LG 4.18
ist für alle Klagen zuständig, wenn der Beklagte seinen allgemeinen Gerichtsstand in
Liechtenstein hat (§ 30 JN). Der allgemeine Gerichtsstand einer Person wird durch deren
Wohnsitz (§ 31 JN) oder für Personen, welche weder in Liechtenstein noch anderswo
einen Wohnsitz haben, durch ihren Aufenthalt in Liechtenstein bestimmt. Bei Handels-
gesellschaften, Kommanditgesellschaften, Aktiengesellschaften, Genossenschaften, Ge-
werkschaften, öffentlichen Fonds und Korporationen, Kirchen, Stiftungen, zu öffentli-
chen Zwecken bestehenden Anstalten, Vermögensmassen, Vereinen, Europäischen wirt-
schaftlichen Interessenvereinigungen und anderen nicht zu den physischen Personen ge-
hörenden Rechtssubjekten ist für die Beurteilung des allgemeinen Gerichtsstands der Sitz
maßgebend, sofern nichts anderes in allgemein verbindlicher Weise festgesetzt ist. Als
Sitz gilt im Zweifel der Ort, wo die Verwaltung geführt wird (§ 36 JN).
2. Besondere Gerichtsstände
Verlassenschaftsangelegenheiten (§ 37 JN): Für Klagen, durch welche Ansprüche aus 4.19
Vermächtnissen oder sonstigen Verfügungen auf den Todesfall geltend gemacht werden,
sowie für Klagen der Nachlassgläubiger aus Ansprüchen an den Erblasser oder an den
Erben ist das LG zuständig, wenn bei demselben die Verlassenschaftsabhandlung anhän-
gig und die Einantwortung des Nachlasses noch nicht erfolgt ist (§ 37 Abs I JN). Für
Klagen, welche die Teilung der Erbschaft zum Gegenstand haben, ist das LG zuständig,
wenn bei demselben die Verlassenschaftsabhandlung anhängig ist oder anhängig war
(§ 37 Abs 2 JN). § 37 Abs I JN idF LGBI 1912/9 beinhaltete zusätzlich noch die Klage
wegen des besseren Erbrechts. Nachdem diese Art von Auseinandersetzung aufgrund
einer Nov nunmehr im Außerstreitverfahren stattfindet, wurde § 37 Abs I JN mit LGBI
2010/456 auf die restlichen Ansprüche eingeschränkt.
Streitigkeiten um unbewegliches Gut (§ 38 JN): Für Klagen, durch welche ein dingli- 4.20
ches Recht auf ein unbewegliches Gut, die Freiheit von einem solchen Recht oder die
Aufhebung desselben geltend gemacht wird, für Teilungs- und Grenzberichtigungsklagen
ist das LG zuständig, wenn das unbewegliche Gut im Inland gelegen ist. Die Lage des
dienenden oder belasteten Grundstücks ist entscheidend für Klagen betreffend eine
Grunddienstbarkeit oder eine Reallast.
Besitzstörungsstreitigkeiten (§ 39 JN): Für Besitzstörungsstreitigkeiten ist das LG zu- 4.21
ständig, wenn die Störung im Inland erfolgte.
Bestandstreitigkeiten (§ 40 JN): Für Bestandstreitigkeiten ist das LG zuständig, wenn 4.22
der Bestandgegenstand im Inland liegt. Verfügungen über gerichtliche Aufkündigungen
von Bestandverträgen und die Erlassung von Aufträgen zur Übergabe oder Übernahme
der Bestandgegenstände sind dabei vom Wirkungskreis des Gerichts umfasst.
Gerichtsstand des Ortes der Beschäftigung(§ 41 JN): Personen, welche sich unter Um- 4.23
ständen, die ihrer Natur nach auf einen Aufenthalt von längerer Dauer hinweisen, insb
Schumacher, HB LieZPR 89
Kap 4 Internationales Zivilprozessrecht Mähr
als Dienstboten, Hand- oder Fabrikarbeiter, Gewerbegehilfen oder Lehrlinge, als Studie-
rende oder Schüler im Inland aufhalten und prozessfähig sind, können wegen vermö-
gensrechtlicher Ansprüche beim LG geklagt werden. Dieses ist auch für Streitigkeiten
bezüglich der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen im Rahmen der Entsendung
von Arbeitnehmern nach Liechtenstein zuständig.
4.24 Gerichtsstand der Niederlassung(§ 42 JN): Wenn Inhaber von Bergwerken, Fabriken,
Handels- oder gewerblichen Unternehmungen außerhalb des Sitzes des Unternehmens
besondere Niederlassungen im Inland haben, kann gegen sie in streitigen Rechtssachen,
welche sich auf die Niederlassungen beziehen, beim LG Klage erhoben werden. Sofern
Personen ein mit Wohn- und Wirtschaftsgebäuden versehenes und im Inland gelegenes
Gut als Eigentümer, Nutznießer oder Pächter bewirtschaften oder bewirtschaften lassen,
können diese ebenfalls wegen aller auf die Bewirtschaftung des Gutes sich beziehenden
Rechtsverhältnisse beim LG geklagt werden.
4.25 Gerichtsstand des Erfüllungsorts (§§ 43, 44 JN): Klagen auf Feststellung des Bestehens
oder Nichtbestehens eines Vertrags, auf Erfüllung oder Aufhebung desselben sowie auf
Entschädigung wegen Nichterfüllung oder wegen nicht gehöriger Erfüllung können,
wenn der Vertrag nach schriftlicher Übereinkunft der Parteien vom Beklagten im Inland
zu erfüllen ist, beim LG eingebracht werden. Voraussetzung ist jedoch, dass in der schrift-
lichen Vereinbarung enthalten ist, dass durch die Begründung des Erfüllungsorts auch
die Berechtigung der Klage im Inland begründet ist. Im Übrigen können auch aus einem
Wechsel verpflichtete Personen vom Inhaber des Wechsels beim LG belangt werden,
wenn sich der Zahlungsort im Inland befindet.
4.26 Gerichtsstand der belasteten Sache (§ 45 JN): Es können beim LG mit der Klage zur
Geltendmachung des Pfandrechts die Klage auf Zahlung der pfandrechtlich versicher-
ten Forderung und mit der Klage auf Aufhebung (Löschung) des Pfandrechts die
Klage auf Feststellung des Nichtbestehens der pfandrechtlich versicherten Forderung
verbunden werden. Voraussetzung ist, dass beide Klagen gegen denselben Beklagten
gerichtet sind und das unbewegliche Gut im Inland gelegen ist. Befindet sich ein
belastetes Grundstück im Inland, können Klagen auf die aus einer Reallast rückstän-
digen Leistungen gegen den Besitzer des belasteten Grundstücks beim LG erhoben
werden.
4.27 Gerichtsstand der Streitgenossenschaft (§ 46 JN): Streitgenossen können beim LG ge-
klagt werden, wenn einer der Streitgenossen oder falls sich unter ihnen Haupt- und
Nebenverpflichtete befinden, einer der Hauptverpflichteten seinen allgemeinen Ge-
richtsstand im Inland hat und sofern nicht für den Rechtsstreit ein gemeinschaftlicher
besonderer Gerichtsstand begründet ist. Aus einem Wechsel verpflichtete Personen
können beim LG als Streitgenossen geklagt werden, wenn der Zahlungsort im Inland
gelegen ist. Stehen mehrere Antragsgegner im Sicherungsverfahren zueinander im Ver-
hältnis einer einheitlichen Streitpartei, so genügt zur Begründung der internationalen
Zuständigkeit der liechtensteinischen Gerichte der inländische Gerichtsstand eines von
ihnen. 584
90 Schumacher, HB LieZPR
Mähr III. Internationale Zuständigkeit
Festzuhalten ist, dass der Streitgenossengerichtsstand aus deutscher Sicht keine Anerken- 4.28
nungszuständigkeit iSv § 328 Abs l Z l dZPO begründet, da das deutsche Recht den Ge-
richtsstand der Streitgenossenschaft nicht kennt.
Gerichtsstand des Hauptprozesses (§ 47 JN): Klagen, womit ein Anspruch auf eine Sa- 4.29
ehe oder ein Recht geltend gemacht wird, über welchen zwischen anderen Personen ein
Rechtsstreit beim LG anhängig ist (Hauptintervention), können bis zur rechtskräftigen
Entscheidung dieses Prozesses ebenfalls beim LG eingebracht werden. Klagen von Pro-
zess- und Zustellungsbevollmächtigten wegen Gebühren und Auslagen können ebenfalls
beim LG eingebracht werden, sofern bei ihm der Hauptprozess anhängig war.
Gerichtsstand der Widerklage (§ 48 JN): Beim LG kann eine Widerklage eingebracht 4.30
werden, wenn der mit letzterer geltend gemachte Anspruch mit dem Anspruch der beim
LG erhobenen Klage im Zusammenhang steht oder sich sonst zur Kompensation eignen
würde. Ferner kann eine Widerklage eingebracht werden, wenn sie auf Feststellung eines
im Laufe des Prozesses strittig gewordenen Rechtsverhältnisses oder Rechts gerichtet ist,
von dessen Bestehen oder Nichtbestehen die Entscheidung über das Klagebegehren ganz
oder zum Teil abhängt. Der Gerichtsstand der Widerklage besteht bis zum Schluss der
mündlichen Verhandlung erster Instanz.
Gerichtsstand des früheren Wohnsitzes(§ 49 JN): Handwerker, Kleinverschleißer, Wir- 4.31
te, Schifferer, Fuhrleute und sonstige Gewerbetreibende, Gesellen, Gehilfen, Dienstleute
und sonstige Arbeiter um Lohn können wegen ihrer Forderungen für gelieferte Erzeug-
nisse und Waren, für geleistete Dienste und Arbeiten innerhalb von neunzig Tagen ab
der letzten Lieferung oder Leistung beim LG geklagt werden. Voraussetzung ist, dass der
Abnehmer oder Arbeitgeber mittlerweile seinen Wohnsitz aus dem In- ins Ausland ver-
legt hat. Selbigen Anspruch haben Privatlehrer hinsichtlich ihres Entlohnungsanspruchs.
Gerichtsstand des Vermögens (§ 50 JN): Gegen Personen, welche im Inland keinen 4.32
Wohnsitz haben, kann wegen vermögensrechtlicher Ansprüche beim LG Klage erhoben
werden, wenn sich Vermögen dieser Personen oder der mit der Klage in Anspruch ge-
nommene Gegenstand selbst im Inland befindet. Bei Forderungen gilt der Wohnsitz des
Drittschuldners als jener Ort, an welchem sich das Vermögen befindet. Hat der Dritt-
schuldner zwar keinen Wohnsitz im Inland, befindet sich jedoch eine Sache, welche für
die Forderung zur Sicherheit haftet, im Inland, so ist die Forderung als ein im Inland
befindliches Vermögen anzusehen. Ferner können ausländische Anstalten, Vermögens-
massen, Gesellschaften, Genossenschaften und andere Personenvereinigungen überdies
beim LG geklagt werden, wenn sich ihre ständige Vertretung oder ein mit der Besorgung
ihrer Geschäfte betrautes Organ im Inland befindet.
Die Formulierung des § 50 JN setzt nicht voraus, dass die geltend gemachte Forderung in 4.33
das vorhandene Vermögen vollstreckt werden können muss. 585
Vermögensrechtliche Ansprüche bzw Vermögen iSd § 50 JN sind bspw Ansprüche an 4.34
Aktientiteln oder auch aufschiebend bedingte Rechte, sofern der Eintritt der Bedingung
nur von einem Willensakt des Beklagten abhängt 586 . Kein Vermögen iSd § 50 JN liegt
Schumacher, HB LieZPR 91
Kap 4 Internationales Zivilprozessrecht Mähr
hingegen vor, wenn gemäß der Trusturkunde Ausschüttungen vom alleinigen, aus-
schließlichen und uneingeschränkten Gutdünken des Treuhänders abhängig sind. 587
4.35 Subsidiärer Gerichtsstand für Verfahren aus dem Ehe-, Eltern- und eingetragenen
Partnerschaftsverhältnis (§ 51 JN): Beim LG können Verfahren auf Untersagung des
Eheabschlusses, Scheidung, Trennung oder Ungültigerk.Järung einer Ehe sowie anderer
Verfahren wegen nicht rein vermögensrechtlicher Streitigkeiten aus dem ehelichen oder
Elternverhältnis wie auch aus dem außerehelichen Elternverhältnis anhängig gemacht
werden, sofern auch nur einer der beiden Ehegatten liechtensteinischer Staatsbürger ist
(unabhängig davon, wo sie ihren Wohnsitz haben). In§ 51 Abs 2 JN werden zwei weitere
Fälle geregelt, in denen die inländische Gerichtsbarkeit für die in Abs l genannten Strei-
tigkeiten gegeben ist. Festzuhalten ist, dass die Abs l und 2 sinngemäß auch für die ein-
getragene Partnerschaft gelten. Abs 3 leg cit normiert, unter welchen Voraussetzungen
das LG für Abstammungsverfahren zuständig ist.
4.36 Gerichtsstand der Gegenseitigkeit für Klagen gegen Ausländer (§ 52 JN): Werden in
einem anderen Staatsgebiet gegen liechtensteinische Staatsangehörige in bürgerlichen
Rechtssachen Klagen vor Gerichten zugelassen, welchen nach dem gegenwärtigen Gesetz
für derlei Rechtssachen überhaupt keine oder nur eine beschränkte Zuständigkeit zukom-
men würde, ist ein gleicher Gerichtsstand gegen die Angehörigen jenes Staatsgebiets auch
beim LG begründet.
4.37 Ein allgemeiner Schadensgerichtsstand ist dem liechtensteinischen Recht fremd. Ledig-
lich für Kl;!i§en a~_s ~aftpflichtansprüchen im Straßenverkehr ist das LG als Gericht des
Unfallorts· zustand1g (Art 79 SVG).
D. Gerichtsstandsvereinbarungen
4.38 Gern § 53 JN können sich die Parteien dem an sich unzuständigen LG durch ausdrück-
liche Vereinbarung unterwerfen. Die Vereinbarung muss dem Gericht schon in der Kla-
ge urkundlich nachgewiesen werden. Die Gerichtsstandsvereinbarung muss sich auf ei-
nen bestimmten Rechtsstreit oder auf die aus einem bestimmten Rechtsverhältnis ent-
springenden Rechtsstreitigkeiten beziehen. Angelegenheiten, welche dem Wirkungskreis
der Gerichte überhaupt entzogen sind, können durch Gerichtsstandsvereinbarungen
nicht vor Gericht gebracht werden.
4.39 Insoweit das an sich unzuständige LG durch eine Gerichtsstandsvereinbarung zuständig
gemacht werden kann, wird es auch dadurch zuständig, dass der Beklagte, ohne recht-
zeitig die Unzuständigkeitseinrede erhoben zu haben, in der Hauptsache mündlich ver-
handelt.
4.40 Ausdrück.lieh ausgeschlossen ist eine Gerichtsstandsvereinbarung für Rechtssachen aus
Versicherungsverträgen, wenn der Versicherungsnehmer im Inland wohnt oder wenn
das versicherte Interesse im Inland gelegen ist. Das LG ist in diesen Fällen zwingend
zuständig(§ 53a Abs 3 JN). Daneben gibt es noch weitere Zwangsgerichtsstände, deren
Abbedingung durch Parteienvereinbarung nicht möglich ist. 589
92 Schumacher. HB LieZPA
Mähr IV. Verhältnis von inländischer Gerichtsbarkeit und internationaler Zuständigkeit
In allen anderen Fällen, in denen lediglich kein Gerichtsstand in Liechtenstein gegeben 4.45
ist, gelten für Mängel die Rechtsfolgen wie bei der einfachen Unzuständigkeit. Die ge-
setzlichen Regelungen, wie eine Unzuständigkeit zu behandeln ist, finden sich in der
liechtensteinischen Rechtsordnung in § 251 Abs 1 ZPO iVm § 53 Abs 3 JN für die pro-
rogable Unzuständigkeit und in§ 446 Abs 1 Z 3 ZPO für die unprorogable Unzuständig-
keit. Während eine prorogable Unzuständigkeit demnach mit der Streiteinlassung heilt,
590 Vgl auch BuA 2012/126, 17 sowie EFT A-GH 25. 4. 2012, E-13/11, Granville, LES 2012, 53.
Schumacher, HB LieZPR 93
Kap 4 Internationales Zivilprozessrecht Mähr
kann eine unprorogable Unzuständigkeit bis zur Rechtskraft der Entscheidung als Nich-
tigkeitsgrund geltend gemacht werden.
4.46 In der Rsp wird zwischen der inländischen Gerichtsbarkeit und der internationalen Zu-
ständigkeit oft nicht unterschieden und beide Begriffe werden vertauscht oder synonym
verwendet.
2. Erkenntnisquellen
4.49 Da der Gegenstand der Ermittlung Rechtsnormen sind, liegt die primäre Ermittlungs-
pflicht beim Gericht. Die Prozessparteien können zur Ermittlung ausländischen Rechts
jedoch Beweisanträge stellen. Insb ist es ihnen gestattet, Privatgutachten über den Inhalt
und die Anwendung des in Betracht kommenden ausländischen Rechts vorzulegen. Der
Zeugenbeweis und die Parteienvernehmung im technischen Sinn sind unzulässig.
4.50 Bei der Ermittlung kann das Gericht sowohl amtliche Gesetzespublikationen heranzie-
hen, wie auch Lehrbücher, Entscheidungssammlungen, Kommentare, kurzum die gesam-
te Lehre und Rsp des fremden Landes. Es kann auch Rechtsgutachten von ausländischen
oder inländischen Rechtsgelehrten einholen und das Zeugnis eines Vertrauensmanns ver-
werten.
4.51 Zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass Liechtenstein Mitgliedstaat des Europäischen Über-
einkommens betreffend Auskünfte über ausländisches Recht 591 ist. Dieses übereinkom-
men sieht vor, dass jeder Mitgliedstaat eine staatliche Verbindungsstelle einrichtet, an
welche zentral Auskunftsersuchen zu richten sind. Es wird genau festgelegt, welche Be-
hörden zur Stellung von Auskunftsersuchen berechtigt sind, in welcher Sprache und wie
diese zu übermitteln sind. Der entscheidendste Punkt des Abkommens ist die Pflicht der
Empfangsstelle zur Beantwortung einer Anfrage über die Rechtslage. Nur wenn die
94 Schumacher. HB LieZPR
Mähr V. Das Verfahren mit Auslandsbezug
Staatsinteressen, die Hoheitsrechte oder die Sicherheit beeinträchtigt bzw gefährdet sind,
kann ein Staat die Beantwortung eines Auskunftsersuchens ablehnen. Die erteilten Aus-
künfte sind nicht bindend, sondern unterliegen der freien Überprüfung durch den Rich-
ter.
Die Unaufl<lärbarkeit des ausländischen Rechts kann nicht zu Lasten der Partei gehen, 4.52
die sich auf das ausländische Recht beruft. Es ist also kein Fall eines non liquet möglich.
Auf der anderen Seite ist das Gericht an die von den Parteien beigebrachten Rechtsquel-
len nicht gebunden, hat diese jedoch anzunehmen. Diese Annahmepflicht des Gerichts
wurde ausdrücklich in der Entscheidung LES 1996, 167 festgehalten. Darin wurde dem
ansonsten nicht zu einer Gegenäußerung berechtigten Rekursgegner (damals war das
Rekursverfahren noch einseitig) das Recht zuerkannt, einen urkundlichen Nachweis über
das in einem anderen Staatsgebiet geltende Recht vorzulegen.
Mangelt es an der Ermittlung des anwendbaren fremden Rechts durch die Vorinstanzen, 4.53
die von Amts wegen durchzuführen ist, so liegt darin ein Verfahrensmangel besonderer
Art, der dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung zu unterstellen ist
und zur Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen führen kann. 592
3. Anwendung
Das ausländische Recht ist, soweit es im inländischen Verfahren eine Rolle spielt, so 4.54
anzuwenden, wie es in seinem eigenen ausländischen bzw ursprünglichen Geltungsbe-
reich anzuwenden wäre (Art 3 IPRG) 593 • Auch eine Außerstreitstellung des ausländi-
schen Rechts ist vom Richter nicht zu beachten. Folglich bildet die Nichtanwendung
oder falsche Anwendung einer ausländischen Norm den Rechtsmittelgrund der unrich-
tigen rechtlichen Beurteilung und ist damit revisibel. 594
Die Rechtsanwendungsfrage ist im Rahmen der allseitigen Prüfung selbst gegen den Wil- 4.55
len der Parteien aufzugreifen. 595
Kann das fremde Recht trotz eingehendem Bemühen innerhalb angemessener Frist nicht 4.56
ermittelt werden, so ist liechtensteinisches Recht anzuwenden (Art 4 Abs 2 IPRG).
4. Ordre public
In der Regel ist das nach dem IPRG maßgebliche ausländische Recht auch dann anzu- 4.57
wenden, wenn es vom inländischen Recht erheblich abweicht. Wenn aber die Anwen-
dung der ausländischen Norm zu einem „Ergebnis führen würde, das mit den Grund-
werten der liechtensteinischen Rechtsordnung unvereinbar istu, ist an deren Stelle die
entsprechende liechtensteinische Bestimmung anzuwenden (Art 6 IPRG). Wegen des in-
akzeptablen Eingriffs in die staatliche Ordnung spricht man deshalb auch vom „negati-
ven ordre public". Ein Verstoß gegen einfachgesetzliche zwingende Vorschriften genügt
nicht für die Anwendung der Vorbehaltsklausel, noch weniger ein nur unbilliges Ergeh-
Schumacher, HB LieZPR 95
Kap 4 Internationales Zivilprozessrecht Mähr
nis. Die Berufung auf den ordre public darf nur in Ausnahmefällen erfolgen. Gegenstand
der Verletzung müssen Grundwerte der liechtensteinischen Rechtsordnung sein. 596
B. Beweisrecht
1. Das Spannungsverhältnis zwischen /ex causae und /ex fori
4.58 In Fällen mit Auslandsbezug stellt sich die Frage, nach welchem Recht die auftretenden
Rechtsfragen zu beurteilen sind. In Frage kommt sowohl die lex fori (Recht des Gerichts-
ortes) als auch die lex causae (das gemäß den Kollisionsnormen in der Sache selbst maß-
gebende Recht). Dabei gilt als Grundsatz, dass sich das materielle Recht (Ausnahme: bei
ordre-public-Widrigkeit) nach der lex causae richtet. Das Prozessrecht einschließlich der
Abgrenzung, was Prozessrecht ist und was zum materiellen Recht gehört, sowie die Kol-
lisionsnormen des IPR sind im Grundsatz nach der lexfori zu beurteilen. Anders als beim
internationalen Privatrecht, das aus Kollisionsnormen besteht, die bestimmen, welches
materielle Privatrecht eines ausländischen Staats auf Fälle mit Auslandsberührung anzu-
wenden ist, wird das internationale Zivilprozessrecht sohin vom Grundsatz der soge-
nannten lex fori beherrscht, wonach das jeweilige Gericht das Verfahrensrecht seines
Landes anzuwenden hat. 597
4.59 Das Beweisrecht ist Bestandteil des Verfahrensrechts, welches grundsätzlich nach der lex
fori zu beurteilen ist. 598 Mittelbar beeinflusst jedoch auch die lex causae die Beweisauf-
nahme. Das materielle Recht bestimmt nämlich das Beweisthema und die Beweislast.
Bedeutung für das Beweisverfahren haben auch die gesetzlichen Vermutungen, die sich
in den materiellen Rechtsvorschriften befinden.
596 "Schutzobjekt des ordre public sind die Grundwertungen der liechtensteinischen Rechtsord-
nung und nicht subjektive Rechtspositionen von liechtensteinischen Personen. Die ordre pub-
lic-Klausel, von der nur sparsamster Gebrauch gemacht werden kann, erfasst solche ausländi-
sche Regelungen, deren Anwendung zu einer unerträglichen Verletzung tragender Grundwer-
tungen der liechtensteinischen Rechtsordnung führen würde. Die Bestimmungen des französi-
schen Pflichtteilsrechts einschliesslich seiner 30-jährigen Verjährungsfrist für die
Schenkungsanrechnung verstossen nicht gegen den ordre public." (OGH 06 CG.2004.23 LES
2006, 468).
597 OGH 4 Cg 198/2000-124 LES 2002, 302.
598 OGH 6 Cg 2000.83-68 LES 2003, 324.
599 Das Regelbeweismaß der ZPO ist in Liechtenstein „hohe Wahrscheinlichkeit", was sich aus
§ 272 ZPO (freie Beweiswürdigung) schließen lässt.
96 Schumacher, HB LieZPR
Mähr V. Das Verfahren mit Auslandsbezug
sätzlich nach der lex fori. Wo ein reduziertes Beweismaß, eine Glaubhaftmachung oder
Bescheinigung, ausreicht, ist in den liechtensteinischen Verfahrensgesetzen normiert. 600
Selten wird in den anzuwendenden materiellen Vorschriften ein besonders hohes Wahr-
scheinlichkeitsmaß verlangt bzw der Nachweis der überwiegenden Wahrscheinlichkeit
als ausreichend erachtet, um die Rechtsfolgen einer Vorschrift eintreten zu lassen. Sofern
sich eine solche materiell-rechtliche Beweismaßabstufung in der anzuwendenden lex cau-
sae findet, ist sie jedoch auch in einem liechtensteinischen Zivilprozess anzuwenden.
Elementarer Grundsatz des liechtensteinischen Prozessrechts ist die freie Beweiswürdi- 4.61
gung des Gerichts. Sie gilt in allen Prozessen vor liechtensteinischen Gerichten, gleich-
gültig ob diese Tatsachen nach inländischem oder ausländischem Recht zu beurteilen
sind. Dieser Grundsatz gilt für alle Beweisvorschriften, die als Verfahrensrecht der lex
fori unterliegen. Daher kann etwa auch der Gegenbeweis gegen Urkunden und Schrift-
stücke, die im Ausland errichtet wurden, vor liechtensteinischen Gerichten nach den
Vorschriften der liechtensteinischen ZPO geführt werden. 601
Die Beachtung eines Geständnisses und von offenkundigen Tatsachen 602 bestimmt sich 4.62
nach der lex fori. 603 Die materiell-rechtliche Dispositionsfähigkeit und -freiheit der zuge-
stehenden Partei richten sich jedoch wiederum nach der lex causae.
Den liechtensteinischen Gerichten obliegt die Pflicht, eine inhaltliche Sachentscheidung 4.63
zu fällen, selbst wenn im Fall eines non liquet nach der lex causae eine solche verweigert
werden dürfte bzw müsste.
a) Beweislast
Die Regeln der Beweislast sind materiell-rechtlich zu qualifizieren und daher der lex 4.65
causae zu entnehmen. Gelangt bspw liechtensteinisches materielles Recht zur Anwen-
dung, kommt auch die Beweislastumkehr des§ 1298 ABGB zum Tragen.
Das Recht am Gerichtsort kann in einem Zivilprozess jedoch zumindest mittelbar auch 4.66
Auswirkungen auf die Beweislast haben. In den meisten Zivilprozessordnungen finden
600 Die Glaubhaftmachung genügt etwa für die Gründe, die auf eine Erstreckung einer Tagsatzung
abzielen (§ 135 ZPO), die Gründe für den Wiedereinsetzungsantrag (§ 149 ZPO), die zur Si-
cherung des Beweises nötigen Umstände (§ 386 ZPO), die Gefahr für den Erlass einer einst-
weiligen Verfügung (Art 282 EO) etc.
601 OGH 6 Cg 2000.83-68 LES 2003, 324.
602 § 269 ZPO.
603 Ausdrücklich zugestandene Tatsachen bedürfen keines Beweises (§ 266 ZPO).
Schumacher, HB LieZPR 97
Kap 4 Internationales Zivilprozessrecht Mähr
sich nämlich Bestimmungen, nach welchen das Verhalten der Parteien im Verfahren
auch Auswirkungen auf die Beweislast hat. Diese prozessrechtlichen Beweislastfolgen
richten sich nach der /ex fori (zB die Auswirkungen, wenn der Beweispflichtige die Vor-
lage einer Urkunde durch den Gegner verlangt, dieser sich aber ungerechtfertigt weigert,
diese dem Gericht vorzulegen).
b) Beweisvermutungen
4.67 Bei den Beweisvermutungsvorschriften wird zwischen der gesetzlichen Vermutung, wel-
che wiederum in eine widerlegbare und eine unwiderlegbare Vermutung unterteilt wird,
und der tatsächlichen Vermutung unterschieden.
4.68 Bei der unwiderlegbaren gesetzlichen Vermutung604 wird bei Vorliegen der Tatsache A
eine Rechtsfolge C ausgelöst, die eigentlich an das Bestehen der Tatsache B geknüpft ist,
ohne dass die Möglichkeit besteht, das Nichtvorliegen der Tatsache B zu beweisen. Die
Wahrheitsermittlung wird abgekürzt. Aufgrund der starken Verflechtung mit dem ma-
teriellen Recht ist sie der /ex causae zu unterstellen.
4.69 Die widerlegbare gesetzliche Vermutung 605 führt in den meisten kontinentaleuropäi-
schen Rechtsordnungen zu einer Beweislastumkehr. Wurden von der beweispflichtigen
Partei die Ausgangstatsachen A bewiesen, hat der Gegner das Nichtvorliegen der vermu-
teten Tatsache B zu beweisen. Wegen der engen Verflechtung mit dem materiellen Recht
ist auf die /ex causae abzustellen. Dies gilt jedoch nicht für prozessuale Vermutungen 606 ,
welche ausschließlich nach der /ex fori zu beurteilen sind.
4.70 Die tatsächliche Vermutung 607 und hier va der Anscheinsbeweis (prima-facie Beweis)
berührt die Beweislast nicht, sondern unterliegt vielmehr der freien richterlichen Beweis-
würdigung. In den verschiedenen Rechtsordnungen werden jedoch differenzierte Wahr-
scheinlichkeiten bei der Anwendung der Erfahrungssätze verlangt. Aufgrund der engen
materiell-rechtlichen Verflechtung der tatsächlichen Vermutung ist auch hier auf die /ex
causae abzustellen.
c) Beweismittel
4. 71 Über die Zulässigkeit von Beweismitteln und die Art und Weise, wie die einzelnen Be-
weise zu erheben sind, entscheidet allein die /ex fori. Es gibt jedoch, insb bei Beweisauf-
nahmen im Rechtshilfeverfahren einzelne Ausnahmen, in denen es zweckmäßig ist,
auch auf die Beweisregeln der /ex causae Rücksicht zu nehmen. Während es beim Sach-
verständigenbeweis, beim Augenschein und bei der Parteienvernehmung durchwegs
beim Beweisrecht des Gerichtsortes bleibt, bestehen beim Zeugen- und beim Urkunden-
beweis einzelne Ausnahmen vom Grundsatz der /ex fori.
4.72 Zeugenbeweis: Sowohl die Fähigkeit, Zeuge zu sein, als auch die Zeugnisverweigerungs-
rechte sind dem Recht am Gerichtsort zu entnehmen. Erfolgt jedoch eine Zeugeneinver-
604 Diese existiert nur, wenn das Gesetz dies ausdrücklich vorsieht (§ 270 Satz 2 ZPO).
605 ZB § 1427 ABGB, wonach eine Quittung über das bezahlte Kapital die Vermutung begründet,
dass auch die Zinsen davon bezahlt worden sind.
606 ZB jene über die Klagsänderung in § 243 Abs 2 ZPO.
607 ZB §§ 863, 1297, 1429 ABGB.
98 Schumacher, HB LieZPR
Mähr V. Das Verfahren mit Auslandsbezug
nahme im Zug eines Rechtshilfeersuchens, kann sich der Zeuge sowohl auf ein Verwei-
gerungsrecht der lex fori als auch auf ein solches aus der Rechtsordnung des ersuchten
Staats berufen. Auch für die in den US-Bundesstaaten vorkommende, materiell-rechtlich
verflochtene Beweislastumkehr zulasten derjenigen Partei, die den zur Verschwiegenheit
verpflichteten Zeugen nicht von seiner Pflicht entbinden will, ist ausnahmsweise die lex
causae maßgeblich. Die Zwangsmaßnahmen gern §§ 333 ff ZPO gegen einen nicht er-
schienenen oder einen unbegründet nicht aussagenden Zeugen gelten nur für Verfahren,
die auf eine Entscheidung liechtensteinischer Gerichte intendieren, aber nicht für Zeu-
geneinvernahmen, die im Rahmen der Rechtshilfe durchgeführt werden. Lediglich im
Rahmen völkerrechtlicher übereinkommen kann vereinbart werden, auch die Rechtshil-
fehandlungen nach den eigenen Verfahrensvorschriften einschließlich der Zwangsmaß-
nahmen durchzuführen. Bei der Vorladung von Zeugen ist zu beachten, dass Ausländer
im Ausland nur gebeten werden können, freiwillig im Inland zu erscheinen. Selbst wenn
sie Vermögenswerte in Liechtenstein hätten, wären die Androhung und umso mehr die
Vollstreckung von Zwangsmaßnahmen gegen dieses Vermögen wider allgemein aner-
kannte völkerrechtliche Grundsätze.
Urkundenbeweis: Die Vermutung der Echtheit einer öffentlichen Urkunde bestimmt 4.73
sich nach der liechtensteinischen ZPO. Auch für die prozessrechtliche Vorlagepflicht ei-
ner Urkunde durch den Gegner (§§ 303 ff ZPO) bzw durch einen Dritten (§§ 308, 309
ZPO) sind die liechtensteinischen Verfahrensvorschriften maßgeblich. Die nach der lex
causae zu behandelnden materiell-rechtlichen Vorlagepflichten durch Vertrag oder Ge-
setz bleiben jedoch unberührt. Einige Rechtsordnungen schreiben für den Beweis be-
stimmter rechtsgeschäftlicher Schuldverhältnisse eine Urkunde vor und schließen den
Zeugenbeweis aus, selbst wenn für die entsprechende rechtsgeschäftliche Erklärung ex-
plizit kein Formzwang besteht. 608 In der Wissenschaft ist umstritten, wie die Notwendig-
keit des Urkundenbeweises kollisionsrechtlich einzuordnen ist. ME sollte man diese als
Formvorschriften einordnen und ausnahmsweise mit der /ex causae anwenden.
d) Beweisthemenverbote
Bei den Beweisthemenverboten gibt es einerseits solche des Prozessrechts609 , für die im- 4.74
mer die /ex fori gilt. Andererseits gibt es in manchen Rechtsordnungen 610 auch Beweis-
themenverbote in den materiellen Rechtsvorschriften, für die dann auch die lex causae
maßgeblich ist.
608 Nach Art 2721 CC ist ab einem bestimmten Vertragswert etwa der Zeugenbeweis ausgeschlos-
sen.
609 ZB der Ausforschungsbeweis oder auch ~ 268 ZPO, wonach das Gericht in einem Zivilprozess
beim Beweis und der Zurechnung einer strafbaren Handlung an ein darüber ergangenes
rechtskräftiges Erkenntnis des Strafgerichts gebunden ist.
610 Die liechtensteinische Rechtsordnung kennt solche Beweisthemenverbote des materiellen
Rechts nicht.
Schumacher, HB LieZPR 99
Kap 4 Internationales Zivilprozessrecht Mähr
Verhalten das Gegenteil ergibt. Bspw darf ein Vertreter den Mangel der Vertretungs-
macht in bestimmten Fällen nicht nachweisen. In der liechtensteinischen Rechtsord-
nung wird dieses Problem mit der Anscheins- und Duldungsvollmacht gelöst. Die Vor-
schriften über die Anscheins- und Duldungsvollmacht sind Normen des materiellen
Rechts, sodass die Lex causae-Vorschriften anzuwenden sind. Ein weiteres Beweisverbot
schließt den Beweis für Tatsachen aus, die mit der Tatsachenfeststellung eines früheren
Urteils zusammenhängen (estoppel by record). Wenn diese Tatsachen im Erstverfahren
nur hätten geltend gemacht werden können, spricht man vom estoppel of issue. Beide
Beweisverbote verfolgen dieselben Zwecke, wie dies in den kontinentaleuropäischen
Rechtsordnungen die Lehre von der materiellen Rechtskraft und der Präklusionswirkung
tun. Aus liechtensteinischer Sicht handelt es sich beim estoppel of record um eine prozes-
suale Urteilswirkung, die nur dann zu beachten ist, wenn die Anerkennungsvorausset-
zungen vorliegen.
Für die Ermittlung des Kostenersatzes gern RA TG und RA TV hat jedoch stets eine Um- 4.80
rechnung in Schweizer Franken zu erfolgen. Dafür sind gern Art 6 RATG (vgl § 6
öRATG) Ansprüche in ausländischer Währung nach dem Devisenkurs im Zeitpunkt
des Verhandlungsschlusses, falls ein solcher nicht erfolgt, im Zeitpunkt der zu erbringen-
den Leistung zu bewerten. Dieser Art 6 RA TG ist, um impraktikable Ergebnisse zu ver-
meiden, dahin auszulegen, dass einerseits der nach dem Prozessrecht maßgebliche
Schluss der Verhandlung erster Instanz den Umrechnungskurs bestimmt. Andererseits
soll dieser für das erstinstanzliche Verfahren ermittelte Kurs auch für das anschließende
Rechtsmittelverfahren maßgebend bleiben. Letzteres entspricht dem System der ZPO,
wonach die Sach- und Rechtslage zu dem für die erstinstanzliche Entscheidung maßgeb-
lichen Zeitpunkt grundsätzlich auch für das Rechtsmittelverfahren bestimmend bleibt.
Damit wird verhindert, dass die Kosten der Rechtsvertretung in verschiedenen Instanzen
bei unverändertem Entscheidungsgegenstand je nach der Entwicklung des Wechselkurses
steigen oder fallen. 614
D. Internationale Rechtshilfe
1. Definition
Die internationale Rechtshilfe in Zivil- und Handelssachen umfasst all jene Akte be- 4.81
hördlicher Staatsgewalt, die der Durchführung eines Zivilverfahrens in einem anderen
Staat dienen. Entscheidend ist nicht die formell-organisatorische, sondern die materi-
ell-funktionelle Zuweisung der Sache zur Zivilgerichtsbarkeit, sodass sowohl streitige
als auch außerstreitige Verfahren, Exekutions- oder Konkursverfahren und selbst Ver-
fahren vor Strafgerichten (Adhäsionsverfahren) oder Verwaltungsbehörden erfasst sein
können. 615
Handlungen, die idS zur internationalen Rechtshilfe iwS gezählt werden, sind die inter- 4.82
nationale Zustellung einerseits - die va der Einbeziehung der Parteien in das im jeweils
anderen Staat laufende Verfahren und ihrer weiteren Information dient - und die inter-
nationale Beweisaufnahme andererseits - die der Sachverhaltsermittlung in jenen Fällen
dient, in denen es um im jeweils anderen Staat befindliche Beweispersonen oder dort
belegenes Beweismaterial geht. Letztere wird auch als Rechtshilfe ieS bezeichnet. Zu die-
ser gehören auch „andere gerichtliche Handlungen", wie etwa die Aktenübersendung
oder die Erteilung einer Auskunft über den Stand eines Verfahrens. 616
2. Völkerrecht
Die einzigen multilateralen übereinkommen, welche das Fürstentum Liechtenstein auf 4.83
dem Gebiet der zivilen Rechtshilfe unterzeichnet hat, sind das Europäische Überein-
kommen betreffend Auskünfte über ausländisches Recht 617 sowie das Haager Über-
einkommen über die Beweisaufnahme im Ausland in Zivil- oder Handelssachen 618 .
4.84 Bilateral hat Liechtenstein mit Österreich den Vertrag v 1. 4. 1955 über Rechtshilfe, Be-
glaubigung, Urkunden und Vormundschaft inklusive Zusatzprotokoll (RHVÖ) 619 abge-
schlossen.
4.85 Gemäß dem übereinkommen über die Beweisaufnahme im Ausland in Zivil- oder
Handelssachen kann die gerichtliche Behörde eines Vertragsstaats nach seinen inner-
staatlichen Rechtsvorschriften die zuständige Behörde eines anderen Vertragsstaats er-
suchen, eine Beweisaufnahme oder eine andere gerichtliche Handlung620 vorzuneh-
men. Jeder Vertragsstaat bestimmt eine zentrale Behörde621 , die von einer gerichtli-
chen Behörde eines anderen Vertragsstaats ausgehende Rechtshilfeersuchen entgegen-
nimmt und sie der zuständigen Behörde zur Erledigung zuleitet. Aufgrund eines
Vorbehalts Liechtensteins müssen die Rechtshilfeersuchen und deren Beilagen in deut-
scher Sprache abgefasst oder mit einer Übersetzung in diese Sprache versehen sein.
Grundsätzlich hat die gerichtliche Behörde bei der Erledigung eines Rechtshilfeersu-
chens nach den Formen, die ihr Recht vorsieht, zu verfahren. Allerdings ist dem An-
trag der ersuchenden Behörde, nach einer besonderen Form zu verfahren, zu entspre-
chen, sofern diese Form mit dem Recht des ersuchten Staats nicht unvereinbar oder
ihre Einhaltung nach der gerichtlichen Übung im ersuchten Staat oder wegen tatsäch-
licher Schwierigkeiten nicht unmöglich ist. Anzuführen ist weiters, dass im überein-
kommen auch die Beweisaufnahme durch diplomatische oder konsularische Vertreter
und durch Beauftragte in einem anderen Vertragsstaat, in dem diese ihr Amt ausüben,
geregelt ist. Aufgrund eines Vorbehalts Liechtensteins setzt eine solche Beweisaufnah-
me die vorherige Genehmigung durch die Regierung des Fürstentums Liechtenstein
voraus. Ferner gewährleistet Liechtenstein den diplomatischen oder konsularischen
Vertretern oder Beauftragten bei einer Beweisaufnahme keine Unterstützung durch
Zwangsmaßnahmen. Letztlich ist darauf hinzuweisen, dass Liechtenstein Rechtshilfeer-
suchen, die ein pre-trial discovery of documents-Verfahren zum Gegenstand haben,
nicht erledigt.
4.86 Neben den beiden erwähnten multilateralen übereinkommen gibt es noch zwei bilaterale
Vereinbarungen, die Liechtenstein mit der Republik Österreich 622 und der Bundesrepub-
lik Deutschland 623 abgeschlossen hat. Die Vereinbarung mit Deutschland wurde nicht
publiziert und hat somit gern Art 65 der Verfassung des Fürstentums Liechtenstein v
5. l 0. 1921 auch keinen Gesetzesrang erlangt. Sie ist deshalb wohl als Gegenrechtserklä-
rung der Regierung iSd § 27 Abs I JN anzusehen.
3. Nationales Recht
Die Zusammenarbeit der Staaten auf dem Gebiet der Zivilrechtspflege erfolgt, solange 4.87
keine staatsvertragliche Vereinbarung getroffen worden ist, ohne völkerrechtliche Ver-
pflichtung, sondern vielmehr nach den Grundsätzen der Courtoisie. Es existieren nur
spärliche autonome Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Rechtshilfe. Das liechtenstei-
nische autonome Recht beschreibt nur grob, unter welchen Voraussetzungen Rechtshilfe
zu leisten ist, nach welchen Vorschriften diese dann zu vollziehen und wie vorzugehen
ist, wenn zwischen dem ersuchenden und dem ersuchten Gericht Meinungsverschieden-
heiten auftreten. Diese wenigen Bestimmungen sind die §§ 27 bis 29 JN.
§ 27 JN normiert die Pflicht des LG, ausländischen Gerichten über Ersuchen Rechtshilfe 4.88
zu leisten, sofern nicht hierauf bezügliche Anordnungen (Staatsverträge, Regierungser-
klärungen, Ministerialverordnungen) etwas anderes festsetzen. § 27 Abs 2 JN normiert
dann gleich drei Ausnahmen, bei deren Vorliegen die Rechtshilfe verweigert werden
muss. Keine Rechtshilfe wird folglich gewährt, wenn die begehrte Handlung nach den
inländischen Bestimmungen dem Geschäftskreis der Gerichte entzogen ist, wenn die
Vornahme einer Handlung begehrt wird, welche gesetzlich verboten ist und schließlich
die in der Praxis bedeutendste Ausnahme, wenn es an der Beobachtung der Gegenseitig-
keit fehlt.
Im Hinblick auf die Gegenseitigkeit genügt es nicht, dass im ausländischen Staat die 4.89
gesetzlichen Grundlagen für die Gewährung der Rechtshilfe an liechtensteinische Gerich-
te gegeben sind, sondern die Gegenseitigkeit muss „beobachtet", also tatsächlich gewährt
werden. Im Fall der tatsächlichen Gewährung ist es andererseits nicht entscheidend, ob
hierfür eine gesetzliche Grundlage vorhanden ist. 624
Die Form und der Ablauf der Rechtshilfehandlung richtet sich nach den Vorschriften 4.90
der für das ersuchte LG verbindlichen Gesetze(§ 28 JN). Soweit es nach diesen Gesetzen
zulässig ist, hat das ersuchte LG alle zur Erfüllung des Ersuchens erforderlichen Vorkeh-
rungen und Verfügungen von Amts wegen zu treffen. Nur wenn ausdrücklich ersucht
wird, bei den vorzunehmenden Handlungen einen bestimmten, durch das ausländische
Recht geforderten Vorgang einzuhalten, und zudem dieser Vorgang durch keine Vor-
schrift der inländischen Gesetzgebung verboten erscheint, kann von den Vorschriften
der im Inland geltenden Gesetze abgewichen werden.
§ 29 JN beschäftigt sich mit dem Fall der Verweigerung der Rechtshilfe durch das er- 4.91
suchte LG und dem Fall von Meinungsverschiedenheiten zwischen dem ersuchenden
und dem ersuchten Gericht. In diesen beiden Fällen kann das ersuchende ausländische
Gericht oder auch ein anderes hierzu berufenes ausländisches öffentliches Organ -
grundsätzlich aber nicht die an der Durchführung der Prozesshilfe interessierte Partei 625
- das Appellationsgericht626 anrufen. Dieses hat ohne vorhergehende mündliche Ver-
handlung über die Rechtmäßigkeit der Weigerung oder den sonstigen Grund der Mei-
nungsverschiedenheit zu entscheiden. Der § 29 JN eröffnet einen direkten Rechtszug an
die inländischen Instanzen, und zwar in Form einer Beschwerde sui generis (formlos und
nicht fristgebunden). 627
4.92 Wenngleich in der Lehre umstritten ist, ob der ersuchenden ausländischen Behörde der
Rechtszug an den OGH offen steht, vertritt der liechtensteinische OGH die Rechtsmei-
nung, dass schon allein mangels eines ausdrücklichen Rechtsmittelausschlusses im Gesetz
gegen den Beschluss des OG innerhalb der 14-täSigen Rechtsmittelfrist der Rekurs des
ausländischen Gerichts an den OGH zulässig ist. 6 8
4.93 Festzuhalten ist, dass in Bezug auf die Frage der Zulässigkeit der Rechtshilfe dem von
der Rechtshilfe betroffenen Inländer keine Parteistellung zukommt. Etwas anderes ist
den Bestimmungen über die Rechtshilfe nicht zu entnehmen, da § 29 JN exklusiv von
Meinungsverschiedenheiten zwischen dem ersuchenden und dem ersuchten Gericht, die
durch das Appellationsgericht zu entscheiden seien, spricht. Ein von der Rechtshilfe Be-
troffener kann sich sohin gegen den Entscheid des Erstgerichts, wonach die Rechtshilfe
für zulässig erklärt wird, nicht mittels Rekurs zur Wehr setzen. Kein Antragsrecht hat
ferner die inländische Behörde. Ein solches kommt auch nicht den Parteien des auslän-
dischen Hauptverfahrens oder sonstigen Verfahrensbeteiligten zu. 629
4. Zustellungen
a) Repräsentant und Zustelladresse
4.94 Das für Liechtenstein wichtige Rechtsinstitut der Einrichtung eines Repräsentanten 630 hat
zwar nichts mit einer Zustellung im Rechtshilfeweg zu tun, soll aber eine solche gerade
verhindern, weshalb sie hier erläutert wird. Inländische Verbandspersonen und Zweig-
niederlassungen ausländischer Verbandspersonen müssen einen liechtensteinischen Re-
präsentanten bestellen.
4.95 Der Repräsentant ist von Gesetzes wegen gegenüber allen inländischen Gerichts- und
Verwaltungsbehörden in allen Angelegenheiten zur Empfangnahme von Erklärungen
und Mitteilungen jeder Art einschließlich Zustellungen ermächtigt.
4.96 Die Pflicht zur Bestellung eines Repräsentanten kann mit Zustimmung der Regierung
entfallen, falls die übrige Vertretung der Verbandsperson als Ersatz für den Repräsentan-
ten hinreichend Gewähr bietet oder eine inländische Zustelladresse bezeichnet worden
ist.
Wenn die Bestätigung über eine erfolgte Zustellung binnen einer angemessenen Zeit 4.101
nicht einlangt, kann auf Antrag oder von Amts wegen die Zustellung durch öffentliche
Bekanntmachung637 oder eine Kuratorbestellung erfolgen. Gleiches gilt auch, wenn eine
Zustellung im Ausland vergeblich versucht wurde oder das Ersuchen um Zustellung we-
gen offenkundiger Verweigerung der Rechtshilfe durch die ausländische Behörde keinen
Erfolg verspricht.
4.102 Die Zustellung durch öffentliche Bekanntmachung erfolgt gern Art 28 ZustG durch
Veröffentlichung auf der Webseite der Behörde, dass ein zuzustellendes Dokument zur
Ausfolgung bereitliegt. Gern § 118 ZPO (§ 118 öZPO) iVm Art 28 ZustG gilt die Zustel-
lung einer eine prozessuale „Handlungspflicht" des Abwesenden auslösenden Gerichts-
entscheidung erst mit der Veröffentlichung auf der Webseite des Gerichts und der dieser
nachfolgenden Übergabe des zuzustellenden Schriftstücks an den Kurator als vollzo-
gen.638
4.103 Die Zustellung wird 14 Tage nach der Veröffentlichung auf der Webseite der Behörde
fingiert, sofern der Empfänger das zuzustellende Dokument nicht bis zu diesem Zeit-
punkt am Hinterlegungsort behoben hat. Auf diese Rechtsfolge ist in der Veröffentli-
chung hinzuweisen. Die Behörde kann die öffentliche Bekanntmachung auch in anderer
geeigneter Weise, insb durch Publikation in den amtlichen Kundmachungsorganen, er-
gänzen. Diesbezüglich ist festzuhalten, dass diese ergänzenden Publikationen lediglich
der Vergrößerung der Publizitätswirkung dienen, jedoch keinen Einfluss auf den Fristen-
lauf oder die Zustellungswirkungen haben. 639
4.104 Die Zustellung an einen Kurator ist in§§ l 16ff ZPO geregelt. Demnach hat das Gericht
für Personen, an welche die Zustellung wegen Unbekanntheit des Aufenthalts nur durch
öffentliche Bekanntmachung geschehen könnte, auf Antrag oder von Amts wegen einen
Kurator zu bestellen, wenn diese Personen infolge der an sie zu bewirkenden Zustellung
zur Wahrung ihrer Rechte eine Prozesshandlung vorzunehmen hätten und insb, wenn
das zuzustellende Dokument eine Vorladung derselben enthält.
Empfänger nicht binnen einer unverlängerbaren Frist von 14 Tagen ab Zustellung des
Dokuments gegenüber der Behörde, die das Dokument zugestellt hat, erklärt, dass er
zur Annahme nicht bereit ist. Der Empfänger ist über dieses Recht zu belehren. Eine
verspätete oder unzulässige Erklärung ist zurückzuweisen. Andernfalls hat die Behörde
zu beurkunden, dass die Zustellung des fremdsprachigen Dokuments mangels Annahme-
bereitschaft des Empfängers als nicht bewirkt anzusehen ist.
f) Verhältnis zu Österreich
Wie bereits angeführt, hat Liechtenstein mit Österreich den Vertrag v 1. 4. 1955 über 4.113
Rechtshilfe, Beglaubigung, Urkunden und Vormundschaft inklusive Zusatzprotokoll
(RHVÖ) 645 abgeschlossen. Gemäß diesem Vertrag leisten einander die vertragschließen-
den Teile in bürgerlichen Rechtssachen und in gerichtlichen Strafsachen, mit Ausnahme
der politischen und fiskalischen Strafsachen, auf Ersuchen Rechtshilfe und nehmen Zu-
stellungen vor. Die Besonderheit des RHVÖ besteht darin, dass im Gegensatz zur ge-
wöhnlichen Übermittlung eines Zustellgesuchs im Wege der diplomatischen Beziehung
ein unmittelbarer Verkehr zwischen den Gerichten beider Staaten normiert wird. 646
Zudem sind die Gerichte beider Staaten gegenseitig verpflichtet, sich Rechtshilfe zu leis-
ten und tun dies nicht nur aus Gefälligkeit. 647 Weilers hat ein unzuständiges ersuchtes
Gericht das Zustellersuchen von Amts wegen an das zuständige Gericht weiterzuleiten.
Die Zustellung erfolgt gern Art 4 RHVÖ grundsätzlich nach den Zustellvorschriften des
ersuchten Staats. Die Kosten der Zustellung oder des missglückten Zustellungsversuchs
werden dem ersuchenden Staat nicht in Rechnung gestellt. Im Verhältnis zu Österreich
ist ausschließlich eine Zustellung im Wege der Rechtshilfe zulässig. Zwischen diesen bei-
den Staaten ist nicht einmal eine Zustellung im Postweg zulässig, geschweige denn eine
Zustellung durch öffentliche Bekanntmachung, ohne den Versuch einer unmittelbaren
Zustellung auch nur unternommen zu haben.
4.114 Art I Abs I Z 4 des Abkommens zwischen dem Fürstentum Liechtenstein und der Re-
publik Österreich über die Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entschei-
dungen, Schiedssprüchen, Vergleichen und öffentlichen Urkunden vom 5. 7. 1973648 ver-
langt, dass im Fall eines Versäumungsurteils die den Prozess einleitende Verfügung oder
Ladung der säumigen Partei zu eigenen Handen oder an ihren Vertreter zugestellt wor-
den ist 649 • Andernfalls ist eine Anerkennung bzw Vollstreckung im jeweils anderen Staat
nicht möglich. Hatte die Zustellung im Gebiet des Staats zu geschehen, in dem die Ent-
scheidung geltend gemacht wird, so muss sie im Rechtshilfeweg bewirkt worden sein.
652 „Die Zustellung von Gerichtsstücken eines englischen Gerichtes im Rechtshilfeweg ist über
Ersuchen von Prozessparteien bzw Parteienvertretern zulässig, und zwar auch dann, wenn es
sich um eine vom englischen Gericht erlassene einstweilige Verfügung handelt, die in Liechten-
stein allenfalls nicht vollstreckt werden kann. Die Zustellung fremdsprachiger Urkunden ist
nicht grundsätzlich unzulässig. Der Empfänger hat aber jedenfalls das Recht, die Entgegen-
nahme fremdsprachiger Schriftstücke abzulehnen oder ihr binnen kurzer Frist zu widerspre-
chen, widrigenfalls die erfolgte Zustellung als dem Gesetz entsprechend anzusehen ist." Siehe
OG Rz 181/97-15 LES 1997, 192.
653 LGBl 1968/19.
654 In Liechtenstein ausnahmslos das LG (§ 27 JN).
Übersicht
Rz
I. Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1
A. Anerkennung als kontrollierte Wirkungsübernahme . . . . . . . . . . . 5.1
B. Vollstreckung als Sonderrechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3
C. Anerkennung ohne (eigentliche) Vollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . 5.4
II. Rechtsquellen der Anerkennung und Vollstreckung . . . . . . . . . . . . . . 5.6
A. Staatsverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6
1. Bilaterale Abkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6
2. Multilaterale übereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.9
B. Autonomes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.11
III. Voraussetzungen der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer
Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.12
A. Indirekte internationale Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.12
l. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.12
2. Abkommen mit Österreich und der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . 5.14
3. Autonomes liechtensteinisches Anerkennungsrecht . . . . . . . . . . 5.18
4. Europäisches Anerkennungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.21
B. Rechtskraft der ausländischen Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.22
C. Fehlen von Verweigerungsgründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.25
1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.25
2. Verletzung des materiell-rechtlichen ordre public . . . . . . . . . . . 5.26
3. Verletzung des formellen ordre public . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.27
4. Nichtbeachtung von Rechtskraft und Rechtshängigkeit . . . . . . . 5.28
5. Keine Überprüfung der verweisungsrechtlichen Anknüpfung und
der Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.29
IV. Verfahren der Anerkennung und Vollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.30
A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.30
B. Ausländische Urteile als öffentliche Urkunden . . . . . . . . . . . . . . . 5.32
V. Partielle Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.35
A. Ausserstreitgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.35
B. Besondere prozessuale Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.41
1. Sachverhaltsbezug zum Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.41
2. Prozessfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.42
3. Ausländische Beweis- und Bescheinigungsmittel . . . . . . . . . . . . 5.44
1. Fragestellung
655 BGE 130 III 336; vgl ua Schack, IZVR 7 Rz 330ff; Nagel/Gottwald, IZPR 7 569ff; Schnyder/Lia-
towitsch, Internationales Privat- und Zivilverfahrensrecht' 123ff; namentlich für Liechtenstein
M. Frick, Anerkennung 6ff; Mähr, Internationales Zivilprozessrecht 265 ff.
656 Vgl unten Rz 5.30.
657 Vgl explizit Art 91 a Abs I Satz 2 und Art 97 Abs I Satz 2 AussStrG.
658 Zur besonderen diesbezüglichen Regelung in Liechtenstein vgl aber unten Rz 5.30.
659 Vgl zur Dogmatik Schack, IZVR' Rz 971.
eine im Inland beabsichtigte neue Eheschließung oder die gerichtliche Beurteilung von
660
Nebenfolgen einer Ehescheidung im Inland.
2. Multilaterale Übereinkommen
5.9 Liechtenstein ist bisher weder der EuGVVO 667 noch dem LugÜ beigetreten, welche Er-
lasse jeweils die (erleichterte) Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in
Zivil- und Handelssachen zum Gegenstand haben. 668
660 Vgl OGH 06 EG.2017.31 LES 2018, 197: Anerkennung eines ausländischen Scheidungsurteils
(durch die liechtensteinische Regierungskanzlei); Eintragung der Scheidung im Familienregis-
ter; Fortsetzung des Verfahrens über die Scheidungsfolgen im Inland unter analoger Anwen-
dung des § 527 Abs 2 ZPO. Zur Anerkennung eines ausländischen Scheidungsurteils vgl
Art 97 ff AussStrG; dazu unten Rz 5.36 f.
661 Abgeschlossen am 5. 7. 1973, Inkrafttreten am 28. 3. 1975, LGBI 1975/20.
662 Abgeschlossen am 25. 12. 1968, Inkrafttreten am 15. 3. 1970, LGBI 1970/14.
663 M. Frick. liechtenstein-journal 4/2010, 109.
664 Art 52 EO;§ 328 Abs 1 Z 5 dZPO; zum dt Recht (krit) Schack, IZVR7 Rz 963ff.
665 Art 52 EO.
666 OLG Stuttgart 28.7.2014, 5 U 146/12; IPRax 2015, 410 (Mankowski).
667 VO (EU) 1215/2012.
668 Sowie überdies die direkte gerichtliche Zuständigkeit inländischer Behörden regeln.
B. Autonomes Recht
Wo für Fragen der Anerkennung und Vollstreckung kein einschlägiger Staatsvertrag zur 5.11
Anwendung gelangt, ist auf das inländische autonome Recht abzustellen; für Liechten-
stein in erster Linie auf die E0. 671
Zwischen der direkten und der indirekten Zuständigkeit besteht eine gewisse Wechsel- 5.13
wirkung, weil für Sachverhalte, bei denen das Inland Gerichtsbarkeit beansprucht, eine
674
solche ebenfalls dem Ausland zugebilligt werden kann. Davon kann es wichtige Aus-
675
nahmen geben (etwa mit Bezug auf den Gerichtsstand des Erfüllungsorts ).
676 Art I Abs I Z 2 Abkommen mit Österreich; Art I Abs 1 Z 2 Abkommen mit der Schweiz.
677 Art 2 Abs 2 Z 1 mit Österreich; Art 2 Abs 1 Z 1 mit der Schweiz (jedoch ohne Aufenthaltsort;
dazu vgl etwa Art 149 Abs I lit b chIPRG).
678 Art 2 Abs 2 Z 2 mit Österreich; Art 2 Abs 1 Z 2 mit der Schweiz.
679 Art 2 Abs 2 Z 3 mit Österreich; Art 2 Abs I Z 3 mit der Schweiz.
680 Art 2 Abs 2 Z 4 mit Österreich; Art 2 Abs 1 Z 4 mit der Schweiz.
681 Art 2 Abs 2 Z 5 und 6 mit Österreich; Art 2 Abs I Z 7 (und 8) mit der Schweiz. Zu beachten
sind die unterschiedlichen Registervoraussetzungen in den Abkommen. Im Staatsvertrag mit
der Schweiz werden für die Zulässigkeit einer Gerichtsstandsvereinbarung keine Eintragung
der Parteien im Handelsregister bzw keine öffentliche Beurkundung der Vereinbarung mehr
verlangt; vgl Abänderung und Aufhebung in LGBI 2014/233. Zur früheren Regelung im
schweizerisch-liechtensteinischen Abkommen und zu deren Verhältnis zur JN vgl StGH
1999/28 LES 2003, 5.
682 Art 2 Abs 2 Z 7 mit Österreich: Art 2 Abs 1 Z 9 mit der Schweiz (im letzteren Fall mit zusätzli-
cher Belehrung durch das Gericht).
683 Art 2 Abs 1 Z I und 2 mit Österreich; Art 2 Abs 1 Z 6 mit der Schweiz.
684 Art 2 Abs 1 Z 3 mit Österreich (.,Liegenschaft"); Art 2 Abs I Z 5 mit der Schweiz.
685 OGH 9 CG.2002.63 LES 2006, 405.
686 Art 2 Abs 1 Z 4bis Abkommen mit der Schweiz.
687 Art 2 Abs 3 mit Österreich; Art 2 Abs 2 mit der Schweiz.
688 Vgl Art 1 Abs 3 mit Österreich; Art 1 Abs 2 mit der Schweiz.
689 Nicht als „Entscheidung" iS des Vollstreckungsabkommens mit der Schweiz ist im Weiteren
eine liechtensteinische Exekutionsbewilligung anzusehen; OGH (Vizepräsident) 3. 9. 2009, 8
EX 2009.2603 LES 2010, 110.
4. Europäisches Anerkennungsrecht
Weil Liechtenstein nicht Vertragsstaat des Lugü oder der EuGVVO ist, entfällt eine 5.21
Anerkennung ausländischer Entscheidungen gestützt auf diese Erlasse. Das ist insb des-
halb von Bedeutung, weil nach LugÜ und EuGVVO grundsätzlich keine Überprüfung
der ausländischen Zuständigkeit erfolgt, sondern die regelkonforme Beanspruchung der-
selben durch die Gerichte unterstellt wird (mit Ausnahmen). 695
anderen Gebieten der freiwilligen Gerichtsbarkeit. 698 In diesen Fällen ist vorauszuset-
zen, dass die ausländische Behörde, welche hierbei entscheidet, das entsprechende Ver-
fahren abgeschlossen hat. 699 Das Erfordernis der Endgültigkeit bzw der Rechtskraft einer
ausländischen Entscheidung resultiert aus der Überlegung heraus, dass im potenziellen
Anerkennungsstaat nicht weiter gehende Wirkungen eintreten sollen, als dies im Ur-
sprungsstaat der Fall ist. 700
5.24 Umstritten ist die Frage, ob auch ausländische Maßnahmen des einstweiligen Rechts-
schutzes im Licht der „Endgültigkeit" anerkannt und vollstreckt werden können. Wäh-
rend dies etwa für das chIPRG fraglich und grundsätzlich eher zu verneinen ist, ist die
Anordnung vorsorglicher Maßnahmen gern dem europäischen Recht anerkenn- und
vollstreckbar (Ausnahme: sogenannte superprovisorische Maßnahmen, in deren Rahmen
die Gegenpartei nicht gehört wird). 701 Für das liechtensteinische Recht ist davon auszu-
gehen, dass Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes, die aus dem Ausland stam-
men, im Inland keine Wirkung entfalten können. 702 Diese Rechtslage ergibt sich für
Österreich und die Schweiz explizit aus den Abkommen. 703
mit Österreich und der Schweiz; Art 54 lit d E0. 708 Schutzgegenstand ist danach der ma-
terielle ordre public des Zweitstaats. Eine Anerkennung der ausländischen Entscheidung
ist zu versagen, wenn der Inhalt (das Ergebnis) der Entscheidung und damit deren Aner-
kennung in unerträglicher Weise ge~en die grundlegenden Rechts- und Sittenauffassun-
gen des Inlands verstoßen würden. 7 9 Eine Verletzung fundamentaler Rechtsauffassungen
liegt namentlich vor, wenn ausländische Gerichte das Prinzip pacta sunt servanda oder den
Grundsatz von Treu und Glauben missachten. Ebenso nicht anerkennbar sind diskrimi-
nierende Entscheidungen, etwa aus Gründen der Volks- oder Religionszugehörigkeit.
714 Gleich für ausländische Schiedssprüche; vgl ~ 631 Abs I ZPO: OGH 08 EX.2016.839 LES 2017,
173.
715 Art 52- 57 EO; vgl Mähr, Internationales Zivilprozessrecht 278 ff; M. Frick, Anerkennung
428 ff.
716 Vgl dazu auch oben Rz 5.4.
717 OGH 08 EX.2016.839 LES 2017, 173. Zu Besonderheiten nach dem AussStrG vgl unten Rz 5.36.
718 OGH 08 EX.2016.839 LES 2017, 173, 177 (iZm der Anerkennung eines ausländischen Schieds-
spruchs).
719 Vgl Art 4 Abs 2 des Abkommens mit Österreich: .,Die Zuständigkeit und das Verfahren für die
Zwangsvollstreckung bestimmen sich nach dem Recht des Staats, in dem die Vollstreckung
beantragt wird.u Ebenso Art 4 Abs 2 des Abkommens mit der Schweiz.
720 Zu Besonderheiten des AussStrG vgl Rz 5.35ff.
721 OGH 9 Cg 165/2000-38 LES 2003, 29.
722 überdies können sie ggf in einem anderen Zweitstaat (außerhalb Liechtensteins) anerkannt
werden, bspw in einem LugÜ-Vertragsstaat.
723 Grundlegend OGH 9 Cg 165/2000-38 LES 2003, 29; M. Frick, liechtenstein-journal 4/2010, 110;
ausf zu den Besonderheiten nach liechtensteinischem Recht Mähr, Internationales Zivilpro-
zessrecht 293 ff.
zustande gekommen - als Beweisurkunde betrachtet wird, kann der Gläubiger in einem
Schuldentrieb- 724 bzw Rechtsbotsverfahren 725 gegen den Schuldner einen Zahlbefehl er-
wirken. Bei darauf erhobenem Widerspruch bzw Rechtsvorschlag kann der Gläubiger
Rechtsöffnung beantragen. Diese ist lediglich eine provisorische. Erhält der Gläubiger
sie, kann der Schuldner gern Art 53 RSO binnen vierzehn Tagen die Aberkennungsklage
einbringen. Wird keine solche Klage erhoben, bekommt der Gläubiger einen vollstreck-
baren Titel. Gleiches gilt. wenn die Aberkennungsklage rechtskräftig abgewiesen wird. 726
Der Rechtsöffnungsentscheid (gern Art 51 RSO) spricht sich nicht über den materiellen 5.34
Bestand oder Nichtbestand einer Forderung gestützt auf das ausländische Urteil aus. Er
hat rein vollstreckungsrechtlichen Charakter. Immerhin erstreckt sich seine Wirkung auf
das Schuldentrieb- bzw Rechtsbotsverfahren, in welchem die Rechtsöffnung erteilt
wird. Und je nach Ausgang der Aberkennungsklage gelangt der Gläubiger schließlich
doch zu einem vollstreckbaren Titel. 727
V. Partielle Anerkennung
A. Ausserstreitgesetz
Besondere Anerkennungsregelungen enthält das Ausserstreitgesetz. 728 Die bezüglichen 5.35
Vorschriften erleichtern die Anerkennung ausländischer Judikate und Titel in einzelnen
Bereichen des Personen-, Familien- und Erbrechts. Sie gehen dem allgemeinen Anerken-
nungssystem vor und verzichten dem Grundsatz nach auf das Gegenrechtserfordernis.
Art 91 a ff AussStrG sehen die Anerkennung ausländischer Entscheidungen über die 5.36
Annahme an Kindes statt vor. Der Grundsatz der Anerkennung ist in Art 91 a Abs 1
Satz 1 AussStrG enthalten: .. Eine ausländische Entscheidung über die Annahme an Kin-
des statt wird in Liechtenstein anerkannt, wenn sie rechtskräftig ist und kein Grund zur
Verweigerung der Anerkennung vorliegt." Eine Anerkennung ist dann zu versagen, wenn
ein Verweigerungsgrund vorliegt: Art 91 a Abs 2 AussStrG. Dabei folgt das Gesetz weit-
gehend dem Konzept der Verweigerungsgründe im Allgemeinen. 729 Eine Anerkennung
darf nicht dem Kindeswohl oder dem inländischen ordre public widersprechen; das recht-
liehe Gehör muss gewahrt sein; 730 keine Verletzuni des Prinzips res iudicata. Was das
Erfordernis der indirekten Zuständigkeit betrifft,' 31 wird diese der ausländischen Be-
hörde nur abgesprochen, wenn sie „bei Anwendung liechtensteinischen Rechts interna-
tional nicht zuständig gewesen wäre" (Art 91 a Abs 2 lit d AussStrG). In einem solchen
Fall wird offensichtlich davon ausgegangen, dass dann die Zuständigkeit Liechtensteins
vorginge. Art 91 b AussStrG regelt das Verfahren der Anerkennung. Diese wird grund-
sätzlich in einem selbstständigen Verfahren vor dem LG durchgeführt (Art 91 b Abs 1
AussStrG). Zulässig ist aber auch eine vorfrageweise Entscheidung. 732
5.37 Gleichlautende Bestimmungen wie für die Adoption enthalten die Art 97ff AussStrG zur
Anerkennung ausländischer Entscheidungen über den Bestand der Ehe, insb über
Trennung, Ungültigerklärung oder Scheidung einer Ehe. Zuständig für die Anerkennung
ist die Regierung, wobei die Anerkennung in einem selbstständigen Verfahren (vor dem
LG) vorbehalten bleibt: Art 97 Abs 2 AussStrG. 733
5.38 Weitere Vorschriften enthält das AussStrG in Art 112ff für die Vollstreckbarerklärung
ausländischer gerichtlicher Entscheidungen über die Regelung der Obsorge und das
Recht auf persönlichen Kontakt. Eine ausländische Entscheidung kann nur vollstreckt
werden, wenn sie „vom Gericht für Liechtenstein für vollstreckbar erklärt" wurde:
Art 112 Abs l Satz l AussStrG. Eine besondere Verfahrensbestimmung enthält Art 114
Abs 4 AussStrG für den Fall, dass die ausländische Entscheidung nach den Vorschriften
des Ursprungsstaats noch nicht rechtskräftig ist.
5.39 Vorbehalten sind für alle Fälle völkerrechtliche Verträge. 734
5.40 Eine besondere Bestimmung enthält Art 150 AussStrG für ein Verlassenschaftsverfah-
ren, wenn über im Inland gelegenes bewegliches Vermögen nicht abzuhandeln ist (§ 54
JN). Hier findet betreffend Ausfolgung von Vermögen an das Ausland - unter Aufsicht
des LG - ein spezielles Rechtshilfeverfahren statt.
2. Prozessfähigkeit
Die Prozessfähigkeit von „Ausländern" ist gern § 3 ZPO grundsätzlich alternativ anzu- 5.42
knüpfen. Mangelt einem ausländischen Staatsangehörigen „nach dem Rechte seines
Landes die Prozessfähigkeit" (§ 3 ZPO), ist er vor inländischen Gerichten dennoch als
prozessfähig zu betrachten, wenn ihm nach liechtensteinischem Recht die Prozessfähig-
keit zukommt.
Die alternative Anknüpfung gilt allerdings nicht unbeschränkt. So ist die Bestimmung 5.43
des § 3 ZPO iVm jener des Art 12 Abs 1 IPRG „als Verweisung auf das Internationale
Privatrecht und damit auf die Geschäftsfähigkeit (Prozessfähigkeit) nach dem Heimat-
recht aufzufassen." 736 Das führt dazu, dass ein Ausländer, der durch die Behörden seines
Heimatstaats ganz oder teilweise entmündigt worden ist, auch nach liechtensteinischem
Prozessrecht grundsätzlich als prozessunfähig oder beschränkt prozessfähig zu gelten
hat. 737 Die Schutzmaßnahmen der ausländischen (Vormundschafts-)Behörden sind in
Liechtenstein anzuerkennen und richten sich „ausschließlich" (so der OGH) nach dem
ausländischen Sach- und Prozessrecht. - Es wird auch hier ersichtlich, dass durch IPR
(mit) bedingte Verweisungen auf ein fremdes Recht Anordnungen des inländischen Ver-
fahrensrechts - einschließlich einer Beachtung des grundsätzlich restriktiven liechtenstei-
nischen Anerkennungs- und Vollstreckungsrechts - punktuell relativieren oder gar ob-
738
solet zu machen vermögen.
735 OGH 03 CG.2016.264. Hervorzuheben ist immerhin, dass der Vergleich und dessen Auslegung
- als Gegenstand der rechtlichen Beurteilung durch die Liechtensteiner Gerichte - unstreitig
dem dt Schuldrecht unterstanden. Dazu der OGH (Erw 8.2.1 }: .,Mit dem strittigen Vergleich
als von der ursprünglichen vertraglichen Beziehung abhängiges Rechtsgeschäft wurde dieser
Rechtsstreit erledigt, weshalb gern Art 49 lPRG auch für dessen Auslegung die dt Rechtslage zu
beachten ist. Davon sind erkennbar auch die Parteien und Vorinstanzen ausgegangen, weshalb
sich weitere Ausführungen dazu erübrigen."
736 OGH 1 Cg 2002.310 LES 2006, 46, Erw 11.2.2.
737 Anders verhielte es sich nach dem OGH, .,wenn die Zuständigkeit liechtensteinischer Gerichte
für vormundschaftsrechtliche Maßnahmen hinsichtlich eines Ausländers gegeben wäre" (OGH
1 Cg 2002.310 LES 2006, 46, Erw 11.2.2.).
738 Vgl insoweit auch das AussStrG oben Rz 5.35 ff.
739 Vgl oben Rz 5.32 ff.
740 StGH 2017/48 LES 2018, 2; dazu Glosse von König, LJZ 2018, 31.
lerhaft oder mangelhaft sind, kann nach Auffassung des OGH nur Gegenstand des in-
ländischen Rechtfertigungsverfahrens, nicht des Provisorialverfahrens sein.
5.45 Allerdings sind die ausländischen Verfahren und Entscheide - so der StGH 741 - auf ein
Minimum eingehaltener rechtsstaatlicher Prinzipien, insb des rechtlichen Gehörs, zu
überprüfen. Maßstab hierfür bildet der inländische ordre public.
741 StGH 2017/48 LES 2018, 2; krit König, LJZ 2018, 31.
Übersicht
Rz
1. Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1
A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1
B. Begriff der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2
1. Formeller Parteibegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2
2. Materieller Parteibegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3
C. Bezeichnung der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5
D. Bedeutung des Parteibegriffs und der Parteibezeichnung . . . . . . . . 6.6
E. Berichtigung der Parteienbezeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.9
F. Parteiwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.19
II. Streitgenossen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.32
A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.32
B. Arten der Streitgenossenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.33
1. Materielle Streitgenossenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.34
a) Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.34
b) Beispiele aus der Rsp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.39
c) Auswirkungen einer materiellen Streitgenossenschaft auf den
Zivilprozess im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.41
2. Formelle Streitgenossenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.46
3. Gesetzliche Streitgenossenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.51
4. Einheitliche Streitpartei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.53
C. Allgemeine Wirkungen von Prozesshandlungen der Streitgenossen
und einer einheitlichen Streitpartei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.58
1. Parteien
A. Allgemeines
Das zivilprozessuale Verfahren ist dadurch gekennzeichnet, dass sich vor Gericht auf 6.1
zwei Seiten je eine oder auch mehrere Parteien gegenüberstehen. Es handelt sich also
742
dabei um ein sog „Zweiparteiensystem". Dieser Begriff ist deshalb unscharf, weil an
einem Zivilprozess auch mehr als zwei Parteien beteiligt sein können. Im Kern bringt
dieser Begriff nur zum Ausdruck, dass einander im Zivilprozess zwei Seiten (Kläger
und Beklagter) kontradiktorisch gegenüberstehen müssen, wobei auf einer Seite auch
jeweils mehr als eine Person stehen kann. Mehrere auf der einen oder der anderen Seite
des Verfahrens auftretende Parteien werden als Streitgenossen bezeichnet.
2. Materieller Parteibegriff
6.3 Der materielle Parteibegriff ist sohin dem Zivilprozess fremd. Art 2 AussStrG, der als
Parteien in Abs l lit a und b den Antragsteller und den vom Antragsteller als Antrags-
gegner oder sonst als Partei Bezeichneten kennt(=§ 2 Abs l Z 1 und 2 öAußStrG), nor-
miert hingegen in Abs 1 lit c (= § 2 Abs 1 Z 3 öAußStrG) einen materiellen Parteibegriff,
wonach jede Person, soweit ihre rechtlich geschützte Stellung durch die begehrte oder
vom Gericht in Aussicht genommene Entscheidung oder durch eine sonstige gerichtliche
Tätigkeit unmittelbar beeinflusst würde, als Partei zu qualifizieren ist. Während also beim
formellen Parteibegriff an rein prozessuale Kriterien angeknüpft wird, kommt es beim
materiellen Parteibegriff in erster Linie auf die materiell-rechtliche Stellung der betroffe-
nen Personen an.
6.4 Am Rande sei noch vermerkt, dass Art 2 Abs 1 lit d AussStrG (= § 2 Abs 1 Z 4
öAußStrG) auch noch jene Personen oder Stellen als Parteien bezeichnet, die aufgrund
gesetzlicher Vorschriften in das Verfahren einzubeziehen sind.
743 OGH 07 CG.2016.8; 02 CG. 2012.455 GE 2014, 174; 02 CG.2014.294 GE 2016, 87.
744 OGH 05 C.289/86-63 LES 1992, 111.
745 RIS-Justiz RS0035099.
746 RIS-Justiz RS0035060.
747 öOGH 2 Ob 213/0Sz Zak 2009, 276; 14. 1. 2016, 6 Ob 228/ISw; vgl RIS-Justiz RS0I02102.
6.8 Von der Frage, wer Partei ist, muss unterschieden werden, ob diese auch richtig bezeich-
net, ob sie parteifähig, ob sie prozessfähig bzw ordnungsgemäß vertreten ist und ob sie
auch in materiell-rechtlicher Hinsicht zu Recht klagt (Aktivlegitimation) oder geklagt
wird (Passivlegitimation). Diese zwei letzten Punkte (Oberbegriff Sachlegitimation,
Rechtszuständigkeit) sind nicht von Amts wegen, sondern nur über Einwendung zu prü-
fen. Unter Prozesslegitimation hingegen wird eine nicht notwendig mit der materiellen
Sachlegitimation zusammenfallende prozessuale Befugnis, in eifienem Namen als Kläger
(oder Beklagter) aufzutreten, verstanden (Prozessstandschaft).7 8
6.10 Es ist auch in Liechtenstein anerkannt, dass die Richtigstellung des Namens oder der
Bezeichnung der beklagten Partei (oder des Antragsgegners etwa im Exekutionsverfah-
ren) jedenfalls dann keine (subjektive) Klagsänderung darstellt, wenn aus der Klage
oder dem Antrag in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise hervorgeht, welches
Rechtssubjekt als Verfahrensgegner belangt werden sollte und dass dieses nur unrichtig
bezeichnet wurde. Früher wurde in Liechtenstein dazu auch die Ansicht vertreten, dass
§ 243 ZPO anders als die Bestimmung des § 235 Abs 5 öZPO eine amtswegige Berichti-
gung der Parteienbezeichnung nicht vorsieht, weshalb den Parteien ein entsprechender
Verbesserungsauftrag zu erteilen sei. 751 Nach der aktuellen Rechtslage ist aber - wie er-
wähnt - eine solche Berichtigung der Parteibezeichnung auch im liechtensteinischen Zi-
752
vilprozess entweder auf Antrag oder eben von Amts wegen wahrzunehmen.
6.11 Eine Richtigstellung der Parteibezeichnung ist nur zulässig, wenn die Partei unrichtig
bezeichnet wurde, nicht aber, wenn ein unrichtiges Rechtssubjekt, allenfalls unter unge-
nauer Bezeichnung, geklagt wurde. 753 Eine Berichtigung ist allerdings ausgeschlossen,
748 Fucik in Rechberger!Klicka, ZPO 5 Vor§ l Rz 2 und zur Prozessstandschaft im Detail Rz 4; vgl
OGH 04 CG.198/2000-124 LES 2002, 302 (LS ld).
749 Rechberger!Klicka in Rechberger/K/icka, ZPO' § 235 Rz 10.
750 Vgl OGH EX.2001.6676- 12 LES 2003, 21; E 357/84-11 LES 1986, 38; 05 C.289/86-63 LES 1992,
111.
751 OGH EX.2001.6676-12 LES 2003, 21.
752 Vgl zur alten Rechtslage OGH E 357/84-11 LES 1986, 38; 05 C.289/86-63 LES 1992, 111.
753 RIS-Justiz RS0039741.
wenn eine Partei trotz Erörterung der Unrichtigkeit der Parteibezeichnung auf der ge-
wählten Bezeichnung beharrt. Besteht aber die klagende Partei bloß vorläufig auf der
ursprünglichen Bezeichnung, so kann sie nach Erörterung die Berichtigung der Parteien-
bezeichnung noch beantragen. 754
Eine unrichtige Bezeichnung einer Partei schadet so lange nicht, als erkennbar ist, wer 6.12
tatsächlich als Partei in das Verfahren involviert sein soll. Diesfalls liegt ein berichti-
gungsfähiger Mangel vor, der nicht zum Fehlen der Passivlegitimation führt. 755 Bspw
kann in einem Zivilprozess eine Konkursmasse als Rechtssubjekt, also als Partei, auf-
treten. In deren Rechtssphäre treten die Wirkungen eines Zivilprozesses ein; dieser sind
die Prozesshandlungen des Masseverwalters zuzurechnen. Es ist daher nicht der Masse-
verwalter Partei in dem die Konkursmasse betreffenden Verfahren. Vielmehr ist dieser
ein vom Konkursgericht eingesetztes Organ bzw ein gesetzlicher Vertreter für die Kon-
kursmasse. Die übliche Bezeichnung im Prozess lautet aber: ,.XY als Masseverwalter im
Konkurs über das Vermögen des Gemeinschuldners NN". Im österr Rechtsbereich wer-
den verschiedene Theorien über die dogmatische Einordnung der Rechtsstellung des In-
solvenzverwalters im Zivilprozess und damit auch der Insolvenzmasse vertreten. Zu nen-
nen sind hier die Amtstheorie, die Vertretertheorie sowie die (herrschende) Organtheo-
rie. Lehre und Rsp sind dazu nicht einhellig.7 56 In jedem Fall ist auch im österr Zivil-
prozess die Bezeichnung der betreffenden Partei dahin richtig zu stellen, dass deren
Bezeichnung lautet: .,XY als Masseverwalter (Insolvenzverwalter) im Insolvenzverfahren
des NN". Diese Richtigstellung der Parteienbezeichnung ist in jedem Rechtsmittelsta-
dium und damit auch noch im Revisionsverfahren vorzunehmen. 757
Generell ist die Berichtigung der Parteibezeichnung in den Fällen der Gesamtrechtsnach- 6.13
folge möglich. So ist die Richtigstellung vom Erblasser auf die Verlassenschaft ebenso
zulässig wie die Richtigstellung von der Verlassenschaft auf die Erben. Auch in diesem
Fall hat die Richtigstellung in jeder Lage des Verfahrens auch von Amts wegen zu erfol-
gen. Sie ist daher noch im Revisionsverfahren, aber auch noch nach Rechtskraft der Ent-
scheidung zulässig. 758 Bei Tod einer anwaltlich vertretenen Prozesspartei während des
Verfahrens ist bloß die Bezeichnung der betreffenden Prozesspartei durch die Beifügung
der Worte „Verlassenschaft nach dem verstorbenen XY" zu ändern. 759
Die Existenz von zwei nach der Bezeichnung in Betracht kommenden Rechtssubjekten 6.14
spricht bei einem Austausch der betreffenden Partei zunächst für einen an sich unzu-
lässigen Parteiwechsel, während die Existenz nur eines Rechtssubjekts auf eine bloße Be-
richtigung der Parteienbezeichnung hinweist. Dabei schadet die Einbeziehung eines an-
deren Rechtssubjekts (Parteiwechsel) dann nicht, wenn die Parteienbezeichnung auf
diejenige Person richtig gestellt wird, von der oder gegen die nach dem Inhalt der Klage
in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise das Klagebegehren erhoben worden ist. 760
Die Richtigstellung der Parteienbezeichnung findet aber dort ihre Grenze, wo es sich um
den Mangel der Sachlegitimation handelt. Dieser kann nicht im Wege der Berichtigung
beseitigt werden. 761
6.15 Auch ein unrichtig als Beklagter Bezeichneter muss sich aber auf das Verfahren einlas-
sen, um die Erlassung eines Versäumnisurteils zu vermeiden, weshalb ihm der Kläger,
dem die Nichtigkeit des bisherigen mit der unrichtigen Partei geführten Verfahrens vor-
zuwerfen ist, insoweit zum Kostenersatz verpflichtet ist. Für Prozesshandlungen, die sich
allein auf die Berichtigung der Parteienbezeichnung beziehen, kommt allerdings ein Kos-
tenersatz an den unrichtigen Beklagten nur im Rahmen eines kostenrechtlich gesondert
zu beurteilenden Zwischenstreits in Betracht. 762
6.16 Eine Änderung der Parteienbezeichnung ist im Allgemeinen ausgeschlossen, wenn im
Berichtigungsweg ein bestehendes und beklagtes Rechtssubjekt gegen ein anderes beste-
hendes (nicht beklagtes) Rechtssubjekt ausgetauscht werden soll. Dies trifft freilich bei
einer Gesamtrechtsnachfolge nicht zu, weshalb in diesen Fällen eine Berichtigung der
Parteienbezeichnung zulässig ist. 763 Es unterliegt nämlich auch die Verfahrensstellung in
764
einem anhängigen Gerichtsverfahren der (partiellen) Gesamtrechtsnachfolge.
6.17 Wie schon der Gesetzestext des § 235 Abs 5 ZPO besagt, ist die Berichtigung der Par-
teienbezeichnung auch noch im Rechtsmittelverfahren, sohin auch im Revisionsverfah-
ren zulässig. 765 Darüber hinaus lässt die Rsp in Österreich die Berichtigung der Parteien-
bezeichnung auch noch im Verfahren zur Aufhebung der Vollstreckbarkeitsbestätigung
zu 766 (vgl § 7 Abs 3, § 54 Abs 2, § 54 b Abs 2 Z 1 öEO; Art 33 Abs 2 EO). Auch im Exe-
kutionsverfahren wird die Berichtigung der Parteibezeichnung in analoger Anwendung
des § 235 Abs 5 öZPO als zulässig angesehen, sie ist jedoch auf bloß geringe Abweichun-
gen beschränkt und jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn eine Änderung der Parteibe-
zeichnung auf eine im Exekutionstitel nicht enthaltene Bezeichnung des Schuldners an-
gestrebt wird. Sohin ist die Berichtigung der Parteienbezeichnung auch noch nach
767
Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung möglich.
6.18 Da Rekurse gegen die im Berufungsverfahren vom Berufungsgericht gefassten Beschlüsse
nur in den in § 487 Z 1, 2 und 3 ZPO genannten Fällen zulässig sind, ist ua eine Ent-
scheidun~ des Berufungsgerichts über die Richtigstellung der Parteienbezeichnung unan-
fechtbar. 68 In diese Richtun§ geht auch die Rsp des öOGH zur ähnlichen Bestimmung
des§ 519 Abs 1 Z 1 öZPO. 76
F. Parteiwechsel
Bei einem Parteiwechsel löst sich eine an einem Zivilprozess beteiligte Partei aus der 6.19
zivilprozessualen Rechtsbeziehung zur Gegenpartei, während an ihrer Stelle eine andere
Person die Parteistellung einnimmt. Dies kann auf eine Gesamt- oder eine Einzelrechts-
nachfolge zurückzuführen sein, die ihre Grundlage im Gesetz oder einem individuellen
Rechtsakt haben können. Die Normen der Klagsänderung sind auf die Parteiänderung
nicht anwendbar. 770 Der Parteiwechsel ist nämlich trotz Änderung des Prozessrechtsver-
hältnisses keine Klagsänderung, da letztere immer nur den Inhalt des Rechtsschutzan-
trags, also den rechtserheblichen Sachverhalt und das daraus abgeleitete Begehren betrifft.
Ein Parteiwechsel ist - abgesehen von den im Gesetz ausdrücklich vorgesehenen Fällen 6.20
(dazu unten) - auch mit Zustimmung des Prozessgegners, also auch bei Einverständnis
der Parteien, unzulässig. 771 Allerdings hat der öOGH auch schon ausgesprochen, dass in
solchen Fällen, in denen ein von allen Beteiligten gewollter Parteiwechsel nach deren
eigenem Vorbringen - so wie in den vom Gesetz ausdrücklich geregelten Fällen - der
Anpassung des Prozessrechtsverhältnisses an die materielle Rechtslage dient, es nicht ein-
zusehen wäre, weshalb die von allen Beteiligten gewünschte Fortsetzung des Verfahrens
mit den „richtigen" Parteien entgegen der Dispositionsmaxime des Zivilprozesses aus
rein formalen Gründen unzulässig sein sollte. 77
Die Prozessordnung beschränkt den Parteiwechsel bewusst ganz streng, damit die 6.21
Identität des Streitfalls gewahrt bleibt und der Rechtsstreit möglichst rasch und endgültig
entschieden werden kann. Schrankenloser Parteiwechsel müsste zu laufender Prozessver-
eitelung (durch Ausscheiden des wahren Verpflichteten) und zu größter Rechtsunsicher-
heit führen. Der Parteiwechsel ist also nur in den gesetzlich bestimmten Ausnahme-
fällen zulässig und soll lediglich dort stattfinden, wo eine Fortsetzung des Prozesses ge-
gen die ursprüngliche Partei ausgeschlossen ist (bei Tod oder Konkurs einer Partei) oder
wo zufolge der materiell-rechtlichen Nahebeziehung und der Zustimmung aller Beteilig-
ten in bestimmten Fällen ein Missbrauch ausgeschlossen erscheint und andererseits die
Ergebnisse des bisher!~en Verfahrens nicht für den Rechtsstreit gegen die neue Partei
verlorengehen sollen.' 3 Die ZPO schränkt daher nach ihrer grundsätzlichen Struktur
einen Parteiwechsel während des Prozesses ein. Ein solcher ist nur so weit zulässig, als
ihn eine besondere gesetzliche Bestimmung zulässt. Dies ist etwa beim Eintritt des Erben
an die Stelle der verstorbenen Partei, bei der Konkurseröffnung über eine Partei und
beim Eintritt des Masseverwalters in den Prozess sowie in anderen in der ZPO geregelten
774
und behandelten Konstellationen der Fall.
Ein Zweck des Verbots einer Parteiänderung ist der Schutz des in das Verfahren Ge- 6.22
zogenen davor, dass in seiner Abwesenheit gewonnene Verfahrensergebnisse verwendet
werden, obwohl er nicht in ausreichendem Maß Gelegenheit zur Wahrnehmung seiner
Parteirechte hatte. Ein solcher Schutz ist aber nicht erforderlich, wenn bereits vor Ein-
gehen in das Verfahren eine Richtigstellung erfolgt und das Verfahren zur Gänze mit der
richtigen Partei abgeführt wird. 775
6.23 Folgende Fälle des zulässigen Parteiwechsels sind in der ZPO ausdrücklich genannt:
• Nach § 19 Abs 2 ZPO (= § 19 Abs 2 öZPO) kann der Intervenient mit Einwilligung
beider Prozessparteien auch anstelle desjenigen, dem er beigetreten ist, in den Rechts-
streit als Partei eintreten. Dieser Eintritt stellt eine Rechtsnachfolge kraft Prozessrechts
dar.776
• Laut§ 23 Abs I ZPO (= § 23 Abs l öZPO) ist es dem Auktor, der das vom Beklagten
behauptete Verhältnis anerkennt, möglich, mit Zustimmung des Beklagten an dessen
Stelle als Partei in den Rechtsstreit einzutreten. Die Zustimmung des Klägers ist hierzu
nur insoweit erforderlich, als dieser Ansprüche geltend macht, welche durch das zwi-
schen dem Auktor und dem Beklagten bestehende Vertretungsverhältnis nicht berührt
werden.
• Ein weiterer Fall dieser prozessual zulässigen Sonderkonstellation findet sich in § 242
ZPO (= § 234 öZPO). Demnach hat die Veräußerung einer in Streit verfangenen Sa-
che oder Forderung auf den Prozess keinen Einfluss. Der Erwerber ist nicht berechtigt,
ohne Zustimmung des Gegners als Hauptpartei in den Prozess einzutreten.
6.24 Die nach § 242 ZPO erforderliche Zustimmung des Gegners zum Eintritt des Erwerbers
der streitverfangenen Sache muss als Parteierklärung in der vorgesehenen Form erfolgen;
eine „Zustimmung" durch eine vorübergehende Nichtäußerung des Prozessgegners iS
eines „Verschweigens" scheidet aus. Hat der Gegner die Zustimmung zum Eintritt des
Erwerbers als Hauptpartei in den Prozess nicht prozessual wirksam erteilt, dann hat das
Gericht die Beitrittserklärung des (partiellen) Einzelrechtsnachfolgers zurückzuweisen. 777
6.25 Unter „Veräußerung" iS dieser Gesetzesstelle wird jeder Wechsel in der Rechtszuständig-
keit an der vom Klagebegehren betroffenen Sache oder Forderung außerhalb einer Ge-
samtrechtsnachfolge verstanden. Die zitierte Bestimmung gilt für jede Art der Einzel-
rechtsnachfolge kraft Vertrags oder Gesetzes. Streitverfangen ist eine Sache oder Forde-
rung dann, wenn die materielle Sachbefugnis (Sachlegitimation) des Klägers oder des
Beklagten auf den Rechtsbeziehungen zu dieser Sache beruht, gleichviel, ob sich das Sach-
antragsbegehren schon in seinem unmittelbaren Wortlaut auf diese Sache erstreckt. Die
,,Sache" muss nach materiellem Recht die Eignung haben, auf den Erwerber überzugehen;
es muss ihn also eine identische Verpflichtung wie den Veräußerer treffen oder ihm ein
identischer Anspruch zustehen können, weil eine Rechtsnachfolge nur dann in Betracht
kommt. § 234 öZPO (= § 242 ZPO) dient einerseits der Erhaltung der freien Verfü-
gungsmöglichkeit des Klägers über den eingeklagten Anspruch, andererseits soll die
Norm ihrer Intention nach verhindern, dass sich eine Partei durch Veräußerung des
Streitgegenstands ihrer Sachlegitimation entledigt, um auf diese Weise einen Anspruch
des Gegners scheitern zu lassen. Insoweit ist die erörterte Bestimmung (auch) eine pro-
zessuale Schutzvorschrift zu Gunsten des Gegners. Nach der herrschenden lrrelevanz-
theorie bildet§ 234 öZPO (= § 242 ZPO) insofern eine Ausnahme gegenüber§ 406 öZPO
(= § 406 ZPO), als für die Frage der Aktiv- und der Passivlegitimation der Zeitpunkt der
Streitanhängigkeit entscheidet. Für die anderen Entscheidungsgrundlagen bleibt es dage-
gen bei der Maßgeblichkeit des Zeitpunkts des Schlusses der Verhandlung der Tatsachen-
instanz. Diese Leitlinien sind auch für eine Teilveräußerung einer streitverfangenen Sache
maßgebend, weil aus§ 234 öZPO (= § 242 ZPO) insoweit keine Differenzierung ableitbar
ist. Diese Bestimmungen sind daher ihrem Zweck nach auch auf die Teilveräußerung
einer streitverfangenen Sache anzuwenden. Es wird dadurch verhindert, dass eine Partei
wegen einer (Einzel-)Rechtsnachfolge nach Streitanhängigkeit die Sachlegitimation ver-
liert und ein zweiter Prozess mit dem Rechtsnachfolger geführt werden muss. Im Kontext
damit ist die Erstreckung der Wirkungen der materiellen Rechtskraft auf Einzelrechts-
nachfolger eine Funktion des Rechtsübergangs an sich. Sie bedarf keines weiteren kon-
stitutiven Akts. Soweit die Rechtskraft eines Urteils unmittelbar für und gegen die
Rechtsnachfolger der Prozessparteien wirkt, ist damit auch die mangelnde Identität zwi-
schen den Parteien und ihren Sukzessoren aufgehoben. Daher löst eine neue Klage des
Rechtsnachfolgers oder gegen diesen im Verhältnis zur anderen Partei des Vorprozesses
auch die Bindungswirkung der materiellen Rechtskraft aus, soweit der Klagegrund oder
der Einwendungsgrund innerhalb der objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft
liegt.778
Zu § 234 öZPO ist in der österr Judikatur nach wie vor die Irrelevanztheorie herr- 6.26
schend. 779 Der OGH vertrat ebenfalls lange Zeit die sog Irrelevanztheorie. In der neueren
Judikatur hat der OGH allerdings angekündigt, diese Theorie im Licht der sie überwie-
gend ablehnenden neueren österr Lehre 780 zu überprüfen. Dazu wurde insb auf den Ge-
sichtspunkt verwiesen, dass die aus der Irrelevanztheorie resultierende rechtliche Konse-
quenz, wonach der Erwerber einer Klagsforderung das Ergebnis des Prozesses zwischen
den ursprünglichen Prozessparteien gegen sich gelten lassen muss und sich die Rechts-
kraft der Entscheidung auf ihn erstreckt, auch im Licht der jüngsten Rsp des OGH zum
Verfahrensgrundsatz des rechtlichen Gehörs sehr problematisch erscheine. 781 Eine Ent-
scheidung, in der dieser Gedanke umgesetzt wurde, ist bislang vom OGH nicht erlassen
worden.
§ 234 öZPO (und damit§ 242 ZPO) ist eine Konsequenz des formellen Parteibegriffs und 6.27
des Prozessrechtsverhältnisses. Nach hM kann diese Bestimmung also nur dort angewen-
det werden, wo das Prozessrechtsverhältnis in seiner typischen Form vorliegt, daher nur
im streitigen Verfahren. Dort gilt diese Bestimmung aber unabhängig von der Art des
Klagebegehrens (Leistungs-, Feststellungs- oder Rechtsgestaltungsbegehren). Nach bis-
lang hM soll § 234 öZPO auch im Exekutionsverfahren unanwendbar sein, weil § 234
öZPO nicht durch § 78 Abs 1 öEO (= Art 51 EO) in das Exekutionsverfahren mitüber-
nommen worden sei. Eine analoge Anwendung dieser Bestimmung im Außerstreitver-
fahren wurde wegen des dort geltenden materiellen Parteibegriffs überwiegend abge-
lehnt.782 Der öOGH hat die Anwendung des§ 234 öZPO (= § 242 ZPO) nur in bestimm-
ten Außerstreitverfahren - teils ausdrücklich - ausgeschlossen. 783 Dort liegt der Grund
für die Unanwendbarkeit der erörterten Schutzbestimmung gegen die Vereitelung eines
sonst möglichen Verfahrenserfolgs durch eine Verfügung über den Verfahrensgegen-
stand während des Verfahrens darin, dass das Gericht verpflichtet ist, von Amts wegen
alle Personen, deren Rechte durch die Entscheidung betroffen werden, zu jeder Zeit in
das Verfahren einzubeziehen. 784
6.28 Im Konkursverfahren ist § 234 öZPO (= § 242 ZPO) im Wesentlichen nicht anwendbar.
In diesem gilt nämlich der materielle Parteibegriff. Im Fall des Erwerbs einer Forderung
nach Konkurseröffnung tritt der Erwerber grundsätzlich in den Konkursteilnahmean-
spruch des vormaligen Gläubigers ein. Im Konkursverfahren (wie auch im Exekutions-
verfahren) steht nämlich die endgültige (teilweise) Befriedigung des Gläubigers im Vor-
dergrund. Dieser Umstand macht es notwendig, die Rechtsnachfolge auf Gläubigerseite
grundsätzlich als beachtlich anzusehen. 785
6.29 Beim Tod einer Partei treten im Weg der Gesamtrechtsnachfolge deren Nachlass und in
der Folge der oder die Erben anstelle der verstorbenen Person in den Prozess ein. 786 Die
Rechtskraft der Einantwortungsurkunde bewirkt ex lege einen in jeder Lage des Verfah-
rens von Amts wegen zu berücksichtigenden Parteiwechsel, durch den der Erbe (sämt-
liche Erben) anstelle der verstorbenen Prozesspartei in das Verfahren eintritt (eintre-
ten).787 Die auch für dieses prozessuale Verhältnis maßgebliche Rechtsnachfolge wird
im Wesentlichen in § 547 ABGB (= § 547 öABGB) normiert. Daraus ergibt sich die so-
eben erwähnte rechtliche Konsequenz, dass statt der verstorbenen Person als Partei im
Zivilprozess zunächst der ruhende Nachlass und nach der Annahme der Erbschaft der
oder die Erben in den Prozess eintreten. Die Rechtsfolgen des Todes einer Partei wer-
den zivilprozessual in den§§ 155 bis 157 ZPO (im Wesentlichen gleichlautend mit den
§§ 155 bis 157 öZPO) geregelt. Hervorgehoben sei nochmals, dass beim Tod einer an-
waltlich vertretenen Prozesspartei während des Verfahrens bloß die Bezeichnung derbe-
treffenden Prozesspartei durch die Beifügung der Worte „Verlassenschaft nach dem ver-
storbenen XY" zu ändern ist. 788 Das Verfahren wird nicht unterbrochen 789 . Die zitierte
Bestimmung des § 155 ZPO ordnet die Prozessnachfolge des Gesamtrechtsnachfolgers
nicht an, sondern setzt diese voraus. 790
6.30 Für Gesellschaften gilt Folgendes: Die Vollbeendigung einer Gesellschaft wird nicht
schon allein durch die Löschung im Handelsregister (in Österreich: Firmenbuch) be-
wirkt. Diese hat lediglich rein deklarativen Charakter und berührt nicht die zivilprozes-
suale Partei- und Prozessfähigkeit der Gesellschaft. So lange nämlich die Gesellschaft
noch verwertbares und verteilbares Vermögen hat und sohin noch kein Abwicklungs-
bedarf besteht, treten weder Vollbeendigung noch Verlust der Parteifähigkeit ein. Damit
783 Bsp in öOGH 26. 5. 1992, 5 Ob 515/92 mwN aus Lehre und Rsp; 9 Ob 8/16s NZ 2016, 314.
784 öOGH 9 Ob 8/16s NZ 2016, 314; 3 Ob 129/0Sz EvBI 2006/6, 30.
785 öOGH 8 Ob 78/09t EvBI 2010/125, 862; 8 Ob 153/03p ZIK 2004, 131.
786 OGH OS C.289/96-63 LES 1992, 111 (LS I b).
787 RIS-Justiz RS0012287; OGH 5.10.2018, 04 CG.2013.476.
788 RJS-Justiz RS0035686.
789 OGH 2.11.2018, 03 CG.2017.445.
790 StGH 2007/137 GE 2009, 364; vgl dazu Fink in Fasching/Konecny 11/3 3 § ISS ZPO Rz 1. 2.
kommen auch eine Unterbrechunf nach § 155 ZPO (vgl § 155 öZPO) oder eine Klags-
zurückweisung nicht in Betracht. 7 1
Kommt es als Folge des Erbgangs bzw einer sonstigen Gesamtrechtsnachfolge zu einer 6.31
Vereinigung der Klagsforderung mit der - allfälligen - Schuld der beklagten Partei
(Konfusion, Konsolidation), erlischt das klagsgegenständliche Schuldverhältnis grund-
sätzlich automatisch. Diese „Parteienkonfusion" widerspräche dem zivilprozessualen
Grundsatz der Existenz zumindest zweier sich im Prozess gegenüberstehender Parteien
und käme dieser Mangel in seiner Bedeutung dem Fehlen der Parteifähigkeit gleich. 792
II. Streitgenossen
A. Allgemeines
Die ZPO regelt in den §§ 11 bis 16 - im Wesentlichen wortgleich mit §§ l l bis 16 öZPO 6.32
- die „Streitgenossenschaft und Hauptintervention", wobei im Weiteren nur auf die
Streitgenossenschaft näher eingegangen wird. § 11 ZPO weist eingangs ausdrücklich da-
rauf hin, dass es neben der Streitgenossenschaft iS dieser Bestimmung auch noch andere
Fälle der Streitgenossenschaft gibt, die teilweise in Gesetzen außerhalb der ZPO vorge-
sehen sind.
1. Materie! le Streitgenossenschaft
a) Voraussetzungen
Nach § 11 Z I ZPO wird eine Streitgenossenschaft begründet, wenn mehrere Personen 6.34
gemeinschaftlich klagen oder geklagt werden, die in Ansehung des Streitgegenstands in
Rechtsgemeinschaft stehen oder aus demselben tatsächlichen oder rechtlichen Grund
oder solidarisch berechtigt oder verpflichtet sind. Diese Art der Streitgenossenschaft
wird in der Judikatur und Literatur als eigentliche (echte, materielle) Streitgenossenschaft
bezeichnet. Schon aus dem Wortlaut dieser Bestimmung lassen sich drei Gruppen von
materiellen Streitgenossenschaften ableiten, nämlich
• Streitgenossen, die in Ansehung des Streitgegenstands in Rechtsgemeinschaft stehen;
• Streitgenossen, die aus demselben tatsächlichen Grund berechtigt oder verpflichtet
sind;
• Solidarschuldner oder -gläubiger. 793
6.35 Ob eine materielle Streitgenossenschaft vorliegt, ist danach zu beurteilen, ob der rechts-
erzeugende Sachverhalt der Klage derselbe - und damit das streitige Rechtsverhältnis
für alle Kläger oder Sek.Jagten einheitlich ist 794 - oder nur für jeden Streitgenossen ein im
Wesentlichen gleichartiger ist. Die Einwendun~en des Gegners sind daher für die Qua-
lifikation der Streitgenossenschaft unbeachtlich 95 .
6.36 Die materielle Streitgenossenschaft muss mit dem Streitgegenstand „im engeren Sinn"
in Verbindung stehen. Bezieht sich die Rechtsgemeinschaft nur auf den eine Vorfrage
bildenden Sach- oder Rechtsanspruch, reicht dies für die Begründung einer materiellen
796
Streitgenossenschaft nicht hin.
6.37 Eine Berechtigung aus demselben tatsächlichen Grund iS des § 11 Z l ZPO setzt einen
einheitlichen rechtserzeugenden Tatbestand voraus, ohne dass für einen Streitgenossen
noch weitere rechtserzeugende Tatsachen für die Ableitung des Anspruchs hinzutre-
ten.797 Derselbe „tatsächliche Grund" liegt also überall dort vor, wo für alle Streitgenos-
sen ein einheitlicher rechtserzeugender Sachverhalt gegeben ist. Wenn für einen Streit-
genossen sohin noch weitere rechtserzeugende Tatsachen für die Ableitung des An-
spruchs hinzutreten, ist keine materielle Streitgenossenschaft mehr gegeben. Dasselbe
gilt, wenn von vornherein unterschiedliche rechtserzeugende Tatsachen vorliegen. Maß-
geblich für diese Beurteilung sind dabei auch nur diejenigen Tatsachen, die den Klags-
anspruch erzeugen, nicht aber solche, die den entstandenen Anspruch selbst unberührt
lassen. 798
6.38 Eine materielle Streitgenossenschaft liegt ua auch dann vor, wenn die gemeinschaftlich
gek.Jagten Personen in Ansehung des Streitgegenstands solidarisch verpflichtet sind.
Die Rechtsgrundlage der Solidarhaftung ist gleichgültig. Entscheidend sind auch für diese
Beurteilung die Klagsangaben. 799 Das ABGB unterscheidet nicht zwischen echter und
unechter Solidarität. Gesamtschuldverhältnisse können auch stufenweise entstehen (pas-
siv: Schuldbeitritt; aktiv: Zession). Wesentlich für das Vorliegen solidarischer Haftung ist
die Erfüllungsgemeinschaft der Schuldner und das Privileg des Gläubigers, frei entschei-
den zu können, auf welchen seiner Schuldner er greifen will. Ist bspw neben dem An-
spruch auf Schadenersatz aufgrund eines Vertrags ein Dritter deliktisch zum Ersatz des-
selben Schadens verpflichtet, ist Korrealität (vgl§ 891 ABGB = § 891 öABGB) und damit
eine materielle Streitgenossenschaft nach § 11 Z 1 ZPO gegeben. 800
(nur) auf den Bestand der gegen ihn erhobenen Quotenforderung beziehen. 801 Ebenso
sind Miterben, die eine aus dem Nachlass erworbene Forderung gemeinsam einklagen,
materielle Streitgenossen. Dasselbe gilt, wenn eine Forderung gegen die Erben als geteilt
haftende Schuldner geltend gemacht wird. 802 Geht eine Forderung eines Erblassers auf
mehrere Miterben über, so sind diese nach der Einantwortung als Streitgenossen gern
803
§ 11 Z I Fall 2 ZPO anzusehen. Anderes gilt, wenn mehrere Erben eine unteilbare oder
sonst nur durch alle Erben gemeinsam zu erbringende Leistung schulden. 804
Mehrere Miteigentümer können unter gewissen Umständen eine materielle Streitgenes- 6.40
senschaft bilden. 805 Eine solche liegt bspw dann vor, wenn mehrere Kläger als Miteigen-
tümer einen Schadenersatzanspruch daraus geltend machen, dass die Hausverwaltung
eine überhöhte Professionistenabrechnung berücksichtigte. Diesfalls legen nämlich die
Kläger ihrem Begehren die idente Stellung der Hausverwaltung und die unberechtigte
Berücksichtigung der identen Rechnung ihrer Klage zugrunde. Damit ist aber von dem-
selben tatsächlichen Grund iS des § 11 Z I ZPO auszugehen. 806
die Besetzung des Gerichts, die Zulässigkeit von Rechtsmitteln und die Berufungsgründe
relevant.
6.43 Eine vergleichbare Bestimmung fehlt für das liechtensteinische Zivilprozessrecht. Das ist
insoweit teilweise von Bedeutung, als der Streitwert im liechtensteinischen Zivilprozess-
recht nicht für die Besetzung des Gerichts, wohl aber für die Zulässigkeit von Rechts-
mitteln und die Berufungsgründe maßgebend ist. Im Übrigen ist es gerechtfertigt (vgl
insb § 7 ABGB; Art l PGR; Art l SR), die zitierte Bestimmung des § 55 Abs 1 Z 2, Abs 2
und 4 öJN, soweit dies nach den vorstehenden Ausführungen in Betracht kommt, im
liechtensteinischen Zivilprozess sinngemäß anzuwenden und in den jeweiligen Fällen
(Ausnahme Solidarhaftung) eine Zusammenrechnung vorzunehmen. Die Zusammen-
rechnung von Ansprüchen ist im liechtensteinischen Zivilprozessrecht auch für die Qua-
lifikation eines Verfahrens als Bagatellverfahren (Bagatellsache) von Bedeutung. § 535
ZPO normiert für den Betrag von CHF 5.000,- nicht übersteigende Streitgegenstände
das sog Bagatellverfahren. Diese Bestimmungen finden sich in erster Linie in den
§§ 535 bis 540 ZPO. Es werden aber auch in weiteren Bestimmungen der ZPO für das
Bagatellverfahren im Gegensatz zum sonstigen Verfahren abweichende Regeln bestimmt
(vgl § 434 Abs 2, §§ 470, 471 Abs 1, §§ 485, 489 Abs 2 ZPO).
6.44 Gern § 41 Abs 1, § 46 Abs 2 ZPO haften die zum Kostenersatz verpflichteten Parteien
ihrem Gegner dann solidarisch für die diesem zugesprochenen Prozesskosten, wenn sie
nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts solidarisch zu haften haben. Dies ist bei
materiellen Streitgenossen im vorstehenden Sinn der Fall und kann bei solchen auch
gesagt werden, dass die gesamten Verfahrenskosten durch jeden einzelnen Streitgenossen
ungeachtet seiner quotenmäßigen Beteiligung am Klagsgegenstand verursacht wurden.
Diese solidarische Kostenersatzpflicht ist in der Kostenentscheidung explizit auszuspre-
chen. Eines ausdrücklichen Antrags des Kostenansprechers bedarf es dazu nicht; es ge-
nügt das Verzeichnen der Kosten. 808
6.45 § 46 JN kennt den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft. Schon aus dem Wortlaut
dieser Bestimmung erhellt, dass dieser nur für Passivprozesse in Betracht kommt und
nicht auch dann, wenn auf Klagsseite Streitgenossen auftreten. Wenn auch diese Bestim-
mung ganz allgemein von Streitgenossen spricht, gilt sie doch nur für jene Streitgenossen,
die aufgrund ihrer gemeinsamen Mitberechtigung oder Mitverpflichtung aus demselben
tatsächlichen Grund oder wegen einer Rechtsgemeinschaft in Ansehung des Streitgegen-
stands oder wegen einer solidarischen (Berechtigung oder) Verpflichtung gemeinsam ge-
klagt werden können (materielle Streitgenossen nach§ 11 Z l ZPO = § 11 Z 1 öZPO). Bei
der formellen Streitgenossenschaft nach § 11 Z 2 ZPO (= § 11 Z 2 öZPO) wird dagegen
vorausgesetzt, dass das angerufene Gericht für alle Streitgenossen (sowohl sachlich als
auch örtlich) zuständig ist. Da die einheitliche Streitpartei ein Sonderfall der materiellen
Streitgenossenschaft ist, kommt der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft auch bei einer
passiven einheitlichen Streitpartei zur Anwendung. 809 Diese zur österr Rechtslage ent-
wickelten Grundsätze lassen sich weitgehend auf§ 46 JN übertragen.
2. Formelle Streitgenossenschaft
Während § 11 Z l ZPO für eine materielle Streitgenossenschaft einen einheitlichen 6.46
rechtserzeugenden Tatbestand voraussetzt, ohne dass für einen Streitgenossen noch wei-
810
tere rechtserzeugende Tatsachen für die Ableitung des Anspruchs hinzutreten , ist eine
formelle Streitgenossenschaft dann anzunehmen, wenn lediglich gleichartige, auf ei-
nem im Wesentlichen gleichartigen tatsächlichen Grund beruhende Ansprüche iS
des § 11 Z 2 ZPO vorliegen und zugleich die Zuständigkeit des Gerichts hinsichtlich
jedes einzelnen Beklagten begründet ist. Aus dem letzten Halbsatz dieser Bestimmung
lässt sich also ableiten, dass eine Voraussetzung für die Begründung einer formellen
Streitgenossenschaft darin gelegen ist, dass dasselbe Gericht für jeden der einzelnen Be-
klagten zuständig ist. Weitere Voraussetzung ist, dass für die Abhandlung der einzelnen
811
Ansprüche dieselbe Verfahrensart vorgesehen ist.
Eine formelle Streitgenossenschaft wird angenommen, wenn mehrere aus einem Unfall- 6.47
ereignis Geschädigte Ansprüche erheben, 812 oder mehrere Unterhaltsberechtigte Unter-
haltsansprüche geltend machen. 813 Sprechen verschiedene Personen Amtshaftungsan-
sprüche für Schäden an, die sie jeweils selbst durch das rechtswidrige Verhalten von
der Amtshaftung unterfallenden Organen erlitten haben, so liegt ebenfalls eine formelle
Streitgenossenschaft vor. 814 Auch mehrere Pflichtteilsberechtigte sind als formelle Streit-
genossen zu qualifizieren. 815
Soweit bei dieser Beurteilung auf dieselbe Verfahrensart Bedacht zu nehmen ist, kann 6.48
wegen der insoweit gleichen Voraussetzungen auf die Judikatur zu § 227 öZPO (vgl
§ 233 ZPO) zurückgegriffen werden. Im Fall einer bloß wegen der Verschiedenheit der
vorgesehenen Verfahrensarten (bspw einerseits streitiges und andererseits außerstreitiges
Verfahren) unzulässigen Verbindung mehrerer Ansprüche in einer Klage hat demnach
das Prozessgericht erster Instanz von Amts wegen das Verfahren über das in einem be-
sonderen Verfahren zu behandelnde Begehren vom Verfahren über das restliche Begeh-
ren zu trennen und die getrennten Verfahren - mit allen geschäftsverteilungsmäßigen,
geschäftsordnungsmäßigen (vgl bspw Art 14ff, Art 26 GOG) und gebührenrechtlichen
Folgen - so weiterzuführen, als wären mehrere Klagen angebracht worden. Es ist daher
816
in einem derartigen Fall nicht mit Klagszurückweisung vorzugehen. Wenn aber im
österr Zivilprozess ein Anspruch kraft Wertzuständigkeit vor einem Bezirksgericht und
ein anderer wegen Eigenzuständigkeit bspw vor dem Handelsgericht Wien zu verhandeln
817
wäre, so führt dies zu einer Teilzurückweisung durch das unzuständige Gericht.
Die ZPO trifft keine ausdrückliche Regelung, welche Rechtsfolgen eine bloß wegen der 6.49
Verschiedenheit der anzuwendenden Verfahrensart unzulässige Häufung mehrerer An-
sprüche in einer Klage nach Einleitung des Verfahrens über diese auslöst. Diese Gesetzes-
lücke ist nach dem Zweck des Verbots und den Regelungstendenzen zu schließen, die
sich aus den für vergleichbare Fälle getroffenen Regelungen erkennen lassen. Der offen-
sichtliche Zweck des Verbots, im verfahrenseinleitenden Schriftsatz (der Klage) Begeh-
ren, über die wegen ihrer Eigenheit unter besonderer Straffung und Beschleunigung ver-
handelt und entschieden werden soll, mit anderen Begehren zu verbinden, liegt darin,
den im Fall bestimmter Begehren (zB wegen Besitzstörung oder wegen wechselmäßiger
oder bestandrechtlicher Ansprüche; vgl für Liechtenstein bspw das Besitzerschutzverfah-
ren gern §§ 541 ff ZPO, die Verfahren nach §§ 548ff ZPO [Mandatsverfahren], §§ 555ff
ZPO (Wechselstreitigkeiten) und §§ 560 ff ZPO [Bestandstreitigkeiten)) angestrebten Be-
schleunigungseffekt nicht dadurch zu beeinträchtigen, dass auch über andere Ansprüche
zu verhandeln wäre, für die typischerweise mit einem zeitaufwendigeren Verfahren ge-
rechnet werden muss. 818
6.50 Ob diese Überlegungen auch für das in §§ 535 f ZPO geregelte „Bagatellverfahren" frucht-
bar gemacht werden können, ist fraglich. Dieses sieht nur einige Modifikationen von
diversen zivilprozessualen Bestimmungen vor, die bei Vorliegen eines entsprechend ge-
ringen Streitgegenstands zum Tragen kommen. Diese Besonderheiten begründen aber
keine besondere Verfahrensart, die der Annahme einer formellen Streitgenossenschaft
entgegenstünde, weil Bagatellsachen im Wesentlichen nach den allgemeinen Bestimmun-
gen der ZPO zu verhandeln und entscheiden sind und nur in einzelnen Verfahrenskons-
tellationen Abweichungen vom sonstigen Verfahren normiert sind. Dafür spricht auch
§ 540 ZPO, der die Verhandlung und Entscheidung der Rechtssache in Bagatellverfahren
nach den sonst für das Verfahren geltenden Vorschriften anordnet, wenn durch eine im
Lauf des Verfahrens vorgenommene Änderung der Klage die im § 535 ZPO bezeichnete
Wertgrenze überschritten wird.
3. Gesetzliche Streitgenossenschaft
6.51 In der Lit wurde auch der Begriff der gesetzlichen Streitgenossenschaft geprägt. 819 Damit
werden rechtliche Konstellationen umschrieben, in denen das Gesetz die Möglichkeit vor-
sieht, unter bestimmten Umständen als Streitgenossen in einem Zivilprozess zu verhan-
deln. Die sog gesetzlichen Streitgenossen sind wie materielle Streitgenossen (oder kraft
ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung als einheitliche Streitpartei) zu behandeln. 820
6.52 Gesetzliche Streitgenossenschaften sind etwa:
• Nach § 12 ZPO (= § 12 öZPO) können Hauptschuldner und Bürge gemeinschaftlich
geklagt werden, wenn dem nicht die (im einzelnen Fall zu prüfende) Beschaffenheit der
eingegangenen Bürgschaft im Wege steht.
• Eine gesetzliche Streitgenossenschaft sieht auch§ 16 ZPO (= § 16 öZPO) iZm der sog
Hauptintervention vor, wonach die Parteien des laufenden Prozesses gemeinschaftlich
geklagt werden können, wenn ein Dritter die Sache oder das Recht, worüber zwischen
anderen Personen ein Rechtsstreit anhängig ist, ganz oder teilweise für sich in An-
spruch nimmt.
4. Einheitliche Streitpartei
Eine einheitliche Streitpartei liegt nach § 14 ZPO (= § 14 öZPO) vor, wenn sich die Wir- 6.53
kung des zu fällenden Urteils kraft der Beschaffenheit des streitigen Rechtsverhältnisses
oder kraft gesetzlicher Vorschrift auf sämtliche Streitgenossen erstreckt (notwendige
Streitgenossenschaft).
Zwischen dem Verfahrensgrundsatz des rechtlichen Gehörs und der subjektiven Rechts- 6.54
kraftwirkung einer gerichtlichen Entscheidung besteht ein untrennbarer Zusammenhang.
Die Wirkung einer Entscheidung kann grundsätzlich nicht eine Person treffen, die in
dem dieser zugrunde liegenden Verfahren keine ausreichende Gehörmöglichkeit hatte
bzw nicht als Partei daran beteiligt war. Dieses Prinzip findet seinen Ausdruck ua in
der Bestimmung des § 14 ZPO. Der darin normierte Tatbestand liegt bei vollständiger
Identität und Untrennbarkeit des Streitgegenstands vor, wenn über den strittigen An-
spruch durch die mehreren Kläger oder Beklagten nur gemeinschaftlich verfügt werden
kann oder wenn es sich um ein den Streitgenossen gemeinschaftliches Rechtsverhältnis
handelt, das nur für oder gegen alle einheitlich festgestellt oder gestaltet werden kann.
Klagen über derartige Rechte oder Rechtsverhältnisse können diesfalls uU (dazu unten)
nur dann Erfolg haben, wenn alle gemeinsam Berechtigten (oder Verpflichteten) an
einem einzigen Rechtsstreit entweder auf der Kläger- und/oder auf der Beklagtenseite
beteiligt sind. Ist dies nicht der Fall, muss die Klage nach überwiegender Judikatur des
öOGH und einem Teil der österr Lehre mangels Sachlegitimation (der klagenden oder
beklagten Partei) abgewiesen werden. Die fehlende Sachlegitimation ist von Amts wegen
ohne Einwendung in jeder Instanz, somit auch vom OGH wahrzunehmen. 821 Eine Ver-
besserung des Klagebegehrens kommt nicht in Betracht. 822 Der bloße Beitritt als Neben-
intervenient saniert nicht den Mangel der notwendigen Streitgenossenschaft. 823
821 OGH 04 CG.198/2000-124 LES 2002, 302 (LS 1 b); 9 C 271/98-201 LES 2006, 161; 2.6.2017, 07
CG.2015.263.
822 OGH 2.6.2017, 07 CG.2015.263.
823 OGH 9 C 271/98-201 LES 2006, 161.
6.55 Eine notwendige Streitgenossenschaft ist im Zweifel nur gegeben, wenn bei Nichterfas-
sung aller Beteiligten die Gefahr unlösbarer Verwicklungen durch verschiedene Entschei-
dungen zu besorgen wäre. So begründet die Klage gegen mehrere Beklagte, die zu der-
selben Leistung, aber aus gesonderten Titeln verpflichtet sind, keine notwendige Streit-
genossenschaft. 824
6.56 Bei der einheitlichen Streitpartei besteht also die Möglichkeit, dass es sich im konkreten
Fall um eine notwendige Streitgenossenschaft handelt. Diese Unterscheidung kommt in
§ 14 Abs 1 ZPO (= § 14 öZPO) nicht deutlich zum Ausdruck. Denn daraus ergibt sich
zunächst lediglich eine Wirkungserstreckung des Urteils auf alle Streitgenossen. Das be-
deutet zunächst nur, dass grundsätzlich ein Streitgenosse allein klagen kann, das Urteil
aber für alle wirkt. Eine Rechtskrafterstreckung bedarf grundsätzlich einer gesetzlichen
Anordnung. Wenn mehrere Streitgenossen in diesem Fall gemeinsam klagen wollen,
können sie das im Gegensatz zur einfachen Streitgenossenschaft, bei der Einzelklagen
möglich sind, nur als einheitliche Streitpartei. Im Unterschied dazu setzt die notwendige
Streitgenossenschaft bereits eine gemeinsame Klage voraus, die mangels Sachlegitima-
tion abzuweisen ist, wenn nicht alle Streitgenossen gemeinsam klagen oder geklagt wer-
den. Ob eine notwendige Streitgenossenschaft vorliegt, ist grundsätzlich dem materiellen
Recht zu entnehmen, da das Prozessrecht einen generellen Zwang zur Geltendmachung
von Ansprüchen durch oder gegen alle Berechtigten nicht ausübt. Es ist aber nicht aus-
schließlich nach materiellem Recht zu beurteilen, ob eine einheitliche Streitpartei vor-
liegt, vielmehr muss dabei vom prozessual zu erfassenden Streitgegenstand ausgegangen
werden. Es handelt sich um eine Frage der Sachlegitimation. 825
6.57 Beispiele für eine einheitliche Streitpartei sind etwa:
• Eine notwendige Streitgenossenschaft bilden bspw sämtliche Vertragsparteien in einem
Rechtsstreit auf Feststellung der Nichtigkeit oder auf Nichtigerklärung eines Ver-
trags.826
• Mehrere Stiftungsräte bilden eine notwendige Streitgenossenschaft, wenn der Stifter
aufgrund eines Mandatsvertrags einen Stiftungsrat verpflichten will, den anderen Stif-
tungsräten eine Weisung zu erteilen. 827
• Miteigentümer bilden eine notwendige Streitgenossenschaft, wenn sich die Wirkung
des im Rechtsstreit ergehenden Urteils kraft der Beschaffenheit des streitigen Rechts-
verhältnisses auf alle Miteigentümer erstrecken muss. Dies ist bei einer schlichten Un-
terlassungsklage nicht der Fall. 828 Allerdings folgt bei dinglichen Ansprüchen schon
aus der Natur der Sache, dass sie grundsätzlich nur einheitlich festgestellt werden kön-
nen. Miteigentümer sind daher bei einem Streit um Rechte oder Pflichten, die alle Mit-
glieder der Gemeinschaft treffen, notwendige Streitgenossen; so bei einer Klage auf
Feststellung des Eigentumsrechts an der Liegenschaft oder an Teilen derselben. Wird
824 OGH 08 CG.2008.161 GE 2011, 186; vgl 04 CG.198/2000-124 LES 2002, 302.
82S Vgl Schneider in Fasching!Konecny 11/1 3 § 14 ZPO Rz 2; vgl RIS-Justiz RS0035468; RS0035479;
vgl aber OGH 11.12.2018, 08 CG.2016.145 GE 2019, 210 = LES 2019, 31 Erw 11.2.
826 RIS-Justiz RS0083003; öOGH 6 Ob 167/17b RdW 2018, 428.
827 OGH 2.6.2017, 07 CG.2015.263 GE 2018, 17.
828 RIS-Justiz RS0035408.
829 Schneider in Fasching/Konecny 11/IJ § 14 ZPO Rz 20f; öOGH 7 Ob 293/04w wobl 2005, 323.
830 öOGH 8 Ob 8/14f Zak 2014, 259.
831 öOGH lO Ob 47/11 a Zak 2011, 335.
832 OGH 06 CG.2017.414 LES 2018, 201.
833 OGH 2.6.2017, 02 CG.2014.361; RIS-Justiz RS0035470.
834 OGH 07 CG.2016.254 GE 2019, 178; vgl öOGH 28.2.2018, 6 Ob 167/17b.
835 RIS-Justiz RS0035606.
§ 14 Abs 2 ZPO sieht die Lösung eines Widerspruchs zwischen den Prozesshandlungen 6.63
der tätigen Streitgenossen mit Hilfe der Prozessleitung und des Beweisverfahrens vor.
Eine vergleichbare Bestimmung ist der öZPO fremd. In Österreich wird judiziert, dass
die Verschmelzung zu einem einheitlichen Prozesssubjekt einen einheitlichen Prozess mit
einem einheitlichen gleichlautenden Urteil bewirkt. Wenn in einem solchen Verfahren
Einstimmigkeit der Prozesshandlungen aller Mitglieder einer einheitlichen Streitpartei
nicht zu erzielen ist, weil einander widersprechende Erklärungen der einzelnen Streitge-
nossen vorliegen, dann gilt der aus§ 14 Satz 2 öZPO abgeleitete Grundsatz, dass die dem
Prozessstandpunkt der einheitlichen Streitpartei günstigste Erklärung maßgebend ist. So
darf gegen einen säumigen Streitgenossen bei Tätigkeit eines anderen Streitgenossen kein
Versäumungsurteil gefällt werden. Bei einer einheitlichen Streitpartei ist einer der Be-
840
klagten allein nicht in der Lage, das Klagebegehren anzuerkennen. Es gilt das sog „pro-
841
zessuale Günstigkeitsprinzip", Entsprechendes wird in Liechtenstein vom Verwal-
tungsgerichtshof in Verfahren vertreten, in denen gern Art 31 Abs 4 LVG die ZPO sinn-
gemäß anzuwenden ist. Danach gilt bei widerstreitenden Sachdispositionen aller Streit-
genossen einer einheitlichen Streitpartei das Schutz- oder Günstigkeitsprinzip: Die dem
Verfahrensstandpunkt günstigste Verfahrenshandlung gilt als die maßgebliche. 842 Zur
Verwirklichung des Günstigkeitsprinzips wird nach § 14 Abs 2 ZPO vorzugehen sein.
Dieses prozessuale Günstigkeitsprinzip bewirkt auch, dass im Fall der echten Säumnis
- nicht aber bei bloßer Untätigkeit - eines Streitgenossen ein von erschienenen Streitge-
nossen abgegebenes Anerkenntnis nicht wirksam ist. 843
Der Grundsatz, dass sich die Wirkung der Prozesshandlungen des tätigen Streitgenossen 6.64
auch auf säumige Streitgenossen erstreckt, verhindert aber nicht, dass einzelne Streitge-
nossen eines eigenen Rechtsmittels durch Verstreichenlassen der Rechtsmittelfrist ver-
lustig gehen. Diese Frist läuft nämlich auch bei der einheitlichen Streitpartei gegen jeden
einzelnen Streitgenossen gesondert. Sie wird für jeden der Streitgenossen mit Wirkung
der Zustellung an ihn in Gang gesetzt und endet für jeden Streitgenossen mit Ablauf der
durch den jeweiligen Zustellakt ausgelösten Frist. Erhebt jedoch einer der Streitgenossen
ein Rechtsmittel, so wirkt es auch zu Gunsten der Säumigen. 844 Allerdings ist es den
säumigen Streitgenossen nicht mehr möglich, selbst ein Rechtsmittel zu erheben.
§ 15 Abs 2 ZPO normiert im Wesentlichen gleichlautend wie § 15 Abs 2 öZPO, dass 6.65
unter den in§ 14 ZPO genannten Voraussetzungen zu jeder auf Antrag der Streitgenos-
sen oder des Gegners anberaumten Tagsatzung außer den sonst beteiligten Personen
stets auch sämtliche Streitgenossen, und zwar selbst dann zu laden sind, wenn eine
frühere, in derselben Rechtssache abgehaltene Tagsatzung von ihnen versäumt wurde.
Daraus wird im Umkehrschluss abgeleitet, dass in allen anderen Fällen säumige Parteien
nicht mehr zur nächsten Tagsatzung zu laden sind. 845 Dagegen wird mE zu Recht ein-
gewendet, dass die Säumnis bei der Verrichtung einer Tagsatzung keinen Ausschluss vom
Verfahren, sondern nur die Folgen der§§ 145, 179 öZPO (vgl§§ 144, 145, 179 ZPO) mit
sich bringt. Hingegen lässt sich ein Anhaltspunkt dafür, säumige einfache Streitgenossen
nicht mehr zu weiteren Verhandlungsterminen zu laden, aus§ 15 Abs 2 ZPO bei dieser
Rechtslage nicht ableiten. 846
6.66 Formelle Streitgenossen haften für die Kosten nicht solidarisch, sondern im Verhältnis
847
ihrer Beteiligung am Verfahren. Materielle Streitgenossen haften hingegen für die ih-
rem Gegner zugesprochenen Prozesskosten solidarisch. 848 Die einzelnen Parteien einer
einheitlichen Streitpartei haften im Fall des Prozesskostenersatzes ebenfalls solidarisch. 849
6.67 Die Verbindung zur gemeinsamen Verhandlung (bei mehreren Parteien auf einer Seite)
schafft keine Streitgenossenschaft. Eine Rechtsansicht der übergeordneten Instanz bin-
det nur für jene verbundene Rechtssache, zu der sie erging. 850
6.68 § 187 Abs l ZPO normiert (im Wesentlichen gleichlautend mit§ 187 Abs I öZPO), dass
mehrere bei einem Gericht anhängige Rechtsstreite zur gemeinsamen Verhandlung ver-
bunden werden können, wenn diese zwischen den nämlichen Parteien geführt werden
oder wenn die nämliche Person verschiedenen Klägern oder verschiedenen Beklagten als
Prozessgegner gegenübersteht und dadurch voraussichtlich die Erledigung der Prozesse
vereinfacht oder beschleunigt oder der Aufwand für die Kosten der Prozessführung ver-
mindert werden wird. Die Verbindung von Zivilprozessen zur gemeinsamen Verhand-
lung nach dieser Gesetzesstelle liegt wie auch die getrennte Verhandlung über einzelne
Ansprüche, die in einer Klage erhoben werden, im Ermessen des Gerichts. Gegen diese
Anordnungen ist kein Rechtsmittel zulässig (§ 192 Abs 2 ZPO = § 192 Abs 2 öZPO).
Auch die neuerliche Trennung verbundener Verfahren ist jederzeit zulässig (§ 192 Abs l
ZPO = § 192 Abs I öZPO). Das allein spricht schon gegen materiell-rechtliche Wirkun-
gen eines solchen Vorgehens. Diese sind auch nach den Grundsätzen der Rsp ausge-
schlossen: Ein Verbindungsbeschluss betrifft nur den äußeren Gang des Verfahrens, ist
daher bloß formeller Natur und dient lediglich der Konzentration, Vereinfachung und
Verbilligung des Verfahrens sowie einer arbeitsteiligen Gliederung. Daraus folgt, dass
auch bei gemeinsamer Entscheidung die Zulässigkeit von Rechtsmitteln für jedes Ver-
fahren gesondert zu prüfen ist und die Verbindung auf diese keinen Einfluss hat.
6.69 Die Streitwerte von zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbundenen
Rechtssachen sind nicht zusammenzurechnen. Dies gilt auch im Anwendungsbereich
des § 55 öJN, weil die dort normierten Zusammenrechnungsregeln nur dann Platz grei-
fen, wenn mehrere Ansprüche in einer Klage geltend gemacht werden. Damit ist es auch
unwesentlich, ob die in den verbundenen Streitsachen geltend gemachten Ansprüche an
sich in tatsächlichem oder rechtlichem Zusammenhang stehen. 851
6.70 Im Anwendungsbereich des Gesetzes über den Tarif für Rechtsanwälte und Rechtsagen-
ten (RATG) findet sich ebenfalls eine Zusammenrechnungsregel. Nach Art I 3 Abs 1
RA TG (im Wesentlichen identisch mit § 12 Abs l öRA TG) sind bei Geltendmachung
mehrerer Ansprüche in derselben Klage die Werte der Streitgegenstände zusammenzu-
rechnen. Im Gegensatz zu den vorstehenden Ausführungen gilt hier dasselbe auch für die
Dauer der Verbindung mehrerer Rechtsstreite sowie für die Verbindung von Klage und
Widerklage zur gemeinsamen Verhandlung. Schon dem Wortlaut, aber auch dem Telos
dieser Bestimmung nach kommt diese unabhängig davon zum Tragen, ob die Klage von
oder gegen materielle oder formelle Streitgenossen iS des § l l ZPO erhoben wird. Am
Rande sei erwähnt, dass diese Norm auch dann Anwendung findet, wenn unter den Vo-
raussetzungen des § 233 ZPO (im Wesentlichen gleichlautend mit § 227 Abs 1 öZPO)
mehrere Ansprüche zulässigerweise in einer Klage geltend gemacht werden (sog objektive
Klagenhäufung). 852 Abschließend sei in kostenrechtlicher Hinsicht für den Anwendungs-
bereich des RA TG noch auf den sog „Streitgenossenzuschlag" in Art 15 dieses Gesetzes
verwiesen (im Wesentlichen gleichlautend mit § 15 öRATG).
Übersicht
Rz
1. Überblick und Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1
II. Zulässigkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6
A. Partei- und Prozessfähigkeit des Nebenintervenienten . . . . . . . . . . 7.6
B. Anhängiger Rechtsstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7
C. Rechtsstreit zwischen zwei anderen Personen . . . . . . . . . . . . . . . . 7.15
D. Rechtliches Interesse am Obsiegen einer Partei . . . . . . . . . . . . . . . 7.16
III. Beitrittsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.20
A. Form und Inhalt des Beitritts; Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.20
B. Gerichtliche Vorprüfung; Wirksamkeitsbeginn der Nebeninterven-
tion .............................................. 7.21
C. Zurückweisungsantrag der Parteien; Zwischenverfahren . . . . . . . . . 7.22
D. Rechtsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.23
E. Kosten des Zwischenverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.24
IV. Stellung des Nebenintervenienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.25
A. Stellung des einfachen Nebenintervenienten . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.25
1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.25
2. Reichweite der Befugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.29
3. Kostenersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.37
B. Stellung des streitgenössischen Nebenintervenienten . . . . . . . . . . . 7.39
1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.39
2. ,.Stellung als Streitgenosse (§ 14 ZPO)" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.42
V. ,.Streitverkündigung" (§ 21 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.45
A. Allgemeines; Begriff und Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.45
B. Form der Streitverkündung und Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.48
C. Wirkung der Streitverkündung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.50
1. Bindungswirkung des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.50
2. Betroffene Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.52
3. Art und Umfang der Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.55
854 OGH 09 CG.2009.169 LES 2011, 156; 06 CG.2011.319 LES 2013, 138; 05 CG.2013.177 GE
2014.211; 12.1.2018, 08 CG.2016.161; uva.
855 So deutlich Fasching, Lehrbuch 2 Rz 393.
856 Vgl etwa Fasching, Lehrbuch 2 Rz 403; Schneider in Fasching/Konecny II/ 13 § 19 ZPO Rz I f.
857 Näher hierzu unten Rz 7.6.
858 Eingehend zum rechtlichen Interesses unten Rz 7.16ff.
859 Näher hierzu unten Rz 7.39 ff.
7.4 Die Nebenintervention kommt entweder aus eigenem Antrieb zustande, indem der Ne-
benintervenient von sich aus einem fremden Rechtsstreit beitritt, oder sie wird durch eine
Partei etwa im Weg der Streitverkündung(§ 21 ZPO) veranlasst. Der Beitritt erfolgt aber
in jedem Fall freiwillig. Ein Recht einer Prozesspartei auf Unterstützung durch einen
Nebenintervenienten bzw eine korrespondierende Pflicht des Nebenintervenienten zur
Hilfeleistung bestehen nicht.
7.5 In der Regel endet die Nebenintervention erst mit rechtskräftiger Beendigung des Ver-
fahrens. Sie kann aber auch schon früher durch den Eintritt des Nebenintervenienten in
den Rechtsstreit an Stelle der Hauptpartei aufgrund eines (ausnahmsweise zulässigen)
gewillkürten Parteiwechsels nach § 19 Abs 2 ZPO oder auch infolge einer Rechtsnach-
folge enden. Schließlich kann der Nebenintervenient seine Beitrittserklärung bis zur
Rechtskraft der Entscheidung jederzeit widerrufen und so aus dem Verfahren vorzeitig
wieder ausscheiden. 860
II. Zulässigkeitsvoraussetzungen
A. Partei- und Prozessfähigkeit des Nebenintervenienten
7.6 Um prozessual wirksam handeln zu können, muss der Nebenintervenient - so wie die
Partei - partei- und prozessfähig861 und im Fall der Prozessunfähigkeit durch einen
gesetzlichen Vertreter vertreten sein. 862 Bei Bedenken an der Prozessfähigkeit des Neben-
intervenienten insb auch zum Zeitpunkt der Bevollmächtigung eines Rechtsanwalts ist
diese selbst dann zu überprüfen, wenn der Nebenintervenient während des anhängigen
Rechtsstreits verstorben ist, zumal eine prozessunfähige Person keine gültige Prozessvoll-
macht erteilen konnte. 863 So wie die Prozessunfähigkeit der Partei kann aber auch die
eines Nebenintervenienten nach seinem Tod saniert werden; insb sind der gesetzliche
Vertreter des Nachlasses oder die Erben berechtigt, allenfalls nichtige Prozesshandlungen
des Verstorbenen zu genehmigen. 864
B. Anhängiger Rechtsstreit
7.7 Der Beitritt ist nur in einem bereits anhängigen Rechtsstreit zulässig. Anhängig bedeu-
tet dabei nach wohl überwA streitanhängig. 865 Gleichgültig auf welcher Seite der Bei-
tritt erfolgt, ist er daher erst ab dem Zeitpunkt der Zustellung der Klage an den Be-
klagten möglich. Der Zeitpunkt der Streitanhängigkeit ist auch bei den besonderen
Verfahrensarten (Mandats-, Wechselmandats-, Bestand- und Schuldentriebverfahren
[Mahnverfahren]) maßgeblich, in denen die Entscheidung ohne vorausgehende Anhö-
rung des Gegners ergeht. Die Nebenintervention ist also etwa mit der Zustellung der
Autkündigung an den Kündigungsgegner im Bestandverfahren 866 oder des bedingten
Zahlungsbefehls an den Schuldner im Schuldentriebverfahren zulässig 867 , auch wenn
vom Gekündi§ten keine Einwendungen oder vom Schuldner kein Widerspruch erho-
ben werden. 86
Während der Dauer der Streitanhängigkeit ist der Beitritt grundsätzlich unabhängig vom 7.8
jeweiligen Verfahrensstadium möglich. Die Nebenintervention kann also in jeder Lage
des Verfahrens bis zum Eintritt der formellen Rechtskraft der Entscheidung(§ 18 Abs 1
ZPO) oder, wenn - wie im Fall einer Klagerücknahme oder eines Vergleichsabschlusses -
eine Entscheidung nicht ergeht, bis zum Zeitpunkt der jeweils verfahrensbeendenden
Prozesshandlung erfolgen 869 , solange nur der Beitretende noch irgendeinen Einfluss
auf den Verfahrensgang nehmen kann. 870
Die Nebenintervention ist somit insb im Rechtsmittelverfahren zulässig. Für das Beru- 7.9
fungsstadium besteht darüber - soweit ersichtlich - Einhelligkeit. 871 Nach Rsp 872 und
hL873 kann der Beitritt aber auch noch im Revisionsverfahren erklärt werden, was im
Wesentlichen mit dem Wortlaut des § 18 Abs 1 (ö)ZPO begründet wird, wonach die
Nebenintervention „in jeder Lage des Rechtsstreites bis zu dessen rechtskräftiger Ent-
scheidung" erfolgen kann. Diese Auffassung wird allerdings in der E des öOGH 3 Ob
74
45/1 l f6 dahingehend relativiert, dass ein Beitritt im Revisionsverfahren (erst) nach Ab-
lauf der Revisionsfrist für die Hauptpartei unzulässig ist, zumal er dem Beitretenden kei-
nen Einfluss mehr auf den Ablauf des Revisionsverfahrens ermögliche. Die Situation sei
im Berufungsverfahren insofern anders, als hier bei einem Beitritt nach Ablauf der Be-
rufungsfrist dem Nebenintervenienten etwa Beteiligungsbefugnisse an einer gegebenen-
falls abgehaltenen Berufungsverhandlung mit Beweiswiederholung oder -ergänzung zu-
kommen könnten.
Nach der Rsp 875 ist die Nebenintervention auch im Beweissicherungsverfahren möglich, 7.10
und zwar selbst dann, wenn dieses schon vor Beginn eines Rechtsstreits stattfindet. Ein
Teil der Lehre schränkt die Zulässigkeit dagegen mit Rücksicht auf den Wortlaut des§ 17
Abs I ZPO auf jene Beweissicherungsverfahren ein, die während des Hauptprozesses
866 öOGH 1 Ob 673/86 )BI 1987, 182 mit Verweis auf den Plenarbeschluss Prä 779/27 (Judikat
Nr 31 [neu]) SZ 10/55; zuletzt 8 Ob 71/14w wobl 2015/160, 369.
867 Vgl öOGH 3 Ob Sl/05d RdW 2005, 696.
868 Vgl etwa RIS-Justiz RS0035992.
869 Schneider in Fasching!Konecny ll/ll § 18 ZPO Rz 4; vgl auch die E OGH 05 CG.2002.92 LES
2006, 320, welche sich auf die rechtskräftige Beendigung des Rechtsstreits durch Vergleich,
Klagsrückzug und Zurücknahme der Berufung bezieht.
870 Vgl öOGH 3 Ob 45/11 f SZ 2011/123.
871 Vgl nur OGH 02 CG.2001.52 LES 2005, 392.
872 OGH 01 CG.2002.32 LES 2009, 160; 9. 5. 2014, 03 CG.2013.522; öOGH 7 Ob 526, 527/57
RZ 1958, 59; 5 Ob 245/!0f JBI 2012, 47.
873 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 395; Deix/er-Hübner, Nebenintervention 39; Schneider in Fasching/Ko-
necny II/ll § 18 ZPO Rz 6; Fucik in Rechberger/K/icka, ZPO 5 § 17 Rz 2.
874 SZ 2011/123 = )BI 2012, 183 = EvBI 2012/66, 460; RIS-Justiz RS0l27389.
875 öOGH Nr 2024 GIUNF 3319; R I 54/11 GIUNF 5343.
876 Fasching II' 213,216; Fasching, Lehrbuch 2 Rz 395; Schubert in Fasching/Konecny II/1 2 § 17 ZPO
Rz 9; gegen diese Differenzierung ausdrücklich Deix/er-Hübner, Nebenintervention SO ff und
wohl auch Schneider in Fasching/Konecny 11/1 3 § 17 ZPO Rz 16.
877 LGZ Wien 43 R 486/46 EvBI 1946/359; OLG Wien 18.4.2005, 3 R 62/051.
878 öOGH 17. 1. 1996, 9 ObA 3/96; 6 Ob 183/14a Zak 2015, 99; 4 Ob 3/18x Zak 2018, 59.
879 Ein während des Ruhens des Verfahrens eingebrachter Beitrittsschriftsatz ist daher zurückiu-
weisen (OLG Wien 3 R 62/051 RIS-Justiz RW0000663).
880 LGZ Wien 43 R 1448/35 EvBI 1936/63.
881 LGZ Wien 43 R 1448/35 EvBI 1936/63; 42 R 567/49 EvBI 1949/318; Fasching II' 213, 21Sf;
Schubert in Fasching/Konecny III 12 § 17 ZPO Rz 9; § 18 ZPO Rz 1; nach Schneider in Fa-
sching/Konecny 11/1 3 § 17 ZPO Rz 14 kommt im Fall eines durch Versäumung bedingten
rechtskräftigen Verfahrensabschlusses eine Nebenintervention erst nach bewilligter Wiederein-
setzung in Betracht, weil erst dadurch die Rechtskraft beseitigt und das Verfahren (wieder)
streitanhängig ist; aA jedoch Deix/er-Hübner, Nebenintervention 47, der zufolge der Neben-
intervenient gleichzeitig mit dem Wiedereinsetzungsantrag auch in ein rechtskräftiges Verfah-
ren eintreten kann.
882 Vgl Schneider in Fasching/Konecny Il/1 3 § 18 ZPO Rz 9; § 19 ZPO Rz 28; aA Deix/er-Hübner,
Nebenintervention 40ff (insb 43), die sich für die Zulässigkeit der Nebenintervention unab-
hängig vom Eintritt der Rechtskraft ausspricht.
883 G v 25. 11. 2010 über das gerichtliche Verfahren in Rechtsangelegenheiten ausser Streitsachen
(Ausserstreitgesetz; AussStrG) LGBI 2010/454.
884 OGH 10 HG 2002.58-39 LES 2005, 174; 5.2.2004, 10 HG 2002.26.
885 Vgl ErläutRV zum öAußStrG 224 BlgNR 22. GP 23: .,Für eine Einführung des Instituts der
Nebenintervention (Rechberger, LBI XVI, 30; Klicka, LBI XX, 33) bestehen dagegen - zumin-
dest im Allgemeinen Teil - keine überzeugenden Bedürfnisse. Derjenige, dessen rechtliches
Interesse nicht durch das Verfahren geschützt ist, soll im Allgemeinen keine Verfahrensrechts-
stellung haben".
886 Vgl nur Fasching 11 1 213; Fasching, Lehrbuch 2 Rz 394; Schubert in Fasching/Konecny 11/1 2 § 17
ZPO Rz 10.
887 öOGH 10 Ob 29/06x EvBI 2006/151, 810; 16 Ok 9/09 RdW 2010, 88; RIS-Justiz RS0l20721.
888 Dies bestätigt auch schon OGH 06 NP.2010.50-99 GE 2012, 22.
889 BuA 2010/79, 13 f.
890 Vgl hierzu die Ausführungen von Deix/er-Hübner, Nebenintervention 56 und G. Kodek in
Burgstaller/Deixler-Hübner, EO § 390 Rz 12.
891 So etwa Konecny, Anwendungsbereich 330 FN 86; Deix/er-Hübner, Nebenintervention 56ff;
Thiele, ÖJZ 2006, 837; G. Kodek in Burgstaller/Deixler-Hübner, EO § 390 Rz 12; E. Kodek in
Angst/Oberhammer, EO 3 § 378 Rz 22/1; König, eV 5 Rz 6.51.
Verweis auf die Sonderstellung des eigentlichen Verfügungsverfahrens als eines seinem
Wesen nach besonderen Erkenntnisverfahrens, auf das die Bestimmungen der ZPO anzu-
wenden sind, den gegenteiligen Standpunkt. Dies freilich unter der Voraussetzung, dass
der Dritte ein - grundsätzlich auch im Provisorialverfahren denkbares - rechtliches In-
teresse am Obsiegen „seiner Partei" im eV-Verfahren hat. Diese von Teilen der Lehre
geäußerte Kritik an der überkommenen Auffassung konnte allerdings den öOGH nicht
zu einem Abgehen von seiner Spruchpraxis bewegen. 892 Nach (unveränderter) stRsp des
öOGH ist daher im Verfahren über den Antrag auf Erlassung einer eV eine Nebeninter-
vention ausgeschlossen. 893 Der Fürstliche Oberste Gerichtshof hat sich dieser Rsp jeden-
falls für den einfachen Nebenintervenienten ausdrücklich angeschlossen. 894 Auch nach
Ansicht des OGH ist daher der Eintritt eines (einfachen) Nebenintervenienten im Ver-
fahren zur Erlassung einer eV nicht zulässig. 895 Weiters hat der OGH wiederholt ausge-
sprochen, dass die Nebenintervention im Hauptverfahren nur zum Zweck des Obsiegens
der Hauptpartei in diesem Verfahren zulässig ist, der Nebenintervenient des Hauptpro-
zesses also in dieser Funktion nicht legitimiert ist, in einem damit zusammenhängenden
Provisorialverfahren eigene Anträge zu stellen und/oder Rechtsmittel zu ergreifen. 896
Dies gilt nach Ansicht des OGH gleichermaßen für den streitgenössischen Nebeninter-
venienten, weil es sich beim Provisorialverfahren um ein selbstständiges Verfahren hand-
le, welches nicht einen Bestandteil des Prozessverfahrens bilde. 897
ten berührt, wenn sie also unmittelbar oder - wie in den meisten Fällen der einfachen
Nebenintervention - (auch bloß) mittelbar auf seine privatrechtlichen oder öffentlich-
rechtlichen Verhältnisse rechtlich günstig oder ungünstig einwirkt. 901 Nach hA 902 ist das
rechtliche Interesse im Allgemeinen dann zu bejahen, wenn „durch das Obsiegen der
Hauptpartei die Rechtslage des Dritten verbessert oder durch deren Unterliegen ver-
schlechtert wird". Das rechtliche Interesse muss jedenfalls ein in der Rechtsordnung ge-
gründetes und von ihr gebilligtes Interesse sein. 9 3 Ein bloß wirtschaftliches Interesse -
wie das Interesse an der Einbringlichmachung einer Forderung - reicht nicht aus, weshalb
der Geschädigte dem Rechtsstreit des Versicherungsnehmers gegen seinen Haftpflichtver-
sicherer auf Deckung der dem Geschädigten bereits rechtskräftig zuerkannten Ansprüche
ebenso wenig beitreten kann 904. wie der Konkursgläubiger einem Anfechtungsprozess des
Masseverwalters905 . Aber auch das Interesse am Ausgang eines Musterprozesses oder am
Erzielen bestimmter Beweisergebnisse kann die Nebenintervention nicht rechtfertigen. 906
Ein (auch) wirtschaftliches Interesse am Prozessausgang stellt aber - so der OGH in seiner
E v 7. 5. 1998907 verdeutlichend - a priori keinen Gegensatz zu einem rechtlichen Interesse
dar: Vielmehr sind auch Vermögensinteressen dann rechtliche Interessen, wenn sie von
der Rechtsordnung als solche anerkannt sind. Alleiniges Kriterium nach § 17 ZPO ist, dass
ein gegebenes Vermögensinteresse auch die rechtlichen Verhältnisse des Nebeninterve-
nienten berührt. Hierbei ist der Begriff des rechtlichen Interesses extensiv908 auszulegen
und begründen demnach alle Urteilswirkungen, die geeignet sind, die Rechtssphäre des
Dritten mittelbar oder unmittelbar zu verändern, ein Interventionsinteresse.
Ein rechtliches Interesse haben insb alle jene Personen, auf die sich die Entscheidung 7.17
notwendigerweise erstrecken muss(§ 20 ZPO), sei es durch die positive Gestaltungswir-
909
kung oder eine ausdrückliche gesetzliche Rechtskrafterstreckung oder eine im Gesetz
910
für die Lösung von Vorfragen angeordnete Bindungswirkung. Darüber hinaus wird bei
Zugrundelegung oben angeführter Maßstäbe ein rechtliches Interesse etwa bejaht
für: 911 den Käufer einer Liegenschaft im Rechtsstreit des Verkäufers gegen einen weite-
901 So etwa Fasching II' 208; Schneider in Fasching/Konecny 11/1 3 § 17 ZPO Rz I; Fucik in Rech-
berger/Klicka, ZPO; § 17 Rz 3; OGH 5 C 241/94 LES 1998, 330; öOGH 9 Ob 901/90 ZAS 1990/
23, 191; RIS-J ustiz RS0035724.
902 So Holzhammer, Zivilprozeßrecht 2 87; diesem folgend Fasching, Lehrbuch 2 Rz 398; öOGH
22. 10. 1996, 10 Ob 2403/96x; 2 Ob 12/09t Zak 2009, 398; RlS-Justiz RS0035724 (T3).
903 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 398; öOGH 9 Ob 901/90 ZAS 1990/23, 191; 18.4.2007, 7 Ob 20/07b;
2 Ob 12/09t Zak 2009, 398.
904 öOGH 7 Ob 20/82 SZ 55/39; 7 Ob 178/I0t Zak 20!0, 418; RIS-Justiz RS0035859.
905 öOGH I Ob 235/56 JBl 1957, 457; RIS-Justiz RS0035817.
906 öOGH 2 Ob 132/60 JBl 196L, 91; 7 Ob 725/80 SZ 53/168; RIS-Justiz RS0035565.
907 OGH 5 C 241/94 LES 1998, 330.
908 Vgl RIS-Justiz RS0035638: Bei der Beurteilung, ob die Nebenintervention zulässig ist, ist kein
strenger Maßstab anzulegen. Es genügt, dass der Rechtsstreit die Rechtssphäre des Nebenin-
tervenienten berührt.
909 So schon Fasching II' 209.
910 öOGH 9 Ob 901/90 ZAS 1990/23, 191; RIS-Justiz RS0035730.
911 Zahlreiche weitere Beispiele für ein rechtliches bzw fehlendes rechtliches Interesse finden sich
etwa bei Schneider in Fasching/Konecny II/ 13 § 17 ZPO Rz 5 ff; Fucik in Rechberger/Klicka,
ZPO; § 17 Rz 3; Auer in Höllwerth/Ziehensack, ZPO-TaKom § 17 ZPO Rz 25ff.
ren Käufer (im Fall einer Doppelveräußerung) 912 ; einen Solidarschuldner im Rechtsstreit
des Gläubigers gegen den anderen Solidarschuldner913 ; den Bürgen im Rechtsstreit des
Hauptschuldners gegen den Gläubiger 914 ; den Untermieter im Räumungsstreit gegen den
916
Mieter915 ; den Haftpflichtversicherer im Prozess gegen den Versicherten sowie gene-
rell einen Regresspflichtigen im Fall drohender Regressnahme in einem Folijeprozess auf-
grund des Prozessverlusts der streitverkündenden Partei im Hauptprozess i;_
7.18 In den Fällen der gesetzlichen Nebenintervention(§ 17 Abs 2 ZPO), in denen der Bei-
tritt als Nebenintervenient durch das Gesetz selbst ausdrücklich für zulässig erklärt wird,
muss das rechtliche Interesse weder behauptet noch bescheinigt werden, noch hat das
Gericht ein konkretes Interventionsinteresse iSd § 17 Abs l ZPO zu prüfen. Als Beispiele
sind etwa Art 11 Abs 4 AHG (rückersatzpflichtige Organe im Amtshaftungsverfahren),
Art 231 EO (Verpflichteter und beitretende Gläubiger im Drittschuldnerprozess) und
Art 126 PGR (Mitglieder und andere Stimmberechtigte der Verbandsperson im Ver-
nichtbarkeitsverfahren) zu nennen.
7.19 Schließlich kommen auch Konstellationen vor, in denen ein rechtliches Interesse am
Beitritt sowohl auf Kläger- als auch auf Beklagtenseite besteht. Dies ist etwa dann
der Fall, wenn dem Dritten abhängig vom Verfahrensausgang von beiden Seiten der Re-
gress droht. 918 In solchen Fällen steht es dem Nebenintervenienten frei zu entscheiden,
auf welcher Seite er dem Rechtsstreit beitritt. 919 Die Entscheidung wird letztlich davon
abhängen, welchen Ansprüchen er die größeren Erfolgschancen zuschreibt. Nach stRsp
kann der Nebenintervenient seine Wahl auch jederzeit revidieren und durch Widerruf
seines Beitritts auf Seiten einer Partei und Beitritt auf Seiten der anderen Partei einen
Seitenwechsel vornehmen 920 , dies ist sogar noch im Rechtsmittelverfahren zulässig.
III. Beitrittsverfahren
A. Form und Inhalt des Beitritts; Zuständigkeit
7.20 Der Beitritt des Nebenintervenienten erfolgt durch Abgabe einer Beitrittserklärung an
das Gericht, die nach § 18 Abs 1 ZPO in der Form eines Schriftsatzes zu erfolgen hat.
Ein bloß mündlich (in der Verhandlung) erklärter Beitritt ist nach hA über Antrag
einer Partei zurückzuweisen. 921 Die Beitrittserklärung muss nicht notwendig in Form
eines gesonderten Schriftsatzes eingebracht werden, sondern kann etwa auch in einem
Rechtsmittel - konkret in einer Berufung des Nebenintervenienten 922 - enthalten sein.
Wird die Beitrittserklärung mit einer Berufung des Beitretenden verbunden, so muss
sie den Hauptparteien freilich, sofern diese nicht auch selbst berufen haben, noch vor
Ablauf der Berufungsfrist zugestellt werden. 923 Hat dagegen die vom Nebenintervenien-
ten unterstützte Partei das Ersturteil mit Berufung bekämpft (und konnte dieses daher
nicht in Rechtskraft erwachsen), so genügt es, wenn der innerhalb der Rechtsmittelfrist
überreichte Beitritts- und Rechtsmittelschriftsatz dem Prozessgegner erst nach Verstrei-
924
chen der Berufungsfrist zugestellt wurde. Im Beitrittsschriftsatz hat der Nebeninter-
venient sein rechtliches Interesse am Beitritt darzutun, also die Tatsachen, aus denen
sich das Interventionsinteresse ableitet, bestimmt anzuführen. 925 Der Beitrittsschriftsatz
ist bei dem Gericht einzubringen, bei dem die Rechtssache gerade anhängig ist. 926
Dieses Gericht ist dann auch für die Durchführung des Interventionsverfahrens funk-
927
tionell zuständig.
921 Vgl hierzu näher Schneider in Fasching/Konecny 11/1 3 § 18 ZPO Rz 12ff; RIS-Justiz RS0035495;
zuletzt mit ausführlicher Begründung in öOGH 4 Ob 193/09z JBl 2010, 459 (Frauenberger-
Pfeiler).
922 OGH 02 CG.2001.52 LES 2005, 392.
923 OGH 02 CG.2001.52 LES 2005, 392; RIS-Justiz RS0035977.
924 OGH 02 CG.2001.52 LES 2005, 392.
925 öOGH 5 Ob 163/66 EvBI 1967/10, 16.
926 öOGH I Ob 264/72 JBI 1973, 421 (König); RIS-Justiz RS005721 l.
927 So deutlich öOGH 8.9.2009, 1 Ob 121/09i; vgl auch 3 Ob 45/11 f SZ 2011/123.
928 OGH 03 CG.2013.522 GE 2015, 63; öOGH 3 Ob 823/30 SZ 13/12; l Ob 214/06m Miet 58.548;
l Ob 109/l6k JBI 2016, 805.
929 Vgl Schneider in Fasching/Konecny 11/1 3 § 18 ZPO Rz 41; I Ob 109/16k JBI 2016, 805.
930 OGH 10. 1. 2008, 1 CG.2002.32.
931 OGH 01 CG.2002.32 LES 2009, 160; 7.9.2012, 06 CG.2010.366; öOGH l Ob 66/99h EvBI
1999/148, 647; 1 Ob 109/16k JBI 2016, 805.
932 Vgl auch zur geänderten Rsp-Linie Schneider in Fasching/Konecny 11/1 3 § 18 ZPO Rz 17ff.
findet dann aber erst über Zurückweisungsantrag einer Partei statt. 933 Liegen sämtliche
Voraussetzungen vor, so wird der Beitrittsschriftsatz den Parteien zugestellt. Eine geson-
derte Beschlussfassung über die Zulassung ergeht dabei zunächst nicht. 934 Mit Zustellung
des Beitrittsschriftsatzes an beide Parteien wird der Beitritt rechtswirksam. 935 Die förm-
liche Zustellung kann nach der Rsp dadurch ersetzt werden, dass der Beitrittsschriftsatz in
Gegenwart beider Parteien in einer Tagsatzung vorgetragen und anschließend mit den
Parteien über einen Zurückweisungsantrag mündlich verhandelt wird. 936
933 Fucik in Rechberger!Klicka, ZPO 5 § 18 Rz I; OGH I CG.2002.32 LES 2009, 160; 7.9.2012, 06
CG.2010.366; öOGH I Ob 264/72 JBI 1973, 421 (König); vgl auch 9 Ob 901/90 ZAS 1990/23,
191 (Fink).
934 OGH 7.9.2012, 06 CG.2010.366.
935 öOGH 5 Ob 245/I0f JBI 2012, 47; 15.6.2016, 7 Ob 13/16m; RIS-Justiz RS0l 15771.
936 öOGH 4Ob 224/0lx JBI 2002, 359; 4Ob 290/0lb Miet 54.588; 30.1.2003, 2Ob 316/0lm.
937 So etwa öOGH 1 Ob 66/99h EvBI 1999/148, 647.
938 Er kann also auch mündlich in der Verhandlung gestellt werden (vgl Fucik in Rechberger!Kli-
cka, ZPO; § 18 Rz 3).
939 OGH 7.9.2012, 06 CG.2010.366; RIS-Justiz RS0035500; zuletzt öOGH I Ob 109/16k JBI 2016,
805.
940 Vgl etwa OGH 03 CG.2013.522 GE 2015, 63.
941 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 402; Schneider in Fasching!Konecny II/ 1J § 18 ZPO Rz 32; Fucik in
Rechberger!Klicka, ZPO 5 § 18 Rz 3.
942 Schneider in Fasching!Konecny 11/1} § 18 ZPO Rz 32; Fucik in Rechberger!Klicka, zpos § 18
Rz 3.
943 Zur möglichen Bedeutung dieses Unterbrechungstatbestands für die in der liechtensteinischen
Rechtspraxis immer wieder vorkommenden Fälle, in denen ein Dritter, ohne dass ihm der
Streit verkündet wurde und ohne dass eine der Hauptparteien seine Teilnahme am Verfahren
wünscht, in das Verfahren als Nebenintervenient „eindringen" will, etwa um an Informationen
zu gelangen vgl Ungerank in FS Delle Karth 985 ff.
lungen 944 nicht ausgeschlossen werden, solange dem Zurückweisungsantrag nicht rechts-
kräftig stattgegeben ist(§ 18 Abs 3 ZPO). 945 Der Nebenintervenient ist also konkret auch
zu allen Tagsatzungen zu laden, er darf an sämtlichen Verhandlungen teilnehmen, hat
das Recht auf Akteneinsicht und schließlich sind ihm auch alle Urteile und Beschlüsse
zuzustellen. 946 Das Gericht entscheidet sodann über den Zurückweisungsantrag mit Be-
schluss: Liegen die Beitrittsvoraussetzungen vor, weist es den Zurückweisungsantrag ab,
sind sie dagegen nicht gegeben, so gibt es dem Zurückweisungsantrag statt und weist die
Nebenintervention zurück. 947
D. Rechtsmittel
Anders als in Österreich ist in Liechtenstein die Rechtsmittelbeschränkung des § 18 7.23
Abs 4 ZPO auch anlässlich der jüngsten ZPO-Nov LGBI 2018/207 nicht aufgehoben
worden. Der Beschluss über die Zulassung der Nebenintervention kann also - wie
seinerzeit in Österreich vor der ZVN 2009 - nicht durch ein abgesondertes Rechts-
mittel angefochten werden. Die durch die Zulassung einer Nebenintervention be-
schwerte Partei kann ihr Rechtsmittel frühestens mit dem gegen die nächstfolgende
anfechtbare Entscheidung vorgesehenen Rechtmittel verbinden, 948 gegebenenfalls also
erst mit dem Rechtsmittel gegen die Endentscheidung. 949 War ein Rechtsmittel bei
seiner Einbringung unzulässig, so wird es nicht dadurch zulässig, dass in der Folge eine
anfechtbare, den Rechtsmittelwerber belastende gerichtliche Entscheidung ergeht; wenn
aber im Fall einer selbstständigen Einbringung des vorbehaltenen Rekurses zu diesem
Zeitpunkt die nächste anfechtbare Entscheidung bereits ergangen ist, wird der Rekurs
nicht unzulässigerweise, sondern nur verfrüht erhoben, wozu eine Partei grundsätzlich
°
berechtigt ist. 95 Kann allerdings infolge Verfahrensbeendigung eine anfechtbare Ent-
scheidung in der Hauptsache gar nicht mehr ergehen, so kann der „aufgeschobene"
Rekurs selbstständig überreicht werden. 951 Die Rekursfrist beginnt in einem solchen
Fall mit der Zustellung der prozessbeendigenden Entscheidung bzw der zeitlich nach-
folgenden Entscheidung über die Nebenintervention. 952 Auch der Beschluss des Re-
kursgerichts, mit dem die in erster Instanz zurückgewiesene Nebenintervention zuge-
lassen wird, ist nicht gesondert anfechtbar. Der aufgeschobene Revisionsrekurs kann
mit dem Rechtsmittel gegen die nächste selbstständig anfechtbare Entscheidung der
zweiten Instanz verbunden werden. 953 Der Beschluss über die Verweigerung der Ne-
benintervention ist dagegen stets mit selbstständigem Rekurs anfechtbar, wobei le-
diglich die Beteiligten des Zwischenverfahrens, also der Nebenintervenient und der Be-
streitende, nicht aber die andere Hauptpartei, die keinen Zurückweisungsantrag gestellt
hat, rechtsmittellegitimiert sind. 954 Der Rekurs gegen die Zurückweisung der Neben-
intervention schiebt kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung in § 18 Abs 3 ZPO
entgegen der allgemeinen Regel die Vollstreckbarkeit der Entscheidung (nämlich
der Nichtzulassung der Nebenintervention) bis zur Rechtskraft hinaus, sodass der Ne-
benintervenient bis zur Bestätigung des angefochtenen Zurückweisungsbeschlusses
955
durch das Rekursgericht dem Hauptverfahren beizuziehen ist. Der Rechtsmittelaus-
schluss des § 496 Abs l ZPO gegen eine den erstinstanzlichen Beschluss bestätigende
Rekursentscheidung ist ein unbedingter und lässt keine Ausnahme zu. Ein Revisions-
rekurs des Nebenintervenienten gegen zwei gleichlautende vorinstanzliche Entscheidun-
956
gen ist daher jedenfalls unzulässig.
lässt, wird er dadurch nicht zur Partei. 963 Nach § 19 Abs 2 ZPO kann er allerdings mit
Einwilligung beider Parteien anstelle desjenigen, dem er beigetreten ist, in den Rechts-
streit als Partei eintreten. Dieser Eintritt stellt eine Rechtsnachfolge kraft Prozessrechts
dar und beendet die Nebenintervention. 964
Nach § 19 Abs 1 Satz 1 ZPO hat der Nebenintervenient den Rechtsstreit in der Lage 7.26
anzunehmen, in der sich dieser zum Zeitpunkt seines Eintritts in das Verfahren befindet.
Er kann also etwa vor seinem Eintritt bereits eingetretene Säumnisfolgen und Präklusio-
nen nicht mehr abwenden, insb keine präkludierten Prozesseinreden nachholen; im
Rechtsmittelverfahren ist er durch die beschränkte Neuerungserlaubnis gebunden. 965
Der Nebenintervenient ist grundsätzlich berechtigt, zur Unterstützung der Hauptpartei
Angriffs- und Verteidigungsmittel geltend zu machen, Beweise anzubieten und alle sons-
tigen Prozesshandlungen vorzunehmen (§ 19 Abs 1 Satz 2 ZPO). Die von der Haupt-
partei abhängige Stellung des einfachen Nebenintervenienten hat allerdings zur Folge,
dass seine Handlungen (nur) für die Partei erfolgen und für diese prozessual wirksam
sind, sofern sie nicht mit deren eigenen Prozesshandlungen in Widerspruch stehen (§ 19
Abs 1 letzter Satz ZPO). Einwendungen aus dem Rechtsverhältnis des Nebenintervenien-
ten zur gegnerischen Partei sind ausgeschlossen. 966 So kann etwa nicht mit einer Forde-
rung aufgerechnet werden, die dem Nebenintervenienten gegenüber dem Gegner zu-
steht.967 Auch das Urteil lautet schließlich nur auf die Hauptpartei und berechtigt und
verpflichtet - abgesehen von der Kostenentscheidung - nur diese. 968
§ 19 Abs 5 ZPO, der keine Entsprechung in der öZPO findet, dessen Regelungsinhalt 7.27
in Österreich aber schon aus den allgemeinen Bestimmungen zur Nebenintervention
abgeleitet wird, 969 stellt klar, dass der einfache Nebenintervenient, dem nicht die Stel-
lung eines Streitgenossen zukommt, im Prozess nur als Zeuge vernommen werden
970
kann.
Nach § 63 Abs 3 ZPO (= § 63 Abs 4 öZPO) ist auch dem Nebenintervenienten bei Er- 7.28
füllung der allgemeinen Voraussetzungen Verfahrenshilfe zu gewähren. 971
7.32 Der Nebenintervenient kann durch sein Tätigwerden Säumnisfolgen verhindern, wobei
dies in Liechtenstein anders als in Österreich in § 19 Abs 3 ZPO sogar ausdrücklich nor-
miert wird: .,Der Intervenient kann durch seine Prozesshandlungen von der zur Tagsat-
zung nicht erschienenen Partei die Rechtsfolgen der Versäumung abwenden und statt der
Hauptpartei zu ihrer Unterstützung verhandeln. Ist die Rechtssache durch die mit dem
Intervenienten in Abwesenheit der Hauptpartei durchgeführte Verhandlung spruchreif
geworden, so ist das Endurteil zu fällen, wie wenn die Verhandlung mit der Hauptpartei
selbst geführt worden wäre".
972 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 404; Schubert in Fasching!Konecny 11/1 2 § 19 ZPO Rz 3; Fucik in Rech-
berger/Klicka, ZPO 5 § 19 Rz 2; vgl auch Elkuch/Gassner/Gassner/Heiterer!Mähr, ZPO § 19
Anm I; aA jedoch Deix/er-Hübner, Nebenintervention 154f.
973 Vgl auch OGH 05 CG.2002.92 LES 2006, 320.
974 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 404; Schubert in Fasching/Konecny 11/1 2 § 19 ZPO Rz 3; Fucik in Rech-
berger!Klicka, ZPO; § 19 Rz 2; im Ergebnis ähnlich Schneider in Fasching!Konecny Il/1 3 § 19
ZPO Rz 9f, 16, die allerdings - im Einzelnen stärker differenzierend - den Abschluss eines
bedingten Vergleichs durch den Nebenintervenienten für zulässig erachtet und vor dem Hin-
tergrund, dass der Zwischenantrag auf Feststellung von der Hauptpartei zurückgenommen
werden kann, auch auf die grundsätzliche Befugnis zur diesbezüglichen Antragstellung durch
den Nebenintervenienten schließt; aA jedoch Deix/er-Hübner, Nebenintervention 154f, die da-
von ausgeht, dass der Nebenintervenient alle Prozesshandlungen vornehmen kann; die einzige
Beschränkung, die ihm hierbei auferlegt sei, bilde das Widerspruchsrecht der Partei.
975 OGH 06 CG.2011.178 GE 2013, 276; RIS-Justiz RS0035472; zuletzt öOGH 1 Ob 148/16w JBI
2017, 29; vgl hierzu auch Auer in Höllwerth!Ziehensack, ZPO-TaKom § 19 ZPO Rz 3.
976 So etwa OGH 06 C 547/97 LES 2007, 317; 06 CG.2011.178 GE 2013, 276.
977 Schubert in Fasching/Konecny 11/1 2 § 19 ZPO Rz 5; Fucik in Rechberger!Klicka, ZPO' § 19 Rz !;
Schneider in Fasching/Konecny II/1 3 § 19 ZPO Rz 17.
Durch sein Erscheinen kann der Nebenintervenient auch ein ex lege eintretendes Ruhen 7.33
des Verfahrens verhindern. 978 Das zwischen den Parteien vereinbarte und dem Gericht
mit einem gemeinsamen Schriftsatz angezeigte Ruhen des Verfahrens kann der einfache
Nebenintervenient dagegen nicht abwenden;979 ebenso wenig ist er berechtigt, in einem
solchen Fall einen Fortsetzungsantrag zu stellen. 980
Nach der neueren Rsp der liechtensteinischen Rechtsmittelgerichte ist jedenfalls der ein- 7.34
fache Nebenintervenient, der ohne Streitverkündung oder über Streitverkündung nur der
beklagten Partei auf Seiten der beklagten Partei dem Streit beigetreten ist, nicht dazu
legitimiert, einen Kautionsantrag zu stellen. 981 Das Abgehen von der langjährigen ge-
genteiligen Judikaturlinie wird va mit der gesetzgeberischen Schutzintention der §§ 57 f
ZPO begründet, die im Wesentlichen darin liege, dass nur eine beklagte Partei, die gegen
ihren Willen von einem nicht in Liechtenstein ansässigen Kläger belangt wird, vor den
982
Schwierigkeiten einer Kostenvollstreckung im Ausland geschützt werden soll . Die da-
rüber hinausgehende Frage, ob ein auf Seiten der beklagten Partei beigetretener Neben-
intervenient eine Kaution aber in demjenigen Fall verlangen kann, dass ihm die klagende
Partei den Streit verkündet hat, wurde in der Rsp - soweit ersichtlich - bislang nicht
beantwortet, wird aber zum Teil in der öLit 983 und nunmehr auch von Ungerank im
l l. Kapitel dieses Handbuchs „Sicherheitsleistung für Prozesskosten"984 bejaht.
Im Unterschied zu Österreich wird das grundsätzliche Recht des Nebenintervenienten, 7.35
Rechtsmittel zu erheben, nicht bloß aus der allgemeinen Regelung des § 19 Abs I ZPO
abgeleitet, sondern direkt auf§ 19 Abs 4 ZPO gestützt, der diesbezüglich klarstellt: ,,Der
Intervenient ist befugt, ohne Genehmigung oder Ermächtigung der Hauptpartei alle ge-
setzlich zulässigen Rechtsmittel zu ergreifen, wenngleich die Hauptpartei selbst keinen
Gebrauch davon macht". Auch der einfache Nebenintervenient kann also sowohl neben
als auch anstelle der Hauptpartei Rechtsmittel einbringen, es sei denn, die HauptEartei
hat ausdrücklich auf Rechtsmittel verzichtet oder ihr Rechtsmittel zurückgezogen. 9 5 Die
Hauptpartei bleibt damit auch im Rechtsmittelstadium Herrin des Verfahrens und ist
etwa berechtigt, während des Berufungsverfahrens und ungeachtet der mittlerweile er-
hobenen Berufung des Nebenintervenienten mit der Gegenseite einen außergerichtlichen
Vergleich zu schließen, der zur verfahrensrechtlichen Klagsrücknahme sowie zur Zurück-
nahme der Berufung führt. 986 Die Hauptpartei muss dabei weder auf die Berufung des
3. Kostenersatz
7.37 Nach § 41 Abs 1 und § 43 Abs 2 ZPO ist der Nebenintervenient zwar Kostengläubiger,
nicht aber Kostenschuldner, woraus im Weiteren gefolgert wird, dass er auch zum Erlag
996
einer Prozesskostensicherheit nicht verpflichtet ist. Der Nebenintervenient auf Seiten
997
der obsiegenden Hauptpartei hat also (in der Hauptsache ) grundsätzlich Anspruch auf
Ersatz der ihm durch die Prozessführung verursachten zur zweckentsprechenden
Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Kosten durch den unterlegenen
Gegner, während der Nebenintervenient auf Seiten der unterlegenen Hauptpartei der Ge-
987 OGH 05 CG.2002.92 LES 2006, 320; vgl auch RIS-Justiz RS0035560.
988 Mit der Einfügung des§ 489a ZPO durch LGBI 2018/207 sollte die auf der richtungsweisenden
Entscheidung des StGH v 5. 9. 1997 StGH 1997/3 basierende grundrechtskonforme Spruch-
praxis des OGH (2 Cg 99.00142 LES 2000, 112), wonach das Rekursverfahren und gleicher-
maßen das Revisionsrekursverfahren generell zweiseitig zu sein haben, gesetzlich normiert (vgl
BuA 2018/19, 146).
989 OGH 1 C 282/96 LES 2000, 37.
990 OGH 14. 6. 2007, 02 CG.2001.52.
991 )BI 2003, 315.
992 RIS-Justiz RS0l 17093; RS0122182.
993 RlS-Justiz RS0l22182.
994 öOGH 1 Ob 436/51 SZ 24/216; 7 Ob 159/07v )BI 2008, 458.
995 Schneider in Fasching/Konecny 1111 1 § 19 ZPO Rz 12 ff; Fucik in Rechberger/Klicka, ZPO' § 19
Rz 1ff; Auer in Höllwerth/Ziehensack, ZPO-TaKom § 19 ZPO Rz 3ff.
996 OGH 02 CG.2001.52 LES 2008, 73.
997 Zu den Kosten des Zwischenverfahrens über den Beitritt vgl oben Rz 7.24.
genpartei gegenüber nicht kostenersatzpflichtig wird. 998 Die unterlegene Hauptpartei hat
mithin für alle Prozesshandlungen inklusive allfälliger Rechtsmittel ihres Streithelfers kos-
tenmäßig voll einzustehen. Bleibt bspw ein Rechtsmittel des Nebenintervenienten erfolglos,
so hat die Hauptpartei dem Prozessgegner die Kosten aller (notwendigen und zweckmäßi-
gen) Verfahrenshandlungen zu ersetzen, auch wenn diese (nur) durch den Nebeninterve-
999
nienten veranlasst worden sind. Diese Kostenfolge kann die Partei nur dadurch abwen-
den, dass sie das Rechtsmittel ihres Nebenintervenienten oder dessen Anträge zurückzieht
oder diese durch ihren Widerspruch vernichtet. 1000 Geschieht dies nicht, so hat sie auch die
Kosten der gegnerischen Rechtsmittelbeantwortung zu tragen. 1001 Der Nebenintervenient
erhält Kostenersatz im selben Verhältnis wie die Hauptpartei, der er konkret beigetreten
ist. 1002 Als Streithelfer einer Partei, an deren Obsiegen er ein rechtliches Interesse hat, steht
der Nebenintervenient dieser Partei aber iS des Art 15 lit a RA TG ebenso wenig gegenüber
wie umgekehrt die Partei dem Nebenintervenienten auf ihrer Seite. Beiden gebührt deshalb
(wenn sie von unterschiedlichen Rechtsanwälten vertreten werden und ihnen auf der ande-
ren [Gegen-)Seite nur eine Person gegenübersteht) kein Streitgenossenzuschlag.1 003
Eine auf den kostenrechtlichen Grundsatz der Eingriffshaftung gestützte Kostenersatz- 7.38
pflicht des Nebenintervenienten wird allerdings ausnahmsweise für den Fall bejaht, dass
der Nebenintervenient zu Unrecht Prozesshandlungen der von ihm unterstützten Haupt-
partei bekämpft und somit als deren Gegner auftritt. 1004
998 OGH 10 HG 2002.58-39 LES 2005, 174; 6 C 547/97 LES 2007, 317; 01 CG.2002.32 LES 2009,
160; 7.9.2012 06 CG.2010.366.
999 OGH 6 C 547/97 LES 2007, 317; 02 CG.2001.52 LES 2008, 73; 01 CG.2002.32 LES 2009, 160;
RIS-Justiz RS0035579 (Tl).
1000 OGH 6 C 547/97 LES 2007, 317.
1001 OGH 6 C 547/97 LES 2007, 317.
1002 OGH 7. 9. 2012, 06 CG.2010.366.
1003 OGH 05 CG.174.2000 LES 2000, 228.
1004 OGH 06 CG.201 l.178 LES 2012, 108.
1005 Schneider in Fasching/Konecny 11/1 3 § 20 ZPO Rz I; Fucik in Rechberger/K/icka, ZPO' § 20
Rz 1.
1006 Schneider in Fasching/Konecny II/ I 3 § 20 ZPO Rz 2.
sische Nebenintervention ist jedenfalls dann gegeben, wenn bei semeinsamer Klage eine
wirkungsgebundene Streitgenossenschaft entstanden wäre. 100 ' Da im Fall einer an-
spruchsgebundenen Streitgenossenschaft die Klage notwendig von allen oder gegen alle
(nur) gemeinsam Berechtigten oder Verpflichteten eingebracht werden muss, widrigen-
falls sie mangels Sachlegitimation abzuweisen ist, kommt nach hA bei Anspruchsgebun-
denheit eine streitgenössische Nebenintervention nicht in Betracht. 1008 Dh der bloße Bei-
tritt eines in der Klage nicht mit einbezogenen Streitgenossen als Nebenintervenient
reicht danach nicht aus, um den Mangel der notwendigen Streitgenossenschaft nachträg-
lich zu sanieren. 1009 Die öRsp lässt es über den Fall der Rechtskrafterstreckung hinaus für
die Annahme einer streitgenössischen Nebenintervention aber auch genügen, wenn das
Urteil gegen den Nebenintervenienten vollstreckt werden kann 1010 oder wenn die Tatbe-
standswirkung des Urteils auch das Rechtsverhältnis zwischen Nebenintervenienten und
Hauptpartei ergreift.1° 11 Der Fürstliche Oberste Gerichtshof weicht von dieser österr
Rechtsprechungslinie ab und geht einen an die öLehre angelehnten Weg, wenn er in
seiner Entscheidung vom 5.4.2013, 06CG.2011.178 1012 ausspricht: .,Das Rechtsinstitut
der streitgenössischen Nebenintervention ist vielmehr auf solche Fallkonstellationen zu
beschränken, bei denen sich das Urteil nicht nur mittelbar auf den Nebenintervenienten
auswirkt, sondern überdies das eigene Rechtsverhältnis des Nebenintervenienten zum
Gegner seiner Partei unmittelbar gestaltet bzw mit bindender Wirkung normiert. Ein
Urteil kann diese Rechtsfolge nur im Falle der vom Gesetz angeordneten Rechtskrafter-
streckung oder Gestaltungswirkung entfalten. Die bloße ,Tatbestandswirkung' eines Ur-
teils, nämlich die Entfaltung tatsächlicher Auswirkungen auf die Rechtssphäre eines Ne-
benintervenienten reicht hiefür nicht aus, auch wenn sie diesem die Interventionsbefug-
nis als einfacher Nebenintervenient verleiht".
7.41 Der streitgenössische Nebenintervenient wird also anders als der einfache Nebeninterve-
nient (und unabhängig davon, ob er dem Streit beitritt oder nicht) von den Urteilswir-
kungen unmittelbar erfasst, wobei der Grund hierfür in der spezifischen Eigenart des
Rechtsverhältnisses oder in einer gesetzlichen Vorschrift bestehen kann:
• Aufgrund der besonderen Beschaffenheit des streitigen Rechtsverhältnisses ist das
Urteil auf das Rechtsverhältnis des Nebenintervenienten zum Gegner der Hauptpartei
in solchen Fällen wirksam, in denen auch ohne positive gesetzliche Anordnung eine
erweiterte Rechtskraftwirkung anerkannt ist. 1013 Dies trifft etwa auf Fälle der Einzel-
rechtsnachfolge zu: So kann der Erwerber der streitverfangenen Sache, der als Einzel-
rechtsnachfolger von der Rechtskraft der Entscheidung erfasst ist, dem Rechtsstreit als
streitgenössischer Nebenintervenient beitreten. 1014 Nach einhelliger Auffassung er-
streckt sich die Rechtskraft der Entscheidung im Drittschuldnerprozess auch auf den
Verptlichteten. 1015 Tritt der Verpflichtete dem Prozess des Überweisungsgläubigers ge-
gen den Drittschuldner bei, so kommt ihm nach überwA die Stellung eines streitge-
nössischen Nebenintervenienten zu. 1016• 1017
• Kraft gesetzlicher Vorschrift wirkt das Urteil auf das Verhältnis zwischen dem Ne-
benintervenienten und dem Gegner der Hauptpartei dann, wenn die Rechtskrafterstre-
ckung auf den Dritten ausdrücklich gesetzlich angeordnet ist. 1018 Dies trifft etwa auf
Art 68 Abs l KO (= § 112 Abs I ölO) zu, wonach rechtskräftige Entscheidungen über
die Richtigkeit und Rangordnung der bestrittenen Ansprüche gegenüber allen Konkurs
(Insolvenz-)gläubigern wirksam sind. 1019 Eine Rechtskrafterstreckung kraft gesetzli-
cher Vorschrift sieht aber auch Art 231 Abs 2 EO (= § 310 Abs 2 öEO) vor. Die Ent-
scheidung, die ein betreibender Gläubiger im Rechtsstreit über die überwiesene Forde-
rung erwirkt, ist für und gegen sämtliche Gläubiger wirksam, zu deren Gunsten die
Pfändung der Forderung (auch) erfolgt ist. Jeder dieser Gläubiger kann dem Rechts-
streit auf seine Kosten als Nebenintervenient beitreten. 1020
gegen, dass einem streitgenössischen Nebenintervenienten nur eine auf rein prozessuale
Erklärungen beschränkte prozessrechtliche Position zukommt. Der OGH vertritt also in
Anlehnung an Fasching 1034 und die ältere öRsp 1035 die Meinung, dass der streitgenössi-
sche Nebenintervenient zwar prozessual als Partei behandelt wird, aber materiell-recht-
lich nicht Partei ist und deshalb eine Parteienvereinbarung über den Streitgegenstand
bzw namentlich einen Vergleich und das daraus resultierende Ruhen des Verfahrens
nicht verhindern könne und auch nicht berechtigt sei, einen Fortsetzungsantrag zu stel-
len. Ob diese Rsp tatsächlich Bestand haben wird, bleibt abzuwarten. Immerhin hat der
OGH in seiner E v 2. 10. 2003, 01 CG.2002.67-58 1036 noch ausgesprochen, dass ein
streitgenössischer Nebenintervenient auf Seiten der beklagten Partei im Prozess wie ein
Streitgenosse einer einheitlichen Streitpartei und damit wie die beklagte Partei selbst be-
handelt werde und ihn nach der hRsp im Fall seines Unterliegens im Prozess auch die
Kostenersatzpflicht gegenüber der klagenden Partei treffe. In der E v 9. 3. 2012, 06
CG.2011.178 1037 wiederum hält der OGH fest: Die Partei, die die Fortsetzung des Ver-
fahrens wünscht, oder ein streitgenössischer Nebenintervenient gern § 20 ZPO (§ 20
öZPO), dem die Stellung eines Streitgenossen nach § 14 ZPO (§ 14 öZPO) zukommt,
sind allerdings [im Unterschied zum einfachen Nebenintervenienten] jederzeit berech-
tigt, einen Fortsetzungsantrag zu stellen, wenn sie sich auf die Unwirksamkeit eines au-
ßergerichtlichen Vergleichs bzw der Ruhensvereinbarung berufen. Dieser Ansicht hat
sich erst jüngst auch der StGH 1038 angeschlossen.
V. ,,Streitverkündigung" (§ 21 ZPO)
A. Allgemeines; Begriff und Zweck
Streitverkündung ist die formelle Benachrichtigung eines Dritten von einem erst be- 7.45
vorstehenden oder bereits anhängigen Rechtsstreit durch eine Partei dieses Rechtsstreits.
Dem Dritten soll durch die Verständigung die Gelegenheit zur Hilfeleistung geboten
werden. Eine Verpflichtung, dem Verfahren als Nebenintervenient beizutreten, entsteht
jedoch auch im Fall einer Aufforderung hierzu nicht. 1039
Eine Streitverkündung kann zweckmäßig sein, um einen Streithelfer zu gewinnen, aber 7.46
auch um mögliche Ersatzansprüche insoweit abzuwehren, als dem Adressaten in einem
allfälligen Regressprozess der Einwand der mangelhaften Verfahrensführung abgeschnit-
1040
ten ist. Daneben wird in einer Reihe von Gesetzen die Streitverkündung verpflich-
tend vorgeschrieben: 1041 Eine Obliegenheit zur Streitverkündung trifft etwa nach § 931
ABGB den Übernehmer gegenüber dem Vormann bei der Rechtsmängelhaftung; nach
Art 231 Abs 1 EO den betreibenden Gläubiger gegenüber dem Verpflichteten bei der
Drittschuldnerklage und nach Art 11 Abs 4 AHG den beklagten öffentlichen Rechtsträger
gegenüber dem regresspflichtigen Organ. Gesetzlich vorgesehen ist die Streitverkündung
auch in Art 71 Abs 2 WechselG und Art 53 Abs 2 ScheckG, wobei die rechtzeitige Streit-
verkündung - so wie die Anbringung der Klage - die wechselmäßige/scheckrechtliche
Verjährung unterbricht.
7.47 Die Streitverkündung kann nach § 21 ZPO grundsätzlich schon vor Verfahrenseinlei-
tung, aber auch während des Verfahrens bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss erfol-
gen. Der Beitritt als Nebenintervenient ist dann freilich nur im anhängigen Rechtsstreit
möglich. 1042 Zur Streitverkündung sind die Parteien, genauer gesagt jeder einzelne Streit-
genosse, berechtigt; darüber hinaus wird aber auch jeder, der - wie der einfache Neben-
intervenient - ein rechtliches Interesse am Ausgang des Rechtsstreits hat, als hierzu be-
fugt erachtet. 1043 Als „Dritter" bzw Adressat der Streitverkündung kommt jeder in Be-
tracht, der auch ohne Streitverkündung dem Verfahren als Nebenintervenient beitreten
könnte. 1044
nicht mehr als eine bloße Information des Dritten über das Vorlie~en eines anhängigen
Rechtsstreits, nicht jedoch eine gerichtliche Streitverkündung vor. 1 52 Eine solche bloße
Information genügt aber nicht zur Begründung der Bindungswirkung einer den Anforde-
rungen des§ 21 Abs 1 ZPO entsprechenden Streitverkündung.1° 53 Mit der Streitverkün-
dung kann nach § 21 Abs 2 ZPO die ausdrückliche Aufforderung zum Beitritt als Ne-
benintervenient verbunden werden.
Das Gericht hat den Schriftsatz nur hinsichtlich der Einhaltung der Formvorschriften 7.49
(§§ 74ffZPO) zu überprüfen 1054 und diesen sodann ohne weitergehende inhaltliche Kon-
trolle und ohne weitere Beschlussfassung dem Dritten zuzustellen. 1055 Ist ein Rechtsstreit
bereits anhängig, so wird die Zustellung durch dasjenige Gericht verfügt, das mit dem
Verfahren befasst ist. Im Fall einer Streitverkündung schon vor Einleitung des Prozesses
ist das künftige Prozessgericht zuständig. 1056 Die Streitverkündung hat auf den Verlauf
des Prozesses keinen Einfluss. Der Streitverkündende kann mithin zur Klärung des Bei-
tritts weder die Unterbrechung des Verfahrens, noch die Erstreckung von Fristen oder
die Verlängerung von Tagsatzungen begehren (§ 21 Abs 3 ZPO). Enthält die Streitver-
kündung die Aufforderung zum Beitritt als Nebenintervenient, so richtet sich das weitere
Beitrittsverfahren nach den §§ 17 ff ZPO. Wenn der Dritte seinen Beitritt erklärt, muss
das Gericht also zunächst von Amts wegen die formellen Zulässigkeitsvoraussetzungen
prüfen (§ 17 ZPO) und im Fall eines Zurückweisungsantrags das Zwischenverfahren
nach § 18 Abs 2 ZPO über die Zulassung der Nebenintervention durchführen.
Verfahren soweit unbeschränktes rechtliches Gehör zustand. Das gilt jedoch nicht auch
für denjenigen, der sich am Vorprozess nicht beteiligte, dem aber auch gar nicht der
Streit verkündet worden war. 1059 Naheliegende Folge dieser Bindungswirkung ist, dass
für den streitverkündeten Dritten ein faktischer Zwang zum Beitritt als Nebeninterveni-
ent besteht. Ob die Interventionswirkung dann tatsächlich eintritt und Bedeutung er-
langt, hängt aber letztlich davon ab, dass die Hauptpartei im Vorprozess zumindest teil-
weise unterliegt 1060 und in einem Folgeprozess Rückgriff nimmt.
7.51 Soweit ersichtlich hatte sich der Fürstliche Oberste Gerichtshof bislang mit der Frage der
Bindungswirkung noch nicht einlässlich zu befassen. In seiner unveröffentlichten E v
26. 3. 2018, StGH 2017/133, verweist freilich der Staatsgerichtshof zur Rechtfertigung
der unterschiedlichen Behandlung von einfachem und streitgenössischem Nebeninterve-
nienten auf deren unterschiedliche Bindung an das Urteil, wobei er sich insb bei der
Frage der Bindung des einfachen Nebenintervenienten an die Hauptsacheentscheidung
auf die geltende öRsp sowie die einschlägige Kommentarliteratur dazu stützt. Da über-
nommenes Recht in Liechtenstein vorbehaltlich der Abweichung aus triftigen Gründen
so zu gelten hat, wie es die Höchstgerichte im Ursprungsmitgliedstaat - in Österreich also
der öOGH - anwenden (Law in Action), 1061 darf wohl davon ausgegangen werden, dass
sich gegebenenfalls auch der Fürstliche Oberste Gerichtshof in der Frage der Bindungs-
wirkung der Rechtsprechungslinie des öOGH anschließen wird.
2. Betroffene Personen
7.52 Von der Bindungswirkung erfasst sind nach der öRsp nur der einfache Nebeninterveni-
ent sowie derjenige, dem der Streit - wenn auch erfolglos - verkündet wurde. 1062 Für
den Eintritt der Bindungswirkung maßgebend ist also nicht notwendig der tatsächliche
Beitritt als Nebenintervenient, vielmehr genügt die durch die Streitverkündung eröffnete
Möglichkeit zum Beitritt und damit zur Wahrung des rechtlichen Gehörs. 1063 Wurde der
dem Verfahren nicht beigetretene Dritte vom Rechtsstreit nicht förmlich benachrichtigt,
so kann die Bindung nicht greifen, und zwar selbst dann nicht, wenn der Dritte vom
Behängen des Verfahrens Kenntnis hatte. 1064
7.53 Die den Dritten treffende Bindungswirkung des Urteils besteht nur gegenüber demjeni-
gen, der den Streit verkündet hat bzw auf dessen Seite der Beitritt erfolgt ist, und
nicht auch im Verhältnis von Drittem und Gegenpartei. 1065 Wird dem Adressaten der
Streitverkündung - etwa über Zurückweisungsantra~ der Gegenpartei - der Beitritt ver-
066
weigert, so soll die Bindungswirkung nicht greifen. Der öOGH hat eine Bindungs-
wirkung gleichwohl dann angenommen, wenn nur die erste Instanz den Beitritt rechts-
kräftig verweigert hat, dh der Dritte die Zurückweisung nicht mit Rekurs bekämpft
hat.1oir7
Zweifelsfragen hinsichtlich der Bindungswirkung ergeben sich ua dann, wenn durch 7.54
beide Parteien eine Streitverkündung erfolgt oder auch nur eine Partei den Dritten
zum Beitritt auffordert, dieser dann aber auf der Seite des Gegners eintritt. 1068 Geht
man vom Rechtssatz des verstärkten Senats aus, so liegt in beiden Fällen - zumindest
auf den ersten Blick - die Annahme einer doppelten Interventionswirkung nahe. Eine
solche wird jedoch mit der Begründung abgelehnt, dass die Interventionswirkung nur so
weit eintreten kann, wie dem Dritten uneingeschränktes rechtliches Gehör zugekom-
1069
men ist. Da der Nebenintervenient aber nicht gleichzeitig für beide Parteien unter-
stützend tätig sein könne, insb kein Vorbringen erstatten dürfe, das in Widerspruch zu
den Behauptungen seiner Hauptpartei stehe, 1070 müsse eine Bindungswirkung im Ver-
hältnis zum Gegner ausscheiden. 1071 Grundsätzlich soll der Nebenintervenient also frei
beurteilen können, welche Ansprüche ihm wahrscheinlich erscheinen und welche Partei
er daher durch eine Nebenintervention unterstützen will. Das soll auch dann gelten,
wenn dem Nebenintervenienten durch eine der Streitparteien der Streit verkündet wur-
de.1072 Die Interventionswirkung tritt dann aber nur im Verhältnis zu derjenigen Partei
ein, auf deren Seite der Beitritt als Nebenintervenient tatsächlich erfolgt. 1073
1067 öOGH 6 Ob 140/12z JBI 2013, 52; RIS-Justiz RS0107338 (T28); krit hierzu etwa Schneider,
ÖJZ 2017, 537.
1068 Eingehend zu diesen und ähnlichen Fallkonstellationen zur Interventionswirkung Schneider
in Fasching/Konecny 11/1 3 § 21 ZPO Rz 25ff; Schneider, ÖJZ 2017, 538ff; vgl auch Auer in
Höllwerth/Ziehensack, ZPO-TaKom § 21 ZPO Rz 14.
1069 RIS-Justiz RS0107338.
1070 öOGH 4 Ob l l l/07p ecolex 2008/38, 131; RIS-Justiz RS0107338 (Tl8).
1071 öOGH 6 Ob 62/13f ecolex 2014/53, 144; RIS-Justiz RS0l29019.
1072 öOGH I Ob 287/02 s EvBl 2003/76, 337; 7 Ob 159/07v JBI 2008, 458; RJS-Justiz RS0l 17330.
1073 öOGH 6 Ob 62/13f ecolex 2014/53, 144; zust Schneider, JAP 2013/2014, 168f; abl dagegen
Frauenberger-Pfeiler/Slonina, ecolex 2014, 140.
1074 Schneider in Fasching/Konecny 11/1 3 § 21 ZPO Rz 30.
1075 RIS-Justiz RS0l07338.
1076 RIS-Justiz RS0038096.
l077 Schneider in Fasching/Konecny Il/1 3 § 21 ZPO Rz 25ff; Schneider, ÖJZ 2017, 538.
nigen Tatsachen, die für die vorprozessuale Entscheidung wesentlich waren 1078 und die
Rechtsposition des Dritten belasten 1079•
7.56 Eine Einschränkung der Bindungswirkung wird von der Rsp dann allerdings dahinge-
hend vorgenommen, dass sie nur dann eintreten soll, wenn dem Nebenintervenienten
umfassendes rechtliches Gehör zugekommen ist. Keine Bindung besteht also bspw an
Umstände, die der Nebenintervenient im Vorprozess nicht (mehr) wirksam bestreiten
konnte, etwa weil die Hauptpartei Vorbringen außer Streit gestellt hat 1080 oder der Bei-
tritt erst zu einem Zeitpunkt erfolgt ist, in dem die Erstattung neuen Vorbringens bereits
ausgeschlossen war. 1081
7.57 Die Interventionswirkung der Streitverkündung wurde zunächst bei Regressansprüchen
bejaht. Nach der öRsp ist sie freilich nicht auf Regressverhältnisse ieS beschränkt, son-
dern umfasst auch materiell-rechtliche Alternativverhältnisse, die einander gegenseitig
ausschließend bedingen, und Sonderrechtsbeziehungen. 1082 Eine Identität der Rechts-
gründe wird nicht verlangt 1°83 . 1084
1078 Zu den Folgen dieser Einschränkung vgl Schneider, ÖJZ 2017, 538.
1079 Krit hierzu Schneider in Fasching/Konecny II/lJ § 21 ZPO Rz 29; Schneider, ÖJZ 2017, 538
mwH in FN 20; zust dagegen Trenker, Ö/Z 2015, 110.
1080 öOGH 4 Ob l 11/07p ecolex 2008/38, 131; 4 Ob 137/11 t ecolex 2012/120, 300.
1081 öOGH 9 Ob 25/08d, 9 Ob 26/08a RdW 2009/815, 846.
1082 öOGH I Ob 242/97p /BI 2002, 360; 7 Ob 43/02b RdW 2002/591, 657; 7 Ob 159/07v /BI 2008,
458; 9 Ob 12/l5b /BI 2015, 725; RIS-Justiz RS0I07338 (TlO, T29).
1083 öOGH I Ob 242/97p SZ 70/200; 3 Ob 313/01 b RdW 2003/355, 433.
1084 Vgl hierzu Schneider in Fasching!Konecny 11/IJ § 21 ZPO Rz 32.
Übersicht
Rz
I. Parteifähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1
A. Begriff der Parteifähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1
B. Wer ist parteifähig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4
C. Parteifähige Subjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6
1. Natürliche Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6
2. Verbandspersonen (juristische Personen) . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.14
a) Verbandspersonen des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.14
aa) Kapitalgesellschaften und Genossenschaften . . . . . . . . . 8.14
bb) Personengesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. I 8
cc) Sonderfall: Gelöschte bzw voll beendete Gesellschaften . . 8.19
dd) Stockwerkeigentümergemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 8.22
ee) Politische Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.23
ff) Arbeitnehmervertretung und Arbeitnehmerschaft . . . . . 8.25
b) Verbandspersonen des öffentlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . 8.27
aa) Gebietskörperschaften (Land, Gemeinden), Behörden und
Ämter ..................................... 8.27
bb) Sozialversicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.30
cc) Öffentlich-rechtliche Stiftungen, Anstalten und Interessen-
vertretungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.32
c) Stiftungen und Investmentunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . 8.33
d) Treuhänderschaft und Treuunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . 8.36
e) Landeskirche, die Religions- und Bekenntnisgemeinschaften,
religiöse Orden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.38
3. Sonstige parteifähige Gebilde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 I
a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.41
b) Ruhender Nachlass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.42
c) Konkursmasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.43
d) Zwangsverwaltungsmasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.44
D. Die Prozessuale Behandlung der mangelnden Parteifähigkeit . . . . . 8.45
l. Amtswegige Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.45
2. Mangelnde Parteifähigkeit - unrichtige Parteibezeichnung . . . . . 8.47
3. Zwischenstreit über die Parteifähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.49
II. Prozessfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.50
A. Begriff der Prozessfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.50
B. Die Prozessfähigkeit von In- und Ausländern . . . . . . . . . . . . . . . . 8.51
C. Wirkungen und Folgen der Prozessunfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 8.61
l. Wahrnehmung der Prozessunfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.61
2. Zwischenstreit über die Prozessfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.67
3. Die besondere Ermächtigung zur Prozessführung (§ 4 ZPO) . . . 8.68
4. Folgen der fehlenden Ermächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.72
1. Parteifähigkeit
A. Begriff der Parteifähigkeit
8.1 Die Parteifähigkeit ist die Fähigkeit, im Prozess selbstständiger Träger von Rechten und
Pflichten im eigenen Namen zu sein, also die (abstrakte) Fähigkeit, im Prozess Kläger
1085
oder Beklagter sein zu können.
8.2 Der Begriff der Parteifähigkeit ist in der liechtensteinischen ZPO nicht ausdrücklich ge-
regelt. 1086 Er ergibt sich aus der Rechtsfähigkeit bürgerlichen Rechts. Die prozessuale
Rechtsstellung leitet sich insoweit aus der materiell-rechtlichen Rechtsstellung ab, ohne
1087
sich allerdings mit jener umfänglich in allen Bereichen zu decken.
8.3 Der Zivilprozess ist vom Grundsatz des Zweiparteiensystems beherrscht. Voraussetzung
für jeden Prozess ist, dass sich zwei voneinander verschiedene Rechtssubjekte gegenüber-
stehen. Gegen sich selbst kann der Rechtsträger keinen Rechtsschutzanspruch erheben.
Ebenso wenig kann ein und dieselbe Partei zugleich Rechtsmittelwerber und Rechtsmit-
telgegner sein. 1088 Tritt auf der Beklagtenseite der materiell berechtigte Kläger auf, dann
ist der als Beklagter Bezeichnete prozessrechtlich nicht in den Begriff „Partei" einzurei-
hen. Eine Klage, bei der Kläger und Beklagter dasselbe Rechtssubjekt sind, ist zurückzu-
weisen.1089
auch sonstige Gebilde, denen die Rechtsordnung die Fähigkeit verliehen hat, vor Gericht
zu klagen oder geklagt zu werden, ohne ihnen im Übrigen Rechtspersönlichkeit zuzuer-
kennen.1092
Von der Parteifähigkeit zu unterscheiden ist die Fähigkeit, im Prozess rechtsverbind- 8.5
liehe Handlungen setzen zu können (Prozessfähigkeit s Rz 8.50). Die Parteifähigkeit ist
eine Voraussetzung der Prozessfähigkeit. 1093 Eine bloß teilweise (partielle) Parteifähigkeit
ist ausgeschlossen. Auch teilrechtsfähige Rechtssubjekte sind voll parteifähig. Die Partei-
fähigkeit ist stets ungeteilt und allein danach zu beurteilen, ob die Partei im Verfahren
1094
überhaupt als solche auftreten kann.
C. Parteifähige Subjekte
1. Natürliche Personen
Parteifähig sind alle natürlichen Personen, gleichgültig, ob sie In- oder Ausländer 8.6
1095
sind. Gern Art 9 Abs 2 PGR besteht für alle Menschen (natürliche Personen) in den
Schranken der Rechtsordnung die gleiche Fähigkeit, privatrechtliche Rechte und Pflich-
ten zu haben. 1096 Die Persönlichkeit beginnt mit dem Leben nach der vollendeten Geburt
und endet mit dem Tod (Art 50 Abs 1 PGR). 1097
Ausländer sind auch dann parteifähig, wenn ihnen nach dem Recht des Heimatstaats die 8.7
Parteifähigkeit nicht zukommt. Dies ergibt sich zum einen aus dem in § 16 ABGB sta-
tuierten Verbot der Sklaverei und zum anderen aus§ 33 ABGB, nach dem die Fremden
1098
mit den „Eingebornen" gleichzustellen sind.
Ungeborene Kinder sind gern § 22 ABGB parteifähig. Ein bereits gezeugtes, aber noch 8.8
ungeborenes Kind (nasciturus) ist bedingt und beschränkt rechtsfähig, und zwar bedingt
durch die spätere Lebendgeburt sowie beschränkt, als es um seine Rechte geht (Teil-
rechtsfähigkeit).1099· 1100 Die ratio der Bestimmung zielt auf einen möglichst frühen
Schutz des werdenden Lebens ab. Die Teilrechtsfähigkeit beginnt ab der Verschmelzung
von Samen und Eizelle, sodass grundsätzlich bereits ein in vitro fertilisierter Embryo
1101
unter der genannten Einschränkung geschützt ist.
1092 Vgl Nunner-Krautgasser in Fasching/Konecny 11/1 3 Vor§ 1 ZPO Rz 26; RIS-Justiz RS0035327;
RS0035260.
1093 Klauser/Kodek, JN/ZPO'" § 1 ZPO E 3.
1094 Nunner-Krautgasser in Fasching/Konecny II/! 3 Vor § 1 ZPO Rz 26.
1095 Nunner-Krautgasser in Fasching/Konecny 11/1 3 Vor§ 1 ZPO Rz 27; Rechberger/Simotta, Zivil-
prozessrecht9 Rz 362.
1096 Entspricht Art 11 Abs 2 chZGB; Bigler-Eggenberger in BSK ZGB ls Art 11 Rz 3.
1097 Entspricht Art 31 Abs 1 chZGB; Sutter-Somm!Hasenböhler/Leuenberger, chZPO·' Art 66 Rz 8.
1098 Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht• Rz 307.
1099 Koch in KBBs §§ 22-23 ABGB Rz !; Welser!Kletecka, Bürgerliches Recht 115 Rz 175; RIS-Justiz
RS0106731; RS0l06730; OGH 02 C 264/87-29 LES 1991, 91; vgl auch Lindacher in MüKoZPO
Is § 50 Rz 8 (pränatale Teilrechtsfähigkeit).
1100 RIS-Justiz RS0l 14632: dem bereits Gezeugten fällt die Erbschaft unter der Bedingung seiner
Lebendgeburt wie einem Geborenen zu; vgl auch Tenchio in BSK ZPO 3 Art 66 Rz 7; Wcth in
Musielak!Voit, ZPO' 5 § 50 Rz 16.
1101 RIS-Justiz RS0106731.
8.9 Stirbt eine natürliche Person, endet ihre Parteifähigkeit hinsichtlich zukünftiger Prozes-
se. 1102 Sie wird auch nicht durch die vor Einleitung eines Prozesses erteilte Prozessvoll-
macht fortgesetzt, wenn der Tod des Vollmachtgebers vor Einleitung des Rechtsstreits
eingetreten ist. Wenn der Vollmachtgeber hingegen nach Einleitung des Prozesses stirbt,
kommt § ISS ZPO zur Anwendung; die Parteifähigkeit wird dadurch an sich nicht be-
rührt.1103 Bei Tod einer anwaltlich vertretenen Partei während des Rechtsstreits ist deren
Bezeichnung durch die Beifügung des Zusatzes „Verlassenschaft [Ruhen der Verlassen-
schaft) nach [... )" zu ändern. 1104 Durch den Tod einer durch einen Rechtsanwalt als
Verfahrenshelfer vertretenen Partei wird das Verfahren unterbrochen; 1105 ebenso durch
den Tod des Betroffenen, weil damit auch die Vertretungsbefugnis des Sachwalters er-
lischt.1106 Wird statt des Nachlasses die natürliche Person in Unkenntnis ihres Todes
geklagt, rechtfertigt dies die Einleitung des Verfahrens nach §§ 6 f ZPO. 1107
8.10 Bei Tod des Verpflichteten nach Bewilligung der Exekution muss der betreibende Gläu-
biger bei Fehlen einer Erbantrittserklärung bzw eines Nachlasskurators die Bestellung
eines einstweiligen Vertreters des Nachlasses beantragen (Art 17 EO). 1108 Stirbt ein Ver-
pflichteter nach Entstehung des Exekutionstitels, aber noch vor Erlassung der Exeku-
tionsbewilligung, so ist Art 17 EO sinngemäß anzuwenden. Der betreibende Gläubiger
hat in solchen Fällen schon im Exekutionsantrag den Nachlassverwalter anzuführen oder
spätestens gleichzeitig damit einen Antrag auf Bestellun~ eines Vertreters, dem die Exe-
kutionsbewilligung zugestellt werden kann, zu stellen. 11 9
8.11 Die Einzelfirma eines Einzelunternehmers stellt weder ein selbstständiges Rechtssubjekt
noch ein Rechtsobjekt neben und außer dem Unternehmer dar, sondern ist nur Kenn-
zeichen eines Unternehmens, dessen Rechtsträger der Unternehmer als natürliche Person
bildet. Der Einzelunternehmer kann auch unter seinem bürgerlichen Namen klagen und
verklagt werden. 1110 Ob sich ein Unternehmer im Prozess zu Recht einer bestimmten
Firma bedient, betrifft weder die Parteifähigkeit noch die Sachlegitimation, sondern ist
ausschließlich eine Frage der richtigen Parteienbezeichnung. Nicht die Firma - als bloßer
Name des Unternehmers (Art 101 l PGR) 1111 - ist Prozesspartei, sondern der Unterneh-
mer selbst. 1112
1102 Zum postmortalen Fortwirken des Persönlichkeitsschutzes s RIS-Justiz RS0l 16720; Schauer in
Kletecka/Schauer, ABGB-ON' 02 § 16 Rz 26f; Posch in Schwimann/Kodek, ABGB 15 § 16
Rz 49ff.
1103 Nunner-Krautgasser in Fasching/Konecny Il/1 3 Vor§ I ZPO Rz 28; OGH 10 HG.2001.99 LES
2008, 409.
1104 OGH 05 CG.1999.109 LES 2009, 67; 01 CG.2002.32 LES 2009, 160; 2. II. 2018, 03
CG.2017.445, Erw 9.2; Klauser/Kodek, JN/ZPO 18 § 235 ZPO E 233; vgl auch RIS-Justiz
RS0012206.
1105 Klauser/Kodek, JN/ZPO 18 § 155 ZPO E 7.
1106 öOGH 1 Ob 82/12h.
I 107 RIS-Justiz RS0035506.
1108 Vgl § 34 öEO; Leitsatz zu ELG 1967- 1972, 85; LGZ Wien 46 R 393/92 EF 69.946.
1109 RPllE 1992/79.
1110 RIS-Justiz RS0035318.
1111 Vgl§ 17 öUGB.
1112 RIS-Justiz RS0035306.
Wird die Firma eines Einzelunternehmers nach Eintritt der Streitanhängigkeit veräußert, 8.12
gelöscht, geändert oder ist durch Beitritt eines Gesellschafters eine Personengesell-
schaft entstanden, so hat dies auf die Partei des Prozesses und damit auf die Person
des durch das Urteil Verpflichteten keinen Einfluss. Gegebenenfalls ist die Parteibezeich-
nung auf den bürgerlichen Namen des Verpflichteten richtigzustellen. 1113
Haupt- und Zweigniederlassung sind nur organisatorische Formen eines einzigen Unter- 8.13
nehmens; eine Zweigniederlassung setzt eine Hauptniederlassung voraus. Mangels eige-
ner Rechtspersönlichkeit einer Zweigniederlassung ist der Unternehmer allein Prozess-
partei.1114 Die Klage muss daher vom Unternehmer ausgehen bzw gegen ihn gerichtet
werden. Die Firmenbezeichnung der Zweigniederlassung kann in allen Rechtsfällen ge-
wählt werden, an denen die Zweigniederlassung in irgendeiner Weise beteiligt ist, daher
auch dann, wenn das streitgegenständliche Geschäft nicht von der Zweigniederlassung
getätigt, sondern von ihr nur abgewickelt wurde. Dies gilt auch für die Zweigniederlas-
sung einer ausländischen Aktiengesellschaft. 1115
die großen Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit und die Hilfskassen (Art 496 und
531 PGR}, Anstalt (Art 537 PGR) und Stiftungen (Art 552 § 19 PGR), EWIV (Art I Abs 2
EWIV-VO), SE (Art 16 Abs I SE-VO) und SCE (Art 18 Abs 1 SCE-VO).
8.16 Die kleinen Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit und die kleinen Hilfskassen ent-
stehen nach Art 496 Abs 2 PGR unabhängig von der Eintragung in das Handelsregister.
8.17 Bei den Vereinen wird unterschieden zwischen solchen mit und solchen ohne Persön-
lichkeit. Vereine ohne Persönlichkeit sind den einfachen Gesellschaften gleichgestellt
(Art 248 PGR), während Vereine mit Persönlichkeit zu den Körperschaften gehören.
Sie erlangen ihre Rechts- und Parteifähigkeit, sobald aus ihren Statuten der Wille hervor-
geht, als Körperschaft zu bestehen (Art 246 Abs I PGR). Eine Eintragungspflicht besteht
nur für Vereine, die entweder für ihren Zweck ein nach kaufmännischer Art geführtes
Gewerbe betreiben oder revisionspflichtig sind (Art 247 Abs 2 iVm Art 251 b Abs 1
PGR}; in einem solchen Fall erlangt der Verein erst mit der Eintragung das Recht der
Persönlichkeit. Andere Vereine können sich gern Art 247 Abs 1 PGR fakultativ in das
Handelsregister eintragen lassen. 1119
bb) Personengesellschaften
8.18 Von den Personengesellschaften sind die Kollektivgesellschaft (offene Gesellschaft -
Art 689ff PGR) und die Kommanditgesellschaft (Art 733ff PGR) parteifähig. Sie entste-
hen mit der Eintragung in das Handelsregister (Art 689 Abs I bzw Art 733 Abs I PGR).
Sowohl die Kollektivgesellschaft als auch die Kommanditgesellschaft können von den
Gesellschaftern geklagt werden und auch ihrerseits die Gesellschafter klagen. 1120 Die Par-
teifähigkeit kommt ab der Eintragung in das Handelsregister auch der teilrechtsfähi-
gen 1121 europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV) zu. 1122
verfügt, existiert sachlich und rechtlich nicht mehr und ist damit auch nicht mehr rechts-
und parteifähig. 1125 Mit einer vor Klagseinbringung voll beendeten Verbandsperson kann
kein Prozessrechtsverhältnis mehr begründet werden. Ein dennoch mit ihr durchgeführ-
ter Prozess stellt ein rechtliches Nichts dar, das ergangene Urteil ist als Nichturteil 1126
anzusehen. 1127
Einer im Handelsregister gelöschten Verbandsperson kommt, solange ihre Rechtsverhält- 8.20
nisse gegenüber Dritten noch nicht abgewickelt sind, Parteifähigkeit zu. Dies gilt insb
dann, wenn Ansprüche gegen eine Gesellschaft durchgesetzt werden sollen, die während
des Rechtsstreits gelöscht wird. Für die Gesellschaft ist in diesem Fall ein Beistand zu
bestellen. Die bloße Löschung einer Gesellschaft im Handelsregister hat daher keinerlei
Auswirkungen auf deren Parteifähigkeit. 1128 Ebenso ist eine aufgelöste (aufgehobene),
vermögenslose Verbandsperson, die in einem Rechtsstreit obsiegt und Anspruch auf Er-
satz ihrer Prozesskosten hat, nicht voll beendet und daher weiterhin als Rechtsperson
existent. 1129 Ebenso wenig beseitigt die Löschung einer Verbandsperson im Handelsre-
gister während eines gegen sie als verpflichtete Partei anhängigen Exekutionsverfahrens
deren Parteifähigkeit; das Exekutionsverfahren ist über Verlangen der betreibenden Par-
tei ungeachtet dieser Löschung fortzusetzen. 1130 Oberhaupt verstieße es im Fall der Lö-
schung einer Gesellschaft während eines Rechtsstreits gegen die Grundsätze eines fairen
Verfahrens, wenn aus dieser Löschung zu Lasten der klagenden Partei eine Vermutung
der Vermögenslosigkeit der Gesellschaft und damit der Verlust der Parteifähigkeit in
einem anhängigen Verfahren abgeleitet würde. Dadurch würde nämlich der aus Art 6
EMRK abgeleitete Justizgewährungsanspruch auf Entscheidung eines ordnungsgemäß
eingeleiteten Gerichtsverfahrens erheblich beeinträchtigt werden. Ungeachtet der Lö-
schung steht es dem Kläger daher frei, das Verfahren fortzusetzen.1 131
Wenn bei einer gelöschten Verbandsperson nachträglich ein Vermögen hervorkommt, 8.21
hat eine Nachtragsliquidation gern Art 139 PGR zu erfolgen. Verantwortlichkeitsan-
sprüche stellen ein Vermögen dar, das sich zur Eröffnung einer Nachtragsliquidation
eignet. 1132
dd) Stockwerkeigentümergemeinschaft
Bei der Gemeinschaft der Stockwerkeigentümer handelt es sich nicht um eine juristische 8.22
Person. Vielmehr stellt die Rechtsgemeinschaft der Stockwerkeigentümer eine selbststän-
dige Form der Mehrheitsbeteiligung dar, die neben der juristischen Person steht. Von der
juristischen Person unterscheidet sie sich insb durch die fehlende Rechtspersönlichkeit.
Die Handlungsfähigkeit der Stockwerkeigentümergemeinschaft ist in Art 1701 SR gere-
gelt, in dessen Abs 2 bestimmt wird, dass die Gemeinschaft der Stockwerkeigentümer
I 125 OGH 02 CG.2001.52 LES 2008, 76; 11 RS.2006.192 LES 2010, 52; 07 Rs 97/99-20 LES 2000, 50.
1126 Rechberger!Klicka in Rechberger/Klicka, ZPO' Vor§ 390 Rz 38.
1127 OGH 02 CG.2001, 52 LES 2008, 76; 02 CG.2001.52 Pool 2007, 213.
1128 OG H H p.32/2000- 12 LES 2001, 32.
1129 OGH 01 CG.2006.71 LES 2008, 279.
1130 OGH EX.2002.4729 LES 2003, 321; EX.2001.2432 LES 2002, 236.
1131 OGH 10 Hg 17/2000-32 LES 2002, 186.
1132 OGH 06 NP.2007.48 LES 2008, 284; 05 HG.2012.454 LES 2014, 12.
unter ihrem Namen klagen und betreiben sowie am Ort der gelegenen Sache geklagt und
betrieben werden kann. Damit wird der Gemeinschaft der Stockwerkeigentümer kraft
besonderer gesetzlicher Anordnung im Rahmen der gemeinschaftlichen Verwaltungstä-
1133
tigkeit formell Partei- und Prozessfähigkeit verliehen. Diese Partei- und Prozessfähig-
keit gern gesetzlicher Anordnung bezieht sich nicht nur auf den Zivilprozess, sondern
muss auch das Verfahren vor dem StGH zur Geltendmachung von Grundrechtsverlet-
1134
zungen umfassen.
1133 StGH 1998/014 LES 1999, 226; vgl auch Art 7121 chZGB als Rezeptionsgrundlage; Staehelinl
Schweizer in Sutter-Somm/Hasenböhler!Leuenberger, ZPO' Art 66 Rz 21.
1134 StGH 1998/014 LES 1999, 226.
1135 Siehe Art 2 Abs I des Gesetzes über die Ausrichtung von Beiträgen an die politischen Par-
teien, LG BI 1984/ 31.
1136 Siehe Art 6 des Gesetzes über die Ausrichtung von Beiträgen an die politischen Parteien, LGBI
1984/31.
1137 In Ö beruht die Parteifähigkeit der politischen Parteien auf dem Parteiengesetz; gern der im
Verfassungsrang stehenden Bestimmung des§ 1 Abs 4 PartG erlangt die politische Partei mit
der Hinterlegung der Satzung Rechtspersönlichkeit (RIS-Justiz RS0009147). Eine politische
Partei kann aber auch in Ö als Verein nach dem Vereinsgesetz organisiert werden; diesfalls
besitzt sie Rechtspersönlichkeit sowohl nach dem Vereinsgesetz als auch nach dem Parteien-
gesetz, was aber nichts an der Identität des Rechtsträgers ändert, insb werden nicht zwei ge-
trennte Rechtssubjekte geschaffen (RIS-Justiz RS0l 16034).
1138 OGH 02 C 154/82-39 LES 1998, 20.
1139 Aicher in Rummel/Lukas, ABGB 14 § 26 Rz 34.
1140 Nunner-Krautgasser in Fasching!Konecny 11/1 3 Vor§ 1 ZPO Rz 60.
1141 Vgl RIS-Justiz RS0035188.
anzusehen sind oder eine individuelle Klagsberechtigung genießen, ist eine Lösung zu
wählen, die mit dem Zweck einer effizienten Mitwirkung der Arbeitnehmerschaft ver-
einbar ist. Die Konstruktion einer notwendigen Streitgenossenschaft ist daher ebenso
abzulehnen wie die Annahme einer Gemeinschaft mit körperschaftlichen Elementen.
Den Arbeitnehmern ist daher eine individuelle Durchsetzung der Mitwirkungsrechte
1142
zuzugestehen.
Bei Streitigkeiten nach dem MWG oder einer vertraglichen Mitwirkungsordnung ist au- 8.26
ßer den beteiligten Arbeitgebern und Arbeitnehmern auch der liechtensteinische Arbeit-
nehmerinnenverband k.Jageberechtigt. Der Verband hat allerdings nur einen Feststel-
lungsanspruch (Art 12 Abs 2 lit d MWG). 1143
Es ist als Träger von Rechten und Pflichten ein einheitliches Rechtssubjekt, ohne Rück-
sicht auf die Gliederung in einzelne Ressorts und Ämter. Als Gebietskörperschaften des
öffentlichen Rechts sind auch die Gemeinden parteifähig (Art 3 GemG). 1145
Die Person des Landesfürsten untersteht nicht der Gerichtsbarkeit und ist rechtlich 8.28
nicht verantwortlich. Dies gilt auch für jenes Mitglied des Fürstenhauses, das für den
Fürsten die Funktion des Staatsoberhaupts ausübt (Art 7 Abs 2 LV). Es gilt absolute
Immunität, dh die Immunität erstreckt sich auch auf die „privaten" Handlungen des
Landesfürsten bzw des die Funktion des Staatsoberhaupts ausübenden Mitglieds des
Fürstenhauses. 1146
Grundsätzlich kommt den Ämtern der Landesverwaltung keine eigenständige Rechts- 8.29
1147
persönlichkeit zu. Die Ämter können jedoch im Einzelfall in einem gerichtlichen
Verfahren parteifähig sein, wenn dies in den jeweiligen Materiengesetzen normiert
ist. 114s
bb) Sozialversicherungen
8.30 Gern Art l Abs l AHVG und Art l Abs l IVG sind die liechtensteinische Alters- und
Hinterlassenenversicherung und die liechtensteinische Invalidenversicherung selbststän-
dige Anstalten des öffentlichen Rechts. Sie haben Rechtspersönlichkeit und verfügen
damit über Parteifähigkeit.
8.31 Rechtsträger der Vorsorge können nur im Handelsregister eingetragene Stiftungen mit
Sitz in Liechtenstein sein (Art 13 Abs I BPVG). Der Staat hat von dem in Art 13 Abs 3
BPVG eingeräumten Recht, für die Vorsorge seiner Arbeitnehmer einen selbstständigen
Rechtsträger zu wählen, Gebrauch gemacht. Er hat iS dieses Gesetzes eine Stiftung als
Trägerin der betrieblichen Vorsorge errichtet. Diese Vorsorgeeinrichtung wird in Form
einer Sammelstiftung geführt (Art 4 BPVG).
8.34 Gemeinnützige wie privatnützige Stiftungen, die ein nach kaufmännischer Art geführtes
Gewerbe betreiben, sind im Anschluss an die Stiftungserklärung in das Handelsregister
einzutragen. Erst durch die Eintragung erlangt die eintragungspflichtige Stiftung
Rechtspersönlichkeit. Privatnützige Stiftungen, die kein nach kaufmännischer Art ge-
führtes Gewerbe betreiben, unterliegen nach Art 552 § 14 Abs 3 PGR keiner Eintra-
gungspflicht. Solche Stiftungen erlangen bereits mit der Stiftungserrichtung Rechtsper-
sönlichkeit.1154
1149 Siehe auch Art I Abs I der Statuten der Universität Liechtenstein.
1150 Marxer & Partner, Wirtschaftsrecht 238.
1151 Siehe § I ff der Statuten der Vereinigung liechtensteinischer Richter.
1152 Siehe Art l der Statuten der liechtensteinischen Ingenieur- und Architektenvereinigung.
1153 Gasser, Stiftungsrecht Art 552 § 1 Rz 4.
1154 Marxer & Partner, Wirtschaftsrecht 82; Gasser, Stiftungsrecht Art 552 § 1 Rz 5.
Investmentunternehmen und deren Verwaltungsgesellschaften sind, soweit sie ihren Sitz 8.35
in Liechtenstein haben, im Investmentunternehmensgesetz v 2. 12. 2015 geregelt
(IUG). 1155 Ein Investmentunternehmen kann als offenes oder geschlossenes Investment-
unternehmen ausgestaltet sein. Es kann die Vertragsform, die Form der Treuhänder-
schaft (Kollektivtreuhänderschaft), die Satzungsform (Investmentgesellschaft) oder die
Form einer Personengesellschaft (.,Anlage-Kommanditgesellschaft"; .,Anlage-Komman-
ditärengesellschaft") haben (Art 6 Abs I und 2 IUG). Ein Investmentunternehmen benö-
tigt eine Verwaltungsgesellschaft und eine Verwahrstelle (Art 18 Abs l IUG). Eine Ver-
waltungsgesellschaft bedarf zur Ausübung ihrer Geschäftstätigkeit einer Bewilligung
durch die Finanzmarktaufsicht (Art 22 Abs I IUG iVm Art 23 IUV). Diese wird ua er-
teilt, wenn die Verwaltungsgesellschaft in der Form einer Aktiengesellschaft oder als An-
stalt liechtensteinischen Rechts oder als Europäische Gesellschaft (SE) konstituiert ist
(Art 23 Abs I lit b IUG).
1155 Zur Aufnahme, Ausübung und Beaufsichtigung der Tätigkeit von Verwaltern alternativer
Investmentfonds (,.alternative investment fund managers - AIFM") und von alternativen In-
vestmentfonds (,.AIF") siehe das Gesetz v 19.12.2012 über die Verwalter alternativer Invest-
mentfonds (AIFMG).
1156 Marxer & Partner, Wirtschaftsrecht 116; GE 2017, 214; OGH 07 CG.2016.8 LES 2018, 296.
1157 Marxer & Partner, Wirtschaftsrecht 129.
1158 Marxer & Partner, Wirtschaftsrecht 129; s auch OGH 02 NP.2008.71 LES 2010, 337.
des Staats zu den staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften in den Bereichen der ge-
meinsamen Angelegenheiten, zu denen insb die Religionsmündigkeit, der Religionsunter-
richt, die Seelsorge in öffentlichen Anstalten und Einrichtungen sowie die administrative
Zusammenarbeit zählen. Neben der römisch-katholischen Kirche werden auch die evange-
lische und die evangelisch-lutherische Kirche von Gesetzes wegen staatlich anerkannt. Das
Gesetz legt auch die Voraussetzungen fest, die vorhanden sein müssen, damit privatrecht-
lich organisierte Religionsgemeinschaften staatlich anerkannt oder ihnen Vorrechte des öf-
fentlichen Rechts zugesprochen werden können, wie etwa die Erteilung des Religionsunter-
richts in öffentlichen Schulen oder die religiöse Betreuung ihrer Angehörigen in öffentlichen
Einrichtungen (Gefängnis, Krankenhaus und Heimen). Daneben enthält das Religionsge-
meinschaftengesetz auch den Grundsatz der Finanzierung der Religionsgemeinschaften. 1164
In Art 4 des Entwurfs des Abkommens zwischen dem Fürstentum Liechtenstein und dem
Heiligen Stuhl ist vorgesehen, dass die kirchlichen Rechtspersonen auch im Bereich des
staatlichen Rechts Rechtspersönlichkeit genießen. Im Anhang 1 dieses Abkommensent-
wurfs sind neben dem Erzbistum Vaduz und zahlreichen Pfarreien auch vier Orden an-
geführt. I 165
b) Ruhender Nachlass
Der ruhende Nachlass (hereditas iacens) ist bis zu seiner Einantwortung parteifähig. 1167 8.42
Das bürgerliche Recht erkennt dem ruhenden Nachlass zwar nicht ausdrücklich Rechts-
persönlichkeit zu, es behandelt ihn aber als ein gern§ 811 ABGB zumindest passiv rechts-
fähiges Sondervermögen. 1168 In der Zeit zwischen dem Tod des Erblassers und der Ein-
antwortung kann nur die Verlassenschaft als Kläger oder Beklagter auftreten. 1169 Mit der
1164 BuA betreffend die Neuregelung des Verhältnisses zwischen Staat und Religionsgemeinschaf-
ten, BuA 2012/114; s auch die Stellungnahme der Regierung an den Landtag des Fürstentums
Liechtenstein zu den anlässlich der ersten Lesung betreffend die Neuregelung des Verhältnis-
ses zwischen Staat und Religionsgemeinschaften aufgeworfenen Fragen 154/2012.
1165 Und zwar: Kongregation der Missionare vom Kostbaren Blut bzw Missionshaus Franz Sales
Brunner Sehellenberg, Missionare Unserer Leben Frau von La Salette bzw Salettiner-Kommu-
nität Balzers, Schwestern vom Kostbaren Blut bzw Frauenkloster der Kongregation der
Schwestern vom Kostbaren Blut zu Sehellenberg, Anbeterinnen des Blutes Christi (ASC)
bzw Kloster St. Elisabeth Schaan; s auch Nowotny in FS Danz! 707 ff.
1166 RIS-Justiz RS0035327; Fucik in Rechberger!Klicka, ZPO; Vor § l Rz 5; Nademleinsky in Hö/1-
werth/Ziehensack, ZPO-TaKom § 1 ZPO Rz 2.
1167 Klauser!Kodek, JN/ZPO 18 § 1 ZPO E 22, 25; Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht 9 Rz 362;
Nunner-Krautgasser in Fasching!Konecny 11/1 3 Vor§ 1 ZPO Rz 90; vgl auch Staehelin/Schwei-
zer in Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger, chZPO 3Art 66 Rz 27.
1168 Zur Konkursfähigkeit des Nachlasses s Art 6ff KO; Marxer & Partner, Wirtschaftsrecht 322.
1169 RIS-Justiz RS0012282; OGH 03 RZ.2008.731 LES 2009, 318.
Rechtskraft der Einantwortung hört der ruhende Nachlass auf zu ex.istieren. 1170 Wird das
Vermögen des Beklagten dem Kläger als Alleinerben eingeantwortet, ist das Verfahren -
1171
auch noch im Revisionsverfahren - einzustellen.
c) Konkursmasse
1172
8.43 Die Konkursmasse tritt im Zivilprozess als Klägerin oder als Beklagte auf. Auch aus-
ländische Konkursmassen werden als Prozessparteien in liechtensteinischen Zivilverfah-
ren anerkannt. 1173 Ebenso ist das Treugut ein konkursfahiges Sondervermögen (Art 916
Abs 4 PGR). 1174
d) Zwangsverwaltungsmasse
8.44 Die Zwangsverwaltungsmasse ist parteifahig (Art 68 EO). 1175
1170 RIS-Justiz RS0012206; Klauser/Kodek, JN/ZPO 18 § l ZPO E 25; Reymann, LJZ 2004, 67.
1171 öOGH6Ob812/83.
1172 Fucik in Rechberger/K/icka, ZPO' Vor § 1 Rz 5; Nunner-Krautgasser in Fasching/Konecny II/ l 3
Vor § 1 ZPO Rz 91; Staehe/in/Schweizer in Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger, chZPO 3
Art 66 Rz 26.
1173 StGH 1995/28 LES 1998, 6.
1174 Marxer & Partner, Wirtschaftsrecht 373.
1175 Vgl§ 109 öEO.
1176 Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht9 Rz 363; RIS-Justiz RS0035260.
1177 öOGH 3 Ob 62/06y.
1178 Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht9 Rz 363.
1179 Nunner-Krautgasser in Fasching/Konecny Il/l 3 Vor § 1 ZPO Rz 98; Rechberger/Simotta, Zivil-
prozessrecht9 Rz 363; RIS-Justiz RS0035392; RS0I 10705.
1180 RIS-Justiz RS0l 10705; RS0035423.
1181 Nunner-Krautgasser in Fasching/Konecny 11/1 3 Vor§ 1 ZPO Rz 100.
II. Prozessfähigkeit
A. Begriff der Prozessfähigkeit
Die Prozessfähigkeit ist die Fähigkeit, alle Prozesshandlungen selbst oder durch einen 8.50
selbst gewählten Vertreter wirksam vorzunehmen oder entgegenzunehmen. Sie geht
mit der Handlungsfähigkeit des bürgerlichen Rechts einher und wird deshalb auch
prozessuale Handlungsfähigkeit genannt. 1186
keit eines Ausländers ist nach der für ihn günstigeren Norm entweder seines Heimat-
staats oder des liechtensteinischen Rechts zu beurteilen. 1188 Ist die Klage bereits anhängig
und unterliegt die klagende Partei nicht der inländischen Pflegschaftsgerichtsbarkeit, so
hat das Prozessgericht selbst die erforderlichen Vorkehrungen zur Beseitigung eines all-
fälligen Mangels der Prozessfähigkeit nach den §§ 6, 8 ZPO zu treffen, sofern sich nicht
das zuständige ausländische Pflegschaftsgericht - nach Verständigung durch das Prozess-
gericht - doch dazu verstehen sollte, eine Betreuung für die klagende Partei zu bestel-
len.• 1s9
8.53 Auf eine im Ausland erfolgte Entmündigung ist Bedacht zu nehmen.1 190
8.54 Im Einzelnen sind prozessfähig:
• Alle volljährigen Personen, die die volle Geschäftsfähigkeit besitzen (§ 1 ZPO);
• alle Minderjährigen im Rahmen ihrer zivilrechtlichen Geschäftsfähigkeit (§ 2 ZPO).
8.55 Minderjährige Kinder, die das 14. Lebensjahr vollendet haben, 1191 sind im Hinblick auf
jene Sachen prozessfähig, die ihnen zur freien Verfügung überlassen wurden, ferner hin-
sichtlich ihres eigenen Einkommens, soweit dadurch die Befriedigung ihrer Lebensbe-
dürfnisse nicht gefährdet wird (§ 151 Abs 2 ABGB).1 192 Sie können sich selbstständig
durch Vertrag zu Dienstleistungen, ausgenommen aufgrund von Lehr- oder sonstigen
193
Ausbildungsverträgen, verpflichten (§ 152 ABGB).1 Auch bezüglich jener geringfügi-
gen Rechtsgeschäfte, die von Personen ihres Alters üblicherweise geschlossen werden und
194
bereits erfüllt sind, sind minderjährige Kinder prozessfähig (§ 151 Abs 3 ABGB).1
8.56 In Verfahren über deliktische Schadenersatzansprüche sind auch Minderjährige, die das
14. Lebensjahr erreicht haben, ungeachtet ihrer Deliktsfähigkeit gern § 153 ABGB 1195
nicht prozessfähig (dies ergibt sich aus§ 2 ZPO iVm § 151 Abs 2 ABGB).
Für Verfahren über die Obsorge und das Recht auf persönlichen Verkehr normiert 8.57
Art 104 AussStrG 1196 eine besondere Verfahrensfähigkeit Minderjähriger, die das 14. Le-
bensjahr vollendet haben. 1197
Psychisch Kranke und geistig Behinderte, für die gern § 269 ABGB ein Sachwalter bestellt 8.58
worden ist, sind in jenen Angelegenheiten prozessfähig, die nicht in den Wirkungsbe-
reich des Sachwalters fallen (e contrario aus § 280 Abs 1 ABGB).
Blinde 1198, Taube, Stumme und auch taubstumme Personen sind voll prozessfähig. 1199 8.59
Prozessunfähig sind: 8.60
• minderjährige Kinder(§ 151 ABGB);
• psychisch kranke und geistig behinderte Personen im Umfang des Wirkungskreises des
Sachwalters (§§ 269, 280 Abs 1 ABGB);
• jede Person, der es wegen ihres Kindesalters oder infolge von Geisteskrankheit, Geistes-
schwäche, Trunkenheit oder ähnlichen Zuständen 1200 an der Fähigkeit mangelt, die
Beweggründe und die Folgen ihres Verhaltens zu erkennen oder einer richtigen Er-
kenntnis gern zu handeln (Art 15 PGR); 1201
• die Leibesfrucht und die Ungeborenen; 1202
• alle Verbandspersonen, da sie nur durch die Organe handeln können; 1203
• die Personengesellschaften, die durch die vertretungsbefugten Gesellschafter handeln;
• die Konkursmasse, die Zwan~sverwaltungsmasse und die gepfändete und überwiesene
Forderung als Sondermasse; 1 04
• der ruhende Nachlass, der durch einen Nachlasskurator oder den noch nicht einge-
antworteten Erben, der aber bereits eine Erbantrittserklärung abgegeben hat, vertreten
wird;
• Zweckvermögen und andere parteifähige Gebilde, die durch ihre gesetzlich bestimmten
Vertretungsorgane oder Kuratoren handeln.
im Prozess grundsätzlich dieselbe Stellung wie die Partei (§ 5 ZPO). 1205 Nur in Notfällen
darf das Gericht Prozesshandlungen des Prozessunfähigen zulassen. Diese werden aller-
dings nur dann wirksam, wenn sie innerhalb der vom Gericht gesetzten Frist vom ge-
setzlichen Vertreter genehmigt werden(§ 6 Abs 2 letzter Satz ZPO).
8.62 Die Prozessfähigkeit muss als Prozessvoraussetzung in jeder Lage des Verfahrens gege-
ben sein. Daher hat sie das Gericht auch in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen
wahrzunehmen. 1206 Es hat bei Zweifeln über den Bestand der Prozessfähigkeit die not-
wendigen Erhebungen zu pflegen und muss gern § 6 Abs 2 ZPO alles unternehmen, da-
mit der Mangel der Prozessfähigkeit beseitigt werde, insb hat es dem gesetzlichen Ver-
treter die Gelegenheit zu geben, die bisherigen Prozessschritte zu genehmigen. Nur bei
Aussichtslosigkeit oder Scheitern des Heilungsversuchs ist mit Nichtigerklärung des Ver-
fahrens und Klagszurückweisung vorzugehen (§ 7 Abs 1 ZPO). 1207
8.63 Der Mangel der Prozessfähigkeit bildet einen Nichtigkeitsgrund, der allerdings heilt,
wenn der gesetzliche Vertreter die bisherige Prozessführung nachträglich genehmigt
(§ 446 Abs 1 Z 5 ZPO). Diese Genehmigung kann gern§ 446 Abs 2 ZPO auch stillschwei-
gend dadurch erfolgen, dass der gesetzliche Vertreter, ohne den Mangel der Vertretung
geltend zu machen, durch Erstattung der Rechtsmittelschrift oder der Rechtsmittelbeant-
wortung in das Rechtsmittelverfahren eintritt. 1208 Zu einer Heilung kommt es auch dann,
wenn die zu Beginn des Verfahrens prozessunfähige Partei im Lauf des Verfahrens (zB
durch Erreichen der Volljährigkeit) prozessfähig wird und den Prozess, ohne den Mangel
geltend zu machen, fortsetzt. 1209
8.64 Der Mangel der Prozessfähigkeit kann auch noch nach Rechtskraft mit der Nichtigkeits-
klage nach § 497 Abs I Z 2 ZPO 1210 geltend gemacht werden, sofern er nicht bereits im
Verfahren vergeblich geltend gemacht oder die Prozessführung nicht nachträglich geneh-
migt wurde.
8.65 Wird eine Partei während des Verfahrens prozessunfähig, stirbt der gesetzliche Vertreter
eines Prozessunfähigen oder hört seine Vertretungsbefugnis auf, ohne dass die Partei
prozessfähig geworden ist, so wird das Verfahren so lange unterbrochen, bis der gesetz-
liche Vertreter oder der neue gesetzliche Vertreter bestellt ist und er das Verfahren auf-
nimmt(§ 158 ZP0). 1211 Eine Unterbrechung findet nicht statt, wenn die von diesen Än-
derungen betroffene Partei von einem Rechtsanwalt oder einer anderen mit Prozessvoll-
macht ausgestatteten Person vertreten ist. Der Gegner des Prozessunfähigen kann, um
eine Aufnahme des Verfahrens zu bewirken, die Ladung des (neuen) gesetzlichen Ver-
treters bewirken (§ 158 Abs 3 ZPO). 1212
Wenn gegen einen Prozessunfähigen, der keinen gesetzlichen Vertreter hat, eine Prozess- 8.66
handlung (zB K.lagszustellung) vorgenommen werden soll, so hat das Gericht gern § 8
ZPO nur auf Antrag 1213 und (zumindest vorläufig) auf Kosten des Gegners des Prozess-
unfähigen einen Kurator zu bestellen, wenn für diesen Gefahr in Verzug besteht. 1214
klagen. 1235 Für Passivprozesse und Exekutionsverfahren bedarf es nie einer Genehmi-
gung.1236
Das Erfordernis der Genehmigungsbedürftigkeit iSd § 154 Abs 3 ABGB gilt auch für
den Vormund(§ 245 Abs l ABGB), für Sachwalter und Kuratoren(§ 272 Abs 3 ABGB)
und das Amt für Soziale Dienste(§ 245 Abs l ABGB, § 154 Abs 3 ABGB). Das Amt für
Soziale Dienste benötigt gern § 214 Abs 2 ABGB allerdings für Klagen auf Feststellung
der Vaterschaft und Leistungen des Unterhalts sowie zum Abschluss von Vereinba-
rungen über die Höhe der gesetzlichen Unterhaltsleistungen keine gerichtliche Geneh-
migung.
• Der Masseverwalter braucht für die Veräußerung des Unternehmens eines Schuldners
oder seines Anteils an einem Unternehmen sowie für die Veräußerung des ganzen
Warenlagers oder eines Teils davon die Zustimmung des Konkursgerichts (Art 71
Abs 3 KO). Auch die Erhebung von Anfechtungsklagen und der Eintritt in Anfech-
tungsprozesse, die zur Zeit der Konkurseröffnung anhängig sind, sowie der Abschluss
von Vergleichen und die Anerkennung von Aussonderungs-, Absonderungs-, Anfech-
tungsansprüchen und Masseforderungen sind für den Masseverwalter nur mit Zustim-
mung des Konkursgerichts möglich (Art 71 Abs 2 KO).
• Der Zwangsverwalter bedarf gern Art 71 Abs I EO für Verfügungen, die nicht zur
ordentlichen Wirtschaftsverwaltung gehören, und für Maßnahmen von besonderer
Wichtigkeit der Zustimmung des Gerichts.
III. Postulationsfähigkeit
A. Begriff der Postulationsfähigkeit
Als Postulationsfähigkeit (Verhandlungsfähigkeit) wird die Fähigkeit bezeichnet, in eige- 8. 73
ner Person wirksame Prozesshandlungen vorzunehmen, also vor Gericht verhandeln
zu dürfen bzw zu können. 1238
Grundsätzlich ist jede prozessfähige Partei auch postulationsfähig. ISd § 185 ZPO ist pos- 8.74
tulationsunfähig, wer sich nicht verständlich äußern kann, sei es aufgrund mangelnder
Deutschkenntnisse 1239 , sei es wegen dauernder Sprechbehinderung (Gehörlosigkeit,
Wahrnehmung ihrer Rechte zu bezweifeln. Einer solchen Partei wird zu empfehlen sein,
einen Rechtsanwalt oder einen anderen befugten Rechtsvertreter zu bevollmächtigen: 245
§ 185 Abs I ZPO räumt dem Richter auch die Möglichkeit ein, einer Partei, die ohne 8.78
Bevollmächtigten gekommen ist, vorzuschreiben, einen Rechtsanwalt beizuziehen, wenn
er dies für erforderlich erachtet. Diese in das Ermessen des Gerichts gestellte Annahme
wird im Allgemeinen dann gerechtfertigt sein, wenn der Rechtsfall besondere Schwierig-
keiten in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht erwarten lässt und einen Verlauf nehmen
kann, der sich der Übersicht und Einsicht der Partei entzieht. 1246 In einem solchen Fall ist
die Partei auch darüber zu belehren, dass sie bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen
Verfahrenshilfe nach § 64 Abs I Z 3 ZPO beanspruchen kann, weil das Kriterium der
Erforderlichkeit da wie dort ( § 185 ZPO) dasselbe ist.
Wenn hingegen eine Partei durch unsachliches Vorbringen den ordnungsgemäßen Fort- 8.79
gang des Rechtsstreits behindert, besteht für das Gericht kein Anlass, ihr aufzutragen,
sich bei Säumnisfolgen durch einen Rechtsanwalt vertreten zu lassen. 1247
§ 185 Abs I ZPO gilt nur für die Partei, nicht für den einfachen Nebenintervenienten. Ist 8.80
er verhandlungsunfähig, ist er zwar darauf hinzuweisen, mit einem geeigneten Bevoll-
mächtigten zur Verhandlung zu kommen. Es ist aber ausffeschlossen, dass zur Beiziehung
eines Bevollmächtigten die Tagsatzung erstreckt wird. 12 11
in Kenntnis gesetzt zu werden (Art 6 Abs 3 lit a EMRK). Außerdem hat er das Recht, die
unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers zu verlangen, wenn er die Verhandlungs-
sprache des Gerichts nicht versteht oder sich nicht ausdrücken kann (Art 6 Abs 3 lit e
EMRK). 1252 Im Zivilprozess hat hingegen (nur} ,,jedermann" Anspruch darauf, dass „sei-
ne Sache gehört" wird, nicht aber, dass er selbst in der Lage sein muss, seine Sache in der
von ihm beherrschten Sprache vorzubringen. 1253
8.83 Im Zivilprozess ist der Richter dann von Amts wegen zur Beiziehung eines Dolmetschers
verpflichtet, wenn er erkennt, dass er infolge sprachlicher Schwierigkeiten nicht in der
Lage ist, sich mit der zu vernehmenden Partei zu verständigen. 1254 Erkennt der Richter
dies nicht, ist es Sache der zu vernehmenden Person, die Beiziehung eines Dolmetschers
zu beantragen, wenn sie sich selbst aus sprachlichen Gründen nicht imstande fühlt, ihrer
Aussagepflicht korrekt und in zweifelsfreier Weise nachzukommen. 1255 Daraus darf aber
nicht geschlossen werden, dass der Anspruch, einen Dolmetscher beizuziehen, während
des gesamten Verfahrens besteht; der Beizug ist nur für jene Verfahrensabschnitte ge-
boten, in denen es auf die persönliche Ausdrucksfähigkeit einer Partei ankommt, so va
bei der Parteienvernehmung und außerhalb der Verhandlung bei der Befundaufnahme
durch den Sachverständigen. Ansonsten gilt aber die allgemeine Regelung des§ 185 ZPO,
dass auch die wegen fehlender Sprachkenntnisse verhandlungsunfähige Partei mit einem
geeigneten Bevollmächtigten (zu Gericht) kommen muss. 1256
C. Säumnisfolgen
8.85 Wenn die Partei der Anweisung, einen geeigneten Bevollmächtigten zu bestellen, nicht
entspricht, ist sie als ausgeblieben anzusehen. Gleiches gilt, wenn der verhandlungsunfä-
hige Bevollmächtigte oder gesetzliche Vertreter allein zur Verhandlung kommt. Die ver-
handlungsunfähige Partei ist ohne geeigneten Bevollmächtigten von jedem Vorbringen
1252 StGH 2010/116 LES 2011, 102; zum „faktischen" Verfassungsrang der EMRK s StGH 2005/89
LES 2007, 411.
1253 Rassi in Fasching/Konecny 11/3 3 § 185 ZPO Rz 16.
1254 Der öOGH leitet diesen allgemeinen verfahrensrechtlichen Grundsatz aus Art 6 EMRK ab.
1255 RIS-Justiz RS0042398; RW0000226.
1256 Rassi in Fasching/Konecny 11/Y § 185 ZPO Rz 17.
1257 Rassi in Fasching/Konecny 11/3 3 § 185 ZPO Rz 18.
ausgeschlossen. Das kann mangels wirksamer Streiteinlassung zur Fällung eines Versäu-
mungsurteils führen. Hat sich die Partei aber bereits wirksam in den Streit eingelassen, ist
das Verfahren fortzusetzen, wobei der Richter die als ausgeblieben anzusehende Partei
nicht des Verhandlungssaals zu verweisen hat. Von (weiterem) Vorbringen und anderen
Parteihandlungen (zB Fragestellung an einen Zeugen) bleibt sie ausgeschlossen.
Die Säumnisfolgen einer Anweisung nach § 185 Abs 1 ZPO dürfen nur eintreten, wenn 8.86
der Richter die verhandlungsunfähige Partei bzw ihren verhandlungsunfähigen Ver-
treter eingehend belehrt hat. Die Unterlassung der Belehrung wäre ein Verfahrensman-
gel, sodass die Belehrung zu protokollieren ist. Die Belehrung einer verhandlungsunfä-
higen Partei oder eines verhandlungsunfähigen Bevollmächtigten ist deshalb heikel, weil
sie gerade wegen der Verhandlungsunfähigkeit nicht verstanden werden könnte. § 185
Abs I letzter Satz ZPO sieht nur eine einmalige Erstreckung der Tagsatzung wegen Ver-
handlungsunfähigkeit vor. 1258 Erweist sich die Partei als unbelehrbar, wird deren Pro-
zessfähigkeit zu bezweifeln und dringend nach § 6 ZPO vorzugehen sein; stets wird aber
auch abzuwägen sein, ob nicht die Belehrung bewusst unverstanden geblieben ist und
bloß Verschleppungsabsicht oder Querulanz besteht. 1259
1258 Rassi in Fasching/Konecny 11/3 3 § 185 ZPO Rz 21, hält diese Regelung für zu streng; seiner
Ansicht nach wäre der Verhandlungsleiter, der bei der fortgesetzten Tagsatzung zur Über-
zeugung gelangt, dass die Belehrung nicht verstanden wurde, verpflichtet, erneut zu belehren
und die Tagsatzung neuerlich zu erstrecken.
1259 Rassi in Fasching/Konecny Il/3 3 § 185 ZPO Rz 21.
Übersicht
Rz
I. Allgemeines ........................................... 9.1
II. Vollmacht des Rechtsanwalts ist „Prozessvollmacht" . . . . . . . . . . . . . 9.3
A. Die Erteilung der Prozessvollmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4
l. An den Rechtsanwalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4
2. An andere Bevollmächtigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.7
B. Die Berufung auf die Prozessvollmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.8
C. Die Wirkung der Prozessvollmacht ........................ 9.12
III. Umfang der Prozessvollmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.13
A. Gesetzlich zwingend umschrieben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.13
B. Annexverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.14
C. Gerichtlicher Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.15
D. Verzicht und Anerkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.16
E. Außergerichtliche Vergleiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.17
F. Zustellungen an den ausgewiesenen Vertreter . . . . . . . . . . . . . . . . 9.18
G. Substitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.19
IV. Geschäftsunfähigkeit, Tod und Beendigung der Prozessvollmacht . . . . 9.21
A. Geschäftsunfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.21
B. Tod des Vollmachtgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.22
C. Kündigung und Widerruf der Vollmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.24
V. Vollmachtswechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.25
VI. Selbstvertretung bei Insolvenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.26
1. Allgemeines
9.1 Das Vollmachtsrecht der liechtensteinischen ZPO stimmt weitestgehend mit der Rezep-
tionsvorlage der öZPO überein. Abänderungen gab es nur durch vereinzelte Eingriffe des
liechtensteinischen Gesetzgebers. 1260 Grundsätzlich normiert das Vollmachtsrecht der
ZPO (§§ 25 bis 39) die Wirkung der erteilten Vollmacht bzw Prozessvollmacht nach
außen: Dh, die gesetzlichen Vorschriften regeln aus Gründen der Rechtssicherheit im
zivilgerichtlichen Verfahren das Außenverhältnis der bevollmächtigten Person gegenüber
dem Gericht und dem Verfahrensgegner. Nur vereinzelte Bestimmungen regeln auch das
lnnenverhältnis mit. Der zwingende Charakter der Normen des verfahrensrechtlichen
Vollmachtsrechts dient dazu, die Vertretungsmacht des jeweils von einer Partei bevoll-
mächtigen Vertreters unzweifelhaft dem Verfahrensgegner und dem Gericht gegenüber
1260 § 26 ZPO durch LGBl 1924/9; § 28 ZPO durch LGBl 2013/416; § 29 ZPO durch LGBI 2003/24;
§ 31 Abs I ZPO durch LGBl 2003/24; § 31 Abs 2 ZPO durch LGBl 2003/24; § 33 Abs I ZPO
durch LGBl 2003/24.
klarzustellen, sodass kein Zweifel daran bestehen kann, dass der Bevollmächtigte zu den
von ihm vorgenommenen Prozesshandlungen auch tatsächlich bevollmächtigt ist. An-
dernfalls müsste sich eine Partei jeweils von der Bevollmächtigung ihres Gegners zur
Vornahme einzelner Verfahrenshandlungen vergewissern, was insb bei Vergleichsab-
schlüssen hinderlich wäre. In dieser gesetzlichen Zielsetzung liegt auch der Grund dafür,
dass allfällige - gesetzlich höchst eingeschränkte - Vollmachtsbeschränkungen nur dann
nach außen rechtswirksam sind, wenn sie dem Gericht und dem Gegner „besonders
bekannt gegeben" wurden (§ 32 ZPO). Damit ist die Prozessvollmacht des liechtenstei-
nischen Verfahrensrechts - ebenso wie jene der öZPO - eine „Formalvollmacht", 1261
zumal Inhalt und Umfang zwingend in§ 31 ZPO normiert sind.
Im verfahrensrechtlichen Vollmachtsrecht gibt es regelmäßig bestimmte Bereiche, die in 9.2
der Praxis zu Schwierigkeiten, allenfalls auch zu prozessualen Fehlern führen. Diese Be-
reiche sollen im Folgenden speziell hervorgehoben werden.
2. An andere Bevollmächtigte
9.7 Anderen Bevollmächtigten kann Prozessvollmacht oder Vollmacht zu einzelnen Prozess-
handlungen erteilt werden (§ 33 Abs 2 ZPO). Für sie gilt allerdings die gesetzliche Befug-
nis, sich auf eine erteilte Bevollmächtigung zu berufen, nicht. Solche Bevollmächtigte
haben vielmehr gern § 28 Abs I ZPO bei der ersten Prozesshandlung ihre Bevollmäch-
tigung durch eine Vollmachtsurkunde darzutun, welche in Urschrift oder in beglaubig-
ter Abschrift vorzulegen ist. Der Fürstliche Oberste Gerichtshof hat in solchen Fällen
mutwilliges Einschreiten der angeblich bevollmächtigten Person angenommen, wenn
die Notwendigkeit einer Vollmacht schon von den Unterinstanzen klargelegt wurde,
1264
die Bevollmächtigung aber auch im Rechtsmittel nicht nachgewiesen wird.
1263 öOGH 6 Ob 265/06y RdW 2007/426, 414; Zib in Fasching/Konecny Il/1 3 § 26 ZPO Rz 31;
§§ 31, 32 ZPO Rz 5 mwN; Schumacher in FS Binder 190; Schumacher, Prozessvollmacht
Rz 186.
1264 OGH 02 CG.2015.40.
nen hat. 1265 Die Bestimmung des § 28 Abs 2 ZPO ist nicht auf den in § 31 Abs l ZPO
umschriebenen Umfang und Inhalt der Prozessvollmacht beschränkt. Dh, dass ein
Rechtsanwalt zB durch bloße Berufung auch eine Geldvollmacht wirksam behaupten
kann, obwohl diese in § 31 Abs l ZPO nicht genannt ist. Die sog „Geldvollmacht" er-
mächtift den Bevollmächtigten auch zum Empfang des in Geld bestehenden Streitgegen-
stands. 266
Eine richterliche Überprüfung der Behauptung des Rechtsanwalts, bevollmächtigt zu 9.9
sein, ist zulässig, setzt allerdings konkrete Zweifel an der Bevollmächtigung voraus. 1267
Bloß deshalb, weil der Prozessgegner die aufrechte Prozessvollmacht bestreitet, ist ein
Nachweis der Prozessvollmacht nicht zu verlangen. Es sei denn, es ergeben sich aufgrund
dieser Bestreitung, allenfalls auch iZm anderen Indizien, beim Richter konkrete Zweifel
am Vorhandensein einer Prozessvollmacht. Insb kann ohne solche Zweifel bei juristi-
schen Personen als Vollmachtgeber keine Erklärung über die Person verlangt werden,
welche die Vollmacht als Organ der juristischen Person erteilt hat. Das dem Rechtsanwalt
gesetzlich eingeräumte Vertrauen erstreckt sich nämlich grundsätzlich auch darauf, dass
die Bevollmächtigun~ von einer hiezu befugten Person bzw einem hiezu zuständigen
Organ erteilt wurde. 1 68
Der Fürstliche Oberste Gerichtshof1269 hat eine Prüfung des Gerichts, ob tatsächlich eine 9.10
Prozessvollmacht erteilt wurde, dann als erforderlich angesehen, wenn sich aus der Ak-
tenlage oder aus Gerichtsnotorietät Zweifel an einer Vollmachtserteilung ergeben. Es
müsse sich jedoch um „konkrete Zweifel" handeln. Wenn solche nicht bestehen, dann hat
eine Prüfung der tatsächlichen Bevollmächtigung zu unterbleiben.
Auch nach liechtensteinischem Recht gilt, dass im Fall der Vertretung einer Verbands- 9.11
person der bloße Hinweis des Rechtsanwalts auf die erteilte Bevollmächtigung ge-
nügt.1270
B. Annexverfahren
9.14 Selbstverständlich bevollmächtigt die Prozessvollmacht auch zum Einschreiten in einem
„Annexverfahren", wie etwa in einem Verfahren zur Beweissicherung. § 31 Abs 1 Z 1
ZPO erwähnt idZ den „Antrag auf einstweilige Verfügungen" und § 31 Abs 1 Z 3 ZPO
die Vornahme aller Handlungen „zur Erwirkung des Sicherungsverfahrens". Damit in
Zusammenhang stehende Annexverfahren, wie etwa auch das Entschädigungsverfahren
nach § 394 EO (bei Schäden durch ungerechtfertigte einstweilige Verfügungen), sind
1275
durch die erteilte Prozessvollmacht gedeckt.
1271 öOGH 4 Ob 45/12i RdW 2012, 721; Schumacher, Prozessvollmacht Rz 22; König, Anfechtung5
Rz 11/21.
1272 Zib in Fasching!Konecny 11/1 3 § 39 ZPO Rz 3; öOGH 6 Ob 156/08x JBI 2009, 111 (Schuma-
cher).
1273 öOGH 6 Ob 156/08x JBI 2009, 111 (Schumacher).
1274 OGH 08 CG.2015.208 LJZ 2016, 86.
1275 Schumacher, Prozessvollmacht Rz 230.
C. Gerichtlicher Vergleich
Ausdrücklich nennt§ 31 Abs 1 Z 2 ZPO den Abschluss von Vergleichen „über den Ge- 9.15
genstand des Rechtsstreites", was vermuten lässt, dass die Bevollmächtigung nur zu ei-
nem Vergleich über den Streitgegenstand des betreffenden Prozesses ermächtigt. Häufig
aber sollen gerichtliche Vergleiche auch Ansprüche umfassen, die bislang nicht Gegen-
stand des Prozesses sind. Der öOGH 1276 hat die in einem Verfahren erteilte Prozessvoll-
macht für ausreichend angesehen, auch ein anderes Verfahren zu vergleichen (,,Parallel-
verfahren"). Davon ist auch für die liechtensteinische Prozessvollmacht auszugehen:
Nicht nur der gegenständliche Prozess, in dem ein Prozessvergleich abgeschlossen wer-
den soll, sondern auch der Streitgegenstand anderer anhängiger Prozesse kann durch den
Rechtsanwalt, der durch eine Prozessvollmacht ausgestattet ist, mitverglichen werden. 1277
Vorauszusetzen ist lediglich, dass seine Prozessvollmacht nicht auf das Verfahren, in dem
der gerichtliche Vergleich abgeschlossen werden soll, beschränkt ist. Selbstverständlich
können auch nicht gerichtshängige Ansprüche mitverglichen werden, sie sind dadurch,
dass sie im Vergleichsgespräch gegenständlich werden, auch zum „Gegenstand des
Rechtsstreites" geworden. Auch die sog „Generalklausel" in gerichtlichen Vergleichen,
nach der alle sonstigen Ansprüche zwischen den Parteien „ausgeglichen und erledigt"
sein sollen, geht in ihrer potentiellen Wirkung über den klassischen prozessualen Streit-
gegenstand hinaus, ist aber jedenfalls von der Prozessvollmacht gedeckt. Daher darf die
Wendung in§ 31 Abs I Z 2 ZPO, wonach die Prozessvollmacht zum Abschluss von Ver-
gleichen „über den Gegenstand des Rechtsstreites" ermächtigt, nicht eng, etwa iS des
prozessualen Streitgegenstandsbegriffs, ausgelegt werden. Der Prozessvergleich kann,
wenn dies dem Gegner und dem Gericht besonders bekanntgegeben wird, aus der Voll-
macht ausgeschlossen werden (§ 32 ZPO).
E. Außergerichtliche Vergleiche
Wenig überlegt wird in der Praxis, ob eine Prozessvollmacht auch zu einem außerge- 9.17
richtlichen Vergleich berechtigt. Wohl deshalb, weil bei anhängigem Prozess regelmäßig
der Vergleich gerichtlich abgeschlossen wird. Es kann die Vereinbarung aber auch anders
getroffen werden, nämlich in Form eines außergerichtlichen Vergleichs mit einem ver-
einbarten (ewigen) Ruhen des Verfahrens. In solchen Situationen wird regelmäßig nicht
geprüft, ob die Prozessvollmacht den außergerichtlichen Vergleich deckt. In§ 31 ZPO ist
der außergerichtliche Vergleich nicht enthalten. Problemlos ist es, wenn bei Abschluss
des außergerichtlichen Vergleichs auch die Parteien anwesend sind, weil dann von einer
entsprechenden Ermächtigung zum Abschluss des Vergleichs auszugehen ist. Der Ver-
fasser vertritt die Meinung, dass § 31 Abs I Z 2 ZPO auch verfahrensbezogene außer-
gerichtliche Vergleiche umfasst. 1280 Sind nämlich Gegenstand des außergerichtlichen
Vergleichs streitanhängige Ansprüche, dann ist er „verfahrensbezogen", was für § 31
Abs 1 Z 2 ZPO ausreichend ist. Verfahrensbezogen ist der Vergleich auch dann, wenn
im Vergleich ein Ruhen des Verfahrens vereinbart wird.
G. Substitution
9.19 Die Substitution eines anderen Rechtsanwalts ist gern § 31 Abs 2 ZPO (= § 31 Abs 2
Satz 1 öZPO) für einzelne Akte oder Abschnitte des Verfahrens zulässig. Der Substitut
ist nicht Erfüllungsgehilfe des Substituenten (das wäre vielmehr zB ein Konzipient), son-
dern wird an Stelle des Substituenten selbstständig und eigenverantwortlich tätig. 1286 In
der Lehre besteht keine Einigkeit, ob aus dem Bestand des Substitutionsverhältnisses zwi-
schen substituierendem und substituiertem Anwalt unmittelbare vertragliche Beziehun-
gen zwischen dem Klienten des substituierenden Anwalts und dem Substituten abgeleitet
werden können. 1287 Demnach besteht auch keine Einigkeit darin, ob zwischen diesen ein
direktes Vollmachtsverhältnis begründet wird. Der öOGH 1288 lehnte zwar das Zustande-
kommen unmittelbarer vertraglicher Beziehungen zwischen Klienten und Substituten ab.
Damit sei aber über die Frage, ob der Klient vom Substituten unmittelbar Ersatz für ihm
verursachte Schäden begehren kann, noch nicht abgesprochen. Die Notwendigkeit einer
solchen Haftung bejahte das Höchstgericht 1289 implizite, wobei im konkreten Fall eine
Haftung des Substituten wie diejenige eines Geschäftsführers ohne Auftrag bejaht wurde,
weil der Substitut die ihm erteilte Substitutionsvollmacht überschritten hatte.
Auch in Verfahrenshilfesachen ist eine Substitution möglich. Der Verfahrenshelfer kann 9.20
sich eines Substituten bedienen, dem er einzelne Akte oder Abschnitte, ja sogar die ge-
samte Prozessführung übertragen kann. 1290 Der öOGH hat für solche Fälle ausgespro-
chen, dass dann, wenn der Verfahrenshelfer nach außen keine Erklärung über den Um-
fang der Substitution abgegeben hat, das Gericht verpflichtet ist, Zustellungen weiterhin
an den Verfahrenshelfer (und nicht unmittelbar an dessen Substituten) vorzunehmen. 1291
Hat der Verfahrenshelfer jedoch die Erklärung über den Umfang der Substitution nach
außen hin (also dem Gericht und wohl auch dem Gegner gegenüber) abgegeben, dann
darf das Gericht Zustellungen nicht an den Verfahrenshelfer, sondern muss diese an
dessen Substituten vornehmen.
1289 Unter Hinweis auf Sperl, Lehrbuch 1/2, 228 und Wahle, )BI 1961, 452.
1290 öOGH 5 Ob 247/18m Zak 2019, 159. Aus Art 21 und Art 28ff RAG lässt sich nichts Gegen-
teiliges entnehmen.
1291 öOGH 5Ob 247/18m Zak 2019, 159; RIS-Justiz RS0ll5976.
1292 OGH 01 CG.2002.32 LES 2008, 127; RIS-Justiz RS0014635.
1293 OGH 01 CG.2002.32 LES 2008, 127.
1294 Jelinek in Fasching/Konecny IV/1 2 § 529 ZPO Rz 48; öOGH 10 ObS 214/02x; 2 Ob 143/00v
wobt 2001, 299 (Domej); 3 Ob 613/76 SZ 51/93.
1295 OGH 01 CG.2002.32 LES 2008, 127; öOGH 8 Ob 700/86 SZ 60/56.
setzlichen Vertretung aufgehoben." Die Bestimmung hat die Verhinderung der Störung
des Verfahrensfortgangs zum Ziel. 1296 Die herrschende, aber nicht geschlossene Mei-
nung folgert aus dieser legislatorischen Zielsetzung, dass § 35 Abs 1 ZPO im Fall des
Todes oder der Handlungsunfähigkeit der Partei noch vor Einleitung des Verfahrens
nicht anzuwenden sei und die Frage des aufrechten Bestehens der Prozessvollmacht nach
1297
materiell-rechtlichen Grundsätzen zu beurteilen sei. Richtigerweise wird man aller-
dings berücksichtigen müssen, dass der Wortlaut des § 35 Abs 1 ZPO ebenso den Tod
des Vollmachtgebers noch vor der Verfahrenseinleitung erfasst. Mit einer Entscheidung
des öOGH aus dem Jahre l 99?1 298 kann dieser Bestimmung insb nicht entnommen wer-
den, dass sich ihr Anwendungsbereich auf den Zeitraum von der Vollmachtserteilung bis
zur Einleitung des Rechtsstreits nicht erstrecke.
9.23 Gern § 35 ZPO erlischt die Prozessvollmacht nicht mit dem Tod. Analog dieser Bestim-
mung überdauert die Prozessvollmacht auch die Löschung einer die Vollmacht gebenden
juristischen Person im Öffentlichkeitsregister. 1299
V. Vollmachtswechsel
9.25 Häufig kommt es zu Fristversäumnissen im Fall des Vollmachtswechsels. Dies hängt va
damit zusammen, dass es der aus dem Vollmachtsverhältnis ausscheidende Rechtsanwalt
nicht selten unterlässt, seinen Nachfolger (soweit ihm dieser schon bekannt ist) bzw auch
die Partei ausreichend über die zu wahrenden Fristen aufzuklären. Diese Verpflichtung
ist aus § 36 Abs 2 ZPO ablesbar, weil danach der Bevollmächtigte auch nach Kündigung
der Vollmacht (das gilt auch für den Widerruf der Vollmacht) durch 14 Tage hindurch
„berechtigt und verpflichtet" bleibt, für den Vollmachtgeber zu handeln, soweit dies nötig
ist, um diesen vor Rechtsnachteilen zu schützen. Die österr Judikatur 1300 ist in diesen
Fällen streng und zieht, sofern auch ein Verschulden des folgenden Rechtsanwalts ge-
geben ist, beide zur solidarischen Haftung heran. Denn, die Beendigung des Mandats-
verhältnisses eines Rechtsanwalts beseitigt dessen Vertragspflichten nicht zur Gänze,
weil auch den Vertragspartner eines bereits aufgelösten Vertragsverhältnisses die Pflicht
trifft, dafür zu sorgen, dass dem anderen Vertragsteil für die Zeit nach der Beendigung
des Vertragsverhältnisses keine Nachteile entstehen.13° 1 Ist eine ungenügende Beratung
durch den Rechtsanwalt auch nach dem Einschreiten eines weiteren Rechtsanwalts als
Schadensursache wirksam geblieben, so kann eine ungenügende Beratung durch den
zweiten Rechtsanwalt den ersten nicht entlasten. Hätte die ungenügende Beratung jedes
der beiden Rechtsanwälte ausgereicht, den Schaden herbeizuführen, so haften in einem
solchen Fall kumulativer Kausalität die Schädiger solidarisch. 1302
1. Allgemeines
Das liechtensteinische Kostenrecht des Zivilprozesses ist jenem des österr Zivilprozess- 10.1
rechts nachgebildet. Die liechtensteinische und die öRsp qualifizieren den Kostenersatz-
anspruch im Wesentlichen als öffentlich-rechtlichen Anspruch, der völlig von den Nor-
men des bürgerlichen Rechts losgelöst und nur an den Eintritt gewisser prozessualer Er-
gebnisse bzw Entscheidungen geknüpft ist. Er kann daher nicht als Anspruch des bürger-
lichen Rechts, insb nicht als ein Schadenersatzanspruch angesehen werden. Der
Prozesskostenanspruch stellt also einen öffentlich-rechtlichen Anspruch dar, zu dessen
Geltendmachung der Rechtsweg nicht offen steht. Dies wird nur dann ausnahmsweise
verneint, wenn die Akzessorietät des Kostenanspruchs untergegangen ist und sich dieser
Anspruch daher verselbstständigt hat. So können bspw auch vorprozessuale Kosten erst
dann selbstständig eingeklagt werden, wenn kein Hauptanspruch mehr besteht. 1304
1304 OGH 03 CG.2016.264 GE 2017, 233; StGH 1998/045 LES 2000, 1; RIS-Justiz RS0035721;
RS0035826.
• Unter welchen Bedingungen muss die Partei ihre Kosten selbst tragen, wann erhält sie
Kostenersatz und wann wird sie kostenersatzpflichtig?
Aus§ 40 Abs 2 ZPO (= § 40 Abs 2 öZPO) ergibt sich der Hinweis, dass neben den§§ 40 10.5
bis 55 ZPO in diesem Gesetz noch weitere Bestimmungen enthalten sind, die Kosten-
fragen regeln. Dabei geht es einerseits um Verpflichtungen zum Kostenersatz und ande-
rerseits um Normen, nach denen Parteien oder sonstige Beteiligte des Verfahrens Kosten
selbst zu tragen haben. Als sonstige Beteiligte kommen ua Zeugen und Sachverständige in
Betracht. Im Folgenden finden sich - der chronologischen Anordnung der ZPO entspre-
chend - Hinweise auf solche Regelungen, die im Hinblick auf deren Umfang und teil-
weise untergeordnete Bedeutung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben und hier
auch nicht detailliert behandelt werden können:
§ 10 (Kosten der Bestellung eines Kurators und dessen Tätigkeit; vgl § 10 öZPO), § 38 10.6
(einstweilige Zulassung einer ohne Bevollmächtigung einschreitenden Person; vgl § 38
öZPO), im weitesten Sinn haben auch die Bestimmungen der §§ 56f über die Sicher-
heitsleistung und der§§ 63f über die Verfahrenshilfe prozesskostenrelevante Regelun-
gen zum Inhalt (vgl dazu §§ 56 f, §§ 63 f öZPO), § 95 (Kosten eines Zustellungsbevoll-
mächtigten; vgl § 97 öZPO), § 118 (Zustellung durch öffentliche Bekanntmachung und
an den Kurator; vgl § 118 öZPO), §§ 142, 143 (Kosten durch Verlängerung einer Frist
oder Erstreckung einer Tagsatzung bzw Vereitelung einer Tagsatzung; vgl § 142
öZPO), § 154 (Kosten des Verfahrens der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand;
vgl § 154 öZPO), § 200 (Kosten der Vereitelung oder Erstreckung einer Tagsatzung
infolge Verhaltens eines Bevollmächtigten; vgl § 200 öZPO), § 206 (Kosten für Ausfer-
tigung des Vergleichsprotokolls; vgl § 206 öZPO), §§ 218, 219 (Kosten für die Herstel-
lung von Urkunden- und Aktenabschriften; vgl §§ 218, 219 öZPO), § 231 (Kosten ei-
nes Vergleichsversuchs; vgl allgemein zum prätorischen Vergleich § 433 öZPO), § 245
Abs 3 (Zurücknahme der Klage; vgl § 237 Abs 3 öZPO), § 280 (Kosten der stenografi-
schen Aufzeichnung einer Beweisaufnahme; vgl § 280 öZPO), §§ 308, 309 (Urkunden-
vorlage durch Dritte; vgl §§ 308, 309 öZPO), § 317 (Erneuerung von Urkunden; vgl
§ 317 öZPO), § 326 (Kosten als Folge der Verweigerung einer Zeugenaussage; vgl§ 326
öZPO), §§ 333, 334 (Kosten als Folge des Ausbleibens eines Zeugen; vgl §§ 333, 334
öZPO), § 346 (Zeugengebühren; vgl §§ 1 bis 23 öGebAG), § 354 (Folgen des Nichter-
scheinens und der Weigerung eines Sachverständigen; vgl § 354 öZPO), § 365 (Kosten-
ersatzanspruch des Sachverständigen; vgl §§ 24 bis 51 öGebAG), § 368 (Kostenaufwand
für Beweis durch Augenschein; vgl § 368 öZPO), § 382 (Kosten der Parteieneinvernah-
me; vgl § 42 öZPO), § 388 (Kosten des Beweissicherungsverfahrens; vgl § 388 öZPO),
§§ 392, 393 (Teilurteil, Zwischenurteil; vgl §§ 392, 393 öZPO), § 422 (Kosten der Be-
richtigung eines Urteils; vgl § 41 öZPO), § 452 Abs 3 (Kosten bei Prozessverschleppung
im Berufungsverfahren), § 454 (Kostentragung und -ersatz bei Zurücknahme der Be-
rufung; vgl § 484 öZPO), § 482 (Verweisung auf die vorangeführte Bestimmung des
Berufungsverfahrens im Verfahren über die Revision; vgl § 513 öZPO), § 525 Abs 3,
§§ 530, 531 Abs 3 ZPO (Scheidungsverfahren), § 533 Abs 8 (Verfahren auf Ungültig-
erklärung einer Ehe), § 587 (Kosten der Erlassung des bedingten Zahlbefehls, Kosten
des Widerspruchs, Kosten des Schuldentriebverfahrens), § 626 (Kosten im Schiedsver-
fahren).
ler Kosten ausgeschlossen. Ein darauf gerichteter Antrag ist wegen Unzulässigkeit des
Rechtswegs zurückzuweisen. Denn beim Anspruch auf Ersatz von Kosten (Prozesskosten
oder vorprozessualen Kosten) handelt es sich um einen öffentlich-rechtlichen Anspruch,
der unmittelbar aus den öffentlich-rechtlichen Bestimmungen des Prozessrechts abge-
leitet wird (ebenso: Michael Bydlinski, Kostenersatz im Zivilprozessrecht [Wien 1992]
147 [2] mit Hinweisen auf die öRsp; Michael Bydlinski in: Fasching/Konecny, Kommentar
zu den [österreichischen] Zivilprozessgesetzen, 2. Band, l. Teilband [2. A Wien 2002]
Rz 45 zu§ 41 öZPO; Fasching, Lehrbuch 239f, Rz 461). Nach der Rsp des OGH (Be-
schluss vom 2. 3. 2000 zu E.3938/99-11, auszugsweise veröffentlicht in: LES 2000, 132,
133 f) zur Abgrenzung vorprozessualer Kosten umfassen diese nur solche Kosten, die vor
Einleitung des Rechtsstreits zum Zweck der Prozessführung oder Vorbereitung und För-
derung eines Rechtsstreits auflaufen. Das maßgebliche Kriterium ist die Prozessbezogen-
heit vorprozessualer Aufwendungen, nämlich das Erfordernis, dass diese Aufwendungen
auf einen beabsichtigten Prozess hinzielen. Dieses Erfordernis ist nicht erfüllt bei Auf-
wendungen, welche die Durchsetzung einer Forderung ohne gerichtliche Hilfe anstreben
und einen Rechtsstreit vermeiden sollen (ebenso: Michael Bl/linski, Kostenersatz 164f
1 06
[2]; Michael Bydlinski, Kommentar, Rz 39 zu§ 41 öZP0)."
In der Rsp des öOGH werden zur Definition der vorprozessualen Kosten weniger allge- 10.12
1307
meine Grundsätze erarbeitet, sondern vielmehr kasuistische Aussagen getroffen.
1308
Nach einem Teil der ölit versteht man unter vorprozessualen Kosten einerseits Auf-
wendungen der Partei, die zeitlich vor dem Prozessbeginn anfallen, die aber auch wäh-
rend des anhängigen Prozesses als „nebenprozessuale Kosten" entstehen können. Auch
diese werden aber als vorprozessuale Kosten bezeichnet. Allerdings sind nicht alle Auf-
wendungen der Partei vor und neben dem Prozess vorprozessuale Kosten. Dies gilt insb
für einen Selbstinformations- oder Überwachungsaufwand, der ohne konkrete Prozess-
bezogenheit entsteht (Bsp: ein Parkplatzmieter installiert eine Videoüberwachung, um
potenzielle unbefugte Benützer abzuhalten oder sie wenigstens zu filmen). Im Gegensatz
dazu sind demnach vorprozessuale Kosten solche Aufwendungen, die iS der Erkun-
dungs- und Prozessförderungspflichten der konkreten Prozessvorbereitung dienen. Auch
bei einer typisierten, der Rechtssicherheit dienenden Betrachtung ist folgende Abgren-
zung vorzunehmen: Maßnahmen, die allein oder überwiegend der Vorbereitung eines
konkreten Prozesses dienen, sind stets vorprozessuale Kosten, 1309 so etwa ein Privatgut-
1310
achten über die Verletzungsfolgen zwecks Einbringung einer Schadenersatzklage • Be-
steht daneben (darüber hinaus) ein besonderes Interesse an einer Sachverhaltsermittlung,
1311
so sind die damit verbundenen Kosten Hauptforderung. Ein solches Interesse besteht
etwa an der Feststellung der zunächst unbekannten Schadensursachen und der Möglich-
1312
keiten der Schadensbehebung.
10.13 Vorprozessuale Kosten werden wie sonstige Prozesskosten geltend gemacht, weshalb
hier auf die entsprechenden Ausführungen verwiesen wird. 1313 Hervorgehoben sei noch-
mals, dass deren abgesonderte Durchsetzung im streitigen Rechtsweg mangels eigenen
Privatrechtstitels unzulässig istm 4 • Die öffentlich-rechtliche Natur des Kostenersatzan-
spruchs steht der selbstständigen Geltendmachung im Klageweg entgegen; vielmehr sind
diese Kosten akzessorisch zum Anspruch und damit mit diesem in der Hauptsache
geltend zu machen 1315 • Erst wenn kein Hauptanspruch mehr besteht, können die Kosten
selbstständig eingeklagt werden. Das ist nur dann der Fall, wenn kein Prozess in der
Hauptsache eingeleitet werden kann, weil der Hauptanspruch bereits durch Erfüllung,
Verzicht oder Anerkenntnis erledigt wurde 1316. An dieser Rsp hält der öOGH auch nach
der Schaffung des § 1333 Abs 2 öABGB (früher § 1333 Abs 3 öABGB) für anwaltliche
außergerichtliche Betreibungs- und Einbringungsmaßnahmen im Hinblick auf die
speziellere Regelung des § 23 Abs 4 RATG, der diese vorprozessualen Kosten erfasst,
fest1111_
10.14 Nach der Rsp des OGH betreffend vorprozessuale Kosten teilen diese das gleiche recht-
liche Schicksal wie sonstige Prozesskosten, sofern es zu einem gerichtlichen Verfahren
kommt. Gibt es ein der Entstehung der vorprozessualen Kosten nachfolgendes gerichtli-
ches Verfahren, so sind Ansprüche aus dem materiellen Recht auf Ersatz vorprozessualer
Kosten ausgeschlossen. Ein darauf gerichteter Antrag ist wegen Unzulässigkeit des
Rechtswegs zurückzuweisen. Denn beim Anspruch auf Ersatz von Kosten (Prozesskosten
oder vorprozessualen Kosten) handelt es sich - wie erwähnt - um einen öffentlich-recht-
lichen Anspruch, der unmittelbar aus den öffentlich-rechtlichen Bestimmungen des Pro-
zessrechts abgeleitet wird. Stellen von einer Partei geltend gemachte Nebenkosten vor-
prozessuale Kosten dar (mit nachfolgendem gerichtlichen Verfahren), so würde sich in
diesem Punkt der Rechtsweg als unzulässig erweisen. 1318
10.15 Die in einer Instanz aufgelaufenen Kosten sind „bei sonstigem Verlust des Ersatzan-
spruchs" in das Kostenverzeichnis aufzunehmen und samt den zur Bescheinigung der
Ansätze und Angaben dieses Verzeichnisses etwa erforderlichen Belegen vor Schluss
der der Entscheidung über den Kostenersatzanspruch unmittelbar vorangehenden Ver-
handlung vorzulegen (§ 54 Abs l ZPO). Eine „Nachholung" durch Verzeichnen von in
erster Instanz nicht in das Kostenverzeichnis aufgenommenen Positionen im Kosten-
verzeichnis für die Berufungsinstanz ist unzulässig. Die Neuerungserlaubnis des § 452
Abs I ZPO bezieht sich allein auf neue Ansprüche und Einreden in der Sache
selbst. 1319
10.16 Diese Überlegungen sind für vorprozessuale Kosten besonders hervorzuheben, da es im
gerichtlichen Alltag immer wieder vorkommt, dass insb vorprozessuale Kosten entgegen
§ 54 Abs I ZPO nicht hinreichend aufgeschlüsselt und von ihren Ansätzen und Angaben
her nicht ohne Weiteres nachvollziehbar dargelegt sowie häufig nicht bescheinigt wer-
den. Dies führt zu einem Verlust des Kostenersatzanspruchs, ohne dass zunächst ein
Verbesserungsverfahren einzuleiten wäre. Im Detail wird dazu auf Rz 10.46-10.53 ver-
wiesen.
Als vorprozessuale Kosten werden anerkannt: 10.17
des § 54 Abs 2 öJN, sodass eine eigenständige Einklagung zulässig ist. Für anwaltliche
außergerichtliche Betreibungs- und Einbringungsmaßnahmen gilt jedoch - wie oben
erwähnt - weiterhin § 23 öRA TG als lex specialis: Solange solche Kosten in Akzessorietät
zum Hauptanspruch stehen, sind sie weiterhin als vorprozessuale Kosten im Kostenver-
zeichnis geltend zu machen, sodass ihrer klageweisen Geltendmachung die Unzulässig-
keit des Rechtswegs entgegensteht. 1333 Verwertbare Judikatur des OGH zur wortgleichen
Bestimmung des § 1333 Abs 3 ABGB besteht nicht.
2. Barauslagen
10.20 Darunter sind in erster Linie die in § 43 Abs 1 ZPO und § 43 Abs l öZPO taxativ aufge-
zählten Gerichtsgebühren und die anderen gesetzlich (bundesgesetzlich) geregelten staat-
lichen Gebühren, Kosten von Amtshandlungen außerhalb des Gerichts, Gebühren der
Zeugen, Sachverständigen, Dolmetscher und Übersetzer (sowie Beisitzer), Kosten der
notwendigen Verlautbarungen sowie Kosten eines Kurators iSd § 10 ZPO (bzw§ 10 öZ-
PO) zu verstehen. Zu den Barauslagen gehören aber bspw auch die in § 42 Abs l Satz 2
ZPO (öZPO) angeführten Ersatzleistungen für Zeitversäumnis und Reiseauslagen. Am
Rande erwähnt sei hier für den österr Zivilprozessbereich die in § 23 a öRA TG genannte
Erhöhung der Entlohnung im elektronischen Verkehr.
3. Mehrwertsteuer
10.21 Vgl dazu Rz l0.53.
1340 OGH 10 CG.2010.274 LES 2016, 30/1 = GE 2016, 90 unter Hinweis auf M. Bydlinski in Fa-
sching/Konecny Il/1 3 Vor§§ 40f ZPO Rz Sf; vgl 08 CG.2015.89 LJZ 2019, 69/2.
Mit Kostenaufhebung wurde auch bereits bei einem Verhältnis von 57% zu 43% des
Obsiegens zum Unterliegen vorgegangen. 1341 Bei einem teilweisen Obsiegen bzw Unter-
liegen mit anderen Verhältnissen haben die Parteien nach § 43 Abs l Satz 2 ZPO An-
spruch auf verhältnismäßigen Kostenersatz. Dabei kommt es hinsichtlich der Vertre-
tungskosten der Parteien zu einer gegenseitigen Aufrechnung, sodass der Saldo im Re-
gelfall von der mit einem größeren Ausmaß unterliegenden Partei der anderen Partei zu
ersetzen ist. Die Quotenkompensation erfolgt dabei regelmäßig unabhängig davon, ob
auch der Gegner Kosten verzeichnet 1342 • § 43 Abs l letzter Satz ZPO hingegen sieht für
die dort angeführten Barauslagen keine Saldierung, sondern einen Zuspruch in dem
Ausmaß vor, der jenem des Obsiegens entspricht. Dabei ist zu beachten, dass diese Be-
stimmung nur die dort taxativ angeführten Kosten bzw Gebühren umfasst, nicht aber
andere Barauslagen, wie etwa jene nach § 42 Abs 1 Satz 2 ZPO.
Ausnahmen vom reinen Erfolgsprinzip normiert § 43 Abs 2 ZPO, der bei Vorliegen der 10.29
dort angeführten Kriterien einen vollen Kostenersatz für eine nur teilweise obsiegende
Partei vorsieht (häufig als Kostenprivileg bezeichnet). Dies gilt,
• wenn der Gegner nur mit einem verhältnismäßig geringfügigen Teil seines An-
spruchs (die Rsp zieht hier eine nicht ganz starre Grenze von etwa l0% ein 1343 ) unter-
legen ist, dessen Geltendmachung überdies besondere Kosten nicht veranlasst hat, oder
• wenn - soweit nicht der Grund des Anspruchs, sondern nur seine Höhe strittig ist 1344 -
der Betrag des geltend gemachten Anspruchs von der Feststellung durch richterliches
Ermessen (vgl§ 273 ZPO), von der Ausmittlung durch Sachverständige oder von einer
gegenseitigen Abrechnung abhängig war.
Hervorgehoben sei dazu, dass die Judikatur der überwiegend obsiegenden Partei Kosten 10.30
(so auch die Pauschalgebühr; anders bei nicht vom Streitwert abhängigen Kosten zB
Sachverständigengebühren 1345 ) nicht auf Basis des geltend gemachten, sondern des tat-
sächlich ersiegten Betrags zuerkennt. Ändert das Rechtsmittelgericht eine vorinstanzli-
che Entscheidung nur in einem verhältnismäßig geringfügigen Teil des Ausspruchs über
die Hauptsache ab, so ist die dazu ergangene Kostenentscheidung - wenn diese nicht
gesondert bekämpft wird - von der Instanz iS des § 43 Abs 2 Fall l ZPO nicht mehr
zu überprüfen. 1346 Die Voraussetzungen gern § 43 Abs 2 ZPO bzw § 43 Abs 2 öZPO sind
auch dann gegeben, wenn der Verfahrensaufwand, der zur Prüfung der Berechtigung des
Hauptbegehrens erforderlich war, auch für die Beurteilung des Eventualbegehrens ver-
wertet werden konnte, die materiell-rechtliche Grundlage ident war und mit dem Even-
tualbegehren annähernd der gleiche wirtschaftliche Erfolg wie bei Stattgebung des
Hauptbegehrens erreicht wurde. 1347 Der zweite Fall dieser Bestimmung kommt außer-
dem nur zur Anwendung, wenn nicht eine sog „Überklagung" vorliegt, die die Judikatur
wiederum bei einer nicht ganz starren Grenze von 50% einzieht. 1348 Zusammenfassend
dient die Ratio des § 43 Abs 2 Fall 2 ZPO dazu, dem Kläger in bestimmten Fällen die mit
1349
der Bezifferung des Klagebegehrens verbundenen Schwierigkeiten abzunehmen. Da-
rauf ist bei der Anwendung und Auslegung dieser Bestimmung Bedacht zu nehmen.
10.31 Im Übrigen führen die Kostenersatzregeln des § 43 ZPO in der Praxis zu unterschied-
lichen Auslegungsproblemen, Lösungsansätzen und teilweise komplizierten Rechenope-
rationen. Die damit verbundenen Rechtsfragen werden von Obermaier 1350 (so insb auch
iZm Teilzahlung, Teilanerkenntnis, Teilurteil, Teilvergleich, Klagseinschränkung) sowie
von Fucik 1351 eingehend dargestellt, diskutiert und mit Beispielen illustriert.
10.32 Nach § 45 ZPO fallen die Prozesskosten dem Kläger zur Last, wenn der Beklagte durch
sein Verhalten zur Erhebung der Klage nicht Veranlassung gegeben und den in der
Klage erhobenen Anspruch sofort bei der ersten Tagsatzung anerkannt hat. Diesfalls
hat der Kläger auch die dem Beklagten durch das eingeleitete gerichtliche Verfahren ver-
ursachten Kosten zu ersetzen. Die ursprünglich wortgleiche Bestimmung des § 45 öZPO
wurde mit 1. 1. 2003 dahin novelliert, dass die Voraussetzungen für einen Kostenersatz-
anspruch des Beklagten nach dieser Gesetzesstelle dann vorliegen, wenn er den in der
Klage erhobenen Anspruch sofort bei erster Gelegenheit anerkennt.
10.33 Der mit 1. 1. 1985 in Kraft getretene § 45 a öZPO normiert eine gegenseitige Kostenauf-
hebung, wenn auf Scheidung oder Aufhebung der Ehe erkannt oder die Ehe für nichtig
erklärt wird, ohne dass der unterlegene Teil hieran schuldig ist. Wenn eine Partei in
einem solchen Fall von den in § 43 Abs 1 letzter Satz öZPO angeführten Barauslagen
mehr als die Hälfte bestritten hat, so ist ihr vom anderen Ehegatten der Mehrbetrag zu
ersetzen. Bei einer Scheidung der Ehe nach § 55 öEheG hat der schuldige Ehegatte dem
anderen die Kosten zu ersetzen, wenn das Scheidungsurteil einen Ausspruch über das
Verschulden an der Zerrüttung enthält. Eine entsprechende Bestimmung fehlt in der
liechtensteinischen ZPO.
10.34 Der Wortlaut des§ 46 ZPO ist mit jenem des§ 46 öZPO ident. Demnach ist der Kosten-
ersatz den Parteien nach Kopfteilen aufzuerlegen, wenn der zum Kostenersatz verpflich-
tete Teil aus mehreren, in der Hauptsache nicht solidarisch haftenden Personen besteht.
Allerdings hat bei einer erheblichen Verschiedenheit der Beteiligung am Rechtsstreit das
Gericht die Ersatzansprüche nach dem Verhältnis dieser Beteiligung zu bestimmen
(Abs 1). Wenn aber die zum Kostenersatz verpflichteten Personen nach den Vorschriften
des bürgerlichen Rechts in der Hauptsache solidarisch haften, erstreckt sich diese Haf-
tung auch auf die dem Gegner zugesprochenen Prozesskosten. Für die Kosten, welche
durch die von einzelnen Beteiligten vorgenommenen besonderen Prozesshandlungen er-
wachsen sind, haben die übrigen Beteiligten aber nicht zu haften (Abs 2). Soweit mehrere
Personen aufgrund einer kollektiven Zeichnungsberechtigung in der Hauptsache ver-
pflichtet sind, schlägt sich dies gern § 46 ZPO auch auf ihre solidarische Kostenersatz-
pflicht durch. Konkret wurde dies für zwei beklagte Parteien ausgesprochen, die beide
dem Stiftungsrat einer Stiftung angehörten und für diese kollektiv zeichnungsberechtigt
waren. 1352
Auch § 47 Abs 1 und 2 ZPO ist wortgleich mit § 47 Abs 1 und 2 öZPO identisch. Dem- 10.35
nach sind die Kosten eines abgeschlossenen Vergleichs, wenn nicht etwas anderes ver-
einbart wird, als gegenseitig aufgehoben anzusehen. Dasselbe gilt von den Kosten des
durch Vergleich erledigten Rechtsstreits, soweit deren Ersatz nicht bereits einer der Par-
teien rechtskräftig auferlegt ist. Bleiben hingegen Vergleichsverhandlungen erfolglos, so
ist die Verpflichtung zum Ersatz der damit verbundenen Kosten von der Entscheidung
der Hauptsache abhängig. Diesen Bestimmungen kommt nur untergeordnete Bedeutung
zu, weil in der gerichtlichen Praxis sowohl im Fürstentum Liechtenstein als auch in Ös-
terreich die Verfahrenskosten im Regelfall mitverglichen werden.
§ 48 ZPO (vgl Rz 10.27) ist ebenso wie § 48 öZPO die wesentliche Grundlage für die sog 10.36
Kostenseparation, auch als „Sphärentheorie" bezeichnet. 1353 Den Bestimmungen ist ge-
meinsam, dass einer Partei auf Antrag oder von Amts wegen der Ersatz von Kosten unab-
hängig vom Ausgang des Rechtsstreits zuerkannt werden kann, wenn lediglich durch Zwi-
schenfälle Kosten entstehen, die infolge eines Verschuldens des Gegners oder eines ihm
widerfahrenen Zufalls verursacht werden. § 48 Abs l öZPO normiert eine entsprechende
Kostenfolge auch für den Fall, dass einer Partei dadurch Kosten verursacht werden, dass ihr
Gegner schuldhaft tatsächliche Anführungen oder Beweisanbietungen verspätet vorbringt.
Nach der österr Bestimmung können die zu ersetzenden Kosten in sinngemäßer Anwen-
dung des§ 273 öZPO bestimmt werden, wenn im Zeitpunkt der Entscheidung nicht oder
nur mit unverhältnismäßigen Schwierigkeiten festzustellen ist, welche Kosten durch das
tatbestandsmäßige Verhalten verursacht wurden. Gemeinsam ist den Bestimmungen des
§ 48 Abs 2 ZPO und § 48 Abs 2 öZPO, dass die Partei, der nach dieser Bestimmung Kosten
bereits während des Rechtsstreits zugesprochen wurden, zu deren Wiedererstattung auch
dann nicht verpflichtet ist, wenn sie in der Hauptsache zum Ersatz der Gerichtskosten ver-
urteilt wird. Dies kann in der Praxis die für die Gegenpartei unangenehme Folge haben,
dass schon während des laufenden Verfahrens infolge einer rechtskräftigen Kostenent-
scheidung nach dieser Gesetzesstelle gegen sie Exekution zur Hereinbringung der geson-
dert bestimmten Prozesskosten geführt werden kann.
Während § 49 öZPO, der im Wesentlichen der Bestimmung des § 49 ZPO entsprach, 10.37
durch die ZVN 1983 1354 aufgehoben wurde, ist es nach§ 49 ZPO nach wie vor möglich,
gesetzlichen Vertretern, Rechtsanwälten und anderen Bevollmächtigten auf Antrag oder
von Amts wegen die Tragung oder den Ersatz derjenigen Kosten aufzuerlegen, die sie
durch ihr grobes Verschulden verursacht haben. Eine Kostenersatzpflicht für alle Pro-
zessbevollmächtigten statuiert auch § 200 Abs 2 letzter Satz ZPO, wenn durch ein un-
gehöriges Benehmen eines Bevollmächtigten die Durchführung einer Tagsatzung verei-
telt und die Erstreckung derselben erforderlich wird. Abs 2 dieser Bestimmung hebt idZ
jene Mehrkosten hervor, die durch die Aufnahme nicht zur Sache gehöriger Anführun-
gen in Schriftsätzen oder durch überflüssige Weitläufigkeiten in denselben verursacht
werden, während Abs 3 Details über die Bestimmung dieser Kosten enthält.
10.38 § 50 Abs I ZPO normiert in gleicher Weise wie § 50 Abs I öZPO, dass die jeweiligen
Bestimmungen der§§ 40 bis 48 (ö)ZPO auch für das Rechtsmittelverfahren anwendbar
sind.§ 50 Abs 2 ZPO regelt wortgleich wie§ 50 Abs 2 öZPO den nachträglichen Wegfall
des nach allgemeinen Prozessgrundsätzen für ein Rechtsmittel erforderlichen Rechts-
schutzinteresses. An sich wird durch den nachträglichen Wegfall der Beschwer das
Rechtsmittel zur Gänze unzulässig, sodass es zurückzuweisen oder allenfalls abzuweisen
ist. § 50 Abs 2 ZPO sieht aber vor, dass bei der Kostenentscheidung für das Rechtsmittel-
verfahren der nachträgliche Wegfall der Beschwer nicht zu berücksichtigen ist. Wenn
dabei Tatsachen mit einem unverhältnismäßigen Verfahrensaufwand abgeklärt werden
müssten, ist über den Kostenersatz in Anwendung des § 273 öZPO zu entscheiden.
10.39 § 51 ZPO (§ 51 öZPO) enthält Bestimmungen über den Kostenersatz, wenn das Verfah-
ren infolge eines Rechtsmittels oder von Amts wegen aufgehoben oder dessen Nichtigkeit
ausgesprochen wird. Wird nur eine Entscheidung und nicht das dieser voraus?egangene
Verfahren aufgehoben, so kommt diese Bestimmung nicht zur Anwendung. 135 Die Kos-
tenersatzpflicht für ein nichtiges Verfahren trifft jene Partei, der es zum Verschulden
zugerechnet werden kann, dass das Verfahren trotz des vorhandenen Aufhebungs- oder
Nichtigkeitsgrunds eingeleitet oder fortgeführt wurde, oder wenn der Grund der Aufhe-
bung im Verschulden einer Partei selbst gelegen ist. Dazu genügt bereits leichte Fahr-
lässigkeit. Das Verschulden der klagenden Partei an der Einleitung des nichtigen Ver-
fahrens wird bspw dann bejaht, wenn für sie nach der gebotenen tatsächlichen und recht-
lichen Prüfung oder Erkundigung der Nichtigkeitsgrund erkennbar war. Das Verschul-
den trifft die Partei dann auch (kumulativ) an der Fortsetzung des Verfahrens, wenn sie
die Nichtigkeit noch immer nicht erkennt; das umso mehr, wenn der Gegner darauf hin-
gewiesen hat. Das Verschulden des Prozessgegners kann sich nur auf die Fortsetzung des
Verfahrens beziehen. Es liegt darin, dass er sich ohne Hinweis auf den Nichtigkeitsgrund
einwendungslos in das Verfahren einlässt, obwohl auch ihm der Nichtigkeitsgrund er-
kennbar gewesen wäre. Seine den Kostenersatzanspruch begründende Pflicht ist es, auf
den Nichtigkeitsgrund hinzuweisen. Macht er diesen durch ein darauf gerichtetes Vor-
bringen geltend, so liegt ab diesem Zeitpunkt kein (weiteres) Verschulden an der Fort-
führung vor. 1356 Außer in diesen Fällen sind die Kosten gegenseitig aufzuheben (§ 51
Abs 3 ZPO; § 51 Abs 2 öZPO).
10.40 Zu § 52 ZPO (§ 52 öZPO) s bei Rz 10.55.
ersatz ansprechen oder diesen schulden. 1357 Dabei können sowohl auf Klags- als auch auf
Beklagtenseite mehrere Parteien auftreten. Dazu kann auf die obigen Ausführungen un-
ter Rz 10.35 zu§ 46 ZPO und§ 46 öZPO verwiesen werden.
In der zivilprozessualen Praxis von Bedeutung ist aber auch die in§§ l7ff ZPO (§§ l7ff 10.42
öZPO) geregelte Nebenintervention. Die für die Nebenintervention maßgebliche Kos-
tenbestimmung findet sich in§ 41 Abs 1 ZPO und§ 41 Abs 1 öZPO. Demnach hat die in
dem Rechtsstreit vollständig unterliegende Partei auch dem auf der Gegenseite beigetre-
tenen Nebenintervenienten die Kosten seiner Prozessführung zu ersetzen. Der Nebenin-
tervenient nimmt aber insoweit eine Sonderstellung ein, als er, wenn die auf seiner Seite
den Prozess führende Partei im Verfahren unterliegt, weder dieser noch der Gegenpartei
gegenüber kostenersatzpflichtig wird. In einem solchen Fall hat der Nebenintervenient
allerdings seine Kosten selbst zu tragen. Anders ist die Rechts- bzw Sachlage nur, wenn
der Nebenintervenient im Zwischenstreit über seine Zulassung oder im Kostenrekursver-
fahren betreffend seine Kosten unterliegt. 1358
Über die Kosten eines Zwischenstreits wird unabhängig vom Ausgang des Verfahrens in 10.43
der Hauptsache entschieden. Parteien eines Zwischenstreits können aber auch die Haupt-
parteien sein, wenn eine zivilprozessual relevante Frage in einem Zwischenverfahren ab-
zuklären ist. Dazu zählen insb Streitigkeiten über Prozesseinreden nach § 261 ZPO
(= § 261 öZPO). Ein Zwischenstreit mit entsprechender Kostenersatzpflicht eines Zeugen
oder Sachverständigen ist auch in den Fällen der §§ 326, 333 ZPO bzw §§ 326, 333 öZPO
sowie iVm § 367 ZPO bzw § 367 öZPO möglich. Ersatzpflichtig kann auch ein am Pro-
zess nicht Beteiligter werden, der erfolglos Akteneinsicht begehrt. 1359 Auch das Verfah-
ren über die aktorische Kaution ist ein selbstständiger Zwischenstreit, in dem die Kosten
gern § 41 Abs l ZPO festzusetzen sind.1 360
Während § 72 Abs 3 letzter Satz öZPO eine Kostenersatzpflicht in Zwischenstreitigkeiten 10.44
über die Verfahrenshilfe generell ausschließt, findet sich eine vergleichbare Norm in der
liechtensteinischen ZPO nicht. Dementsprechend kann eine Partei, die in einem Zwischen-
streit über die Bewilligung der Verfahrenshilfe unterliegt, dem Gegner kostenersatzptlich-
tig werden. Als Bemessungsgrundlage ist jener Betrag heranzuziehen, der dem mutmaß-
lich_en Gebü~ren~. und ~ostenaufwand e~~spricht, von dem der Verf~hrenshilfea~t~~f stel-
ler 1m Fall eines uber die Klage durchzufuhrenden Verfahrens befreit werden will. · 1
ten. Nach § 54 Abs I Fall I ZPO (§ 54 Abs I öZPO) ist das Kostenverzeichnis vor
Schluss der der Entscheidung über einen Kostenersatzanspruch unmittelbar vorange-
henden Verhandlung dem Gericht zu übergeben. Es empfiehlt sich, in dieses Verzeich-
nis alle bis dahin aufgelaufenen Kosten, insb jene für die Verrichtung von Tagsatzun-
gen und die Einbringung von Schriftsätzen in einem zusammenfassenden Kostenver-
zeichnis festzuhalten. Von Teilen der Rsp wird jedoch auch die Ansicht vertreten, dass
schon anlässlich einer früheren Tagsatzung übergebene Kostenverzeichnisse und insb
auch in einzelnen Schriftsätzen verzeichnete Kosten nicht nochmals vor Schluss der
mündlichen Verhandlung in ein zusammenfassendes Kostenverzeichnis aufgenommen
werden müssen. Dies ist jedenfalls mit dem Wortlaut des § 54 Abs I ZPO (§ 54 Abs 1
öZPO) vereinbar, aber auch mit der Gefahr verbunden, dass an anderen Stellen ver-
zeichnete Kosten vom Gericht übersehen und bei seiner Kostenentscheidung nicht be-
rücksichtigt werden, sodass sie separat allenfalls mit einem Ergänzungsantrag oder Kos-
tenrekurs erfochten werden müssen. Findet über ein Rechtsmittel eine mündliche Ver-
handlung statt, so genügt es, die Kosten dafür vor Schluss derselben zu verzeichnen.
Allerdings empfiehlt es sich, bspw die Kosten für eine Berufung auch schon im Rechts-
mittelschriftsatz zu verzeichnen, falls - aus welchen Gründen auch immer - eine Be-
rufungsverhandlung nicht stattfinden sollte, wie dies insb vor österr Berufungsgerichten
häufig der Fall ist. Erfolgt eine Kostenentscheidung ohne vorgängige Verhandlung,
aber nach einer Einvernehmung bspw einer Partei außerhalb einer Verhandlung, so ist
das Kostenverzeichnis spätestens am Schluss dieser Vernehmung dem Gericht zu über-
reichen. In allen anderen Fällen sind die Kosten spätestens im letzten Schriftsatz zu
verzeichnen, nach dessen Einbringung eine gerichtliche Entscheidung mit einem Kos-
tenausspruch ergehen soll.
10.46 § 54 Abs I a öZPO hat für Österreich - zur Vereinfachung des Kostenbestimmungsver-
fahrens für das Gericht - eine sehr wesentliche Neuregelung geschaffen. Demnach wer-
den die Parteien verpflichtet, am Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz
eine Gleichschrift des dem Gericht zu übergebenden Kostenverzeichnisses auch dem
Gegner auszuhändigen. Dieser kann dann sofort oder binnen einer Notfrist von 14 Tagen
dazu Stellung nehmen. Soweit der durch einen Rechtsanwalt vertretene Gegner gegen die
verzeichneten Kosten keine begründeten Einwendungen erhebt, hat das Gericht diese
seiner Entscheidung zugrundezulegen. Ein Kostenersatz für die Einwendungen findet
nicht statt. Zu dieser Bestimmung, für die es in Liechtenstein keine vergleichbare Rege-
lung gibt, hat sich in Österreich eine umfangreiche kasuistische Rsp entwickelt, auf die
hier nicht näher eingegangen werden kann.
10.47 In allen Fällen gilt, dass die Partei keinen eigenen Kostenbestimmungsantrag stellen
muss. Vielmehr genügt nach § 52 Abs 5 ZPO bzw § 52 Abs 5 öZPO die rechtzeitige
Vorlage des Kostenverzeichnisses. Gerade die in Rechtsmittelschriftsätzen häufig ent-
haltenen Anträge auf Kostenzuspruch sind daher entbehrlich. Da die in erster Instanz
aufgelaufenen Kosten „bei sonstigem Verlust des Ersatzanspruchs" rechtzeitig verzeich-
net werden müssen, können dort nicht verzeichnete Kosten nicht mehr erfolgreich im
1362
Rechtsmittelverfahren geltend gemacht werden •
Für das Verzeichnen der Kosten genügt die bloße Nennung einer kostenverursachenden 10.48
Verfahrenstatsache nicht. Vielmehr muss die Kostennote eine ziffernmäßige Aufstel-
lung aller beanspruchten Kostenbeträge enthalten. Daher sind die einzelnen Leistungen
nach Tarifansätzen, Einheitssatz, Streitgenossenzuschlag, Barauslagen und Mehrwert-
steuer (in Österreich Umsatzsteuer) aufzuschlüsseln. Entsprechendes gilt für Barauslagen
und vorprozessuale Kosten. 1363 In Österreich gibt es gern § 24 öRATG iVm dem sog
Normalkostentarif die Möglichkeit, die Kosten eines Rechtsanwalts in einfachen und
häufig wiederkehrenden Fällen durch den bloßen Verweis auf den entsprechenden Nor-
malkostentarif zu verzeichnen (zB für Mahnklagen, Versäumungsurteile udgl).
Mit dem Kostenverzeichnis sind nach § 54 Abs 1 ZPO (§ 54 Abs 1 öZPO) auch die zur 10.49
Bescheinigung der Ansätze und Angaben des Verzeichnisses etwa erforderlichen Be-
lege vorzulegen. Dies gilt allerdings nur so weit, als sich die dafür notwendigen Anhalts-
punkte nicht ohnehin aus dem Akt ergeben, was va für die im Akt befindlichen Schrift-
sätze und für die über Tagsatzungen aufgenommenen Protokolle gilt. Die zuletzt zitierte
Bestimmung gilt daher insb auch für vorprozessuale Kosten. Die Praxis zeigt, dass vor-
prozessuale Kosten häufig schon deshalb nicht zugesprochen werden, weil die zu deren
Beurteilung erforderlichen Ansätze nicht genannt oder Belege zur Bescheinigung nicht
vorgelegt werden. So empfiehlt es sich bspw bei vorprozessualer Korrespondenz, diese
dem Kostenverzeichnis anzuschließen, damit das Gericht auch beurteilen kann, ob diese
zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig war. In
einem derartigen Fall ist dies auch für die Einschätzung erforderlich, ob eine bestimmte
Leistung etwa unter Tarifpost 5 oder 6 RATV zu subsumieren ist. Schließlich ist, wenn
sich dies für eine bestimmte Leistung nicht unmittelbar aus dem Akt entnehmen lässt,
auch die Bemessungsgrundlage für die Entlohnung einer Leistung anzugeben und allen-
falls zu bescheinigen. Wie aus den§ 41 Abs 1, § 54 Abs l ZPO bzw§ 41 Abs 1, § 54 Abs 1
öZPO abzuleiten ist, beschränkt sich das Bescheinigungsverfahren auf Belege, also auf
Urkunden. Diese sind mit dem Kostenverzeichnis vorzulegen. Eine spätere Vorlage, bspw
im Rechtsmittelverfahren, ist nicht möglich. 1364
§ 54 Abs 2 ZPO und § 54 Abs 2 öZPO regeln im Wesentlichen wortgleich das Anspre- 10.50
chen von Kosten, die nach jenen Zeitpunkten entstehen, die nach § 54 Abs l ZPO (§ 54
Abs I öZPO) für das rechtzeitige Verzeichnen von Kosten maßgeblich sind. Entstehen
einer Partei nach dem Zeitpunkt, bis zu dem nach § 54 Abs I ZPO das Kostenverzeichnis
einzureichen ist, weitere Kosten, deren Ersatz sie von dem anderen Teil verlangen kann,
so kann sie eine Ergänzung der Entscheidung über die Höhe der zu ersetzenden Kosten
beantragen. Bestehen die Kosten in einer Zahlungspflicht, so gelten sie als mit deren Be-
gründung entstanden; haftet jedoch mit der zum Kostenersatz berechtigten Partei auch
deren Gegner solidarisch, gelten die Kosten erst mit der Zahlung als entstanden. Der
Antrag auf Ergänzung der Kostenentscheidung ist binnen einer Notfrist von vier Wo-
chen ab dem Entstehen der Kosten zu stellen; bestehen jedoch die Kosten in einer Zah-
lungspflicht und ist der Gläubiger nicht der Bevollmächtigte der Partei, so beginnt die
Frist erst zu laufen, wenn der Partei ihre Verbindlichkeit zahlenmäßig bekanntgegeben
und wenn sie fällig oder wenn sie vorher gezahlt wird. Das Gericht entscheidet ohne
mündliche Verhandlung durch Beschluss.
10.51 Wird ein Kostenrekurs mit einem anderen Rechtsmittel (zB mit einer Berufung) ver-
bunden, empfiehlt es sich, zweimal Kosten zu verzeichnen, und zwar einmal für das
Rechtsmittel im Kostenpunkt und einmal für jenes in der Hauptsache. Entsprechendes
1365
gilt auch für Rechtsmittelbeantwortungen. In der Judikatur werden nämlich einander
widersprechende Ansichten vertreten, ob eine „Rüge im Kostenpunkt", die mit einem
anderen Rechtsmittel gemeinsam ausgeführt wird, bzw deren Beantwortung gesondert
zu entlohnen sind. 1366
10.52 Besonderes Augenmerk ist auf das Verzeichnen der Mehrwertsteuer (in Österreich:
Umsatzsteuer) zu legen, wenn ein Rechtsanwalt eine ausländische Partei vertritt. Für
Liechtenstein gilt gern Art 8 Abs l MWSTG (idF LGBI 2009/330) mit hier nicht in Be-
tracht kommenden Ausnahmen das Empfängerortprinzip. Davon werden auch anwalt-
liche Dienstleistungen erfasst. Demnach gilt als Ort der Dienstleistung jener, an dem der
Empfänger der Dienstleistung den Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine Betriebs-
stätte hat, für welche die Dienstleistung erbracht wird, oder in Ermangelung eines sol-
chen Sitzes oder einer solchen Betriebsstätte der Wohnort oder der Ort seines üblichen
Aufenthalts. Daher gilt bspw eine von einem liechtensteinischen Rechtsanwalt gegenüber
einem im Ausland wohnhaften Klienten erbrachte Dienstleistung als im Ausland er-
bracht, sodass diese Dienstleistung nicht der liechtensteinischen Mehrwertsteuer unter-
liegt. Diesfalls hat der Rechtsanwalt die im betreffenden Ausland maßgebliche Mehrwert-
oder Umsatzsteuer zu verzeichnen. Wird in einem derartigen Fall kommentarlos nur die
inländische Mehrwert- oder Umsatzsteuer verzeichnet, läuft die Partei Gefahr, dass ihr
überhaupt keine Mehrwert- bzw Umsatzsteuer zuerkannt wird. 1367 Ist die Höhe des aus-
ländischen Mehrwert- bzw Umsatzsteuersatzes nicht allgemein bekannt (wie dies bspw
für Deutschland schon angenommen wurde), kann die zu entrichtende ausländische Um-
satzsteuer allenfalls nur zugesprochen werden, wenn Entsprechendes behauptet und be-
scheinigt wird. 1368 Eine Ausnahme gilt für eine in der Schweiz wohnhafte und durch
einen in Liechtenstein ansässigen Rechtsanwalt vertretene Partei. Nach Art 2 der Verein-
barung zwischen dem Fürstentum Liechtenstein und der Schweizerischen Eidgenossen-
schaft zum Vertrag betreffend die Mehrwertsteuer im Fürstentum Liechtenstein 1369 gel-
ten nämlich die im Schweizerischen Mehrwertsteuergesetz als Inland bezeichneten Ge-
biete als gemeinsames Anwendungsgebiet der Mehrwertsteuer für beide Vertragsstaa-
ten. 1370 Das Fürstliche Obergericht hat in einer eingehenden Entscheidung judiziert,
dass einem gern § 28 RAG zum Verfahrenshelfer bestellten Rechtsanwalt, der seine
Dienstleistungen für einen Kläger mit Wohnsitz in Österreich erbringt, keine Mehrwert-
steuer aus dem Vergütungsbetrag zuzuerkennen ist. 1371 Hervorgehoben sei, dass die zu-
vor angeführten Grundsätze jedenfalls in Österreich nur für ausländische Unternehmer
gelten. In Zweifelsfällen ist daher zu behaupten und zu bescheinigen, ob es sich bei der
ausländischen Partei um einen Unternehmer handelt oder nicht und welcher Steuersatz
diesfalls in Ansatz zu bringen ist (vgl § 54 Abs l ZPO und § 54 Abs l öZPO).
B. Kostenbestimmung, Kostenvorbehalt
§ 52 Abs l ZPO sieht ebenso wie § 52 Abs l öZPO vor, dass in Entscheidungen, die eine 10.53
Streitsache für die Instanz vollständig erledigen, auch über die Verpflichtung zum Kos-
tenersatz zu entscheiden ist, während in anderen Beschlüssen über den Ersatz der Kosten
nur insoweit erkannt werden kann, als die Ersatzpflicht vom Ausgang der Hauptsache
unabhängig ist. Dies gilt also insb für die bereits erwähnten Zwischenstreitigkeiten. Die
Verpflichtung des Gerichts wird auch ohne einen diesbezüglichen Parteienantrag ausge-
löst, sofern die Partei nur rechtzeitig(§ 54 ZPO, § 54 öZPO) das Kostenverzeichnis vor-
legt(§ 52 Abs 5 ZPO, § 52 Abs 5 öZPO).
§ 52 Abs l bis 3 ZPO räumt wie§ 52 Abs l bis 3 öZPO dem Gericht zur Vereinfachung 10.54
des Kostenbestimmungsverfahrens in seiner Gesamtheit ein, die Kostenentscheidung bis
zur rechtskräftigen Erledigung der Streitsache durch einen nicht anfechtbaren Vorbehalt
hinauszuschieben. Ein Vorbehalt der Kostenentscheidung, der nicht anfechtbar ist 1372 ,
ist nur zulässig, wenn die Entscheidung durch ein Rechtsmittel angefochten werden kann
und wenn dies aufgrund der Komplexität der zu treffenden Kostenentscheidung aus
Gründen der Verfahrensökonomie zweckmäßig ist. Bei Erlassung eines Zahlungsbefehls,
eines Wechselzahlungsauftrags oder eines Versäumungs-, Verzichts- oder Anerkenntnis-
urteils ist ein Vorbehalt der Kostenentscheidung jedenfalls unzulässig. Hat ein Gericht
die Kostenentscheidung vorbehalten, so ist im weiteren Rechtsgang vorerst keine Kosten-
entscheidung zu treffen; ausgenommen sind aber Entscheidungen über die Kosten eines
Zwischenstreits 1373 . Über die Verpflichtung zum Kostenersatz für das gesamte Verfahren
entscheidet das Gericht erster Instanz erst nach rechtskräftiger Erledigung der Streitsa-
che. Auch das Berufungsgericht kann erstmals einen Vorbehalt setzen 13 ' 4 . § 52 Abs 4
ZPO regelt in Anlehnung an die Bestimmung des § 52 Abs 4 öZPO die Verpflichtung
des Gerichts, bei der Fassung eines Teilurteils nach Möglichkeit über die bis dahin auf-
gelaufenen Kosten zu entscheiden. Nur wenn dies nicht möglich ist, ist ein Kostenvor-
behalt gerechtfertigt. Ein Kostenvorbehalt ist auch bei einem zulässigen und inhaltlich
erledigten Revisionsrekurs gegen einen berufungsgerichtlichen Aufhebungsbeschluss zu
setzen. In diesem Fall stellt der Revisionsrekurs, auch wenn ihm nicht Folge gegeben
wird, weder ein frustriertes noch ein endgültig erfolgloses Rechtsmittel dar, das aber sehr
wohl zur Klärung der Rechtslage beitrug. 1375
10.55 § 53 Abs l und 2 ZPO normieren in gleicher Weise wie § 53 Abs l und 2 öZPO die
Verpflichtung des Gerichts, in einer Kostenentscheidung die zu ersetzenden Kosten
betragsmäßig festzusetzen 1376, sofern nicht die Kosten gegeneinander aufgehoben wer-
den. Damit wird sichergestellt, dass die Kostenentscheidung einen tauglichen Exeku-
tionstitel darstellt. Eine Ausnahme von dieser Verpflichtung besteht nur bei der münd-
lichen Verkündung einer entsprechenden gerichtlichen Entscheidung. In diesem Fall
kann die Festsetzung des Kostenbetrags der schriftlichen Ausfertigung vorbehalten blei-
ben.
10.56 Eine Kostenentscheidung ist unbestimmt und nicht exequierbar, wenn sie offen lässt, ob
die Kläger solidarisch, nach Kopfteilen oder entsprechend ihrer quotenmäßigen Beteili-
gung gern dem im Verfahren erhobenen Klagebegehren zur Zahlung der Kosten ver-
pflichtet sind. Besteht nämlich eine solidarische Kostenersatzpflicht der Parteien, ist diese
in der Kostenentscheidung ausdrücklich auszusprechen. 1377
C. Rechtsmittelverfahren
10.57 Nach ihrem Wortlaut im Wesentlichen identisch regeln§ 55 Abs l ZPO und§ 55 öZPO,
dass die in einem Urteil der ersten Instanz enthaltene Entscheidung über den Kosten-
punkt ohne gleichzeitige Anfechtung der in der Hauptsache ergangenen Entscheidung
nur mittels Rekurs angefochten werden kann. Die Bestimmung des § 55 öZPO ist, soweit
sie sich auf Entscheidungen des Berufungsgerichts bezieht, insoweit überholt, als zweit-
instanzliche Kostenentscheidungen jedenfalls unanfechtbar sind (vgl§ 519 Abs l, § 528
Abs 2 Z 3 öZPO). In der Praxis (sowohl in Liechtenstein als auch in Österreich) werden
solche nur die Kostenentscheidung anfechtenden Rechtsmittel als Kostenrekurse be-
zeichnet. Die Rekursfrist beträgt 14 Tage(§ 489 Abs 1 ZPO, § 521 Abs I Satz I öZPO).
Wird allerdings ein erstinstanzliches Urteil mit einer (zulässigen) Berufung bekämpft,
kann die Anfechtung der darin enthaltenen Kostenentscheidungen in den Rechtsmittel-
schriftsatz aufgenommen werden (Berufung im Kostenpunkt oder Kostenrüge). 1378 In
diesem Fall steht der Partei dafür die längere Rechtsmittelfrist zur Verfügung. Eine
Partei ist aber berechtigt, zunächst einen Rekurs gegen die Kostenentscheidung zu erhe-
ben. Dadurch wird ihr Recht, später, aber noch innerhalb der entsprechenden Frist, auch
gegen die Sachentscheidung das Rechtsmittel zu ergreifen, nicht ausgeschlossen. Davon
unberührt bleibt die Frage, ob die aus der unterlassenen Verbindung der Kostenrüge mit
dem Rechtsmittel in der Hauptsache resultierenden Mehrkosten eines separaten Kosten-
rekurses als zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig anzusehen und damit
zu honorieren sind. 1379
10.58 Nach § 55 Abs 2 ZPO entscheidet das OG über Rekurse gegen Entscheidungen des LG im
Kostenpunkt endgültig und unter Ausschluss jeden weiteren Rechtszugs. Gegen die vom
OG im Kostenpunkt getroffenen Entscheidungen ist auch außer diesem Fall ein Rekurs
nicht zulässig. Der Bericht und Antrag 1380 führt dazu im Wesentlichen Folgendes aus:
Gerade bei der Anfechtung von Kostenentscheidungen kann es insb zur Vermeidung 10.59
einer Exekutionsführung durch die Gegenpartei sinnvoll sein, nach § 492 Abs 2 ZPO
(§ 524 Abs 2 öZPO) zu beantragen, dem Rekurs hemmende Wirkung zuzuerkennen.
Voraussetzung für die Bewilligung des Antrags ist, dass der Gegenpartei dadurch kein
unverhältnismäßiger Nachteil erwächst und ohne Hemmung der Zweck des Rekurses
vereitelt würde. Der Antrag ist immer beim Erstgericht einzubringen. Dieses entscheidet
darüber mit unanfechtbarem Beschluss.
§ 517 Abs 1 öZPO normiert Rekursbeschränkungen bei einem EUR 2.700,- nicht über- 10.60
steigenden Streitgegenstand. Nach Z 5 dieser Bestimmung sind Prozesskostenentschei-
dungen davon ausgenommen. Sofern aber der Betrag, dessen Zuspruch oder Aberken-
nung beantragt wird, € 50,- nicht übersteigt, ist nach § 517 Abs 3 öZPO der Kostenrekurs
jedenfalls unzulässig.
10.61 Gern§ 521 a Abs 1 öZPO ist das Rekursverfahren zweiseitig. Im liechtensteinischen Zi-
vilprozess wird der Grundsatz der Zweiseitigkeit des Rekursverfahrens mit der Ein-
schränkung normiert, dass dem nicht die Dringlichkeit der Rechtssache entgegensteht
oder dadurch der Zweck des Rekurses vereitelt würde. Die Frist für die Rekursbeantwor-
tung beträgt 14 Tage (§ 489a ZPO).
10.62 Bei Anträgen auf Kostenbestimmung und bei Kostenrekursen dient gern Art 12 RA TG
als Bemessungsgrundlage gegenüber dem Gegner der Kostenbetrag, dessen Zuspruch
oder Aberkennung ersiegt wird, gegenüber der eigenen Partei hingegen der Betrag, des-
sen Zuspruch oder Aberkennung beantragt wird. übersteigt allerdings der ersiegte oder
aberkannte Kostenbetrag nicht CHF 100,-, so hat der Rekurswerber - wie bereits er-
wähnt - gegenüber dem Gegner nur Anspruch auf Ersatz der Gerichtsgebühren und
der Barauslagen. Ähnliches normiert § 11 öRA TG bei einem Schwellenwert von € 100,-.
10.63 Die Anfechtung der Kostenentscheidung muss ziffernmäßig bestimmt erfolgen. Dh, sie
muss erkennen lassen, was angefochten und welche Abänderung beantragt wird. Es muss
daher erkennbar sein, in welchem Umfang Teilrechtskraft der angefochtenen Kostenent-
scheidung eingetreten ist. Dazu sind also die begehrten und die bekämpften Kosten im
Rekurs rechnerisch darzulegen. Es ist nicht Sache des Rechtsmittelgerichts, Berechnun-
gen über Kosten anzustellen, von denen (dem Grunde und der Höhe nach) gar nicht klar
ersichtlich ist, ob sie bzw in welchem Maße sie angefochten werden, soweit dies vorn
Rechtsmittelwerber nicht klar vorgegeben wurde. Andernfalls würde die Gefahr bestehen,
dass das Rechtsmittelgericht unzulässigerweise in eine Teilrechtskraft eingreift. Mangels
Bestimmtheit ist das Rechtsmittel im Kostenpunkt zurückzuweisen. Sohin hat das
Rechtsmittel eine ziffernmäßig bestimmte Anfechtungserklärung und einen dieser An-
fechtungserklärung entsprechenden ziffernmäßig bestimmten Abänderungsantrag zu
1382
enthalten.
führung hat ihre Grundlage unmittelbar in einem Gesetz, während ein eigener (explizi-
ter) Titel für diese Zinsenforderung als Grundlage der Exekutionsführung nicht besteht.
Nach der Entscheidung des öOGH zu 3 Ob l 19/10m 1383 ist§ 54a öZPO (§ 54a ZPO) nur 10.65
bei inländischen Exekutionstiteln anzuwenden. Diese Rechtsansicht beruht jedenfalls teil-
weise auf einer inzwischen überholten Rechtslage (die §§ 84 b, 86 öEO wurden aufgeho-
ben; vgl jetzt aber insb § 404 Abs I letzter Satz öEO). Tiefergreifende Erwägungen an
dieser Stelle würden den Rahmen des Werks sprengen. Zu überlegen wird jedoch sein,
dass es sich bei § 54a ZPO (§ 54a öZPO) - soweit darin Verzugszinsen angesprochen
werden - nicht um eine verfahrensrechtliche Bestimmung handelt.
Seinem Wortlaut nach ist § 54 a ZPO (§ 54 a öZPO) nicht auf gerichtliche Vergleiche 10.66
anzuwenden. Dafür, dass diese Bestimmung extensiv auszulegen wäre, bestehen keine
Anhaltspunkte. Es steht ja den Parteien frei, den Ersatz von Verzugszinsen aus den Kos-
ten zu vereinbaren.
Nach hM 1384 gilt die Bestimmung aber für Schiedssprüche. 10.67
Über den Verweis des Art 51 EO kommt § 54a ZPO auch im Exekutionsverfahren zur 10.68
Anwendung. Art 48 EO steht dem nicht entgegen. In Österreich wird in § 74 Abs l öEO
Gegenteiliges normiert. Sowohl im liechtensteinischen als auch im österr Außerstreitver-
fahren gelten die entsprechenden Bestimmungen über die Verzinsung der Kosten (Art 78
Abs 4 AussStrG; § 78 Abs 4 öAußStrG).
Übersicht
Rz
1.Bedeutung für den liechtensteinischen Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . 11.1
II.Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.5
III.Gesetzessystematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.16
IV. Art der Sicherheitsleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.17
A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.17
B. Sicherungsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.21
V. Die Kautionstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.29
A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.29
B. Natürliche Personen (§ 57 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.30
C. Verbandspersonen (juristische Personen,§ 57a ZPO) .......... 11.54
D. Änderung der Rechts- oder Sachlage (§ 58 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . 11.69
VI. Das Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.73
A. Rechtzeitigkeit der Antragstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.73
B. Verhandlung über den Antrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.76
C. Der Kautionsbeschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.87
D. Sicherheitsleistung im Rechtsmittelverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.98
E. Zum Kautionserlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.108
F. Ergänzungsantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.114
G. Verfahrenshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.119
H. Nebenintervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.124
1. Ausfolgung/Realisierung der Sicherheitsleistung . . . . . . . . . . . . . . 11.128
J. Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.131
leistung für Gemeinschaftsangehörige (und auch für Angehörige der erwähnten drei
EFTA-Staaten) eine unverhältnismäßige Erschwerung der Rechtsverfolgung bedeuten
würde und folglich § 57 öZPO bei Klaien natürlicher wie juristischer Personen aus der
EU bzw dem EWR unanwendbar ist. 13 9
IdS judiziert auch der BGH, dass von einer Gesellschaft, die ihren Verwaltungssitz inner- 11.2
halb der EU oder des EWR unterhält, keine Prozesskostensicherheit gern §§ 110 ff dZPO
verlangt werden kann, was in der Lit als Aushöhlung des Schutzsystems des§ 110 dZPO
bezeichnet wurde. 1390
Dies alles gilt für das Fürstentum Liechtenstein jedoch nicht: Vollstreckungsabkommen 11.3
bestehen nämlich nur mit der Republik Österreich und der Schweizerischen Eidgenos-
senschaft. Damit haben die kautionsrechtlichen Bestimmungen der ZPO in der gericht-
lichen Praxis in Liechtenstein eine sehr große Bedeutung.
Da der OGH im Fall von difformen Entscheidungen der Untergerichte bis 31. 12. 2018 11.4
auch bei Kautionsentscheidungen immer anrutbar war, zudem die Senatsvorsitzenden
des OG und des OGH bei Kautionspflicht des Rechtsmittelwerbers und entsprechender
Antragstellung des Rechtsmittelgegners selbst Kautionsentscheidungen treffen, die gern
§ 59 Abs 2 ZPO beim Kollegium des jeweiligen Gerichts anfechtbar sind, und der StGH
letztinstanzliche ~erichtliche Kautionsentscheidungen als enderledigend iSv Art 15 Abs 1
StGHG ansieht, 1 91 liegt umfangreiche (eigenständige) Rsp der liechtensteinischen In-
stanzgerichte zu §§ 56ff ZPO vor.
den die §§ 57 bis 62 ZPO (nicht jedoch § 56 ZPO) neu gefasst: 1396 Nunmehr wurde auch
der Rechtsmittelwerber (unabhängig davon, ob er Kläger oder Beklagter ist) der grund-
sätzlichen Kautionspflicht unterstellt; es wurde anstatt auf die Ausländereigenschaft (der
als Kläger oder Rechtsmittelwerber auftretenden natürlichen Person) auf deren festen,
außerhalb von Liechtenstein gelegenen Wohnsitz abgestellt; es wurden für juristische
Personen in der Gestalt von § 57a ZPO Sonderbestimmungen erlassen (Abstellen auf
die Frage des Vorhandenseins von der Vollstreckung zugänglichem Vermögen im In-
land) und eigene Regelungen für das Kautionsverfahren in der Instanz (Rechtszug vom
Vorsitzenden an das Kollegium - § 59 Abs 2 ZPO) vorgesehen. Dem Motivenbericht 1397
ist zu entnehmen, dass festgestellt worden war, dass §§ 57 ff ZPO nicht mehr den liech-
tensteinischen Verhältnissen entsprechen würden. Es habe sich gezeigt, dass bei den vie-
len internationalen Verbindungen von Gesellschaften, die ihren Sitz in Liechtenstein
haben, oft bei Vertragsabschlüssen der Gerichtsstand in Liechtenstein vereinbart wird
und viele der in Liechtenstein domizilierten Firmen selbst keine Vermögenswerte besit-
zen. Eine Vollstreckung gegen solche Gesellschaften sei oft ergebnislos und ende dann
mit dem Konkurs. Falls eine solche Gesellschaft Vermögenswerte im Ausland habe, wie
es vielfach der Fall sei, würden diese von einem beim LG eröffneten Konkurs nicht er-
fasst, und eine Vollstreckung aufgrund liechtensteinischer Exekutionstitel sei nicht
möglich. Es sei nach dem „derzeitigen" (Anm: damals gegebenen) Rechtszustand prak-
tisch nicht möglich, die häufig erheblichen Kosten und Gebühren bei ausländischen Par-
teien oder gewissen inländischen Sitzunternehmen hereinzubringen.
11.7 Mit dem Beitritt zum Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 1398
mit I. 5. 1995 begann eine literarische Diskussion über die Frage, ob die kautionsrecht-
lichen Bestimmungen der ZPO mit dem allgemeinen Diskriminierungsverbot (Art 4
EWRA) vereinbar sind. Tobler 1399 erachtete eine dadurch bewirkte indirekte Diskrimi-
nierung für möglich; G. Baur I400 hielt die Tage der§§ 57ff ZPO - obwohl im Gegensatz
zur entsprechenden österr Norm keine direkte Diskriminierung enthaltend - für gezählt;
Delle Karth I40I verwies darauf, dass das Diskriminierungsverbot auch eine mittelbare
Diskriminierung von Staatsangehörigen anderer EWR-Länder verbiete, was bei extensi-
ver Interpretation bereits dann gegeben wäre, wenn sich die an das Kriterium des Wohn-
sitzes anknüpfende nationale Rechtsvorschrift, wie die des § 57 Abs l ZPO, hauptsächlich
zum Nachteil der Angehörigen anderer EWR-Staaten auswirke; Mähr 1402 führte die in
der EU vertretene Auffassung, wonach zumindest einer in Ausübung ihres Berufs han-
delnden Person mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat keine Sicherheitsleistung
mehr auferlegt werden dürfe, ins Treffen; M. Frick 1403 bezweifelte ausdrücklich die EWR-
Konformität der liechtensteinischen Kautionsbestimmungen; Gasser I404 erhob europa-
rechtliche Bedenken gegen die Auferlegung einer aktorischen Kaution (zumindest in Be-
zug auf ausländische Konkursgläubiger) und Schäfer 1405 kam zum Ergebnis, dass §§ 57,
57 a ZPO eine indirekte Diskriminierung darstellen, die nicht gerechtfertigt werden kann.
Die Rsp ging zunächst von einer EWR-Konformität der kautionsrechtlichen Bestim- 11.8
mungen der ZPO aus. 1406 Der EFT A-GH, das (für Liechtenstein) oberste zuständige Ge-
richt in EWR-rechtlichen Angelegenheiten, 1407 wurde (vorerst) mit den kautionsrecht-
lichen Bestimmungen der liechtensteinischen ZPO nicht befasst. Ein Ersuchen um Vor-
abentscheidung des norwegischen Obersten Gerichts iZm einem dort von einer griechi-
schen Gesellschaft als Klägerin eingeleiteten Zivilprozess, der über Antrag der Beklagten
eine Sicherheitsleistung für deren Prozesskosten auferlegt worden war, an den EFT A-GH
1408
gern Art 34 ÜGA (als Diskriminierung wurde geltend gemacht, dass juristische Per-
sonen mit Sitz in Norwegen keine Sicherheitsleistung erbringen müssten; des weiteren
wurde - für den Fall der Unvereinbarkeit mit dem allgemeinen Diskriminierungsverbot
nach Art 4 EWRA - nach der Rechtfertigbarkeit dieser Bestimmung gefragt) wurde je-
doch zurückgezogen, sodass keine Entscheidung des EFTA-GH erging. 1409
Die EFTA-Überwachungsbehörde (ESA) warf bereits im Jahre 2000 die Frage der Eu- 11.9
roparechtskonformität des § 57 ZPO auf. Sie gab dem Fürstentum Liechtenstein im März
2000 iSv Art 31 Abs l letzter Satz ÜGA Gelegenheit zur Äußerung, da sie die Auffassung
vertrat,§ 57 ZPO würde gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot nach Art 4 EWRA
verstoßen und das Fürstentum Liechtenstein komme dementsprechend seiner aus Art 3
EWRA entspringenden Verpflichtung nicht nach. Auch nach Einlangen der Stellungnah-
me des Landes blieb die ESA bei ihrer Ansicht, da Liechtenstein nach Auffassung der ESA
nicht habe darlegen können, dass die Diskriminierung durch objektive Umstände ge-
rechtfertigt sei. Am 4. 7. 2001 versandte die ESA schließlich eine begründete Stellung-
nahme iSv Art 31 Abs l Satz 1 ÜGA an das Fürstentum Liechtenstein und setzte darin
eine dreimonatige Frist fest, um „dem betroffenen Staat eine letzte Chance, Abhilfe zu
schaffen, einzuräumen", bevor sie entscheidet, ob sie die Sache vor den EFT A-GH bringt.
Eine Klage wurde jedoch nie eingebracht. 1410
Ein in der Folge vom LG an den EFT A-GH gerichtetes Ersuchen um Vorabentscheidung 11.10
bezog sich ausdrücklich nur auf die Vereinbarkeit von § 56 ZPO mit dem EWR-Recht.
Der EFTA-GH kam in seinem Urteil v l. 7. 2005, E-I0/04, Paolo Piazza/Paul Schurte AG,
zum Ergebnis, dass eine Bestimmung des innerstaatlichen Rechts, die alle aus anderen
Vertragsparteien stammenden Arten der Leistung von Prozesskostensicherheit aus-
schließt, gegen Art 40 EWRA (,,Kapitalverkehrsfreiheit") verstößt und nicht aus Gründen
der öffentlichen Ordn~ng zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Zivilrechts-
pflege gerechtfertigt werden kann. 1411 In ihrer in diesem Verfahren abgegebenen Stel-
lungnahme, die sich - entgegen dem ausdrücklichen Ersuchen des vorlegenden Gerichts,
wonach sich die Vorlage nur auf die Art der Sicherheitsleistung beschränkt und sich nicht
auf die grundsätzliche Verpflichtung erstreckt, eine Sicherheit bereitzustellen - auch auf
die Kautionsfrage an sich bezogen hatte, stellte die Kommission der Europäischen Ge-
meinschaften fest, dass der Umstand, dass die Bereitstellung einer Sicherheit nach liech-
tensteinischem Recht schon aufgrund der bloßen Tatsache verlangt werden kann, dass
ein Kläger im Ausland wohnhaft ist, im Widerspruch zum in Art 4 EWRA festgelegten
Diskriminierungsverbot steht. 1412
11.11 Im Verfahren 09 CG.2005.192 brachte daraufhin die dortige Rechtsmittelwerberin, eine
Gesellschaft mit Sitz in Deutschland, unter Bezugnahme auf die erwähnte Piazza-Ent-
scheidung des EFT A-GH und insb im Hinblick auf die in jenem Verfahren ergangene
(erwähnte) Stellungnahme der Europäischen Kommission vor, dass ihr keine Sicher-
heitsleistung für Prozesskosten auferlegt werden dürfe, womit sie jedoch kein Gehör
fand und die Fachgerichte - unter Bezugnahme auf die bisherige Judikatur des StGH
- die Auferlegung einer Sicherheitsleistung für Prozesskosten als EWR-konform ansa-
hen. Der gegen den (letztinstanzlichen und enderledigenden) Beschluss des OG v 31. 8.
2006, 09 CG.2005.192- 33, erhobenen Individualbeschwerde gab der StGH - in Abkehr
von der bisherigen Rsp - Folge und hob nicht nur den angefochtenen Beschluss, son-
dern auch die §§ 56 bis 62 ZPO als EWR-rechts- bzw verfassungswidrig auf. 1413 Der
StGH begründete dies damit, dass die liechtensteinische Kautionsregelung trotz ihrer
durchaus differenzierten Ausgestaltung ausländische Staatsangehörige faktisch doch we-
sentlich stärker treffe als Einheimische. Dies sei bei natürlichen Personen von vorne
herein offensichtlich, gelte aber grundsätzlich auch für juristische Personen. Zwar sp're-
che § 57 a ZPO von inländischen Verbandspersonen und anderen Sitzunternehmen, die
eine aktorische Kaution leisten müssten, wenn sie kein im Inland der Vollstreckung
zugängliches Vermögen in Höhe der mutmaßlichen Prozesskosten ausweisen könnten,
was jedoch in ständiger Praxis 1414 so gehandhabt werde, dass damit nur sog „Sitzge-
sellschaften", nicht jedoch im Lande tätige juristische Personen erfasst würden. Damit
stelle die gesamte ZPO-Regelung der aktorischen Kaution eine indirekte Diskriminie-
rung dar, welche zwar nicht per se unzulässig, jedoch rechtfertigungsbedürftig sei. Ins-
gesamt kam der StGH zum Ergebnis, dass die bisherige Rsp nicht aufrechterhalten
werden könne. Es werde Sache des Gesetzgebers sein, eine EWR-rechtskonforme Kau-
tionsregelung zu schaffen.
11.12 Die darauf mit LGBI 2009/206 mit 14.7.2009 neu erlassenen§§ 56 bis 62 ZPO stellen -
zusammengefasst - nicht mehr auf den (Wohn-)Sitz des potenziell Kautionspflichtigen,
sondern nur mehr auf die Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung im Staat, in dem
der potenziell Kautionspflichtige seinen (Wohn-)Sitz bzw Vermögen hat, ab.
1411 Tus & News 2006, 167; im Volltext abrufbar unter www.eftacourt.int.
1412 Sitzungsbericht in der Rs E-10/04 Piazza (insb Rz 3, 84 und 86), abrufbar unter www.efta-
court.int (abgerufen am 19.12.2019).
1413 StGH 2006/94 GE 2009, 317.
1414 Verwiesen wurde auf OGH 03 CG.2002.192 LES 2003, 317 (vom StGH in StGH 2006/94 GE
2009, 317 offenkundig irrtümlich mit LES 2005, 317 zitiert).
Diese neuen kautionsrechtlichen Bestimmungen der ZPO wurden umgehend zum Ge- 11.13
genstand eines weiteren Vorabentscheidungsersuchens gemacht: Über entsprechende
Vorlage des OG 1415 entschied der EFTA-GH mit Urteil v 17.12.2010, E-5/10, Dr. Joa-
chim Kottke/Präsidial Anstalt and Sweetyle Stiftung1 416 , dass eine nationale verfahrens-
rechtliche Vorschrift, nach der gebietsfremde Kläger in Zivilrechtsstreitigkeiten Prozess-
kostensicherheiten erlegen müssen, während gebietsansässige Kläger dazu nicht ver-
pflichtet sind, eine mittelbare Diskriminierung iSv Art 4 EWRA darstellt, welche jedoch
aus Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist, wenn die nationale Bestim-
mung im Hinblick auf die Erreichung des angestrebten Ziels sowohl erforderlich als auch
verhältnismäßig ist. Dies ist dann nicht der Fall, wenn der Wohnsitzstaat des Klägers die
Vollstreckung einer Kostenentscheidung gestattet, sei es aufgrund eines völkerrechtlichen
Abkommens oder einseitig. Weilers darf die Leistung einer Sicherheit, so der EFTA-GH
weiter, nicht auf eine Weise verlangt werden, die das Interesse eines gebietsfremden Klä-
gers, ein Verfahren einleiten zu können, unverhältnismäßig beeinträchtigt. Dies bedeutet
insb, so der EFT A-GH, dass keine Sicherheit auferlegt werden darf, deren Höhe zu den zu
erwartenden Kosten des Kautionswerbers außer Verhältnis steht oder die unangemessen
hoch ist oder die binnen einer sehr kurzen Frist erlegt werden muss. Ebenfalls sind die
Art der verlangten Sicherheit und die Umstände, die zu ihrer Auferlegung geführt haben,
sowie die Frage, ob der Kläger Anspruch auf Verfahrenshilfe hat, wichtige Faktoren. Dass
Liechtenstein dem Lugü nicht beigetreten ist, wurde vom EFT A-GH nicht als Hinde-
rungsgrund angesehen. 1417
In der Folge hatte die „neue Kautionslösung" auch vor den nationalen Gerichtsinstan- 11.14
zen und insb vor dem StGH Bestand. 1418 In der Lit gab es zustimmende und ablehnende
Stimmen zu den neuen kautionsrechtlichen Bestimmungen. 1419
Dass schon die alten kautionsrechtlichen Bestimmungen konventionskonform waren 11.15
(für die nunmehr in Geltung befindlichen Bestimmungen über die Sicherheitsleistung
muss dies umso mehr zutreffen) und nicht gegen das in der EMRK verbürgte Recht
auf Zugang zu einem Gericht und den daraus abgeleiteten Grundsatz der Waffen- und
Chancengleichheit verstoßen, zumal auch im Wege der Verfahrenshilfe eine entsfrechen-
de Befreiung erwirkt werden kann, wurde vom OGH bereits ausgesprochen. 142 Nur im
Einzelfall geradezu prohibitive Sicherheitsleistungen, so der StGH, verstoßen gegen Art 6
EMRK.1421
III. Gesetzessystematik
11.16 Während § 56 ZPO Vorschriften über die Art der Sicherheitsleistung enthält, regeln die
§§ 57, 57a und 58 ZPO, in welchen Fällen eine Sicherheitsleistung für Prozesskosten ver-
langt bzw auferlegt werden kann. Die §§ 59 bis 62 ZPO betreffen das Kautionsverfahren
im engeren Sinn, dh sie legen fest, wie - im Fall des Vorliegens der Voraussetzungen
nach den§§ 57, 57a und 58 ZPO - über Kautionsanträge zu entscheiden ist und welche
prozessualen Konsequenzen an den Erlag/Nichterlag der Kaution anknüpfen. Der sog
Paupertätseid (geregelt in § 60 Abs l und 2, § 62 Abs l ZPO aF) wurde mit der ZVN
20 l 8 mit l. l. 2019, weil zufolge Anwendbarkeit der Bestimmungen über die Verfahrens-
hilfe nunmehr auch auf juristische Personen sachlich nicht mehr rechtfertigbar, Miss-
brauchspotenzial in sich bergend und die Gefahr erheblicher Verfahrensverzögerungen
mit sich bringend, 1422 ersatzlos abgeschafft. Er ist jedoch nach Abs 4 der Übergangsbe-
stimmungen1423 in all jenen Fällen weiterhin zulässig, in denen der Beklagte oder Rechts-
mittelwerber den Antrag auf Auferlegung einer Sicherheitsleistung vor dem 31. 12. 2018
gestellt hat.
Zudem ist § 56 ZPO zumindest sinngemäß auch auf die Kaution als gelinderes Mittel 11.20
zur Substituierung der Untersuchungshaft (§ 138 Abs 2 StPO) und auf die bei Über-
tretungen des Strassenverkehrsgesetzes zu erbringende Sicherheit (§ 322a StPO) sowie
auf den sog Befreiungsbetrag 1426 bei vermögenssichernden Maßnahmen iS des § 97a
Abs 3 StPO anzuwenden. Damit ist auch insoweit eine unbefristete und unkündbare
Bankgarantie als zulässiges Sicherungsmittel anzusehen - dies zufolge eines Größen-
schlusses, wonach auch solche Sicherungsmittel zulässig sind, deren Sicherungsqualität
gleichartig oder besser ist als der Erlag von barem Geld. 1427
B. Sicherungsmittel
Grundsatz ist: § 56 ZPO ist dispositives Recht. Die Sicherheitsleistung dient nur dem 11.21
Schutz der Parteien. Diese können durch Prozessvertrag die Art einer prozessualen Si-
cherheitsleistung frei vereinbaren, ohne dass das Gericht die Möglichkeit hätte, eine sol-
che Sicherheitsleistung als nicht hinreichend anzuerkennen. 1428 Dies ergibt sich aus-
drücklich aus dem Gesetzeswortlaut (,, ... wenn die Parteien nichts anderes vereinba-
ren").
Praxistipp: Ein Kläger, der langwierige Kautionsstreitigkeiten vermeiden will, kann 11.22
dem Beklagten schon vor oder bei Klagseinbringung eine ausreichende Sicherheit anbie-
ten, zB durch Über.veisung eines namhaften Kautionsbetrags auf das Konto des Beklag-
tenvertreters. Dieser ist als Rechtsanwalt nach Art 12 RAG (,,Standesehre") zu redlichem
und ehrenhaftem Verhalten verpflichtet und darf - bei sonstiger eigener (möglicher.veise
auch strafrechtlicher) Haftung - erst dann auf die Sicherheitsleistung greifen, wenn der
Kläger rechtskräftig zu Kostenersatz verurteilt wurde.
Eine Sicherheitsleistung wird im Regelfall „durch gerichtlichen Erlag von barem Geld" 11.23
erbracht. Darunter ist die Überweisung des Kautionsbetrags auf das Bankkonto des LG
zu verstehen, sind doch die Parteien nach Art 15 Abs 6 der Geschäftsordnung für das
Fürstliche Landgericht 1429 angehalten, den Zahlungsverkehr nach Möglichkeit bargeldlos
abzuwickeln und den „Erlag" von barem Geld in der Gerichtskanzlei zu vermeiden, was
für berufsmäßige Parteienvertreter aus standesrechtlichen Gründen (Art 12 RAG) einer
Pflicht zur Abwicklung im bargeldlosen Zahlungsverkehr gleichkommt. Sicherheitsleis-
tungen, die vom OG oder dem OGH angeordnet werden, sind ebenfalls auf das Konto
des LG zu erbringen.
Dass eine Sicherheitsleistung auch durch Erlag von Wertpapieren erbracht werden kann, 11.24
hat keinerlei praktische Bedeutung.
Von großer (praktischer und europarechtlicher) Bedeutung hingegen ist die im Gesetz - 11.25
im Gegensatz zur Rezeptionsvorlage - ausdrücklich vorgesehene Möglichkeit, eine Si-
cherheitsleistung durch eine unbefristete, unwiderrufliche, unbedingte und auf erste Auf-
forderung zu zahlende Bankgarantie zu erbringen. Nach der er.vähnten Piazza-Rsp des
EFT A-GH sind auch geeignete ausländische Sicherungsmittel zuzulassen, wozu Bankga-
rantien von Banken mit Sitz im EWR zählen, 1430 denn eine von einem Bankinstitut im
EWR-Raum ausgestellte Bankgarantie kann günstiger sein und den Kautionsverpflichte-
ten weniger belasten, als die von einer liechtensteinischen Bank ausgestellte Bankgaran-
tie.1431 Davon wird im Gerichtsalltag auch immer wieder Gebrauch gemacht. 1432 Denn
im EWR unterstehen sämtliche Banken demselben (strengen) Aufsichtsregime, sodass
auch Bankgarantien von Banken mit Sitz in einem Staat des EWR als gleichwertiges Si-
cherungsmittel angesehen werden müssen. Anders wäre die Sache nur dann, würden
konkrete Hinweise darauf vorliegen (dh entsprechendes Vorbringen dazu erstattet und
entsprechende Bescheinigungsmittel dazu vorgelegt), dass die die Bankgarantie ausstel-
lende Bank in finanziellen Schwierigkeiten wäre. 1433 Die Frage, wer die Bankgarantie
abzurufen hat, wird von den liechtensteinischen Gerichten in langjähriger Rsp dahinge-
hend beantwortet, dass nur die kautionsberechtigte Partei zum Abruf berechtigt ist.
Die entsprechenden Beschlüsse lauten wie folgt: .,Der klagenden Partei wird aufgetragen,
binnen ... Wochen den Betrag von CHF ... als Sicherheitsleistung für die Prozesskosten
der beklagten Partei auf das Konto des Fürstlichen Landgerichts ... oder in Form einer
unbefristeten, unwiderruflichen, unbedingten und unter Vorlage des Bankgarantiedoku-
ments über erste Aufforderung der beklagten Partei zu zahlenden Bankgarantie eines
Bankinstituts mit dem Sitz im EWR-Rechtsraum gerichtlich zu erlegen." Mit anderen
Worten: Das Bankgarantiedokument muss im Original bei Gericht fristgerecht hinter-
legt werden, und es muss die Erklärung der Bank enthalten, dass sie den Garantiebetrag
unbefristet, unwiderruflich und unbedingt über erste Aufforderung der kautionsbe-
rechtigten Partei auszahlt - aber nur, wenn das Bankgarantiedokument im Original vor-
gelegt wird. Obsiegt die kautionsberechtigte Partei rechtskräftig und steht ihr ein Kosten-
ersatzanspruch gegenüber der klagenden Partei/dem Rechtsmittelwerber zu, so hat sie
das zuständige Gericht um Ausfolgung des Garantiedokuments zu ersuchen. Dieses holt
zum Ausfolgungsantrag eine Stellungnahme des Kautionsverptlichteten ein. Stimmt die-
ser ausdrück.lieh zu, so wird das Garantiedokument durch Anweisung des zuständigen
Sachrichters an die venvahrende Stelle (Gerichtskasse) dem Kautionsberechtigten ausge-
folgt. Stimmt die kautionsverptlichtete Partei jedoch nicht zu, so hat die kautionsberech-
tigte Partei die Ausfolgung des Garantiedokuments im exekutiven Weg zu erwirken. Es
handelt sich bei einer Bankgarantie zwar nicht um ein Wertpapier, sondern um eine
bloße Beweisurkunde. 1434 Doch ist es für die kautionsberechtigte Partei ohne Vorlage
des Garantiedokuments gegenüber der Bank nicht möglich, die Bankgarantie abzurufen.
Gern Art 227 Abs 2 EO(§ 306 Abs 2 öEO) hat der Verpflichtete dem betreibenden Gläu-
biger alle Urkunden herauszugeben, die einer zweckentsprechenden Rechtsverfolgung
gegen Drittschuldner dienlich sein können. 1435 Zwar stellt die Durchsetzung des Heraus-
V. Die Kautionstatbestände
A. Allgemeines
11.29 Die Kautionstatbestände sind in § 57 ZPO für natürliche Personen und § 57a ZPO
für Verbandspersonen (juristische Personen) unterschiedlich geregelt: Während bei
natürlichen Personen die Kautionspflicht an den Wohnsitz anknüpft, wurde für Ver-
bandspersonen eine eigenständige Regelung geschaffen, die gerade nicht auf den Ort
des Sitzes abstellt und damit in- und ausländische Verbandspersonen gleichermaßen
umfasst.
§ 58 ZPO regelt den Wegfall von Befreiungstatbeständen und das damit einhergehende
(Wieder-)Eintreten der Kautionspflicht.
1442 Von Oberhammer, ÖBA 1999, 26, bei befristeten Bankgarantien angedacht. Dies hat für
Liechtenstein ohnedies keine Bedeutung, da nach § 56 Abs 2 ZPO bloß unbefristete Bank-
garantien taugliche Sicherungsmittel sind.
1443 Krammer in Fasching/Konecny IIl/1 3 Anh zu§ 365 ZPO Rz 15 Abs 2.
11.34 Die Verpflichtung zum Erlag einer Sicherheitsleistung entfällt weiter in den Fällen des
§ 57 Abs 2 Z I bis 4 ZPO.
11.35 Nach § 57 Abs 2 Z I ZPO entfällt die Verpflichtung, wenn eine gerichtliche Entschei-
dung, die dem Kläger oder Rechtsmittelwerber den Ersatz von Prozesskosten an den Be-
klagten oder Rechtsmittelgegner auferlegt, im Staat des Wohnsitzes des Klägers oder
Rechtsmittelwerbers vollstreckt werden kann. Diese Bestimmung entspricht § 57 Abs 2
Z I a öZPO, wobei jedoch auch hier nicht auf den gewöhnlichen Aufenthalt, sondern auf
den Wohnsitz(§ 31 JN) abgestellt wird. Es kann insoweit auf die Kommentierungen zur
Rezeptionsvorlage verwiesen werden.
11.36 Wo werden Kostenentscheidungen liechtensteinischer Gerichte vollstreckt? Zunächst ist
das (klarerweise) im Fürstentum Liechtenstein selbst der Fall (Art l EO). Zudem hat das
Fürstentum Liechtenstein mit der Republik Österreich und der Schweizerischen Eidge-
nossenschaft bilaterale Verträge über die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen
abgeschlossen:
11.37 Republik Österreich: Nach dem Abkommen zwischen dem Fürstentum Liechtenstein
und der Republik Österreich über die Anerkennung und Vollstreckung von gericht-
lichen Entscheidungen, Schiedssprüchen, Vergleichen und öffentlichen Urkunden 1453
werden die in einem der beiden Staaten gefällten gerichtlichen Entscheidungen in
Zivil- und Handelssachen unter den in Art l des Abkommens genannten Vorausset-
zungen anerkannt und nach den in Art 5 des Übereinkommens genannten Voraus-
setzungen vollstreckt. 1454 Eine Vollstreckung ist jedoch immer dann nicht möglich,
wenn das judizierende Gericht seine Zuständigkeit auf den Vermögensgerichtsstand
.. d e.t 1455
grun
11.38 Schweizerische Eidgenossenschaft: Nach dem Abkommen zwischen dem Fürstentum
Liechtenstein und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Anerkennung und
Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen und Schiedssprüchen in Zivilsachen 1456
werden die in einem der beiden Staaten gefällten gerichtlichen Entscheidungen in Zivil-
sachen im anderen Staat anerkannt, wenn sie die in Art l des Abkommens genannten
Voraussetzungen erfüllen, und vollstreckt, wenn sie die in Art 5 genannten Vorausset-
zungen erfüllen; 457 wozu auch Kostenentscheidungen 1458 bzw die Verurteilung einer
Partei zum Prozesskostenersatz zählen - die Vollstreckbarkeit einer solchen Kostenent-
scheidung richtet sich nach der Vollstreckbarkeit des Hauptentscheids. 1459 Keine Kau-
tionspflicht trifft einen Kläger in einem Verfahren gegen eine Schweizer Versicherung,
die in Liechtenstein zur Durchführung der obligatorischen Unfallversicherung zugelassen
ist und im Öffentlichkeitsregister eine Repräsentanz/Zustelladresse in Liechtenstein ein-
getragen hat, da sie damit in Liechtenstein eine geschäftliche Niederlassung iS des Art 2
Abs 1 Z 2 des Vollstreckungsabkommens mit der Schweiz unterhält. 1460
Auch in Bezug auf die Schweiz gilt, dass die Anerkennung und Vollstreckung immer 11.39
dann nicht möglich ist, wenn das erkennende Gericht seine Zuständigkeit auf den Ver-
1461
mögensgerichtsstand gründete.
lnsb besteht zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Fürstentum Liechten- 11.40
stein kein Staatsvertrag, der die Vollstreckung einer Kostenentscheidung gegenüber ei-
ner Partei mit Sitz in Deutschland ermöglichen würde, 1462 und auch keine Vollstre-
ckungs-Praxis, sodass sich die Einholung einer Erklärung der Regierung gern § 57 Abs 3
Zpo eru"b ng.
. t 1463
1460 OG 7CG.2011.349 LES 2012, 121 (betreffend einen Kläger mit Wohnsitz in der Schweiz); OG
10.5.2012, 08 CG.2012.45 (betreffend einen Kläger mit Wohnsitz in Österreich; nicht publi-
ziert).
1461 OGH 09 CG.2002.63 LES 2006, 129.
1462 OGH 01 C 402/98 LES 1999, 328.
1463 OGH 06 CG.2013.551 LES 2015, 38 samt Hinweis von Ungerank auf eine Entscheidung des
OLG Stuttgart.
1464 Vgl Schwander, EuZ 6/2010, 130.
1465 LGBI 2011/325.
1466 OGH 08 EX.2009.2603 LES 2010, 110.
1467 Koller/Sorgo, ecolex 2019, 513, unter Bezugnahme auf einen B des OLG Wien. Die Autoren
meinen, dass dies auch für die US-Bundesstaaten North Dakota, Texas, Arizona, Georgia,
Virginia, Alabama, Indiana, Jllinois, Minnesota, lowa, New Mexico, Hawaii, Montana, North
Carolina, Oregon, Washington, Oklahoma, Colorado, Michigan, Idaho, Nevada, California
und den District of Columbia gelten würde; vgl dazu auch Kolmasch, Zak 2019/377.
1468 Ungerank, LJZ 2010, 40, 48.
den §§ 5l6ff ZPO 1469 einschließlich der damit verbundenen Streitigkeiten wegen ver-
mögensrechtlicher Ansprüche(§ 534 ZPO) zu verstehen. 1470 Der Begriff „Ehestreitigkei-
ten" ist nicht einschränkend auszulegen. 1471
11.45 Auch (Unterhalts-)Klagen nach Art 49h Abs l EheG (vor Einleitung des Ehescheidungs-
verfahrens) oder (Unterhalts-)Abänderungsklagen (Art 70 Abs I EheG) sind, zumal aus-
drücklich im EheG geregelt, von der Kautionspflicht im Weg von § 59 Abs 2 Z 3 ZPO
befreit. Es wäre auch nicht einzusehen, warum ein und dieselbe Streitigkeit während des
Scheidungsverfahrens kautionsbefreit durchzuführen ist, während vor Einleitung bzw nach
Abschluss desselben vom Kläger eine Sicherheitsleistung zu erbringen wäre. Darauf, dass
im Fall einer einvernehmlichen Scheidung, welche nach den Bestimmungen des AussStrG
abzuwickeln ist, wie im Verfahren außer Streitsachen allgemein, keine Kaution zu entrich-
ten ist, wird weiter unten (Rz l l .49, erster Bulletpoint) noch eingegangen werden.
11.46 Im Übrigen wird hinsichtlich der (umfangreichen) Kasuistik, was unter einer „Ehestrei-
tigkeit" zu verstehen ist, auf die Lit zur Rezeptionsvorlage verwiesen. 1472
11.47 § 57 Abs 2 Z 4 ZPO: Im Gegensatz zur Rezeptionsvorlage sind Klagen im Besitzstö-
rungsverfahren(§§ 54l ff ZPO) ausdrücklich von der Kautionspflicht befreit. 1473 Unter
Mandatsverfahren ist das in §§ 548 ff ZPO genannte Verfahren zu verstehen. Mit
,, Wechselverfahren" ist das „Verfahren in Wechselstreitigkeiten" nach §§ 555 ff ZPO ge-
meint. Auf die Judikaturänderung, wonach das Wechselmandatsverfahren nicht mit der
Erhebung von Einwendungen als beendet anzusehen ist, sondern bis zur Rechtskraft des
Urteils, mit dem über die Aufrechterhaltung des Wechselzahlungsauftrags entschieden
wird, andauert und damit auch im Rechtsmittelverfahren gegen ein solches Urteil ein
„Wechselverfahren" gegeben ist, in dem keine Kautionspflicht besteht, sei ausdrücklich
hingewiesen. 1474 Gern Art 68 Abs 2 Scheckgesetz gelten für die Geltendmachung von
Rückgriffsansprüchen aus einem Scheck die für Wechselsachen erlassenen Prozessvor-
schriften und gilt damit die Kautionsbefreiung nach § 57 Abs 2 Z 4 ZPO. Ausgenommen
davon sind die gerichtliche Verfolgung von Schadenersatzansprüchen wegen mangelnder
Deckung des Schecks und die Streitigkeiten aus dem unmittelbaren Rechtsverhältnis zwi-
schen dem Inhaber des Schecks und dem Aussteller oder unmittelbaren Vormann des
Inhabers. Von größerer praktischer Bedeutung ist die Ausnahme von Widerklagen bzw
darüber eingeleiteten Verfahren von der Kautionspflicht, wobei die Befreiung jedoch
nach Wegfall der Erstklage erlischt.1 475 Schließlich sind noch Klagen, die „infolge einer
öffentlichen gerichtlichen Aufforderung angestellt" werden, von der Kautionspflicht
befreit. Darunter sind jedenfalls nicht Prüfungs-(Anordnungs-)Klagen nach Art 67 Abs l
1469 Zur Erläuterung, was unter Ehe- und Partnerschaftssachen iS der§§ 516ff ZPO zu verstehen
ist, s OGH 03 CG.2018.196 LES 2019, 224 (Ungerank).
1470 Mosser in Fasching!Konecny II/! 3 § 57 ZPO Rz 95/1.
1471 Mosser in Fasching/Konecny 11/1 3 § 57 ZPO Rz 95/1.
1472 Mosser in Fasching/Konecny II/1 3 § 57 ZPO Rz 96; Simotta in Fasching!Konecny 13 § 49 JN
Rz 38ff.
1473 Vgl OGH 03 CG.2007.275 LES 2009, 229 zur Umgestaltung des ursprünglich der öZPO ent-
sprechenden Besitzstörungsverfahrens ins Besitzesschutzverfahren.
1474 OG 07 CG.2016.77 LES 2017, 37 (überholt damit OG 02 C 327/95 LES 1997, 132).
1475 Mosser in Fasching!Konecny 11/1 3 § 57 ZPO Rz 102.
1476
KO zu verstehen und auch nicht Klagen, die auf Aufforderung an die Gläubiger nach
Art 11 Abs 2 lit d KO erhoben wurden. 1477
Von der Rsp ausdrücklich anerkannt wurde, dass folgende Verfahren nicht von der Kau- 11.48
tionspflicht ausgenommen sind:
• Verfahren über „Streitigkeiten aus dem Arbeitsverhältnis" iSv § 1173 a Art 71 Abs l
ABGB;l478
• Exekutionsverfahren; 1479
• Aberkennungsverfahren nach Art 53 RSO. Da es nur auf die (formelle) prozessuale Stel-
lung ankommt, trifft auch hier - trotz des sog Parteirollenwechsels - den Kläger (Aber-
1480
kennungskläger) die Kautionspflicht. Dieser kann - selbstverständlich - für seine
mutmaßlichen Prozesskosten keine Sicherheitsleistung vom Beklagten verlangen; 14111
• Verfahren, in denen für die klagende Partei ein gerichtlich bestellter Kurator ein-
schreitet - eine Befreiung ist aus § 10 ZPO nämlich nicht ableitbar. 1482
Nach der Rsp jedenfalls unzulässig ist die Auferlegung einer Sicherheitsleistung in fol- 11.49
genden Verfahren:
1483
• im gesamten Verfahren außer Streitsachen und damit auch im Verlassenschaftsver-
fahren einschließlich des Erbrechtsstreits iS der Art 160ff AussStrG; 14114
1476 OGH 2 Cl 13/76 ELG 1973 bis 1978, 475; 03 C 203/80 LES 1987, 10; 06 CG.2005.67 LES 2006,
403 (abgelehnt damit: OG 2 C 113/76 ELG 1973 bis 1978, 180).
1477 OGH 06 CG.2005.67 LES 2006, 403; 2 C 113/76 ELG 1973 bis 1978, 476.
1478 OGH 05 AG.2005.34 LES 2008, 171 (ergangen noch zum RFVG); überholt ist insoweit, als bei
einem Arbeitnehmer bei der Kautionsfestsetzung ein weiter Ermessensspielraum eingeräumt
sei, OG Ag 19/81 LES 1982, 196: Es gelten nämlich auch dann, wenn Arbeitnehmer als Kläger
auftreten, keine abweichenden (günstigeren) kautionsrechtlichen Bestimmungen.
1479 OGH E 6008/98 LES 1999, 205.
1480 OG 3 C 108/95 LES 1995, 186; 03 CG.2014.447 LES 2015, 247; Maitz/Reithner, LJZ 2017, 61;
zur Rezeptionsvorlage (Art 83 chSchKG): Sterchi in BK chZPO I Art 99 N 7 und Art 98 N 6.
1481 StGH 2010/5 GE 2014, 22 Erw 6.5.
1482 OG 02 C 370/75 LES 1981, 228.
1483 OG 05 HG.2011.89 LES 2011, 210; Ungerank in Schurr, Generationenwechsel 31 f, und Unge-
rank in Schurr, Wandel 15; idS schon OGH J 625/272 ELG 1967 bis 1972, 145 (148); überholt
sind zufolge ersatzlosen Wegfalls des RFVG die in OG Ag 19/81 LES 1982, 196 und OGH
06 PG.2004.88 LES 2006, 233 zur Kautionspflicht in Verfahren nach dem RFVG getätigten
Ausführungen, die auch nicht auf das Verfahren außer Streitsachen übertragbar sind; auf die
Auffassung von Mosser in Fasching/Konecny 11/ 13 § 57 ZPO Rz 62 und Gasser, Stiftungsrecht
Art 552 § 29 Rz 77, wonach in „streitigen" Außerstreitverfahren wegen ihrer Gleichwertigkeit
mit dem Klageverfahren § 57 ZPO analog anzuwenden ist, sei jedoch ausdrücklich hingewiesen.
1484 OGH OS VA 2004.14 LES 2006, 264; diese Entscheidung ist ergangen noch zum RFVG, jedoch
aufgrund der auch unter dem Regime des AussStrG unverändert gebliebenen Zielsetzung,
eine rasche Klärung der Frage zu ermöglichen, wer als Erbe anzusehen ist, aufrecht zu er-
halten. Im Übrigen ist - wie erwähnt - im Verfahren außer Streitsachen (und damit auch im
Verlassenschaftsverfahren) die Auferlegung einer Sicherheitsleistung nicht vorgesehen. Auf
die Auffassung von Mosser in Fasching!Konecny II/ 13 § 57 ZPO Rz 62 und Gasser, Stiftungs-
recht Art 552 § 29 Rz 77, wonach in „streitigen" Außerstreitverfahren wegen ihrer Gleichwer-
tigkeit mit dem Klageverfahren § 57 ZPO analog anzuwenden ist, sei jedoch auch hier aus-
drücklich hingewiesen.
sachlich zuständig ist, nicht jedoch, ob die weiteren Prozessvoraussetzunrn gegeben sind,
da sich diese niemals auf das Rechtshilfeverfahren beziehen können 149 . Der Antrag auf
Erlag einer Prozesskostensicherheit ist prozessual ähnlich zu qualifizieren wie die Einrede
einer verzichtbaren Prozessvoraussetzung, 1497 woraus folgt, dass auch darüber das
Schiedsgericht zu entscheiden hat. Auch iZm dem New Yorker Schiedsübereinkommen
stellen sich Fragen der Zulässigkeit der Auferlegung einer aktorischen Kaution nicht nur
im Verfahren vor dem Schiedsgericht, sondern auch bei der Vollstreckung eines Schieds-
spruchs.1498 Letzteres, nämlich die Anerkennung und Vollstreckbarkeit ausländischer
Schiedssprüche, ist als Vorfrage zur Erteilung der Exekutionsbewilligung zu prüfen und
richtet sich nach den Bestimmungen der EO, 1499 weshalb - wie im Exekutionsverfahren
1501
immer 1500 - von einer grundsätzlichen Kautionspflicht auszugehen ist.
Vergleichend sei noch erwähnt, dass der OGH die kautionsrechtlichen Bestimmungen 11.51
auch im Strafverfahren über eine Privatanklage nach § 2 Abs 2 StPO sinngemäß an-
wendet.1502
Die bei Zweifeln über die Anwendung eines Staatsvertrags oder über die Frage der 11.52
Vollstreckbarkeit einer Entscheidung über Prozesskosten verpflichtend (arg „ist") einzu-
holende Erklärung der Regierung - insoweit besteht eine amtswegige Prüfungspflicht und
sind die Parteien von ihrer Behauptungs- und Beweislast entbunden 1503 - unterliegt der
1504
freien richterlichen Beweiswürdigung. Die früher in § 57 Abs 3 letzter Satz ZPO
vorgesehene Bindung des Gerichts an die Erklärung der Regierung wurde - da praktisch
unanfechtbar - vom StGH als übermäßige und durch keine verfassungskonforme Inter-
pretation behebbare Einschränkung des Beschwerderechts qualifiziert und damit als ver-
fassungswidrig aufgehoben. 1505 Vermittelt auch die Erklärung der Regierung kein klares
Bild über das „Vollstreckun?csverhalten" der ausländischen Behörde, ist eine Prozesskos-
06
tensicherheit aufzuerlegen.'
Ein weiterer Befreiungstatbestand ergibt sich aus§ 64 Abs I Z 2 ZPO, wonach die Ver- 11.53
fahrenshilfe auch die Befreiung von der Sicherheitsleistung für Prozesskosten umfassen
kann (s unten Rz 11.119 ff).
sonen unterschiedslos gleich behandelt. Maßgeblich für die Kautionsptlicht ist, dass
die Verbandsperson kein Vermögen in Höhe der mutmaßlichen Prozesskosten auswei-
sen kann, welches der Vollstreckung durch eine gerichtliche Entscheidung, mit welcher
ihr der Ersatz von Prozesskosten auferlegt wird, unterliegt. Es ist somit nicht einge-
schränkt darauf abzustellen, ob die Verbandsperson über Vermögenswerte verfügt,
die in Liechtenstein gelegen sind, sondern darauf, ob sie über Vermögenswerte verfügt,
die der Vollstreckung unterliegen. Vollstreckt wird jedoch im Regelfall nur in Ver-
mögenswerte, die in der Schweiz, in Liechtenstein oder in Österreich gelegen sind,
wobei aber auch noch andere Konstellationen (Belegenheitsorte) denkbar sind, nämlich
im Fall der sog „einseitigen" Anerkennung der Vollstreckbarkeit (s dazu oben
Rz 11.42).
11.55 liegen die Voraussetzungen nach§ 57a ZPO nicht vor, kann die Verbandsperson so-
mit kein der Vollstreckung im erwähnten Sinn zugängliches Vermögen „ausweisen" (da-
zu Rz 11.65 ff), so ist sie kautionspflichtig.
11.56 Die Ausnahmebestimmungen des § 57 ZPO (Abs l [Staatsvertrag]; Abs 2 Z 4 [Besitz-
störungs-, Mandats- und Wechselverfahren sowie Klage über öffentliche Aufforderung);
Z 3 hat in Bezug auf juristische Personen keine Bedeutung) sind auf juristische Personen
mangels eines Verweises nicht anwendbar. Für§ 57 Abs l letzter HS ZPO (,, ... sofern
nicht durch Staatsverträge etwas anderes festgesetzt ist") gälte zudem, dass, da auch in-
ländische juristische Personen grundsätzlich kautionspflichtig sind, ausländische juristi-
sche Personen auch bei staatsvertraglicher Gleichstellung mit inländischen juristischen
Personen wiederum genauso kautionsptlichtig wären wie inländische. Die Ausnahmebe-
stimmungen des§ 57 Abs 2 Z 1 (Vollstreckbarkeit am Ort des Sitzes) und Z 2 ZPO (un-
bewegliche Güter/bücherliche Sicherstellung) sind als Unterfall (iS einer Teilmenge) des
Befreiungstatbestands des§ 57a ZPO (,,Vermögen in der Höhe der mutmaßlichen Pro-
zesskosten ausweisen ... , welches der Vollstreckung durch eine gerichtliche Entschei-
dung unterliegt") anzusehen.
11.57 Anzuwenden ist jedoch § 57 Abs 3 Alt 2 ZPO (Einholen einer Erklärung der Regie-
rung) auch auf den Kautionstatbestand nach § 57 a ZPO, und zwar insoweit, als die Frage
der Vollstreckbarkeit einer Entscheidung über die Prozesskosten strittig ist. Selbiges
(sinngemäße Anwendbarkeit betreffend Einholen einer Erklärung der Regierung zur
Vollstreckbarkeit) gilt im Übrigen auch für die (in der Praxis allerdings bedeutungslosen)
Sicherungsmittel Hypothek bzw Bürge nach § 56 Abs 2 ZPO.
11.58 Hingegen gilt der allgemeine, sich nicht nur auf natürliche Personen beziehende, sondern
auf kautionsptlichtige Parteien allgemein anwendbare Befreiungstatbestand des § 64
Abs I Z 2 ZPO (Verfahrenshilfe) auch für Verbandspersonen (s oben Rz 11.53 und un-
ten Rz 11.119 ff).
11.59 Die noch in§ 57a ZPO aF 1507 enthaltene Unterscheidung zwischen tätigen Unternehmen
und Sitzunternehmen 15011 wurde fallengelassen, sodass die dazu ergangene Rsp obsolet
ist. 1509 Was eine Verbandsperson ist, richtet sich zunächst nach dem PGR (,,Zweite Ab-
teilung - die Verbandspersonen [die juristischen Personen]"), woraus der OGH ableitet,
dass das Gesetz die Begriffe Verbandspersonen und juristische Personen, zu denen ua
auch ausländische Aktiengesellschaften zählen, gleichsetzt und synonym verwendet. 1510
Bei Klägern und Rechtsmittelwerbern kommt es zur Beurteilung der Frage, ob es sich um
eine Verbandsperson handelt oder nicht, auf die nach dem Gesellschaftsstatut (Art 232
PGR) heranzuziehenden Rechtsvorschriften an.
Für die Kautionspflicht von Konkursmassen gilt: Zwar ist die Kautionspflicht einer 11.60
Konkursmasse im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehen, doch ist die Verpflichtung zur
Sicherheitsleistung für Prozesskosten nach der Rsp des OGH analog auf die nach Kon-
kurseröffnung an die Stelle der Verbandsperson tretende Konkursmasse auszudeh-
nen.1511 Die Konkurseröffnung hat somit keinen Einfluss auf die Frage der Kautions-
pflicht.1512 Es kommt somit dann, wenn über eine Verbandsperson das Konkursverfah-
ren eröffnet wird, weiterhin nur darauf an, ob diese Vermögen in Höhe der mutmaß-
lichen Prozesskosten ausweisen kann, welches der Vollstreckung durch eine gerichtliche
Entscheidung unterliegt. Dies wird im Fall der Konkurseröffnung ohnedies kaum der Fall
sein (ansonsten ja nicht das Konkursverfahren eröffnet worden wäre), sodass die Kon-
kursmasse eine Sicherheit zu leisten hat. Die weiteren zur Frage der Kautionspflicht von
Konkursmassen ergangenen (publizierten) Entscheidungen betreffen jeweils die nach
nunmehriger Rechtslage nicht mehr relevanten Fragen „inländische Verbandsperson/
Sitzunternehmen" und sind somit überholt. 1513
Ruhender Nachlass: Mit Ableben des Erblassers tritt an dessen Stelle der sog ruhende 11.61
Nachlass als Träger der vererblichen Rechte und Pflichten, der als eigene juristische
Person angesehen wird. 1514 Damit unterliegt der ruhende Nachlass ab dem Zeitpunkt
des Ablebens des Erblassers der Bestimmung des§ 57a ZPO und ist nach dieser Bestim-
mung kautionspflichtig.
Sonstige parteifähige Gebilde bzw für eine Vermögensmasse auftretende behördlich 11.62
bestellte Organe/gesetzliche Vertreter: Bedauerlicherweise hat es der Gesetzgeber unter-
lassen, anlässlich der Verfahrenshilfenovelle 2015, 1515 mit welcher in § 63 Abs 2 ZPO die
Bestimmungen über die Verfahrenshilfe betreffend juristische Personen explizit auch auf
„sonstige parteifähige Gebilde" und das für eine Vermögensmasse auftretende behördlich
bestellte Organ bzw den für diese auftretenden gesetzlichen Vertreter ausgedehnt wur-
1509 OGH 8 RÖ.2006.102 LES 2008, 62; 03 CG.2002.192 LES 2003, 317; OG 01 C 328/74 LES 1981,
167.
1510 OGH 10 CG.2008.189 LES 2010, 280.
1511 OGH 2 C 113/73 ELG 1973 bis 1978, 475 (damit abgelehnt: OG 2 C 113/73 ELG 1973 bis
1978, 179 - diese Entscheidung ist im Band ELG 1973 bis 1978 auf den S 179 f abgedruckt [s
dazu auch das Korrekturblatt im Einbanddecke!), wurde jedoch nicht in www.rechtportal.li
übernommen).
1512 OGH 03 C 203/80 LES 1987, 10.
1513 OGH 10 CG.2005.252 LES 2007, 230; OG 07 C 1/85 LES 1992, 19; 04 CG.2004.163 Pool 2004,
105.
1514 Eccher in Schwimann, ABGB Taschenkommentar 3 § 547 Rz l; Weiser in Rummel/Lukas,
ABGB 4 § 547 Rz 2; RlS-Justiz RS0008131 (T2, T4) und RS0012282 (T5).
1515 LGBI 2015/368.
11.64 Eine günstige Vollstreckbarkeitsprognose iSv § 57a ZPO garantiert zwar nicht - dies im
Gegensatz zu § 57 ZPO -, dass das vom Kautionsptlichtigen „ausgewiesene" Vermögen
iSv § 57 a ZPO bei Vollstreckung der rechtskräftigen Kostenentscheidung immer noch in
voller Höhe vorhanden ist bzw dass darin dann mit Sicherheit vollstreckt werden kann,
jedoch ist diese Norm grundsätzlich geeignet, dies sicherzustellen, und deshalb nicht
willkürlich. 1521 Die Vollstreckung muss aber nicht nur zu Beginn des Verfahrens, son-
dern auch am Verfahrensende mit einiger Wahrscheinlichkeit gewährleistet sein, was
eine Prognose des Gerichts über die Sachlage zu einem künftigen Zeitpunkt und damit
eine Einzelfallprüfung erforderlich macht. bll
Zur Frage, was Vermögen iSv § 57a ZPO darstellt, liegt zwischenzeitig reichhaltige Rsp 11.65
vor: Diese Bestimmung ist, da einen Befreiungstatbestand darstellend, zunächst eng
auszulegen; im Zweifel ist ein Deckungsfonds für die Kosten des Gegners bei Gericht
zu erlegen. 1523 Maßgeblich sind zunächst die gegenwärtigen Verhältnisse. 1524 Das der
Vollstreckung zugängliche Vermögen muss dieselbe Sicherheit bieten wie die sonst
aufzuerlegende Kaution, weshalb etwa eine Liegenschaft, bei der unklar ist, ob die Pro-
zesskosten der kautionsberechtigten Partei aufgrund bestehender hypothekarischer Belas-
tungen im Wert der Liegenschaft überhaupt noch Deckung finden, kein hinreichendes
Vermögen iSv § 57 a ZPO darstellt. 1525 Die Vermögenswerte müssen eine gewisse Stetig-
keit haben und eine Überprüfbarkeit zulassen, weshalb bei einem Händler ein ständiges
werthaltiges, unbelastetes Warenlager ebenso ein Vermögen iSv § 57 a ZPO darstellen
kann wie im produzierenden Gewerbe ein werthaltiger Maschinenpark oder werthaltige
Marken- oder Patentrechte. 1526 Auch Bankguthaben und Wertschriftendepots in an-
gemessener Höhe können als relevantes Vermögen iSv § 57a ZPO in Betracht kommen,
wenn im Einzelfall nicht von vornherein spezifische Gründe gegen eine genügende Ste-
tigkeit solcher Vermögenswerte sprechen. 1527 lnsb bei Unternehmen, bei denen gerichts-
bekannt ist, dass es sich um gesunde Unternehmen handelt und der in Frage stehende
Kautionsbetrag zudem in keinem Verhältnis zum Geschäftsvolumen steht, kann der
Nachweis eines entsprechend dotierten Bankkontos oder Wertschriftendepots von vorn-
herein genügen. 1528 Die Aussage, dass „jedenfalls ... mit einem Bankauszug ein ausrei-
chender Vermögensnachweis iSv § 57 a ZPO für eine Befreiung von der Kautionspflicht"
vorliegt, ist jedoch zu undifferenziert und damit unrichtig und stellt keine Gesamtbe-
trachtung bzw Einzelfallprüfung in Bezug auf die „Prognose-Kriterien" dar. 1529
Zwar stellen Kundenforderungen zu einem bestimmten Bilanzstichtag in der Regel kei- 11.66
nen Deckungsfonds iS der Substitution einer zu erlegenden Kaution dar, da sie volatil
und auf ihre Werthaltigkeit unüberprüfbar sind, 1530 jedoch können als unbedenklich fest-
gestellte Debitorenforderungen sehr wohl ein exekutiv greifbares Vermögen eines allfäl-
ligen Kostenschuldners iSv § 57 a ZPO darstellen. 1531 Jedenfalls ist es unzulässig, den
Begriff „Vermögen in Höhe der mutmaßlichen Prozesskosten, welches der Vollstreckung
1521 StGH 2010/63 GE 2015, 9 Erw 4.6; 6. 9. 2016, 2016/44 Erw 2.2 (nicht publiziert).
1522 StGH 2014/79 GE 2015, 147 Erw 3.2.
1523 OGH 06 CG.2013.551 LES 2015, 38.
1524 OGH 03 CG.2002.192 LES 2003, 317.
1525 OGH 03 CG.2002.192 LES 2003, 317.
1526 OGH 06 CG.2013.551 LES 2015, 38.
1527 StGH 29. 9. 2015, 2014/141 Erw 4.2 (nicht publiziert); StGH 2015/18 LES 2015, 130 Erw 2.5;
damit ist OG 2 CG.2014.107 LES 2015, 55 überholt.
1528 StGH 2015/18 LES 2015, 130.
1529 StGH 6. 9. 2016, 2016/44 Erw 2.3 8 (nicht publiziert).
1530 OGH 06 CG.2013.551 LES 2015, 38 (Ungerank).
1531 OGH 04 CG.2014.268 LES 2015, 108 (Ungerank).
durch eine gerichtliche Entscheidung unterliegt", darauf zu reduzieren, dass dieses Ver-
mögen immer schon dann anzunehmen ist, wenn die ausgewiesenen Aktiven laut einer
(aktuellen) Bilanz das Grundkapital inkl der gesetzlichen Reserven decken und somit
weder von einem Kapitalverlust noch von einer Überschuldung auszugehen ist. 1532 Der
Umstand, dass eine von der FMA konzessionierte Vermögensverwaltungsgesellschaft
strenge Eigenmittelvorschriften einzuhalten hat, bedeutet für sich allein noch nicht, dass
diese juristische Person auch über ausreichendes, der Vollstreckung durch eine gericht-
liche Kostenentscheidung unterliegendes Vermögen verfügt. 1533 Auch reichen weder Be-
günstigtenansprüche einer kautionspflichtigen Partei, die hinsichtlich Höhe und Fällig-
keitszeitpunkt unbestimmt sind, noch Forderungen der kautionspflichtigen Partei, die
vom Schuldner dem Grunde nach bestritten werden, zum Ausweisen eines Vermögens
iSv § 57a ZPO aus, was auch für gepfändete Forderungen der kautionspflichtigen Partei
gilt.1534
11.67 Jedenfalls ist bei der Konkretisierung des Prognose-Kriteriums zur Beurteilung der Kau-
tionsptlicht gern§ 57 a ZPO immer eine Gesamtsicht des Einzelfalls erforderlich. 1535 Mit
Prognoseentscheidung ist gemeint, dass bei juristischen Personen prognostiziert ein Ver-
mögen vorhanden sein muss, damit die Exekution (der Kostenentscheidung) nicht er-
folglos ist. 1536
11.68 Zum Deckungsvermögen des potenziell Kautionspflichtigen, dessen Stetigkeit und Voll-
streckungstauglichkeit im Hinblick auf die zu erwartenden Kosten sind im Kautionsbe-
schluss Feststellungen bzw Bescheinigungsannahmen zu treffen. 1537
anhängigen Rechtsstreits den (bis dato vom Erlag einer Sicherheitsleistung befreiten)
Prozessgegner immer wieder dazu zu befragen, ob die den Befreiungstatbestand be-
gründenden Voraussetzungen weiterhin vorliegen, bspw ob er weiterhin über einen
Wohnsitz im Inland bzw einem Staat, der liechtensteinische (Kosten-) Titel vollstreckt,
verfügt bzw (in Bezug auf Verbandspersonen) ob er weiterhin Vermögen in Höhe der
mutmaßlichen Prozesskosten ausweisen kann. Äußert sich der potenziell Kautionsver-
pflichtete nicht, liegen schon allein darin Umstände, die zu einer Abänderung der Kau-
tionsentscheidung (nämlich nunmehr: zur Auferlegung einer Sicherheitsleistung) führen
können. Falschangaben können zur Stratbarkeit wegen (Prozess-)Betrugs nach§§ 146ff
StGB führen.
Da die Pflicht zur Mitteilung eines Wohnortwechsels nach Streitanhängigkeit auch die 11.71
beklagte Partei trifft (Art 8 Abs l ZustG), ist die Angabe einer vom bisherigen Wohnort
abweichenden Adresse im Ausland in einem vorbereitenden Schriftsatz als Bekanntgabe
des Wohnungswechsels anzusehen und rechtfertigt die Auferlegung einer Kaution. 1539
§ 58 ZPO wird aber auch sinngemäß auf Fälle angewandt, in denen die Voraussetzun- 11.72
gen zum Erlag der Sicherheitsleistung im Nachhinein weggefallen sind, 1540 etwa weil
der Prozessgegner nunmehr Wohnsitz in Liechtenstein oder in einem Staat genommen
hat, der liechtensteinische (Kosten-)Titel vollstreckt, oder weil die Verbandsperson nun-
mehr genügend Vermögen iSv § 57a ZPO ausweist (zum Verfahren unten Rz 11.128).
lung über die von ihm erhobenen Einreden entsteht, eine Sicherheitsleistung verlangen.
Die - nicht amtswegig wahrzunehmenden - Einreden müssen aber trotz rechtzeitiger
Stellung eines Kautionsantrags gleichzeitig mit diesem, dh schon bei der ersten Tagsat-
zung bei sonstigem Ausschluss erhoben werden. 1544
11.75 Gerichtsferien: Seit der ZVN 2018 ist - im Gegensatz zur Rezeptionsvorlage - das Ver-
fahren über Anträge auf Auferlegung oder Ergänzung einer Sicherheitsleistung für Pro-
zesskosten eine Ferialsache (§ 224 Abs l Z 15 ZPO), was auch für die Erlagsfrist gilt (vgl
Rz 13.43, 15. Bulletpoint).
1544 OGH 02 CG.2016.140 LES 2017, 145 (146t); gilt jedoch nicht für den Einwand der Schieds-
vereinbarung nach § 601 Abs 1 ZPO - dieser muss erst „vor Einlassung zur Sache" erhoben
werden (OGH 05 CG.2018.239 Erw 7.9.4 LES 2019, 232).
1545 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1221.
1546 In Fasching/Konecny II/! 1 § 59 ZPO Rz 22.
1547 III 1 159.
1548 OGH 3 Cg 2002.192 LES 2003, 317.
Führung eines Rechtsstreits kommt. 1549 Damit ist aber nicht ausgesagt, dass das Erstre-
cken der ersten Tagsatzung unzulässig wäre, sondern nur, dass Verzögerungen tunlichst
zu vermeiden sind.
Insb ist es nicht Aufgabe des Kautionsverfahrens, über - etwa im Hauptverfahren - 11.78
strittige Rechtsbeziehungen der Parteien abzusprechen und/oder der Entscheidung
über ein Rechtsmittel vorzugreifen. 1550
Es ist Sache der kautionswerbenden Partei, in ihrem Kautionsantrag jene Behauptun- 11.79
gen aufzustellen, die die Kautionspflicht des Kautionspflichtigen begründen. Diesem
obliegt es, in Bestreitung seiner Kautionspflicht ein Vorbringen zu erstatten und zu be-
scheinigen, wonach er von der Sicherstellungspflicht für die gegnerischen Prozesskosten
befreit ist. Ausgenommen von der Behauptungs- und Bescheinigungslast sind allein die
von Amts wegen zu prüfenden Fragen der Befreiung von der Sicherstellungspflicht
durch Staatsverträge oder aufgrund des Vollstreckungsverhaltens des Sitzstaats. 1551
Vermittelt die Erklärung der Regierung(§ 57 Abs 3 ZPO) kein klares Bild über das Voll-
streckunpverhalten der ausländischen Behörde, ist die Prozesskostensicherheit aufzuer-
legen.155 (Nur) hier wird gefordert, dass über die Vollstreckung der Kostenentschei-
dungen im potenziellen Vollstreckungsstaat Gewissheit herrscht (zumindest iS einer
hohen, überwie~enden Wahrscheinlichkeit); bloße Vermutungen reichen für die Befrei-
ung nicht aus. 1. 53
Ansonsten ist es Sache der kautionswerbenden Partei, nicht nur die Höhe ihrer sicher- 11.80
zustellenden Kosten, sondern auch die Kautionsptlicht ihres Verfahrensgegners iS des
§ 274 ZPO glaubhaft zu machen. 1554 Dies bedeutet, dass die die Sicherheit verlangende
Partei die für die Art und Höhe der Sicherheitsleistung maßgeblichen Umstände
glaubhaft zu machen, dh das Gericht von der überwiegenden Wahrscheinlichkeit des
behaupteten Prozessaufwands zu überzeugen hat. So ist es zB nicht ausreichend, zur
Begründung der Höhe der Sicherheitsleistung bloß zu behaupten, dass 19 nicht nament-
lich angeführte Zeugen angeboten werden, denn es ist in diesem Fall dem Prozessgegner
und dem Gericht nicht möglich, zu prüfen, ob diese Zeugen nicht ganz oder teilweise mit
anderen namentlich bekannten Zeugen ident sind, deren Einvernahme der Kostenprog-
nose zugrunde gelegt wird. 1555 Dass eine Glaubhaftmachung iS von § 274 ZPO im Kau-
tionsverfahren genügt, ergibt sich schon aus dem provisorischen Charakter der Sicher-
heitsleistung, da gern § 62 Abs 2 ZPO nachträglich Erhöhungsanträge gestellt werden
können. 1556 Die kautionswerbende Partei trifft die Verpflichtung, eine Zeugenliste vor-
zulegen und darzutun und aufzuklären, welchen Bezug diese Zeugen zum Streitgegen-
stand haben und welche strittigen und entscheidungserheblichen Aufschlüsse von die-
sen Zeugen erwartet werden, wenn die potenziell kautionspflichtige Partei die prozes-
suale Notwendigkeit der Einvernahme dieser Zeugen bestreitet. 1557 Hier wird es auch
eine Rolle spielen, ob die Einvernahme von Zeugen im Rechtshilfeweg anlässlich von
Beweisaufnahmetagsatzun~en im Ausland stattzufinden hat und sich damit die Anwalts-
kosten erhöhen würden 15 8 - ohne gegenteilige Anhaltspunkte ist nämlich davon aus-
zugehen, dass ein Zeuge aus dem Ausland nicht nach Liechtenstein zur Einvernahme
zureisen wird, da die öffentlich-rechtliche Zeugnispflicht nur Personen trifft, die sich in
Liechtenstein aufhalten, 1559 dh es sind im Regelfall die voraussichtlichen Kosten für die
Einvernahme im Rechtshilfeweg zu veranschlagen. Hinzuweisen ist idZ aber auch auf die
mit der ZVN 2018 durch Einführung des§ 283 Abs 4 ZPO neu geschaffene Möglichkeit,
Zeugen - kostengünstig - im Wege einer Videokonferenz einzuvernehmen. Auch dazu
wird es jedoch eines entsprechenden Vorbringens des Kautionsverptlichteten bedürfen.
11.81 Eine rechtsfreundlich vertretene Partei hat im Rahmen ihres Kautionsantrags, in dem
sie unter Zugrundelegung eines über das übliche Maß hinausgehenden, durch das Klags-
vorbringen selbst nicht indizierten Verfahrens- und Beweisaufwands die Zuerkennung
einer entsprechend hohen Sicherheitsleistung für ihre Prozesskosten anstrebt, im Einzel-
nen diesen Prozessaufwand darzulegen und entsprechend zu bescheinigen, wenn die
Angemessenheit der begehrten Kaution vom Prozessgegner bestritten wird, wobei das
Gericht der rechtsfreundlich vertretenen Partei die Sorge um ein ausreichendes Vorbrin-
gen zur Stützung ihrer Anträge überlassen kann und diese bei unzureichenden oder feh-
lenden Beweis- oder Bescheinigungsanboten nicht auffordern muss, diese nachzuho-
len.1560 Anderes gilt jedoch gegenüber einer rechtsunkundigen, nicht durch einen
Rechtsanwalt vertretenen Partei, besteht doch dieser gegenüber eine besondere Anlei-
tungs- und Belehrungspflicht des Gerichts, da von einer rechtsunkundigen Partei nicht
erwartet werden kann, dass sie das Ausmaß der für ein Verfahren voraussichtlich anlauf-
enden Prozesskosten einzuschätzen vermag; ohne richterliche Anleitung darf ein Kau-
tionsbeschluss bei einer rechtsunkundigen, nicht anwaltlich vertretenen Partei nicht ge-
fasst und die Zurücknahme der Klage nicht ausgesprochen werden: 561
11.82 Die Frage, welche Beweismittel zur Klarstellung des strittigen Sachverhalts wahrschein-
lich notwendig sein werden, ist auch aus der Sicht der Streitteile, sohin auch aus der
Sicht der kautionspflichtigen Partei zu beurteilen, weshalb dieser die Möglichkeit ein-
geräumt werden muss, der Prozesskostenprognose des Verfahrensgegners entgegen-
zutreten. 1562 Aus dieser Möglichkeit, dem Vorbringen der jeweils anderen Seite entge-
genzutreten, und aus der im Kautionsverfahren gegebenen Bescheinigungspflicht (§ 274
ZPO) ist abzuleiten, dass die kautionswerbende und die (potenziell) kautionsptlichtige
Partei die Möglichkeit haben müssen, Bescheinigungsmittel anzubieten. Mit anderen
Worten: Die Parteien müssen diese Bescheinigungsmittel nicht zur (technisch) ersten
Tagsatzung oder zur ersten Streitverhandlung (wenn die erste Tagsatzung damit ver-
bunden wurde) mitbringen, sondern sie haben die Bescheinigungsmittel im Rahmen
ihres jeweils zu erstattenden Vorbringens anzubieten und können die Bescheinigungs-
mittel dann in der erstreckten ersten Tagsatzung vorlegen bzw die von ihnen zur Ein-
vernahme (zur Bescheinigung der Richtigkeit ihres Vorbringens) beantragten Personen
stellig machen.
Es kann aber auch die Einräumung einer Frist zur Vorlage von Bescheinigungsmitteln 11.83
beantragt werden.1 563 Neben der Vorlage von Urkunden kommen als Bescheinigungs-
mittel auch die unbeeidete PV 1564 und die Vorladung von Zeugen 1565 in Betracht, wobei
zu beachten ist, dass die Anforderungen an „parate" Bescheinigungsmittel nicht zu Las-
ten schutzwürdiger Interessen von Antragstellern überspannt werden sollen. 1566 Zulässig
ist es aber auch, analog zu§ 193 Abs 3 ZPO die erste Tagsatzung (oder die abgesonderte
Tagsatzung zur Verhandlung über den Antrag auf Sicherheitsleistung) zu schließen,
wenn etwa nur mehr Urkunden (zB die Vorlage eines Kontoauszugs seitens der klagen-
den Partei) ausstehen. Allerdings ist es zur Wahrung des rechtlichen Gehörs des Geg-
ners1567 erforderlich, dass diesem Gelegenheit zur Äußerung verbunden mit der Mög-
lichkeit, die Wiedereröffnung der Verhandlung über den Kautionsantrag anzuregen, ein-
geräumt wird. 15611
Praxistipp: Seit der ausdrücklichen Festschreibung der sog Prozessförderungspflicht in 11.84
§ 178 Abs 2 ZPO mit der ZVN 2018 1569 wird man insb bei Klagserhebung durch eine
juristische Person, was erfahrungsgemäß praktisch immer einen Kautionsantrag seitens
der beklagten Partei nach sich zieht(§ 57a ZPO), von einem Rechtsanwalt erwarten müs-
sen, dass er bereits zur ersten Tagsatzung Urkunden zur Bescheinigung ausreichenden,
der Vollstreckung zugänglichen Vermögens (Kontoauszug, Bilanz etc) mitbringt, 1570 so
er sich auf diesen Tatbestand berufen will.
Eine spürbare Verfahrensbeschleunigung, ohne dass damit jedoch die berechtigten In- 11.85
teressen der Streitteile (des Kautionswerbers an der Auferlegung einer Sicherheitsleis-
tung, die einen Deckungsfonds für die ihm mutmaßlich entstehenden Prozesskosten dar-
stellt; dem Kautionsgegner an der Auferlegung einer leistbaren und nicht prohibitiven
Sicherheitsleistung) beeinträchtigt werden, bringt der mit der ZVN 2018 neu formulierte
§ 60 Abs 2 ZPO, wonach das Gericht die Höhe der Sicherheitssumme nach freier rich-
terlicher Überzeugung(§ 273 ZPO) zu schätzen hat. 1571 Der Gesetzgeber schrieb im
Gesetz damit ausdrücklich fest, was schon im Jahr 1999 vom OGH judiziert worden
1572
war: Die Kaution ist nämlich nach freier richterlicher Überzeugung iS des § 273
ZPO festzusetzen. Damit soll von der derzeitigen stPraxis, wonach der Betrag der zu
leistenden Sicherheit „auf das Komma genau" berechnet wird, abgegangen werden. Es
handelt sich nämlich ohnedies immer um eine Prognoseentscheidung, der eine Unge-
nauigkeit immanent ist. 1573 Es ist sohin nicht mehr erforderlich, dass sich der Richter
anlässlich der Kautionsentscheidung darauf festlegt, dass zB die durchzuführende Tag-
satzung zur mündlichen Streitverhandlung voraussichtlich fünf Stunden (und nicht vier
Stunden und auch nicht sechs Stunden) dauern wird, woraus sich dann (bisher) ein auf
das Komma genau bestimmter Betrag als Sicherheitsleistung errechnete, sondern es ist
nunmehr möglich, inklusive Gerichtsgebühren einen „geraden" Betrag festzulegen.
11.86 Erweisen sich die Prozesskosten in der Folge dann doch als höher, so besteht für die
kautionsberechtige Partei jederzeit die Möglichkeit, gern § 62 Abs 2 ZPO einen Erhö-
hungsantrag zu stellen.
C. Der Kautionsbeschluss
11.87 Mit dem Kautionsbeschluss sind die Höhe(§ 60 Abs l ZPO) und die Art(§ 56 ZPO) der
zu erbringenden Sicherheitsleistung sowie die Erlagsfrist (§ 60 Abs 1 ZPO) zu bestim-
men:
11.88 Höhe der Sicherheitsleistung: Der Kautionsbetrag ist in Schweizer Franken zu bestim-
men.1574 Die Parteien können aber auch die Leistung des Kautionsbetrags in einer ande-
ren Währung vereinbaren (§ 56 Abs l ZPO). Ganz allgemein ist zu beachten, dass die
Rechtsverfolgung eines Klägers durch die Höhe der Sicherheitsleistung weder unange-
messen erschwert noch von vornherein vereitelt werden darf, dh es ist der Verhältnis-
1575
mäßigkeitsgrundsatz zu beachten.
11.89 Art der Sicherheitsleistung: Der Kautionsbeschluss hat jedenfalls auszusprechen, dass
die Sicherheitsleistung „durch den gerichtlichen Erlag von barem Geld", dh durch
Überweisung auf das Bankkonto des Gerichts, erbracht werden kann. Möchte der Kau-
tionspflichtige die Sicherheitsleistung in Form einer Bankgarantie erbringen, so hat er
dies zu beantragen, da Bankgarantien nur „nach Ermessen des Gerichts" zuzulassen sind
(§ 56 Abs 2 ZPO). Im Regelfall sind Bankgarantien einer Bank mit Sitz im EWR-Raum
zuzulassen, da sie aufgrund der EWR-weit gleichen Regulierung von Banken als gleich-
wertig anzusehen sind (dazu Rz 11.25). Es muss nicht ausdrücklich beantragt werden,
dass etwa die Bankgarantie einer Bank mit Sitz in Deutschland oder Spanien zugelassen
wird. Die Beantragung des Zulassens einer Bankgarantie einer Bank (allgemein) mit Sitz
im EWR genügt. Anders stellt sich die Sachlage jedoch bei Drittstaaten, wozu auch die
Schweiz zählt, dar. Hier muss konkret seitens des Kautionspflichtigen vorgebracht wer-
den, dass er beabsichtigt, die Sicherheitsleistung in Form einer Bankgarantie der XY Bank
mit Sitz zB in der Schweiz zu erbringen, worauf es dem Kautionswerber freisteht, Ein-
wendungen zu erheben. Bankgarantien einer Bank mit Sitz in der Schweizerischen Eid-
genossenschaft werden jedoch im Regelfall - nach Einzelfallprüfung 1576 - zuzulassen
sein.
Nach einer älteren Entscheidung des OG erlangt die in einem Beschluss verfügte „Form 11.90
bzw Art und Weise des Erlags einer aktorischen Kautionu keine materielle Rechts-
kraft:1577 Dem Kautionspflichtigen war erstinstanzlich eine Sicherheitsleistung auferlegt
worden, die er nach dem in Rechtskraft erwachsenen Kautionsbeschluss in bar oder in
Form eines Inhabersparbuchs der Liechtensteinischen Landesbank AG gerichtlich erle-
gen konnte. Er legte binnen der offenen Erlagsfrist jedoch eine Bankgarantie der Liech-
tensteinischen Landesbank AG vor. Dies wurde vom OG als korrekter Erlag angesehen.
1578
Dagegen hatte der OGH in einem Beschluss v 2. 5. 1994 ausgesprochen, dass der An-
trag auf Erlag einer Prozesskostensicherheit prozessual ähnlich zu qualifizieren ist wie die
Einrede einer verzichtbaren Prozessvoraussetzung: Wurde auf die Einrede bzw die An-
tragstellung verzichtet, gilt dies für das ganze Verfahren. Nur Anträge, auf die in den
unteren Verfahrensstufen nicht verzichtet wurde, können für die jeweilige höhere Ver-
fahrensstufe neu gestellt werden, was nicht nur für den Antrag auf Auferlegung einer
Sicherheitsleistung an sich, sondern auch für die Art und Weise ihrer Stellung gilt. Wurde
somit - vom Kautionspflichtigen unbekämpft - im Kautionsbeschluss der Erlag der
Sicherheitsleistung lediglich in einer bestimmten Art und Weise vorgesehen (,,in
bar oder in Form eines Inhabersparbuchs der Liechtensteinischen Landesbank"), so hat
der Kautionspflichtige konkludent auf die Möglichkeit verzichtet, die Sicherheitsleis-
tung anders (auf eine andere Art) zu erlegen. Der höchstgerichtlichen Entscheidung ist
zuzustimmen: Denn der Kautionspflichtige erwirbt mit Rechtskraft des Kautionsbe-
schlusses das Recht, die Sicherheitsleistung auf die im Beschluss beschriebene Art wirk-
sam erlegen zu dürfen, und der Kautionsberechtigte erwirbt das Recht, eine Sicherheits-
leistung nur auf die im Kautionsbeschluss beschriebene Art akzeptieren zu müssen. Dass
bei einer Sachverhaltsänderung auch die Art der Sicherheitsleistung geändert werden
kann, ist jedoch evident (und insoweit ist dem OG in der erwähnten Entscheidung bei-
zupflichten, nämlich dass der Kautionsbeschluss der materiellen Rechtskraft nicht fähig
ist). Der Kautionspflichtige hat somit, falls er eine neue Erlagsmodalität will, unter Darle-
gung der Gründe die Abänderung der im Kautionsbeschluss bestimmten Art der Sicher-
heitsleistung zu beantragen. Dem wird man sich dann nicht verschließen können, wenn
gewichtige Gründe vorgebracht werden und die nunmehr begehrte Art der Sicherheits-
leistung für den Kautionsberechtigten nicht beschwerlicher ist. Zu beachten ist weiters,
dass durch derartige „Abänderungsanträge" (Beantragung von neuen Modalitäten des
Erlags der Sicherheitsleistung) bzw durch die darüber abzuführenden Zwischenstreitig-
keiten keine dem Wesen des Kautionsverfahrens widersprechenden Verfahrensverzö-
gerungen herbeigeführt werden.
1576 Eine Pflicht zur Gleichbehandlung von Bankgarantien liechtensteinischer Banken bzw Ban-
ken mit Sitz im EWR und Bankgarantien, die von Schweizer Banken ausgestellt wurden, ver-
mittelt auch das übereinkommen v 4. 1. 1960 zur Errichtung der Europäischen Freihandels-
assoziation (EFTA) nicht, und zwar auch nicht idF der Vaduzer Konvention (LR 0.632.31 ).
1577 OG 04 C 98/92 LES 1993, 28.
1578 OGH 03 C 54/91 LES 1994, 78.
11.91 Frist zum Kautionserlag: Im Regelfall wird von den liechtensteinischen Gerichten eine
vierwöchige Erlagsfrist (richterliche Frist iSv § 123 ZPO) festgesetzt. Die Frist ist er-
streckbar (§ 128 Abs I ZPO; vgl Rz 13.13). Zur Fristerstreckung müssen jedoch triftige
Gründe vorgebracht werden, was insb für den kautionspflichtigen Rechtsmittelwerber
gilt, der bereits zum Zeitpunkt der Ergreifung des Rechtsmittels Vorsorge für die Auf-
bringung der Sicherheitsleistung zu treffen hat. 1579 Auch das vorübergehende Unvermö-
gen einer Partei, eine Sicherheitsleistung für die Prozesskosten zu erlegen, kann einen
tauglichen Grund für die Verlängerung der Erlagsfrist darstellen.1 580 Bei Zweifeln an
den im Fristverlängerungsantrag angeführten Gründen ist die Partei vor Verwerfung ih-
res Antrags aufzufordern, die zur Begründung ihres Fristsetzungsantrags in Betracht
kommenden Bescheinigungsmittel vorzulegen. 1581 Auch aus europarechtlicher Sicht ist
eine „angemessene" Erlagsfrist (bzw die Verlängerung einer Erlagsfrist) angebracht, wür-
de doch eine sehr kurze Erlagsfrist eine unverhältnismäßige Benachteiligung des Kau-
tionspflichtigen bedeuten. 1582 Fristverlängerungsanträgen wird in der Praxis auch im-
mer wieder Folge gegeben: 583
11.92 Rechtsmittel: Gegen über Kautionsanträge absprechende Beschlüsse des LG ist der binnen
14 Tagen ab Zustellung einzubringende Rekurs an das OG zulässig.§ 485 Abs l Z 2 ZPO
sieht ausdrücklich vor, dass erstinstanzliche Kautionsbeschlüsse auch in Bagatellsachen
anfechtbar sind. Das OG entscheidet seit der ZVN 2018 endgültig(§ 59 Abs 2 ZPO). Das
Rekursverfahren ist zweiseitig. Führt das Rekursgericht Erhebungen zur Beurteilung der
Kautionspflicht einer Partei durch, so muss es diese Erhebungsergebnisse den Parteien vor
Erlass der Rekursentscheidung mitteilen und diesen die Möglichkeit einer Stellungnahme
hierzu eröffnen, ansonsten eine Gehörsverletzung vorliegt. 1584 Für die Erstattung der Re-
kursbeantwortung zum Rekurs des Erlagspflichtigen ist jedoch keine Kaution aufzuerle-
gen, da dies einen sog „Multiplikatoreffekt" auslösen und damit den Grundsätzen der
Verfahrensökonomie und Prozesskonzentration krass zuwiderlaufen würde. 1585
11.93 Zu beachten ist, dass dann, wenn die erlagspflichtige Partei zwar die ihr aufgetragene
Sicherheitsleistung erlegt, zugleich jedoch den Kautionsbeschluss bekämpft, die für
die Erhebung des Rekurses notwendige Beschwer nicht abhandenkommt. 15116
11.94 Da der Beklagte bis zur rechtskräftigen Entscheidung über seinen Kautionsantrag zur Fort-
setzung des Verfahrens in der Hauptsache nicht verpflichtet ist(§ 61 Abs I ZPO), konnte
er durch die Rekurserhebung (etwa gegen die Höhe der Kaution) bis zur ZVN 2018 den
Fortgang des Verfahrens verzögern. Dazu ordnet § 62 Abs 2 ZPO nF nunmehr jedoch
ausdrücklich an, dass das Gericht in derartigen Fällen auf Antrag oder von Amts wegen
(unbekämpfbar) die Fortsetzung des Verfahrens anordnen kann, ohne dass die Rechts-
kraft des dem Antrag auf Sicherheitsleistung für Prozesskosten ganz oder teilweise statt-
gebenden Beschlusses abgewartet werden muss, wenn der Kläger oder Rechtsmittelwerber
gleichzeitig den nicht strittigen Betrag erlegt und dieser voraussichtlich die dem Gegner bis
zum Vorliegen der rechtskräftigen Entscheidung über die Kautionspflicht entstehenden
Prozesskosten deckt. § 62 Abs 2 ZPO ist gleichermaßen auch dann anzuwenden, wenn
der Kläger oder Rechtsmittelwerber den Kautionsbeschluss nur der Höhe nach anficht.
Bei der Rekurserhebung durch den Erlagspflichtigen ist zu differenzieren: Wird der eine 11.95
Sicherheitsleistung auferlegende Beschluss vom Erlagspflichtigen sowohl dem Grunde als
auch der Höhe nach bekämpft, so hat dies ex lege und im Anfechtungsumfang die Unter-
brechung der Erlagsfrist zur Folge und beginnt diese mit der Zustellung der Rekursent-
scheidung neu zu laufen, weshalb es eines Aufschiebungsantrags hierzu nicht bedarf. 1587
Wird allerdings der Kautionsbeschluss vom Erlagspflichtigen nur der Höhe nach ange-
fochten - die Anfechtung hat ja nur „im Anfechtungsumfang" die Unterbrechung der Er-
lagsfrist zur Folge -, so läuft die Erlagsfrist für den unbekämpft gebliebenen Teil der
Sicherheitsleistung weiter und ist die Sicherheitsleistung im unbekämpft gebliebenen Be-
1588
trag - bei sonstiger Konsequenz nach § 60 Abs 3 ZPO - fristgerecht zu erlegen.
Erhebt die kautionspflichtige Partei gegen den ihr rechtskräftig den Erlag einer Sicher- 11.96
heitsleistung auftragenden (letztinstanzlichen) Beschluss Individualbeschwerde an den
StGH und erkennt dessen Präsident (binnen offener Erlagsfrist) dieser aufschiebende
Wirkung zu, so beginnt die Erlagsfrist bis zum Ende des Individualbeschwerdeverfah-
rens vor dem StGH nicht zu laufen. 1589
Es widerspricht dem Neuerungsverbot, wenn ein Kautionsverpflichteter erstinstanzlich 11.97
bloß beantragt, dass ihm die Möglichkeit zum Erlag in Form einer Bankgarantie eines
Bankinstituts mit Sitz im EWR-Raum gestattet wird, und erst im Rekursverfahren be-
antragt, ihm den Erlag auch durch Vorlage einer Bankgarantie eines Schweizer Bank-
instituts zu gestatten: 590
D. Sicherheitsleistung im Rechtsmittelverfahren
1591
Die Sicherheitsleistung ist - abweichend von der Rezeptionsvorlage - für jede Ins- 11.98
tanz gesondert aufzuerlegen, woran sich auch durch die ZVN 2018 nichts geändert hat.
Ein entsprechender Vorschlag von Delle Karth 1592 blieb damit unbeachtet.
1587 OGH 02 CG.2005.296 LES 2007, 364 (überholt sind damit OGH 05 C I0/82 LES 1990, 121
und 02 CG.2002.96 LES 2004, 140, in denen jeweils noch Hemmungsanträge bzw -beschlüsse
iS des § 492 Abs 2 ZPO gefordert wurden).
1588 OGH 05 CG.2000.180 LES 2005, l lO.
1589 OGH 3 CG.2014.447 LJZ 2017, 46.
1590 OG 24.1.2018, 02 CG.2015.239 (nicht publiziert).
1591 Fucik in Fasching/Konecny Il/lJ § 60 ZPO Rz 31.
1592 LJZ 2000, 43.
11.99 Der Kautionsantrag ist vom Rechtsmittelgegner entweder gemeinsam mit der Rechts-
mittelgegenschrift zu stellen; er kann aber auch mittels eines gesonderten Schriftsat-
zes, der während der Rechtsmittelfrist einzubringen ist, gestellt werden(§ 59 Abs 1 ZPO).
Voraussetzung für eine entsprechende Antragstellung durch die beklagte Partei auf Auf-
erlegung einer Sicherheitsleistung im Rechtsmittelverfahren ist, dass sie bereits in unterer
Instanz einen Kautionsantrag gestellt hat. Hat sie dies unterlassen, kann sie den Antrag
im Rechtsmittelverfahren nicht mehr nachholen. 1593 Dies gilt für den Kläger naturgemäß
nicht: Denn in Abweichung von der Rezeptionsvorlage kann der Rechtsmittelgegner (das
muss nicht zwingend die in erster Instanz kautionspflichtig gewesene Partei sein, sondern .
es kommt nur auf die formelle Stellung als Rechtsmittelgegner an 1594 ) einen Kautionsan-
trag stellen (klarer Wortlaut der§§ 57 bis 61 ZPO) 1595 • Es wird durch einen derartigen
Antrag jedoch nur die Kautionspflicht für das Rechtsmittelverfahren, jedoch kein „De-
volutiveffekt" dahingehend ausgelöst, dass die in der Instanz kautionspflichtige Partei
nun auch für die Kosten der Vorinstanz(en) kautionspflichtig würde.1 596
11.100 Ein zweiter, wenngleich fristgerecht im Rechtsmittelverfahren eingebrachter Kau-
tionsantrag ist zurückzuweisen, da die (negative) Prozessvoraussetzung der Streitanhän-
gigkeit nicht nur für die mehrfache Prozessführung einer Partei, sondern analog auch für
alle Sach- und Rechtsschutzanträge im Zug eines Zivilprozesses gilt, wozu auch der Kau-
tionsantrag zählt. 1597
11.101 Der im Rechtsmittelverfahren gestellte Kautionsantrag ist dem Gegner (dem potenziell
Kautionsptlichtigen) zur Äußerung zuzustellen, und zwar vom Erstgericht, welches den
Akt dem Rechtsmittelgericht erst nach Erstattung der Gegenäußerung oder Verstreichen
der hierfür gesetzten Frist vorzulegen hat. 1598 Ein (auch im Rechtsmittelverfahren gestell-
ter) Kautionsantrag unterbricht das Verfahren in der Hauptsache.1 599 Wird dem Kau-
tionsantrag Folge gegeben, so ist dem Kautionswerber zur Beantwortung des Rechtsmit-
tels eine neuerliche Frist einzuräumen, die mit der Verständigung vom Erlag der Kau-
tion zur Gänze neu zu laufen beginnt. 1600 Wird der Kautionsantrag hingegen abgewie-
sen, so beginnt die Frist nach Wegfall des Unterbrechungsgrunds neu zu laufen
(§§ 167, 61 Abs 1 ZPO), nämlich mit Rechtskraft des den Kautionsantrag abweisenden
Beschlusses bzw - im Fall seiner Anfechtung - mit der Zustellung der nicht weiter be-
kämptbaren und damit rechtskräftigen Rekursentscheidung. 1601 Jedoch kann - insb zur
1593 OGH Hp 3/81 LES 1983, 24; ob diese Rsp im Hinblick auf OGH 6 CG.2012.82 LES 2013, 152
(155) und 02 CG.2016.140 LES 2017, 145 (147) aufrechterhalten werden kann, ist allerdings
fraglich.
1594 OG 05 C 80/85 LES 1990, 165.
1595 IdS auch OGH Hp 3/81 LES 1983, 24 (,,Obsiegt nun aber der Kläger in erster Instanz und
beruft der Beklagte, so wird aus dem Kläger ein Berufungsgegner und diesem bietet sich in der
Berufungsmitteilung zum ersten Mal im Verfahren die Gelegenheit, eine aktorische Kaution
in Antrag zu bringen.")
1596 OGH 06 CG.2012.30 LES 2014, 130.
1597 OGH 08 CG.2003.140 LES 2005, 327.
1598 OGH 02 CG.2008.93 LES 2010, 261 (OGH 10 CG.128/00 LES 2002, 234 ist damit überholt).
1599 OGH 02 CG.2008.93 LES 2010, 231.
1600 OGH 02 CG.2008.93 LES 2010, 231.
1601 OGH 02 CG.2008.93 LES 2010, 231; 09 CG.2000.139 LES 2005, 173.
E. Zum Kautionserlag
11.108 Die dem Kautionspflichtigen aufgetragene Sicherheitsleistung ist von ihm „auf den Rap-
pen genau" zu erlegen, widrigenfalls sie als nicht in der festgesetzten Höhe erlegt gilt,
weshalb es dem Pflichtigen zur Last fällt, wenn - etwa aufgrund des Abzugs von Bank-
spesen - nicht der gesamte Kautionsbetrag am Gerichtskonto einlangt. 1610 Die vom OG
vertretene Auffassung, die Sicherheitsleistung müsse am letzten Tag der Erlagsfrist auf
dem Konto des LG eingelangt sein und es genüge nicht, wenn der Bank vom Kautions-
pflichtigen am letzten Tag der Frist lediglich der Zahlungsauftrag überbracht wurde, 1611
hat seit Inkrafttreten des § 907 a Abs 2 ABGB 1612 umso mehr Gültigkeit. 1613
11.109 Nach rechtzeitigem Erlag der Sicherheitsleistung kann das Verfahren seit der ZVN 2018
nicht nur über Antrag einer Partei, sondern auch von Amts wegen fortgesetzt werden
(§ 62 Abs I ZPO).
11.110 Wird die Sicherheitsleistung nicht oder nicht in der vollen Höhe oder nicht fristgerecht
erlegt, so ist die Klage auf Antrag des Beklagten oder das vom Rechtsmittelwerber ein-
gelegte Rechtsmittel auf Antrag des Rechtsmittelgegners vom Gericht mit Beschluss für
1606 OGH 02 CG.2008.93 LES 2010, 261 (263) unter Hinweis auf OG 02 C 45/85 LES 1986, 25.
1607 Neufassung mit LGBI 2009/206; Absatzbezeichnungen neu mit LGBI 2018/207.
1608 OGH 02 CG.2008.93 LES 2010, 261 (263) - insoweit ist OG 02 C 45/85 LES 1986, 25, wonach
erst nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens feststeht, welche Kosten der beklagten
Partei tatsächlich entstanden sind, überholt.
1609 OG 1 C 152/89 LES 1994, 88.
1610 OGH 4 CG.2003.263 Pool 2004, 70 (Anm: Bankspesen in Höhe von CHF 12,75); LG 05
HG.2010.629 Jus & News 1/2011, 67.
1611 OGH 4 CG.2003.263 Pool 2004, 70.
1612 LGBI 2014/97.
1613 Vgl EuGH C-306/06, Telecom, ECLI:EU:C:2008:187, NJW 27/2008, 1935.
zurückgenommen zu erklären(§ 60 Abs 3 ZPO). Auch ohne eine dem§ 60 Abs 3 letzter
HS öZPO vergleichbare Bestimmung in der ZPO (,,der Beschlussfassung hat die münd-
liche oder schriftliche Einvernehmung des Klägers vorauszugehen") - gestrichen wurde
diese noch in der Stammfassung der ZPO in Art 60 Abs 3 letzter HS enthaltene Bestim-
mung mit der Kautionsnovelle 1954 - entspricht es dennoch langjähriger Rsp der liech-
tensteinischen Instanzgerichte, dass der kautionsverpflichteten Partei die Möglichkeit
zur Äußerung zum Zurücknahmeantrag einzuräumen ist. 1614 Dem Kautionsverpflich-
teten soll nicht nur die Möglichkeit offenstehen, den allenfalls fristgerecht erfolgten, aber
in Verstoß geratenen Erlag der Sicherheitsleistung nachzuweisen 1615 bzw den Nachweis
1616
der fristgerechten Einzahlung zu erbringen. Es soll für den Kautionsverpflichteten
auch möglich sein, den Erlag nachzuholen, was nach der Rsp des OG jedoch nur bis
zu dem Tag möglich ist, an welchem der Antrag, die Klage (das Rechtsmittel) für
zurückgenommen zu erklären, vom Prozessgegner bei Gericht eingebracht wird. 1617
Die Rsp des OGH dazu ist uneinheitlich: In älteren Judikaten 1618 wurde die Nachholung
des Erlags bis zu dem Zeitpunkt, zu welchem der Zurücknahmebeschluss ergeht, für zu-
lässig angesehen, während in einer jüngeren Entscheidung 1619 ausgeführt wurde, dass der
Wortlaut des § 60 Abs 3 letzter HS öZPO nicht den Schluss rechtfertige, dass auch die
Frist zur Vornahme der Prozesshandlung bis zur Einvernahme bzw Äußerung der kau-
tionspflichtigen Partei verlängert und der Erlag bis zum Ausspruch der Klagsrücknahme
nachgeholt werden kann. Im jüngsten Judikat 1620 wurde die Frage, ob der Nacherlag bis
zur Einvernahme des Klägers (Äußerung des Klägers) oder sogar bis zum Ausspruch der
Klagsrücknahme durch das Gericht möglich ist, offengelassen.
Zwar hat die vom OGH in den erstangeführten Entscheidungen vertretene Auffassung 11. 111
viel für sich - Sinn der Sicherheitsleistung ist es, dem Kautionsberechtigten einen präsen-
ten Deckungsfonds für die ihm voraussichtlich entstehenden Prozesskosten zu verschaf-
fen, was jedenfalls dann noch der Fall ist, wenn die Sicherheitsleistung vor Ergehen des
Zurücknahmebeschlusses erlegt wird, Sinn der Kaution ist es nicht, einen Zivilprozess
gleichsam „abzuwürgen" -, doch scheint diese Frage aufgrund der Judikatur des StGH
(ergangen zum erwähnten obergerichtlichen Beschluss) dahingehend gek.Järt, dass ein
Nacherlag nur bis zu dem Zeitpunkt zulässig ist, zu dem der Antrag, die Klage bzw
1621
das Rechtsmittel für zurückgenommen zu erklären, gestellt wird.
Hingegen reicht es aus, wenn die Sicherheitsleistung in Form einer Bankgarantie er- 11.112
bracht wird, dass das Garantiedokument am letzten Tag der Erlagsfrist zur Post ge-
geben wird (§ 126 Abs 3 ZPO).
1614 OGH 02 CG.2005.296 LES 2007, 364; 04 CG.2004.252 LES 2008, 74; 06 CG.2016.253 LES
2018, 123 (Öhri).
1615 OGH 04 CG.2004.252 LES 2008, 74.
1616 OGH 02 CG.2005.296 LES 2007, 364.
1617 OG 02 CG.2011.140 LES 2012, 173.
1618 OGH 02 C 78/71 v 8. 9. 1972 und 3 C 226/75 (in www.rechtportal.li unrichtig mit 3 C 226/7
bezeichnet) v 9. 6. 1976, beide unter einem publiziert in ELG 1973 bis 1978, 321.
1619 OGH 02 CG.2005.296 LES 2007, 364.
1620 OGH 06 CG.2016.253 LES 2018, 123 (Öhri).
1621 StGH 2011/123 GE 2014, 324 Erw 4.2.3-4.2.5.
11.113 Auf die - seit der ZVN 2018 erleichterte (vgl§ 146 Abs I letzter Satz ZPO) - Möglichkeit,
einen Wiedereinsetzungsantrag stellen zu können, ist ausdrücklich hinzuweisen. Dem
wird etwa in den erwähnten Fällen des durch den Abzug von Bankspesen bedingten
Mindererlags Folge zu geben sein.
F. Ergänzungsantrag
11.114 In Abweichung von der Rezeptionsvorlage (§ 62 Abs 2 öZPO) steht gern § 62 Abs 3 ZPO
(mit der ZVN 2018 wurde der bisherige Abs 2 neu zu Abs 3) der Nichterlag einer er-
gänzten Kaution ebenfalls unter der Sanktion des § 60 (Abs 3) ZPO, nämlich dass die
Klage oder das Rechtsmittel auf Antrag des Beklagten bzw Rechtsmittelgegners vom Ge-
richt für zurückgenommen erklärt wird. 1622
11.115 Der Antrag auf Ergänzung der Kaution führt zwar nicht mehr zur Verfahrensunter-
brechung nach § 61 Abs l ZPO (wie der ursprüngliche [erste] Kautionsantrag), da
§ 62 Abs 3 ZPO ausdrücklich nur auf die §§ 60 und 62 Abs 2 ZPO verweist, die sinn-
gemäß anzuwenden sind, sowie auf§ 59 Abs 2 ZPO (durch den Hinweis in § 62 Abs 4
ZPO), nicht jedoch auch auf § 61 ZPO. 1623 Die Zurücknahmefiktion des § 60 Abs 3
ZPO und die Verfahrensunterbrechung nach § 61 Abs I ZPO sind zwei unterschied-
liche Rechtsfolgen, wobei die Erstere nicht davon abhängt, dass es auch zu Zweiterer
kommt.
11.116 Jedoch führt der über einen Ergänzungs-(Erhöhungs-)Antrag ergehende Beschluss gern
§ 60 ZPO, in welchem Betrag, Art und Frist der zu leistenden Sicherheit zu bestimmen
sind, im Fall seiner Rechtskraft und bei ungenütztem Verstreichen der Erlagsfrist dazu,
dass die Klage bzw das Rechtsmittel über Antrag des Prozessgegners für zurückgenom-
men zu erklären sind, da es an einer Sachverhandlungsvoraussetzung mangelt. 1624 Der
Kautionsberechtigte muss sohin „weiterverhandeln" (man denke daran, dass „Unterde-
ckung" der vom Kautionsverpflichteten erlegten Sicherheitsleistung im Verlauf einer
mehrstündigen Verhandlung eintritt), das Gericht hat jedoch über entsprechenden An-
trag des Kautionsberechtigten und bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen dem
Kautionsverpflichteten die Erhöhung der von ihm erbrachten Sicherheitsleistung aufzu-
tragen. Wird die Kaution in der Folge nicht ergänzt, so sind die Klage bzw das Rechts-
mittel über Antrag des Gegners für zurückgenommen zu erklären. Dies belastet den Kau-
tionsberechtigten auch nicht über Gebühr: Denn der Eintritt der Unterdeckung ist für
ihn iaR vorhersehbar, weshalb er es in der Hand hat (und ihm dies auch zuzumuten ist),
seinen Erhöhungsantrag rechtzeitig zu stellen, was auch Ausfluss der ihn seit l. l. 2019
explizit treffenden Prozessförderungspflicht (§ 178 Abs 2 ZPO) ist. Einern aus taktischen
Gründen oder aufgrund unsorgfältiger Prozessvorbereitung spät (erst während der Ver-
handlung) gestellten Erhöhungsantrag mit der Konsequenz, dass die Verhandlung unter-
brochen und (zB aus dem Ausland vorgeladene) Zeugen unverrichteter Dinge wieder
nach Hause geschickt werden müssten, wollte der Gesetzgeber mit Sicherheit nicht Vor-
schub leisten, sondern nur das altrechtliche, ,,der (zu schützenden) Interessenlage des
Beklagten nicht in allen Fällen gerecht werdende Sanktionenmodell" 1625 durch Statuie-
rung der Rücknahmefiktion auch für diese Fälle (im wohlverstandenen Interesse des
Kautionsberechtigten) verschärfen. Durch sinngemäße Anwendbarerklärung auch des
§ 62 Abs 2 ZPO mit der ZVN 2018 hat sich daran nichts geändert. Dieser Verweis ist
der Sache nach überflüssig, da weiterhin die §§ 61 und 62 Abs 2 ZPO nicht (und zwar
auch nicht sinngemäß) auf Erhöhungsanträge für anwendbar erklärt wurden, und zudem
ist nicht anzunehmen, dass der Novellengesetzgeber des Jahres 2018, dessen erklärtes Ziel
die (wörtlich) Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens war, einen weiteren
(und zudem sachlich nicht zu rechtfertigenden) Verfahrensstillstand einführen wollte.
Ausdrück.lieh klargestellt wurde vom OGH auch, dass sich ein Ergänzungsantrag nicht 11.117
bloß auf Kosten beziehen muss, die erst in Zukunft entstehen werden, sondern auch auf -
zum Zeitpunkt des Stellens des Erhöhungsantrags - bereits aufgelaufene, jedoch durch
die bisher erbrachte Sicherheitsleistung nicht gedeckte Kosten. 1626 Der Kautionsbe-
rechtigte ist somit nicht verpflichtet, seinen Erhöhungsantrag bei oder kurz vor dem
Zeitpunkt zu stellen, zu welchem die bisher erlegte Kaution seine voraussichtlichen Pro-
zesskosten nicht mehr deckt, sondern er kann den Erhöhungsantrag (auf das erstins-
tanzliche Verfahren bezogen) bis zu dessen Schluss stellen. 162 ~ Jedoch ist es unzulässig,
den Ergänzungsantrag iS des § 62 Abs 3 ZPO dazu zu benützen, eine von Anfang an zu
niedrig erschienene Prozesskaution kurze Zeit nach der Beschlussfassung erhöhen zu
lassen. 1628 Dies ist zufolge der seit der ZVN 2018 im Gesetz festgeschriebenen Schät-
zungsbefugnis des Gerichts (,.nach freier richterlicher Überzeugung" - § 273 ZPO) da-
hingehend zu relativieren, dass von dieser Rsp nur ein krasses Missverhältnis zwischen
der vom Kautionswerber ursprünglich begehrten Sicherheitsleistung und dem zum da-
maligen Zeitpunkt mutmaßlich abschätzbaren Prozessaufwand erfasst sein kann.
Keinen Ergänzungsantrag, sondern einen neuen (originären) Antrag stellt es dar, wenn 11.118
die Kautionspflicht während des Verfahrens eintritt, etwa weil der potenziell Kautions-
verpflichtete seinen bisherigen, ihn von der Kautionspflicht befreienden Wohnsitz ver-
liert (vgl Rz 11.69 ff). Dann kann der Kautionsberechtigte nicht nur die ihm nunmehr
entstehenden, sondern auch die von ihm bereits aufgewendeten gerichtlichen Kosten
und Vertretungskosten sichern lassen. 1629 Dieser neue, während des Verfahrens erstmals
zu stellende Antrag befreit gern § 61 Abs I ZPO von der Fortsetzungspflicht. 1630
G. Verfahrenshilfe
Stellt eine Partei einen Verfahrenshilfeantrag, darf sie bis zur rechtskräftigen Entschei- 11.119
dung über diesen Antrag keine Säumnisfolgen und Rechtsnachteile in Ansehung damit
zusammenhängender befristeter Prozesshandlungen erleiden, was auch für den Kautions-
erlag während des anhängigen Verfahrenshilfeverfahrens gilt, sodass eine Fristversäu-
1625 So von Fucik in Fasching/Konecny ll/1 3 § 62 ZPO Rz 19 zur Rezeptionsvorlage treffend for-
muliert.
1626 OGH 06 CG.2012.82 LES 2013, 152.
1627 OGH 06 CG.2012.82 LES 2013, 152.
1628 OGH 06 CG.2012.82 LES 2013, 152.
1629 OGH 06 CG.2012.82 LES 2013, 152 (155).
1630 Fucik in Fasching/Konecny 11/1 3 § 58 ZPO Rz 16.
mung bis zur rechtskräftigen Bewilligung oder Versagung der Verfahrenshilfe nicht ein-
treten kann. 1631 Wird Verfahrenshilfe (soweit hier maßgeblich: nach § 64 Abs l Z 2 ZPO)
bewilligt, so ist der Kautionsverpflichtete mit Rechtskraft dieser Entscheidung (und zwar
- rückwirkend - zu dem Zeitpunkt, zu welchem die Wirkungen der Verfahrenshilfe gern
§ 64 Abs 3 ZPO eintreten) von der Verpflichtung zum Erlag einer Sicherheitsleistung
für die Prozesskosten der beklagten Partei (des Rechtsmittelgegners) befreit. Der Kau-
tionsbeschluss, so ein solcher bereits ergangen ist, wird damit wirkungslos.
11.120 § 64 Abs l Z 2 ZPO ist nicht verfassungswidrig. 1632 Die Möglichkeit, die Kautionsptlicht
durch die Erlangung von Verfahrenshilfe abzuwenden, wird im Übrigen auch vom
EFT A-GH 1633 als ein Element, welches bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen
ist, angesehen.
11.121 Wird hingegen der Verfahrenshilfeantrag rechtskräftig abgewiesen, so fällt die Unter-
brechungswirkung des Verfahrenshilfeantrags (§ 73 Abs 2 ZPO), die sich auch auf die
Erlagsfrist bezieht, 1634 weg und die Erlagsfrist fängt mit Zustellung des den Verfahrens-
hilfeantrag abweisenden Beschlusses von neuem in voller Länge zu laufen an, 1635 wie es
altrechtlich im Übrigen auch bei rechtskräftiger Abweisung des Antrags auf Zulassung
zum Paupertätseid der Fall war. 1636 Damit bedarf es der Möglichkeit, ausnahmsweise
auch noch nach Ablauf der Erlagsfrist einen Antrag auf Fristverlängerung als rechtzeitig
anzusehen, wie vom OG H früher judiziert, 1637 gar nicht.
11.122 Einern wiederholten, der Verfahrensverzögerung dienenden und damit rechtsmiss-
bräuchlichen Stellen von Verfahrenshilfeanträgen kann auch ohne eine dem§ 73 Abs 3
öZPO vergleichbare Norm dadurch begegnet werden, dass der neuerliche Verfahrens-
hilfeantrag als unzulässig zurückgewiesen wird (weil wohl kaum eine zwischenzeitige
Änderung der für die Frage der Verfahrenshilfe maßgeblichen Umstände dargetan wer-
1639
den kann) 1638 - eine Zurückweisung führt nämlich nicht zur Fristunterbrechung.
11.123 Maßgeblich ist der Zeitpunkt, zu welchem die Befreiungen und Rechte nach § 64 Abs 3
ZPO eintreten. Für zuvor gesetzte Verfahrenshandlungen bleibt die Kautionspflicht be-
stehen.
H. Nebenintervention
11.124 Der auf Seiten der beklagten Partei dem Rechtsstreit beigetretene einfache Nebeninter-
venient kann von der klagenden Partei jedenfalls dann keine Sicherheitsleistung für
Zur Frage, wie eine als Sicherheitsleistung erlegte Bankgarantie zu realisieren ist, wurde 11.130
bereits weiter oben (Rz 11.350 Stellung genommen.
J. Kosten
Nur dann, wenn der Kautionsptlichtige dem Kautionsantrag entgegentritt, wird da- 11.131
durch ein (echter) Zwischenstreit ausgelöst, sodass eine vom Ausgang in der Hauptsache
unabhängige Kostenentscheidung zu treffen ist und damit auch § 41 Abs 1 oder § 43
Abs 1 ZPO (,,Quotenkompensation") - im Rechtsmittelverfahren iVm § SO ZPO - anzu-
wenden sind. 1660 Ansonsten ist mit einem Kostenvorbehalt vorzugehen. 1661
Bemessungsgrundlage für die Bestimmung von Kosten ist der Betrag, der zu Recht 11.132
beantragt und auferlegt wurde, und nicht der Wert des Streitgegenstands in der Haupt-
sache.1662 Wird gegen ein erstgerichtliches Urteil von beiden Seiten Berufung erhoben, so
ist Grundlage für die Bestimmung der Höhe der aktorischen Kaution nur das von dieser
geltend gemachte Berufungsinteresse (und sind nicht die Streitwerte beider Berufungen
zu addieren). 1663
Ein Antrag auf Auferlegung einer Sicherheitsleistung ist - auch im Rechtsmittelver- 11.133
fahren - ebenso wie die dazu erstattete Gegenäußerung nach TPl RATV zu honorie-
ren.1664
Ein erstinstanzlich gestellter Erhöhungsantrag (,,Antrag auf Ergänzung der Sicherheits- 11.134
leistung" - § 62 Abs 3 ZPO) wurde hingegen nach TP2 RATV honoriert. 1665
Nach TP2 RA TV ist auch ein Antrag, die Klage wegen Nichterlags der aufgetragenen 11.135
Sicherheitsleistung für zurückgenommen zu erklären, zu honorieren. 1666
Auch Äußerungen zu Fristverlängerungsanträgen betreffend die Erlagsfrist sind nach 11.136
TPl RATV zu honorieren, gleichgültig, welche Rechtsfolgen an die allfallige Versäu-
mung der Frist geknüpft sind. 1667
Die Bekanntgabe des erfolgten Erlags der Sicherheitsleistung ist überflüssig und damit 11.137
nicht iSv § 41 Abs 1 ZPO zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig, da das
Gericht davon ohnedies bereits durch die Gutschriftsanzeige der Bank in Kenntnis ge-
setzt wird. 1668
Zwar ist es einem Kautionsberechtigten unbenommen, innerhalb der zur Erstattung einer 11.138
Rechtsmittelgegenschrift offenstehenden Frist zunächst nur einen Kautionsantrag zu stel-
len und erst nach der Mitteilung an ihn über den Erlag der Sicherheit binnen der dann
1660 OGH 02 CG.2012.228 GE 2013, 319; 06 CG.2011.378 GE 2014, 54 Erw 11; 04 CG.2014.268
LES 2015, 108.
1661 OGH 09 CG.2016.487 LJZ 2019, 156.
1662 OGH 08 EX.2009.2603 LES 2010, 110; 10 HG.2008.5 LES 2010, 268.
1663 OGH 5 C 326/88 LES 1992, 133.
1664 OGH 02 CG.2008.93 LES 2010, 261; 10 HG.2008.5 LES 2010, 268; 08 EX.2009.2603 LES 2010,
110.
1665 OGH 06CG.2011.378 GE 2014, 54.
1666 OGH 02 C 91/81 LES 1982, 187.
1667 OGH 5 C 109/99 LES 2000, 91.
1668 OGH 06 CG. 2011.378 GE 2014, 54.
neu zu laufen beginnenden Frist eine Gegenschrift zu erstatten, doch ist auch schon die
Erstattung der Gegenschrift zugleich und in Verbindung mit dem Kautionsantrag
notwendig und zweckmäßig und dient der Prozessökonomie, weshalb die Kosten für
diese Gegenschrift auch dann zu ersetzen sind, wenn das Rechtsmittel in der Folge wegen
Nichterlags der Sicherheit für zurückgenommen erklärt wird. 1669
11.139 Bei der Entscheidung über die Frage, ob die potenziell kautionsverpflichtete Partei über-
haupt eine Kaution zu leisten hat (,,dem Grunde nach"), handelt es sich nicht um eine
Entscheidung im Kostenpunkt. 1670 Hingegen handelt es sich bei der Entscheidung über
die Höhe der Sicherheitsleistung um eine Entscheidung im Kostenpunkt. 1671 Im ers-
teren Fall ist somit ein Rekurs nach TP38 RA TV zu honorieren, 1672 im letzteren Fall
nach TP3A RATV. 1673
11.140 Wird nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens vom Kautionspflichtigen die Aus-
folgung der von ihm erlegten Kaution beantragt, so ist dieser Antrag notwendig und
zweckmäßig und gebühren hierfür, sofern dem Antrag stattgegeben wird, Kosten nach
TPI RATV. 1674 Praxistipp: Der Kautionsberechtigte kann das Entstehen zusätzlicher
Kosten jedoch dadurch verhindern, dass er nach Rechtskraft des Urteils dem Gericht
unaufgefordert mitteilt, einer Ausfolgung der Sicherheitsleistung an den Kautionsver-
pflichteten ausdrücklich zuzustimmen.
11.141 Auch die Kosten für einen Ergänzungsantrag (Erhöhungsantrag) iSv § 62 Abs 3 ZPO
sind sicherbar 1675 und damit auch die Kosten der Antragstellung überhaupt bzw die
dadurch notwendigerweise hervorgerufenen Kosten (etwa für eine Verhandlung über den
Kautionsantrag).
1669 OGH 09 Cg 139/2000 LES 2001, 229; zu A 20/84 LES 1987, 66 (69) hatte der OGH die Hono-
rierung noch mit den dort gegebenen besonderen Umständen, die „die Notwendigkeit der
Einbringung einer Äusserung in der Sache selbst noch vor der Entscheidung über den Kau-
tionsantrag ausnahmsweise" zu bejahen zuließen, begründet.
1670 OGH 4 C 385/97 LES 1998, 323.
1671 OGH 01 C 402/98 LES 1999, 328; 04 CG.2014.268 LES 2015, 108.
1672 OGH 4 C 385/97 LES 1998, 323.
1673 OGH 1 C 402/98 LES 1999, 328; 04 CG.2014.268 LES 2015, 108.
1674 OGH 10 CG.2010.274 LES 2016, 30.
1675 OGH 06CG.2011.378 GE 2014, 54.
Übersicht
Rz
1. Verfahrenshilfe bei natürlichen Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1
A. Gegenstand und Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1
B. Voraussetzungen im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3
1. Partei des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3
2. Unfähigkeit zur Kostentragung (Verfahrenshilfebedürftigkeit) . . 12.4
a) Kosten des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4
b) Fähigkeit der Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5
c) Exkurs: Bei Vorliegen einer Kontensperre . . . . . . . . . . . . . . 12.6
d) Notwendiger Unterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.7
3. Keine mutwillige oder aussichtslose Rechtsverfolgung (Verfahrens-
hilfewürdigkeit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.11
C. Umfang und Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.14
1. Zur Gänze oder zum Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.14
2. Bestimmter Rechtsstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.15
3. Befreiung von Gebühren, Kosten und Barauslagen . . . . . . . . . . 12.17
4. Befreiung von Sicherheitsleistung für Prozesskosten . . . . . . . . . 12.19
5. Beigebung eines Verfahrenshelfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.20
a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.20
b) Verfahrenshelfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.21
c) Vertretung vor dem Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.23
d) Schwierige Sach- oder Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.26
e) Bestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.29
f) Entlohnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.31
6. Ermessen des Gerichts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.36
7. Prozesskosten der Gegenpartei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.38
8. Zeitpunkt und Dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.39
9. Fortsetzung des Hauptverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.41
10. Unterbrechung des Fristenlaufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.42
D. Antrag und Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.46
1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.46
2. Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.47
3. Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.48
4. Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.51
5. Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.52
6. Entscheidung des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.55
7. Behördliches Zeugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.60
8. Strafsanktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.61
E. Beendigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.62
1. Tod einer Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.62
2. Änderung der Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.63
1676 Demgegenüber ist im Außerstreitverfahren die Verfahrenshilfe in Art 7 AussStrG geregelt; die
Bestimmungen der ZPO sind sinngemäß anwendbar.
1677 LGBl 1994/10. Siehe dazu ausf BuA 2015/112, 7 ff und BuA 1992/65.
1678 BuA 2015/112, 8. Die§§ 63ffZPO entsprechen im Wesentlichen den§§ 63fföZPO, wobei die
Bestimmungen an die liechtensteinischen Besonderheiten angepasst wurden (OG 06
NZ.2012.34 LES 2012, 119).
ihrer Rechtsverfolgung; dies entspricht einem modernen und sozialen Staat. 1679 Die staat-
liche Verfahrenshilfe ist Ausfluss des in der Verfassung und der EMRK gewährleisteten
Rechts auf Beschwerde (Art 43 LV), 1680 des Gleichheitsgrundsatzes (Art 3 l LV) und
des Rechts auf Zugang zu einem Gericht (Art 6 Abs l EMRK). 1681 Der Staat hat dafür
Sorge zu tragen, dass dem Einzelnen der Zugang zum Gericht nicht aus wirtschaftlichen
Gründen verwehrt bleibt und ihm ein angemessener und möglichst effektiver Rechtsschutz
zusteht; dies beinhaltet einen Anspruch auf unentgeltlichen Rechtszugang, wenn ansonsten
wegen Mittellosigkeit ein effektiver Rechtsschutz nicht gewährleistet wäre. 1682
Die Bestimmungen über die Verfahrenshilfe wurden in den vergangenen Jahren umfas- 12.2
send reformiert. 1683 Im Jahr 2015 wurde der Anwaltstarif in Verfahrenshilfesachen im
RAG angepasst und in der ZPO die Verfahrenshilfe für juristische Personen eingeführt;
diese Anpassungen traten am l. l. 2016 in Kraft. 1684 Im Jahr 2016 erfolgten in der ZPO
diverse verfahrensrechtliche und Liechtenstein-spezifische 1685 Ergänzungen, so etwa die
Einführung von Ratenzahlungen, der Verfahrenshilfeantrag iVm dem verfahrenseinlei-
tenden Schriftsatz, die Verlängerung der Nachzahlungsfrist auf zehn Jahre oder die Zu-
ständigkeit des Prozessgerichts erster Instanz zur Verfahrenshilfebewilligung. 1686 Diese
Anpassungen traten am I. I. 2017 in Kraft. 1687 Auf die in diesem Zeitpunkt (bereits)
gerichtsanhängigen Verfahren findet das neue Recht Anwendung. 1688
B. Voraussetzungen im Einzelnen
1. Partei des Verfahrens
Die Verfahrenshilfe wird grundsätzlich nur den Parteien des Verfahrens bewilligt(§ 63 12.3
Abs l ZPO). Die Bestimmungen über die Verfahrenshilfe gelten ausdrücklich auch für
urteilung der Mittellosigkeit der Partei nicht berücksichtigt werden, da die Partei keinen
Zugriff auf sie hat. 1700 Diese Rsp ist in Anbetracht der Subsidiarität der staatlichen Ver-
fahrenshilfe jedoch kritisch zu hinterfragen. 1701
d) Notwendiger Unterhalt
Die mutmaßliche Kostenbestreitung muss zu einer Beeinträchtigung des notwendigen 12.7
Unterhalts der Partei führen. Als notwendiger Unterhalt ist derjenige Unterhalt anzu-
sehen, den die Partei für sich und ihre Familie, für deren Unterhalt sie zu sorgen hat, zu
einer einfachen Lebensführung benötigt (§ 63 Abs l ZPO). Betragsmäßig liegt der not-
wendige Unterhalt gern Rsp 1702 abstrakt zwischen dem notdürftigen Unterhalt (Exis-
1703
tenzminimum ) und dem standesgemäßen Unterhalt (statistisches Durchschnitts-
einkommen eines unselbstständig Erwerbstätigen 1704 ); es sind die Umstände des Einzel-
falls zu würdigen und es muss eine die Bedürfnisse des Einzelnen berücksichtigende be-
scheidene Lebensführung gewährleistet sein: 705 Eine Beeinträchtigung des notwendigen
Unterhalts liegt vor, wenn unter Berücksichtigung der im konkreten Verfahren zu erwar-
tenden Prozesskosten keine genügenden Mittel für eine einfache Lebensführung des An-
tragstellers und seiner Familie verbleiben. 1706
Bei der Beurteilung der Bedürftigkeit ist neben dem Einkommen auch das Vermögen 12.8
1707
(inkl Schulden ) der Partei zu berücksichtigen sowie ein allfälliges Sparguthaben; die
Verwertung eines Grundstücks ist (nur) dann zumutbar, sofern dieses nicht zur Befrie-
1700 StGH 2015/101 LES 2016, 21, wonach natürliche Personen, anders als juristische Personen,
nicht die Freigabe von gesperrtem Vermögen zur Bestreitung ihrer Verfahrenskosten bean-
tragen können.
1701 Siehe dazu unten Rz 12.123-12.126.
1702 OGH ES.2018.5 LES 2018, 210 mwH; StGH 2013/5 Erw 2.2 GE 2013, 413; OGH SV.2012.26
GE 2013, 88; 13 UR.2005.223, LES 2007, 243.
1703 Abzustellen ist auf das (exekutionsrechtliche) Existenzminimum gern Verordnung v 1. 7. 2008
über die Festsetzung der pfändungsfreien Beträge bei Exekutionen auf Arbeits- und Dienst-
einkommen LGRI 2008/169; auszugehen ist von einem Mindestbetrag von monatlich CHF
l.980,-, wobei die Erhöhungen und Abzüge der Verordnung zu berücksichtigen sind (RuA
2016/69, 38f; VGH 2014/41 Erw 9 GE 2014, 416; OGH SV.2012.26 GE 2013, 88; 13
UR.2005.223, LES 2007, 243). Demgegenüber stellt der VGH im Verwaltungsverfahren bis-
weilen auf den (sozialhilferechtlichen) Grundbedarf für den Lebensunterhalt gern Verord-
nung zum Sozialhilfegesetz LGBI 1987/18 idF LGBI 2007/365 ab; dieser liegt bei CHF
1.110,- (VGH 2016/59 Erw 4 GE 2016, 159; StGH 2013115a Erw 12 GE 2016, 23; StGH
2012/90 Erw 3 GE 2013, 268).
1704 Stand 2016: CHF 6.603,- (Medianlohn gern Amt für Statistik); im Internet abrufbar unter
https://www.llv.li/files/as/lohnstatistik-2016.pdf (abgerufen am 30. 4. 2019); vgl OGH
SV.2012.26 GE 2013, 88.
1705 BuA 2016/69, 38; OGH SV.2012.26 GE 2013, 88.
1706 StGH 2013/5 Erw 2.2 GE 2013, 413.
1707 VGH 2013/4 Erw 7 GE 2013, 437; OGH SV.2012.26 GE 2013, 88. Abw VGH 2016/146 Erw 9
GE 2016, 165, wonach Schulden der Partei gegenüber der Kreditkartenfirma für die Beurtei-
lung der Bedürftigkeit nicht zu berücksichtigen sind.
digung eines Wohnbedürfnisses der Partei 1708 oder als unerlässliche Einnahmequelle
dient und der zu erzielende Preis nicht unverhältnismäßig niedrig ist. 1709 Gern Rsp kann
von der Partei eine Realisierung von Vermögenswerten (nur) dann verlangt werden,
wenn es sich um leicht realisierbares Vermögen handelt. 1710 Die Aufnahme eines Darle-
hens zur Bestreitung der Prozesskosten ist (nur) dann zumutbar, sofern hinreichende
Anhaltspunkte bestehen, dass die Partei in der Lage sein wird, die Rückzahlungen aus
künftigen Erträgnissen oder der zukünftigen Verwertung von Vermögensgütern zu leis-
ten. 1711 Bei der möglichen Aufnahme eines Bankkredits ist zu prüfen, ob der Partei im
konkreten Fall eine Kreditaufnahme aufgrund ihres Einkommens auch tatsächlich mög-
lich und zumutbar ist und sie ausreichend vorhandene Vermögenswerte zur Besicherung
des Kredits hat. 1712
12.9 Des Weiteren werden bei der Beurteilung der Einkommens- und Vermögenssituation
auch Schmerzensgelder oder Ergänzungsleistungen 1713 berücksichtigt sowie die Möglich-
keit von Rückstellungen während des laufenden Verfahrens, der Aufnahme eines (weite-
ren) Kleinkredits oder des Überziehens des Bankkontos 1714 sowie letztlich auch die Mög-
lichkeit von Prämienverbilli?ung bei Krankenkassenprämien. 1715 Kinderzulagen stellen
Familieneinkommen dar. 171
12.10 Bei den Ausgaben der Partei sind alle zu einer einfachen Lebensführung notwendigen
Kosten zu berücksichtigen. Darunter fallen insb die Wohnkosten, Unterhaltspflich-
ten/717 Prämien der obligatorischen Krankenkasse (Grundversicherung) und die Selbst-
behalte, 1718 Pensionskassenbeiträge sowie Steuern. 1719 Sonderausgaben sind mitzube-
rücksichtigen, wenn sie begründet sind. 1720
1708 Die Zumutbarkeit der Verwertung einer Liegenschaft, die gleichzeitig als Wohnung der Partei
dient, ist zwar nicht ausgeschlossen, aber nur unter ganz besonderen Umständen gegeben
(StGH 2011/118 Erw 3.2 GE 2013, 230 mVa öOGH 13.8.2002, 1 Ob 164/02b).
1709 BuA 2016/69, 38f; VGH 2016/146 Erw 9 GE 2016, 165; StGH 2011/118 Erw 3.2 GE 2013, 230;
StGH 2003/64 LES 2003, 77.
1710 StGH 2003/64 LES 2003, 77.
1711 StGH 2016/99 Erw 1.2 mwN LES 2018, 19.
1712 StGH 2011/119 Erw 2.2 GE 2013, 30 mwH, wonach das Gericht sich mit der Frage befassen
muss, ob die Aufnahme eines Kredits für die Partei überhaupt möglich und zumutbar ist,
und eine Kreditaufnahme das Vorhandensein von entsprechenden Vermögenswerten zur
Besicherung voraussetzt; StGH 2011/118 Erw 3.2 GE 2013, 230, wonach neben der Kredit-
tragfähigkeit der Partei (Einkommen) auch die Belehnungsfähigkeit des Grundstücks maß-
gebend ist.
1713 Vgl StGH 2013/5 Erw 2.2 GE 2013, 413; OGH SV.2012.26 GE 2013, 88.
1714 BuA 2016/69, 39, 43f mwN.
1715 VGH 2016/146 Erw 9 GE 2016, 165 mVa Art 24b KVG, wonach der Staat bei Versicherten
mit einem Jahreseinkommen unter CHF 45.000,- eine Rückerstattung von 40% der bezahlten
Krankenkassenprämie gewähren kann.
1716 VGH 2012/90 Erw 3 GE 2013, 268.
1717 OGH 13 UR.2005.223 LES 2007, 243.
1718 VGH 2012/90 Erw 3 GE 2013, 268.
1719 Siehe dazu die Abzüge in Art 3 der Verordnung v 1. 7. 2008 über die Festsetzung der pfän-
dungsfreien Beträge bei Exekutionen auf Arbeits- und Diensteinkommen LGBI 2008/169.
1720 Vgl VGH 2012/90 Erw 3 GE 2013, 268.
Nach dem Gesetz ist die Rechtsverfolgung insb dann als offenbar mutwillig anzusehen, 12.12
wenn eine nicht die Verfahrenshilfe beanspruchende Partei bei verständiger Würdigung
aller Umstände des Falls von der Führung des Verfahrens absehen oder nur einen Teil
des Anspruchs geltend machen würde; es sind insb auch die für die Eintreibung ihres
Anspruchs bestehenden Aussichten zu berücksichtigen (§ 63 Abs l ZPO). 1722 Dabei sind
die wirtschaftlichen Gesichtspunkte der Prozessführung (finanzielle Rentabilität) eben-
falls zu berücksichtigen. Maßgebend ist auch die Bedeutung der Angelegenheit für die
723
Partei.1 Die Prozessführung der Partei ist etwa mutwillig, wenn sie sich der Unrich-
tigkeit ihres Prozessstandpunkts bewusst ist und sich in diesem Bewusstsein in den Pro-
1724
zess einlässt, wenn sie den Prozess zu einem durch die Rechtsordnung nicht geschütz-
ten Zweck führt (zB Publicity, Sensationslust, Feindseligkeit etc), wenn sie eine verjährte
Forderung einklagt,1 725 wenn sie ein offensichtlich überhöhtes Begehren geltend
1726
macht oder wenn sie den Prozess unter Ausnützung des mangelnden Kostenrisikos
1727
führt. Die Begründung der Mutwilligkeit setzt eine antizipierte Auseinandersetzung
des Gerichts mit der entsprechenden Rechtsfrage voraus, wobei kein Beweisverfahren
1728
durchzuführen, sondern auf die Aktenlage abzustellen ist.
Offenbar aussichtslos ist die Prozessführung dann, wenn die Erfolglosigkeit von vornherein, 12.13
1729
also schon ohne nähere Prüfung der Angriffs- und Abwehrmittel, objektiv erkennbar ist.
Die Aussicht auf einen Prozesserfolg muss zwar nicht gewiss sein, aber nach der sofort er-
kennbaren Lage eine gewisse (wenn auch nicht allzu große) Wahrscheinlichkeit haben.1 730
Eine gewisse, wenn auch geringe Aussicht auf Erfolg steht der Annahme der Aussichtslosig-
keit entgegen. 1731 Dabei sind insb auch Erkenntnisse von vorausgegangenen Verfahren mit-
zuberücksichtigen.1732 Die Aussichtslosigkeit ist ex ante und objektiv zu beurteilen, wobei
größte Zurückhaltung gefordert ist, um den Anspruch auf Verfahrenshilfe nicht von vorn-
herein leer laufen zu lassen. 1733 Das Gericht darf bei der antizipierten Prüfung der Erfolgs-
aussichten nicht den eigentlich zu führenden Prozess praktisch vorwegnehmen. 1734 Die Aus-
sichtslosigkeit ist etwa gegeben bei einem unbehebbaren Beweisnotstand oder bei einer unbe-
hebbaren Unschlüssigkeit des Begehrens, 1735 bei offensichtlichem Ablauf einer Frist, 1736 bei
einer eindeutigen Beweislage ohne Vorbringen eines Gegenbeweises 1737 sowie bei einem
Rechtsmittel, das von der ständigen höchstgerichtlichen Rsp abweicht, ohne hierfür ernst-
hafte Gründe vorzubringen. 1738 Abzustellen ist auf die objektive Erkennbarkeit der Aus-
1739
sichtslosigkeit; ob die Partei die Erfolglosigkeit auch tatsächlich erkennt, ist irrelevant.
Maßgebend ist das Vorbringen des Antragstellers in seinem Verfahrenshilfeantrag; 1740 die
-------- . ------
1730 StGH 2016/52 Erw 1.2 GE 2018, 252; StGH 2016/29 Erw 3.3.5 GE 2018, 321; StGH 2013/171
Erw 4.3 GE 2015, 74; OGH SV.2013.30 Erw 5.7 GE 2014, 172; StGH 2012/199 Erw 2.2 GE
2014, 194; StGH 2012/170 Erw 2.2 GE 2013, 455; StGH 2012/105 Erw 3.2 GE 2014, 190; StGH
2012/25 Erw 4.2 GE 2014, 325; StGH 2012/23 Erw 2.2 GE 2013, 280; OGH CO.2009.1 LES
2010, 286. Ebenso VGH 2018/117 Erw 4 GE 2018, 328; StGH 2018/119 Erw 4 GE 2018, 347;
StGH 2016/52 Erw 6 GE 2016, 154; StGH 2015/122 Erw 6 GE 2016, 48; StGH 2015/82 Erw 6
GE 2015, 216; StGH 2015/22 Erw 6 GE 2015, 165.
1731 OGH SV.2018.3 LES 2018, 136.
1732 OGH CO 2009.1 LES 2010, 286; 09 HG.2006.26 LES 2008, 360.
1733 OGH SV.2018.3 LES 2018, 136; StGH 2016/55 Erw 3.3 GE 2018, 287; StGH 2016/29 Erw 3.3.5
GE 2018, 321; StGH 2013/171 Erw 4.3 GE 2015, 74. Ebenso VGH 2018/117 Erw 4 GE 2018,
328; StGH 2018/119 Erw 4 GE 2018, 347; StGH 2015/122 Erw 6 GE 2016, 48; StGH 2015/82
Erw 6 GE 2015, 216; StGH 2015/22 Erw 6 GE 2015, 165.
1734 StGH 2016/55 Erw 3.4 GE 2018, 287, wonach die Notwendigkeit einer intensiven Auseinan-
dersetzung mit den Argumenten des Antragstellers zur Prüfung der Erfolgsaussichten letztlich
indiziert, dass der Antrag eben doch nicht aussichtslos ist. Vgl auch StGH 2014/83 Erw 4.2 GE
2015, 196; StGH 2014/74 Erw 4.3 GE 2015, 194; StGH 2013/95 Erw 3.4 GE 2014, 414; OGH
SV.2013.30 Erw 5.7 GE 2014, 172; StGH 2012/105 Erw 3.2 GE 2014, 190; StGH 2012/25
Erw 4.2 GE 2014, 325; StGH 2012/23 Erw 2.2 GE 2013, 280.
1735 BuA 2016/69, 46 mwN; VGH 2013/29 Erw 2 GE 2013, 439; StGH 2013/4 Erw 7 GE 2013, 437;
OGH CO.2009.1 LES 2010, 286.
1736 Vgl VGH 2015/96 Erw 4 GE 2016, 5.
1737 StGH 2012/25 Erw 4.2 GE 2014, 325 (eindeutige Gutachtenslage und keine Vorlage einer
entgegenstehenden fachärztlichen Stellungnahme).
1738 StGH 2014/74 Erw 4.4 GE 2015, 194; StGH 2013/95 Erw 3.5 GE 2014, 414; OGH SV.2013.30
Erw 5.8 GE 2014, 172, wonach das Vorbringen eine Praxisänderung anstreben muss und sich
daher mit der bisherigen Rsp auseinanderzusetzen und deren Unzulänglichkeiten und Wider-
sprüche aufzuzeigen hat; vgl auch OGH 03.07.2008, SV.2007.17.
1739 OGH SV.2013.30 Erw 5.7 GE 2014, 172; CO 2009.1 LES 2010, 286; 09 HG.2006.26 LES 2008,
360.
1740 StGH 2016/55 Erw 3.3 GE 2018, 287; StGH 2016/52 Erw 1.2 GE 2018, 252; StGH 2016/29
Erw 3.3.5 GE 2018, 321; StGH 2014/83 Erw 4.1 GE 2015, 196; StGH 2014/74 Erw 4.4 GE 2015,
194; StGH 2012/199 Erw 2.2 GE 2014, 194; StGH 2012/131 Erw 3.2 GE 2013, 312; StGH 2012/
105 Erw 3.2 GE 2014, 190; StGH 2012/25 Erw 4.2 GE 2014, 325; StGH 2012/23 Erw 2.2 GE
2013, 280. Ebenso VGH 2018/117 Erw 4 GE 2018, 328; 2018/119 Erw 4 GE 2018, 347.
Beurteilung der Erfolgsaussichten bedingt eine prima facie Würdigung dieses Vorbringens,
wobei kein allzu strenger Maßstab anzulegen ist. 1741 Insofern trifft den Antragsteller eine
1742
gewisse Substantiierungspflicht. Wenn das Vorbringen für eine seriöse Beurteilung der
Erfolgsaussichten zu unklar oder unvollständig ist, hat das Gericht auf eine Klarstellung und
Vervollständigung hinzuwirken. 1743
2. Bestimmter Rechtsstreit
Die Verfahrenshilfe darf nur für einen bestimmten Rechtsstreit gewährt werden (§ 64 12.15
Abs I ZPO). Dieser ist im Antrag bestimmt zu bezeichnen.1 746
Die gewährte Verfahrenshilfe umfasst im Übrigen nicht nur das Erkenntnisverfahren, 12.16
sondern auch ein spätestens innerhalb eines Jahres nach Abschluss des Rechtsstreits ein-
geleitetes Vollstreckungsverfahren (§ 64 Abs I ZPO).
1741 StGH 2016/52 Erw 1.2 GE 2018, 252; StGH 2016/29 Erw 3.3.5 GE 2018, 321; 23.3.2015, 2015/
3 Erw 3.3; StGH 2014/74 Erw 4.3 und 4.4 GE 2015, 194; StGH 2013/171 Erw 4.3 GE 2015, 74;
StGH 2013/180 Erw 2.2 GE 2014, 432; StGH 2013/95 Erw 3.5 GE 2014, 414; OGH SV.2013.30
Erw 5.8 GE 2014, 172. Ebenso VGH 2018/117 Erw 4 GE 2018, 328; StGH 2018/119 Erw 4 GE
2018, 347; StGH 2016/52 Erw 6 GE 2016, 154; StGH 2015/122 Erw 6 GE 2016, 48; StGH 2015/
82 Erw 6 GE 2015, 216; StGH 2015/22 Erw 6 GE 2015, 165.
1742 Vgl VGH 2018/117 Erw 4 GE 2018, 328; 2018/119 Erw 4 GE 2018, 347; 2016/161 Erw 3 GE
2017, 110; StGH 2013/180 Erw 2.2 GE 2014, 432; StGH 2012/200 Erw 6.3 GE 2014, 242; OGH
CO.2009.1 LES 2010, 286.
1743 StGH 2014/74 Erw 4.3 GE 2015, 194.
1744 BuA 2016/69, 46; OG 01 CG.2004.395 LES 2005, 84; s dazu auch nachfolgend Rz 12.36f.
1745 StGH 2014/83 E 1.3 GE 2015, 196; s dazu auch nachfolgend Rz 12.23-12.25.
1746 Siehe dazu unten Rz 12.52-12.54.
b) Verfahrenshelfer
12.21 Als Verfahrenshelfer hat das Prozessgericht einen Rechtsanwalt zu bestellen. Gern Art 8
Abs 1 lit b RAG kommt nur den in die Liste der zugelassenen Rechtsanwälte (Rechts-
anwaltsliste) eingetragenen Personen die Befugnis zur berufsmäßigen Parteienvertretung
vor Gerichten und Behörden zu; in Frage kommen somit nur die Mitglieder der Rechts-
anwaltskammer.1751 Sie sind zur Übernahme eines Verfahrenshilfemandats nicht nur
berechtigt, sondern auch verpflichtet (Art 29 Abs 1 RAG). 1752 Für die niedergelassenen
Rechtsanwälte (Art 59 ff RAG) und die grenzüberschreitend tätigen Rechtsanwälte ist ei-
1753
ne Bestellung zum Verfahrenshelfer ausgeschlossen. Die Bestellung eines Konzipien-
ten oder einer Rechtsanwaltsgesellschaft kommt ebenfalls nicht in Frage.
12.22 Sofern es die konkreten Umstände des Falls erlauben;
754 kann das Gericht anstelle eines
Rechtsanwalts auch einen Gerichtspraktikanten zum Verfahrenshelfer bestellen. Erfasst
hiervon sind jedoch nur die Praktikanten des LG, nicht jedoch jene der Staatsanwalt-
schaft. 1755
Gesetzesmaterialien soll das Gericht dabei (auch) die Umstände berücksichtigen, dass in
Liechtenstein kein Anwaltszwang besteht, 1766 einfache Schriftsätze und Anträge von den
Parteien zu Protokoll gegeben werden können, den Richter eine Prozessanleitungspflicht
(§ 182 ZPO) trifft und im Außerstreitverfahren zudem der Untersuchungsgrundsatz
1767
gilt. In Anbetracht des verfassungsmäßig gewährleisteten Rechts auf wirksamen Zu-
gang zum Gericht und des Gebots der Waffengleichheit stehen solche Kriterien aber der
Beigebung eines Verfahrenshelfers nicht grundsätzlich entgegen.
12.28 Vor dem Hintergrund der strengen gesetzlichen Anforderungen an ein Rechtsmittel ist
im Rechtsmittelverfahren eher von einer schwierigen Rechtslage auszugehen und damit
die sachliche Notwendigkeit des Beizugs eines Rechtsanwalts idR gegeben; 1768 auch hier
sind aber die besonderen Umstände des Einzelfalls zu beachten. 1769
e) Bestellung
12.29 Wird ein Rechtsanwalt zum Verfahrenshelfer beigegeben, erfolgt dessen Bestellung
durch die Liechtensteinische Rechtsanwaltskammer. 1770 Der bestellte Rechtsanwalt ist
zur Übernahme des Mandats nach Maßgabe des Bestellungsbeschlusses verpflichtet; er
kann nur bei Vorliegen wichtiger Gründe die Übernahme des Mandats ablehnen bzw
1771
seine vorzeitige Enthebung beantragen. Durch die Bestellung eines Verfahrenshelfers
wird hingegen kein privatrechtliches Mandatsverhältnis (§§ 1002 ff ABGB) begründet. 1772
Es handelt sich um ein Rechtsverhältnis sui generis, das primär nach den relevanten
Bestimmungen der ZPO und des RAG zu beurteilen ist und auf das (nur) subsidiär die
§§ I002ff ABGB sinngemäß zur Anwendung gelangen.
12.30 Wird ein Gerichtspraktikant zum Verfahrenshelfer beigegeben, erfolgt dessen Bestellung
durch das LG. Hier gelten die im RAG vorgesehenen Gründe für die Ablehnung des
Mandats bzw vorzeitige Enthebung sinngemäß.
1766 Krit dazu StGH 2016/113 Erw 4.2.2 LES 2018, 23, wonach gleichwohl die Beigebung eines
Rechtsanwalts für die Gewährleistung des Rechts auf Zugang zum Gericht geboten sein kann.
Ebenso StGH 2014/61 Erw 5.3 LES 2015, 8 = GE 2015, 110, wonach infolge des Grundsatzes
der Waffengleichheit als wesentliches Element eines fairen Verfahrens (Art 6 Abs 1 EMRK)
die Beigebung einer professionellen Rechtsvertretung geboten sein kann.
1767 BuA 2016/69, 48. Vgl auch StGH 2013/5 Erw 2.5 GE 2013, 413; StGH 2010/121 Erw 4.3 GE
2014, 401.
1768 Vgl VGH 2015/68 Erw 3 GE 2015, 209; 2014/41 Erw 9 GE 2014, 416; StGH 2013/5 Erw 2.4 GE
2013, 413; VGH 2013/29 Erw 2 GE 2013, 439.
1769 BuA 2016/69, 57; vgl OGH SV.2018.3 LES 2018, 136.
1770 § 67 ZPO; Art 28 Abs 1 RAG. Bei der Bestellung ist nach festen Regeln vorzugehen, damit
eine möglichst gleichmäßige Heranziehung und Belastung der der Kammer angehörenden
Rechtsanwälte gewährleistet ist (Art 28 Abs 2 RAG).
1771 Art 29 Abs 2 RAG. Als wichtige Gründe gelten insb eine Interessenkollision (lit a) oder eine
tiefgreifende Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses, wenn dies sowohl von der Partei als
auch vom Rechtsanwalt geltend gemacht wird (lit b). Die Aufzählung in Abs 2 ist nicht ab-
schließend, sodass weitere Gründe denkbar sind, sofern sie nach Treu und Glauben eine Wei-
terführung des Mandats als unzumutbar erscheinen lassen und diese bei Vorliegen umgehend
dem Vorstand der Rechtsanwaltskammer angezeigt werden.
1772 BuA 2016/113, 24. AA OG 08 CG.2015.405 LES 2018, 152.
f) Entlohnung
Der Verfahrenshelfer hat Anspruch auf Entlohnung seiner Tätigkeit. Dieser Anspruch 12.31
bemisst sich nach dem geltenden, in Verfahrenshilfesachen jedoch reduzierten Tarif
des RATG. 1773 Die Berechnung des Vergütungsanspruchs gegenüber dem Staat 1774 rich-
tet sich nach Art 3 l RAG:
• Bis zum Streitwert von CHF 50.000,- werden die vollen Kosten gern Tarif ersetzt.
• Für den den Streitwert von CHF 50.000,- übersteigenden Streitwertteil erfolgt eine
Reduktion der Tarifkosten um 40%.
• Die Streitwertobergrenze beträgt CHF 300.000,-, bei ehe-, partnerschafts- und fami-
lienrechtlichen Verfahren CHF 50.000,-.
Der Ersatz der notwendigen (externen) Barauslagen erfolgt zusätzlich. 1775 12.32
Die Festsetzung der Höhe des Vergütungsanspruchs und des Barauslagenersatzes erfolgt 12.33
1776
durch das Prozessgericht erster Instanz mit Beschluss. Die Abrechnungsperiode
1777
dauert v 1.10. bis zum 30.9. des Folgejahrs. Zwischenabrechnungen sind in begrün-
1778
deten Fällen zulässig. Der Verfahrenshelfer hat seinen Kostenbestimmungsantrag für
eine Abrechnungsperiode jeweils spätestens binnen vier Wochen nach dem Ende der
Abrechnungsperiode beim Gericht einzureichen, andernfalls ist sein Entlohnungsan-
spruch für diese Periode verwirkt. 1779 Auf das Kostenbestimmungsverfahren in Zivilsa-
1780
chen ist die ZPO anwendbar.
1773 BuA 2015/112, 9. Die Entlohnung des Verfahrenshelfers nach Einzelleistungen ist nur dort
möglich, wo die Anwendung des Einheitssatzes zu unbilligen Resultaten führen würde (VGH
VB! 2001/95 LES 2002, 145).
1774 Der Vergütungsanspruch des bestellten Rechtsanwalts besteht gegenüber dem Land Liechten•
stein und nicht gegenüber dem Gericht (BuA 2016/69, 116; OG 08 CG.2015.405 LES 2018,
152).
1775 Die Abrechnung des Tarifs erfolgt mit Einheitssatz, der sämtliche internen Nebenleistungen
des Verfahrenshelfers abdeckt, wie etwa interne Kopierkosten, Porti, Gebühren für Telefona-
te, Besprechungen mit der Partei etc (BuA 2015/112, 27, 60). Die externen Barauslagen, wie
etwa Gebühren für Grundbuch- und Handelsregisterauszüge, Fotokopien des Gerichts oder
Übersetzungskosten, werden separat vergütet; sie sind in der Kostennote einzeln mit entspre-
chendem Nachweis aufzuführen (BuA 2015/112, 60).
1776 Art 31 Abs 3 RAG. Der Kostenbestimmungsbeschluss bindet die die Verfahrenshilfe genie-
ßende Partei nicht.
1777 Durch die Länge der Abrechnungsperiode sollte ein Gleichgewicht zwischen den Interessen
des bestellten Rechtsanwalts an einer regelmäßigen Abrechnung und den Interessen des Ge-
richts an einem möglichst geringen Arbeitsaufwand (durch Vermeidung mehrerer Abrech-
nungen pro Jahr) geschaffen werden (BuA 2016/69, 123).
1778 Die Gesetzesmaterialien nennen als Bsp für einen „begründeten Fall" die außerordentliche
Länge des Verfahrens (BuA 2016/113, 28), was allerdings in Anbetracht der ohnehin jährlich
bestehenden Abrechnungspflicht nicht überzeugt. Zu denken ist hier wohl eher an besonders
intensive Verfahren mit einer Vielzahl von Leistungen oder an den Anfall besonders hoher
Barauslagen.
1779 Art 31 Abs 3 RAG; BuA 2016/69, 120, 123.
1780 Auf das Kostenbestimmungsverfahren kommt die jeweilige Verfahrensordnung zur Anwen-
dung (Art 31 Abs 3 letzter Satz RAG; BuA 2016/69, 119).
12.34 Erbringt der Verfahrenshelfer seine Dienstleistungen für eine Partei mit Wohnsitz im
Ausland (exkl Schweiz), ist gern Rsp 1781 bei der Abrechnung gegenüber dem Land keine
Mehrwertsteuer auf den Vergütungsbetrag zu erheben.
12.35 Der Verfahrenshelfer hat indessen einen Vergütungsanspruch gegenüber der vertrete-
nen Partei selbst, wenn bzw soweit diese infolge Obsiegens vom Prozessgegner einen
Kostenersatz erhalten hat. 1782 Soweit die Entschädigung des Verfahrenshelfers infolge
Obsiegens nicht durch den Staat, sondern über die Parteientschädigung des Prozessgeg-
ners erfolgt, steht ihm der volle Tarif (ohne Reduktion) zu. 1783
1781 OG 08 CG.2015.405 LES 2018, 152 mHa die für die ZPO und das RAG geltende Rezeptions-
grundlage in Österreich. AA für die Schweiz: BGer 9.9.2015, BGE 141 IV 334; 22. 10. 2015,
BGE 141 III 560.
1782 Art 30 Abs I RAG; OG 08 CG.2015.405 LES 2018, 152. Der vertretenen Partei ist eine Dis-
position über ihren Kostenersatzanspruch untersagt (Art 30 Abs 2 RAG); infolge des Pfand-
rechts des Rechtsanwalts an der seiner Partei zugesprochenen Kostenersatzforderung besteht
für sie ein gesetzliches Aufrechnungs- und Verfügungsverbot (OGH 02 CG.2014.229 LES
2015, 171).
1783 Art 30 RAG; VGH VBI 2003/44 LES 2003, 27.
1784 Siehe dazu oben Rz 12.1 f.
1785 BuA 2016/69, 54f.
Datum der Einreichung des Antrags an das Gericht. 1786 Eine rückwirkende Gewährung
der Verfahrenshilfe ist nicht möglich.
Die Verfahrenshilfe gilt für das erstinstanzliche Verfahren sowie für das Rechtsmittel- 12.40
verfahren, namentlich bis zum rechtskräftigen Abschluss des ordentlichen Verfah-
rens.1787 Sie umfasst im Übrigen auch das innerhalb eines Jahres nach Verfahrensab-
schluss eingeleitete Exekutionsverfahren. 1788
12.44 Bei einer Gewährung der Verfahrenshilfe tritt die Unterbrechung des Fristenlaufs auch
dann ein, wenn die Partei, welche die Verfahrenshilfe beantragt, vor der Bestellunf des
Verfahrenshelfers schon durch einen frei gewählten Rechtsanwalt vertreten war. 179 Da-
rüber hinaus spielt es für die Fristunterbrechung keine Rolle, ob der Verfahrenshilfean-
trag schon vor Beginn oder erst während dem Lauf der Rechtsmittelfrist gestellt
wurde. 1792
12.45 Der Beschluss der Rechtsanwaltskammer über die Bestellung des Verfahrenshelfers ist
durch das erstinstanzliche Prozessgericht zuzustellen (§ 73 Abs 2 ZPO); (erst) mit dieser
gerichtlichen Zustellung des Bestellungsbeschlusses beginnt die Frist von neuem zu lau-
fen.1793
2. Zuständigkeit
12.47 Der Antrag auf Gewährung der Verfahrenshilfe ist beim Prozessgericht erster Instanz
einzubringen(§ 65 Abs l ZPO). Dies gilt auch für jene Fälle, in denen der Antrag erst im
Rechtsmittelverfahren gestellt wird; das Prozessgericht erster Instanz ist stets für die Be-
handlung des Antrags zuständig(§ 65 Abs 2 ZPO). 1795 Bei einem Kollegialgericht kommt
die Entscheidungskompetenz dem Vorsitzenden des Senats zu (§ 65 Abs 2 ZPO).
3. Zeitpunkt
12.48 Der Verfahrenshilfeantrag kann vom Kläger frühestens mit dem verfahrenseinleitenden
Schriftsatz, 1796 in den Fällen einer obligatorischen Aufforderung auch mit der Auffor-
derung, beim Prozessgericht eingereicht bzw protokolliert werden (§ 65 Abs I ZPO).
Eine solche Regelung ist (verfassungsrechtlich) unbedenklich. 1797 Damit werden einer-
seits eine bessere Grundlage und ein geeignetes Instrument für die Beurteilung der Ver-
fahrenshilfevoraussetzungen (Mutwilligkeit, Aussichtslosigkeit) durch das Gericht ge-
schaffen und andererseits werden die Rechtsanwälte zur Aufklärung ihrer Mandanten
vor der Antragstellung angehalten. 1798 Eine gesonderte Antragstellung vor Einleitung des
Hauptverfahrens ohne Beteiligung des Prozessgegners ist daher nicht mehr möglich. 1799
Der Beklagte kann den Verfahrenshilfeantrag frühestens mit der ersten Prozesshand- 12.49
lung beantragen (§ 65 Abs l ZPO). Als erste Prozesshandlung gilt hier der erste Schrift-
satz des Beklagten (zB Klagebeantwortung, Gegenäußerung etc). 1800
Der Antrag auf Verfahrenshilfe kann im Übrigen auch erst später im Verfahren gestellt 12.50
bzw wiederholt werden, etwa wenn die Voraussetzungen für ihre Gewährung erst später
eintreten. 1801
4. Form
Die Verfahrenshilfe ist entweder schriftlich oder zu Protokoll zu beantragen(§ 65 Abs l 12.51
ZPO). Wird der Antrag mit dem verfahrenseinleitenden Schriftsatz gestellt, sind die
Formvorschriften der §§ 74ff ZPO zu beachten. Das Vermögensbekenntnis ist mittels
des von der Regierung bzw dem LG herausgegebenen Formblatts einzureichen. 1802 Im
Übrigen ist der Antrag an keine besonderen formellen Voraussetzungen gebunden. 1803
5. Inhalt
Die Partei hat in ihrem Antrag die Gegenpartei und die Rechtssache bestimmt zu bezeich- 12.52
nen, für die Verfahrenshilfe begehrt wird(§ 66 Abs l ZPO). 1804 Die Partei ist angehalten,
bereits bei der Antragstellung schlüssige Anträge und Klagen und einleitende Schriftsätze
zu verfassen, die ein nachvollziehbares (Sach-)Vorbringen enthalten, aus dem sich der
geltend gemachte Rechtsanspruch ableiten lässt. 1805 Sofern der Beklagte Verfahrenshilfe
beantra t, hat er ausreichend darzulegen, aus welchen Gründen er die Prozessverteidigung
8
führt. 18 6 Der Antragsteller hat insofern eine Substantiierungspflicht hinsichtlich des
Fehlens der Mutwilligkeit und der Aussichtslosigkeit der Prozessführung. 1807 Die Voraus-
setzungen der Verfahrenshilfe müssen schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, begründet
und belegt werden. 1808 Eine solche Begründungspflicht ergibt sich im Übrigen bereits aus
den allgemeinen Anforderungen an Schriftsätze (§ 76 ZPO). 1809
Gleichzeitig mit dem Antrag hat die Partei ein aktuelles Vermögensbekenntnis vorzu- 12.53
legen (§ 66 Abs l ZPO). Dieses hat über die Vermögens-, Einkommens- und Familien-
verhältnisse Auskunft zu geben und darf nicht älter als vier Wochen sein. Soweit erfor-
1810
derlich, sind die entsprechenden Belege beizulegen. Als Vermögensbekenntnis ist das
von der Regierung bzw dem LG herausgegebene Formblatt 1811 zu verwenden.
12.54 Die Einreichung eines Vermögensbekenntnisses ist zwingend; sie kann nicht durch ande-
re Zeugnisse, eidliche Bekräftigungen der Mittellosigkeit oder mit Hinweis der Partei auf
ihre aus anderen Verfahren gerichtsbekannte Bedürftigkeit ersetzt werden. 1812 Diese Vo-
raussetzung gilt im Übrigen auch für Ausländer. 1813 Ist dem Verfahrenshilfeantrag kein
aktuelles Vermögensbekenntnis beigeschlossen, hat das Prozessgericht unter Setzung ei-
ner angemessenen Frist und mit entsprechender Belehrung einen Verbesserungsauftrag zu
erteilen (§ 66 Abs 2 ZPO). Bei Zweifel oder Unvollständigkeit kann es zudem Ergänzun-
gen oder Berichtigungen verlangen, weitere Belege anfordern sowie letztlich den Antrag-
1814
steller einvernehmen. Das Gericht hat keinen direkten Zugriff auf (Steuer-)Daten der
Partei und kann bzw darf sich diese Informationen somit nicht selber beschaffen. 1815
1810 Als Belege kommen sämtliche Dokumente und Unterlagen in Betracht, die im konkreten
Einzelfall vom Gericht zur Beurteilung der aktuellen wirtschaftlichen Verhältnisse der Partei
als notwendig erachtet werden (vgl BuA 2016/113, 19). Ein Anfordern der Kopie der Steuer-
erklärung bzw Steuerrechnung ist ebenfalls möglich, wobei aber zu bedenken ist, dass diese
nie aktuell ist, da sie sich auf das vorhergehende Steuerjahr bezieht (BuA 2016/113, 19).
1811 Verordnung v 5. 7. 1994 über den schriftlichen Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe
und über das Vermögensbekenntnis zur Erlangung der Verfahrenshilfe LGBl 1994/61. Im
Internet abrufbar unter www.gerichte.li/downloads;jsessionid=F55437 l 4DOD 1OC l 2D2FF368
F86D344A4 (abgerufen am 30. 4. 2019).
1812 StGH 2012/200 Erw 5.3 GE 2014, 242; OGH CO.2009.1 LES 2010, 286.
1813 OGH CO.2009.1 LES 2010, 286.
1814 StGH 2012/200 Erw 6.3 GE 2014, 242.
1815 BuA 2016/113, 20.
1816 StGH 2013/180 Erw 2.2 GE 2014, 432.
1817 BuA 2016/69, 62.
1818 Siehe dazu oben Rz 12.11-12.13.
1819 BuA 2016/69, 64.
1820 StGH 2013/95 Erw 3.3 und 3.4 GE 2014, 414.
Bestehen Bedenken gegen die Richtigkeit oder Vollständigkeit des Vermögensbekennt- 12.57
nisses, hat das Gericht die Unterlagen zu prüfen und/oder die Partei unter Setzung
einer angemessenen Frist zur Ergänzung des Bekenntnisses und/oder zur Beibringung
weiterer Unterlagen auffordern (§ 66 Abs 3 ZPO). Die Partei trifft insofern eine Nach-
weisobliegenheit;1821 sie hat die Voraussetzungen der Verfahrenshilfe (positiv) nachzu-
weisen. 1822 Das Gericht wiederum hat bei Bedenken der Partei Gelegenheit zur Ver-
besserung und Präzisierung ihres Antrags zu geben. 1823 Es kann der Partei etwa die
Einreichung der Steuererklärung auftragen. 1824 Das Vermögensbekenntnis und die Be-
lege unterliegen der freien Würdigung des Gerichts. 1825 Sofern die Partei den Verbes-
serungsaufträgen des Gerichts keine Folge leistet, ist § 381 ZPO sinngemäß anzuwen-
den. 1s26
Die Entscheidung über die Verfahrenshilfe ergeht in Form eines Beschlusses. Darin ist 12.58
insb auch der Tag festzusetzen, mit dem die Verfahrenshilfewirkungen eintreten. 1827
Das Verfahren über die Bewilligung der Verfahrenshilfe ist bis zur Beschlussfassung ein- 12.59
seitig. 1828 Dem Gegner kommt vor Beschlussfassung kein rechtliches Gehör zu. Der Be-
schluss über den Verfahrenshilfeantrag darf dem Gegner frühestens mit dem der Be-
schlussfassung nachfolgenden ersten Schriftsatz zugestellt werden. Ihm stehen sodann
die Möglichkeit zur Antragstellung auf Entziehung der Verfahrenshilfe (§ 68 Abs 2
ZPO) sowie das Rechtsmittel des Rekurses zu (§ 72 Abs 2 ZPO). 1829
7. Behördliches Zeugnis
Sofern eine Partei zur Erlangung der Verfahrenshilfe (im In- oder Ausland) ein behördli- 12.60
ches Zeugnis über ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse benötigt, ist hierfür
der Vorsteher jener Gemeinde zuständig, in dem die Partei ihren gewöhnlichen Aufent-
halt hat (§ 66bis ZPO).
8. Strafsanktion
Wer durch unrichtige oder unvollständige Angaben im Vermögensbekenntnis die Ver- 12.61
fahrenshilfe bzw einzelne Begünstigungen 1830 daraus erschleicht, hat nach§ 69 ZPO eine
Mutwillensstrafe von bis zu CHF 25.000,- zu bezahlen. 1831 Er schuldet überdies, vor-
behaltlich der Nachzahlungspflicht der Partei, die Gerichtsgebühren in zweifacher Hö-
he. Diese Sanktion ist das Pendant für die weitgehende Abhängigkeit des Gerichts von
den Angaben des Antragstellers; die unrichtigen Angaben müssen sich aber auf das Ver-
1832
mögensbekenntnis beziehen und nicht auf den Anspruchsgrund.
E. Beendigung
1. Tod einer Partei
12.62 Die Verfahrenshilfe erlischt mit dem Tod einer Partei (§ 68 Abs J ZPO). 1833
1831 Darüber hinaus kommen die Straftatbestände des Betrugs und der Fälschung eines Beweis-
mittels in Frage (BuA 2016/113, 22).
1832 BuA 2016/69, 67.
1833 § 35 ZPO ist insofern nicht anwendbar.
1834 BuA 2016/69, 65.
1835 Vgl BuA 2016/69, 67.
1836 BuA 2016/69, 65; vgl auch StGH 2012/99 Erw 3.1.1 ff GE 2013, 288.
1837 OG 03 CG.2013.352 LES 2014, 260; 06 NZ.2012.34 LES 2012, 119; OGH 10 CG.2002.25 LES
2003, 289.
1838 OG 03 CG.2013.352 LES 2014, 260, wonach auch dem bestellten Verfahrenshelfer die Pflicht
obliegt, von sich aus die Mutwilligkeit und Aussichtslosigkeit der (weiteren) Prozessführung
zu überprüfen und gegebenenfalls von sich aus einen Antrag auf Entziehung der Verfahrens-
hilfe zu stellen; ebenso OG 06 NZ.2012.34 LES 2012, 119.
jedoch nicht genutzt, muss von einer „willentlichen Nachlässigkeit" ausgegangen werden,
die es zu sanktionieren gilt. 1847 Dieser unmissverständliche gesetzgeberische Wille ist mit
Blick auf die Gewaltenteilung von den Gerichten zu respektieren. 1848 Vor der amtswegi-
gen Entscheidung über den Verfahrenshilfeentzug hat das Gericht der die Verfahrenshilfe
genießenden Partei jedoch Gelegenheit zu geben, zur Frage des Ratenzahlungsrückstands
Stellung zu nehmen. 1849
8. Verfahren
12.74 Im Zug des Verfahrens über das Erlöschen bzw den Entzug der Verfahrenshilfe kann das
Gericht die Parteien unter Setzung einer angemessenen Frist zur Beibringung eines neuen
Vermögensbekenntnisses und, soweit zumutbar, von Belegen auffordern (§ 68 Abs 3
ZPO). Vor der amtswegigen Entscheidung über den Verfahrenshilfeentzug hat das Ge-
richt der die Verfahrenshilfe genießenden Partei das rechtliche Gehör zu gewähren. 1851
9. Wirkungen
12.75 Im Hinblick auf die Kostentragung der Partei ist je nach Grund der Verfahrenshilfebeen-
digung zu differenzieren:
• Das Erlöschen der Verfahrenshilfe(§ 68 Abs l ZPO) erfolgt mit Wirkung ex nunc, also
( erst) ab dem Zeitpunkt des Beschlusses über das Erlöschen der Verfahrenshilfe. 1852
• Der Entzug der Verfahrenshilfe (§ 68 Abs 2 ZPO) erfolgt hingegen mit Wirkung ex
tune, also (rückwirkend) ab dem Zeitpunkt des Beschlusses über die Gewährung der
Verfahrenshilfe. 1853
12.76 Beim Erlöschen bzw Entzug der Verfahrenshilfe bleibt der bestellte Verfahrenshelfer
noch bis zum Eintritt der Rechtskraft des Beschlusses berechtigt und verpflichtet, für
die Partei zu handeln, sofern dies zum Schutz vor Rechtsnachteilen notwendig ist (§ 68
Abs 4 ZPO). Diese Regelung bezweckt, die Partei vor solchen Nachteilen zu schützen, die
dadurch entstehen können, dass sie infolge des Erlöschens oder der Entziehung der Ver-
fahrenshilfe plötzlich ohne Verfahrenshelfer dasteht, was insb bei laufenden Notfristen
von Bedeutung ist. 1854
Mit der Zustellung des Beschlusses, womit das Erlöschen bzw der Entzug der Verfahrens- 12.77
hilfe angeordnet wird, wird der Lauf der Frist zur Klagebeantwortung oder zur Erhebung
von Rechtsmitteln unterbrochen (§ 68 Abs 4 ZPO). Maßgebend ist die Zustellung des
Beschlusses an den Verfahrenshelfer. (Erst) mit Eintritt der Rechtskraft des Beschlusses
beginnt die volle Frist von neuem zu laufen.
derjahrs) auch einen Monat später (somit bis Ende Januar) noch nicht nachgekommen
ist. 1858 Diese gesetzliche Fiktion hat zur Folge, dass der gesamte noch zur Nachzahlung
ausstehende Betra~ fällig und durch die Beschlussfassung des Gerichts der Exekution
zugänglich wird. 18 9 Das Gericht hat bei Verfahrensabschluss in seiner Mitteilung auf
diese Säumnisfolgen hinzuweisen(§ 70b ZPO).
12.82 Die Partei trifft somit eine aktive Mitteilungspflicht, die mit den genannten Säumnisfol-
gen sanktioniert ist. Es ist nicht Sache des Gerichts, sich selbst (zB im Weg der Amtshilfe)
Informationen über die Vermögenslage der Partei zu beschaffen; es hat hierzu nur (aber
immerhin) der Partei die Beibringung weiterer Dokumente (zB Steuererklärung) aufzu-
tragen(§ 66 Abs 3 ZPO). 1860
12.83 Die Formulierung „nach Abschluss des Verfahrens" umfasst nach den Materialien
sämtliche Arten des Verfahrensabschlusses, namentlich ein rechtskräftiges Urteil, einen
gerichtlichen oder außergerichtlichen Vergleich, einen Rückzug der Klage sowie auch das
Ruhen des Verfahrens oder die Verfahrensunterbrechung. 1861 Nach der hier vertretenen
Ansicht ist jedoch hinsichtlich der beiden zuletzt genannten Arten zu präzisieren: Bei
einem Ruhen des Verfahrens und einer Verfahrensunterbrechung bleibt die Streitanhän-
gigkeit bestehen, sodass von einem „Abschluss des Verfahrens" iSv § 70 b ZPO erst dann
gesprochen werden kann, wenn aufgrund der Art des Unterbrechungsgrunds das Ver-
fahren nur auf Antrag einer Partei fortgesetzt wird und keine der Parteien innert ange-
messener Frist einen solchen Fortsetzungsantrag stellt.
G. Eintreibung/Nachzahlung/Rückzahlung
1. Mangel der Voraussetzungen
12.84 Entzieht das Gericht die Verfahrenshilfe (zur Gänze oder zum Teil), weil die seinerzeit
angenommenen Voraussetzungen tatsächlich nicht gegeben waren, hat die Partei die ihr
gewährten Begünstigungen(§ 64 Abs 1 ZPO) und über Antrag die restliche Entlohnung
des ihr zur Verfahrenshilfe beigegebenen Rechtsanwalts nach dem Tarifzu bezahlen(§ 68
Abs 2 ZPO). Über den Entlohnungsanspruch des Rechtsanwalts hat das Gericht mit Be-
schluss zu entscheiden.
pflicht geltend macht, so hat das Gericht bei ihrem Obsiegen gleichwohl von Amts wegen
die Zahlungspflicht der unterliegenden Partei auszusprechen. 1862
Ist der Gegner zum Kostenersatz verpflichtet, so ist bei der Kostenfestsetzung so vorzu- 12.87
gehen, als wäre der Verfahrenshelfer nicht vorläufig unentgeltlich tätig gewesen. Der
Kostenersatz ist demnach nach dem normalen Rechtsanwaltstarif und ohne die Sonder-
vorschriften des RAG über die Verfahrenshilfe (Streitwertbegrenzung) zu bemessen.
zwingend. In der Praxis wird dies aus Gründen der Rechtsklarheit jedoch regelmäßig im
Beschluss über die Verfahrenshilfebewilligung festgehalten. 1870
12.91 Ist die Partei mehr als drei Monate mit der Zahlung einer Rate im Rückstand, hat das
Prozessgericht die Verfahrenshilfe von Amts wegen zur Gänze zu entziehen (§ 70a
Abs 2 ZPO). Bei einer längeren zeitlichen Nichterfüllung der Ratenzahlungspflicht sieht
das Gesetz somit die strenge Sanktion des Verfahrenshilfeentzugs (ex tune) vor. 1871
12.92 Bei einer wesentlichen Änderung der für die Verfahrenshilfe maßgebenden Vermögens-,
Einkommens- oder Familienverhältnisse hat das Prozessgericht die zu zahlenden Raten
(auf Antrag der Partei) anzupassen {§ 70a Abs 3 ZPO). Das Instrument der Ratenanpas-
sung dient (auch) dazu, um eine Nichterfüllung (und damit letztlich einen Verfahrens-
hilfeentzug) zu vermeiden. 1872 Eine „wesentliche" Änderung der Verhältnisse liegt
dann vor, wenn nicht bloß eine geringfügige oder einmalige Änderung vorliegt, sondern
eine Änderung mit erheblichen Auswirkungen auf die Situation der Partei (zB auf ihren
notwendigen Unterhalt) für eine gewisse Dauer oder sogar dauerhaft eintritt. 1873
12.93 Von Ratenzahlungen kann gänzlich abgesehen werden, wenn diese nach Ansicht des
Prozessgerichts zur Deckung der Rückzahlungsbeiträge (§ 71 ZPO) oder aus sonstigen
Gründen nicht (mehr) erforderlich sind (§ 70a Abs 3 ZPO). So kann etwa von Raten-
zahlungen abgesehen werden, wenn die bereits einbezahlten Raten die angefallenen oder
noch zu erwartenden Kosten decken. 1874 Mit „aus sonstigen Gründen" werden Tatbe-
stände erfasst, die nicht Einkommens-, Vermögens- oder Familienverhältnisse betref-
fen. 1875
1870 ZB „ Von der Einhebung einer während des Verfahrens zu zahlenden monatlichen Rate wird
abgesehen."
1871 Siehe dazu oben Rz 12.75-12.77.
1872 BuA 2016/69, 72.
1873 BuA 2016/69, 72f.
1874 BuA 2016/69, 73.
1875 BuA 2016/69, 73.
1876 OG 3R PG.2016.96 LES 2018, 66.
1877 Darunter fällt jegliche Art des Verfahrensabschlusses, so etwa ein rechtskräftiges Urteil. ein
gerichtlicher oder außergerichtlicher Vergleich, der Rückzug der Klage oder eine Verfahrens-
unterbrechung (BuA 2016/69, 74).
1878 OG 3R PG.2016.96 LES 2018, 66.
zahlung dieser Beträge mit Beschluss zu beschließen (§ 71 Abs l ZPO). Über An-
trag1879 kann das Gericht sie sodann (an zweiter Stelle) auch zur Bezahlung der restli-
chen Entlohnung des Verfahrenshelfers nach dem (normalen) Rechtsanwaltstarif ver-
pflichten; zu ersetzen ist dem Verfahrenshelfer diesfalls also nicht bloß der reduzierte
Verfahrenshilfetarif, sondern auch der Restbetrag bis zum vollen Tarif: 880 Der Partei
kann die Nachzahlung auch in Raten bewilligt werden. 1881
In jedem Fall ist für die Nachzahlung der Verfahrenshilfebegünstigungen vorausgesetzt, 12.96
dass die Partei dadurch in ihrem notwendigen Unterhalt nicht beeinträchtigt wird. Dies
bedingt, dass sich ihre finanziellen Verhältnisse seit der Gewährung der Verfahrenshilfe
verbessert haben, wobei auch bereits erfolgte Teilzahlungen im Prozess oder Ansparmög-
lichkeiten seit Prozessbeginn berücksichtigt werden. 1882 Privatschulden der Partei werden
gegenüber der Nachzahlungsverpflichtung nicht bevorzugt behandelt. 1883
Im Rahmen der Verfahrenshilfereform wurde die Verjährungsfrist verlängert. 1884 Nach 12.97
der Neuregelung erlischt die Verpflichtung zur Nachzahlung der Verfahrenshilfebegüns-
tigungen nach Ablauf von zehn Jahren (statt bisher drei Jahren) seit Abschluss des Ver-
fahrens ( § 71 Abs l ZPO 1885 ). Voraussetzung für den Fristablauf ist jedoch, dass während
dieser Zeit jährlich ein Vermögensbekenntnis eingereicht wurde. Diese Einreichung hat
ohne Aufforderung jeweils auf das Ende des Kalenderjahrs zu erfolgen, damit das Gericht
über eine allfällige Rückerstattung der Verfahrenshilfe entscheiden kann. 1886 Ist einer
Partei die Stundung durch Ratenzahlunf ermöglicht worden, kann diese Stundung sogar
über die Zehnjahresfrist hinausgehen. 18
7
Bei im Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Verfahrenshilferechts bereits rechtskräftig 12.98
abgeschlossenen Verfahren richtet sich die Nachzahlungspflicht grundsätzlich noch nach
altem Recht und es kommt die dreijährige Verjährungsfrist des § 71 Abs l ZPO aF zur
Anwendung. Hiervon sind zwei Ausnahmen zu beachten. Einerseits beträgt die Frist zur
Nachzahlung ebenfalls zehn Jahre, sofern die im alten Recht vorgesehene dreijährige Frist
am l. l. 2017 noch nicht abgelaufen war. 1888 Andererseits findet§ 71 Abs 3 letzter Satz
ZPO aF keine Anwendung, wonach bei Unterlassen einer jährlichen Mitteilung das ent-
sprechende Jahr bei der Berechnung des Fristablaufs nicht mitgezählt wird. 1889 Auf die
am l. l. 2017 noch gerichtsanhängigen Verfahren findet das neue Recht Anwendung: 890
1879 Nach Abschluss des Verfahrens hat das Gericht den Verfahrenshelfer über seinen Beschluss
auf Nachzahlung durch die Partei zu informieren und ihm Gelegenheit zur Antragstellung zu
geben.
1880 BuA 2016/69, 79.
1881 BuA 2016/69, 76; OG 3R PG.2016.96 LES 2018, 66.
1882 BuA 2016/69, 79.
1883 BuA 2016/69, 79.
1884 BuA 2016/69, 16; BuA 2016/113, 24f.
1885 Die Bestimmung orientiert sich an Art 123 Abs 2 chZPO.
1886 BuA 2016/69, 80.
1887 BuA 2016/69, 76.
1888 Art II Abs 2 Z 1 Übergangsbestimmungen zu LGBI 2016/405.
1889 Art II Abs 2 Z 2 Übergangsbestimmungen zu LGBI 2016/405.
1890 Art II Abs 1 Übergangsbestimmungen zu LGBI 2016/405.
6. Uneinbringlicherklärung
12.101 Sofern der für die Nachzahlung der Verfahrenshilfe notwendige Aufwand in keinem
wirtschaftlichen Verhältnis zu den Beträgen steht oder sonstige unverhältnismäßige
Hindernisse dem entgegenstehen, kann der Landgerichtspräsident die nachzuzahlenden
Beträge für uneinbringlich erklären (§ 71 Abs 3 ZPO). Die Entscheidung darüber liegt
im Ermessen des Landgerichtspräsidenten. 1891 Unverhältnismäßig ist der Aufwand etwa
dann, wenn die finanziellen Aufwendungen für das Nachzahlungsverfahren (zB Über-
setzungskosten, Ausforschung der Person) höher sind als der einzubringende Be-
trag. 1892 Ein unverhältnismäßiges Hindernis ist anzunehmen, wenn der Exekutionstitel
im Ausland zu vollstrecken ist und dadurch ein unnötiger administrativer Aufwand
generiert wird. 1893
12.102 Mit der Uneinbringlicherklärung erfolgt allerdings kein Verzicht auf die Nachzahlungs-
forderung selbst, sondern lediglich ein Verzicht auf ihre Eintreibung; er ist bloß vorü-
bergehender Natur, denn aufgrund des Weiterbestehens der Forderung kann die Einbrin-
gung binnen der Zehnjahresfrist jederzeit wiederaufgenommen werden, wenn die ange-
nommenen Hindernisse weggefallen sind. 1894
H. Verfahren
1. Entscheidung des Prozessgerichts
12.103 Für sämtliche Entscheidungen über die Bewilligung, den Entzug und die Nachzahlung
der Verfahrenshilfe ist das Prozessgericht erster Instanz zuständig. 1895 Bei einem
Kollegialgericht entscheidet der Vorsitzende (§ 72 Abs I a ZPO). (Einzig) die Bestel-
lung des beizugebenden Rechtsanwalts erfolgt sodann durch die Rechtsanwaltskam-
mer.1896
2. Rechtsmittel
Die Beschlüsse über die Verfahrenshilfe sind mit Rekurs anfechtbar. Das Rekursrecht 12.106
1903
steht neben der die Verfahrenshilfe genießenden Partei auch dem Prozessgegner
1904
und dem bestellten Verfahrenshelfer zu (§ 72 Abs 2 ZPO). Dies soll die Kontroll-
möglichkeit verbessern und einen wirksamen Schutz gegen den Missbrauch der Verfah-
1905
renshilfe bieten. Der Prozessgegner und der bestellte Verfahrenshelfer können zudem
jederzeit das Erlöschen bzw die Entziehung der Verfahrenshilfe(§ 68 Abs I und 2 ZPO)
beantragen. 1906
1907 1908
Der Rekurs in Verfahrenshilfeangelegenheiten unterliegt nach Rsp und hL dem 12.107
Neuerungsverbot, und zwar und insb auch dann, wenn der Rekurswerber vor der Be-
schlussfassung nicht angehört wurde. Die Bemessungsgrundlage für den Zwischenstreit
über die Verfahrenshilfe bildet der (ungefähre) Kosten- und Gebührenaufwand, von dem
1897 Vgl StGH 2017/82 und 83 Erw 4.6.11 LES 2018, 84.
1898 BuA 2016/69, 90, wonach auch einseitige Vernehmungen zulässig sind.
1899 BuA 2016/69, 90, wonach das rechtliche Gehör des Prozessgegners durch seine nachträglichen
Rechtsbehelfe, namentlich sein Rekursrecht (§ 72 Abs 2 ZPO) und sein Recht, die Entziehung
der Verfahrenshilfe zu beantragen (§ 68 Abs 2 ZPO), gewahrt wird.
1900 Vgl OG 3R PG.2016.96 LES 2018, 66; StGH 2013/95 Erw 3.3 GE 2014, 414.
1901 StGH 2013/95 Erw 3.3 GE 2014, 414.
1902 BuA 2016/69, 90.
1903 Siehe dazu grundlegend StGH 2011/70 Erw 3.3 und 3.SfGE 2013, 248.
1904 Gegen Entscheidungen über die Höhe des Vergütungsanspruchs des bestellten Verfahrens-
helfers steht dem Prozessgegner und der die Verfahrenshilfe genießenden Partei jedoch kein
Rekursrecht zu, weil der Kostenbestimmungsbeschluss für diese keine Bindung entfaltet und
sie damit nicht beschwert sind; das Land Liechtenstein ist ebenfalls nicht rekurslegitimiert,
sondern nur als interessierte Partei in das Verfahren miteinzubeziehen (OG 08 CG.2015.405
LES 2018, 152).
1905 BuA 2016/69, 90; OGH 10 CG.2002.25 LES 2003, 289.
1906 OG 06 NZ.2012.34 LES 2012, 119; OGH 10 CG.2002.25 LES 2003, 289.
1907 OG 03 CG.2013.352 LES 2014, 260, wonach der Prozessgegner jederzeit einen Antrag auf
Entziehung der Verfahrenshilfe(§ 68 Abs 2 ZPO) stellen kann, wodurch sein rechtliches Ge-
hör gewahrt bleibt.
1908 Siehe dazu ausf M. Bydlinski in Fasching!Konecny 11/1 3 § 72 ZPO Rz 7 mwN; Klauser/Kodek,
JN/ZPO 18 E 9 ff.
die Partei mit ihrem Verfahrenshilfeantrag befreit werden will. 1909 Ein Rekurs hindert die
Fortsetzung des Hauptverfahrens nicht. 1910
12.108 Über Rekurse gegen Verfahrenshilfebeschlüsse entscheidet das OG endgültig und unter
Ausschluss des weiteren ordentlichen Rechtszugs (§ 72 Abs 3 ZPO). 1911 Diese Rechtsmit-
telbeschränkung dient der Beschleunigung des Verfahrens; 1912 sie gilt in sämtlichen Ver-
fahren, auf welche §§ 63 ff ZPO anzuwenden sind.
1. Übergangsbestimmungen
1. Verfahren
12.109 Auf die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verfahrenshilfereform am I. I. 2017 bereits
gerichtsanhängigen Verfahren ist das neue Recht anwendbar. 1913 Gerichtsanhängig ist
ein Verfahren dann, wenn die Kla~eschrift beim Gericht eingegangen ist, dem Beklagten
14
aber noch nicht zugestellt wurde. 1
2. Nachzahlung
12.110 Bei im Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Verfahrenshilferechts am 1. 1. 2017 bereits
rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren richtet sich die Nachzahlungspflicht grund-
sätzlich noch nach altem Recht und es kommt die dreijährige Verjährungsfrist des§ 71
Abs 1 ZPO aF zur Anwendung. Hiervon sind zwei Ausnahmen zu beachten:
12.111 Einerseits beträgt die Frist zur Nachzahlung ebenfalls zehn Jahre, sofern die im alten
Recht vorgesehene dreijährige Verjährungsfrist am 1. 1. 2017 noch nicht abgelaufen
war (Nichteintritt der Verjährung). 1915
12.112 Andererseits findet§ 71 Abs 3 letzter Satz ZPO aF keine Anwendung, wonach bei Unter-
lassen einer jährlichen Mitteilung das entsprechende Jahr bei der Berechnung des Frist-
1916
ablaufs nicht mitgezählt wird (keine Verjährungshemmung).
1909 OGH 08 CG.2008.259 LES 2013, 47 mwN, wonach es hierfür keiner Streitwertfestsetzung
bedarf; OGH 04 CG.2005.41 LES 2006, 236.
1910 StGH 2011/70 Erw 3.7 GE 2013, 248, wonach dem Rekurs keine aufschiebende Wirkung
zukommt (§ 492 ZPO) und er keine Partei dazu berechtigt, die Einlassung in den Rechtsstreit
oder die Fortsetzung der Verhandlung zu verweigern oder die Erstreckung von Fristen oder
die Verlegung von Tagsatzungen zu begehren (§ 73 Abs 1 ZPO).
19 l l Zulässig ist nach der jüngsten Rsp aber offenbar ein Revisionsrekurs gegen eine difforme
Entscheidung des OG über einen zuvor erhobenen Kostenrekurs (StGH 2016/64 Erw 2.3 ff
GE 2018, 245; StGH 2014/81 Erw 3.3 und 3.4 GE 2015, 148; StGH 2011/112 Erw 3.2 GE 2015,
170; anders noch OGH 08 CG.2008.259 LES 2013, 47). Siehe zur Zulässigkeit des Rechtsmit-
telausschlusses StGH 2014/20 Erw 4.2 GE 2014, 436; OGH 03 CG.2013.423 GE 2015, 56,
wonach auch eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung keinen weiteren Rechtszug eröffnet;
OGH CO.2011.4 GE 2014, 362; 04 CG.2010.179 GE 2012, 194.
1912 BuA 2016/69, 92.
1913 Art II Abs 1 Übergangsbestimmungen zu LGBl 2016/405.
1914 BuA 2016/69, 94.
1915 Art II Abs 2 Z 1 Übergangsbestimmungen zu LGBl 2016/405.
1916 Art II Abs 2 Z 2 Übergangsbestimmungen zu LGBl 2016/405.
Auf die am 1. 1. 2017 noch gerichtsanhängigen Verfahren findet das neue Nachzahlungs- 12.113
1917
recht gern § 71 ZPO und damit die zehnjährige Verjährungsfrist Anwendung.
B. Voraussetzungen im Einzelnen
1. Juristische Person bzw parteifähiges Gebilde
Nach neuem Recht kann auch juristischen Personen die Verfahrenshilfe bewilligt werden. 12.115
Darunter fallen sämtliche Arten von Verbandspersonen des PGR: Verein (Art 246ff
PGR), Aktiengesellschaft (Art 261 ff PGR), Kommanditaktiengesellschaft (Art 368ff
PGR), Anteilsgesellschaft (Art 375 ff PGR), Gesellschaft mit beschränkter Haftung
(Art 389 ff PGR), Genossenschaft (Art 428 ff PGR), Versicherungsvereine auf Gegensei-
tigkeit und Hilfskassen (Art 496ff PGR), Anstalten (Art 534ff PGR), Stiftungen (Art 552
§§ l ff PGR) und gemeinschaftliche Unternehmungen (Art 571 ff PGR).
Bei den Gesellschaften ohne Persönlichkeit und den besonderen Vermögenswidmun- 12.116
gen ist für die Frage der möglichen Gewährung von Verfahrenshilfe auf deren Rechts-
und Parteifähigkeit abzustellen. Die Kollektivgesellschaft (Art 689 ff PGR) und die Kom-
manditgesellschaft (Art 733 ff PGR) sind von Gesetzes wegen rechts- und parteifähig. 1925
1926 Art 649 Abs 4, Art 756 Abs 2, Art 768ff PGR iVm Art 649 Abs 4 PGR; Art 779 iVm Art 649
Abs 4 PGR.
1927 OGH 07 CG.2016.8 LES 2018, 296; Walser, Schiedsfähigkeit 549f.
1928 Anders noch unter der alten Rechtslage StGH 2014/104 Erw 2.5.3 LES 2015, 71, wonach das
Konkursverfahren primär einem wirtschaftlichen Zweck diene (Befriedigung der Gläubiger-
forderungen) und daher ein Verfahrenshilfeanspruch verneint wurde.
1929 Vgl StGH 2017/44 Erw 2.1 LES 2018, 13.
1930 Art 235 Abs 1 und 2 PGR.
1931 Vgl StGH 2017/44 Erw 2.1 LES 2018, 13.
1932 StGH 23.10.2009, 2008/2 Erw 3.2ff; 23.10.2009, 2008/118 Erw 2ff; 18.5.2010, 2010/19 Erw
1.2. Rsp bestätigt in StGH 25. 10. 2010, 2010/56; 30. 8. 2011, 2011/99; 30. 8. 201 I. 2011/100.
Siehe dazu ausf fehle, LJZ 2013, 32ff mit krit Würdigung 37ff.
1933 OG 07 HG.2015.216 LES 2017, 211; vgl auch OGH 09 CG.2015.397 GE 2018, 155.
1934 StGH 2008/2 Erw 3.2 GE 2010, 360; StGH 2008/118 Erw 2.2 GE 2010, 361; vgl Roth, Been-
digung 276.
liquide, 1942 die juristische Person ist jedoch nach wie vor deren Eigentümerin und kann
zur Bestreitung ihrer Verfahrenskosten sehr wohl auf sie zugreifen, nämlich indirekt
durch einen entsprechenden Antrag an das Gericht auf teilweise Freigabe der gesperrten
943
Vermögenswerte zur Bestreitung der Verwaltungs- und Rechtsvertretungskosten.1 Im
Rahmen der Behandlung dieses Antrags hat das Gericht eine verfassungskonforme Aus-
legung von § 97 a StPO bzw Art 275 EO vorzunehmen; diese Bestimmungen sind näm-
lich einerseits einer verfassungskonformen Auslegung zugänglich 1944 und sollen anderer-
seits gerade nicht die wirksame Ausübung des Beschwerderechts der juristischen Person
einschränken.1 945 Die dem Staat und dem Privaten durch das Verfügungsverbot über die
1946
gesperrten Vermögenswerte eingeräumte Dispositionsbefugnis wird durch die zu
beachtenden Grundrechte der juristischen Person derogiert. Dies entspricht letztlich auch
dem teleologischen Gedanken der Subsidiarität der Verfahrenshilfe. 1947 Der Staat soll
nur dort finanzielle Mittel für die Bestreitung der Prozesskosten bereitstellen, wo dies die
betroffene Partei nicht selber durch eigene Mittel tun kann. Sinn und Zweck der Ver-
fahrenshilfe ist es letztlich ja gerade, dass die Bedürftigkeit nicht (manipulativ) herbeige-
führt wird und in dieser Weise Prozesskosten un§erechtfertigterweise auf den Staat und
somit auf die Allgemeinheit überwälzt werden.1 94 Insofern eine juristische (oder natür-
liche) Person aufgrund vorhandener (aber gesperrter) Vermögenswerte an sich nicht „be-
dürftig" ist, kann bzw soll sie auch von vornherein nicht in den Genuss von Verfahrens-
hilfe kommen.
Die jüngste Praxis des OG 1949, für die Freigabe von gerichtlich gesperrten Vermögens- 12.125
werten zunächst einen (erfolglosen) Verfahrenshilfeantrag der betroffenen Partei zu ver-
langen, ist daher abzulehnen. Ein solcher Antrag stellt mangels Bedürftigkeit der Partei
einen prozessualen Leerlauf dar. Zudem ist ein solcher Antrag oftmals auch kein geeig-
netes Mittel zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes. 1950 Die primäre Freiga-
be von gesperrten Vermögenswerten zur Prozessführung ist nicht zuletzt aufgrund des
öffentlichen Interesses angezeigt, eine sparsame Bewirtschaftung der für die Zwecke der
Verfahrenshilfe zur Verfügung stehenden Mittel zu gewährleisten und einem Ausufern
von Verfahrenshilfefällen vorzubeugen. Nur wenn die juristische Person zur Bestreitung
ihrer (Rechtsvertretungs-)Kosten nicht - über einen entsprechenden Antrag - auf ein
noch vorhandenes (gesperrtes) Vermögen zugreifen kann, ist sie als mittellos anzusehen
und kann sie einen Antrag auf Verfahrenshilfe stellen.
Gleiches gilt iS der Rechtsgleichheit und aufgrund des Gesagten auch für natürliche 12.126
Personen. Das Pfandrecht des Staats (Kontensperre) bzw der Privaten (Drittverbot) ist
ganz generell als zum Recht auf Verteidigung bzw als zum Beschwerderecht der Partei
nachrangig anzusehen. 1951
Personen, denen aufgrund ihrer Rechtsbeziehung zur Partei ein wirtschaftlicher Vor-
oder Nachteil aus dem Ausgang des Prozesses entstehen kann. 1956 Nach den Gesetzes-
materialen ist auf das Vorliegen einer Nahebeziehung zwischen der Partei und dem wirt-
schaftlich Beteiligten abzustellen, infolge derer sich der Ausgang des konkreten Prozesses
auf die Vermögenssphäre nicht ganz unerheblich auswirkt und es auch aus diesem Grund
zumutbar erscheint, von dieser Person eine (Vor-)Finanzierung der Verfahrenskosten zu
verlangen. 1957 Abzustellen ist dabei stets auf den Ausgang des konkreten Verfahrens, für
das Verfahrenshilfe beantragt wird. Die Frage der Nahebeziehung und der „wirtschaft-
lichen Beteiligung" ist daher im Einzelfall zu beurteilen.
12.129 Als „wirtschaftlich Beteiligte" iSv § 63 Abs 2 ZPO gelten bei juristischen Personen und
-~·h·1gen G e b"ld 1958
parte11a 1 en etwa:
12.130 Nach den Gesetzesmaterialien sind bei Stiftungen, Trusts, Anstalten und Treuunter-
nehmen all jene Personen als wirtschaftlich Beteiligte anzusehen, denen aufgrund ihrer
Rechtsbeziehung ein wirtschaftlicher Vor- oder Nachteil aus dem Ausgang des Verfah-
rens entstehen kann; darunter fallen alle Begünstigte, also auch bloße Ermessensbegüns-
tigte.1959
12.131 Nach Ansicht der Regierung fallen selbst Gläubiger einer juristischen Person unter den
Begriff des „wirtschaftlich Beteiligten", da sich durch den erfolgreichen Prozessausgang
1960
der zur Verfügung stehende Haftungsfonds vergrößert bzw nicht verringert.
12.132 Auch Konkursgläubiger sind als wirtschaftlich Beteiligte anzusehen, 1961 wenn sie vom
Prozessausgang (zB Anfechtungsprozess) wesentlich betroffen sind bzw wenn ihnen aus
dem Prozessausgang ein wesentlicher Vermögensvorteil erwachsen kann (zB wenn bei
1962
einer erfolgreichen Anfechtungsklage der Masse erhebliche Beträge zutließen). Es
kommt nicht darauf an, ob diese bereit sind, die voraussichtlichen Prozesskosten zu tra-
1963
gen, sondern darauf, ob sie objektiv in der Lage sind, zu dieser Summe beizutragen.
Dabei ist (in Absolutbeträgen) ein Vergleich zwischen den zu erwartenden Verfahrens-
kosten und der erzielbaren Vergrößerung der Masse bzw des Anteils des jeweiligen Gläu-
.
b1gers anzuste II en. 1964
In jedem Fall hat das Gericht bei der Beurteilung der Zumutbarkeit eine Prüfung der 12.133
Verhältnismäßigkeit zwischen den vom wirtschaftlich Beteiligten voraussichtlich zu
übernehmenden Verfahrenskosten und dem bei Prozesserfolg für ihn zu erwartenden
Vermögensvorteil vorzunehmen. Je geringer sein wirtschaftliches Interesse oder seine
Beteiligung an der prozessführenden Partei ist, desto geringer ist grundsätzlich auch seine
wirtschaftliche Betroffenheit durch den Prozess. Eine Person kann demnach nur dann als
.,wirtschaftlich Beteiligter" angesehen werden, wenn der durch den Prozess für ihn kon-
kret zu erreichende Vorteil seine Vermögenssphäre nicht unverhältnismäßig geringer
berührt als die Übernahme der zu erwartenden Verfahrenskosten. 1965 Zu fragen ist da-
nach, ob dieser Person die Übernahme der Verfahrenskosten in Ansehung des für ihn zu
erwartenden wirtschaftlichen Vorteils zumutbar ist. 1966 Dies gilt insb bei Gesellschaftern
mit einer Minderheitsbeteiligung, aber wohl auch bei einer Vielzahl von (Ermessens-)
Begünstigten einer Stiftung oder eines Trusts.
• Gefahr von erheblichen Rechtsnachteilen für die hinter der juristischen Person ste-
henden natürlichen Personen im Fall der Verweigerung der Verfahrenshilfe; 1980
• ob es sich bei der eingeklagten Forderung um das einzige Aktivum der juristischen
Person handelt; 1981
• Art der juristischen Person, ihre Funktion und Zielsetzung; 1982
• öffentliches Interesse an einer sparsamen Bewirtschaftung der für die Zwecke der
Verfahrenshilfe zur Verfügung stehenden Mittel.
In jedem Fall hat das Gericht eine abwägende Gesamtbeurteilung vorzunehmen, bei der 12.139
dem betroffenen Grundrecht der juristischen Person auf Zugang zum Recht angemessen
Rechnung zu tragen ist. 1983
C. Weitere Bestimmungen
Auf die Verfahrenshilfe für juristische Personen sind im Übrigen die Bestimmungen der 12.140
§§ 63 bis 73 ZPO sinngemäß anwendbar, wobei jeweils auf das Wesen der juristischen
Person Bedacht zu nehmen ist. Insofern kann auf die Ausführungen in Rz 12.1- 12.113
verwiesen werden. (Auch) betreffend die Rückzahlungsverpflichtung gelten für juristi-
sche Personen dieselben Bestimmungen wie für natürliche Personen; so wurde etwa
von einer Verlängerung der Verjährungsfrist für juristische Personen bewusst Abstand
genommen. 1984
1980 Bei der Durchsetzung von Rechtsansprüchen einer Verlassenschaft ist auf die Lage der po-
tenziellen Erben abzustellen (StGH 2017/44 Erw 4.1 LES 2018, 13).
1981 StGH 2014/104 Erw 2.5.2 LES 2015, 71; StGH 2014/61 Erw 4.4.2 LES 2015, 8 = GE 2015, 110
mVa BGer 16. 8. 1993 BGE 119 Ja 337 E 4b.
1982 So liegt etwa bei Vereinen auch das gerichtliche Einstehen für ihre ideellen Zwecke durchaus
im öffentlichen Interesse (StGH 2014/104 Erw 2.5.2 LES 2015, 71 mVa StGH 2010/63
Erw 4.4).
1983 StGH 2016/113 Erw 4.3 LES 2018, 23; bestätigt in StGH 2017/44 Erw 3.3 LES 2018, 13.
1984 BuA 2016/69, 78f.
Übersicht
Rz
I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.1
II. Zu den einzelnen Bestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3
A. Sprachliche Abweichungen von der Rezeptionsvorlage . . . . . . . . . . 13.3
B. Anmerkungen und inhaltliche Abweichungen von der Rezeptionsvor-
lage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4
1. § 126 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4
2. § 127 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.7
3. § 128 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.11
4. § 129 ZPO ....................................... 13.17
5. §§ 130 bis 133 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.19
6. § 134 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.20
7. §§ 135 bis 140 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.25
8. § 141 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.27
9. §§ 142, 143 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.29
10. § 221 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.31
11. § 222 ZPO ....................................... 13.39
12. § 223 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.40
13. § 224 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.42
14. § 225 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.50
III. Exkurs - Gerichtsferien in andere Verfahrensarten . . . . . . . . . . . . . . 13.53
IV. Tabellarische Aufstellung von Fristen der JN, des GOG und der ZPO . 13.57
1. Allgemeines
Die Bestimmungen über Fristen und Tagsatzungen ( 1. Teil, 2. Abschnitt, 3. Titel der 13.1
ZPO, §§ 123 bis 143) und über Sonntagsruhe und Gerichtsferien (1. Teil, 3. Abschnitt,
8. Titel der ZPO, §§ 221 bis 225) stimmen weitgehend mit der Rezeptionsvorlage über-
ein, sodass grundsätzlich auf die dazu in Österreich vorliegende Lit bzw ergangene Judi-
katur verwiesen werden kann.
Was die ZPO in Bezug auf Fristen und Tagsatzungen einschließlich der Sonntagsruhe 13.2
(nicht jedoch in Bezug auf Gerichtsferien) regelt, gilt gern Art 23 Abs 1 AussStrG (mit
1985
Ausnahme von § 142 ZPO), Art 51 EO, Art 1 Abs 2 KO, Art 46 Abs 1 LVG und
Art 38 Abs 1 StGHG (iVm Art 46 Abs l LVG) jeweils auch für jene Verfahren.
1985 VB! 1996/030 LES 1997, 163; gilt jedoch nicht für das Verwaltungsstrafverfahren (IV. Haupt-
stück des LVG) - auf dieses sind in Bezug auf Fristen gern Art 154 Abs I LVG die Bestim-
mungen der StPO, und zwar in der jeweils geltenden Fassung (VGH 2017/111 LES 2018, 32 =
GE 2017, 220), sinngemäß anzuwenden.
1986 LGBI 1964/29; Art 84 Abs 1 UVersG, Art 72 Abs 3 Wechselgesetz und Art 55 Abs 3 Scheck-
gesetz sind damit überflüssig.
1987 G v 27.11.1896, womit Vorschriften über die Besetzung, innere Einrichtung und Geschäfts-
ordnung der Gerichte erlassen werden (Gerichtsorganisationsgesetz - GOG), RGBl 1896/217.
1988 RIS- Justiz RS0007053 und RS0041682. Vgl dazu jedoch die abweichende Rechtslage in der
Schweiz: Da Art 143 Abs I chZPO ausdrücklich vorsieht, dass die Frist ua dann eingehalten
wird, wenn die Eingabe spätestens am letzten Tag der Frist zu Handen der "Schweizerischen
Post" übergeben wird, genügt eine Postaufgabe im Ausland - .,vorbehaltlich des Fürstentums
Liechtenstein und abweichender staatsvertraglicher Regelung" - nicht (BGer 4A_399/2014,
Erw 2.2 ua).
1989 Art 2 Abs 2 PGR, Art 2 Abs 2 SR.
sondern auch durch schweizerische Elemente bereichert und befruchtet worden ist. Das
schweizerische Bundesgericht hat aber, soweit die Rechtzeitigkeit einer Klagserhebung
zu beurteilen war, seit jeher keinen Unterschied zwischen der Einhaltung einer prozess-
rechtlichen oder einer materiell-rechtlichen Frist gemacht. [... ] Was aber auf Grund
durchaus vergleichbarer Normen in der Schweiz seit Jahrzehnten unangefochten Rech-
tens ist, kann daher mit dem von Liechtenstein übernommenen österreichischen
Rechtsgut nicht in einem unlösbaren Widerspruch stehen, dies umso weniger, als die
Schweizer Lösung in höherem Masse der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit dient als
die auch von österreichischen Autoren als strittig bezeichnete österreichische Lö-
sung."2001
2. § 127 ZPO
13.7 § 127 öZPO, der wortwörtlich mit § 127 ZPO übereinstimmte, wurde in Österreich mit
der öZVN 1983 2002 ersatzlos aufgehoben. 2003 Diese Bestimmung ist nur dann von Be-
deutung, wenn mehrere Streitgenossen keinen gemeinsamen Zustellungsbevollmäch-
tigten oder Prozessbevollmächtigten haben. 2004 Die Regelung steht im Interesse der
Einheitlichkeit und Übersichtlichkeit des Verfahrens. 2005 Maßgeblich ist, dass durch die
Frist (gemeint sind alle Arten von prozessualen Fristen) allen Streitgenossen dieselbe
2006
Prozesshandlung eröffnet wird. Die ersatzlose Aufhebung dieser Bestimmung wur-
de in der österr Regierungsvorlage wie folgt begründet: 200 ' .,Die Regelung, dass bei
verschiedenem Beginn des Laufs einer Frist gegen mehrere Streitgenossen allen die
zuletzt ablaufende Frist offenstehe, hat sich nicht bewährt. Sie hilft denjenigen, gegen
die die Frist läuft, kaum und erzeugt im Übrigen bestenfalls Unsicherheit, in vielen
Fällen Schwierigkeiten: Da der Fall der Verschiedenheit des Fristenlaufs praktisch nur
eintreten kann, wenn Streitgenossen keinen gemeinsamen Vertreter haben, kennt jeder
von ihnen nur seinen eigenen Fristenlauf verlässlich, er kann sich daher darauf, dass
die Frist für einen anderen später abläuft, ohnedies nicht verlassen (Fasching, Kom-
mentar II 674). Unsicherheit schafft die Bestimmung insofern, als fraglich ist, auf wel-
che Fristen sie überhaupt anzuwenden ist (vgl. den Meinungsstreit, ob die Bestimmung
nur für materielle oder auch für formelle Streitgenossen und ob sie auch für Einwen-
dungen gegen einen Wechselzahlungsauftrag gilt, dargestellt bei Pfersmann, Bemer-
kenswertes aus der SZ XXXVI, ÖJZ 1966, 533, 539). Schwierigkeiten ergibt die Bestim-
mung, wenn eine Entscheidung - etwa ein Versäumungsurteil - einem von mehreren
2001 OGH 04 C 12/82-13 LES 1984, 42 (bestätigt durch OGH 05 C 505/92-82 (A) LES 1996, 93).
2002 BGB! 1983/135.
2003 Seit Aufhebung gilt in Ö: Der Lauf der Rechtsmittelfristen ist für jeden Teilgenossen einer
einheitlichen Streitpartei gesondert zu beurteilen. Die Rechtsmittelfristen laufen für jeden
dieser Streitgenossen gesondert an und ab, aber werden durch das rechtzeitige Handeln auch
nur eines Streitgenossen gewahrt. Der untätige Streitgenosse ist an den Antrag und an eine
eventuelle Rücknahme des Rechtsmittels durch den tätigen gebunden. Das rechtzeitige
Rechtsmittel des Streitgenossen entfaltet Wirkung auch zugunsten des Untätigen (RIS-Justiz
RWZ000005 l ).
2004 Fasching Il 1 674.
2005 Fasching II' 673.
2006 Fasching II' 673.
2007 ErläutRY 669 BlgNR 15. GP 49f.
Streitgenossen nicht zugestellt werden kann. Das Urteil wird dann auch gegen die
anderen Streitgenossen nicht rechtskräftig, der Kläger bekommt keinen vollstreckbaren
Titel (vgl. die Schwierigkeit, die sich aus einer ähnlichen Regelung des geltenden § 9
Abs l MahnG ergibt, dargestellt von Reindl im Artikel „Mahnverfahren" im Rechts-
lexikon, 6)".
Die Frage, auf welche Streitgenossen diese Bestimmung anzuwenden ist, wurde vom 13.8
öOGH allerdings dahingehend geklärt, dass sie nur auf materielle Streitgenossen anzu-
wenden ist. 2008
Praktische Bedeutung hat diese Bestimmung in der liechtensteinischen Rechtspraxis der- 13.9
zeit kaum, weil (va wenn es um höhere Streitwerte geht) fast immer rechtsanwaltliche
Vertretung gegeben ist und die Zustellung an Rechtsanwälte im Inland im Regelfall oh-
2009
nedies immer am selben Tag erfolgt.
Zu einer Verkürzung der dem Nebenintervenienten zur Erhebung eines Rechtsmittels 13.10
offen stehenden Frist (bei früher erfolgter Zustellung an die Hauptpartei) führt § 127
ZPO jedoch keinesfalls. 2010
3. § 128 ZPO
§ 128 ZPO stimmt wortwörtlich mit der Rezeptionsvorlage überein. 13.11
2011
Die Verlängerung von Notfristen ist ausgeschlossen. Dazu sei allerdings angemerkt, 13.12
dass die Verlängerung von ebenfalls Notfristen darstellenden Rechtsmittelfristen in Straf-
verfahren vom OGH in Ausnahmefällen (insb dann, wenn zufolge einer zu kurzen Frist
eine Konventionsverletzung drohen würde) für zulässig angesehen wird. 2012
Auch die nach § 279 ZPO gesetzte Frist (.,Beweisbefristung") 2013 oder die gern § 60 ZPO 13.13
zum Kautionserlag offen stehende Frist 2014 kann nach § 128 Abs 2 ZPO verlängert wer-
den (ausf dazu Rz 11.91).
Die Kosten für die Äußerung zum Fristverlängerungsantrag sind dem Antragsteller 13.14
aufzuerlegen. Die Honorierung erfolgt nach TP 1 RATV. 2015
§ 128 Abs 3 ZPO, wonach vor Bewilligung der wiederholten Verlängerung einer Frist 13.15
(außer im Fall einverständlicher Antragstellung beider Parteien) der Gegner einzuver-
nehmen ist, wurde vom OGH dahingehend ausgelegt, dass damit nach dem klaren Wort-
laut des Gesetzes das mehrfache (mehrmalige) Stellen eines Antrags auf Erstreckung ei-
2016
ner Tagsatzung gemeint ist, während der StGH die Auffassung vertritt, dass grund-
- - - - - - - - - - - · · ---
2008 RIS-Justiz RS0035465.
2009 Dienstleistungserbringende europäische Rechtsanwälte haben gern Art 82 RAG einen inlän-
dischen Rechtsanwalt als Zustellbevollmächtigen namhaft zu machen.
2010 OG 03 C 205/75 ELG 1973, 187/2.
2011 OGH 09 KO.2008.366 LES 2010, 138 = GE 2010, 535.
2012 OGH 08 Vr 17/91 KG 2001 LES 2002, 243.
2013 OGH 06 C 373/91 LES 2007, 507.
2014 OGH 02 CG.2003.160 LES 2005, 378; EFTA-GH 17.12.2010, E-5/10, Kottke, Rn 50 und 52,
LES 2011, 5 (7 li Sp) (Walser).
2015 OGH 05 C 109/99-57 LES 2000, 91.
2016 OGH 03 C 148/98-27 LES 1999, 307 und 01 CG.2008.383 GE 2010, 233.
4. § 129 ZPO
Der Bestimmung des § 129 ZPO kommt insgesamt kaum praktische Bedeutung zu. 13.17
Interessant ist, dass der letzte Satz von § 129 Abs 2 ZPO in Österreich mit der GEN 13.18
1914 2025 ersatzlos gestrichen wurde. Dass demjenigen, dem die betreffende Frist über
Antrag seines Gegners verkürzt werden soll, 202 (wie nach der öZPO) kein Anhörungs-
recht zustehen soll, ist jedoch mit einem modernen Grundrechtsverständnis kaum ver-
einbar und würde auch vor dem StGH nicht Bestand haben.
6. § 134 ZPO
2027
Bei Beurteilung der Vertagungs- oder Erstreckungsgründe des § 134 Abs l Z l ZPO 13.20
ist ein subjektiver Maßstab zur Beurteilung der Frage, ob ein unübersteigliches oder
doch sehr erhebliches Hindernis vorliegt, anzulegen 2028 und zudem jeweils zu prüfen,
ob die Partei durch die Verweigerung der Vertagung/Erstreckung einen unwiederbring-
lichen Schaden erleiden würde. Oder wie es der OGH sehr anschaulich formuliert hat:
Bei der Erstreckung von Tagsatzungen ist zwar ein strenger Maßstab anzulegen, dem
Gericht aber doch genügend Spielraum einzuräumen, um allen Verfahrenskonstellatio-
nen Rechnung zu tragen, in denen die Absetzung einer Tagsatzung dem Verfahrensfort-
gang weniger schädlich ist als deren Durchführung. 2029 Zweifelt das Gericht am Vorhan-
densein der im Fristverlängerungsantrag angeführten Gründe, hat es die antragstellende
Partei vor der Verwerfung ihres Antrags aufzufordern, die in Betracht kommenden Be-
scheinigungsmittel vorzulegen. 2030 Die Abweisung eines Antrags auf Erstreckung einer
Tagsatzung hat gern §§ 427, 428 ZPO mit begründetem Beschluss zu erfolgen, der eine
Belehrung über die Rechtsmittelmöglichkeit und (insb bei unvertretenen Parteien) eine
Belehrung über die Möglichkeit, die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung für das
einzubringende Rechtsmittel beantragen zu können, zu enthalten hat. 2031
So wurden als Erstreckungsgründe anerkannt: die Bettlägerigkeit der Partei zufolge 13.21
schwerer Erkrankung 2032 oder das Vorliegen konkreter Anhaltspunkte dafür, dass der (Ge-
gen-)Partei möglicherweise die Prozessfähigkeit mangeln könnte (mögliche Interessenkol-
lision, die die Bestellung eines Kollisionskurators nach sich ziehen würde, weshalb es unter
dem Aspekt der Prozessökonomie vorteilhafter sei, eine Tagsatzung abzusetzen, als sie
durchzuführen und dabei Gefahr zu laufen, damit einen nichtigen Verfahrensschritt zu
setzen). 2033 Auch bei einer mehrpersonalen Rechtsanwaltskanzlei genügt es, wenn (bloß)
der mit der betreffenden Causa betraute Rechtsanwalt abwesend ist und die Sache (etwa
wegen ihres Umfangs, ihrer Schwierigkeit oder aus sonstigen erheblichen Gründen) nicht
von einem anderen in dieser Kanzlei tätigen Rechtsanwalt verrichtet werden kann und die
Partei dadurch einen nicht wieder gutzumachenden Schaden erleiden würde. 2034
13.22 Nicht ausreichend war hingegen, dass ein Rechtsanwalt seiner Partei die Vollmacht so
zeitgerecht vor dem nächsten Streitverhandlungstermin aufkündigte, dass für die Partei
noch genügend Zeit für die Bevollmächtigung eines anderen Rechtsanwalts bestand, das
Nichterscheinen eines von mehreren Zeugen oder die Autopanne, die eine Partei am
rechtzeitigen Erscheinen hinderte. 2035 Dass Vergleichsgespräche geführt werden, reicht
im Regelfall ebenfalls nicht aus. 2036
13.23 Eine liechtensteinische Eigenschöpfung stellt der mit dem Nachtrags-Gesetz 1924 2037
eingefügte § 134 Abs 2 ZPO dar. In den hier genannten Fällen ist eine Prüfung (wie in
Abs l) nicht erforderlich: Die Vertagung/Erstreckung hat nämlich zwingend (arg
„mussu) dann stattzufinden, wenn die Partei oder ihr Vertreter in amtlicher Eigenschaft
im Landesdienste oder als Vorsteher (selbstverständlich auch als Bürgermeister der Ge-
meinde Vaduz) in Gemeindeamtssachen am Erscheinen verhindert ist. Die Tätigkeit „in
amtlicher Eigenschaft im Landesdienste" umfasst nicht nur „Beamte" (nunmehr: Staats-
angestellte iSv Art l Staatspersonalgesetz2038 ), sondern auch Mitglieder der Regierung
(samt Stellvertretern), des Landtags (samt stellvertretenden Abgeordneten), von besonde-
ren Kommissionen und Beschwerdekommissionen iSv Art 78 Abs 2 und 3 LV und Rich-
ter sämtlicher Gerichte (Art 95 Abs 1 LV) - Letzteres ist besonders von Bedeutung, da
zahlreiche Rechtsanwälte als Richter des StGH, des VGH und des OGH amtieren. Der
Verhinderungsgrund (zB Landtagssitzung, Teilnahme als Richter an der Sitzung oder
Verhandlung eines der erwähnten Gerichte) ist zu behaupten und gegebenenfalls zu be-
scheinigen, da sich§ 135 Abs l Satz 2 ZPO auf alle Fälle des§ 134 ZPO bezieht. Im Re-
gelfall reicht die bloße Behauptung allerdings aus. Möglichen Missbräuchen kann durch
Erstattung einer Sachverhaltsmitteilung an die jeweils vorgesetzte Stelle (Regierung,
Landtagspräsident, Gerichtspräsident) begegnet werden. Das Gericht hat hier die subjek-
tive Zumutbarkeit und auch die Frage des unwiederbringlichen Schadens nicht zu prüfen,
sondern bei Behauptung (und allenfalls Bescheinigung) des Vorliegens des Hinderungs-
grunds dem Vertagungs-/Erstreckungsantrag zu entsprechen.
Nicht unter diese (Ausnahme-)Bestimmung fällt die Tätigkeit als Gemeinderat oder im 13.24
Rahmen einer - wenn auch staatsnahen - juristischen Person iSv Art 78 Abs 4 LV. Hier
gelten die allgemeinen Bestimmungen (§ 134 Abs l Z I ZPO).
8. § 141 ZPO
Die erste Verlängerung einer Frist kann durch ein Rechtsmittel nicht angefochten wer- 13.27
den, sofern die bewilligte Fristverlängerung die Dauer der ursprünglichen Frist und die
bewilligte Erstreckung der Tagsatzung die Dauer von vier Wochen nicht überschreitet. 2040
Mit dem durch die ZPO-Nov 2018 2041 neu eingefügten § 141 Abs 2 ZPO wird iS der 13.28
Beschleunigung und Vereinfachung des Verfahrens, welches durch den Zwischenstreit
über die Fristverlängerung bzw Erstreckung einer Tagsatzung nicht unverhältnismäßig
verzögert werden soll, bestimmt, dass das OG über zulässige Rekurse in jedem Fall end-
gültig entscheidet. Dies bedeutet, dass die Rekursentscheidung des OG nunmehr auch
dann, wenn damit dem Rekurs (teilweise) stattgegeben wird, nicht mehr wie bis anhin
gestützt auf§ 496 Abs l ZPO zufolge Vorliegens difformer erst- und zweitinstanzlicher
Entscheidungen mit Revisionsrekurs zum Obersten Gerichtshof angefochten werden
kann. 2042 Diese Rechtsmittelbeschränkung findet keine Anwendung auf die bereits vor
2043
dem l. l. 2019 gefällten Entscheidungen.
nik erleichtert die Heranziehung von Lit und Judikatur, die zur Rezeptionsvorlage ergan-
gen ist, ungemein und erweist sich somit als sehr praxisfreundlich. 2045
2045 Vgl die Kritik von Ungerank (Anm 3 zu OGH 06 PG.2016.142 LES 2017, 153) an der sich
nicht an diese anwenderfreundliche Herangehensweise bei der Rezeption haltenden, mit 1. 1.
2015 erfolgten Novellierung des Kindschaftsrechts.
2046 Österr Bundesgesetz v 31. 5. 1967 über das Ruhen des gerichtlichen Dienstes an Samstagen,
Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen, öBGBI 1967/193.
2047 LGBI 1964/29.
2048 Nach § 25 Abs 3 der öGeo für die Gerichte 1. und II. Instanz, BGBI 1951/264 idgF, gelten als
Feiertage iSd §§ 100, 126 und 221 öZPO, des § 30 öEO und des § 84 öStPO die im Feier-
tagsruhegesetz genannten Feiertage. Dieses (Feiertagsruhegesetz 1957, BGBI 1957/153 idgF)
nennt in seinem Art I § 1 als Feiertage: 1. 1. (Neujahr), 6. 1. (Heilige Drei Könige), Ostermon-
tag, 1. 5. (Staatsfeiertag), Christi Himmelfahrt, Pfingstmontag, Fronleichnam, 15.8. (Mariä
Himmelfahrt), 26. 10. (Nationalfeiertag), 1. 11. (Allerheiligen), 8. 12. (Maria Empfängnis),
25. 12. (Weihnachten), 26. 12. (Stephanstag).
2049 LTP v 2./3. 5. 2018, 683 f.
2050 LTP v 2./3. 5. 2018, 910; idS auch BuA 2018/19, 92.
2051 Vernehmlassungsbericht der Regierung v 3. 12. 2019, LNR 2019-1629, www.llv.li/files/srk/
vnb_hemmung-fristenablauf.pdf (abgerufen am 3. 2. 2020).
Was sind nun derzeit „Feiertage im Sinne des Gesetzes"? Diese Frage lässt sich in Er- 13.33
mangelung einer entsprechenden Verordnung nicht so leicht beantworten.
• Zunächst verweist Art 19 Abs 2 LV, der jedoch ohnedies einen anderen Regelungsge-
halt hat, auch nur darauf, dass der Sonntag und die „staatlich anerkannten Feiertage"
öffentliche Ruhetage sind, definiert diese jedoch nicht weiter.
• Das Europäische übereinkommen über die Berechnung von Fristen 2052 ist gern des-
sen Art 1 Abs l auf die Berechnung von Fristen auf dem Gebiet des Zivil-, Handels-
und Verwaltungsrechts einschließlich des diese Gebiete betreffenden Verfahrensrechts
anzuwenden, soweit diese Fristen festgesetzt wurden (a) durch Gesetz, von einem Ge-
richt oder einer Verwaltungsbehörde oder (b) von einem Schiedsorgan, wenn dieses
die Art der Fristenberechnung nicht bestimmt hat. Nach Art 5 dieses Übereinkommens
werden Samstage, Sonntage und gesetzliche Feiertage bei der Berechnung einer Frist
zwar mitgezählt, es verlängert sich jedoch dann, wenn der dies ad quem einer Frist, vor
deren Ablauf eine Handlung vorzunehmen ist, auf einen Samstag, Sonntag, gesetzli-
chen Feiertag oder einen Tag, der wie ein gesetzlicher Feiertag behandelt wird, fällt, die
Frist dahin, dass sie den nächstfolgenden Werktag einschließt. Schließlich sieht Art l l
des Übereinkommens vor, dass jede Vertragspartei bei der Hinterlegung ihrer Ratifika-
tions-, Annahme- oder Beitrittsurkunde durch eine an den Generalsekretär des Euro-
parats gerichtete Notifikation anzugeben hat, welche Tage in ihrem Hoheitsgebiet oder
in einem Teil desselben gesetzliche Feiertage sind oder iSd Art 5 wie solche behandelt
werden. Die von Liechtenstein dazu abgegebene Erklärung lautet: ,,Gesetzliche und
staatlich anerkannte Feiertage im Fürstentum Liechtenstein: l. l. (Neujahr), 6. l. (Hei-
lige Drei Könige), 2. 2. (Maria Lichtmess), 19. 3. (Josefi), 25. 3. (Maria Verkündigung),
Karfreitag, Ostermontag, l. 5. (Tag der Arbeit), Auffahrt, Pfingstmontag, Fronleich-
nam, 15. 8. (Maria Himmelfahrt, Staatsfeiertag), l. 11. (Allerheiligen), 8. 12. (Maria
Empfängnis), 25. 12. (Weihnachten), 26. 12. (Stefanstag)."
• Nach Art 102 EGZV (,,Landesfeiertagew) gelten „als gesetzliche Feiertage: Neujahr,
Drei-König, Ostermontag, Auffahrt, Pfingstmontag, Fronleichnam, Mariä Himmel-
fahrt, Allerheiligen, Mariä Empfängnis, Weihnacht, St. Stephanstag" 2053 und kann die
Regierung weitere Feiertage im Verordnungswege einführen. Eine solche Verordnung
wurde bis dato ebenfalls noch nicht erlassen.
• Gern Art 18 Abs 2 Arbeitsgesetz 2054 gelten als gesetzliche Feiertage, die den Sonntagen
gleichzustellen sind: ,,Neujahr, HI. Drei Könige, Ostermontag, 1. Mai, Christi Himmel-
fahrt (Auffahrt), Pfingstmontag, Fronleichnam, Maria Himmelfahrt, Maria Geburt, Al-
lerheiligen, Maria Empfängnis, Weihnacht, St. Stephanstag.w
2052 Abgeschlossen in Basel am 16. 5. 1972, Inkrafttreten für das Fürstentum Liechtenstein am
28. 4. I 983, kundgemacht in LGBI 1983/31.
2053 Ausgesprochen interessant dazu der Hinweis von Schiess Rütimann in Liechtenstein-Institut,
Online-Kommentar zur liechtensteinischen Verfassung Art 19 Rz 23: Danach hätte Liechten-
stein gern den durch den Zollanschlussvertrag maßgebenden Bestimmungen nur acht Tage als
gesetzliche Feiertage bezeichnen dürfen. Der Bundesrat erklärte sich jedoch auf Bitte der
liechtensteinischen Regierung 1924 damit einverstanden, dass Liechtenstein zwölf Feiertage
beibehielt.
2054 Elkuch!Gassner/Gassner/Heiterer/Mähr, ZPO § 221 ZPO Anm I halten dieses für sinngemäß
anwendbar.
• Laut Art 89 Abs l VRV gilt das Sonntagsfahrverbot „an allen Sonntagen und folgen-
den Feiertagen: Neujahr, Heilige Drei Könige, Maria Lichtmess, St. Josefstag, Oster-
montag, 1. Mai, Auffahrt, Pfingstmontag, Fronleichnam, Maria Himmelfahrt, Maria
Geburt, Allerheiligen, Maria Empfängnis, Weihnachten und St. Stefanstag (26. 12.)."
• Die Verordnungen v 26. 6. 1973 betreffend die Sonn- und Feiertagsruhe und den La-
denschluss2055 und vom 25. 2. 1986 über den ärztlichen und zahnärztlichen Notfall-
dienst,2056 die in ihren Art 2 Abs 2 bzw Art 1 Abs 2 ebenfalls Feiertage definierten, sind
aufgehoben.
13.34 In allen der erwähnten (geltenden) Rechtsvorschriften werden somit folgende 11 Tage
übereinstimmend als Feiertage festgelegt: 1. 1., 6. 1., Ostermontag, Auffahrt (Christi
Himmelfahrt), Pfingstmontag, Fronleichnam, 15. 8., l. 11., 8. 12., 25. 12. und 26. 12.
• Der 1. 5. wird in der Erklärung zum Fristenübereinkommen, im Arbeitsgesetz und in
der VRV erwähnt,
• der 2. 2. und der 19. 3. jeweils in der Erklärung zum Fristen übereinkommen und in der
VRV.
• der 25. 3. und der Karfreitag nur in der Erklärung zum Fristenübereinkommen und
• der 8. 9. im Arbeitsgesetz und in der VRV.
13.35 Damit kommen zu den erwähnten 11 Feiertagen jedenfalls noch weitere vier Tage, näm-
lich der 2. 2., 19. 3., 25. 3. und der 1. 5. (der Karfreitag ist aufgrund des erwähnten Ge-
setzes über die Hemmung des Fristenablaufes durch Samstage und den Karfreitag ohne-
dies explizit den gesetzlichen Feiertagen gleichgestellt), als Feiertage iSd § 221 Abs 2 ZPO
dazu: Denn was von der Regierung zum Fristenübereinkommen erklärt wurde, hat Gül-
tigkeit2057 - und zwar ungeachtet des Umstands, dass im Jahr 1986 der 25. 3. als Feiertag
gegenüber dem 8. 9. ,.abgetauscht" wurde 2058 und im Land faktisch nicht mehr als Feier-
2059
tag angesehen wird.
13.36 Verbleibt der 8. 9.: Dieser wird weder in der Erklärung zum Fristenübereinkommen noch
im EGZV erwähnt, sondern nur im Arbeitsgesetz und in der VRV. Da dieser Tag im
Land faktisch als Feiertag „gelebt" wird 2060 und er immerhin in zwei Rechtsvorschriften
(Arbeitsgesetz und VRV) als gesetzlicher Feiertag bezeichnet wird, wird man nicht um-
hinkommen, auch diesen Tag als „gesetzlichen Feiertag" iSv § 221 Abs 2 ZPO anzuse-
hen.2061
Keine gesetzlichen Feiertage stellen jedoch sog „dienstfreie Tage" iSv Art 34 Abs 1 StPG 13.37
dar: An diesen von der Regierung für dienstfrei erklärten Tagen sind die Büros der Lan-
desverwaltung und der Gerichte (und somit auch die Eingangsstellen) geschlossen, was
vorgängig im Amtsblatt kundgemacht wird. 2062 Da es sich dabei um ganz gewöhnliche
Werktage handelt, berühren sie die verfahrensrechtlichen Fristen nicht. Allerdings wird
rechtsunkundigen Parteien (und nur diesen) Wiedereinsetzung zu bewilligen sein, wenn
sie an einem derartigen dienstfreien Tag fristgebundene Eingaben bei Gericht überrei-
chen wollten, dies jedoch mangels Öffnung der Einlaufstelle nicht konnten. 2063
Die Ausführungen in diesem Abschnitt - was hier vergleichend erwähnt sei - gelten auch 13.38
für „gesetzliche Feiertage" iSv § 6 Abs 2 StPO.
2060 Von der Landesverwaltung (Amt für Personal und Organisation und Schulamt - www.amsfl.li/
ams/upload/downloads/kalender_llv_2017.pdf, abgerufen am 27.9.2018) und vom Banken-
verband (www.bankenverband.li/CFDOCS/cms/admin/download.cfm ?Groupl D= 191 &File! D
=68194&WatermarkMenuEntriesObjectlD=15873, abgerufen am 27.9.2018).
2061 Dies habe ich schon in liechtenstein-journal 2/2013, 44 so vertreten (mit weiterführenden
Hinweisen).
2062 https:/ /apps.llv.li/amtsblatt/archiv/display/71781 (abgerufen am 27. 9. 2018).
2063 Ungerank, liechtenstein-journal 2/2013, 44.
2064 öZVN 1983, BGB! 1983/135.
2065 LGBI 1987/27.
2066 Neu: VO v 13. 10. 1987 über die Gerichtsferien, LGBI 1987/51; bis dahin: VO v 2. 7. 1943
(betreffend die Gerichtsferien) LGBI 1943/ 15.
2067 Beginnend mit der öZVN 2002, BGBI I 2002/76.
2068 Nicht in der Aufzählung der Übergangsbestimmungen (Abs 5) in LGBI 2018/207 erwähnt.
zuwenden. Die anderen „Besonderen Verfahrensarten" (5. Teil) sind teilweise durch
§ 224 ZPO erfasst (s dort).
nommen wurde, die durch die Gerichtsferien nicht gehemmt werden. 2073 Der liechten-
steinische Gesetzgeber ist jedoch dabei verblieben, Kündigungsstreitigkeiten weiterhin
als Ferialsachen anzusehen, was die Stellung des Mieters, der (im Regelfall) ohnedies
wirtschaftlich weniger stark ist als der Vermieter, 2074 zusätzlich schwächt. Die Wortfolge
,,[ ... ] und solcher Sachen, die gegen einen Zins in Früchten (§ l 103 ABGB) zum Ge-
brauche überlassen wurden" wurde mit LGBI 2016/268 im Zuge der Totalrevision des
Miet- und Pachtvertrags bzw der Totalrevision des Verfahrens in Bestandstreitigkeiten
mit 1. 1. 2017 ersatzlos aufgehoben. Begründet wurde dies damit, dass auf§ 1103 ABG B
2075
verwiesen wird, diese Bestimmung jedoch unter einem aufgehoben wurde.
• Streitigkeiten aus dem Dienst- und Lohnvertrage zwischen Dienstgebern und Dienst-
boten oder anderen im Dienstvertrage stehenden Personen, zwischen Land- und Forst-
wirten und ihren land- und forstwirtschaftlichen Hilfsarbeitern und Taglöhnern, zwi-
schen Bergwerksbesitzern und allen sonstigen Arbeitgebern und den von ihnen be-
schäftigten Werkführern, Gehilfen, Arbeitern oder Lehrlingen sowie Streitigkeiten
aus dem Dienstverhältnisse der Schiffsmannschaft (Z 5): Auch diese Bestimmung
stimmt wortwörtlich mit der Stammfassung der öZPO überein. Sie wurde in Österreich
mit der ZVN 1983 2076 aufgehoben und der Regelungsgehalt in§ 223 öZPO verschoben.
der dann festlegte, dass die Gerichtsferien auf „das Verfahren vor den Arbeitsgerich-
ten" keinen Einfluss haben. In der österr Regierungsvorlage 2077 wurde dazu ausgeführt,
dass die „recht umständliche Umschreibung" im Wesentlichen arbeitsrechtliche Strei-
tigkeiten umfasst, deren Beschleunigung weiterhin als wünschenswert angesehen wur-
de. 2078 In Liechtenstein sind darunter nunmehr die "Streitigkeiten aus dem Arbeits-
verhältnis"2079 iSv § 1173a Art 71 Abs I ABGB zu verstehen. Auch Verfahren über
Verbandsklagen nach § 1173 a Art 111 e ABGB werden als Ferialsachen anzusehen sein.
• Streitigkeiten zwischen Wirten, Schiffern, Flößern oder Fuhrleuten einerseits und
ihren Gästen, Reisenden oder Auftraggebern andererseits über die aus diesen ihren
gegenseitigen Verhältnissen entspringenden Verpflichtungen (Z 6): Diese wörtlich mit
der Stammfassung der öZPO übereinstimmende Bestimmung wurde in Österreich
ebenfalls mit der ZVN l 98J2°80 ersatzlos aufgehoben, dies mit der Begründung, dass
sich diese Streitigkeiten in ihrer Dringlichkeit wohl grundsätzlich nicht von sonstigen
Prozessen unterscheiden. 2081 Die Fuhrmannseigenschaft iS dieser Gesetzesstelle setzt
ua voraus, dass seine Tätigkeit einen engen örtlichen Raum nicht überschreitet, keinen
großen Betriebsumfang erreicht und keine Tätigkeit iS des ADHGB darstellt; diese
2073 Mit dem Budgetbegleitgesetz 2011. BGBI I 2010/111. wurde§ 225 öZPO gänzlich aufgehoben.
2074 BuA 2015/133, 101.
2075 BuA 2015/133, 146.
2076 BGBI 1983/135.
2077 ErläutRV 669 BlgNR 15. GP 50.
2078 In ö wurde mit Inkrafttreten des Arbeits- und Sozialgerichtsgesetzes (ASGG) mit l. l. 1987
diese Wortfolge aus § 223 öZPO eliminiert und in § 39 Abs 4 ASGG ausdrücklich festgelegt,
dass die Bestimmungen über die Gerichtsferien nicht anzuwenden sind (BG v 7. 3. 1985 über
die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit, Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz (ASGG), BGBI 1985/
104, § 39 Abs 4 und § 99 Z I lit b).
2079 OGH 04 AG.2005.35 LES 2008, 399 Erw 12.8. = GE 2008, 19.
2080 BGBI 1983/135.
2081 ErläutRV 669 BlgNR 15. GP 50.
Kriterien treffen auf einen sog Lohnfuhrunternehmer in der Rechtsform einer Aktien-
gesellschaft, der mit seinem LKW internationale Transporte (zB von Deutschland nach
Italien) durchführt, nicht zu. Bei einer Streitigkeit zwischen einem solchen Lohnfuhr-
unternehmer und seinem Auftraggeber handelt es sich um keine Ferialsache. 2082
• Alle sonstigen Streitigkeiten über vermögensrechtliche Ansprüche, deren Gegenstand
an Geld oder Geldeswert den Betrag von CHF 5.000,- nicht übersteigt (Z 7): Während
in Österreich diese Bestimmung mit der ZVN 1983 20113 aufgehoben wurde (Begrün-
dung: Bagatellsachen unterscheiden sich in ihrer Dringlichkeit wohl grundsätzlich
nicht von sonstigen Prozessen 2084 ), hat der liechtensteinische Gesetzgeber diese Be-
stimmung beibehalten, die Bagatellgrenze jedoch mit der ZVN 2018 2085 - analog zu
§ 535 Abs l ZPO - von CHF 100,- auf CHF 5.000,- erhöht. Dies kann in der Praxis
leicht übersehen werden. Eine Wiedereinsetzung bei Fristversäumnis ist aufgrund des
deutlich formulierten Gesetzestextes wohl ausgeschlossen.
• Verfahren über Anträge auf Bewilligung, Einschränkung oder Aufhebung von einst-
weiligen Verfügungen (Z 8): Diese Bestimmung entspricht der Stammfassung der
öZPO (dort zwischenzeitig in § 222 Abs 2 Z 6 öZPO verschoben). Diese zunächst
nur der Verdeutlichung dienende Bestimmung (einstweilige Verfügungen ergehen
im Rechtssicherungsverfahren nach Art 27Off EO unter sinngemäßer Anwendung
der Bestimmungen über das Exekutionsverfahren [Art 297 EO], und auf das Exeku-
tionsverfahren haben die Gerichtsferien gern § 223 Abs 2 ZPO ohnedies keinen Ein-
fluss2086) wird jedoch auch dahingehend ausgelegt, dass auch Anträge auf Zuerken-
nung von Schadenersatz (Art 287 EO) als Ferialsachen zu behandeln sind. 2087
• Rechtsöffnungsverfahren gern Art 49ff RSO (Z 9): Da dieses Verfahren kein Pendant
in der österr Rechtsordnung hat und aus diesem Grund die Rezeptionsvorlage dazu
schweigt, war nirgends klar geregelt, ob die Gerichtsferien einen Einfluss auf das
Rechtsöffnungsverfahren haben. 201111 Das dem Rechtsöffnungsverfahren vorgelagerte
Schuldentriebverfahren stellt jedoch explizit eine Ferialsache dar (§ 223 Abs 2 ZPO).
Da es sich beim Rechtsöffnungsverfahren ebenfalls um ein summarisches Verfahren
handle, welches „binnen kürzester Frist" (so Art 50 Abs I RSO wörtlich) durchzufüh-
ren ist, 2089 wurde mit der ZVN 2018 2090 der Katalog der Ferialsachen folgerichtig um
das Rechtsöffnungsverfahren erweitert, was auch der schweizerischen Rezeptionsvor-
lage entspricht. 2091
• Die in den Art 18 bis 20 EO bezeichneten Streitigkeiten (Z I O): Mit der ZVN 2018
wurden auch die über die sog exekutionsrechtlichen Klagen (Oppositions-, lmpugna-
tions- und Exszindierungsklage) durchzuführenden Zivilverfahren in den Katalog der
Ferialsachen aufgenommen, und zwar analog zu § 222 Abs 2 Z 5 öZPO. Die zur alten
Rechtslage ergangene Rsp 2092 ist damit überholt.
• Verfahren in Verfahrenshilfesachen (Z 11): In den Katalog der Ferialsachen aufge-
nommen mit der ZVN 2018 2093 - analog zu§ 222 Abs 2 Z 7 öZPO. Zufolge des umfas-
senden Verweises sind sämtliche Verfahren nach dem 7. Titel des 1. Abschnitts der
ZPO Ferialsachen, dh nicht nur Verfahren über Bewilligung, Entziehung, Erlöschen
und Rückforderung, 2094 sondern auch betreffend die genuin liechtensteinischen Be-
stimmungen zur Ratenzahlung(§ 70a ZPO), zur Uneinbringlicherk.Järung (§ 71 Abs 3
ZPO) und zur Mitteilungsptlicht (§ 71 Abs 4 ZPO) sowie auch, und dies könnte leicht
übersehen werden, das Vergütungsverfahren nach Art 31 RAG: Denn auf das Kosten-
bestimmungsverfahren (einschließlich der Beteiligtenstellung, Rechtsmittelmöglichkei-
ten und der Kostentragung 2095 ) ist gern der ausdrücklichen Bestimmung des Art 31
Abs 3 letzter Satz RAG die jeweilige Verfahrensordnung anwendbar, und das ist der
7. Titel des 1. Abschnitts des 1. Teils der ZPO und damit auch § 224 Abs 1 Z 11 ZPO.
• Verfahren zur Sicherung von Beweisen (Z 12): übernommen in den Katalog der Fer-
ialsachen mit der ZVN 2018 2096 - analog zu§ 222 Abs 2 Z 8 öZPO. Gemeint ist damit
das Verfahren nach dem 8. Titel des 1. Abschnitts im 2. Teil der ZPO. Wird der Be-
weissicherungsantrag vor Beginn eines Rechtsstreits gestellt, ist das gesamte Beweissi-
cherungsverfahren Ferialsache, wird er während eines laufenden Verfahrens gestellt, ist
zwar das Beweissicherungsverfahren Ferialsache, das Hauptverfahren wird dadurch je-
doch nicht quasi ex lege zur Ferialsache.
• Verfahren über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (Z 13): Ebenfalls über-
2097
nommen in den Katalog der Ferialsachen mit der ZVN 2018 - analog zu § 222
Abs 2 Z 9 öZPO.
• Verfahren über die Ablehnung von Richtern und anderen gerichtlichen Organen
(Z 14): Auch diese Bestimmung wurde mit der ZVN 2018 2098 übernommen - analog
zu§ 222 Abs 2 Z 10 öZPO. Die Terminologie entspricht der öJN, die die Ablehnung als
Oberbegriff für Ausgeschlossenheit (§ 19 Z l, § 20 öJN) und Befangenheit (§ 19 Z 2,
§ 21 Abs 2 öJN) verwendet (vgl auch die Überschrift des 2. Abschnitts des 1. Teils der
öJN: ,,Ablehnung von Richtern und anderen gerichtlichen Organen"), während nach
dem in Liechtenstein insoweit anzuwendenden Gerichtsorganisationsgesetz (GOG) 2099
zwischen „Ausschluss und Ablehnung von Richtern und anderen Gerichtspersonen"
(Art 56 und 57 GOG) differenziert und das Verfahren als „Ausschluss- und Ableh-
nungsverfahren" (Art 58ff GOG) bezeichnet wird. Trotz dieses offenkundigen redak-
tionellen Versehens ist auch das Ausschlussverfahren (und nicht bloß das Ablehnungs-
verfahren) als Ferialsache zu behandeln. Leicht übersehen werden könnte, dass das
Recht auf Ablehnung einer Gerichtsperson, welches gern Art 59 Abs 3 GOG spätestens
fünf Tage nach der Zustellung der Vorladung oder Bekanntgabe der Zusammensetzung
des Gerichts beim zuständigen Gericht schriftlich geltend zu machen ist, auch dann
verwirkt ist, wenn die fünftägige Frist (zur Gänze oder zum Teil) in die Gerichtsferien
fällt.
• Verfahren über Anträge auf Auferlegung oder Ergänzung einer Sicherheitsleistung
für Prozesskosten (Z 15): Diese ebenfalls mit der ZVN 2018 2100 eingeführte Bestim-
mung - die Rezeptionsvorlage kennt nichts Vergleichbares 2101 - dient in der Tat der
Verfahrensbeschleunigung. Denn der Beklagte oder Rechtsmittelgegner (dieser hat es
im Regelfall mit der Prozessführung nicht eilig) ist gern§ 61 Abs l ZPO ohnedies dann,
wenn ein Antrag auf Sicherheitsleistung für Prozesskosten rechtzeitig gestellt wird, bis
zur Entscheidung über denselben zur Fortsetzung des Verfahrens in der Hauptsache
nicht verpflichtet. Kommen ihm dann auch noch - wie bis zum 31. 12. 2018 - die
Gerichtsferien zu statten, so konnten sich daraus sachlich nicht zu rechtfertigende Ver-
fahrensverzögerungen zu Lasten des (im Regelfall gegebenen) legitimen Interesses des
Klägers oder Rechtsmittelwerbers an einer raschen Prozessführung ergeben, worauf
schon Delle Karth 2102 vor zwei Jahrzehnten völlig zu Recht hingewiesen hatte.
• Verfahren in Ehe- und Partnerschaftssachen iSd §§ 516ff ZPO (Z 16): Dass die ge-
nannten Streitigkeiten Ferialsachen sind, wurde mit der ZVN 2018 2103 klargestellt. Dies
ist damit zu begründen, dass seit Inkrafttreten des AussStrG mit l. l. 2011 einver-
nehmliche Scheidungen nach den Bestimmungen des AussStrG abzuwickeln sind.
Das AussStrG sieht jedoch ausdrücklich keine Gerichtsferien vor (Art 23 Abs 1
AussStrG), was bis dato dazu führte, dass Verfahren über Anträge auf einvernehmliche
Ehescheidung beschleunigt (nämlich ohne Gerichtsferien) durchgeführt wurden, wäh-
rend „streitige" Scheidungsverfahren (und gerade in diesen, etwa wenn Unzumutbar-
keit geltend gemacht wird, ist eine Beschleunigung geboten) als „normale" Zivilstrei-
tigkeiten durch Gerichtsferien verzögert wurden. 2104
• Verfahren über Klagen nach §§ 628 und 629 ZPO: Soweit im Schiedsverfahren strei-
tige Klagen zulässig sind, soll auch deren Behandlung nicht durch Gerichtsferien ver-
zögert werden, was durch deren Aufnahme in den Katalog der Ferialsachen mit der
ZVN 2018 2105 erreicht wurde. Dies wurde damit begründet, dass Liechtenstein daran
interessiert ist, zu einem beliebten Schiedsplatz zu werden, was insb aus Sicht der be-
teiligten Wirtschaftskreise, wie Rechtsanwälte und Treuhänder, erwünscht ist, und
mehr Schiedsverfahren einen gerichtsentlastenden Effekt haben. Ein besonderer Vor-
zug des Schiedsverfahrens liegt in seiner Raschheit. Da zudem gern § 633 Abs I ZPO
die gerichtliche Zuständigkeit teils im streitigen Verfahren, teils im außerstreitigen
Verfahren wahrgenommen wird, im außerstreitigen Verfahren jedoch keine Gerichts-
ferien vorgesehen sind, ist es nicht einzusehen, warum bei Wahrnehmung der gericht-
lichen Zuständigkeit in Schiedssachen teils Gerichtsferien gelten sollten, teils nicht. 2106
Keinen Niederschlag im Katalog der Ferialsachen gefunden haben 13.44
• Streitigkeiten über die dem Vater eines unehelichen Kindes gegenüber der Mutter des
Kindes gesetzlich obliegenden Pflichten und
• Streitigkeiten über den aus dem Gesetz gebührenden Unterhalt (wie es in § 222 Abs 2
Z 4 öZPO vorgesehen ist). Unter Ersterem sind Klagen der Mutter gern§ 143a Abs 1
ABGB auf Ersatz der Kosten der Entbindung sowie der Kosten ihres Unterhalts für die
ersten sechs Wochen nach der Entbindung und weiterer infolge der Entbindung not-
wendig werdender Auslagen und Klagen der Mutter gern § 1042 ABGB auf Ersatz des
(an Stelle des Vaters) zur Verpflegung des Kindes gemachten Aufwands zu verste-
hen.2107 Zweiteres umfasst - die Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen von in
gerader Linie verwandten Personen wurde ja mit Inkrafttreten des AussStrG dem Ver-
fahren außer Streitsachen zugewiesen (Art l Abs 2 lit a Z 5 AussStrG) - va Unterhalts-
ansprüche eines Ehegatten gegenüber dem anderen, 2108 die außerhalb eines Schei-
dungsverfahrens geltend gemacht werden. Dafür ist der Streitrichter zuständig
(Art 49 h EheG; nichts Anderes gilt für [Unterhalts-)Klagen aufgrund Änderung der
Verhältnisse iSv Art 70 Abs I EheG). Derartige Verfahren sind keine Ferialsachen,
was jedoch in der Praxis kaum zu Problemen führen wird, da dringliche Anträge auf
Zuerkennung von (Ehegatten-)Unterhalt im Rechtssicherungsverfahren gestellt werden
können.
Von der Rsp klargestellt wurde, dass keine Ferialsachen die Amtshaftungssachen 2109 13.45
und die Sozialrechtssachen nach dem IVG und dem AHVG 2110 (und damit wohl auch
solche nach dem FZG, dem UVersG, dem KVG und dem BPVG) sind.
Ebenso gibt es für Rechtsmittel gegen Versäumnis- oder Anerkenntnisurteile - im Ge- 13.46
gensatz zu § 225 Abs 2 öZPO - keine besonderen Bestimmungen, dh auch hier gelten die
Gerichtsferien.
2111
13.47 § 224 Abs 2 ZPO entspricht nunmehr § 224 Abs 2 öZPO idF vor der öZVN 1983.
Klargestellt wurde damit, dass nicht nur der Beschluss, mit dem eine Sache zur Ferial-
sache erklärt wird, sondern auch die Abweisung eines darauf abzielenden Antrags un-
anfechtbar ist. 2112 Nicht übernommen wurden die mit der öZVN 1983 in § 224 Abs 2
öZPO eingefügte Antragsbedürftigkeit (in Liechtenstein ist somit immer noch die
amtswegige und ohne Zustimmung der Parteien erfolgte Erklärung zur Ferialsache
zulässig 2113 ) und damit auch nicht der dort eingefügte Teilsatz, wonach sich "der Aus-
spruch, durch den eine Sache zur Ferialsache erklärt wird, immer nur auf die schon
laufenden, wenn er jedoch außerhalb der Gerichtsferien gefasst wird, auf die nächst-
folgenden Gerichtsferien" bezieht. Letzteres wurde in Österreich (Vorschlägen der Ar-
beitsgruppe Zivilverfahren und Erfahrungen der Rechtsanwaltschaft folgend) deshalb
für notwendig erachtet, weil sich ein zur Ferialsache erklärter Rechtsstreit sehr oft auch
noch bis zu den nächsten Gerichtsferien hinzieht und seine Eigenschaft als Ferialsache
dann oft übersehen wird, 2114 wodurch es zu Säumnissen kommt. Wörtlich: ,,Die zeit-
liche Beschränkung der Wirkung der Erklärung scheint auch deshalb sachlich gerecht-
fertigt, weil in der Regel zumindest zweifelhaft sein dürfte, ob die Sache noch immer
dringlich ist, wenn sie sich trotz ihrer Behandlung während der Gerichtsferien noch
rund ein halbes Jahr hingezogen hat." Da diese Bestimmung nicht rezipiert wurde, gilt
in Liechtenstein die Erklärung zur Ferialsache bis zum Verfahrensende oder bis zu
ihrer Authebung.
13.48 Die Erklärung zur Ferialsache hat mittels eines ausdrücklichen und den Parteien kund-
zumachenden (förmlichen) Beschlusses zu erfolgen, da mit Rücksicht auf die mit der
Erklärung einer Rechtssache zur Ferialsache verbundenen prozessualen Folgen kein
Zweifel aufkommen darf, dass sie den Parteien in einer ein Missverständnis ausschlie-
2115
ßenden Weise zur Kenntnis gebracht wurde. Ein lediglich im Akt enthaltener, den
Parteien nicht zugestellter Beschluss dieser Art bleibt wirkungslos. Auch ersetzt die bloße
Ladung zu einer Tagsatzung oder die tatsächliche Abhaltung einer Tagsatzung zur münd-
lichen Streitverhandlung während der Gerichtsferien weder die Fassung noch die Zustel-
2116
lung des erwähnten Beschlusses.
Aufgrund der ohnedies weiterhin bestehenden Möglichkeit, Rechtstreite (auch amtswe- 13.49
gig) zu Ferialsachen zu erklären, besteht keine Notwendigkeit, den gesetzlichen Katalog
der Ferialsachen zu erweitern. 2117
13.55 Für das Verfahren vor dem StGH gelten zwar die Bestimmungen des LVG, jedoch
ausdrücklich nicht die Bestimmungen über die Gerichtsferien (Art 38 Abs I
StGHG 2130 ).
13.56 Auch in Art 14 Abs 2 des Statuts des EFTA-GH 2131 , des (für Liechtenstein) obersten zu-
ständigen Gerichts in EWR-rechtlichen Angelegenheiten 2132 , sind Gerichtsferien vorge-
sehen, die jedoch den Lauf von Fristen nicht hemmen. 2133
24 Stunden
• § 247 Abs 2 Mindestzeitraum zwischen Zustellung Ladung und Tagsatzung (IF)
48 Stunden
• § 280 Abs 3 Übertragung der stenographischen Aufzeichnung einer Beweisaufnah-
me (GF)
3 Tage
• § 82 Abs I Vorlage der Urschrift einer Urkunde und Einsicht in diese Urschrift einer
Urkunde (GF)
• § 83 Abs 2 Rückgabe der dem Rechtsanwalt übergebenen Urschrift einer Urkun-
de (GF)
• § 199 Abs 2 Verhängen einer Ordnungsstrafe (Haft) gegen den, der sich zur Erhal-
tung der Ordnung und Ruhe getroffenen Anordnungen des Gerichts widersetzt (GF;
dies stellt die maximale, nicht erhöhbare Haftdauer dar)
• § 265 Abs 2 Hinterlegung der Ausfertigung des Urteilstatbestands (GF); Erhebung
des Widerspruchs gegen den Urteilstatbestand (NF)
5 Tage
• Art 59 Abs 3 GOG Geltendmachung von Ablehnungsgründen betreffend eine Ge-
richtsperson nach der Zustellung der Vorladung oder Bekanntgabe der Zusammen-
setzung des Gerichts (Verwirkungsfrist)
I Woche
• § 257 Abs 7 Einbringen vorbereitender Schriftsätze bei Gericht/Gegner vor Tagsat-
zung (GF; sog Sperrfrist 2135 )
8 Tage
• § 85 Abs I Verbesserung von Schriftsätzen (GF)
• § 334 Kostenfeststellung gegen ungehorsamen Zeugen (NF)
• § 402 Abs I Z I Fällung Versäumnisurteil (GF)
• § 423 Abs 2 Antrag auf Ergänzung des Urteils (NF)
lO Tage
• Art 59 Abs I GOG Mindestfrist für die Zustellung von Vorladungen für Verhand-
Jungen (GF)
14 Tage
• § 36 Abs 2 Berechtigung und Verpflichtung des Bevollmächtigten nach Kündigung
der Vollmacht (Verptlichtungszeitraum; fortwirkende Vertretungsmacht und -pflicht
erlöschen nach Ablauf der 14 Tage; vgl dazu auch Art 18 Abs I RAG)
• § 148 Abs 2 Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (NF)
2134 Ich danke Frau RiAA Carina Oehri für die Hilfe bei der Erstellung dieses Kapitels.
2135 Buchegger in Fasching/Konecny 11/3 3 § 123 ZPO Rz 16; bis zur ZVN 2018 war die Frist variabel
(OGH 06 CG.2014.96 LES 2018, 141 = GE 2018, 162).
• § 245 Abs 3 Äußerung zum Antrag auf Zuerkennung des Kostenersatzes bei Zu- 1
• § 566 Abs 3 Klage zur zweiten Erstreckung des Bestandverhältnisses vor Ablauf der
ersten Erstreckung (NF)
• § 627 Abs 3 Ergänzung des Schiedsspruchs (GF)
• 90 Tage
• § 49 Abs 1 JN Klageerhebung vor dem Gerichtsstand des früheren Wohnsitzes (NF)
3 Monate
2137
• § 70a Abs 2 Entziehung Verfahrenshilfe bei Rückstand der Ratenzahlungen (NF)
2138
• § 168 Aufnahmeverbot des ruhenden Verfahrens (GF; Sperrfrist )
• § 604 Abs 3 Z 3 Antrag auf Bestellung von Schiedsrichtern durch jede Partei, wenn
Parteien Verfahren für Bestellung der Schiedsrichter vereinbart haben und Dritter
eine ihm nach dem Verfahren übertragene Aufgabe nicht nach Empfang einer
schriftlichen Mitteilung erfüllt (GF)
6 Monate
• § 565 Abs 2 Antrag auf Übergabe/Übernahme Bestandgegenstand bei Bestandver-
hältnis über 6 Monate (NF)
• § 573 Abs 2 Beantragung Exekution aus gerichtlicher Aufkündigung, aus einem Auf-
trag zur Übergabe/Übernahme Bestandgegenstand oder aus einem über solche Ein-
wendungen ergangenen rechtskräftigen Urteil bei sonstigem Außerkrafttreten (NF)
1 Jahr
• § 64 Abs 1 Gewährung der Verfahrenshilfe für ein nach Abschluss des Rechtsstreits
eingeleitetes Vollstreckungsverfahren (NF)
lO Jahre
• § 70 b Jährliches Vorlegen des Vermögensbekenntnisses durch Verfahrenshilfe ge-
nießende Partei bei sonst eintretender unwiderlegbarer Vermutung, zur Nachzahlung
in der Lage zu sein (NF)
• § 71 Abs 1 Verpflichtung zur Nachzahlung der Verfahrenshilfe kann nicht mehr
auferlegt werden (NF)
• § 502 Abs 3 Maximalfrist Nichtigkeits- und Wiederaufnahmsklage (NF)
lF = lnstruktionelle Frist (das Gesetz gibt eine Richtlinie für die vom Richter zu bestimmende Frist
[.,richterliche Frist"] vor).
GF = Gesetzliche Frist (Länge der Frist wird durch das Gesetz bestimmt).
NF = Notfrist (gesetzliche Frist, die jedenfalls unerstreckbar ist).
2137 Die Verfahrenshilfe ist zwar von Amts wegen zur Gänze zu entziehen, wenn die Verfah-
renshilfe genießende Partei mehr als 3 Monate mit der Zahlung einer Rate im Rückstand
ist. Allerdings hat das Prozessgericht erster Instanz die zu zahlenden Raten anzupassen,
wenn sich die für die Verfahrenshilfe maßgebenden Vermögens-, Einkommens- oder Fami-
lienverhältnisse der Partei wesentlich geändert haben, wobei auch von (weiteren) Ratenzah-
lungen abgesehen werden kann, wenn diese zur Deckung der Beträge nach § 71 oder aus
sonstigen Gründen (§ 70a Abs 3 ZPO) nicht mehr erforderlich sind (OG 20. 3. 2018,
3 R PG.2017.109-39 nv).
2138 Liebhart/Herzog, Fristenhandbuch Rz 226.
Übersicht
Rz
I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1
II. Versäumung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.6
A. Folgen der Versäumung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.6
B. Eintritt der Versäumung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.11
III. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.14
A. Begriff und Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.14
B. Wiedereinsetzungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.19
1. Verschulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.19
2. Sorgfaltsmaßstab bei der unvertretenen Partei bzw ihrem Prozess-
bevollmächtigten (rechtsunkundiger bzw rechtskundiger Vertre-
ter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.26
3. Verschulden des Rechtsanwalts bzw seiner Kanzleiangestellten -
Organisation einer Rechtsanwaltskanzlei . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.34
4. Versäumnis von Rechtsmittelfristen - mangelhafte bzw fehlende
Rechtsmittelbelehrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.38
5. Wiedereinsetzung iVm Zustellmängeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.47
6. Wiedereinsetzung aufgrund Erkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.54
C. \,\!irkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.58
IV. Verfahren zur Erwirkung der Wiedereinsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.61
A. Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.61
B. Form und Inhalt des Antrags sowie Verfahrensgrundsätze . . . . . . . 14.64
C. Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.74
D. Rechtsmittelverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.84
1. Allgemeines
Wenn eine Prozesspartei eine durch Gesetz oder richterliche Verfügung innerhalb einer 14.1
bestimmten Frist oder bei einer Tagsatzung vorzunehmende Prozesshandlung unter-
lässt bzw nicht rechtzeitig oder nicht in der zwingend vorgeschriebenen Form vor-
nimmt, so liegt eine Versäumung der Prozesshandlung bzw Versäumnis (= Säumnis)
vor. Wurde die Prozesshandlung bloß mangelhaft oder unzweckmäßig vorgenommen,
so liegt keine Versäumung vor.
Der Beseitigung der nachteiligen Folgen der versäumten Prozesshandlung dient der 14.2
Rechtsbefehl der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
14.3 Mit Inkrafttreten des Gesetzes v 6. 9. 2018, LGBl 2018/207 2139 (in der Folge kurz: ZVN
2018), sind unter den Schlagworten „Beschleunigung und Vereinfachung des Verfah-
rens" umfassende verfahrensrechtliche Änderungen der bis dahin weitgehend noch der
Stammfassung aus dem Jahr 1912 entsprechenden ZPO erfolgt; dabei sind unter der
Rubrik „sonstige zweckmässige Änderungen" auch zahlreiche Bestimmungen betreffend
die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand geändert worden, auf die im Einzelnen noch
einzugehen sein wird. Bis dahin war die in Österreich erlassene Zivilverfahrensnovelle
1983 (kurz: öZVN 1983) nicht nachvollzogen worden.
14.4 Am Ausschluss des Rechtsbehelfs der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in der
Exekutionsordnung in Art 37 EO (mit Ausnahme der Exekutionsklagen der Art 18 bis
20 EO) sowie im Konkursverfahren (Art 21 KO) hat sich durch die Nov nichts ge-
ändert. Indem Art 104 LVG die sinngemäße Anwendung der einschlägigen Vorschrif-
ten der ZPO bei Entscheidungen über Anträge der Parteien auf Wiedereinsetzung an-
ordnet, sind die neuen Bestimmungen unter Beachtung der Besonderheiten im LVG
auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren und im Verfahren vor dem Staatsge-
richtshof (mittels Verweises in Art 51 StGHG) anzuwenden. Festzuhalten ist, dass we-
sentliche Teile der oben erwähnten Nov - wie auch die ZPO insgesamt - auf der österr
Rezeptionsvorlage beruhen, womit - unter Berücksichtigung noch darzustellender Ab-
weichungen - zur Auslegung der hier besprochenen Normen die einschlägigen österr
Kommentare und insb die öRsp herangezogen werden können. Nach der Rsp von
StGH und OGH soll bei der Anwendung von aus dem Ausland rezipiertem Recht nicht
ohne triftigen Grund von der einschlägigen Rsp des Rezeptionslands abgewichen wer-
den. Diese Praxis hat insb Auswirkungen auf die grundrechtliche Begründungspflicht
gern Art 43 LV. Der StGH stellt keine hohen Anforderungen an die Begründungs-
pflicht, solange sich die entscheidende Instanz an die Vorgabe des Rezeptionslands hält.
Wenn aber eine Abweichung erfolgt, ist dies eingehend zu begründen. 2140 Allerdings ist
die öLehre in vielen Punkten nicht einhellig und die Rsp teilweise widersprüchlich. Es
ist daher va auf die liechtensteinische Rsp Bedacht zu nehmen, zumal etwa Fragen iZm
der Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sehr einzelfallbezogen zu
lösen sind.
14.5 Da es sich bei den Neuerungen in der ZVN 2018 um Verfahrensbestimmungen handelt,
sind diese grundsätzlich auf bereits anhängige Verfahren anzuwenden. Allerdings sehen
die Übergangsbestimmungen für deren Anwendung zeitliche Abstufungen vor. So finden
insb die Rechtsmittelbeschränkungen auf vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes ge-
fällte Entscheidungen keine Anwendung. Auch bei der Frage, ob eine Prozesshandlung
gern den neuen Bestimmungen versäumt wurde, ist auf das unterschiedliche Inkrafttreten
der Bestimmungen Bedacht zu nehmen.
II. Versäumung
A. Folgen der Versäumung
§ 144 ZPO normiert als allgemeine Versäurnungsfolge den Ausschluss der Partei von 14.6
der versäumten Prozesshandlung. Das in der Verfahrensordnung der Partei eingeräumte
Recht zur Prozesshandlung (zur Gestaltung und Entwicklung der Prozesslage) geht
grundsätzlich unabhängig vorn Vorliegen eines allfälligen Verschuldens der säumigen
Partei verloren. Eine Ausnahme besteht dann, wenn das Gesetz den Eintritt der Säum-
nisfolgen von einer vorherigen Androhung abhängig macht. Diese Bestimmung zwingt
daher die Parteien zur fristgerechten Ausübung ihrer Mitwirkungsrechte im Prozess, insb
an der Stoffsammlung.
Die Versäumungswirkungen treten va dort ein, wo das Verfahren vom Dispositions- 14.7
grundsatz beherrscht wird. Aber auch in Verfahren, in denen der Untersuchungs-
grundsatz gilt, kann es mangels der erforderlichen Mitwirkungspflicht der Partei zu
Versäumnisfolgen kommen (vgl Art 13 Abs l letzter Satz, Art 17 AussStrG). Auch in
Verfahren, in denen die ZPO Anwendung findet, können Versäumungsfolgen ausge-
schlossen sein, wenn eine Pflicht des Gerichts zur amtswegigen Erhebung oder Erörte-
rung eines Sachverhalts besteht (etwa bei der Prüfung von Prozessvoraussetzungen; s
auch § 523 ZPO für das Verfahren in Ehe- und Partnerschaftssachen, wo etwa nach
§ 527 Abs 1 ZPO ein Versäumnisurteil ausgeschlossen wird). Im liechtensteinischen
Sozialversicherungsprozess gilt in den Bereichen der Kranken- und Unfallversicherung
(Art 27 Abs 2 KVG; Art 91 Abs 2 UVersG) sowie im Bereich der betrieblichen Perso-
nalvorsorge (Art 24 BPVG) die ZPO umfassend, während sie in den Bereichen der
Alters- und Hinterlassenenversicherung, der Invalidenversicherung und der Familien-
zulagen beschränkt im Bereich des Berufungsverfahrens vor dem OG als erster Ge-
richtsinstanz und dem OGH als Revisionsinstanz gilt. Tatsacheninstanzen bleiben auch
in diesen Bereichen die Sozialversicherungsträger und sind auf die Berufung gegen die
Entscheidungen der Sozialversicherungsträger an das OG als erste Gerichtsinstanz die
Bestimmungen der ZPO anzuwenden, während im Verfahren vor den Sozialversiche-
rungsträgern die Bestimmungen des LVG zum Tragen kommen. In diesen Bereichen
erfährt die Anwendung der ZPO wiederum eine Einschränkung durch den Untersu-
chungsgrundsatz (Art 96 AHVG; Art 78 Abs 2 IVG; Art 51 Abs 2 FZG); man spricht
2141
von einem Mischsystern.
Die Versäumnisse des Prozessvertreters sind der Partei zuzurechnen, was grundsätzlich 14.8
auch dann gilt, wenn sich die Partei nicht durch einen Rechtsanwalt, sondern durch ei-
nen sonstigen nicht berufsmäßigen Bevollmächtigten vertreten lässt. 2142 Anders als in
Österreich besteht in der (liechtensteinischen) ZPO keine Anwaltspflicht (§§ 25, 26, 39
ZPO). Die Vertretung durch sog „Winkelschreiber" (Personen, die gewerbsmäßig ohne
Berechtigung Prozessvertretungen übernehmen) ist unzulässig und strafbar.
§ 144 ZPO spricht von im Gesetz für einzelne Fälle bestimmten weiteren Wirkungen, 14.9
womit besondere Versäumnisfolgen angesprochen werden.
9. eine im Beweisverfahren gelegte Privaturkunde gilt als echt, wenn der Gegner deren
Echtheit nicht bestreitet(§ 312 ZPO)/ 145
10. wird die erste Tagsatzung (technisch erste Tagsatzung oder erste Streitverhandlung)
versäumt, kommt es über Antrag des Gegners zu einem (echten) Versäumnisurteil
(§§ 396f ZPO), wobei - anders als in der österr Rezeptionsvorlage - der zusätzliche
Rechtsbehelf des „Widerspruchs" nicht besteht. Gegen ein Versäumnisurteil besteht
somit der Rechtsbehelf der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder die Beru-
fung;
11. bei Säumnis im Rechtsmittelverfahren: In Liechtenstein gilt - anders als in der
österr Rezeptionsvorlage - im Berufungsverfahren kein striktes Neuerungsverbot,
sondern eine beschränkte Neuerungserlaubnis (ausschließlich) in der Berufungs-
schrift, welche aber durch die Rsp in der Vergangenheit erheblich eingeschränkt
wurde, 2146 wonach eine Verjährungs- oder Aufrechnungseinrede schon in erster In-
stanz geltend gemacht werden muss. 2147 Die neuere Rsp hat ein erstmals in der Be-
rufungsschrift erstattetes „Neuvorbringen" als unzulässig angesehen, wenn es auf-
grund eines Parteifehlers, insb wegen unsorgfältiger Prozessführung oder Unacht-
samkeit, nicht bereits im erstinstanzlichen Verfahren erstattet wurde. 2148 Eine im
Berufungsverfahren unterbliebene (oder nicht gehörig ausgeführte) Rechtsrüge kann
im Revisionsverfahren nicht mehr nachgeholt werden. 2149 Diese Rsp wurde nun mit
der ZVN 2018 in § 452 Abs 3 ZPO übernommen, indem neues Vorbringen und
Sacheinwendungen sowie Beweise zurückzuweisen sind, wenn sie schuldhaft nicht
bereits im erstinstanzlichen Verfahren vorgebracht wurden. Anders als in der Rezep-
tionsvorlage besteht für den Berufungsgegner keine Feststellungsrügeobliegenheit in
der Berufungsmitteilung, wenn er in erster Instanz obsiegt hat. Eine diesbezügliche
Rüge kann daher von der erstinstanzlich obsiegenden Partei, sollte sie vor dem OG
unterlegen sein, noch in der Revision nachgeholt werden, was gegebenenfalls zur
Aufhebung des Urteils des OG wegen Mangelhaftigkeit führt. Hier könnte es mög-
licherweise zu einer Judikaturwende kommen (wie in Österreich, wo die Rügeoblie-
genheit zunächst durch die Rsp eingeführt und dann erst gesetzlich umgesetzt wur-
de), weil mit der ZVN 2018 der Rechtszug zum OGH in vielen Fällen ausgeschlossen
wurde und damit der Partei eine Feststellungsrüge in dritter Instanz verschlossen
bleibt. 2150
hängig macht. Sieht das Gesetz eine ausdrückliche Androhung der Säumnisfolgen vor, so
müssen der Partei die mit der Säumnis verbundenen Nachteile im Vorhinein bekannt-
gegeben werden, wobei das Gericht bei Anberaumung der Tagsatzung und Festlegung
der Fristen die Bestimmungen über Fristen und Tagsatzungen (§§ l23f ZPO) beachten
muss. Die Androhung ist mit der Ladung zu einer Tagsatzung oder mit der Festsetzung
der Frist zu verbinden. Bedarf es für den Eintritt der Säumniswirkungen eines Antrags
des Gegners, so kann die Prozesshandlung auch noch nach Ablauf einer Frist jedenfalls
bis vor dem Tag der Antragstellung nachgeholt werden. Bei einer vorzunehmenden Pro-
zesshandlung in einer Tagsatzung gilt dies bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung.
14.12 Einer Androhung der gesetzlichen Folgen der Versäumung bedarf es:
l. Beim Auftrag zum Erlag einer Sicherheitsleistung für Prozesskosten (§ 60 Abs 3
ZPO);
2. in der Vorladung des Klägers und des Beklagten zur ersten Tagsatzung (§§ 248, 249
ZPO); s die von der Rezeptionsvorlage teilweise abweichenden Bestimmungen über
die Rechtsbelehrung durch den Richter für unvertretene Parteien in § 226 ZPO;
3. bei der Fortsetzung eines unterbrochenen Verfahrens in Form der Ladung bzw im
Beschluss(§ 165 Abs 3, § 167 ZPO);
4. bei einem Auftrag zur Bestellung eines Bevollmächtigten (§ 185 Abs 1 und 2 ZPO)
sowie beim Auftrag zur Namhaftmachung eines Zustellbevollmächtigten (Art 12
ZustG);
5. bei Androhung der Entfernung wegen Störung der Verhandlung(§ 198 Abs 2 und 3
ZPO);
6. dahingehend, dass der Zahlbefehl nur durch Erhebung des Widerspruchs außer Kraft
tritt (§ 582 Abs I Z 4 ZPO);
7. dass das Rechtsbot nur durch Erhebung des Rechtsvorschlags beseitigt wird (§ 593 d
Abs l Z 4 ZPO);
8. bei der gerichtlichen Aufkündigung (§ 562 Abs I ZPO) und beim Auftrag zur Über-
gabe/Übernahme eines Bestandgegenstands (§ 567 Abs 1 ZPO).
14.13 Eines Antrags zum Eintritt der Versäumniswirkungen bedarf es in folgenden Fällen:
1. Vor Erklärung der Klagszurücknahme nach § 60 Abs 3 ZPO wegen Nichterlags der
Prozesskostensicherheit; obwohl§ 60 Abs 3 ZPO von der Rezeptionsvorlage des§ 60
Abs 3 öZPO abweicht, ist nach der Rsp der Antrag des Gegners, die Klage wegen
Nichterlags der Kaution für zurückgenommen zu erklären, der kautionspflichtigen
Partei zur Äußerung zuzustellen. 2151 Die Folgen des Nichterlags der Sicherheit treten
somit nicht automatisch mit der Säumnis des Klägers ein, sondern es ist nach Antrag
des Beklagten eine Äusserung des Klägers einzuholen. Ob die Sanierungsmöglichkeit
bis zur Äusserung des Klägers oder bis zum Ausspruch der Kla~srücknahme durch das
Gericht möglich ist, wurde vom OGH zuletzt offen gelassen. 21 2 Festzuhalten ist, dass
der Antrag des Gegners, die Klage für zurückgenommen zu erklären, nach Auffassun§
des OGH keine Wirkungen zeitigt, wenn er vor Ablauf der Erlagsfrist gestellt wird; 215
diese zuletzt angeführte Judikatur ist allerdings auf die Sinnhaftigkeit zu hinterfragen,
weil danach ein zu früh gestellter Antrag als ein nicht gestellter Antrag betrachtet
wird, obwohl bei ungenützter Verstreichung der Frist zum Erlag der Sicherheit schon
ein Antrag vorliegt und die Sache entscheidungsreif wäre. Nach der zitierten Judikatur
ist aber ein neuer Antrag zu stellen;
2. vor Aufnahme eines unterbrochenen Verfahrens bei Nichterscheinen der Rechtsnach-
folger(§ 156 Abs 1 ZPO); vor Fortsetzung der Verhandlung ohne Rücksicht auf eine
ausstehende Beweisaufnahme (so etwa nach § 279 Abs 1 ZPO); bei zweifelhafter oder
unbestimmter Beweisaufnahme im Ausland; nach § 283 Abs 3 ZPO bei Beweisaufnah-
me durch einen ersuchten Richter; nach§ 335 Abs 1 ZPO bei vergeblicher wiederhol-
ter Einvernahme eines Zeugen; nach§ 367 ZPO bei Fristsetzung für SV; unterlässt das
Gericht die Beweisaufnahme ohne Antrag des Gegners, so kann bei entsprechender
Relevanz ein Verfahrensmangel vorliegen;
3. vor Fortsetzung bei Nichterlag eines Kostenvorschusses (§ 328 Abs 4 ZPO) für Ein-
vernahme eines auswärtigen Zeugen im Inland; § 332 Abs 2 ZPO für die Vergütung
des Zeugen; § 365 Abs 3 ZPO für Sachverständigenbeweis; § 368 Abs 3 ZPO für Au-
genschein;
4. vor Erlassung eines Versäumnisurteils(§§ 396, 399, 400 ZPO); ein Versäumnisurteil
ohne Antrag des Gegners wäre nichtig. Stellt der Gegner keinen Antrag auf Erlass
eines Versäumnisurteils, so tritt Ruhen des Verfahrens ein. Auf eingelangte Schrift-
sätze ist im liechtensteinischen Zivilprozess nicht Bedacht zu nehmen (§ 398 ZPO).
Ein so genanntes echtes Versäumnisurteil in der ersten Tagsatzung hat zur Folge, dass
das Vorbringen des Gegners für wahr zu halten ist. Vor der ZPO-Nov 2018 war ein
Antrag auf Fällung eines Versäumnisurteils zurückzuweisen, wenn der Nachweis fehl-
te, dass die nicht erschienene Partei zur Tagsatzung ordnungsgemäss vorgeladen wur-
de; mit der Nov wurde die Möglichkeit eines vorbehaltenen Versäumnisurteils einge-
führt, sodass das Versäumnisurteil auch noch innerhalb einer festzusetzenden Frist
nach der Tagsatzung erlassen werden kann. Damit wurde in zahlreichen Fällen ein
unnötiger Verfahrensaufwand vermieden.
14.15 Partei iS des§ 146 ZPO ist jede Person, die als unmittelbar Betroffener prozessuale Nach-
teile durch eine Versäumung erlitten hat, etwa auch ein Zeuge oder Sachverständiger in
einem Verfahren wegen Ersatz der Kosten einer verlegten Tagsatzung.
14.16 Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand findet in allen Verfahren statt, in denen die
Bestimmungen der ZPO oder des Ausserstreitgesetzes Anwendung finden, sofern sie in
den besonderen Verfahrensgesetzen nicht ausdrücklich ausgeschlossen ist. So wird sie
grundsätzlich in der KO (Art 21 KO) und der EO (Art 37 EO) ausgeschlossen, was aller-
dings nicht für die Exekutionsklagen der Art 18 bis 20 EO gilt, weil es sich bei diesen um
streitige Klagen mit Anwendung der ZPO handelt. Gern Art 297, 51 EO kommen im
Rechtssicherungsverfahren subsidiär die Bestimmungen der ZPO zur Anwendung, was
insb für die Anfechtungsfristen gilt. Erwähnt sei, dass Entsprechendes hinsichtlich der
Fristen gern Art 23 Abs l AussStrG auch im Außerstreitverfahren gilt. Die Exekutions-
klagen werden beim LG in das CG-Register eingetragen, wohingegen ein damit verbun-
dener Aufschiebungsantrag im Exekutionsregister im dort anhängigen Exekutions-Akt
eingetragen wird und vom Exekutionsrichter zu behandeln ist. Auch in den bei Gericht
anhängig gemachten Sozialversicherungsstreitigkeiten kommen die Bestimmungen der
Wiedereinsetzung zum Tragen, wogegen sich die Wiedereinsetzung in den (Verwaltungs-
)Verfahren vor den Sozialversicherungsträgern nach den Bestimmungen der Wiederein-
setzung in Art 104 LVG richtet. Anzumerken ist, dass das in Österreich gererlte Voll-
streckbarerklärungsverfahren, in dem die Wiedereinsetzung möglich ist, 154 in die
liechtensteinische EO nicht übernommen wurde. 2155 Das Grundbuchsverfahren richtet
sich nicht nach den Bestimmungen der ZPO; die Grundbuchssachen werden vom Amt
für Justiz unter der gerichtlichen Kontrolle des Verwaltungsgerichtshofs besorgt.
14.17 Die Wiedereinsetzung ist nur bei der Versäumung prozessualer Fristen, nicht jedoch
bei der Versäumung materieller Fristen (etwa Verjährungsfristen) möglich, wobei ver-
schiedentlich auch in Verfahrensordnungen materiell-rechtliche Fristen enthalten sein
können, die einer Restitution nicht zugänglich sind. Ob eine Frist prozessualer oder ma-
teriell-rechtlicher Natur ist, bestimmt sich nach deren Inhalt. Nur für prozessuale Fristen
gelten die allgemeinen Fristvorschriften der ZPO (§§ 123fZPO). Bei prozessualen Fristen
werden die Tage des Postlaufs nicht eingerechnet (§ 126 Abs 3 ZPO). Bei der Abgren-
zung zwischen prozessualen Fristen und materiell-rechtlichen Fristen ist danach zu fra-
gen, ob innerhalb der gesetzten Frist ein materiell-rechtlicher Anspruch geltend gemacht
werden soll bzw bei Fristablauf ein materieller Anspruch erlischt. Diese Abgrenzung ist
oft nicht einfach und mit Unsicherheiten behaftet.
14.18 So ist die Frist zur gerichtlichen Aufkündigung (§ 563 ZPO) keine der Wiedereinsetzung
zugängliche prozessuale Frist, weil bei Fristversäumnis die Kündigung materiell-rechtlich
unwirksam wird. Die Fristen in dem abweichend von der öZPO geregelten Besitzer-
schutzverfahren zur Einbringung einer Klage aus Besitzstörung oder aus Besitzentzie-
hung(§§ 54lf ZPO) richten sich nach den auf schweizerischer Rezeptionsvorlage beru-
henden materiell-rechtlichen Bestimmungen des Sachenrechts {Art 508 SR), womit eine
Wiedereinsetzung bei Versäumung der Fristen nicht stattfindet. Nichts anderes gilt bei
B. Wiedereinsetzungsgründe
1. Verschulden
Wenn eine Partei durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis am recht- 14.19
zeitigen Erscheinen bei einer Tagsatzung oder an der rechtzeitigen Vornahme einer be-
fristeten Prozesshandlung verhindert wurde und die dadurch verursachte Versäumung
für die Partei den Rechtsnachteil des Ausschlusses von der vorzunehmenden Prozess-
handlung zur Folge hatte, so ist dieser Partei nach § 146 Abs l ZPO, soweit das Gesetz
nichts anderes bestimmt, auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu be-
willigen. Mit der ZVN 2018 wurde im Gesetz die schon in der österr Rezeptionsvorlage
mit öZVN 1983 eingeführte Bestimmung übernommen, wonach es die Bewilligung der
Wiedereinsetzung nicht hindert, wenn der Partei ein Verschulden an der Versäumung
zur Last liegt und es sich nur um einen minderen Grad des Versehens handelt. 2159
Anzumerken ist, dass § 146 Abs 1 ZPO insoweit nach wie vor von § 146 Abs I öZPO 14.20
abweicht, als das Gesetz dort ausdrücklich als einen Sonderfall eines „unvorhergesehe-
nen" oder „unabwendbaren" Ereignisses „die unverschuldete Unkenntnis einer Partei
von einer Zustellung" erwähnt. Dieser Passus „ohne ihr Verschulden" blieb in der öZVN
1983 unberührt, weshalb im Gesetzestext nicht klar zum Ausdruck kommt, ob sich der
mit der öZVN 1983 eingeführte „mindere Grad des Versehens" auch auf diesen Sonder-
fall bezieht; dies wird aber von der hL und auch Rsp so gesehen. 2160 In § 146 Abs I ZPO
findet sich also dieses Redaktionsversehen nicht, wobei nach der Rsp hier auch die un-
verschuldete Unkenntnis einer Partei von einer Zustellung (iS eines minderen Grades des
Verschuldens) einen Wiedereinsetzungsgrund bilden kann, wobei vorausgesetzt wird,
dass die gesetzlichen Vorschriften über die Zustellung (ZustG bzw§ 87f ZPO) eingehal-
ten wurden, die Partei jedoch von der Zustellung keine Kenntnis erlangte, sofern ihr dies
nicht als grob fahrlässig anzulasten ist.
14.21 Festzuhalten ist, dass nach der Rechtslage in Österreich vor der öZVN 1983 - welche
weitgehend den gesetzlichen Bestimmungen der ZVN 2018 entsprach - die Wiedereinset-
zung nur dann gewährt werden konnte, wenn die Partei durch ein unvorhergesehenes oder
unabwendbares Ereignis am rechtzeitigen Handeln gehindert war. Die ölehre war zur Aus-
legung dieser Begriffe nicht einheitlich, die Rsp sehr kasuistisch und teilweise widersprüch-
lich.2161 Seit der Einfügung des§ 146 Abs 1 letzter Satz öZPO, wonach ein minderer Grad
des Versehens die Wiedereinsetzung nicht hindert, wurden die differenzierenden Ausle-
gungen in der öRsp entschärft, wenn auch nicht weniger kasuistisch.
14.22 In der (liechtensteinischen) Rsp findet sich bereits vor der gegenständlichen ZVN
2018 eine gewisse Orientierung an der mit der öZVN 1983 geschaffenen Rechtslage.
So wurde schon in der E des OGH v 1. 10. 19982162 ein „sehr leichtes Verschulden der
Partei oder ihres Rechtsvertreters" toleriert, auf welche Judikatur auch der Verwal-
tungsgerichtshof, der die Bestimmung des § 146 ZPO aufgrund der Verweisungsnorm
des Art 104 LVG anzuwenden hat, 2163 Bezug nahm. Der StGH hat erkennen lassen,
dass das Verschuldenskriterium im Verwaltungsverfahren, wo es vornehmlich um öf-
fentliche Interessen geht, weniger stark zu gewichten ist, als im Zivilverfahren, wo sich
grundsätzlich gleichwertige private Interessen gegenüberstehen. 2164 Daraus sei abzulei-
ten, dass im Zivilprozess im Interesse der gegenbeteiligten Partei und der Verfahrens-
ökonomie bei der Beurteilung des zulässigen Ausmaßes an Eifenverschulden jedenfalls
restriktiver vorzugehen sei. In einer weiteren E hat der StGH 165 ebenfalls betont, dass
die liechtensteinischen Gerichte, auch wenn sich die liechtensteinische Rechtslage von
§ 146 öZPO idF der ZVN 1983 unterscheide, dennoch „in jüngerer Zeit eine gewisse
Orientierung an der neuen österr Rechtslage vorgenommen hätten, weshalb es ange-
zeigt sei, bei der Auslegung und Anwendung des § 146 Abs 1 ZPO die öRsp und Lehre
zu berücksichtigen".
14.23 Danach ist ein Ereignis „unabwendbar", wenn es auch mit den einem Durchschnitts-
menschen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nicht verhindert hätte werden kön-
nen, auch wenn sein Eintritt vorhersehbar war. ,,Unvorhergesehen"' ist nicht nur ein
Ereignis, welches ein Durchschnittsmensch nicht vorhersehen konnte, sondern auch
ein solches, welches die Partei nicht einberechnet hat und dessen Eintritt sie auch unter
Bedachtnahme auf die ihr persönlich zumutbare Aufmerksamkeit und Voraussicht nicht
erwarten konnte. Bei der Auslegung dieses Begriffs müsse man sich nach dem StGH an
den subjektiven Verhältnissen der Partei orientieren. Die Partei müsse aber alle ihr zu-
mutbaren Maßnahmen treffen, um die Prozesshandlung fristgerecht vornehmen zu kön-
nen. Der Begriff „unvorhergesehen" sei somit durch den Begriff „unverschuldet" zu er-
gänzen. Zudem stelle das unvorhergesehene Ereignis nur dann einen tauglichen Wieder-
einsetzungsgrund dar, wenn es für die Versäumung kausal ist. Es könne ein Rechtsirr-
müsste, sich vor Einbringung eines Antrags an den StGH über die korrekte Eingabestelle
zumindest bei der ihr beigestellten Rechtsbeiständin zu informieren. 2169
14.29 Unvorhergesehen ist nach der E des OGH v 2. 5. 2002 2170 ein Ereignis, das eine Partei
nicht einberechnet hat und dessen Eintritt sie auch unter Bedachtnahme auf die ihr per-
sönlich zumutbare Aufmerksamkeit und Voraussicht (,,subjektiv unverschuldet") nicht
erwarten konnte. Dabei solle der Sorgfaltsmaßstab nicht überspannt werden. Anzumer-
ken sei immerhin, dass ,,§ 146 Abs 1 ZPO die Milderung für leichte Fahrlässigkeit ...
nicht kennt (anders nun idgF ZVN 2018). Bei berufsmäßigen rechtskundigen Parteien-
vertretern gilt - auch nach§ 146 Abs 1 öZPO mit der erwähnten Milderung - ein stren-
gerer Maßstab. Ein Rechtsirrtum, der im Allgemeinen ein Wiedereinsetzungsgrund sein
kann, ist grundsätzlich kein Wiedereinsetzungsgrund für berufsmäßige rechtskundige
Parteienvertreter". War die Versäumung absehbar und hätte sie durch ein der Partei
zumutbares Verhalten abgewendet werden können, dann sei die Wiedereinsetzung zu
verweigern.
14.30 Die in § 146 Abs 1 öZPO idF öZVN 1983 befürwortete Lockerung der Wiedereinset-
zungsmöglichkeiten solle va rechts- und gerichtsunkundigen Parteien zugutekommen.
Auch nach der österr Regelung hat die Partei das Verschulden ihres Anwalts zu vertreten.
In weiterer Folge betont der OGH, dass Unbilligkeiten auf dem Rücken der Parteien nach
Möglichkeiten vermieden werden sollen, jedoch „Termine und Fristen mit ihren Säum-
nisfolgen ein unentbehrliches und straff zu handhabendes Mittel zur Verfahrensbeschleu-
nigung und -konzentration" seien. Im zugrunde liegenden Fall wurde die für die Ge-
richtskosten aufgetragene Sicherheitsleistung nicht fristgerecht erlegt, was aufgrund der
komplexen Situation mit Teilrechtskraft und Teilanfechtung vom Anwalt selbst zu über-
prüfen gewesen wäre.
14.31 Der OGH 2171 hält hier nochmals zum Begriff der Unabwendbarkeit eines Ereignisses fest,
dass ein solches dann vorliege, wenn dieses von der Partei oder ihrem Vertreter mit den
einem Durchschnittsmenschen (objektiv) verfügbaren Möglichkeiten nicht verhindert
werden konnte, auch wenn sie den Eintritt des Ereignisses voraussah. Im gegebenen Fall
fehlten für den OGH jegliche Anhaltspunkte für ein objektives Hindernis, das den nicht
rechtzeitigen Erlag der Sicherheitsleistung hätte begründen können.
14.32 Der StGH hält fest, 2172 dass einer natürlichen oder juristischen Person, die die Vertretung
einer anderen Partei in einem Verfahren übernimmt, zuzumuten sei, sich rechtzeitig mit
der vertretenen Person über das weitere Vorgehen gegenüber einem ihr zugestellten Ur-
teil ins Einvernehmen zu setzen. Im vorliegenden Fall hatte die vertretene Partei einem
gemeinnützigen Verein, der die Vertretung in Sozialversicherungssachen übernahm, ein
grob fahrlässiges Verhalten angelastet, weil dieser nach Erhalt eines für die vertretene
Person nachteiligen Urteils ohne weitere Nachfrage darauf vertraute, dass die vertretene
Person das Urteil selbst zugestellt erhalten habe und abwartete, bis die vertretene Person
von sich aus reagiere. Die vertretene Partei verließ sich auf den Verein, wodurch es zur
2169 Unter Verweis auch auf StGH 2007/139 Erw 7.2ff und StGH 2010/54 Erw 3.2.
2170 05 CG.2000.180 LES 2005, 110.
2171 05 CG.2000.180 LES 2005, 110.
2172 StGH 2010/054.
Versäumung der Rechtsmittelfrist kam. Der OGH hatte in der dem zuvor geschilderten
Fall zugrunde liegenden E v 5. 3. 2010 2173 überdies festgehalten, dass auch unter Berück-
sichtigung des Umstands, dass es sich bei dem Verein um keine berufsmäßig zur Par-
teienvertretung eingerichtete (juristische) Person handle, diesem trotzdem eine Fahrläs-
sigkeit vorzuwerfen sei, die das „leichte Kanzleiversehen" übersteige.
In dieser Entscheidung führte der OGH weiter aus, dass sich derjenige, der sich auf 14.33
eine Prozessvertretung einlasse, ohne über die hierfür erforderlichen Fähigkeiten und
Kenntnisse zu verfügen, bei Fehlleistungen eine Einlassungsfahrlässigkeit entgegenhal-
ten lassen müsse. Andererseits müsse sich auch derjenige, der jemanden im Wissen zur
Prozessvertretung bevollmächtige, dass der Bevollmächtigte die hierfür erforderlichen
Fähigkeiten und Kenntnisse nicht habe, die Fehlleistungen der bevollmächtigten Per-
son als eigenes Mitverschulden entgegenhalten lassen. Weder das eine noch das andere
vermag eine Fristversäumnis zu entschuldigen und eine Wiedereinsetzung zu rechtfer-
tigen.2174
2173 SV 2008.29-25.
2174 OGH 5.3.2010 SV 2008.29-25.
2175 10 Vr 205/97-62 LES 1998, 302.
2176 BuA 2018/19, 75 (5.1) zu§ 146 Abs I ZPO.
In der E v 9. 1. 2007 2180 hat der OGH festgehalten, dass bei einem berufsmäßigen rechts- 14.39
kundigen Parteienvertreter ein Rechtsirrtum grundsätzlich keinen Wiedereinsetzungs-
grund darstelle. Es habe sich bei Rechtsmittelfristen der Parteienvertreter sorgfältig zu
erkundigen, wann der Beginn der Rechtsmittelfrist ist, wozu er sich insb zuverlässige
Kenntnis von der Zustellung der anzufechtenden Entscheidung verschaffen müsse; insb
wenn unterschiedliche Entscheidungen oder verschiedene Anfechtungspunkte vorliegen
und dadurch unterschiedliche Fristenläufe sein können, müsse der Rechtsanwalt selbst
die Fristvormerkung durchführen und diese nicht den Kanzleiangestellten überlassen. 2181
Eine Ausnahme vom Grundsatz, dass mangelnde Rechtskenntnis des Rechtsanwalts die 14.40
Wiedereinsetzung ausschließt, besteht insoweit, als der Rechtsirrtum primär durch einen
Behördenfehler veranlasst wurde. Gleiches gelte nach dem OGH 2182 für sonstige unrich-
tige Gerichtsauskünfte. Die Rsp nehme bei unrichtiger Rechtsbelehrung regelmäßig einen
Wiedereinsetzungsgrund an, dies zwar bei fehlender Rechtsmittelbelehrung lediglich aus-
nahmsweise, bei unrichtiger Rechtsmittelbelehrung jedoch in der Regel. In seiner E v
20. 2. 1995 2183 ist der OGH davon ausgegangen, dass die Judikatur ein Missverständnis
zwischen dem Gericht und der Partei nur in denjenigen Fällen als Wiedereinsetzungs-
grund bejahe, in denen die Ursache vom Gericht gesetzt wurde, etwa durch eine unvoll-
ständige schriftliche oder mündliche Belehrung oder gar durch eine falsche Belehrung. In
einer weiteren Entscheidung 2184 sah der OGH einen Wiedereinsetzungsgrund darin, dass
der Erstrichter den Rechtsanwalt telefonisch dahin unrichtig belehrt habe, dass der erlas-
sene Beschluss nicht anfechtbar sei, wobei auch in der schriftlichen Beschlussausfertigung
in der Rechtsmittelbelehrung unrichtig angeführt war, der Beschluss sei nicht anfechtbar.
Allerdings ist bei der Frage, ob überhaupt eine Versäumung von Rechtsmittelfristen vor- 14.41
liegt, auf die Bestimmungen der §§ 416a, 430a ZPO Bedacht zu nehmen. Danach ist,
wenn in einer Rechtsmittelbelehrung eine unrichtige Anfechtungsfrist angegeben und
diese länger als die gesetzliche ist, die Anfechtungsfrist während dieser längeren Frist
gewahrt; wurde eine kürzere Frist angegeben, so gilt die gesetzliche, und wenn die
Rechtsmittelbelehrung überhaupt fehlt, dann läuft die Rechtsmittelfrist nicht. Ist in der
Belehrung nicht das LG, sondern stattdessen unrichtig eine andere Amtsstelle zur Emp-
fangnahme des Rechtsmittels bezeichnet, so gilt die Anfechtungsfrist auch dann als ge-
wahrt, wenn es bei der unrichtigen Amtsstelle überreicht worden ist; die letztere Amts-
stelle hat das Rechtsmittel von Amts wegen an das Gericht zu leiten. Diese Bestimmung
gilt gern Art 23 Abs l AussStrG auch im Außerstreitverfahren. Ein Wiedereinsetzungs-
antrag kommt grundsätzlich ja erst dann zum Tragen, wenn eine Versäumung vorliegt.
Diese Bestimmun~en gelten nach der zuletzt ergangenen Judikatur - entgegen früherer
Entscheidungen 21 5 - nicht für Rechtsmittelgegenschriften, 2186 sondern nur für Anfech-
tungsfristen. IdZ ist anzumerken, dass der OGH in der Vergangenheit aus Gründen der
Verlängerung der Rechtsmittelfrist zugesagt hatte, somit die Unrichtigkeit dieser be-
hördlichen Zusage erkennen müssen. Nach der Rechtsbelehrung in der Verfügung
der Steuerverwaltung war auf die Rechtsmittelfrist des Art 91 Abs l LVG (14 Tage)
hingewiesen worden, bei welcher Frist es sich nach der Judikatur des StGH um eine
unerstreckbare Fallfrist handle. 2193 Dem Rechtsanwalt hätte daher bewusst sein müssen,
dass die Erstreckung der Rechtsmittelfrist nicht zulässig war, weshalb die Abweisung
des Wiedereinsetzungsantrags durch den Verwaltungsgerichtshof vom StGH bestätigt
wurde.
lZm der Einbringung einer Revision bzw eines Revisionsrekurses an den OGH muss 14.46
sich der Rechtsanwalt immer auch überlegen, ob er nicht eventualiter „aus prozessualer
Vorsicht" gleichzeitig mit der Erhebung des fraglichen ordentlichen Rechtsmittels auch
schon die Individualbeschwerde beim StGH einbringen muss. Bestehen nämlich Zwei-
fel, ob das ordentliche Rechtsmittel gegen die Entscheidung des OG überhaupt noch
offen ist, so ist vorsichtshalber schon die Individualbeschwerde einzubringen. 2194 In der
E v 2. 7. 2018 2195 wurde die Individualbeschwerde, die erst nach Ablauf von vier Wo-
chen nach Zustellung des Beschlusses des OG beim StGH eingebracht worden war, als
verspätet zurückgewiesen. Der Beschwerdeführer hatte zunächst gegen den Beschluss
des OG einen Revisionsrekurs an den OGH eingebracht, wobei in der Rechtsmittelbe-
lehrung des OG-Beschlusses der Hinweis enthalten war, dass zweifelhaft sei, ob die
Konformitätssperre bei gleichlautenden Beschlüssen im zugrunde liegenden Fall greife.
Das OG hatte in seiner Begründung ausgeführt, dass es im Zweifel den Revisionsrekurs
an den OGH als zulässig erachtet. Der OGH hatte dann allerdings den Revisionsrekurs
als unzulässig angesehen. Der StGH verwies bei seinem Zurückweisungsbeschluss nun
darauf, dass im Beschwerdefall das OG selbst Zweifel an der Richtigkeit seiner Rechts-
mittelbelehrung angebracht und dies auch begründet hatte. Der anwaltlich vertretene
Beschwerdeführer hätte deshalb aus prozessualer Vorsicht innerhalb der normalen Frist
von vier Wochen ab Zustellung der Entscheidung des OG eine Individualbeschwerde
erheben müssen.
14.48 In Österreich besteht dazu keine einhellige Lehre und Rsp. Die Gegenmeinung, 2196 die
auch hier eine Wiedereinsetzung zulassen will, argumentiert damit, dass eine Wiederein-
setzung einfacher, billiger und rascher sei. Dem ist allerdings nicht zu folgen, weil eine
mangelhafte Zustellung gar keine Zustellung ist und daher eine Versäumung der Partei
nicht vorliegt. So sprach auch der OGH in seiner E v 2. 12. 2016 219; aus, dass grundsätz-
liche Voraussetzung für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand das Vorliegen einer
Fristversäumnis sei. Eine Wiedereinsetzung scheide daher schon von vornherein aus,
wenn eine Frist gar nicht versäumt wurde. Indem der Wiedereinsetzungswerber im zu-
grunde liegenden Fall die Unwirksamkeit der Zustellung der Entscheidung aufgrund sei-
ner Ortsabwesenheit zum Zeitpunkt der Hinterlegung behauptete, wurde lediglich ein
Zustellmangel behauptet, der mit einem Rechtsmittel gegen die Entscheidung geltend
zu machen gewesen wäre.
14.49 Ist von einer wirksamen Zustellung eines Zahlbefehls oder einer Entscheidung auszu-
gehen, so trifft das Risiko des Beschädigens oder Entfernens der gehörigen Verständigung
grundsätzlich den Empfänger; diesem ist allerdings durch die Möglichkeit der Wieder-
einsetzung der entsprechende Schutz zu gewähren. ldZ ist festzuhalten, dass nach § 106
ZPO Klagen oder Entscheidungen nur zu eigenen Handen (Art 23 ZustG) zuzustellen
sind. Art 23 Abs I ZustG verfügt, dass dem Empfänger zu eigenen Handen zuzustellende
Dokumente nur an den Empfänger oder einen zur Übernahme solcher Dokumente er-
mächtigten Vertreter zugestellt werden können. Gern Art 25 Abs 3 ZustG hat die Behör-
de den Empfänger durch eine Verständigung von der Hinterlegung zu unterrichten. Gern
Art 25 Abs 4 ZustG ist das hinterlegte Dokument mindestens 14 Tage zur Abholung be-
reitzuhalten. Der Lauf dieser Frist beginnt mit dem Tag, an dem das Dokument erstmals
zur Abholung bereitgehalten wird. Hinterlegte Dokumente gelten mit dem ersten Tag
dieser Frist als zugestellt.
14.50 In seiner E v 25. 5. 1992 2198 ging der OGH davon aus, dass von einer allgemeinen Post-
vollmacht die Empfangnahme von Klagen nicht umfasst wird, vielmehr in der generellen
Vollmacht eine ausdrückliche Spezialermächtigung für den verfahrenseinleitenden An-
trag erforderlich ist. Die Bestimmung des Art 19 Abs 3 ZustG normiert die Fiktion, dass
hinterlegte Dokumente mit dem ersten Tag der 14-tägigen Abholfrist „als zugestellt" gel-
ten. Sie gelten aber dann nicht als zugestellt, wenn der Empfänger oder dessen Vertreter
iS des Art 16 Abs 3 ZustG gegenüber der Behörde glaubhaft macht, dass er nicht binnen
drei Werktagen vom Zustellvorgang Kenntnis erlangen konnte, doch wird die Zustellung
mit dem auf den Wegfall des Hindernisses folgenden Tag innerhalb der Abholfrist wirk-
sam, an dem das hinterlegte Dokument behoben werden könnte. Mit dieser 3-Tage-Re-
gelung weicht das Zustellgesetz von der österr Rezeptionsvorlage ab. Die Ausnahme von
der Zustellungsfiktion ist damit nach öZustG nicht durch eine Frist begrenzt. In seiner E
v 2.7.2013 hat der StGH 2199 das Ziel der Regelung des Art 19 Abs 3 ZustG darin erblickt,
die Funktionsfähigkeit der Justiz und die Rechtssicherheit zu gewährleisten. Diese Rege-
2196 Vgl OJZ 1968, 598; Holzhammer, Zivilprozeßrecht2 159; Ballon, Zivilprozessrecht 12 Rz 302;
LGZ Wien Miet 22.627; OLG Linz 2 R 65/86 RZ 1987/36 ua.
2197 OGH.2016.153-25, 3R RU.2016.172.
2198 OGH Hp 37/88-41 LES 1993, 42.
2199 StGH 2012/92.
lung stelle keine übermäßige Anforderung dar, wenn von einem Bürger verlangt wird,
dass er behördliche Dokumente sorgfältig lese, um eine Rechtsmittelfrist wahren zu kön-
nen. Sie sei ohne Weiteres für jedermann verständlich und alle Rechtsunterworfenen
würden bei einem Zustellvorgang iSd Art 19 Abs 3 ZustG gleich behandelt.
Zu betonen ist, dass die 3-Tage-Frist mit dem ersten Tag der Hinterlegung beginnt, also 14.51
der erste Tag mitzuzählen ist. Damit ist der erste Tag gemeint, an dem das Poststück zum
ersten Mal zur Abholung bereitgehalten wurde. Anzumerken ist weiter, dass ungeachtet
der Formulierung in Art 19 Abs 3 ZustG, wonach der Empfänger „gegenüber der Behör-
de glaubhaft zu machen habe", dass er nicht binnen drei Werktagen vorn Zustellvorgang
Kenntnis „habe erlangen können", in einem Rechtsmittel gegen den Zurückweisungsbe-
schluss wegen Verspätung trotz Neuerungsverbots geltend gemacht werden können
muss, dass in Wahrheit keine Versäumnis vorliege, sofern nicht das Erstgericht von Amts
wegen zusätzliche Abklärungen vor seiner Entscheidung zur Frage des rechtmäßigen Zu-
stellvorgangs vorgenommen hat. 2200
Bei der Frage, ob eine Säumnis vorliegt und daher ein Wiedereinsetzungsantrag oder ein 14.52
Rechtsmittel zu erheben ist, ist auch zu prüfen, ob und wenn ja, durch welchen Vorgang
und zu welchem Zeitpunkt, eine Heilung eines Zustellmangels eingetreten ist. Damit
eine Heilung eines Zustellmangels, sei es im Bereich der Zustellverfügung oder im Be-
reich des Zustellvorgangs, eintritt, ist aber immer das tatsächliche Zukommen des zuzu-
stellenden Schriftstücks notwendig. Es muss also, um eine Heilung des mangelhaften
Zustellvorgangs zu bewirken, eine faktische Ernpfangnahrne des Dokuments stattfinden.
Nicht einmal die Kenntnis des Inhalts eines Beschlusses ersetzt die gebotene Zustellung
der Beschlussausfertigung. Das bloße Erfahren des Inhalts eines Schriftstücks, sei es auch
durch Ernpfangnahrne einer Kopie, genügt nicht. Den Empfänger, der Kenntnis von ei-
ner mangelhaften Zustellung hat, trifft auch keine Handlungspflicht etwa dahin, sich
nach dem Verbleib der Sendung zu erkundigen oder zu versuchen, sie zu erhalten, sei
es bei der Post, der Zustellbehörde oder auf sonstige Weise. 2201 Von der öLehre und Rsp
wurde aus allgemeinen Verfahrensgrundsätzen eine Erweiterung der Heilungsmöglich-
keit erschlossen. Ein nachträgliches Berufen auf einen Zustellmangel ist nämlich (außer-
halb Art 7 ZustG) auch dann nicht möglich, wenn dem Zustellinhalt gemäß reagiert wur-
de.2202 Eine solche Heilung durch Einlassung kommt aber nach der E des OGH v 2. 11.
2018 2203 nur dann in Betracht, wenn die Partei, der nicht ordnungsgemäß zugestellt wur-
de, die aber in anderer Weise Kenntnis vorn Zustellstück erlangte, genau die sich durch
das Zustellstück eröffnete Möglichkeit ergreift (Rechtsmittel, Einspruch, Widerspruch,
Rechtsmittelgegenschrift ua). So konnte in der zugrunde liegenden Entscheidung eine
Heilung des Zustellmangels des Zahlbefehls auch nicht durch Zustellung der Exekutions-
bewilligung, die aufgrund eines nicht ordnungsgemäß zugestellten Zahlbefehls erging,
oder durch den in der Folge erzwungenen Offenbarungseid eintreten.
14.53 Es genügt im Übrigen im Fall von mehreren vertretungsbefugten Organen die Zustellung
an einen dieser Vertreter2204 und an den Hausverwalter einer Stockwerkseigentümer-
schaft2205; mit der früheren Praxis, dass die Rechtsmittelfristen nicht ab dem Datum
des Postempfangs, sondern erst ab dem Datum der Unterzeichnung des Rückscheins
laufen würden, wurde schon mit der E des OGH v 25. 5. 1992 2206 aufgeräumt. Innerhalb
der Frist per Fax oder E-Mail (zumindest mit PDF-Anhang) eingebrachte Rechtsmittel
lösen einen vom Gericht wegen der fehlenden Unterschrift zu unternehmenden Verbes-
serungsversuch aus. 2207
Verhandlung grob schuldhaft sein wird; eine andere Sicht könnte vorliegen, wenn eine
Alkoholkrankheit bescheinigt würde. Es ist Sache der Partei, eine Verhinderung oder
Vernehmungsunfähigkeit infolge Krankheit durch ein ärztliches Attest zu bescheinigen.
Kommt sie dem gerichtlichen Auftrag, binnen einer gesetzten Frist ein ärztliches Attest
vorzulegen nicht nach, so ist sie von der Verhandlung unentschuldigt ferngeblieben. 2213
Gegen die Versäumung einer solchen Frist wäre allerdings grundsätzlich die Wiederein-
setzung möglich.
Es geht im Ergebnis also immer darum, dass die Krankheit plötzlich und nicht vorher- 14.57
sehbar aufgetreten ist und dies die unvertretene Partei bzw ihren Vertreter für die vor-
zunehmende Prozesshandlung handlungsunfähig machte.
C. Wirkungen
Durch die Bewilligung der Wiedereinsetzung tritt der Rechtsstreit in die Lage zurück, die 14.58
vor Versäumung bestanden hatte(§ 150 Abs 1 ZPO). Das zwischen Säumnis und Bewil-
ligung der Wiedereinsetzung durchgeführte Verfahren wird grundsätzlich ex lege aufge-
hoben, wobei § 150 Abs 1 ZPO anordnet, dass mittlerweile ergangene Versäumnisurteile
ausdrücklich aufzuheben sind. Da mit der Bewilligung der Wiedereinsetzung die Pro-
zesslage vor der Säumnis wiederhergestellt wird, sind sämtliche im aufgehobenen Ver-
fahrensabschnitt gesetzten Prozesshandlungen unwirksam. Auch wenn § 150 Abs 1
Satz 2 ZPO lediglich von der Aufhebung der Versäumnisurteile spricht, sollte aus Grün-
den der Rechtssicherheit auch über sonstige aufgrund der Versäumung ergangene Be-
schlüsse mittels deklarativem Beschluss festgestellt werden, dass diese aufgehoben sind
(etwa ein Beschluss, mit dem eine Klage oder ein verspätetes Rechtsmittel zurückgewie-
sen wurde, ebenso sonstige prozessbeendende Beschlüsse).
Die Bewilligung der Wiedereinsetzung wirkt bei mehreren Streitgenossen nach§ 11 ZPO 14.59
grundsätzlich nur für denjenigen, dem die Wiedereinsetzung bewilligt wurde. Liegt eine
einheitliche Streitpartei nach§ 14 ZPO vor, so wirkt die einem Streitgenossen bewilligte
Wiedereinsetzung zu Gunsten sämtlicher Streitgenossen bzw auch für den streitgenössi-
schen Nebenintervenienten (§ 20 ZPO), der wie ein Teilgenosse einer einheitlichen
Streitpartei zu behandeln ist. Hat ein einfacher Nebenintervenient zu Gunsten der Haupt-
partei die Wiedereinsetzung beantragt, obwohl diese aufgrund ihrer Säumnis selbst kei-
nen Wiedereinsetzungsantrag gestellt hat, wirkt die Wiedereinsetzung sowohl für die
Hauptpartei als auch für den einfachen Nebenintervenienten. Eine einheitliche Streitpar-
tei bilden etwa Gesamthandeigentümer in einer Erbengemeinschaft, wo das Recht not-
wendig nur für oder gegen alle einheitlich festgestellt werden kann. Jede anspruchsge-
bundene Streitgenossenschaft ist eine „notwendige Streitgenossenschaft", weil Klagen
über derartige Rechte oder Rechtsverhältnisse nur dann Erfolg haben können, wenn alle
gemeinsam Berechtigten oder Verpflichteten entweder auf Kläger- oder auf Beklagten-
seite vertreten sind. 2114
Die Aufhebung von Entscheidungen infolge Bewilligung der Wiedereinsetzung hat dasje- 14.60
nige Gericht anzuordnen, das über die Wiedereinsetzung zu befinden hatte, auch wenn
die Wiedereinsetzung etwa erst über Rekurs des Wiedereinsetzungswerbers durch das
Rechtsmittelgericht erfolgen sollte. Die Bewilligung der Wiedereinsetzung beseitigt auch
aufgrund der Säumnis ergangene rechtskräftige Entscheidungen, auf deren Grundlage
allfällig schon das Exekutionsverfahren eingeleitet wurde. Wird aufgrund der rechtskräf-
tigen Entscheidung bereits Exekution geführt, so handelt es sich dabei um ein weiteres, an
das Titelverfahren anschließendes Vollstreckungsverfahren, welches nicht unmittelbar
von der ex lege-Wirkung des § 150 Abs 1 ZPO erfasst wird. Der Wiedereinsetzungswer-
ber kann aber nach rechtskräftiger Bewilligung der Wiedereinsetzung gestützt auf Art 21
Abs 1 lit a EO die Einstellung der Exekution beantragen. Ist die Exekution bereits voll-
zogen worden, so ist nach bereicherungsrechtlichen Grundsätzen eine Rückabwicklung
durchzuführen.
einzubringen, weil gern Art 86 Abs 3 AHVG die Berufung beim OG einzureichen ist.
Gegen Verfügungen und Einspracheentscheide der Versicherer nach dem UVersG steht
dem Betroffenen innert zwei Monaten ab Zustellung der Verfügung bzw der Einsprache-
entscheidung die Klage an das LG offen. Demnach wird auch das LG bei Versäumung
dieser Frist über den Wiedereinsetzungsantrag zu entscheiden haben. Bei den Rechtsmit-
teln nach dem Krankenversicherungsgesetz ist zu unterscheiden: Ist ein Versicherter oder
ein Aufnahmewerber mit dem Bescheid einer Kasse nicht einverstanden, so hat diese
innert 30 Tagen eine schriftliche Verfügung mit Angabe der Gründe und Rechtsmittel
zu erlassen. Gegen Verfügungen der Kasse steht den Beteiligten binnen 60 Tagen ab Zu-
stellung der Verfügung die Klage an das LG offen. Werden also Fristen im Rahmen des
Verwaltungsverfahrens bei der Kasse versäumt, so richtet sich die Wiedereinsetzung nach
den Bestimmungen des LVG. Wird hingegen die Klagefrist versäumt, so wäre der Wie-
dereinsetzungsantrag beim LG einzubringen.
Anzumerken ist, dass de lege ferenda Überlegungen im Gange sind, das Verfahren in 14.63
Sozialversicherungssachen allgemein neu zu regeln, weshalb obige Ausführungen de lege
lata gelten.
14.67 Im Wiedereinsetzungsantrag hat die Partei nach § 149 ZPO alle den Wiedereinsetzun~s-
grund begründenden Umstände anzugeben. Nach der Rsp gilt die Eventualmaxime. 15
2
Geht man von der Geltung der Eventualmaxime aus, dann hat der Wiedereinsetzungs-
antrag also alle ihn begründenden Umstände und Bescheinigungsmittel zu enthalten und
kann die Unterlassung dieser Angaben nicht mehr nachgetragen oder verbessert werden.
Mit der ZVN 2018 wurde zwar auch die Möglichkeit der Verbesserung von Inhaltsmän-
geln von fristgebundenen Schriftsätzen eingeführt (§ 84 Abs 3 ZPO [nF)), jedoch kommt
dies hier nicht in Betracht. 2216
14.68 Der Wiedereinsetzungswerber muss die Gründe nicht beweisen, sondern lediglich glaub-
haft machen iSd § 274 ZPO. Die Bescheinigungsmittel sind dem Schriftsatz bereits anzu-
schließen, wenn dies ihrer Natur nach möglich ist; lediglich dann, wenn dies nicht mög-
lich ist, müssen sie zumindest so zeitgerecht angeboten werden und greifbar sein, dass sie
bei einer allenfalls erforderlichen mündlichen Verhandlung über den Antrag „parat"
sind.2211
14.69 Mit dem Wiedereinsetzungsantrag ist gleichzeitig die versäumte Prozesshandlung selbst
(etwa das versäumte Rechtsmittel oder die versäumte Rechtsmittelgegenschrift) bzw bei
Versäumung einer Tagsatzung das versäumte Vorbringen (etwa Sachvorbringen, Einre-
den bzw Einwendungen etc) nachzuholen. Im Schuldentriebverfahren muss der Wieder-
einsetzungswerber nichts nachholen, weil nach § 590 Abs l ZPO die Bewilligung der
Wiedereinsetzung ohnehin die Wirkung des Widerspruchs gegen den Zahlbefehl hat,
ohne dass es einer neuerlichen Erhebung des Widerspruchs bedarf.
14.70 Es müssen der Wiedereinsetzungsantrag und die nachgeholte Prozesshandlung nicht im
selben Schriftsatz erfolgen, jedoch beides jedenfalls bis zum Ende der Wiedereinset-
zungsfrist. Bis zur ZVN 2018 war über einen Wiedereinsetzungsantrag, falls er nicht
nach § 147 Abs l ZPO oder § 148 Abs 3 ZPO ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen
war, zwingend mündlich zu verhandeln, also auch dann, wenn zur Abklärung der Vo-
raussetzungen für die Wiedereinsetzung nach § 146 ZPO weder die Parteien noch Zeu-
gen einzuvernehmen waren. 2218 Mit Inkrafttreten der ZVN 2018 ist es in das Ermessen
des Gerichts gestellt, ob es eine mündliche Verhandlung für erforderlich hält. 2219
14.71 Falls keine mündliche Verhandlung durchgeführt wird, zu welcher auch der Gegner zu
laden wäre, ist diesem jedenfalls durch Zustellung des Wiedereinsetzungsantrags samt
Beilagen das rechtliche Gehör zu gewähren. Ist eine Verhandlung über den Wiederein-
setzungsantrag erforderlich, so ist es zweckmäßig, auch gleich die Streitverhandlung an-
zuberaumen, weil im Fall der Bewilligung der Wiedereinsetzung - sofern nicht bei zuvor
versäumter erster Tagsatzung wegen der dann offenen Kautionsfrage eine mangelnde
2215 Vgl StGH 2016/32 Erw 2.7.2; so auch schon OG E 4094/81 LES 1983, 33.
2216 So auch die hRsp und Lehre in Österreich; vgl Deix/er-Hübner in Fasching/Konecny 11/3 1 § 149
ZPO Rz 2.
2217 OG E 4094/81 LES 1983, 33.
2218 Vgl StGH 2016/32 Erw 2.7.2, wobei der StGH von einer Aufhebung der die Wiedereinsetzung
abweisenden Entscheidung Abstand nahm, weil ohnehin der vorgebrachte Sachverhalt als be-
scheinigt angenommen und der Wiedereinsetzungsantrag aus rechtlichen Erwägungen abge-
wiesen worden war; s auch VGH 2017/048.
2219 BuA 2018/19, 76.
Streiteinlassung in der Sache vorauszusehen ist - die Parteien nach Fassung des Beweis-
beschlusses gleich in der Sache selbst befragt werden können, um die Streitpunkte näher
abzuklären. Jedenfalls können dann schon allfällige Prozesseinreden oder die Kautions-
frage behandelt werden. Es empfiehlt sich allerdings, zunächst über die Frage der Wieder-
einsetzung zu verhandeln (dies schon wegen der separat zu behandelnden Kostenfrage,
wobei im Protokoll die Dauer der Verhandlung über den Wiedereinsetzungsantrag fest-
zuhalten ist) und nach dem mündlich verkündeten Beschluss über die Bewilligung der
Wiedereinsetzung (gegen diesen Beschluss ist kein Rechtsmittel zulässig) sogleich mit der
eigentlichen Tagsatzung in der Sache zu beginnen.
Anzumerken ist, dass der Wiedereinsetzungswerber nicht verpflichtet ist, die Auskunfts- 14.72
personen zum Wiedereinsetzungsantrag selbst stellig zu machen, sondern das Gericht die
Ladung verfügen muss. Die Vertagung der Verhandlung über einen Wiedereinsetzungs-
antrag zur Beischaffung sonstiger Beweismittel ist nicht vorgesehen; kommt der Wieder-
einsetzungswerber zur Tagsatzung nicht, so ist der Wiedereinsetzungsantrag abzuweisen.
Ein Wiedereinsetzungsantrag führt nach§ 152 ZPO nicht ex lege zur Unterbrechung des 14.73
Verfahrens, allerdings kann auf Antrag oder auch von Amts wegen die Unterbrechung
des Verfahrens angeordnet werden. Eine Unterbrechung des erstinstanzlichen Verfah-
rens oder auch schon eines Rechtsmittelverfahrens wird dann zu verfügen sein, wenn
dem Gegner dadurch kein erheblicher Nachteil zugefügt wird und die Wiedereinsetzung
voraussichtlich zu bewilligen sein wird. Es wird also eine Abwägung der Interessen zu
erfolgen haben. Das Erstgericht wird den Wiedereinsetzungsantrag unverzüglich entwe-
der dem Rechtsmittelgericht übermitteln, wenn das Verfahren schon dort anhängig ist,
oder aber den Akt einholen, wenn es selbst zur Entscheidung über den Wiedereinset-
zungsantrag zuständig ist.
C. Kosten
§ 154 ZPO sieht eine Kostenseparation vor: Der Wiedereinsetzungswerber hat zunächst 14.74
sämtliche eigenen Kosten des Wiedereinsetzungsverfahrens selbst zu tragen, wie auch die
Mehrkosten des Wiedereinsetzungsgegners, die von ihm verursacht wurden, gleichgültig,
ob ihn an der Versäumung der Prozesshandlung ein Verschulden trifft oder nicht.
Dies bedeutet, dass der Wiedereinsetzungswerber die Kosten des Wiedereinsetzungsan- 14.75
trags und die Kosten des aufgrund des Antrags geführten Verfahrens - sollte eine münd-
liche Verhandlung erforderlich sein auch diese - selbst zu tragen hat, insb auch die Kos-
ten eines durch die bewilligte Wiedereinsetzung frustriert gewordenen Rechtsmittelver-
fahrens. In einem solchen hat der Wiedereinsetzungswerber dem Gegner die Kosten der
zweckentsprechenden Rekursbeantwortung zu ersetzen, auch wenn er mit seinem Wie-
dereinsetzungsantrag Erfolg haben sollte.
Die Kosten der Äußerung des Wiedereinsetzungsgegners zum Wiedereinsetzungsantrag 14.76
sind schon deshalb vom Wiedereinsetzungswerber zu tragen, weil dem Gegner rechtli-
ches Gehör gegeben werden muss. Schreibt der Richter eine Verhandlung über den Wie-
dereinsetzungsantrag aus, so muss der Schriftsatz des Gegners jedenfalls zweckentspre-
chend und vom Richter aufgetragen sein, damit der Gegner dafür die Kosten ansprechen
kann; gegebenenfalls sind die Kosten dem Gegner auch für einen nicht aufgetragenen
Schriftsatz zuzuerkennen, wenn dieser für die Vorbereitung der mündlichen Verhand-
lung (etwa bei einem zweckentsprechenden Vorbringen mit Anbot von Zeugen für die
mündliche Verhandlung) erforderlich war.
14.77 Für die Verhandlung über den Wiedereinsetzungsantrag kann der Gegner nur dann
Kosten geltend machen, wenn sie abgrenzbar für den Wiedereinsetzungsantrag entstan-
den sind. Wurde also eine eigene Tagsatzung für die Verhandlung über den Wiederein-
setzungsantrag abgehalten und beginnt erst nach Verkündung des Beschlusses über die
Bewilligung des Wiedereinsetzungsantrags die weitere Verhandlung in der Sache, dann
sind dem Gegner die Kosten für die Tagsatzung über den Wiedereinsetzungsantrag zuzu-
sprechen. Dafür bedarf es einer entsprechenden Protokollierung des Beginns und Endes
der Tagsatzung über den Wiedereinsetzungsantrag. Findet eine gemeinsame Verhand-
lung über den Antrag und die Hauptsache statt, dann hängt es davon ab, ob es sich
bei der Verhandlung über den Wiedereinsetzungsantrag um sogenannte „Sowieso-Kos-
tenu handelt, also für die Verhandlung über den Wiedereinsetzungsantrag keine abgrenz-
baren Mehrkosten entstanden sind. Hat diesfalls die Verhandlung etwa nur zwei halbe
Stunden gedauert, so sind keine Mehrkosten aufgelaufen.
14.78 Jedenfalls ist es für den Gegner wichtig, dass er die Kosten für das Wiedereinsetzungs-
verfahren (in seiner schriftlichen Äußerung) bzw in der mündlichen Verhandlung sepa-
rat verzeichnet.
14.79 Der Wiedereinsetzungsgegner kann aber nur in jenen Verfahrensarten Kosten anspre-
chen, in denen er in der Hauptsache überhaupt einen Kostenersatzanspruch hat. IdZ
ist anzumerken, dass die in Österreich mit der ZVN 2004 BGBl I 2004/ 128 eingeführte
Bestimmung des§ 72 Abs 3 öZPO, wonach ein Kostenersatz im Verfahren über die Er-
langung der Verfahrenshilfe ausgeschlossen ist, in die ZPO bislang nicht übernommen
wurde.
14.80 Im Verfahren nach dem AHVG können zu Lasten des Wiedereinsetzungswerbers keine
Kosten auflaufen, weil in diesen Verfahren ohnehin keine Kostenersatzpflicht des Ver-
sicherten besteht. Im Verfahren nach dem Ausserstreitgesetz wird in Art 21 AussStrG die
Anwendung des § 154 ZPO ausdrücklich ausgenommen. Es gilt dort für den Kostenersatz
ausschließlich Art 78 AussStrG. Zu beachten ist, dass die Bestimmungen über die Wie-
dereinsetzung in den vorigen Stand im AussStrG zwar sinngemäß anzuwenden sind, al-
lerdings dann nicht, wenn die Möglichkeit der Einbringung eines neuen Antrags besteht
oder die mit der Versäumung verbundenen Nachteile durch ein Rechtsmittel abgewendet
werden können. Dies hängt davon ab, ob dem versäumten Vorbringen und den nicht
angebotenen Beweismitteln das Neuerungsverbot entgegensteht, was wiederum von der
Qualifikation des Verschuldens als einer entschuldbaren Fehlleistung abhängig ist. Der
Wiedereinsetzungswerber muss sich entscheiden - da anders als in der ZPO keine Kon-
kurrenz der Rechtsbehelfe zulässig ist -, ob er einen Rekurs, einen neuen Antrag oder
einen Wiedereinsetzungsantrag stellt. Davon wird auch abhängen, ob und welche Kosten
letztlich mit der Versäumung verbunden sind.
14.81 Nach Art 37 Abs 2 EO ist im Exekutionsverfahren eine Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand grundsätzlich nicht zulässig; dies gilt jedoch nicht für die Exekutionsklagen, welche
nach den Bestimmungen der ZPO im CG-Verfahren durchzuführen sind. Anzumerken
ist, dass in der EO die in Österreich mit der EO-Nov 2000 BGB! I 2000/59 eingefügte
D. Rechtsmittelverfahren
Gegen die Bewilligung der Wiedereinsetzung ist ein Rechtsmittel nicht zulässig. Aller- 14.84
dings kann gegen die Bewilligung der Wiedereinsetzung eine Beschwerde an den StGH
wegen Verletzung von Grundrechten (idR wird Willkür geltend gemacht) erhoben wer-
den. Eine Anfechtung wird dann in Betracht kommen, wenn in einem Verfahren über-
haupt keine gesetzliche Grundlage für die Bewilligung einer Wiedereinsetzung besteht.
Grundsätzlich hat somit lediglich der Wiedereinsetzungswerber das Rechtsmittel des 14.85
Rekurses gegen den seinen Wiedereinsetzungsantrag abweisenden Beschluss, wobei nach
der Rsp im Fall unmittelbar aufgenommener Beweise das Rekursgericht den vom Erst-
gericht festgestellten Sachverhalt nicht umwürdigen kann, zumal eine mündliche Rekurs-
verhandlung im Gesetz nicht vorgesehen ist. Bewilligt das Rekursgericht die Wiederein-
setzung, so besteht gegen diese Entscheidung kein weiteres Rechtsmittel.
14.86 Weist das Rekursgericht den Wiedereinsetzungsantrag zurück oder weist ein Gericht hö-
herer Instanz als das funktionell in erster Instanz zuständige Gericht den Wiedereinset-
zungsantrag ab, dann kann dagegen wiederum (Revisions-)Rekurs erhoben werden. Be-
stätigt das Rekursgericht die Zurück- oder Abweisung des Wiedereinsetzungsantrags,
dann liegen konforme Beschlüsse vor und ist ein weiteres Rechtsmittel dagegen nicht
mehr zulässig (§ 496 Abs l ZPO). Weist das Berufungsgericht im Berufungsverfahren
einen Wiedereinsetzungsantrag ab, so ist nach § 487 ZPO dagegen kein Rekurs zulässig.
14.87 Ergeht ein (echtes) Versäumnisurteil, so kann die säumige Partei dagegen Berufung er-
heben und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragen. Ergreift die Partei
beide Rechtsbehelfe, so kann sie dem Gericht bindend die Reihenfolge ihrer Erledigung
vorgeben. 2221 Gibt die Partei keine Reihenfolge der Behandlung vor, so ist nach dem
öOGH zunächst über die Berufung zu entscheiden. 2222 Dies ist in der öLehre strittig. 2223
2221 Vgl etwa bei Erhebung eines Rekurses und Einspruchs gegen eine EV OGH 12. l. 2018, 07
HG.2017.78 Erw. 8.1.
2222 OGH I Ob 196/72 JBI 1974, 46.
2223 Vgl Deix/er-Hübner in Fasching/Konecny 11/3 3 § 147 ZPO Rz 7.
Übersicht
Rz
I. Unterbrechung des Verfahrens(§§ 155ff ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.1
A. Gegenstand und Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.1
B. Unterbrechung von Amts wegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.3
1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.3
2. Tod oder Auflösung einer Partei (§§ 155f ZPO) . . . . . . . . . . . . 15.5
a) Natürliche Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.5
b) Juristische Personen und Personengesellschaften . . . . . . . . . 15.11
3. Verlust der Prozessfähigkeit(§ 158 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.17
4. Wechsel in der Person des gesetzlichen Vertreters(§ 158 ZPO) . 15.24
5. Konkurseröffnung(§ 159 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.26
6. Wechsel in der Person des Rechtsanwalts(§ 160 ZPO) . . . . . . . 15.32
7. Einstellung der Amtstätigkeit des Gerichts(§ 161 ZPO) . . . . . . . 15.34
8. Weitere Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.36
a) Sicherheitsleistung für Prozesskosten (§ 61 Abs I ZPO) . . . . 15.36
b) Vorsorgliche Maßnahmen des Staatsgerichtshofs (Art 53
StGHG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.37
C. Unterbrechung auf Antrag (,,Aussetzung") . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.38
1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.38
2. Zufällige Verhinderung einer Partei (§ 162 ZPO) . . . . . . . . . . . 15.40
3. Präjudizielles Verfahren(§ 190 Abs 1 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . 15.44
a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.44
b) Präjudizialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4 7
c) Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.52
d) Ermessen des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.54
e) Zivilverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.55
0 Außerstreitverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.56
g) Verwaltungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.57
h) Ausländisches Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.59
i) Individualbeschwerdeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.61
j) Kompetenzkonflikt der Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.64
k) Verfahren vor Schiedsgerichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.65
1) Unterbrechung im Rechtssicherungsverfahren? . . . . . . . . . . 15.68
4. Streit über Nebenintervention(§ 190 Abs 2 ZPO) . . . . . . . . . . . 15.71
5. Verdacht einer strafbaren Handlung(§ 191 ZPO) . . . . . . . . . . . 15.72
6. Vorlageverfahren an den Staatsgerichtshof bzw den EFTA-Ge-
richtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.75
7. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 152 ZPO) . . . . . . . . 15.79
8. Wiederaufnahmeklage(§§ 512ff ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.80
9. Scheidungsverfahren (§ 525 Abs 3 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.82
D. Entscheidung des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.83
2224 Demgegenüber ist die Unterbrechung des Außerstreitverfahrens in Art 25 ff AussStrG gere-
gelt; die dort genannten Unterbrechungsgründe stimmen inhaltlich mit jenen der ZPO über-
ein. Während der Unterbrechung kann das Gericht im Außerstreitverfahren jedoch in be-
stimmten Fällen gleichwohl Verfahrenshandlungen vornehmen (Art 26 Abs I AussStrG).
hoben, sondern besteht fort (§ 35 Abs I ZPO). 2232 Damit werden durch den Tod einer
Partei bedingte Verzögerungen des Verfahrens verhindert und die reibungslose Verfah-
rensfortsetzung ermöglicht. 2233 Mit Rechtskraft des Einantwortungsbeschlusses treten
sämtliche Erben ex lege als Partei in das Verfahren ein. 2234 Die Erben können die Voll-
macht jederzeit widerrufen (§ 35 Abs 2 ZPO). Anders hingegen bei der Verfahrenshilfe:
Durch den Tod der durch einen Verfahrenshelfer vertretenen Partei erlischt gern § 68
Abs I ZPO die Verfahrenshilfe und es kommt ex lege zur Verfahrensunterbrechung. 2235
15.7 Die Rechtsnachfolger der verstorbenen Partei können das unterbrochene Verfahren so-
dann aufnehmen(§ 155 Abs 2 ZPO). Sie sind allerdings nicht verpflichtet, dies aus eige-
nem Anlass zu tun. 2236 Bei Aufnahme des Verfahrens richten sich die (Vertretungs-)Be-
fugnisse der Rechtsnachfolger grundsätzlich nach dem anwendbaren Erbstatut (Art 29
IPRG). 2237 Für die Auswirkungen solcher Rechtshandlungen auf das inländische Verfah-
ren bleibt hingegen die /ex fori processualis maßgebend.
15.8 An die Stelle der verstorbenen Partei tritt zunächst deren ruhender Nachlass und die
Bezeichnung der Partei ist auf deren „Nachlass" bzw „Verlassenschaft nach [... )" umzu-
stellen.2238 Ein solcher Parteiwechsel ist auch im Berufungsverfahren mit (beschränkter)
Neuerungserlaubnis zulässig. 2239 Alternativ dazu kann der Prozessgegner die Bestellung
eines Verlassenschaftskurators (§ 811 ABGB) beantragen, damit dieser das Verfahren
fortsetzt(§ 155 Abs 2 ZPO). Mit Rechtskraft der Einantwortung treten sodann die Erben
als Partei in das Verfahren ein. 2240 In all diesen Fällen tritt ex lege ein Parteiwechsel ein,
wobei die Rechtsnachfolger hinsichtlich des Klagebegehrens der verstorbenen Partei als
einheitliche Streitgenossen (§ 14 ZPO) anzusehen sind. 2241
15.9 Bei Untätigkeit der Rechtsnachfolger und/oder des Verlassenschaftskurators kann der Pro-
zessgegner beim Gericht, bei dem die Rechtssache zur Zeit des Todes der verstorbenen
Partei anhängig war, deren Vorladung beantragen und damit die Aufnahme des Verfahrens
bewirken(§ 155 Abs 3 ZPO). Er hat hierbei die behauptete Rechtsnachfolge zu bescheini-
gen.2242 Erscheint keiner der vorgeladenen Rechtsnachfolger, so ist das Verfahren auf An-
trag des Gegners vom Gericht durch Beschluss als von den Rechtsnachfolgern aufgenom-
men zu erklären (§ 156 Abs 1 ZPO). Bei dieser Tagsatzung kann sogleich das Verfahren in
der Hauptsache aufgenommen werden(§ 156 Abs 2 ZPO). Sofern die bzw einer der erschie-
nenen Rechtsnachfolger die Verpflichtung zum Eintritt in den Prozess bestreiten, hat das
Gericht nach mündlicher Verhandlung hierüber eine Entscheidung zu fällen(§ 157 ZPO).
2232 OGH 5 CG.1999.109 LES 2009, 67; l CG.2002.32 LES 2009, 160.
2233 OGH 5 CG.1999.109 LES 2009, 67.
2234 RIS-Justiz RS0035686.
2235 öOGH 5 Ob 263/15k; 8 Ob 81/14s; 6 Ob 106/01 h; RIS-Justiz RS0036229.
2236 Gitschtha/er in Rechberger/K/icka, ZPO 5 §§ 155-157 öZPO Rz 16.
2237 Vgl OGH 5 CG.1999.109 LES 2009, 67. Im Zweifel ist die Prozessfähigkeit eines ausländischen
Nachlasses nach inländischem Recht zu beurteilen (§ 3 ZPO).
2238 OGH 5 CG.1999.109 LES 2009, 67; 1 CG.2002.32 LES 2009, 160.
2239 OGH 5 CG.1999.109 LES 2009, 67 mVa Fasching, LJZ 1983, 101 f.
2240 OGH 5 CG.1999.109 LES 2009, 67. Ebenso RIS-Justiz RS0035686.
2241 OGH 5 CG.1999.109 LES 2009, 67.
2242 Gitschthaler in Rechberger/Klicka, ZPO 5 §§ 155-157 Rz 17.
Das zur Partei Gesagte gilt ebenso bei Tod eines Nebenintervenienten; er führt ebenfalls 15.10
zur Unterbrechung des Verfahrens. 2243 Gleiches gilt bei Tod eines Streitgenossen (§ 14
ZPO).
2243 Vgl OGH 1 CG.2002.32 LES 2009, 160. AA Fink in Fasching/Konecny 11/3 3 § 155 ZPO Rz 48
mwH, wonach bei der einfachen Nebenintervention keine Verfahrensunterbrechung eintritt;
ebenso Gitschthaler in Rechberger!Klicka, ZPO' §§ 155- 157 ZPO Rz 1, allerdings mit unzu-
treffendem Hinweis auf öOGH 6 Ob 106/01 h, der diese Frage nicht beantwortet.
2244 Vgl öOGH 8 Ob 185/00i; RIS-Justiz RS0115090.
2245 Darunter fallen etwa die Konkursmasse (Art 70 KO), der ruhende Nachlass(§ 811 ABGB), die
Stockwerkeigentümergemeinschaft (Art 1701 SR) und die Gläubigergemeinschaft bei Anlei-
hensobligationen (§ 133 Abs I SchlT PGR).
2246 Art 235 Abs I und 2 PGR.
2247 StGH 2010/147, Erw 1.1; StGH 2010/148, Erw 1.1; StGH 2010/19, Eiw 1.2; StGH 2009/146,
Erw 4; OG 3 C 181/71 LES 1982, 151.
2248 Vgl OGH Ex 2432/2001 LES 2002, 236; OG 3 C 181/71 LES 1982, 151; fehle, LIZ 2013, 38;
Schönfeld, LJZ 2013, 49. Abzustellen ist auf das Datum der Eintragung der Löschungsanmel-
dung im Tagebuch (Art 947 Abs I PGR).
2249 BGer 5A_65/2008, Erw 2.1; BGE 132 III 731, Erw 3.1; BGE 117 III 39, Erw 3.b. AA jüngst
BGer 4A_231/201 l, wonach der Löschung im Handelsregister lediglich deklaratorische Wir-
kung zukommt und vor beendigter Liquidation nicht zum Verlust ihrer Rechtspersönlichkeit
führt.
2250 Gitschthaler in Rechberger/Klicka, ZPO 5 §§ 155- 157 Rz 6, welcher der Löschung im Firmen-
buchregister rein deklarativen Charakter zumisst und darauf abstellt, ob die Gesellschaft noch
veiwertbares und verteilbares Vermögen aufweist bzw ob noch Abwicklungsbedarf besteht;
ebenso Fink in Fasching/Konecny 11/3 3 § 155 ZPO Rz 14ff mwN.
2251 StGH 2008/2GE 2010, 360, Eiw 3.2 und 3.4; StGH 2008/118 GE 2010, 361, Erw 2.2 und 2.3.
15.13 Das Abstellen auf die Löschung im Handelsregister gilt nach der hier vertretenen Ansicht
aus Gründen des Vertrauensschutzes und der prozessualen Rechtssicherheit sowohl für
juristische Personen mit konstitutivem Eintragungserfordernis 2254 als auch für die nicht
2255
im Handelsregister eintragungspflichtigen Strukturen, sofern sie dort hinterlegt oder
freiwillig eingetragen sind; mit der freiwilligen Eintragung schaffen sie ebenso den An-
schein ihres Bestehens bzw Fortbestands und insofern einen öffentlichen Glauben iS des
Publizitätsprinzips. In allen übrigen Fällen ist für den Zeitpunkt der Verfahrensunterbre-
chung auf den konstitutiven Auflösungsbeschluss des dafür zuständigen Organs abzu-
stellen.
15.14 Auch bei einer Löschung im Handelsregister bleibt die juristische Person zwar grund-
2256
sätzlich weiterhin rechtsfähig; sie kann weiterhin klagen und beklagt werden. Hierzu
2257
ist für gelöschte juristische Personen - nicht aber für einen Trust - allerdings ein
Beistand (Art 141 PGR) zu bestellen. Mit der Bestellung des Beistands wird die gelöschte
Verbandsperson faktisch auch wieder handlungs- bzw prozessfähig. 2258 Die Sanierung
2252 Vgl StGH 2008/2 GE 2010, 360, Erw 3.2; StGH 2008/118 GE 2010, 361, Erw 2.2.
2253 BGer 4A_l6/2010, Erw 5.1.2.
2254 Aktiengesellschaft (Art 290f PGR), Kommanditaktiengesellschaft (Art 368 Abs 3 PGR;
Art 290f PGR), Anteilsgesellschaft (Art 378 Abs 1 PGR), Gesellschaft mit beschränkter Haf-
tung (Art 390 Abs l PGR), Genossenschaft (Art 429 Z 3 PGR), Versicherungsverein (Art 496
Abs 1 PGR), Anstalt (Art 534 Abs 1 PGR), gemeinnützige Stiftung und privatnützige Stiftung,
die auf spezialgesetzlicher Grundlage ein nach kaufmännischer Art geführtes Gewerbe be-
treibt (Art 552 § 14 Abs 4 PGR), Treuunternehmen (Art 932a § 7 Abs 1 PGR) sowie eintra-
gungspflichtiger Verein (Art 247 Abs 2 PGR). Ein Eintragungserfordernis besteht auch für
bestimmte Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit, namentlich für die Kollektivgesellschaft
(Art 689 Abs l PGR) und die Kommanditgesellschaft (Art 733 Abs 1 PGR).
2255 Verein (Art 246, 247 Abs 1 PGR), privatnützige Stiftung (Art 552 § 14 Abs 5 PGR) und Treu-
händerschaft (Art 900 PGR).
2256 StGH 2008/2, Erw 3.2ff; StGH 2008/118, Erw 2ff; StGH 2010/19, Erw 1.2. Rsp bestätigt in
StGH 2010/56; StGH 2011/99; StGH 2011/100; s dazu ausf fehle, LJZ 2013, 32 ff mit krit Wür-
digung (37ff).
2257 OG 21.9.2017, 07 HG.2015.216 LES 2017, 211; vgl auch OGH 1.2.2018, 09 CG.2015.397 GE
2018, 155.
2258 StGH 2008/2 GE 2010, 360, Erw 3.2; StGH 2008/llS GE 2010, 361, E 2.2; vgl Roth, Beendi-
gung 276.
der mangelnden Partei- bzw Prozessfähigkeit ist damit nicht nur während, sondern auch
vor Einleitung des Verfahrens möglich.
Bei der Beendigung von Personengesellschaften wird das Verfahren ebenfalls unterbro- 15.15
chen. Ob eine Prozessbevollmächtigung besteht oder nicht, ist hierbei irrelevant. 2259
Eine gesellschaftsrechtliche Sonderform der Beendigung der juristischen Person ist die 15.16
Übertragung ihres Vermögens auf einen Gesamtrechtsnachfolger, namentlich durch Fu-
sion (Art 351 ff PGR), durch Übergang auf das Gemeinwesen (Art 354 PGR) oder durch
eine andere Form (zB durch partielle Abspaltung von Vermögensteilen). In diesen Fällen
tritt der Gesamtrechtsnachfolger in den Prozess ein und es findet ein gesetzlicher Partei-
wechsel statt. Auch hier liegt ein Fall der Verfahrensunterbrechung ex lege vor, sofern die
Partei im Verfahren nicht durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten ist. 2260 Bei der
Umwandlung der juristischen Person in eine andere Rechtsform bleibt indessen ihre
Identität gewahrt; es erfolgt keine Verfahrensunterbrechung, sondern das Verfahren ist
mit. d er b enc
. h tigten
. p arte1en
. b eze1c
. h nung 10rtzusetzen.
t: 2261
lungsunfähige Parteien, um sie vor jenen Rechtsnachteilen zu schützen, die eine Prozess-
2266
führung trotz gegebener Prozessunfähigkeit mit sich brächte.
15.18 Maßgebend für die Prozessfähigkeit einer natürlichen Person sind jene Normen des bür-
gerlichen Rechts, die bestimmen, inwieweit sich eine Person selbstständig im eigenen
Namen verpflichten kann. Psychisch Kranke, geistig schwache oder geistig behinderte
Personen sowie Personen mit unzureichenden intellektuellen Fähigkeiten, deren Zustand
es ausschließt, dass sie sich selbst wirksam verpflichten können, sind nicht prozessfä-
hig.2267
15.19 Juristische Personen sind nicht selber prozessfähig, sondern nur durch ihre Organe oder
Vertreter; 2268 neben ihrer Rechtsfähigkeit wird somit die aufrechte Bestellung der nach
Gesetz und Statuten erforderlichen Exekutivorgane (Geschäftsführer oder Verwaltungs-
rat2269, Vorstand 2270, Stiftungsrat 2271 ) vorausgesetzt. 2272 Bei der Treuhänderschaft ist der
Treuhänder Partei im eigenen Namen. 2273 Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit han-
deln durch ihre Gesellschafter, 2274 die weiteren parteifähigen Rechtsgebilde durch ihre
gesetzlichen Vertreter. 2275 Verliert die juristische Person demnach ihre zur Vertretung
befugten Organe bzw Vertreter, wird sie prozessunfähig.
15.20 Die Prozessfähigkeit einer Partei richtet sich nach ihrem Personalstatut bzw Gesell-
schaftsstatut. Bei einem Ausländer ist sie nach der für ihn günstigeren Norm seines
Heimatstaats oder des liechtensteinischen Rechts zu beurteilen (§ 3 ZPO). 2276 Dies gilt
ebenso bei ausländischen juristischen Personen. 2277
15.21 Bei Verlust der Prozessfähigkeit hat das Gericht der Partei zunächst entsprechende Auf-
träge zur Beseitigung des Mangels zu erteilen und hierzu eine angemessene Frist zu set-
zen (§ 6 Abs 2 ZPO). 2278 Diese gerichtlichen Anordnungen ergehen in einem Zwischen-
zeitig ein neuer Vertreter bestellt wird und damit keine Lücke bzw kein vertretungsloser
Zustand entsteht. 2288
15.25 Der (neue) gesetzliche Vertreter der Partei hat dem Gegner sodann von seiner Bestellung
Anzeige zu machen (zB mittels Schriftsatzes oder zu Protokoll) und die Aufnahme des
Verfahrens zu erklären (§ 158 Abs 2 ZPO). Alternativ dazu kann auch der Gegner die
Vorladung des (neuen) gesetzlichen Vertreters beantragen und damit das Verfahren wie-
der aufnehmen (§ 158 Abs 3 ZPO). In diesem Fall hat der Gegner die tatsächlich erfolgte
Bestellung des gesetzlichen Vertreters zu bescheinigen; das Gericht hat die Bescheinigung
zu prüfen und bejahendenfalls einen Aufnahmebeschluss (§ 164 ZPO) zu fassen bzw an-
dernfalls den Aufnahmeantrag abzuweisen. 2289
2288 Gitschthaler in Rechberger/K/icka, ZPO 5 § 158 Rz 2f; Fink in Fasching!Konecny 11/3 3 § 158
ZPO Rz 14ff.
2289 Gitschthaler in Rechberger/Klicka, ZPO 5 § 158 Rz 6.
2290 Entspricht§ 159 öZPO.
2291 Entspricht§ 7 öIO.
2292 Art 16 Abs 1 und 2 KO; OGH 02 CG.2011.92 LES 2012, 27; 01 CG.2005.171 LES 2007, 280.
Ebenso öOGH 2 Ob 124/00z; RIS-Justiz RS0041970 und RS0035434.
2293 OGH 01 CG.2002.310 LES 2005, 332; 01 CG.2000.318 LES 2003, 296. Ebenso öOGH 4 Ob 79/
16w; 6 Ob 98/16d; 8 ObA 37/15x; 8 ObA 4/16w; 9 Ob 33/15s; 9 Ob 60/!0d; 8 ObA 11/l0s;
8 Ob 52/09v; 8 ObA 50/07x.
2294 OGH 05 CG.2014.306 LJZ 2016, 32 (Gegenseitigkeit zu Deutschland bejaht); 02 CG.2011.92
LES 2012, 27 (Gegenseitigkeit zu Österreich bejaht); 02 CG.2001.68 LES 2004, 28 (Gegensei-
tigkeit zu Deutschland bejaht); StGH 1995/28 LES 1998, 6, Erw 3 (Gegenseitigkeit zur Schweiz
bejaht).
haupt nicht betreffen" (Art 19 Abs 3 KO). 2295 Entscheidend für die Abgrenzung ist der
im Verfahren vom Kläger geltend gemachte Anspruch 2296 : Sofern durch das Klagebe-
gehren und das Tatsachenvorbringen des Klägers nur die persönliche Sphäre des Ge-
meinschuldners betroffen ist, handelt es sich um einen Gemeinschuldnerprozess, sofern
die Konkursmasse (auch nur teilweise) betroffen ist, um einen Masseprozess. 2297 Letzte-
res hat die Unterbrechung des Verfahrens zur Folge.
Weiters gilt die Prozessunterbrechung nicht für Streitgenossen, die mit dem Gemein- 15.30
schuldner keine einheitliche Streitpartei iSv § 14 ZPO bilden (Art 20 Abs I letzter Satz
KO)_229s
8. Weitere Gründe
a) Sicherheitsleistung für Prozesskosten (§ 61 Abs 1 ZPO)
15.36 Beim Antrag auf Erlag einer Sicherheitsleistung für die Prozesskosten ist der Beklagte
oder Rechtsmittelgegner im Fall der Rechtzeitigkeit der Antragstellung bis zur Entschei-
dung über denselben nicht verpflichtet, das Verfahren in der Hauptsache fortzusetzen
(§ 61 Abs 1 ZPO). Damit wird das Verfahren in der Hauptsache bis zur Rechtskraft der
dem Kautionsantrag stattgebenden Entscheidung - in sinngemäßer Anwendung von
§ 167 ZPO - ex lege unterbrochen. 2303 Wird der Kautionsantrag abgewiesen, kann das
Gericht indessen die Fortsetzung des Verfahrens anordnen, ohne dass die Rechtskraft der
abweisenden Entscheidung abgewartet werden muss (§ 61 Abs 2 ZPO). Dasselbe gilt,
wenn lediglich der Betrag der Sicherheitsleistung strittig ist, nicht jedoch die Kautions-
pflicht dem Grunde nach, sofern der nicht strittige Betrag rechtzeitig erlegt wird und
dadurch die bis zur Rechtskraft der Kautionsentscheidung voraussichtlich entstehenden
Kosten gedeckt sind (§ 62 Abs 2 ZPO).
StGHG, soweit als vorsorgliche Maßnahme ein Stillstand des Verfahrens angeordnet
wird, als ein außerhalb der ZPO liegender Unterbrechungsgrund ieS anzusehen, der ex
lege die Verfahrensunterbrechung bewirkt. 2305
1. Allgemeines
In Abgrenzung zu den gesetzlichen Tatbeständen der§§ 155 ffZPO gibt es Fälle der Unter- 15.38
brechung des Verfahrens iwS. In all diesen Fällen tritt die Verfahrensunterbrechung nicht
bereits mit der Verwirklichung von gesetzlichen Voraussetzungen ex lege ein, sondern es
bedarf zur Herbeiführung der Unterbrechungswirkungen eines gerichtlichen Beschlus-
ses.2_306 Die_ser Besc~luss kann auf Antrag einer Partei od.~r von Amts we!~~ ergehen.
In diesen Fallen spricht man m der Lehre von „Aussetzung des Verfahrens. ·
Soweit die Aussetzung des Verfahrens nicht in den §§ 155 ff ZPO geregelt ist, finden diese 15.39
Bestimmungen auf die Verfahrensunterbrechung, deren Wirkung und die Aufnahme des
unterbrochenen Verfahrens sinngemäß Anwendung (§ 167 ZPO).
2305 OGH 6.4.2017, 09 CG.2015.397; vgl auch OGH 1.2.2018, 09 CG.2015.397 GE 2018, 155.
2306 Vgl OGH 09 CG.2015.397 GE 2018, 155.
2307 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 596; Gitschthaler in Rechberger!Klicka. ZPO 5 Vor§§ 155ffRz 2 mwN.
2308 Der Verhinderung einer Partei gleichgestellt ist die Verhinderung einer einheitlichen Streit-
partei(§ 14 ZPO), nicht jedoch die Verhinderung eines einfachen Nebenintervenienten, eines
Zeugen oder eines Sachverständigen (Fink in Fasching!Konecny 11/3 3 § 162 ZPO Rz 14).
2309 Gitschthaler in Rechberger!Klicka, ZPO 5 § 161 Rz 3/1.
2310 Fink in Fasching!Konecny II/3 3 § 162 ZPO Rz 11.
2311 Fink in Fasching!Konecny 11/3 3 § 162 ZPO Rz 5.
2312 Fink in Fasching!Konecny II/3 3 § 162 ZPO Rz 9. Die Unterbrechung des Verfahrens ist aber
trotz Bestellung eines Abwesenheitskurators gleichwohl möglich, wenn besonders schwerwie-
gende Umstände eine Benachteiligung der Partei als sicher erscheinen lassen (Gitschthaler in
Rechberger!Klicka. ZPO 5 § 161 Rz 3/2).
chung des Verfahrens kann im Übrigen auch dann verfügt werden, wenn die abwesende
Partei durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten ist (§ 162 Abs l ZPO).
15.42 Die Verfahrensunterbrechung erfolgt auf Antrag einer Partei oder von Amts wegen. Sie
wirkt bis zur Beseitigung des hindernden Ereignisses (§ 161 Abs l ZPO). Die Entschei-
dung ergeht ohne vorhergehende mündliche Verhandlung mit Beschluss. Das Gericht hat
das Vorliegen der Unterbrechungsvoraussetzungen zu prüfen und eine Interessenabwä-
gung zwischen den Rechtsnachteilen des Prozessgegners bei einer Verfahrensunterbre-
chung und den Rechtsnachteilen der abwesenden Partei bei einer Verfahrensfortsetzung
vorzunehmen. 2313
15.43 Die Aufnahme des unterbrochenen Verfahrens kann sodann von jeder Partei erwirkt
werden (§ 162 Abs 3 ZPO).
b) Präjudizialität
15.47 Eine Unterbrechung des Verfahrens findet nur dann statt, wenn der Ausgang eines ande-
2318
ren Verfahrens für das gegenständliche Verfahren präjudiziell ist. Maßgebend ist der
Streitgegenstand des anderen, abzuwartenden Verfahrens. 2319 Dieser bestimmt sich
nach der zweigliedrigen Streitgegenstandstheorie, somit nach dem Wortlaut des Klage-
begehrens und nach dem vorgebrachten Sachverhalt (Tatsachenbehauptung); die recht-
liehe Qualifikation ist nicht relevant. 2320 Der Streitgegenstand des anderen Verfahrens
muss vom Prozessgericht in dem bei ihm anhängigen Verfahren als Vorfrage zu prüfen
sein. 2321 Eine solche Vorfrage ist das Vorliegen eines Rechtsverhältnisses, von dessen Be-
urteilung (in den Entscheidungsgründen) die Entscheidung der Hauptfrage (der Spruch)
ganz oder zumindest teilweise abhängt; ein bloßer Sinnzusammenhang genügt nicht. 2322
Abzustellen ist auf den Hauptgegenstand des anderen Verfahrens. 2323 Hat eine Partei 15.48
eine entscheidungsrelevante Frage bzw Forderung in einem anderen Verfahren lediglich
aufrechnungsweise eingewendet, ist deren Präjudizialität zu verneinen; wird die Klags-
forderung im anderen Verfahren nämlich abgewiesen, erübrigt sich dort ein Eingehen auf
diese Gegenforderung. 2324
Präjudiziell ist für das Rechtsmittelgericht etwa die Behandlung eines Befangenheitsan- 15.49
trags gegen einen Richter durch das zuständige Organ. 2325 Ebenso ist für das Gericht, das
die Gültigkeit eines Testaments aufgrund einer behaupteten Zeugenunfähigkeit zu beur-
teilen hat, das Parallelverfahren über die Ungültigkeit eines Testaments mit dem Hinweis
auf die Testierunfähigkeit des Erblassers präjudiziell. 2326
Nicht präjudiziell beurteilte das OG eine anhängige Klage auf Feststellung, dass eine 15.50
Verbandsperson nicht rechtswirksam entstanden sei (Existenz) in Bezug auf ein anhängi-
ges Verfahren auf Anfechtung eines Beschlusses eben dieser Verbandsperson (Abberu-
fung eines Stiftungsratsmitglieds). 2327
Grundsätzlich besteht hinsichtlich der Entscheidungen von Höchstgerichten keine allge- 15.51
meine Präjudizwirkung (§ 12 ABGB). Allerdings darf - iS der Rechtsgleichheit - von
den Untergerichten von höchstrichterlicher Rsp nicht einfach ohne weitere Begründung
abgewichen werden. Bei Massenklagen (dh Klagen verschiedener Personen gegen ein und
denselben Beklagten und vice versa, welche dieselben Tat- und Rechtsfragen betreffen)
besteht daher nach der derzeitigen Rechtslage keine Möglichkeit für das Gericht, mit dem
Verfahren zuzuwarten, bis die identischen Tat- und Rechtsfragen in einem bereits anhän-
gigen Verfahren rechtskräftig geklärt sind. Insofern ist es zur Herstellung des Entschei-
dungseinklangs und aus Gründen der Prozessökonomie in der Tat überlegenswert, die
Bestimmung von § 190 ZPO durch eine weniger strikte Unterbrechungsmöglichkeit für
so1c he Fa·-11e zu erganzen.
.. 2328
2320 OGH 06 CG.2008.236 LES 2009, 199; 3 Cg 50/00 LES 2001, 150.
2321 OG 23.9.2014, 02 CG.2014.151; 1 C 173/85 LES 1986, 27. Sofern der Streitgegenstand des
anderen Verfahrens hingegen den Hauptgegenstand des anhängigen Verfahrens darstellt,
steht dem Verfahren bei Parteienidentität das Hindernis der Streilhängigkeit entgegen.
2322 Höllwerth in Fasching!Konecny 11/3 3 § 190 ZPO Rz 71 mwN.
2323 Siehe zur Frage der Bindungs...,'irkung sogleich Rz 15.52 f.
2324 Vgl OGH 02 CG.2002.96 LES 2005, 62.
2325 Vgl OGH 09 CG.2015.397 GE 2018, 155.
2326 OG I C 173/85 LES 1986, 27.
2327 OG 4 C 32/88 LES 1989, 30, wonach die gerichtliche Feststellung der Nichtexistenz der Ver-
bandsperson als materiell-rechtliche Entscheidung über ihr Sein oder Nichtsein nicht präju-
diziell für die Entscheidung über die organisatorische Frage sei, ob ein Abberufungsbeschluss
eines Stiftungsratsmitglieds wirksam ist.
2328 Siehe dazu den vom OG und dem OGH im Rahmen der jüngsten Zivilprozessreform unter-
breiteten Vorschlag zur Verfahrensunterbrechung in BuA 2018/19, 156-160.
c) Bindungswirkung
15.52 Als weitere Voraussetzung für die Unterbrechung des Verfahrens nach § 190 ZPO
muss der im anderen Verfahren ergehenden Entscheidung für das zu unterbrechende
Verfahren Bindungswirkung zukommen. 2329 Das Prozessgericht muss bei seiner Ent-
scheidung von der Rechtswirksamkeit der anderen Entscheidung ohne neuerliche Prü-
fung der Sach- und Rechtslage auszugehen und das Ergebnis des anderen Verfahrens
seiner Entscheidung zugrunde zu legen haben; muss es dies nicht, ist seine Entschei-
dung auch nicht von der anderen abhängig, sodass es auch sein Verfahren nicht unter-
brechen darf. 2330
15.53 Materielle Rechtskraftwirkung und damit Bindungswirkung entfaltet nur der Spruch der
Entscheidung (Dispositiv) mitsamt den dafür tragenden Erwägungen (ratio decidendi),
nicht jedoch die übrigen Entscheidungsgründe, die Feststellungen oder die entschiedenen
Vorfragen. 2331 Die von einem Gericht in seiner Entscheidung enthaltene Beurteilung von
bedingenden Rechtsverhältnissen (Vorfragen) sowie die Entscheidung über Einwendun-
gen und Einreden (mit Ausnahme der prozessualen Aufrechnungseinrede) erwachsen
nicht in materielle Rechtskraft und entfalten daher keine Bindungs- bzw Präjudizwir-
kung.2332
Setzt sich das Klagebegehren aus mehreren Begehren zusammen, ist auch eine Teilunter-
brechung hinsichtlich einzelner Teilbegehren möglich. 2335
e) Zivilverfahren
Grundsätzlich kann das Prozessgericht das bei ihm anhängige Verfahren bei Präjudizia- 15.55
lität eines anderen Zivilverfahrens gern § 190 Abs 1 ZPO unterbrechen. Es ist in den
Grenzen der materiellen Rechtskraft an die Entscheidung eines anderen Zivilgerichts ge-
bunden; davon erfasst sind nicht nur Urteile, sondern auch Beschlüsse, die über Rechts-
schutzansprüche entscheiden. 2336
f) Außerstreitverfahren
Obwohl in § 190 Abs 1 ZPO nicht ausdrücklich erwähnt, kann das Prozessgericht das 15.56
Verfahren auch dann unterbrechen, wenn die päjudizielle Vorfrage im Außerstreitver-
fahren beurteilt wird. Gern § 43 Abs 1 AussStrG bewirkt die Rechtskraft eines Beschlusses
dessen Vollstreckbarkeit, Verbindlichkeit der Feststellungen oder Rechtsgestaltung. Auch
die Entscheidung des Außerstreitrichters entfaltet somit Bindungswirkung für das Pro-
zessgericht;2337 § 190 Abs 1 ZPO ist sinngemäß anwendbar.
g) Verwaltungsverfahren
Gern§ 190 Abs I ZPO kann das Prozessgericht das bei ihm anhängige Verfahren auch 15.57
bei Präjudizialität eines anhängigen Verwaltungsverfahrens unterbrechen. Grundsätz-
lich handelt es sich auch hier um eine bloße Kann-Bestimmung. Sofern es sich jedoch
bei der zu beurteilenden Vorfrage um eine Frage des Verwaltungsrechts handelt, sind
hierfür vorwiegend die Verwaltungsbehörden zuständig (Grundsatz der Trennung von
Justiz und Verwaltung). 2338 Wenn der Zivilprozess aufgrund seiner prozessualen Struk-
tur (zB Dispositionsmaxime, Unmöglichkeit der abschließenden Ermittlung des ent-
scheidungswesentlichen Sachverhalts) nicht geeignet ist, eine im öffentlichen Interesse
liegende verwaltungsrechtliche Vorfrage abschließend bzw richtig zu entscheiden, ist es
nicht nur angezeigt, sondern notwendig, dass das Zivilgericht das bei ihm anhängige
Verfahren bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verwaltungsverfahrens unter-
bricht. 2339
Das Prozessgericht ist an die Ergebnisse des Verwaltungsverfahrens gebunden; aufgrund 15.58
der Rechtskraft und der Bindungswirkung der Verwaltungsentscheidung ist es nicht be-
fugt, deren rechtmäßiges Zustandekommen bzw deren rechtliche Zulässigkeit zu hinter-
fragen oder inhaltlich zu überprüfen. 2340
h) Ausländisches Verfahren
15.59 Ausländische Urteile entfalten im Inland nur insofern Rechtskraftwirkung und damit
Bindungswirkung bzw Präjudizialität, als Liechtenstein mit dem entsprechenden auslän-
dischen Staat ein völkerrechtliches Vollstreckungs- und Anerkennungsübereinkom-
men abgeschlossen hat. 2341 Dies ist im Bereich des Zivilrechts nur (aber immerhin)
mit der Schweiz 2342 und Österreich 2343 der Fall. Entscheidungen aus Drittstaaten entfal-
ten im Inland keine Bindungswirkung und führen daher von vornherein nicht zu einer
Verfahrensunterbrechung nach§ 190 ZPO. 2344
15.60 Im Rahmen der Beurteilung der Bindungswirkung des ausländischen Urteils hat das in-
ländische Prozessgericht eine Anerkennungsprognose abzugeben. Erfüllt die ausländi-
sche Entscheidung nach dem anwendbaren Staatsvertrag voraussichtlich die Vorausset-
zungen für die Anerkennung in Liechtenstein, erstrecken sich alle seine Wirkungen auch
auf das Inland. Ergibt eine summarische Prüfung jedoch, dass der Anerkennung im In-
land Anerkennungsverweigerungsgründe entgegenstehen, ist die voraussichtliche Bin-
dungswirkung zu verneinen. Aus prozessökonomischer Sicht macht es keinen Sinn, ein
Inlandsverfahren wegen eines Auslandsverfahrens zu unterbrechen, wenn bereits eine
summarische Prüfung ergibt, dass das Auslandsurteil im Inland keine Rechtswirkungen
entfaltet. 2345 Bei der Anerkennungsprognose ist freilich ein anerkennungsfreundlicher
Maßstab anzuwenden.
i) Individualbeschwerdeverfahren
15.61 Die Unterbrechungsbestimmung von § 190 ZPO ist - bei Zutreffen der sonstigen Vo-
raussetzungen - analog auf hängige und präjudizielle Verfahren vor dem StGH über
2346
Individualbeschwerden nach Art 15 StGHG anzuwenden. Gern Art 54 StGHG binden
die Entscheidungen des StGH alle Behörden des Landes und der Gemeinden und alle
Gerichte. Ist ein Individualbeschwerdeverfahren vor dem StGH anhängig und dessen
Ausgang (Prozessthema) für das gegenständliche Verfahren präjudiziell, ist aufgrund der
Bindungswirkung von Art 54 StGHG das Verfahren zu unterbrechen.
15.62 Eine Unterbrechung des Zivilverfahrens ist gern§ 190 Abs l ZPO indessen nicht zwin-
gend (.,kann das Gericht"). Ergibt etwa eine summarische Prüfung des Gerichts bereits
Prozessgericht indessen ebenso wie bei Urteilen eines ausländischen staatlichen Gerichts
eine Anerkennungsprognose abzugeben. 2357 Schiedssprüche aus Drittstaaten entfalten
demgegenüber im Inland keine Bindungswirkung. 2358 Maßgebend für die Lokalisierung
des Schiedsgerichts ist dessen (rechtlicher) Sitz.
15.66 Die Bestimmung von § 190 Abs I ZPO ist auf anhängige Schiedsverfahren daher analog
anwendbar. Ist die vor dem Schiedsgericht zu beurteilende Hauptfrage für das Zivilver-
fahren präjudiziell, kann das staatliche Gericht sein Verfahren bis zur materiellen Rechts-
kraft des Schiedsspruchs unterbrechen.
15.67 Gleiches gilt im Übrigen auch für Entscheidungen des Schiedsgerichts, mit denen es in
Ansehung des Streitgegenstands (nur) über seine Zuständigkeit entscheidet. 2359 Das
Vorliegen einer gültigen Schiedsvereinbarung begründet das Prozesshindernis der (heil-
baren) sachlichen Unzuständigkeit des staatlichen Gerichts. 2360 Folglich hätte das staat-
liche Gericht die Klage zurückzuweisen, sofern sich der Beklagte nicht in den Streit ein-
lässt (§ 601 Abs I ZPO). Die Entscheidung über die Gültigkeit der Schiedsvereinbarung
ist indessen vorab dem Schiedsgericht zu überlassen (Kompetenz-Kompetenz des
Schiedsgerichts); 2361 ihm kommt insofern im Vergleich zum staatlichen Gericht in zeit-
licher Hinsicht Entscheidungspriorität zu. 2362 Daher ist in solchen Fällen - bis zum Ein-
tritt der materiellen Rechtskraft der Zuständigkeitsentscheidung des Schiedsgerichts -
eine Unterbrechung des staatlichen Verfahrens angezeigt.
1) Unterbrechung im Rechtssicherungsverfahren?
15.68 Die Bestimmungen über die Unterbrechung des Verfahrens gelten grundsätzlich auch
für das Exekutionsverfahren und damit auch für das Rechtssicherungsverfahren
(Art 270ff EO). 2363 Aufgrund der bloß sinngemäßen Anwendung dieser Bestimmungen
ist die Unterbrechung des Provisorialverfahrens allerdings nur insoweit zulässig, als dies
mit seinem Wesen vereinbar ist.
15.69 Der Unterbrechungsbeschluss im Hauptverfahren erstreckt sich grundsätzlich nicht auf
das Rechtssicherungsverfahren (als Nebenverfahren). 2364 Nach der neuen Rsp in Öster-
reich2365 ist eine Unterbrechung des Verfahrens wegen Präjudizialität eines anderen
Rechtsstreits mit dem Zweck des Provisorialverfahrens, einstweiligen Rechtsschutz zu
gewähren, aber nicht per se unvereinbar; es ist im Einzelfall zu prüfen, ob eine solche
Unterbrechung zweckmäßig ist. Dem folgt der Oberste Gerichtshof: 2366 Eine Unterbre-
chung des Provisorialverfahrens ist zulässig, sofern sie im Einzelfall zweckmäßig ist;
maßgebend sind die Umstände des Einzelfalls (zB Vermeidung von prozessualen Ver-
wicklungen, Kostenersparnis für die Parteien).
Eine amtswegige Fortsetzung des unterbrochenen Verfahrens ist nicht erforderlich, da 15.70
(auch) das Rechtssicherungsverfahren der Disposition der Parteien unterliegt. 2367
2367 OGH 09 CG.2013.314 LES 2016, 108. Ebenso öOGH 4 Ob 211/08w; RIS-Justiz RS0I07622.
2368 Siehe dazu Höllwerth in Fasching/Konecny 11/33 § 190 ZPO Rz 80, mit krit Würdigung.
2369 Entspricht § 191 öZPO.
2370 OG 4 C 390/84 LES 1985, 137.
2371 OG 4 C 390/84 LES 1985, 137.
2372 OG 2 C 375/91 LES 1993, 110, wonach bei einer nicht absehbaren Dauer des Strafverfahrens
der Zivilrechtsstreit auf Jahre hinaus nicht fortgesetzt werden könnte, wodurch die Gefahr
entstünde, dass dem Kläger Beweise abhandenkommen, weshalb der Unterbrechungsbe-
schluss aufgehoben wurde.
15.76 Bei einem Normenkontrollantrag hat das Prozessgericht das Verfahren somit (von Amts
wegen) zu unterbrechen; der Vorlagepflicht des Gerichts folgend besteht somit gleichsam
2376
von Gesetzes wegen auch eine Pflicht zur Verfahrensunterbrechung. Die Bestim-
mungen von Art 18, 20 und 22 StGHG sind damit als außerhalb der ZPO liegende Unter-
brechungsgründe iwS zu betrachten. 2377 Sie bewirken zwar nicht eine Verfahrensunter-
2378
brechung ex lege, begründen jedoch eine Pflicht des Prozessgerichts zur Fällung einer
Unterbrechungsentscheidung.
15.77 Im Grunde handelt es sich bei den Bestimmungen von Art 18, 20 und 22 StGHG um eine
speziaigesetzliche Unterbrechungsregelung bei Vorliegen eines präjudiziellen Verfah-
rens. Im Gegensatz zu § 190 ZPO, der die Anhängigkeit eines präjudiziellen Verfahrens
voraussetzt, wird bei einer Unterbrechung zur Normenkontrolle das Verfahren vor dem
StGH erst anhängig gemacht. Die Entscheidung des StGH entfaltet sodann Bindungswir-
kung nicht nur für das entscheidende Gericht, sondern Beachtlichkeit über den Anlassfall
2379
hinaus. Im Übrigen gelten jedoch dieselben Grundsätze, insb was die Grenzen der
materiellen Rechtskraft bzw der Bindungswirkung der Entscheidung des StGH und das
Ermessen des Prozessgerichts anbelangt. 23110 Nach dem Sinn und Zweck des StGHG ist
eine Unterbrechung des Verfahrens nur insoweit erforderlich, als die vom StGH zu be-
urteilende Norm darauf überhaupt einen Einfluss hat. Nach der hier vertretenen Ansicht
kommt dem Prozessgericht daher durchaus ein pflichtgebundenes Ermessen zu, das Ver-
fahren zur Sachverhaltsermittlung und Beweisaufnahme fortzusetzen, sofern dies zweck-
mäßig und abgesondert von der zu beurteilenden Norm möglich ist bzw durch die Ent-
scheidung des StGH nicht beeinflusst wird. 2381
2373 Art 18 Abs I lit b StGHG (Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen); Art 20 Abs I lit a StGHG
(Verfassungs-, Gesetz- und Staatsvertragsmäßigkeit von Verordnungen); Art 22 Abs I lit a
StGHG (Verfassungsmäßigkeit von Staatsverträgen).
2374 Wille, Verfassungsprozessrecht 160 und 171 ff.
2375 Art 18 Abs I lit b, Art 20 Abs I lit a, Art 22 Abs I lit a StGHG.
2376 Wille, Verfassungsprozessrecht 172.
2377 Vgl OGH 6.4.2017, 09 CG.2015.397; 09 CG.2015.397 GE 2018, 155.
2378 Die Verfahrensunterbrechung ist nach dem Gesetzeswortlaut keine Rechtsfolge, sondern eine
Voraussetzung für die Antragstellung an den StGH.
2379 Art 19, 21, Art 23 StGHG. Vgl dazu auch öOGH 4 Ob 211/08w.
2380 Siehe dazu oben Rz 15.52 f (Bindungswirkung) und Rz 15.54 (Ermessen des Gerichts).
2381 Vgl auch§ 62 Abs 3 und§ 62a Abs 6 öVfGG; Höllwerth in Fasching/Konecny 11/3 3 § 190 ZPO
Rz 52.
Gleiches gilt, wenn ein inländisches Gericht Fragen zur Auslegung des EWR-Rechts zu 15.78
beurteilen hat. Es hat dem EFT A-GH solche Fragen zur Vorabentscheidung bzw zur
Erstellung eines Gutachtens vorzulegen, sofern die Rechtslage unklar ist und die entspre-
chende_ Recht~frag~ im Ver_fahren entsch~idu~~!~rh~blich ist (Präjudizialität); das Pro-
zessgencht tnfft d1esfalls eine Vorlagepfücht. · Eme Unterbrechung des Verfahrens
ist nach der hier vertretenen Ansicht aber auch in solchen Fällen nur insoweit angezeigt,
als es durch die Vorabentscheidung des EFTA-GH beeinflusst wird. 2383
2388 OGH 7.9.2017, 08 EX.2012.6905; 6.4.2017, 09 CG.2015.397; 01 CG.2000.318 LES 2003, 296;
10 C 154/99 LES 2000, 103. Ebenso öOGH 9 ObA 61/15h; 10 Ob 99/11 y; 9 Ob 60/I0d.
2389 Fink in Fasching/Konecny 11/31 Vor§§ 155- 167 ZPO Rz 18/l; Gitschthaler in Rechberger/K/i-
cka, ZPO; Vor§§ 155ff Rz 8. AA offenbar öOGH 9 ObA 17/98k, wonach ein einmal zu Recht
begonnenes Prozessrechtsverhältnis zwischen den Parteien und damit Streithängigkeit vor-
liegen muss, wobei hier aber (nur) die Frage der Fortsetzung eines anhängigen Passivprozes-
ses gegen eine vollbeendigte, gelöschte Gesellschaft zu beurteilen war.
2390 Gitschthaler in Rechberger/K/icka, ZPO 5 § 161 Rz 2.
2391 OGH 6.4.2017, 09 CG.2015.397. Ebenso öOGH 8 Ob l 10/17k; 8 ObA 4/16w; 9 ObA 132/
101; 8 Ob 52/09v; 9 Ob 376/97b.
2392 Vgl RIS-Justiz RS0097353 und RS0037225; s dazu auch unten Rz 15.130- 15.132.
2393 Gitschthaler in Rechberger!Klicka, ZPO; Vor§§ 155ff Rz 8.
2394 OGH 10 C 154/99 LES 2000, 103. Siehe zum Zeitpunkt der Unterbrechungswirkung unten
Rz 15.113-15.115.
Bei einer Unterbrechung auf Antrag einer Partei ist der Einbezug des Prozessgegners in 15.88
das Verfahren erforderlich; dem Prozessgegner ist zum Klagsanspruch und zum Unter-
brechungsantrag das rechtliche Gehör zu gewähren, sodass im Ergebnis Streithängig-
keit vorausgesetzt wird. 2395 Die Unterbrechungsentscheidung des Gerichts ist eine pro-
zessleitende Verfügung. 2396 Insofern ist es auch notwendig, dass vor dieser Entscheidung
sämtliche prozessualen Fragen geklärt sind und sich die Parteien in den Streit eingelassen
haben. 2397
Nach wohl hA hat die Beschlussfassung über die Unterbrechung in mündlicher Verhand- 15.89
Jung zu erfolgen. 2398 Nach Gewährung des rechtlichen Gehörs scheint dies nach der hier
vertretenen Ansicht jedoch nicht zwingend. Im Falle des§ 162 ZPO (zufällige Verhinde-
rung einer Partei) ist die Entscheidung ohne vorhergehende Verhandlung im Gesetz aus-
drücklich vorgesehen.
Da die Prozessunterbrechung auf Antrag (Aussetzung) nicht zwingend ist, liegt deren 15.90
Anordnung im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts; es hat dabei ausschließlich Er-
wägungen der Zweckmäßigkeit und der Prozessökonomie anzustellen (zB voraussicht-
liche Dauer des abzuwartenden Verfahrens, Doppelspurifkeiten, Entstehen unnötiger
Kosten, möglichst widerspruchsfreier Rechtsschutz etc). 239 Das Gericht ist daher an ei-
nen einverständlichen Unterbrechungsantrag der Parteien nicht gebunden. 2400 Bei der
Beurteilung der Dringlichkeit des Rechtsstreits ist auf die sachlich gebotene Dringlichkeit
abzustellen; persönliche Umstände der Parteien (zB fortgeschrittenes Alter) fallen grund-
sätzlich nicht darunter. 2401
Die Unterbrechung auf Antrag ist vom Gericht vor Schluss der Verhandlung mit prozess- 15.91
leitendem Beschluss auszusprechen.
3. Rechtsmittel
Das Prozessgericht selbst kann die von ihm erlassene Unterbrechung des Verfahrens auf 15.92
Antrag oder von Amts wegen jederzeit wieder aufheben (§ 192 Abs 1 Satz l ZPO). Dies
entspricht dem Grundsatz, wonach das Gericht an seine prozessleitenden Verfügungen
nicht gebunden ist. 2402 Eine Ausnahme besteht jedoch dann, wenn die prozessleitende
Verfügung Gegenstand des vom Prozessgericht erlassenen Urteils oder zum Gegenstand
der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts geworden ist (§ 192 Abs 1 Satz 2 ZPO).
15.93 Die Gründe für eine Verfahrensunterbrechung von Amts wegen sind von Gesetzes wegen
zwingend; die Stattgebung bzw die Verweigerung der Unterbrechung ist mit Rekurs be-
„
kamp 1b ar. 2403
15.94 Die Gründe für eine Verfahrensunterbrechung auf Antrag (Aussetzung) sind demgegen-
über nicht zwingend. In diesem Bereich ist im Grunde der Verfahrensfortführung durch
2404
das zuständige Prozessgericht der Vorzug zu geben. Der Beschluss, mit dem das
(Rechtsmittel-)Gericht das Verfahren unterbricht, ist daher anfechtbar. Sofern es jedoch
eine Unterbrechung des Verfahrens ablehnt, ist dieser Beschluss nicht anfechtbar. Die-
ser Rechtsmittelausschluss ist in § 192 Abs 2 ZPO 2405 für Beschlüsse, mit denen ein An-
trag auf Unterbrechung wegen Präjudizialität (§ 190 ZPO) oder wegen Verdachts einer
stratbaren Handlung(§ 191 ZPO) abgewiesen wird, ausdrücklich angeordnet. Dabei ist es
unerheblich, in welcher Instanz dieser Beschluss ergeht. Auch die Aufhebung einer in
erster Instanz bewilligten Verfahrensunterbrechung durch das Rekursgericht ist unan-
fechtbar.2406 Unter den „Anordnungen" iSv § 192 Abs 2 ZPO sind ganz generell nicht
nur sogenannte verfahrensverändernde Verfügungen (wie die Unterbrechung des Ver-
fahrens) zu verstehen, sondern auch Beschlüsse über die Ablehnung einer solchen Ver-
2407
fahrensänderung in Form der Abweisung eines Unterbrechungsantrags. Eine allen-
falls unrichtige Rechtsmittelbelehrung des die Unterbrechung abweisenden (Rechtsmit-
tel-)Gerichts hat auf die Unzulässigkeit des (Revisions-)Rekurses keinen Einfluss. 2408 Ein
dennoch erhobenes Rechtsmittel ist vom Gericht ohne weiteres Eingehen auf seinen In-
2409
halt a limine zurückzuweisen. Die Unanfechtbarkeit kann im Übrigen auch nicht da-
durch umgangen werden, dass in der nächsten Instanz der Unterbrechungsantrag er-
2410
neuert wird.
15.95 Der Rechtsmittelausschluss erfasst nach stRsp auch die mit dem Beschluss ergehende
Kostenentscheidung; sie stellt ein Akzessorium zur Hauptsachenentscheidung dar und
ist nicht isoliert anfechtbar. 2411
15.96 Eine Ausnahme vom Rechtsmittelausschluss besteht (nur) für jene Aussetzungsgründe,
für welche das Gesetz eine zwingende Unterbrechung des Verfahrens anordnet, na-
2412
mentlich bei einem Vorlageverfahren an den StGH bzw EFTA-GH, bei der Wieder-
aufnahmeklage (§ 512ff ZPO) 2413 und beim Scheidungsverfahren (§ 525 Abs 3
ZPO). 2414 Die Stattgebung bzw Verweigerung der Unterbrechung ist mit Rekurs be-
2403 Vgl OGH 05 CG.2009.75 LES 2010, 237; 6 CG.2008.378 LES 2010, 101.
2404 Höllwerth in Fasching/Konecny IJ/J1 § 192 ZPO Rz 21.
2405 Entspricht § 192 Abs 2 öZPO.
2406 RIS-Justiz RS0037074 und RS0037003.
2407 OGH 6 CG.2008.378 LES 2010, 101 (EvBI 1998/178).
2408 OGH 6 CG.2008.378 LES 2010, 101; OGH 1.7.2004, 09 NK.2003.1068 LES 2007, 34.
2409 OGH 05 CG.2009.75 LES 2010, 237; 01 CG.2001.379 LES 2004, 224.
2410 OGH 01 CG.2001.379 LES 2004, 224.
2411 OGH 05 CG.2009.75 LES 2010, 237; 04 CG.2005.41 LES 2006, 236.
2412 Siehe dazu Rz 15.75- 15.78.
2413 Siehe dazu Rz 15.80f.
2414 Siehe dazu Rz 15.82.
kämptbar; der Rechtsmittelausschluss von § 192 Abs 2 ZPO kommt hier nicht zur An-
wendung.2415
Eine in einem Zivilverfahren angeordnete Verfahrensunterbrechung ist im Übrigen als 15.97
materielle Prozessleitungshandlung nicht enderledigend iSv Art 15 Abs 1 StGHG; gegen
diese Entscheidung steht somit keine gesonderte Individualbeschwerde offen. 2416 Die
(Un-)Zulässigkeit der Verfahrensunterbrechung kann vielmehr noch im (Rechtsmittel-)
Verfahren vor den ordentlichen Gerichten gegen die Entscheidung in der Hauptsache als
Verfahrensmangel bzw als unrechtmäßige Ermessensausübung geltend gemacht wer-
den.2417
Sofern ein Rechtsmittel zulässig ist, entscheidet über Rekurse gegen Beschlüsse des LG 15.98
das OG endgültig(§ 170a ZPO).
2. Gerichtshandlungen
a) Stillstand des Verfahrens
Die Verfahrensunterbrechung hat gern§ 163 ZPO den Stillstand des gesamten Verfah- 15.100
rens zur Folge. Nach Eintritt der Unterbrechung sind Gerichtshandlungen, die nicht bloß
dem durch die Unterbrechung des Verfahrens geschaffenen Zustand Rechnung tragen,
2419 Alle Gerichtshandlungen - mit Ausnahme des in § 163 Abs 3 ZPO ge-
unzulässig.
regelten Falls - sind unzulässig und auch alle Prozesshandlungen der Parteien oder von
Beteiligten sind rechtlich bedeutungslos. 2420 Insb dürfen Urteile bzw Beschlüsse nicht
mehr ergehen, die nicht schon vor der Unterbrechung in einer für das Gericht bindenden
2421
Art gefällt wurden.
Von der Unterbrechung ist nicht nur das erstgerichtliche Verfahren betroffen, sondern 15.101
auch das Rechtsmittelverfahren. 2422 Das Rechtsmittelgericht hat die Akten dem LG zu-
rückzustellen. 2423
2415 öOGH I Ob 162/14a; RIS-Justiz RS0037034; RS0037066; RS0036983; RS0037158; vgl Hö/1-
werth in Fasching/Konecny 11/3 3 § 192 ZPO Rz 19 ff.
2416 StGH 2014/042 LES 2014, 150 = GE 2015, 100.
2417 StGH 2014/042 LES 2014, 150 (krit Ungerank) = GE 2015, 100.
2418 öOGH 9 ObA 222/91; RIS-Justiz RS0037069; Höllwerth in Fasching/Konecny 11/3 3 § 190 ZPO
Rz 90.
2419 OGH 7.9.2017, 08 EX.2012.6905. Ebenso öOGH 4 Ob 3/18x; RIS-Justiz RS0036996.
2420 OGH 10 C 154/99 LES 2000, 103.
2421 RIS-Justiz RS0036996.
2422 Vgl OGH 6.4.2017, 09 CG.2015.397. Ebenso öOGH 9 ObA 132/lOt; 7 Ob 647/87.
2423 Vgl OGH 7.9.2017, 08 EX.2012.6905; 10 C 154/99 LES 2000, 103. Ebenso öOGH 8 Ob 110/
17 k; RIS- Justiz RS0036752.
d) Nebenverfahren
15.107 Über bestimmte Nebenverfahren kann das Gericht auch trotz Eintritt der Unterbre-
chungswirkungen entscheiden. Es handelt sich dabei einerseits um Verfahren, die Gebüh-
ren- und Kostenansprüche Dritter betreffen (zB Sachverständigengebühren, Kosten eines
Kurators, Gebührenbestimmungsbeschlüsse etc). 2430 Der Grund für diese Ausnahme be-
steht darin, dass solche Drille von der Unterbrechungswirkung nicht erfasst sind und auch
keine Möglichkeit haben, auf die Fortsetzung des Verfahrens Einfluss zu nehmen. 2431
2424 OGH 7.9.2017, 08 EX.2012.6905; 10 C 154/99 LES 2000, 103. Ebenso öOGH 5 Ne 18/171;
4 Ob 79/16w; 8 ObA 37/15x; 8 ObA 4/16w; 8 ObA 50/07x; RIS-Justiz RS0036752;
RS0037039.
2425 öOGH 8 Ob I I0/17k; 9 Ob 60/I0d.
2426 RIS-Justiz RS0037023; RS0037150; RS0I05681.
2427 öOGH 4 Ob 3/18x; 9 Ob 33/15s.
2428 Siehe dazu oben Rz 15.87-15.91.
2429 öOGH 8 ObA 4116w; 8 ObA 50/07x; 8 ObS 42/99y; 10 Ob 27/97m.
2430 öOGH 4 Ob 3/18x; Fink in Fasching/Konecny 11/3 1 § 163 ZPO Rz 10; Gitschthaler in Rech-
berger!Klicka, ZPO 5 § 163 Rz 6.
2431 öOGH 4 Ob 3/18x.
3. Parteihandlungen
Nach der Unterbrechung des Verfahrens sind Verfahrenshandlungen einer Partei gegen- 15.110
über dem Gericht und dem Prozessgegner ohne rechtliche Wirkung. 2438 So ist etwa auch
ein Beitritt als Nebenintervenient während der Unterbrechung des Verfahrens ausge-
schlossen.2439 Während der Unterbrechung vorgenommene Prozesshandlungen sind
vom Gericht zurückzuweisen. 2440
Ausgenommen davon sind Parteihandlungen, die bloß dem durch die Unterbrechung 15.111
geschaffenen Zustand Rechnung tragen (zB Anfechtung der Unterbrechungsentschei-
dung) oder Parteihandlungen, die der Erwirkung einer Verfahrensfortsetzung nach Weg-
fall des Unterbrechungsgrunds dienen; solche sind zulässig. 2441
4. Fristen
Während der Unterbrechung des Verfahrens wird der Lauf aller gesetzlichen und richter- 15.112
liehen Fristen gehemmt. 2H 2 Tritt die Unterbrechungswirkung während des Laufs einer
Frist ein, so beginnt die Frist nach Wegfall des Unterbrechungsgrunds neu zu laufen. 2443
5. Zeitpunkt
Die prozessualen Folgen der Unterbrechung werden (erst) mit Eintritt der Unterbre- 15.113
chung wirksam. Dieser Zeitpunkt ist je nach Unterbrechungsart verschieden:
15.114 Bei einer Unterbrechung von Amts wegen tritt die Unterbrechungswirkung bereits mit
dem die Unterbrechung auslösenden Ereignis ein (zB Tod, Verlust der Prozessfähigkeit,
Konkurseröffnung etc); der Beschluss des Gerichts ist rein deklarativ. Die Unterbre-
chung ex lege tritt auch im Stadium des Rechtsmittelverfahrens ein und ist dort von Amts
wegen zu berücksichtigen. 2444
15.115 Bei einer Unterbrechung auf Antrag einer Partei ist der Beschluss des Gerichts jedoch
konstitutiv; die prozessualen Folgen der Unterbrechunf werden grundsätzlich erst mit
Rechtskraft des Unterbrechungsbeschlusses wirksam. 244 Hierbei ist jedoch zu präzisie-
ren: Spätestens mit der Zustellung wird der Beschluss den Parteien gegenüber bereits
wirksam (§ 426 Abs 3 ZPO). Einern dagegen offenstehenden Rekurs kommt grundsätz-
lich keine aufschiebende Wirkung zu (§ 492 Abs l ZPO). Maßgebender Zeitpunkt für
den Eintritt der Unterbrechungswirkungen ist damit - vorbehaltlich der Gewährung
der aufschiebenden Wirkung - bereits die Zustellung des Unterbrechungsbeschlusses
an die Parteien. 2446
15.117 Die Nichtigkeit der Entscheidung ist von Amts wegen und in jeder Lage des Verfahrens
aufzugreifen und zwar unabhängig davon, ob entsprechende Parteianträge vorliegen oder
im Rechtsmittelverfahren sich die Vorinstanz in der angefochtenen Entscheidung mit
diesem Thema überhaupt befasst hat. 2451 Ausgenommen von den Nichtigkeitsfolgen sind
(nur) Gerichtshandlungen, die dem durch die Unterbrechung des Verfahrens geschaffe-
nen Zustand Rechnung tragen; sie sind weiterhin zulässig. 2452
Sofern das Gericht das Verfahren bei Vorliegen eines Aussetzungsgrunds nicht unter- 15.118
bricht, kann dieser Umstand aufgrund des Rechtsmittelausschlusses in § 192 Abs 2
ZPO nicht gesondert angefochten werden. Die Unzulässigkeit der Verfahrensfortsetzung
und die erfolgten Gerichts- und Parteihandlungen können aber im (Rechtsmittel-)Ver-
fahren gegen die Entscheidung in der Hauptsache als Verfahrensmangel bzw als unrecht-
mäßige Ermessensausübung geltend gemacht werden. 2453 Ausgenommen bleiben die
zwingenden Aussetzungsgründe; für sie gilt die Nichtigkeitssanktion.
7. Sanierung
Es ist denkbar, eine aufgrund der Verfahrensunterbrechung an sich nichtige Prozess- 15.119
handlung nachträglich zu sanieren. So kann etwa ein Gemeinschuldner, der nach Kon-
kurseröffnung trotz fehlender Prozessführungsbefugnis selber einen Zivilprozess einlei-
tet, seine mit Bezug auf die Konkursmasse gesetzten unwirksamen Prozesshandlungen
dadurch sanieren, dass er nach rechtskräftiger Aufhebung des Konkurses und in Vollbe-
sitz seiner rechtlichen Verfügungsbefugnis den noch häntgen Prozess fortführt und da-
mit diese Prozesshandlungen nachträglich genehmigt. 245 Die Genehmigung kann auch
durch den Masseverwalter erfolgen, indem er in das Verfahren eintritt und die bisherige
Prozessführung genehmigt. 2455 Dasselbe gilt bei nachträglichem Eintritt der Prozessfähig-
keit der Partei. 2456 Ganz generell kann eine nichtige Prozessführung nachträglich durch
2457
den Berechtigten stets genehmigt und damit saniert werden.
Das Gericht hat von Amts wegen und in jeder Lage des Verfahrens - somit auch noch im 15.120
Rechtsmittelverfahren - analog zu § 6 Abs 2 ZPO einen Sanierungsversuch zu unterneh-
men.2458 Die nachträgliche Genehmigung des Berechtigten bzw die Wiederherstellung
der Prozessfähigkeit ist von Amts wegen zu berücksichtigen. Sie kann auch stillschwei-
gend erfolgen, etwa durch Erhebung eines Rechtsmittels durch den Berechtigten. 2459 Die
Sanierung setzt allerdings voraus, dass das Gericht die Prozesshandlung bzw Eingabe
nicht bereits rechtskräftig zurückgewiesen hat.
2472 RIS-Justiz RS0036735, sofern der Anspruch der Anmeldung im Konkurs unterliegt und der
Bestand oder der Rang seiner im Rechtsstreit geltend gemachten Forderung bestritten wurde.
2473 Art 20 Abs 2 KO.
2474 OGH 01 CG.2005.171 LES 2007, 280.
2475 Siehe dazu oben Rz 15.83-15.86.
2476 OGH 2. II. 2018, 08 CG.2014.415; 06 CG.2014.96 GE 2018, 37; 08 CG.2007.253 LES 2009,
191. Ebenso öOGH 8 Ob 268/99s; Gitschthaler in Rechberger!Klicka, ZPO; §§ 164-166 Rz 4
mwN.
2477 OGH 01 CG.2000.318 LES 2003, 296.
2478 Gitschthaler in Rechberger/Klicka, ZPOs §§ 155-157 Rz 18 und§§ 164-166 Rz 6ff. Diff Fink
in Fasching/Konecny 11/31 § 165 ZPO Rz 10, wonach (nur) in jenen Fällen eine konkludente
Entscheidung des Gerichts akzeptabel ist, in denen das Vorliegen der Voraussetzungen für die
Aufnahme des Verfahrens evident ist.
2479 OGH 01 CG.2000.318 LES 2003, 296. Ebenso öOGH 9 ObA 61/17m; 9 ObA 61/15h; 6 Ob 79/
99; RIS-fustiz RS0036654; RS0037l28 (T13).
2480 Vgl öOGH 1 Ob 583/93.
einandersetzung mit dem Fortsetzungsantrag bedingt. Diese Bestimmungen sind für die
außerhalb der§§ 155ff ZPO geregelten Unterbrechungsgründe ebenso (sinngemäß) an-
wendbar (§ 167 ZPO). Die Aufnahmeentscheidung des Gerichts entfaltet für den weite-
ren Verfahrensablauf unmittelbare Wirkung (zB Säumnisfolgen, Fristenlauf etc). Ob sie
selbstständig anfechtbar ist oder nicht, ist somit nicht relevant. Die förmliche Beschluss-
fassung dient nämlich letztlich der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit im Prozess; die
ZPO kennt grundsätzlich keine konkludenten Prozesshandlungen oder implizite Ge-
richtsentscheidungen.2481
15.129 Ein unterbrochenes Verfahren kann somit nur durch einen ausdrücklichen Gerichtsbe-
schluss auf Fortsetzung des Verfahrens wieder aufgenommen werden. 2482 Unterlässt das
Gericht die Fassung eines solchen formellen Beschlusses, kann Nichtigkeit vorliegen. 2483
4. Verfahren
15.130 Zuständig für die Entscheidung über die Aufnahme des Verfahrens ist das Prozessge-
richt, bei dem die Rechtssache zur Zeit des Eintritts des Unterbrechungsgrunds an-
hängig war(§ 165 Abs I ZP0). 2484 Ist die Unterbrechung im Rechtsmittelverfahren ein-
getreten, hat das LG den bei ihm eingelangten Fortsetzungsantrag2485 samt den Akten
dem Rechtsmittelgericht zur Entscheidung vorzulegen. 24 R6 Sofern das (Rechtsmittel-)
Verfahren in einer Instanz im Zeitpunkt der Unterbrechung bereits abgeschlossen war,
2487
entscheidet das im Vorverfahren funktional zuständige Erstgericht.
15.131 Das mit dem Fortsetzungsantrag befasste (Rechtsmittel-)Gericht hat den Parteien vorab
das rechtliche Gehör zu gewähren. 2488 Sodann hat es das behauptete Erlöschen des Un-
terbrechungsgrunds zu prüfen; es trifft insofern eine Prüfungs- und Entscheidungs-
pflicht.2489 Die Entscheidung ergeht - mit Ausnahme bei Tod einer Partei (§§ 155 bis
157 ZPO) - ohne vorherige mündliche Verhandlung, doch kann das Gericht eine solche
anordnen, wenn die Voraussetzungen der Verfahrensaufnahme zweifelhaft sind (§ 165
Abs 2 ZPO).
15.132 Das Prozessgericht hat im Aufnahmebeschluss jene Verfügungen zu treffen, die zum
Fortgang des Verfahrens erforderlich sind (zB Anberaumung einer Tagsatzung, neuer-
liche Bestimmung einer richterlichen Frist). 2490 Es hat die Parteien bei Anberaumung
einer Tagsatzung zur Verhandlung über den Aufnahmeantrag oder im Aufnahmebe-
schluss selbst auf die Säumnisfolgen hinzuweisen, etwa die Folgen der Versäumung die-
ser Tagsatzung oder die Folgen der Versäumung der im Beschluss f.esetzten richterlichen
Frist (nicht aber über Versäumnisfolgen bei gesetzlichen Fristen). 491
5. Zeitpunkt
Aufgrund des Ausdrücklichkeitserfordernisses des Aufnahmebeschlusses 2492 ist für die 15.133
Aufnahme des Verfahrens (nur) auf dessen Wirksamkeit und damit auf dessen Zustel-
lung an die Parteien abzustellen. 2493 Im Aufnahmebeschluss hat das Prozessgericht den
Zeitpunkt der Verfahrensaufnahme zu bestimmen(§ 166 Abs 2 ZPO); nach diesem Zeit-
punkt bestimmen sich die Wirkungen der Aufnahme des unterbrochenen Verfahrens. 2494
Nicht relevant hierfür sind die Zustellung des Aufnahmeantrags an den Gegner, die Zu-
stellung eines Urteils oder eines Rechtsmittels, die Zustellung einer Ladung zu einer Tag-
satzung oder deren Durchführung sowie sonstige Prozesshandlungen. 2495
Wird über den Aufnahmeantrag eine Tagsatzung anberaumt und das Verfahren in der 15.134
Hauptsache bei dieser Tagsatzung sogleich aufgenommen, 2496 ist im Aufnahmebeschluss
keine Zeitangabe des Gerichts erforderlich (§ 166 Abs I ZPO). In diesem Fall ist der Tag
2497
der unverzüglichen Aufnahme des Verfahrens maßgebend.
6. Wirkungen
Mit dem Zeitpunkt der Verfahrensaufnahme fallen die Unterbrechungswirkungen da- 15.135
hin; Gerichtshandlungen und Parteihandlungen sind (wieder) zulässig. Insb beginnen
mit diesem Zeitpunkt die gesetzlichen Fristen automatisch von neuem zu laufen (§ 163
Abs 1 ZPO).
Bei Eintritt eines Parteiwechsels ist das Verfahren - bei sonstiger Nichtigkeit - mit bzw 15.136
gegen den neuen Berechtigten (zB den Masseverwalter) fortzusetzen 2498 und die Bezeich-
nung der betroffenen Partei (zB Konkursitin) ist auf den Berechtigten zu berichtigen
(§ 243 Abs 4 ZPO). 2499
7. Rechtsmittel
Der Beschluss des Prozessgerichts über die Aufnahme eines nach den§§ lSSff ZPO un- 15.137
terbrochenen Verfahrens ist mit Rekurs anfechtbar. 2500 Hingegen steht gegen die nach
den §§ 187 bis 191 ZPO erlassenen Anordnungen (somit auch gegen die Aufnahme des
Verfahrens) kein Rechtsmittel zur Verfügung(§ 192 Abs 2 ZPO). 2501 Der Beschluss, mit
dem die Verfahrensaufnahme verweigert wird, ist stets anfechtbar. 2502 In jedem Fall ent-
scheidet über Rekurse gegen Beschlüsse des LG das OG endgültig (§ 170 a ZPO).
15.138 Da dem Zeitpunkt der Verfahrensaufnahme eine wichtige Bedeutung zukommt (zB für
die Berechnung des Fristenlaufs), ist eine Unterlassung der Zeitangabe im Beschluss mit
2503
Rekurs anfechtbar.
2. Zeitpunkt
Die Ruhensvereinbarung der Parteien ist erst ab dem Zeitpunkt wirksam, in dem sie dem 15.143
Prozessgericht von beiden Parteien angezeigt wurde (§ 168 ZPO). 2510 Diese Anzeige
kann beim Erstgericht bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung und beim Rechts-
mittelgericht noch während des anhängigen Rechtsmittelverfahrens ergehen, namentlich,
sofern eine solche stattfindet, bis zum Schluss der mündlichen Berufungsverhandlung,
andernfalls und im Revisionsverfahren bis zum Erlass der Entscheidung. 2511 Dasselbe gilt
für das (Revisions-)Rekursverfahren.
Mit Eingang der Anzeige über die Ruhensvereinbarung beim Prozessgericht tritt das 15.144
Ruhen des Verfahrens ex lege ein; es bedarf hierzu keines Gerichtsbeschlusses. 2512
3. Dauer
Das vereinbarte Ruhen des Verfahrens ist ein zeitlich begrenzter Stillstand des Verfah- 15.145
rens. 2513 In der Vereinbarung haben die Parteien die Dauer anzugeben, für die das Ver-
fahren ruhen soll. Die gesetzliche Mindestdauer beträgt drei Monate seit der Anzeige der
getroffenen Vereinbarung gegenüber dem Prozessgericht; vor Ablauf dieser Frist kann
das Verfahren nicht aufgenommen werden. Die Vereinbarung einer kürzeren Dauer ist
unwirksam. 2514
Die Parteien können eine längere Dauer vereinbaren; sie muss jedoch zeitlich be- 15.146
stimmt sein. 2515 Bestimmbarkeit ist ausreichend (zB Ruhen bis zur rechtskräftigen Be-
endigung eines anderen Verfahrens), eine sinnvolle Fortführung des Verfahrens muss
aber möglich bleiben. 2516 Die Vereinbarung des „ewigen" Ruhens des Verfahrens ist
an sich zulässig; damit treten (ebenso) der Stillstand des Verfahrens und die Wirkun-
gen des Ruhens des Verfahrens ein. 2517 Allerdings ist eine solche Vereinbarung nach
Ablauf der gesetzlichen Mindestdauer aufgrund ihrer zeitlichen Unbestimmtheit pro-
zessrechtlich unbeachtlich; nach Ablauf von drei Monaten kann das Verfahren auf An-
trag einer Partei fortgesetzt werden. 2518 Ein solcher Fortsetzungsantrag kann jedoch
unzulässig sein, wenn mit dem „ewigen" Ruhen gleichzeitig auch das streitige Rechts-
verhältnis materiell-rechtlich bereinigt wurde (zB durch einen außergerichtlichen Ver-
gleich).2s19
15.147 Die fehlende Angabe der Ruhensdauer macht die Vereinbarung der Parteien nicht un-
wirksam. Nach der hier vertretenen Ansicht ist dies als Anwendungsfall der zeitlich unbe-
2520
stimmten Dauer anzusehen; es gilt sodann die gesetzliche Mindestdauer von drei
Monaten.
5. Wirkung
15.149 Die Wirkun!ien des Ruhens entsprechen grundsätzlich jenen der Unterbrechung des
Verfahrens, 522 allerdings mit der Einschränkung, dass der Lauf der Notfristen unbe-
rührt bleibt (§ 168 Abs 1 ZPO). Die bei Eintritt des Ruhens bereits begonnenen Rechts-
mittelfristen laufen weiter, über das Rechtsmittel hat das Rechtsmittelgericht aber (noch)
nicht zu entscheiden; dies stünde mit dem Zweck und den Wirkungen des Ruhens im
Widerspruch. 2523 Ebenso ist über Rechtsmittel, die vor Eintritt des Ruhens eingebracht
wurden, nicht zu entscheiden, solange das Verfahren ruht. 2524 Zulässig bleiben hingegen
Verfahrenshandlungen, welche die Beendigung des Prozesses bezwecken (zB Vergleich,
Klagerücknahme unter Anspruchsverzicht) oder der Sicherung der Rechte der Parteien
2525
dienen, sofern dies das Verfahren als solches nicht betrifft (zB Verfahrenshilfeantrag).
15.150 Im Übrigen sind Gerichts- und Parteihandlungen, die nicht bloß dem durch das Ruhen
des Verfahrens geschaffenen Zustand Rechnung tragen, während des Stillstands des Ver-
fahrens unzulässig. 2526 Ein gleichwohl fortgesetztes Verfahren ist nichtig und eine wäh-
2527
rend des Ruhens des Verfahrens erlassene Entscheidung ist als nichtig aufzuheben.
15.151 Der Eintritt des Ruhens bezieht sich nur auf das Hauptverfahren, nicht aber etwa auf das
Provisorialverfahren. 2528
Letztlich ermöglicht die Ruhensvereinbarung den Parteien eine einfache und kostenspa- 15.152
rende Erledigung des Rechtsstreits (auch noch im Rechtsmittelverfahren), indem die
Sachentscheidung des mit der Streitsache befassten Gerichts für die Dauer des Ruhens
entfällt, die Streitsache aber gleichwohl streithängig bleibt und (anders als bei einer Zu-
rücknahme der Klage) eine allenfalls bereits ergangene Entscheidung nicht in Rechtskraft
erwächst. 2529
6. Rechtsmittel
Über das vereinbarte Ruhen des Verfahrens ergeht keine förmliche Entscheidung des 15.153
Prozessgerichts. Auch eine Anfechtung eines über die Ruhensanzeige gleichwohl ergan-
genen „Feststellungsbeschlusses" ist gern Rsp nicht zulässig. 2530 Die Partei(en) können
nur (aber immerhin) einen Fortsetzungsantrag stellen. 2531
Das zwischen den Parteien vereinbarte und dem Gericht an§ezeigte Ruhen des Verfah- 15.154
rens kann ein einfacher Nebenintervenient nicht abwenden, 532 wohl aber ein Streitge-
nosse.2533
15.157 Die Einbringung des Fortsetzun~santrags ist zeitlich nicht begrenzt; der Anspruch auf
Prozesserledigung verjährt nicht. 539
indem es festhält, dass das Verfahren ruht und nur über Antrag einer Partei fortgesetzt
werden kann. 2549 Dies ist nach der hier vertretenen Ansicht zu befürworten; anders als
bei einer zwischen den Parteien abgeschlossenen Ruhensvereinbarung bedarf es bei
Säumnis in der mündlichen Verhandlung einer Klarstellung gegenüber den (nicht er-
schienenen) Parteien, dass die Ladungen ausgewiesen sind und das Verfahren infolge
Säumnis der Parteien ruht. Diese Klarstellung erfolgt durch einen deklarativen Ruhensbe-
schluss im Verhandlungsprotokoll und dient letztlich der Rechtssicherheit und Rechts-
klarheit im Verfahren.
4. Wirkung
Die Wirkungen des Ruhens infolge Säumnis der Parteien entsprechen jenen der Ruhens- 15.163
vereinbarung der Parteien. 2550
5. Rechtsmittel
Gegen einen Aktenvermerk des Gerichts über das Ruhen des Verfahrens steht kein 15.164
Rechtsmittel offen; die Parteien können jedoch einen Fortsetzungsantrag einbringen.
Der deklarative Beschluss des Prozessgerichts, mit dem das Ruhen des Verfahrens infolge 15.165
Säumnis der Parteien festgestellt wird, ist gern Rsp - anders als bei einer Ruhensverein-
barung2551 - mit Rekurs anfechtbar. 2552 In jedem Fall entscheidet über Rekurse gegen
Beschlüsse des LG das OG endgültig ( § 170 a ZPO ).
2549 OGH CO.2015.3 GE 2017, 106. AA Fink in Fasching/Konecny 11/3} Vor§§ 168-170 ZPO
Rz 20, wonach eine beschlussmäßige Feststellung des Ruhenseintritts nicht notwendig ist
und auch beim Ruhen von Amts wegen ein Aktenvermerk ausreicht.
2550 Siehe dazu oben Rz 15.149- 15.152.
2551 Siehe dazu oben Rz 15.153 f.
2552 OGH CO.2015.3 GE 2017, 106; 06 CG.2008.302 LES 2010, 18. Krit dazu Fink in Fasching/
Konecny II/3} Vor§§ 168-170 ZPO Rz 20, der die Möglichkeit eines Fortsetzungsantrags als
ausreichend erachtet.
2553 Siehe dazu oben Rz 15.155- 15.157.
Übersicht
Rz
1. Die Klage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.1
A. Notwendiger Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.1
1. Klagserzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.1
2. Beweisanbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.8
3. Klagebegehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.11
a) Bestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.11
b) Stufenklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.16
4. Richterliche Behandlung der Klage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.23
a) Allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.23
b) Unschlüssige Klagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.25
c) Verfristete Klagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.31
B. Klagearten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.34
1. Allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.34
2. Leistungs- und Unterlassungsklagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.37
3. Feststellungsklagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.39
a) Allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.39
b) Zwischenantrag auf Feststellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.52
4. Rechtsgestaltungsklagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.53
C. Änderungen der Klage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.54
1. Klagsänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.54
2. Klagseinschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.62
3. Klagszurücknahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.65
D. Klagenhäufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.72
E. Abgrenzung zum Antrag im Außerstreitverfahren . . . . . . . . . . . . . 16.77
II. Die Klagebeantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.80
III. Vorbereitende Schriftsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.85
1. Die Klage
A. Notwendiger Inhalt
1. Klagserzählung
16.1 Die Klage ist ein bestimmender Schriftsatz. 2554 Sie bildet die Grundlage des Rechtsstreits
und des Urteils. 2555 Nach§ 232 ZPO 2556 hat die Klage „ein bestimmtes Begehren zu ent-
halten, die Tatsachen, auf welche sich der Anspruch des Klägers in Haupt- und Neben-
sachen gründet, im Einzelnen kurz und vollständig anzugeben und ebenso die Beweis-
mittel im Einzelnen genau zu bezeichnen, deren sich der Kläger zum Nachweise seiner
tatsächlichen Behauptung bei der Verhandlung zu bedienen beabsichtigt". Mehr wird
nicht gefordert. In der Zivilprozessordnung wird auch eine rechtliche Qualifikation nicht
verlangt. Gegenstand des Rechtsstreits ist nur das Klagebegehren und der Sachverhalt,
aus dem er abgeleitet wird. Dieser Streitgegenstandsbegriff, aus § 232 ZPO hergeleitet,
beruht ausschließlich auf dem Prozessrecht und ist vom materiell-rechtlichen Anspruch
zu trennen. 2557
16.2 Zum notwendigen Inhalt einer Klageschrift gehört gern § 232 ZPO ein bestimmtes Be-
gehren, worunter der Antrag der klagenden Partei auf Fällung eines Urteils mit be-
stimmtem Inhalt zu verstehen ist. Eine Klage hat ua die anspruchsbegründenden,
rechtserzeugenden Tatsachen, auf welche sich der Anspruch der klagenden Partei grün-
det, im Einzelnen kurz und vollständig anzugeben. Einer rechtlichen Qualifikation be-
darf es nicht. Diese obliegt dem Gericht und unterliegt nur dann und insoweit einer
Beschränkung, als sich die klagende Partei ausdrücklich und ausschließlich auf einen be-
stimmten Rechtsgrund beruft. 2558 Das Gericht ist an eine vom Kläger vorgenommene
rechtliche Qualifikation des der Klage zugrundeliegenden Sachverhalts also grundsätzlich
nicht gebunden. Eine unrichtige rechtliche Qualifikation wirkt sich jedenfalls dann nicht
zum Nachteil des Klägers aus, wenn er alle anspruchsbegründenden Tatsachen vorgetra-
2559
gen und unter Beweis gestellt hat. Es bleibt damit stets dem Gericht überlassen und
dessen alleinige Aufgabe, den ihm unterbreiteten Sachverhalt nach allen rechtlichen Ge-
sichtspunkten zu prüfen und die zu dessen rechtlicher Beurteilung notwendigen Rechts-
normen aufzufinden. 2560 Entscheidend ist allein, ob die klagende Partei alle anspruchs-
begründenden Tatsachen vorgetragen hat. 2561 Macht jedoch der Kläger einen bestimm-
ten Rechtsgrund ausdrücklich und ausschließlich geltend, ist das Gericht gern § 405
ZPO daran gebunden und darf der Klage nicht aus einem anderen Rechtsgrund statt-
geben.2562
Die klagende Partei hat bereits in die Klage alle jene Angaben aufzunehmen, aus denen 16.3
das angerufene Gericht seine Zuständigkeit und auch die Prozessvoraussetzung der in-
ländischen Jurisdiktion erkennen kann. Der Kläger ist aber nicht verhalten, alle die Zu-
ständigkeit des angerufenen Gerichts begründenden Behauptungen in einem eigenen Ab-
schnitt der Klage zusammenzufassen, geschweige die Zuständigkeitstatbestände in ihrer
rechtlichen Konfiguration zu benennen. Entscheidend ist, dass bereits in der Klage das
erforderliche Tatsachensubstrat vorgebracht wird. 2563
Eng iZm den Inhaltserfordernissen einer Klage steht die Frage der Schlüssigkeit des Kla- 16.4
gebegehrens, die auch auf einer Unvollständigkeit des Sachvorbringens beruhen kann.
Vollständig behauptet werden müssen alle Tatsachen, an deren Vorhandensein das ma-
terielle Recht eine bestimmte Rechtsfolge knüpft. 2564 Neben der Unvollständigkeit sind
auch Klagen unschlüssig, weil sich die vorgebrachten Tatsachen nicht unter den Tatbe-
stand subsumieren lassen, der die angestrebte Rechtsfolge nach sich zieht. 2565 Rechtlich
schlüssig ist ein Klagebegehren immer dann, wenn das Sachbegehren der klagenden Par-
tei materiell-rechtlich aus den zu seiner Begründung vorgetragenen Tatsachenbehaup-
tungen abgeleitet werden kann. Der Schlüssigkeit des Klagebegehrens kommt va bei
der Fällung eines Versäumnisurteils Bedeutung zu. Das Gericht hat vor Fällung eines
echten Versäumnisurteils die Klage einer Schlüssigkeitsprüfung zu unterziehen und das
Klagebegehren in Form eines negativen Versäumnisurteils abzuweisen, wenn das Sach-
vorbringen - trotz eines Verbesserungsversuchs - unvollständig ist oder wenn bei zwar
vollständigem Vorbringen das Begehren rechtlich daraus nicht abgeleitet werden
kann. 2566
Dies gilt auch dann, wenn zB schon in der Klage die Grundtatsachen zur Ableitung der 16.5
Anspruchshöhe fehlen. 2567 Oder wenn eine Anfechtungsklage keine konkrete anfechtba-
re Rechtshandlung des Gemeinschuldners anführt oder lediglich eine bestimmte Rechts-
handlung ohne Vorbringen zu einem spezifischen Anfechtungstatbestand behauptet. 2568
Eine Schadenersatzklage wiederum ist nur schlüssig, wenn der Kläger nicht nur den
Grund seines Anspruchs, sondern auch die für die begehrte Höhe des Schadens notwen-
digen Tatsachen so vollständig vorbringt, dass sich das gestellte Begehren aus dieser Sach-
verhaltsdarstellung ableiten lässt. Wenn zB Verantwortlichkeitsansprüche gegen fehlba-
re Organe von Dritten aus dem Konkurs aus einer kridamäßigen Versteigerung erstan-
den werden, genügt es für die Erfüllung der Substantiierungspflicht nicht, wenn der Drit-
te dann (nur) die Forderungssumme klageweise geltend macht, die bereits vom
Masseverwalter anerkannt worden war, ohne aber zugleich den ursächlichen Zusammen-
hang zwischen den Pflichtwidrigkeiten des Organs (Verwaltungsrat) und der eingeklag-
ten Schadenshöhe aufzuzeigen und in der Klage auch zu behaupten. 2569 Zur Begründung
2563 OGH 09 CG.2002.63 LES 2006, 129 mwN zur in Liechtenstein geltenden Indikationentheorie
für vermögensrechtliche Streitigkeiten.
2564 So schon OGH 03 C 207/70 ELG 1967, 62/2.
2565 OGH 06 CG.2006.299 LES 2010, 189.
2566 OGH 01 C 472/97-92 LES 2003, 308.
2567 OGH 01 CG.2003.13 LES 2004, 233.
2568 OGH 05 CG.2014.306 PSR 2017/38.
2569 OGH 01 C 472/97-92 LES 2003, 308.
2. Beweisanbote
16.8 Zum weiteren notwendigen Inhalt einer Klage gehört auch das Anbot von Beweismitteln.
Sie sind im Einzelnen in der Klage genau zu bezeichnen.
Dem Bestimmtheitserfordernis wird auch dadurch Rechnung getragen, dass die klagen- 16.9
de Partei in ihrem Klagsvorbringen auf Urkunden hinweist, die den Inhalt des Begeh-
rens ausreichend umschreiben, und die Urkunden zugleich mit der Klage vorlegt. Ein
solcher Hinweis auf Urkunden auch in einer Klage ist in § 82 ZPO ausdrücklich vorge-
sehen, der die Bestimmungen der §§ 77 und 81 ZPO ergänzt und dem Beklagten die
Möglichkeit verschafft, sich durch Einsicht in die Urkunden entsprechend zu informie-
ren. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist ua, dass diese Urkunden in der Klage ent-
weder ausdrücklich als Beweismittel bezeichnet oder als für das eigene Tatsachenvorbrin-
gen wesentliche Grundlage genannt werden. 2578 Jedoch kann das Fehlen rechtserzeug-
ender Tatsachen in der Klage durch Hinweis und Vorlage von Urkunden nicht ersetzt
werden, hat doch die klagende Partei das ihren Anspruch begründende Vorbringen im
Einzelnen kurz und vollständig anzugeben. Es ist nicht Sache des Gerichts, aus (häufig in
großer Zahl) vorgelegten Urkunden diejenigen Tatsachen herauszufiltern, die für die
Durchsetzung des Klagsanspruchs wesentlich sein können. 2579
Während also die Vorlage von Beweisurkunden allein eine unschlüssige Klage noch nicht 16.10
schlüssig macht, kann umgekehrt eine vorgelegte Urkunde allein eine schlüssige Klage
nicht unschlüssig machen. Die von der klagenden Partei zugleich mit der Klage vorge-
legten Urkunden können die Schlüssigkeit des Klagsvorbringens nur dann tangieren,
wenn ihr Inhalt damit in unlösbarem Widerspruch steht. Dies trifft auf Urkunden über
rechtsgeschäftliche Erklärun§en schon mit Rücksicht auf deren Auslegungsbedürftigkeit
im Allgemeinen nicht zu. 258
3. Klagebegehren
a) Bestimmtheit
Ganz allgemein handelt es sich bei Klagebegehren um einseitige Parteiwillenserklärun- 16.11
gen. Bei ihrer Interpretation ist nicht am starren Wortlaut festzuhalten, sondern die
Absicht der klagenden Partei zu erforschen und die Erklärung so zu verstehen, wie
dies der Übung des redlichen Verkehrs entspricht (§ 914 ABGB). Ein offenkundig
missverständlicher Wortgebrauch ist schon wegen des Vorrangs der Sacherledigung
durch das Gericht entsprechend zu interpretieren und klarzustellen. Dies gilt bspw
für die Frage, ob eine Partei eine Leistungs-, Rechtsgestaltungs- oder Feststellungsklage
eingebracht hat. 2581
Bei Geldbeträgen bedeutet dies die genaue Benennung der Geldsumme, und zwar auch 16.12
dann, wenn die Festlegung der Höhe dem Ermessen des Richters überlassen werden soll.
Bei der Ableitung mehrerer Geldforderungen aus einem rechtserzeugenden Sachverhalt
ist zwar eine Aufgliederung im Urteilsbegehren selbst nicht erforderlich, doch müssen in
der Klagserzählung und deren Bestandteilen die einzelnen Beträge ziffernmäßig aufge-
gliedert sein. IS der auch für den liechtensteinischen Rechtsbereich geltenden Substan-
tiierungstheorie müssen die rechtserzeugenden Tatsachen, auf die die klagende Partei
ihren Anspruch gründet, vollständig und knapp vorgebracht werden. Die Vorlage von
Urkunden allein vermag die erforderlichen Prozessbehauptungen nicht zu ersetzen. 2582
Wenn bspw ein Kläger (Begünstigter einer Stiftunp) nach rechtskräftiger Stattgebung
seines Auskunftsbegehrens in einer Stufenklage 258 · seine Forderung auf Leistung auf
den Franken-Gegenwert zum Stichtag exakt jener Vermögenswerte konkretisiert, welche
entsprechend dem von der beklagten Stiftung zur Verfügung gestellten Vermögensaus-
weis ihres Kontos noch vorhanden waren und dieses sich aus diversen Positionen ua aus
Aktien, Devisen, Edelmetallen zusammensetzt, so stellt dies nach Ansicht des OGH keine
statische Größe dar und kann sich das Vermögen zwischen dem Stichtag bis zum Ver-
handlungsschluss schon aufgrund der fluktuierenden Börsen- und Fremdwährungskurse
verändert haben. Zwar wäre die Beklagte bei Fehlen ausreichender Barmittel verpflichtet,
binnen vier Wochen die zu diesem Zeitpunkt auf dem Konto vorhandenen Vermögens-
werte zu verkaufen (.,versilbern") und deren Franken-Gegenwert zum Wechsel- und Bör-
senkurs am Zahlungstag zu bezahlen. Dies ändert aber nichts daran, dass die von der
Beklagten zu erbringende Leistung, jedenfalls was deren „Art" sowie ihren Umfang
und Zeitpunkt betrifft, eindeutig bestimmt ist. 2584
16.13 Besondere Vorsicht ist auch bei in Fremdwährung bestehenden Begehren geboten. Bei
ihnen ist grundsätzlich auf den Umrechnungskurs zum Zeitpunkt des Schlusses der Ver-
handlung erster Instanz abzustellen. 2585 Anders ist dies hingegen bei Schadenersatzproz-
essen: Wird der Kläger in Liechtenstein geschädigt, ist ihm der Schadensbetrag in liech-
tensteinischer Währung zuzusprechen, auch wenn eine ausländische Währung die
Grundlage für die Schadensberechnung bildete; dann ist diese mit dem Börsen-Mittel-
kurs zum Zeitpunkt der Fälligstellung des Schadenersatzanspruchs in die Frankenwäh-
rung umzurechnen. 2586
16.14 Bei nicht auf Geldleistung gerichteten Klagen ist das Bestimmtheitserfordernis des
§ 232 Abs l ZPO erfüllt, wenn dem Urteilsantrag unter Berücksichtigung des Sprach-
und Ortsgebrauchs und nach dem Verständnis des Verkehrs entnommen werden kann,
was begehrt ist. Dabei ist das Begehren so zu verstehen, wie es im Zusammenhalt mit
der Klagserzählung vom Kläger gemeint ist. Maßgebend ist also nicht allein der Wort-
laut des Klagebegehrens, sondern auch der Inhalt der Prozessbehauptungen. Welche
Anforderungen an die Bestimmtheit des Klagebegehrens zu stellen sind, hängt von
den Besonderheiten des anzuwendenden materiellen Rechts und den Umständen des
Einzelfalls ab. 2587
2582 OGH 01 CG.2003.13 LES 2004, 233; zur Zulässigkeit der Klagenhäufung idZ s unten Rz 16.72;
vgl zum Bestimmtheitsgebot von Klagen nach Art 91 Abs 2 UVersG OGH 06 CG.2007.129
GE 2010, 195.
2583 Siehe dazu gleich unten Rz 16.16.
2584 OGH 01 CG 2002.32 LES 2009, 160; vgl zur Vorentscheidung zum Manifestationsbegehren
OGH 01 CG.2002.32 LES 2006, 191.
2585 OGH 02 CG.2015.239 LES 2016, 260; vgl auch Art 6 Abs 2 des G v 26. 5. 1924 betreffend die
Einführung der Frankenwährung, LGBI 1924/8; idS auch RIS-Justiz RS0061067.
2586 OGH 08 CG.2004.63 LES 2007, 209.
2587 OGH 09 CG.2015.19 LES 2015, 231 zur Bestimmtheit eines Begehrens, das auf die Herausgabe
von Stiftungsdokumenten gerichtet ist.
Stets ist beim Abfassen von Klagebegehren darauf zu achten, dass sie dem Bestimmt- 16.15
heitsgebot des Art 3 Abs l EO genügen. Demnach darf die Exekution nur bewilligt wer-
den, wenn aus dem Exekutionstitel nebst der Person des Berechtigten (Kläger) und Ver-
pflichteten (Beklagter) auch Gegenstand, Art, Umfang und Zeit der geschuldeten Leis-
tung oder Unterlassung zu entnehmen sind. 2588
b) Stufenklage
Bei einer Stufenklage kann das Begehren auf Zahlung mit dem Auskunfts- und Rech- 16.16
nungslegungsbegehren verbunden werden, obwohl die Höhe des zu zahlenden Betrags
erst nach Auskunftserteilung (Rechnungslegung) feststeht und das Leistungsbegehren
von der klagenden Partei erst nach dieser zu beziffern ist. 2589
Die Stufenklage enthält ein zweistufiges Begehren, namentlich zunächst auf Rechnungs- 16.17
legung, danach das vorerst unbestimmte Begehren auf Heraus~abe des Vermögens oder
Zahlung. Gesetzliche Grundlage dafür ist ua Art XV EGZP0 2 90 , der lautet: ., Wer nach
den Vorschriften des bürgerlichen Rechtes ein Vermögen oder Schulden anzugeben ver-
pflichtet ist, oder wer von der Verschweigung oder Verheimlichung eines Vermögens ver-
mutlich Kenntnis hat, kann mittels Urteiles dazu verhalten werden, allenfalls unter Vorlage
eines Verzeichnisses des Vermögens oder der Schulden anzugeben, was ihm von diesem
Vermögen, von den Schulden oder von der Verschweigung oder Verheimlichung eines Ver-
mögens bekannt ist, und einen Eid dahin zu leisten, dass seine Angaben richtig und voll-
ständig sind. Zur Klage ist befugt, wer ein privatrechtliches Interesse an der Ermittlung des
Vermögens oder des Schuldenstandes hat."
Aus der Rsp ergibt sich zunächst, dass sich zB der Verwendungsanspruch (§ 1041 16.18
ABGB) primär auf Herausgabe bzw Rückstellung der Sache richtet, der ab Einforderung
fällig und zu verzinsen ist. Nur bei Unmöglichkeit oder Untunlichkeit eines Naturalersat-
zes tritt an die Stelle der Rückzahlung ein entsprechender Wertersatz. Ausschließlich für
die Bemessung dieses Wertersatzes sind verschiedene Kriterien maßgebend, zu deren
Ermittlung und Beurteilung dem Verwendungskläger uU analog dem § 1039 ABGB ein
Rechnungslegungsanspruch nach Art XV EGZPO zugestanden wird. 2591 Nach altem Stif-
tungsrecht konnten auch Auskunfts-, Rechnungslegungs- und Bucheinsichtsansprüche
des Destinatärs einer Familienstiftung mit einer Stufenklage geltend gemacht werden,
und die Entscheidung hierüber erfolgte im streitigen Verfahren. 2592 Volljährige Kinder
haben unter bestimmten Voraussetzungen nach liechtensteinischem Prozessrecht die
Möglichkeit, zur Geltendmachung des gesetzlichen Unterhaltsanspruchs eine Stufenkla-
ge einzubringen. 2593 Hingegen können weder deliktische Schadenersatzansprüche noch
solche aus Vertragsverletzungen nach der Rsp einen privatrechtlichen Auskunftsan-
spruch begründen. Eine Klage auf Rechnungslegung, die der Ermittlung des Schadens
dienen soll, ist daher generell unzulässig. 2594 In diese Richtung geht auch die bereits zi-
tierte OGH-Entscheidung zum Verwendungsanspruch, wonach ein Auskunftsrecht und
Rechnungslegungsanspruch nach Art XV EGZPO nur zur Berechnung des dem Grund
nach unstrittigen Bereicherungsanspruchs, nicht aber zu dessen Ermittlung und Prüfung,
2595
bestehen.
16.19 Nach einer jüngeren Entscheidung des FL OGH hat dagegen ein (deutscher) Insolvenz-
verwalter aufgrund dieser Bestimmung Auskunfts- und Informationsansprüche zwecks
Überprüfung, ob Ausschüttungsansprüche des Gemeinschuldners, der zugleich mutmaß-
licher Gründerrechtsinhaber und erster und alleiniger Begünstigter dieser Anstalt war,
tatsächlich vollständig befriedigt worden waren, gegen diese Anstalt. Demnach haben
Gläubiger ganz allgemein einen prozessualen Auskunftsanspruch gegen Dritte, wenn
aufgrund der Umstände des Einzelfalls (i) die Gläubiger entschuldbar über das Bestehen
und den Umfang ihrer Rechte im Unklaren und sie deshalb auf die Auskunft des Dritten
angewiesen sind, (ii) sie berechtigte Forderungen haben, die nicht an Informationsdefizi-
ten scheitern sollen, (iii) dem Dritten die Auskunft nach redlicher Verkehrsübung zu-
mutbar ist, sie dieser unschwer erteilen kann und dadurch nicht unbillig belastet wird,
(iv) und kein Anlass besteht, den Dritten zulasten des Gläubigers vor diesen Ansprüchen
zu schützen, insb aufgrund damit kollidierender Geheimhaltungsinteressen des Drit-
ten.2596 Weil trotzdem keine allgemeine Auskunftspflicht bestehe und niemand rechtlich
verpflichtet sei, bestimmte Tatsachen einem anderen nur deshalb zu offenbaren, weil
dieser an der Kenntnis ein rechtliches Interesse hat, prüft der FL OGH dabei genau die
Rechtsbeziehungen der Streitparteien und setzt damit ein Sonderrechtsverhältnis vo-
raus: Auf den Nachlassinsolvenzverwalter seien nicht nur kraft Konkurses des Nachlasses
dessen Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis übergegangen, sondern auch die Aus-
kunfts- und Informationsrechte, die ein Alleinbegünstigter gestützt auf Art XV EGZPO
gegenüber der Anstalt gehabt hätte. Auch wenn die Begünstigtenstellung mit seinem Tod
erloschen sei, seien seine Auskunfts- und Informationsrechte für die Vergangenheit auf
den Nachlass und damit auf dessen Insolvenzverwalter übergegangen. Würde sich im
fortgesetzten Verfahren sogar noch bestätigten, dass der verstorbene Erblasser bis zu sei-
nem Tod auch wirtschaftlicher Inhaber der Gründerrechte der beklagten Anstalt war,
2597
würde der Kläger seinen Auskunftsanspruch auch darauf stützen können.
16.20 Die fragliche Entscheidung wurde teils kritisch aufgenommen. 2598 Gerade in ihren Aus-
wirkungen auf die Asset Protection von liechtensteinischen Rechtsträgern ist tatsächlich
dadurch Verunsicherung entstanden. So begründet der OGH den Auskunftsanspruch
eines Begünstigten einer Anstalt selbst - und nicht eines Insolvenzverwalters seines nach-
maligen Nachlasses - mit Art XV EGZPO, obwohl ein Begünstigter aufgrund des An-
staltsrechts einen genuinen Informationsanspruch aus Art 551 PGR iVm Art 932a § 68
2594 OGH 01 CG.2002.32 LES 2006, 191; 04 CG.2004.252 LES 2007, 302.
2595 OGH 01 CG.2002.32 LES 2006, 191 (200).
2596 OGH 05 CG.2014.306 PSR 2017/38 = GE 2017, 62: Solche Geheimhaltungsinteressen waren
von der beklagten Anstalt im Prozess offenbar nicht behauptet worden.
2597 OGH 05 CG.2014.306 PSR 2017/38.
2598 Vgl nur Auer, PSR 2017, 163ff.
PGR ableiten kann. Dieser ist aber nach der hier vertretenen Auffassung keineswegs ver-
erblich, sondern höchstpersönlich. 2599 Ebenso wenig kann der Insolvenzverwalter aus der
Tatsache ein Informationsrecht ableiten, dass der verstorbene Erblasser möglicherweise
wirtschaftlicher Gründer war. Ihm kämen keinerlei Rechte gegen die Anstalt selbst zu,
sondern nur gegen den rechtlichen Gründer. 2600 In Wahrheit wird damit ein allgemeiner
Auskunftsanspruch im Anfechtungsrecht - praktisch auf einen Anfangsverdacht einer
möglicherweise anfechtbaren Rechtshandlung hin - geschaffen, der so in der öLehre und
Rsp nicht anerkannt wird. 2601 Auch wenn die beklagte Anstalt offenbar auf berechtigte
Geheimhaltungsinteressen im Verfahren nicht hingewiesen hatte, liegt dies in der Natur
liechtensteinischer Stiftungen, Anstalten und Trusts, die gemeinhin anfechtungsfest aus-
gestaltet werden. 2602 Damit wird in ihren praktischen Auswirkungen auch das Treuhän-
dergeheimnis unterlaufen, das nur in Straf-, aber nicht in Zivilverfahren unanwendbar ist
(Art 21 Abs I TrHG), gehört es doch in erster Linie zu den vorrangigen, schützenswerten
und va gesetzlichen Pflichten von liechtensteinischen Treuhändern, in berufsmäßig legi-
timer Weise und im Interesse ihrer Kunden deren Vermögen geheim zu halten und da-
mit iSd Art XV EGZPO zu „verschweigen bzw. zu verheimlichen". 2603 Es bleibt zu hoffen,
dass die Höchstgerichte bei der zukünftigen Anwendung von Art XV EGZPO (noch)
mehr Rücksicht auf die Interessenabwägung im Hinblick auf dadurch tangierte Berufs-
geheimnisse nehmen.
Die Erhebung einer Stufenklage unterbricht auch die Verjährung des noch nicht bezif- 16.21
ferbaren Leistungsanspruchs. 2604 Das Verfahren über eine Stufen-(Manifestations-}klage
hat sich vorerst auf die Erledigung des Rechnungslegungsbegehrens zu beschränken und
ist hierüber mit Teilurteil zu entscheiden. Das Verfahren über ein unbestimmtes Leis-
tungsbegehren ist grundsätzlich erst dann fortzusetzen, wenn der Beklagte die ihm durch
das rechtskräftig gewordene Teilurteil aufgetragene Auskunftsverpflichtung erfüllt hat.
Der Kläger hat sodann die Fortsetzung des Verfahrens über das noch offene Leistungs-
begehren zu beantragen und das Leistungsbegehren entsprechend zu beziffern. Hierauf
führt das Gericht das Verfahren über den Leistungsanspruch durch und schließt dieses
mit dem Endurteil ab. Nach Rechtskraft des Teilurteils über das Auskunfts-(Rechnungs-
legungs-)begehren tritt bis zur Bezifferung des Leistungsbegehrens durch den Kläger ein
2599 Vgl zum altrechtlichen Informationsanspruch von Stiftungsbegünstigten und dem Rückgriff
auf Art 932a § 68 PGR Gasser, Stiftungsrechr Art 552 § 9 Rz 5.
2600 Vgl Fischer in FS Delle Karth 184; im Anstaltsrecht gilt nicht wie im Stiftungsrecht die ge-
setzliche Fiktion des Art 552 § 4 Abs 3 PGR, wonach die Stifterrechte ipso iure beim wirt-
schaftlichen (und nicht beim rechtlichen) Stifter liegen, und auch im Stiftungsrecht haben
wirtschaftliche Stifter von Stiftungen keine Informationsrechte: Gasser, Stiftungsrecht 1
Art 552 § 9 Rz 14.
2601 Vgl Auer, PSR 2017, 167 mHa Konecny in Fasching/Konecny 11/1 3 Art XLII EGZPO Rz 52/2
unter Verweis auf öOGH 1 Ob 2370/96b.
2602 Vgl dazu Gasser in FS Delle Karth 283 ff; Gasser, Stiftungsrecht' Art 552 § 36 Rz 1 ff; vgl zur
Anstalt Art 546 PGR und zum Trust Art 914 PGR.
2603 Vgl zum Bankgeheimnis Konecny in Fasching/Konecny 11/1 3 Art XLII EGZPO Rz 91.
2604 Vgl OGH 10 CG.2010.152 LES 2013, 156, wo der OGH auf die Ausführungen des Erstgerichts
hinweist, dass die Stufenklage die Verjährung hemme und die Einrede der Verjährung im
Revisionsverfahren zu Recht nicht mehr releviert worden sei, vgl auch RIS-Justiz RS0034809.
der Unterbrechung ähnlicher Stillstand des Verfahrens ein. 2605 Die Bezifferung des Leis-
tungsbegehrens durch die klagende Partei ist eine formelle Voraussetzung für die Weiter-
führung des Verfahrens§§ 169, 232, 391 Abs l ZPO. Auch die beklagte Partei kann sich
gegen eine Saumsal der klagenden Partei bei der Bezifferung des Leistungsbegehrens zur
Wehr setzen und ihrerseits die Fortsetzung des Verfahrens über das unbestimmte Leis-
tungsbegehren beantragen, wenn sie behauptet, ihrer Rechnungslegungspflicht aus dem
vorausgegangenen Teilurteil entsprochen zu haben. Verweigert die klagende Partei wei-
terhin die Bezifferung ihres Leistungsbegehrens, muss dieses wegen Unbestimmtheit ab-
.
gewiesen wer d en. 2606
16.22 Erweist sich dagegen ein Manifestationsbegehren als unbegründet, müssen nicht nur
dieses, sondern auch das daraus abgeleitete Zahlungs- bzw Herausgabebegehren in Einern
abgewiesen werden. 2607 Ansonsten kann vorerst mit Teilurteil über das Offenlegungsbe-
gehren entschieden werden. Das Rechtsmittelinteresse bei Anfechtung eines solchen Teil-
urteils setzt sich aus jenem des Offenlegungs- und des Leistungsbegehrens zusammen, da
im Fall der Abweisung des Begehrens der Manifestationsklage auch der Leistungsan-
spruch abzuweisen ist. 2608 Auch beim Teilurteil im Verfahren über eine Stufenklage,
mit dem der Anspruch auf Auskunftserteilung und Bucheinsicht endgültig erledif wird,
ist grundsätzlich über die bis dahin entstandenen Prozesskosten zu entscheiden. 609
b) Unschlüssige Klagen
Unbestimmtheit, Undeutlichkeit oder Widersprüchlichkeit des Klagebegehrens sind 16.25
grundsätzlich Anlassfälle für die materielle richterliche Prozessleitung. Das Gericht hat
im Rahmen seiner materiellen Prozessleitung (§§ 180, 182 Abs 2 ZPO) darauf hinzu-
wirken, dass der Kläger seinem Begehren eine bestimmte Fassung gibt. Die Anleitungs-
ptlicht des Richters im Fall der Unschlüssigkeit einer Klage soll eine Überraschungsent-
scheidung zu Lasten des Klägers hintanhalten. Einer solchen Anleitung bedarf es aber
dann nicht, wenn sich schon der Beklagte in seinem Prozessvorbringen auf die Unschlüs-
sigkeit und mangelnde Nachvollziehbarkeit des Klagebegehrens berufen hat. 2612
Die Aufforderung zur Präzisierung genügt jedenfalls gegenüber einer anwaltlich vertre- 16.26
tenen Partei, und es müssen keine darüberhinausgehenden Anleitungen gegeben werden,
weil die Fassung des Klagebegehrens allein der Parteiendisposition des Klägers unter-
liegt. 2613
Gegenüber einer rechtsunkundigen, nicht durch einen Rechtsanwalt vertretenen Partei, 16.27
die eine Klage schriftlich überreicht hat, besteht eine besondere Anleitungs- und Beleh-
rungspflicht von Seiten des Gerichts. Dazu zählt auch die Obliegenheit des Richters, der
klagenden Partei bei der Bestimmung und Bezeichnung der beklagten Partei(en), bei der
allfälligen Ergänzung des Sachvorbringens, der Angabe der Beweismittel und bei der Fas-
614
sung des Klagebegehrens (auch in Bezug auf dessen ziffernmäßige Präzisierung)2 be-
hilflich zu sein, diese entsprechend aufzuklären und bei der nötigen Ergänzung der Kla-
geschrift in formeller und materieller Hinsicht an die Hand zu gehen; kommt die klagen-
de Partei den Verbesserungsaufträgen nach, so gilt die Klage als im Zeitpunkt des Ein-
tangens des nicht prozessordnungsgemäßen Schriftsatzes bei Gericht als eingebracht. 2615
Diese Anleitungsptlicht durch das Gericht geht jedoch nicht so weit, eine Partei auf Um-
stände oder rechtserhebliche Tatsachen hinzuweisen, die sich aus dem bisherigen Sach-
vorbringen nicht ergeben. Der Vortrag des Klägers bildet immer den Rahmen und das
Substrat, aus dem die Berechtigung seines Klagebegehrens abzuleiten ist und innerhalb
dessen eine Vervollständigung der Klagsbehauptungen nach richterlicher Anleitung er-
folgen kann. Andere als die von der klagenden Partei behaupteten Tatsachen und Sach-
verhalte können und dürfen vom Gericht nicht unterstellt werden. Es ist nicht Sache des
Gerichts nachzuforschen, ob die Klage auch noch auf andere Klagegründe als diejenigen
2616
gestützt werden könnte, die sich aus dem vorgebrachten Sachverhalt ergeben.
16.28 Eine Unbestimmtheit des Klagebegehrens ist allemal vom Erstrichter im Rahmen seiner
richterlichen Anleitungspflicht mit dem Kläger zu erörtern und ihm Gelegenheit zu ge-
ben, das Begehren zu präzisieren. Die Unterlassung einer Anregung zur Präzisierung des
Klagebegehrens beründet einen Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens oder des Be-
617
rufungsverfahrens. Bei sonstiger Mangelhaftif«keit des Verfahrens ist diese richterliche
Anleitung vom Richter auch zu protokollieren. 618 Voraussetzung des Berufungsgrunds
dieses Verfahrensmangels ist es, dass die Unvollständigkeit der Sachverhaltsgrundlage
aus einer Verfahrensverletzung des Gerichts resultiert. Wenn hingegen die Unvollstän-
digkeit des zur erschöpfenden Beurteilung des Streitfalls notwendigen Sachvorbringens
ausschließlich auf einen Fehler, wie etwa die nachlässige Prozessführung, der klagenden
Partei oder deren Unachtsamkeit zurückzuführen ist, begründet dies keinen Verfahrens-
mangel. Solche Parteifehler können trotz der beschränkten Neuerungserlaubnis im liech-
tensteinischen Berufungsverfahren in der Berufungsschrift nicht saniert werden. 2619
16.29 Weist das Erstgericht die Klage im Stadium der Gerichtshängigkeit dennoch mit Be-
schluss wegen fehlender Bestimmtheit des Klagebegehrens a limine zurück und hebt
das OG diese Entscheidung infolge Rekurses des Klägers auf, dann ist dem Beklagten
diese Entscheidung zuzustellen und ist er zum Revisionsrekurs an den OGH legiti-
miert.2620 Es begründet keine Nichtigkeit, dass der Beklagte im Rekursverfahren noch
2621
nicht beteiligt war.
16.30 Bevor ein Versäumnisurteil gefällt wird, ist zu prüfen, ob die Klage schlüssig sei. Dabei
muss der Klageanspruch durch das für wahr zu haltende Vorbringen in seiner Gesamt-
heit und nach seinem inneren Zusammenhang, soweit es sich auf das Tatsächliche be-
zieht, begründet sein. 2622
c) Verfristete Klagen
16.31 Das Gericht hat amtswegig zu prüfen, ob die Frist für die Einbringung einer Klage ein-
gehalten wurde. Unterschiedlich zu behandeln ist dabei die Prozesserledigung im Fall der
Versäumung der Frist zur Klagserhebung. Wurde eine prozessrechtliche Frist versäumt,
so ist die Klage mit Beschluss zurückzuweisen (§ 425 ZPO). Wurde hingegen eine mate-
riell-rechtliche Frist versäumt, so ist die Klage mit Urteil abzuweisen (§ 390 ZPO). Die
Zurückweisung einer Klage wegen Versäumung einer materiell-rechtlichen Frist würde
eine Nichtigkeit begründen, weil der Gegenpartei durch diese ungesetzliche Erledigungs-
form die Möglichkeit genommen würde, im Rechtsmittelverfahren kontradiktorisch zu
verhandeln (§ 446 Abs l Z 4 ZP0). 2623
16.32 Die Frist für Klagen auf Anfechtung von Gesellschaftsbeschlüssen (Art 179 Abs l
PGR) ist bspw eine Verwirkungsfrist und damit materiell-rechtlicher Natur. Sie ist da-
2617 OGH 04 C 461/94 LES 1998, 235; 04 C 201/98-23 LES 2000, 22; 10 CG.2005.389 LES 2007,
314.
2618 OGH 03 CG.2006.91 LES 2008, 81.
2619 OGH 04 CG.2004.252 LES 2007, 302.
2620 OGH 10 CG.2005.389 LES 2007, 314.
2621 OGH 09 CG.2005.304 LES 2007, 201.
2622 OGH 06 CG.2006.299 LES 2010, 189.
2623 OGH 04 C 12/82-13 LES 1982, 42.
mit zwar nach den §§ 902, 903 ABGB zu berechnen. Der OGH bekannte sich jedoch
dazu, die Tage des Postenlaufs in analoger Anwendung der Bestimmungen des § 126
Abs 3 ZPO bei der Fristenberechnung nicht einzubeziehen. Auch zur Wahrung einer
materiell-rechtlichen Frist genügt es daher - anders als in Österreich -, wenn die
Klage am letzten Tag der Frist zur Post gegeben wurde. Eine unterschiedliche Be-
handlung prozessualer und materiell-rechtlicher Fristen in Bezug auf die Einrechnung
oder Nichteinrechnung des Postenlaufs würde zu rechtlich und sachlich nicht begrün-
deten Unsicherheiten für die rechtsuchende Bevölkerung führen und wurde daher vom
2624
Höchstgericht abgelehnt.
Mit der ZVN 2018 wurde klargestellt, dass mangelhafte Klagen einer Verbesserung zu- 16.33
2625
gänglich sind(§ 84 Abs 2 und 3 ZPO). Sind Klagen fristgebunden, ist die Festsetzung
einer Verbesserungsfrist zwingend; bei nicht fristgebundenen verfahrenseinleitenden
Schriftsätzen ist dies ratsam. Im Hinblick auf eine allfällige Verjährung kommt es auf
den Zeitpunkt des Einlangens der nicht prozessordnungsgemäßen Klage an. 2626
B. Klagearten
1. Allgemein
Wie im österr Zivilprozessrecht wird in Liechtenstein zwischen Leistungs-, Feststel- 16.34
lungs-, Unterlassungs- und Rechtsgestaltungsklagen unterschieden.
Bei der Prüfung von Klagebegehren, insb hinsichtlich der Klagearten, haben liechtenstei- 16.35
nische Gerichte nicht am starren Wortlaut eines Klagebegehrens festzuhalten, wenn es
um die Frage geht, ob eine Partei eine Leistungs-, Rechtsgestaltungs- oder Feststellungs-
klage eingebracht hat. Maßgeblich für die Zuordnung der Klage ist vielmehr das ange-
strebte Rechtsschutzziel dem Sinne nach, wobei für die Auffindung dieses Ziels nicht
nur der Wortlaut des Begehrens, sondern auch der Sinnzusammenhang mit dem Sach-
vorbringen heranzuziehen ist. Wird sonach ein Klagebegehren durch einen falschen
Wortgebrauch unzutreffend als Leistungsbegehren dargestellt, vom Gericht in richtiger
Interpretation seines Sinnzusammenhangs mit dem Sachvorbringen aber als ein Feststel-
lungsbegehren behandelt, so verstößt die amtswegige Umstellung des Begehrens nicht
gegen die Bestimmung des § 405 ZPO, wonach das Gericht nicht befugt ist, einer Partei
etwas zuzusprechen, was nicht beantragt worden ist. Vielmehr darf das Gericht dem
Sachantrag im Urteilsspruch durchaus eine klarere und deutlichere Fassung geben, selbst
wenn es damit vom Wortlaut des Begehrens abweicht.
Dies ist umso mehr zulässig, wenn das Gericht aufgrund eines Leistungsbegehrens ein 16.36
Feststellungsurteil fällt, denn ein solches ist in Bezug auf einen Leistungsanspruch keines-
falls ein „Aliud", sondern stets ein „Minus", dem die Bestimmungen des § 405 ZPO kei-
nesfalls im Weg stehen. 2627
16.38 Unterlassungsklagen sind darauf gerichtet, dass der Beklagte bestimmte Handlungen
zu unterlassen hat, zß die unbefugte Benutzung und Namensanmaßung einer Internet-
Domain. 2630 Gerade bei Unterlassungsklagen materialisiert sich in der Praxis das Risiko
nicht exequierbarer Klagebegehren. Die Bewilligung der Exekution nach Art 258 EO
setzt zB die genaue Bezeichnung der zu unterlassenden Handlung im Titel voraus.
Um Umgehungen durch die verpflichtete Partei nicht allzu leicht zu machen, ist eine
gewisse allgemeine Fassung des Unterlassungsgebots iVm konkreten Einzelverboten zu-
lässig. Die zu unterlassende Handlung muss aber in ihrem Kern bestimmbar und kon-
kretisiert sein. Die Wiedergabe eines bloßen Gesetzeswortlauts in einem Unterlassungs-
begehren entspricht nicht den Bestimmtheitserfordernissen und kann ein solcher Titel
nicht vollstreckt werden. Es genügt also bspw nicht, in einem Exekutionstitel ganz all-
gemein die die Persönlichkeit einer Partei verletzenden Behauptungen unter Verbot
zu stellen, da ein allgemeines Persönlichkeitsrecht seinem Inhalt nach nicht abschlie-
ßend festgelegt werden kann. Ein solcher Titel kann nicht vollstreckt werden. 2631 Dies
gilt auch für das Verbot einer „Belästigung", das ein Unterlassungsbegehren enthält,
weil es nicht vollstreckt werden kann: Entsprechend dem vollstreckungsrechtlichen Be-
stimmtheitsgebot muss die verpflichtete Partei aus dem Exekutionstitel ua erkennen
können, was ihr verboten ist und wodurch sie dem Verbot zuwiderhandeln würde.
Hierbei kommt es auf den allgemeinen Wortsinn des Titels und nicht darauf an, was
das Gericht oder die Parteien gemeint haben. Bleiben Unklarheiten, ist der Exekutions-
antrag abzuweisen. Ein Exekutionstitel, der ein nicht entsprechend individualisiertes
Unterlassungsgebot oder eben das Verbot einer „Belästigung" enthält, ist einer Voll-
streckung nicht zugänglich. 2632
3. Feststellungsklagen
a) Allgemein
Mit der Feststellungsklage wird die gerichtliche Feststellung eines Rechts oder Rechts- 16.39
verhältnisses begehrt. Die Zulässigkeit der Feststellungsklage beruht auf den Grundsät-
zen des Rechtsschutzbedürfnisses und der Prozessökonomie. Ihr daraus resultierender
Zweck besteht darin, die Rechtslage zwischen den Parteien klarzustellen, vorbeugend
den Rechtsschutz zu gewähren, Rechtsverletzungen zu vermeiden und damit die Basis
für die weiteren Rechtsbeziehungen der Streitteile zu bilden. 2633 Neben den allgemeinen
Prozessvoraussetzungen müssen nach § 234 Abs 1 ZP0 2634 zwei besondere Vorausset-
zungen gegeben sein: a) die Feststellungsfähigkeit des Rechtsverhältnisses und b) das
rechtliche Interesse des Klägers an der alsbaldigen Feststellung. 2635 Feststellungsfähig
ist nur das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses, das ist das juristische
Band, das Personen untereinander oder Personen und Objekte miteinander verbindet. Es
muss sich um ein gegenwärtiges Rechtsverhältnis des Privatrechts oder des Zivilverfah-
rensrechts handeln. 2636
Das rechtliche Interesse an der alsbaldigen Feststellung ist dann gegeben, wenn ein ak- 16.40
tueller Anlass zur präventiven Klärung des strittigen Rechtsverhältnisses besteht. Nach
der Judikatur muss das Feststellungsurteil für den Kläger von „rechtlich-praktischer Be-
deutung" sein. Das Feststellungsinteresse, das in jeder Lage des Verfahrens auch von
Amts wegen zu prüfen und zu beachten ist, muss spätestens zu dem Zeitpunkt vorliegen,
zu dem die mündliche Verhandlung über die Klage geschlossen wird.
IdR ist eine Feststellungsklage dann unzulässig, wenn der Kläger seinen Anspruch bereits 16.41
zur Gänze mit Leistungsklage geltend machen kann; die Möglichkeit der Leistungsklage
verdrängt somit bei gleichem Rechtsschutzeffekt die Feststellungsklage. Die Feststellungs-
klage ist deshalb nur subsidiär zulässig, wenn keine anderen oder nur wesentlich unöko-
nomischere Mittel zur Rechtsverfolgung zur Verfügung stehen. 2637 Auch im liechtenstei-
nischen Prozessrecht gilt wie in Österreich, dass eine Feststellungsklage dann nicht zu-
lässig ist, wenn die Einbringung einer Leistungsklage möglich wäre (Subsidiarität der
Feststellungsklage). 2638 Dies gilt aber nur in jenen Fällen, in denen durch den Leistungs-
anspruch auch der Feststellungsanspruch zur Gänze ausgeschöpft wird bzw wenn weitere
als die durch das Leistungsbegehren umfassten Rechtsfolgen aus der Feststellung des
fraglichen Rechtsverhältnisses nicht in Betracht kommen oder nach menschlichem Er-
messen auszuschließen sind.
16.42 Nach der Rsp wird die Zulässigkeit der Feststellung der Ersatzpflicht für künftige Schä-
den aus einem schädigenden Ereignis bejaht. Auch die bloße Möglichkeit künftiger Schä-
den rechtfertigt die Erhebung einer Feststellungsklage, die nicht nur dem Ausschluss der
Verjährung, sondern auch der Vermeidung späterer Beweisschwierigkeiten und der Klar-
stellung der Haftungsfrage dem Grunde und dem Umfang nach dient. Eine Feststellungs-
klage ist selbst dann gerechtfertigt, wenn noch kein feststellbarer Schaden eingetreten
ist. 2639 Dies wurde bspw bei einem eingeklagten Bauschaden (Senkung eines von der
beklagten Partei als Generalunternehmer errichteten Gebäudes) bejaht. 2640 Das Feststel-
lungsinteresse ist auch dann zu bejahen, wenn das Feststellungsbegehren geeignet ist, ein
für alle Mal Klarheit für die Rechtsbeziehungen zwischen den Streitteilen zu schaffen,
zB betreffend die Klarstellung des zwischen den Streitteilen zustande gekommenen Ver-
tragsbands und die daraus resultierende schadenersatzrechtliche Haftung der beklagten
Partei;2641 oder bei einer Eigentumsfeststellungsklage, bei der die Feststellung des Eigen-
tumsrechts an einer Sache deshalb zulässig ist, weil mit der Stattgebung einer auf Heraus-
gabe einer Sache gerichteten Eigentumsklage (Leistungsklage) über das Eigentumsrecht
selbst gar nicht abgesprochen wird. 2642 Dies gilt auch für die bestrittene Fortdauer eines
Dauerschuldverhältnisses 2643 oder die Geltendmachung der Nichtigkeit eines Rechts-
geschäfts, zB wegen Geschäftsunfähigkeit eines Vertragspartners auf Grundlage von
Art 16, I 7 PGR. In diesen Fällen wird das Feststellungsinteresse inter partes und allein
dadurch begründet, dass der an einer rechtlichen Beziehung Beteiligte, die er mit einem
Geschäftsunfähigen eingegangen ist, die Nichtigkeit der Rechtsbeziehung behauptet; ein
darüber hinausgehendes rechtliches Interesse ist weder zu behaupten noch unter Beweis
zu stellen. 2644
16.43 Feststellungsklagen und Feststellungsurteile sind insb in Ansehung der Feststellung des
Nichtbestehens von Markenrechten zulässig. Bei solchen ist das im§ 234 ZPO geforderte
besondere Rechtsschutzinteresse „an der alsbaldigen Feststellung des Bestandes oder
Nichtbestandes des in Betracht kommenden Rechtes" regelmäßig schon dann gegeben,
wenn ohne die angestrebte rechtliche Klärung nach der Lebenserfahrung mit der Mög-
lichkeit eines Schadenseintritts zu Lasten des Klägers zu rechnen ist, wobei insb auch auf
die Möglichkeit einer Marktverwirrung Bedacht zu nehmen ist. 2645 Entgegen der frühe-
ren Rechtsprechungslinie sind dagegen nunmehr die in der obligatorischen betriebli-
chen Personalvorsorge für den Fall der Invalidität von Gesetzes wegen versicherten Leis-
2646
tungen auch für die Zukunft mit Leistungsklage geltend zu machen; für eine Feststel-
2647
lungsklage fehlt es dem Versicherten am erforderlichen Feststellungsinteresse.
Schließlich sind Feststellungsklagen auch im Stiftungs- und Gesellschaftsrecht üb- 16.44
lich. 2648 Die Rsp zur Frage, ob und inwieweit Destinatärsansprüche bzw -rechte klagbar
und va feststellungsfähig sind, ist indes uneinheitlich. Hatte sich bspw - nach altem
Stiftungsrecht 2649 - ein Stifter Änderungs- oder Widerrufsrechte vorbehalten, so konnte
nach einer Entscheidung des OGH die Klärung des Übergangs dieser vorbehaltenen
Rechte an eine andere Person Gegenstand einer Feststellungsklage iS des § 234 ZPO sein.
Denn die grundsätzliche Klärung der Frage, ob eine bestimmte Person nach dem Willen
des Stifters in die von ihm gern Art 559 Abs 4 PGR vorbehaltenen Stifterrechte nachge-
folgt ist oder nicht, hätte über den konkreten Rechtsstreit hinaus Bedeutung und erspare
der Stiftung sowie den Stiftungsbeteiligten ein Wiederaufrollen der Nachfolgefrage in
weiteren Rechtsstreiti_gkeiten. Damit aber sei die prozessuale Zulässigkeit der Feststel-
lungsklage gegeben. 26 ~0
Gern einer OGH-Entscheidung aus dem Jahr 2003 könne aber dagegen wiederum die 16.45
bloß faktische Beziehung zwischen Personen, wie es das Verhältnis zwischen einem zu-
künftigen bzw potenziellen Begünstigungsempfänger (ohne klagbare Ansprüche) und der
Stiftung darstellt, die die Stiftung zu keiner bestimmten Leistung verpflichtet, kein
Schuldverhältnis begründet und dem Begünstigungsempfänger auch keinen inhaltlich
(ziffernmäßig) konkretisierten Rechtsanspruch verschafft, nicht Gegenstand eines Fest-
stellungsbegehrens sein, weil es sich dabei nicht um ein Recht oder Schuldverhältnis,
sondern eben nur um eine Vorfrage für deren Bestand handle. Auch die rechtlichen
Eigenschaften von Tatsachen sind nicht feststellungsfähig. 2651
Ob das Rechtsverhältnis zwischen einer Stiftung und ihren Begünstigten wirklich ein 16.46
2652
bloß faktisches ist, wird indessen in der Lit bezweifelt. Nach einer anderen und jünge-
ren OGH-Entscheidung können demgegenüber nach den Statuten in Betracht kommen-
de Destinatäre im streitigen Weg auf Feststellung ihrer Zugehörigkeit zum Destinatärs-
kreis klagen. Selbstverständlich muss auch der Stiftung zur endgültigen Klarstellung der
rechtlichen Situation zur Abwehr von ihrer Ansicht nach unberechtigten Ansprüchen
und Rechtsberühmungen Dritter, die eine Begünstigtenstellung behaupten, eine Klage-
möglichkeit zugebilligt werden. 2653 In solchen Fällen wird die Stiftung gegen die Begüns-
tigten eine negative Feststellungsklage einbringen können. 2654 Auf Basis dieser Entschei-
dung des OGH aus dem Jahr 2004 wird das im vorherigen Absatz erwähnte Judikat LES
2004, 67 in der Lit als „überholt" bezeichnet. 2655
16.47 Das festzustellende Recht oder Rechtsverhältnis muss nicht notwendig ein solches aus-
schließlich zwischen den Parteien des Rechtsstreits sein, sondern können auch Rechtsver-
hältnisse zwischen einer Partei und einem Dritten festgestellt werden. Aus dem Umstand,
dass sich die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung von Ausnahmefällen abgesehen
nicht auf einen Dritten erstreckt, wird aber üblicherweise das fehlen eines Feststellungsin-
teresses abgeleitet. Ein Ausnahmefall liegt aber vor, wenn sich der Dritte zB als Nebeninter-
venient am Verfahren beteiligt und ihm volles rechtliches Gehör zusteht. 2656 In einer 2014
ergangenen Entscheidung des öOGH wurde einer von einem aktuellen Begünstigten erho-
benen Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit einer Stiftungszusatzurkunde wegen
Geschäftsunfähigkeit des Stifters stattgegeben und das dahingehende Feststellungsinter-
esse bejaht. 2657 In casu hielt der öOGH fest, dass zwischen jedem aktuellen Begünstigten und
der Privatstiftung ein Rechtsverhältnis bestehe, das die Beziehungen zueinander regelt. Das
rechtliche Interesse des Klägers wurde insb deshalb bejaht, da Gegenstand des Rechtsstreits
die Rechtsgrundlagen der beklagten Privatstiftung (in Form der Stiftungszusatzurkunde)
waren, zu der der Kläger als aktuell Begünstigter selbst in einem Rechtsverhältnis steht.
Primäres Ziel des gestellten Feststellungsbegehrens sei nicht etwa die Beseitigung eines An-
spruchs der „neuen" Begünstigten, sondern es gehe vorrangig um die Frage, ob die Stif-
tungszusatzurkunde absolut nichtig sei oder nicht. Damit stünden nicht wirtschaftliche Be-
lange des Klägers im Vordergrund. Dass neben dem rechtlichen auch ein wirtschaftliches
Interesse des Klägers (an der Verhinderung zusätzlicher Zuwendungen an „neue" Begüns-
tigte) bestehen mag, sei nicht erheblich, weil nur ein rein wirtschaftliches Interesse den Er-
folg einer Feststellungsklage verhindert. Unter Bezugnahme auf bereits ergangene höchst-
gerichtliche Rsp betonte der öOGH auch nochmals das besondere, sich bei der Privatstif-
tung aus dem Fehlen von Eigentümern ergebende Kontrolldefizit. Dem sei durch rechts-
schutzfreundliche Auslegung jener Bestimmungen zu begegnen, die einzelnen Personen die
Legitimation zur Stellung von Anträgen an das Gericht einräumen. Auch § 228 öZPO (in
Liechtenstein:§ 234 ZPO) sei daher rechtsschutzfreundlich auszulegen. Letztlich betonte
der öOGH aber auch, dass die Tauglichkeit der Feststellungsklage aber dann zu verneinen
sei, wenn die Rechtskraftwirkung des Feststellungsurteils die Beseitigung der Unsicher-
heit über das Rechtsverhältnis nicht garantieren kann, aber auch dann, wenn dem Kläger
ein einfacherer Weg zur Verfügung steht, um dasselbe Ziel zu erreichen. 2658
16.48 Diese Wertungen sind für das liechtensteinische Prozessrecht in Bezug auf Streitigkeiten
zwischen Stiftungen und (potenziellen) Begünstigten bedenkenlos zu übernehmen. Auch
wenn es sich nur um Ermessensbegünstigte oder sogar Anwartschaftsberechtigte 2659
2655 Bösch, LJZ 2012,104; vgl auch Gasser, Stiftungsrecht2 Art 552 § 5 Rz 39.
2656 OGH 09 CG.2000.137 LES 2003, 233.
2657 öOGH 19. 11. 2014, 3 Ob 120/14i.
2658 öOGH 19. 11. 2014, 3 Ob 120/14i.
2659 Vgl aber die jüngere Rsp des Staatsgerichtshofs StGH 2016/92; StGH 2016/93 PSR 2019/11;
StGH 2018/20 und 2018/21 PSR 2019/10, mit welcher Anwartschaftsberechtigten von Stiftun-
gen die Parteistellung in gerichtlichen Aufsichtsverfahren (Art 552 § 29 iVm § 35 PGR) aber-
kannt wird, dies im Unterschied zu Begünstigten, denen Parteistellung unstrittig zukomme.
handelt, wird man ihnen grundsätzlich nicht ein rechtliches Interesse an der Feststel-
lung in einem Zivilverfahren absprechen dürfen. Wird zwar nicht die Begünstigtenei-
genschaft per se, aber Art und Umfang der Begünstigung bestritten, so wird auch hier
im Zweifel ein rechtliches Interesse anzunehmen sein, denn der streitige Zivilprozess,
der mit der durchgehend zwingenden Unmittelbarkeit (Durchführung von mündlichen
Verhandlungen und Einvernahme von Zeugen und Parteien) bessere Verfahrensgaran-
tien gewährt und damit grundsätzlich noch höhere Ansprüche auf die Wahrheitserfor-
schung erheben kann, scheint zur Klärung strittiger Fragen viel besser geeignet als das
Außerstreitverfahren, in dem diese Verfahrensgarantien weniger stark ausgeprägt
2660
sind.
Fraglich ist, ob eine fehlerhafte Stiftung mit einer Feststellungs-, oder aber mit einer 16.49
Rechtsgestaltungsklage angefochten wird. Auch der OGH in Liechtenstein hatte sich
mit dieser Frage iZm der Klage eines Testamentsvollstreckers über den Nachlass eines
Stifters einer liechtensteinischen Stiftung zu befassen, der zum Zeitpunkt der Stiftungs-
errichtung geschäftsunfähig gewesen war. Zunächst hielt das Höchstgericht zwar fest,
dass es für ein Feststellungsinteresse ausreiche, wenn ein geschäftsunfähiger Stifter
(oder seine Vertreter oder Rechtsnachfolger) die Nichtigkeit der von ihm gegründeten
liechtensteinischen Stiftung gerichtlich feststellen lassen wolle; dies gelte auch für die
Feststellung der Nichtigkeit eines Auftrags an Treuhänder für eine Treuhandgründung
dieser Stiftung. 2661 Jedoch sei eine solche Stiftung, so der OGH weiter, nur vernichtbar
und nicht ex lege nichtig, und sie sei im Interesse und zum Schutz gutgläubiger Drit-
ter, die in der Zwischenzeit Rechte gegen die Stiftung erworben hätten, nach der Nich-
tigerklärung durch das Gericht in Liquidation zu setzen. Auch wenn es der OGH
letzten Endes offen ließ, ist wohl davon auszugehen, dass in solchen Fällen richtiger-
weise nicht mit Feststellungsklage, sondern mit Rechtsgestaltungsklage vorzugehen
ist.2662
Bei der Beurteilung der Zulässigkeit einer Feststellungsklage ist auch darauf Bedacht zu 16.50
nehmen, dass eine klagende Partei nicht gezwungen werden kann, ein prozessuales
Ziel anzustreben, welches sie gar nicht im Auge hat. 2663
Im Gegensatz zu einer Leistungsklage nach § 232 ZPO ist eine Feststellungsklage nach 16.51
§ 234 ZPO nicht vollstreckbar, weshalb eine Feststellungsklage „mangels Rechtsschut-
zinteresses" nicht mit der Begründung zurückgewiesen werden darf, dass eine nachfol-
gende Zwangsvollstreckung in einem ausländischen Staat stattzufinden hätte, mit dem in
Exekutionssachen im Verhältnis zum Fürstentum Liechtenstein keine Gegenseitigkeit ge-
währleistet wäre. Gegenüber einer Leistungsklage nach § 232 ZPO ist ein Feststellungs-
urteil ein „Minus" iS des § 405 ZPO. Hingegen wäre nach einer Feststellungsklage gern
2660 Gasser, Stiftungsrecht' Art 552 § 5 Rz 17 mit Verweis aufOGH Hp 28/91-17 LES 1993, 99; Hp
26/95-40.
2661 OGH 08 CG.2009.407 GE 2017, 164 = LJZ 2016, 86/1 Erw 10.9.3., bestätigt durch StGH 2016/
124.
2662 OGH 08 CG.2009.407 GE 2017, 164 = LJZ 2016, 86/1 Erw 10.9.2. und 10.9.4. ff, bestätigt
durch StGH 2016/124.
2663 OGH 09 CG.2000.137 LES 2003, 233.
§ 234 ZPO ein Leistungsurteil ein „Aliud" und gern § 405 ZPO nichtig, weil der klagen-
den Partei etwas zugesprochen wurde, was sie in der Klage nicht beantragt hatte. 2664
4. Rechtsgestaltungsklagen
16.53 Rechtsgestaltungsklagen sind auf die Begründung, Änderung oder Aufhebung eines
Rechtsverhältnisses gerichtet. Da sie auf eine unmittelbare Änderung der Rechtslage
durch das Urteil abzielen, ist ihre Vollstreckung ausgeschlossen. Man unterscheidet ua
zwischen Rechtsgestaltungsklagen des materiellen und des Verfahrensrechts. Zu letzteren
zählen nach der Rsp des OGH zB Aufhebungsklagen gegen Schiedsurteile. 2668 Eine ma-
teriell-rechtliche Rechtsgestaltungsklage wäre zB die Aufhebung von Stiftungsratsbe-
schlüssen und Beistatuten wegen Irrtumsanfechtung (§ 871 ABGB). 2669 Der OGH hat
zudem die Aufnahme als Mitglied in einen Verein, nämlich das Klagebegehren des
Inhalts, der Kläger, ein liechtensteinischer Sportverein, werde als Mitglied eines bestimm-
ten liechtensteinischen Sportverbands mit allen Rechten und Pflichten aufgenommen,
richtigerweise als Rechtsgestaltungsbegehren und nicht - wie von der beklagten Partei
eingewandt - als Leistungsbegehren qualifiziert. 2670 Schließlich sind auch Vernichtbar-
keitsklagen nach Art 125 PGR oder Aufhebungsklagen nach Art 124 PGR Rechtsgestal-
tungsklagen. 2671 Werden fehlerhafte Stiftungen wegen Geschäftsunfähigkeit des Stifters
nach § 877 ABGB von dessen Erben angefochten, wird dies wohl ebenfalls mit Rechtsge-
staltungs- und gegebenenfalls mit Leistungsklage geltend zu machen sein. 2672
Die Umstellung des Klagebe_gehrens von Zahlung an Kläger auf Hinterlegung ist ebenso 16.56
wenig eine Klagsänderung 26 ' 8 wie eine Änderung von einem Leistungs- oder Rechtsgestal-
26
tungsbegehren in ein Feststellungsbegehren. ' 9 Auch die nachträgliche Erhebung eines
Eventualbegehrens aus demselben Tatbestand (Klagsgrund) ist keine Klagsänderung; 2680
auch nicht, wenn zugleich die bisher begehrten Rechtshandlungen nunmehr im Einzelnen
2681
aufgezählt werden. Wohl liegt aber eine Klagsänderung dann vor, wenn zur Be~ründung
2
des Eventualbegehrens neue rechtserzeugende Tatsachen vorgebracht werden?"
16.57 Ein Beispiel für eine unzulässige Klagsänderung sei hier aus dem in der liechtensteini-
schen Gerichtspraxis so wichtigen Stiftungsrecht angeführt: Der in der Klage von der
Klägerin zunächst geltend gemachte Rechtsgrund (§ 232 Abs l ZPO) war die mangel-
hafte Beratung durch die auf Schadenersatz verklagte Treuhandgesellschaft, die für sie
eine Stiftung errichtet hatte. Sie machte geltend, dass sie nicht darüber aufgeklärt wor-
den sei, dass es im Fall ihres Todes ihrem überlebenden Ehemann aufgrund der ver-
einbarten Begünstigungsregelungen rechtlich möglich sein würde, die Anstalt bzw Stif-
tung zu liquidieren und die Vermögenswerte zu eigenen Zwecken abzudisponieren. In
der Berufung machte die Klägerin dann neu den Verstoß gegen ein angeblich verein-
bartes Zahlungsverbot geltend. Dies qualifizierte der OGH als unzulässige Klagsände-
rung.2683
Neben den Klarstellungen in§ 243 Abs 4 ZPO, was ausdrücklich nicht als Klagsänderung 16.60
anzusehen ist, stellt nunmehr Abs 5 (neu) auch klar, dass es weder eine Änderung der
Klage noch eine Änderung der Partei ist, wenn die Parteibezeichnung auf diejenige Per-
son richtiggestellt wird, von der oder gegen die nach dem Inhalt der Klage in einer jeden
Zweifel ausschließenden Weise, etwa durch die Anführung der Bezeichnung ihres Unter-
nehmens, das Klagebegehren erhoben worden ist. Eine solche Berichtigung ist in jeder
Lage des Verfahrens auf Antrag oder von Amts wegen vorzunehmen, gegebenenfalls
durch die Anwendung der§§ 84 und 85 ZP0. 2690
Wenngleich die Voraussetzungen des § 243 ZPO vorliegen, ist eine Klagsänderung im 16.61
Oppositionsstreit aber nur bei Beachtung der Eventualmaxime (Art 18 Abs 3 EO) zu-
.. · 2691
1ass1g.
2. Klagseinschränkung
Die Klagseinschränkung ist keine Klagsänderung2692 , aber als partielle Klagsrücknahme 16.62
deren Regeln zu unterwerfen. Sie ist daher nach der ersten Tagsatzung mangels ausdrück-
licher Zustimmung des Beklagten nur unter explizitem Verzicht auf den Anspruchsteil,
um den die Klage eingeschränkt wird, möglich. Eine nach der ersten Tagsatzung ohne
Zustimmung des Beklagten oder ohne Anspruchsverzicht vorgenommene Klagsein-
schränkung ist vom Gericht zurückzuweisen. 2693 Diese Rechtsmeinung orientiert sich
an der Schutzbedürftigkeit der beklagten Partei. 2694
Die Einschränkung des Klagebegehrens auf Kosten ist auch im Berufungsverfahren zu- 16.63
lässig. Die dagegen in der öLehre geäußerten Bedenken, die Zulassung der Klagsein-
schränkung auf Kosten im Berufungsverfahren scheitere am Neuerungsverbot, sind für
das liechtensteinische Prozessrecht gegenstandslos, da im liechtensteinischen Berufungs-
verfahren kein Neuerungsverbot gilt. Die Klagseinschränkung (auch auf Kosten) ist im
liechtensteinischen Berufungsverfahren gern § 454 Abs 3 ZPO keine verbotene Klagsän-
derung. Der OGH hat die Einschränkung der Klage im Berufungsverfahren daher auch
unter prozessökonomischen Gesichtspunkten als sinnvoll zugelassen. 2695
Kostenrechtlich ist der Kläger in der Prozessphase bis zur Klagseinschränkung, soweit 16.64
diese nicht als Reaktion auf Erfüllungshandlungen des Beklagten erfolgte, als unterlegen
anzusehen. Eine Kostenentscheidung ist erst in jener Entscheidung zu treffen, mit der die
Streitsache für die Instanz vollständig erledigt wird. 2696
3. Klagszurücknahme
Eine Klage kann ohne Zustimmung der beklagten Partei und ohne Verzicht auf den 16.65
Anspruch bis zum Beginn der ersten Tagsatzung, und wenn der Beklagte zu dieser
nicht erscheint, noch bei dieser zurückgenommen werden (§§ 245, 246 ZPO). Zweck
dieser Einschränkung des Klagszurücknahmerechts ist es, dass ein Beklagter nicht ge-
gen seinen Willen mehrmals nacheinander in Rechtsstreitigkeiten wegen desselben ma-
teriell-rechtlichen Anspruchs belangt werden soll, ohne eine endgültige Klärung des
Streitfalls in seinem Sinn herbeiführen zu können. Solange eine erste Tagsatzung oder
erste Streitverhandlung noch nicht stattgefunden hat, ist die Klagszurücknahme ohne
Zustimmung der beklagten Partei und ohne Verzicht auf den Anspruch auch dann
zulässi~, wenn bereits über Auftrag des Gerichts eine Klagebeantwortung überreicht
wurde. 697
16.66 Mit dem Antrag, die Zurücknahme der Klage als unwirksam zurückzuweisen, löst die
beklagte Partei einen prozessualen Zwischenstreit aus. Im Fall ihres Unterliegens hat
sie der klagenden Partei ungeachtet des Klagszurückzugs die betreffenden Verfahrens-
kosten zu ersetzen (§§ 52, 245 Abs 3 ZPO). 2698
16.67 Die Wirksamkeit der Klagszurücknahme tritt ipso iure mit der Erklärung der klagenden
Partei und, falls erforderlich, mit der Zustimmung des Beklagten ein. Hierbei ist nach der
Gerichtsübung aus Gründen der Rechtssicherheit ein deklarativer Beschluss zu fassen,
mit dem die Zurücknahme der Klage zur Kenntnis genommen und die Beendigung des
Rechtsstreits festgestellt wird. Dieser Beschluss ist anfechtbar und der Rechtskraft fähig.
Die dem § 245 Abs I ZPO widersprechende - weil ohne Zustimmung des Beklagten oder
ohne Anspruchsverzicht - erklärte Klagszurücknahme darf vom Gericht nicht zur Kennt-
nis genommen werden, sondern ist als rechtsunwirksam zurückzuweisen. Die Zustim-
mung des Beklagten zur Zurückziehung der Klage oder der Anspruchsverzicht des Klä-
gers müssen ausdrücklich erklärt werden. 2699
16.68 Als Arten der Klagszurücknahme wird zwischen jener mit und jener ohne Anspruchs-
verzicht unterschieden. Nur bei einer Klagszurücknahme ohne Anspruchsverzicht er-
schöpfen sich deren Rechtsfolgen in der Prozessbeendigung und im Ende der Streitan-
hängigkeit. Die Klagszurücknahme unter Anspruchsverzicht beendet hingegen nicht nur
das Verfahren über die zurückgenommene Klage und die Streitanhängigkeit, sondern
schließt jede neuerliche Geltendmachung desselben Anspruchs aus denselben rechtser-
zeugenden Tatsachen aus. Eine neuerliche Klage ist in diesem Fall ohne sachliche Prü-
fung als unzulässig zurückzuweisen. Die im Vorprozess erfolgte Klagszurücknahme unter
Anspruchsverzicht ist im Folgeprozess von Amts wegen selbst noch im Revisionsverfah-
ren wahrzunehmen. Die Entscheidung über ein vorher unter Anspruchsverzicht zurück-
2700
genommenes Klagebegehren begründet eine Nichtigkeit.
16.69 Die Klagszurücknahme hat zur Folge, dass der Kläger der beklagten Partei alle „verur-
sachten" Kosten zu ersetzen hat, sofern die Parteien nichts anderes vereinbaren (§ 245
Abs 3 ZPO) 2701 . 2702 Hierbei ist nicht zu prüfen, ob der Kläger mit seiner Klage Erfolg
gehabt hätte. 2703·2704 Nach § 245 Abs 3 ZPO hat die Zurücknahme der Klage zur Folge,
dass die Klage als nicht angebracht anzusehen ist und der Kläger dem Beklagten alle
Prozesskosten zu ersetzen hat, zu deren Tragung der Beklagte nicht bereits rechtskräftig
verpflichtet erkannt wurde.
Die liechtensteinische Regelung zur Klagszurücknahme wich zunächst von § 237 Abs 3 16.70
öZPO als ihrer Rezeptionsgrundlage in mehrfacher Weise ab. Über den Antrag auf Zuer-
kennung des Kostenersatzes entschied das Gericht bis zur ZVN 2018 nach vorhergehender
mündlicher Verhandlung durch Beschluss. Im Unterschied zu§ 237 Abs 3 öZPO stellte
§ 245 Abs 3 ZPO nach seinem Wortlaut für die vom Gericht zu treffende Kostenentschei-
dung nicht auf eine Vereinbarung bzw Einigung der Parteien ab, was freilich eine außer-
gerichtliche Regelung nicht ausschließt. Va aber und im Unterschied zu§ 237 Abs 3 öZPO
hatte das Gericht nach der Rsp der liechtensteinischen Gerichte über den Antrag auf Zu-
erkennung des Kostenersatzes (stets) nach vorheriger mündlicher Verhandlung durch Be-
schluss zu entscheiden (§ 245 Abs 3 letzter Satz aF). Der Kostenersatzanspruch setzte die
rechtzeitige Stellung eines diesbezüglichen Antrags voraus. Dem ersatzpflichtigen Kläger
war deshalb Gelegenheit zu geben, sich zum Kostenbestimmungsantrag des Beklagten zu
äußern. 2705 Die Unterlassung der nach den Bestimmungen der ZPO obligatorischen Ver-
handlung bewirkte die Nichtigkeit des Verfahrens und der Entscheidung gern § 446 Abs 1
Z 4 ZPO. Dieser Nichtigkeitsgrund war aufgrund seiner absoluten Wirkung im Rahmen
eines zulässigen Rechtsmittels von Amts wegen unabhängig davon aufzugreifen, ob er
zugunsten oder zuungunsten des Rechtsmittelwerbers wirkte bzw ob eine Partei tatsäch-
2706
lich in ihrem rechtlichen Gehör geschmälert wurde. Mit der ZVN 2018 wurde diese
obligatorische Verhandlung aufgehoben. Der Antrag auf Kostenersatz ist nunmehr bei
sonstigem Ausschluss, wenn die Klage bei der mündlichen Verhandlung zurückgenom-
men wird und der Beklagte anwesend ist, in dieser, sonst binnen einer Notfrist von vier
Wochen nach der Verständigung des Beklagten von der Zurücknahme der Klage durch
das Gericht zu stellen. Der Antrag auf Zuerkennung des Kostenersatzes ist dem Kläger zur
Äußerung binnen einer Notfrist von 14 Tagen zuzustellen. Über den Antr:~ auf Zuerken-
nung des Kostenersatzes entscheidet dann das Gericht durch Beschluss. 2 ' 0 '
Im Berufungsverfahren kann die Klage bis zum Schluss der mündlichen Berufungsver- 16.71
handlung oder, wenn diese gern § 449 ZPO nicht stattfindet, bis zur Entscheidung des
2703 OGH 08 CG.2007.302 LES 2009, 234; anders noch OGH 06 CG.75/2000-39 LES 2001, 221: Im
Falle einer auch nur teilweisen Klagsrücknahme hängt das Kostenschicksal davon ab, ob diese
eine Reaktion auf Erfüllungshandlungen der beklagten Partei darstellt bzw ob sie als Obsiegen
oder Unterliegen der klagenden Partei zu werten ist. Die klagende Partei ist auch dann als
unterlegen anzusehen, wenn sie die Klage aus irgendwelchen Gründen, und sei es auch in
irriger Einschätzung der Prozesssituation für aussichtslos oder nicht mehr zielführend erach-
tet und deshalb zurücknimmt.
2704 Anders verhält es sich mit den Kosten eines prozessualen Zwischenstreits (lnzidenzstreits).
Dessen Kosten kann die beklagte Partei nur ansprechen, wenn diese zur zweckentsprechen-
den Rechtsverteidigung notwendig waren, dh wenn ihre Anträge und allfällige Rechtsmillel
Erfolg hatten.
2705 OGH 02 CG.2008.319 GE 2010, 7.
2706 OGH 02 CG.2008.322 GE 2009, 203 = LES 2010, 36.
2707 § 245 Abs 3 ZPO idF LGBl 2018/207.
Berufungsgerichts (§ 416 Abs 2 ZPO) zurückgenommen werden, wenn der Beklagte zu-
stimmt oder wenn gleichzeitig auf den Anspruch verzichtet wird; im Umfang der Zu-
rücknahme der Klage wird dann das angefochtene Urteil wirkungslos; dies hat das Beru-
2708
fungsgericht mit Beschluss festzustellen.
D. Klagenhäufung
16.72 Wenn mehrere Personen als Kläger oder Beklagte auftreten, spricht man von subjektiver
Klagenhäufung. Eine objektive Klagenhäufung liegt dagegen vor, wenn derselbe Kläger
gegen denselben Beklagten mehrere verschiedene Ansprüche in einer Klage geltend
macht.
16.73 Eine Klage kann auch auf zwei oder mehrere Klagegründe gestützt werden (objektive
Klagenhäufung), die zwar einander ausschließen, aber jeweils den Urteilsantrag recht-
fertigen. Die Verurteilung der beklagten Partei wegen Bejahung des einen Anspruchs
bringt auch den anderen Klagegrund zum Erlöschen. Eine (unzulässige) objektive Kla-
genhäufun~ mit Geltendmachung eines Pauschalbetrags liegt in einem solchen Fall
nicht vor. 2 09
16.74 Die liechtensteinische Gerichtspraxis kennt mehrere Fälle unzulässiger und zulässiger
Klagenhäufung. Hier seien einige Beispiele genannt: Macht ein Geschädigter in seiner
Klage aus verschiedenen Schadensfällen eine Pauschalsumme geltend, die niedriger ist
als die von ihm im einzelnen behaupteten Forderungen, muss er diesen Pauschalbetrag
entsprechend aufgliedern, um den Bestimmtheitserfordernissen des § 232 ZPO gerecht
zu werden. Der Kläger kann während eines Rechtsstreits seinen Standpunkt dann nicht
willkürlich wechseln und Beträge, die er in Verfolgung eines bestimmten Anspruchsgel-
tend macht, für den Fall, dass sie ihm unter diesem Titel nicht oder nicht vollständig
zuerkannt werden sollten, hilfsweise aus einem anderen Titel fordern. Der Zulässigkeit
einer sog alternativen Klagenhäufung, bei der der Kläger mehrere Klagsansprüche vor-
bringt und es dem Gericht überlässt, über welche Ansprüche es verhandeln und entschei-
den will, steht va das Institut der Streitanhängigkeit entgegen, an die mehrere prozessuale
und materiell-rechtliche Wirkungen wie die der Unterbrechung der Verjährung(§ 1497
ABGB) sowie der Erschwerung einer Klagsänderung (§ 243 ZPO) geknüpft sind. Die
Streitanhängigkeit bewirkt ein von Amts wegen wahrzunehmendes Prozesshindernis
2710
für die neuerliche gerichtliche Geltendmachung desselben Anspruchs. Jeder Klä-
ger2711, der sein Honorar gerichtlich geltend macht, muss die anspruchserzeugenden Tat-
sachen genau wiedergeben. Der OGH qualifizierte ein eingeklagtes Pauschalhonorar,
dem dieses betragsmäßig bei weitem übersteigende, insgesamt einzeln bezifferte Leis-
tungspositionen zugrunde lagen, als unzulässige objektive Klagenhäufung. Auch wenn
ein Kläger ein niedrigeres Pauschalhonorar verlangt, muss dieser Betrag entsprechend
aufgegliedert werden, um dem Bestimmtheitserfordernis des § 232 Abs l ZPO zu genü-
2712 2713
gen. Es ist unzulässig, dessen Aufgliederung dem Gericht zu überlassen. · Werden
bspw mehrere Rechnungen aus Werkleistungen eingeklagt und stützt sich der Kläger
weder auf ein Kontokorrentverhältnis noch auf eine Pauschalpreisvereinbarung, dann
handelt es sich um eine Klagenhäufung einzelner, für sich selbstständiger Ansprüche.
In den Urteilsgründen ist in diesem Fall nachvollziehbar darzustellen, welcher dieser An-
2714
sprüche Gegenstand eines Zuspruchs oder einer Abweisung ist.
Ein Klagebegehren kann nicht wahlweise auf verschiedene Klagegründe und Beträge 16.75
gestützt werden. Es ist der klagenden Partei verwehrt, Beträge, die sie in Verfolgung eines
bestimmten Anspruchs geltend macht, für den Fall, dass sie ihr unter diesem Titel nicht
oder nicht vollständig zuerkannt werden, hilfsweise auch aus einem anderen Titel zu
fordern. Die klagende Partei muss vielmehr alle Ansprüche und Teilansprüche sowie
den sich daraus ergebenden rechnerischen Gesamtbetrag entsprechend präzisieren und
aufschlüsseln, widrigenfalls ihr Klagebegehren mangels Bestimmtheit und Nachvollzieh-
barkeit abzuweisen ist. 2715
Neuerdings kann das Gericht über mehrere in derselben Klage geltend gemachte An- 16.76
sprüche insoweit beschleunigt und prozessökonomisch entscheiden, als einzelne, im Ver-
hältnis zum Gesamtbetrag unbedeutende Ansprüche streitig sind und die vollständige
Aufklärung aller für sie maßgebenden Umstände mit Schwierigkeiten verbunden wäre,
die zur Bedeutung der streitigen Ansprüche in keinem Verhältnisse stehen. Dann kann
das Gericht wie nach § 273 Abs l ZPO vorgehen und entscheiden. Gleiches gilt für An-
sprüche, wenn der begehrte Betrag jeweils CHF 5.000,- nicht übersteigt. 2716
endgültige Zuständigkeit bis zum Schluss des Verfahrens in jeder Instanz gerügt und
2718
geprüft werden konnte.
16.79 Nunmehr bietet der kürzlich neu eingeführte§ 22a JN 2719 eine schnelle und sichere Ab-
hilfe. Die Rezeptionsvorlage dieser Entscheidung ist § 40a öJN. Parteien und Gerichte
können damit rasch und möglichst bereits zu Beginn des Verfahrens eine Zuständig-
keitsentscheidung herbeiführen, ob eine Angelegenheit in das streitige oder außerstrei-
tige Verfahren zu verweisen ist. Damit soll nach dem Willen des Gesetzgebers „eine
fälschliche Verfahrensauswahl auf unkomplizierte Art" korrigiert werden. 2720 Diese neue
Bestimmung findet in der Rechtspraxis bereits rege Anwendung. Gerade in Stiftungsauf-
sichtsverfahren, die in der Vergangenheit mit solchen Unzuständigkeitseinreden belastet
und verzögert wurden, wird sich diese zusätzliche Quelle von Rechtssicherheit bewähren
und die Stiftungsrechtspraxis und ganz allgemein den liechtensteinischen Zivilprozess
positiv beleben. Nicht überraschend erging daher eine der ersten Entscheidungen des
OGH zu § 22 a JN zum Stiftungsrecht. Das Höchstgericht stellte klar, dass für die Fest-
stellung der Nichtigkeit oder Aufhebung von nichtigen oder sittenwidrigen Stiftungsrats-
beschlüssen oder der gesetz- oder statutenwidrigen Änderung des Stiftungszwecks durch
2721
Stifter oder Organe stets das Außerstreitgericht zuständig sei.
2718 Gern§ 24 JN in jeder Lage des Verfahrens; LES 2016, 66; GE 2017, 92; Walch, LJZ 2012, 69;
Gasser, Stiftungsrecht' Art 552 § 29 Rz 20b.
2719 LGBI 2017/171.
2720 BuA 2016/163, 16; vgl Ungerank, LJZ 2017, 58ff.
2721 OGH 07 HG.2017.31 LES 2018, 267 unter Berufung auf Schumacher, ZVglRWiss 111 (2012)
366ff; OGH 02 CG.2007.145 LES 2010, 359; 10 HG.2009.247 LES 2011, 21.
2722 OGH I C 17/86-24 LES 1988, 30 (31).
2723 OGH I C 17/86-24 LES 1988, 30 (31).
2724 OGH I C 17/86-24 LES 1988, 30 (31).
aber stellt sich hinsichtlich des Kostenersatzes die Frage, ob sie noch zur zweckentsprech-
enden Rechtsverfolgung notwendig war. 2725 Dafür veranschlagten die Gerichte früher
üblicherweise mindestens fünf Arbeitstage 2726 , (knapp) zwei waren jedenfalls zu kurz. 2727
2728
Mit der ZVN 2018 findet sich nunmehr in § 257 Abs 7 ZPO eine neue Regelung,
wonach vorbereitende Schriftsätze spätestens eine Woche vor der nächsten zur Vornah-
me der mündlichen Streitverhandlung bestimmten Tagsatzung bei Gericht und beim
Gegner eintreffen müssen. Damit übernimmt die neue Regelung die Bestimmung in
§ 257 Abs 3 öZPO.
2729
Dabei handelt es sich um eine 7-Tage-Frist. 2730
In Ausnahmefällen können nach der Rsp des OGH zur alten Rechtslage auch an sich 16.82
unzulässige Schriftsätze entlohnt werden, wenn sie innerhalb eines nicht starren zeitli-
chen Rahmens so rechtzeitig eingebracht wurden, dass sie - abhängig von Inhalt und
Umfang des damit erstatteten Vorbringens sowie unter dem Gesichtspunkt der Vorbe-
reitung des weiteren Verfahrens - als notwendig und zweckmäßig zu qualifizieren sind.
Dabei war insb zu berücksichtigen, ob das Einbringen des Schriftsatzes durch das pro-
zessuale Verhalten der Gegenpartei bedingt war und das Vorbringen nicht ohne prozes-
suale Nachteile bei anderer Gelegenheit (in einem anderen Schriftsatz oder bei einer Tag-
satzung) erstattet hätte werden können. 2731 Trotz der nunmehr im Gesetz vorgeschriebe-
nen einwöchigen Frist wird wohl diese Ausnahmeregelung weiter Anwendung zu finden
haben, insb aus Zwecken der Prozessökonomie und mit Rücksicht auf den verfassungs-
rechtlichen Grundsatz des rechtlichen Gehörs.
Vorbereitende Schriftsätze auch der beklagten Partei können vor und nach der ersten 16.83
Tagsatzung eingebracht werden. Auch wenn eine sog Klagebeantwortung vom Gericht
aufgetragen wird, knüpfen sich an deren Ausbleiben eben keine gesetzlichen Säumnis-
oder Präklusionsfolgen. Gegen eine Partei, die die erste aufgrund einer Klage anberaum-
te Tagsatzung versäumt, kann auf Antrag der klagenden Partei ein Versäumungsurteil
gefällt werden, auch wenn die erste Tagsatzung zur Vornahme der Streitverhandlung
bestimmt war. Hierbei ist auf schriftliche Aufsätze (Klagebeantwortung), welche die aus-
gebliebene Partei überreicht hat, kein Bedacht zu nehmen. Eine Klagebeantwortung
.,liechtensteinischer Prägung" kann im Prozess schon aufgrund des Mündlichkeitsgrund-
satzes nur dann Berücksichtigung finden, wenn sie bei der mündlichen Verhandlung
2732
oder ersten Tagsatzung vorgetragen wurde.
In der Praxis schreibt das LG nach Erhalt der Klage, die als beklagte eine möglicherweise 16.84
kautionsptlichtige Partei 2733 ausweist, eine erste Tagsatzung aus, um ihr Gelegenheit zu
geben, einen Antrag auf Erlag einer aktorischen Kaution zu stellen. Erst nach deren
rechtzeitigem Erlag wird dann das Gericht der beklagten Partei die Erstattung einer Kla-
2734
gebeantwortung auftragen, muss dies aber nicht.
Übersicht
Rz
I.Norminhalt 17.l
II.Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.3
III.Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.8
IV. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.9
V. Prüfung und Umdeutung des Rechtsschutzantrags . . . . . . . . . . . . . . . 17.14
VI. Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.18
VII. Anfechtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.21
A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.21
B. Streitiges Ausgangsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.23
C. Außerstreitiges Ausgangsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.28
VIII. Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.32
IX. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.34
1. Norminhalt
Mit dem Gesetz v 4. Mai 2017 über die Abänderung der Jurisdiktionsnorm 2738 ist im 17.1
Fürstentum Liechtenstein im Rahmen des Gesetzespakets „Schiedsfähigkeit von Konsu-
mentensachen" ein neuer § 22a in die JN eingefügt worden. Diese neue Vorschrift
entspricht exakt dem § 40a öJN. 2739 Beide Bestimmungen ordnen gleichlautend an,
dass sich das Verfahren, in dem eine Rechtssache zu behandeln und zu erledigen ist,
nicht nach der Bezeichnung durch die Partei, sondern nach dem Inhalt des Begehrens
und des Vorbringens der Partei richtet. Ist zweifelhaft, welches Verfahren anzuwenden
ist, so hat das Gericht darüber zu entscheiden. Dieser Beschluss ist selbstständig an-
fechtbar.
Das zitierte Gesetz ist gleichzeitig mit einer Nov zur Zivilprozessordnung am 1. August 17.2
2017 in Liechtenstein in Kraft getreten. 2740 Mangels einer besonderen Übergangsregelung
ist§ 22a JN auch auf bereits anhängige Verfahren anzuwenden. 2741
II. Entstehung
17.3 Hintergrund der behandelten Neuregelung bildet das alte Problem der Abgrenzung
jener bürgerlichen Rechtssachen, die im streitigen Verfahren nach der ZPO zu erledi-
gen sind, von jenen Angelegenheiten, die in das außerstreitige Verfahren nach dem
AussStrG 2742 gehören. Da es keine klare und eindeutige gesetzliche Abgrenzungsrege-
lung zwischen diesen beiden zivilgerichtlichen Erkenntnisverfahren gibt, bereitet diese
2743
Grenzziehung seit langer Zeit erhebliche Schwierigkeiten. In Liechtenstein ist dieses
Problem zwar nicht so groß, weil es hier einerseits von vornherein deutlich weniger
2744
Rechtsstoff gibt und andererseits Art l Abs 2 AussStrG - anders als in Österreich -
eine (demonstrative) Aufzählung jener Materien enthält, die „jedenfalls" im Außer-
streitverfahren zu behandeln sind. Jedoch hat es auch in Liechtenstein in jüngerer Zeit
2745
Abgrenzungsprobleme insb im Bereich des Stiftungsrechts gegeben. Verschärft wur-
de die Problematik dadurch, dass nach § 24 Abs l und 4 JN (ebenso wie nach § 42
Abs l und 4 öJN) das angerufene Gericht „in jeder Lage des Verfahrens seine Unzu-
ständigkeit und die Nichtigkeit des vorangegangenen Verfahrens sofort durch Beschluss
auszusprechen" hat, wenn eine Streitsache fälschlicherweise im Außerstreitverfahren
oder umgekehrt eine Außerstreitangelegenheit unrichtigerweise im streitigen Verfahren
2746
geltend gemacht worden ist. Da das Gleiche auch zu gelten hat, wenn dieser Mangel
erst bei einem Gericht höherer Instanz „offenbar wird", konnte es in der Praxis durch-
aus vorkommen, dass durch die Nichtigerklärung ein großer Verfahrensaufwand ver-
nichtet worden ist.
17.4 Auf Basis dieser Rechtslage hob der Bericht und Antrag der Regierung 2016/163 zum
Reformvorhaben „Schiedsfähigkeit von Konsumentensachen" allgemein hervor, dass das
2747
genannte Gesetzespaket aufgrund von „Hinweisen aus der Richterschaft" dazu ge-
nutzt werden solle, um eine Bestimmung in das liechtensteinische Recht zu übernehmen,
welche die Überweisung von Rechtssachen auf den „richtigen" Rechtsweg ermögliche.
Eine solche Bestimmung fehle bisher im liechtensteinischen Recht. Durch die Übernah-
me werde die bisher notwendige Zurückweisung solcher Rechtssachen vermieden werden
2748
können.
2742 LGBI 2010/454. Zum öAußStrG (BGBI I 2003/111), das als Rezeptionsvorlage für das liech-
tensteinische Gesetz diente, s etwa Mayr, LIZ 2007, 15 und Mayr in FS Eccher 685. Zu den
Unterschieden zwischen beiden Gesetzen s Motal in Schneider/Verweijen, AußStrG § 1
Rz 62 ff.
2743 Siehe nur Mayr/Fucik, Verfahren außer Streitsachen 2 Rz 33ff; Klicka!Oberhammer/Domej,
Außerstreitverfahren~ Rz 9, 21 ff; G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG 12 § 1 Rz 61 ff;
Motal in Schneider/Venveijen, AußStrG § 1 Rz 34 ff.
2744 In Österreich ordnet § 1 Abs 2 AußStrG (lediglich) an, dass das Außerstreitverfahren in den-
jenigen bürgerlichen Rechtssachen anzuwenden ist, für die dies im Gesetz angeordnet ist.
2745 Dazu Ungerank, LIZ 2017, 58f und Walch, LIZ 2012, 77ff. Siehe auch Bösch, LJZ 2012, 99.
2746 OGH 30. 7. 1985, 5 C 300/82-16 LES 1986, 87; 28. 9. 1992, Hp 28/91-17 LES 1993, 99; 2. 12.
1999, 9 Fa 3/98 LES 2000, 96; 13. 1. 201 1, 10 CG 2010.119 PSR 201 1/32, 122.
2747 Auch Walch hatte in LJZ 2012, 92 bereits eine Einführung einer entsprechenden Gesetzesbe-
stimmung im liechtensteinischen Recht für „überlegenswert" gehalten.
2748 BuA 2016/163, 17f.
Im Besonderen geben die Gesetzesmaterialien an, 2749 dass mit der neuen Bestimmung des 17.5
§ 22a JN die Vorschrift des§ 40a öJN wortgleich in das liechtensteinische Recht übernom-
men werden soll, wo bislang keine äquivalente Bestimmung vorhanden gewesen sei.§ 22a
JN regle die Zulässigkeit des Rechtswegs, soweit er den Verfahrenstyp betrifft (streitiges,
außerstreitiges Verfahren, Exekutions- und Insolvenzverfahren); er stelle für diese Art der
Rechtswegszulässigkeit eine ergänzende Bestimmung zu § 24 JN dar. Die Frage nach der
Rechtswegszulässigkeit sei dabei, ungeachtet der Frage, welches Recht zur Anwendung ge-
langt, stets nach der Lex fori zu beantworten. Teilweise werde „dieser Teilaspekt der Zuläs-
sigkeit des Rechtswegs iwS vielmehr als ,Zulässigkeit des streitigen bzw ausserstreitigen
Verfahrens' umschrieben, um diesen Teilaspekt deutlicher von der Zulässigkeit des
Rechtswegs ieS, also der Zulässigkeit der Anrufung der ordentlichen Gerichte im Unter-
schied zum Verwaltungsverfahren, abzugrenzen." Im Übrigen fasst der Bericht und Antrag
der Regierung (nach eigenen Angaben nur) die Begründung des österr Gesetzfebers zur
Einführung des§ 40a öJN im Rahmen der (österr) Zivilverfahrens-Nov 1983 2 so zusam-
men. Festzustellen ist allerdings, dass diese „Zusammenfassung" nicht nur die amtlichen
österr Gesetzesmaterialen, sondern auch österr Lehrmeinungen verarbeitet. 2751
Tatsächlich führen die Erläuterungen der seinerzeitigen österr Regierungsvorlage zu der 17.6
ursprünglich geplant gewesenen Anfügung eines neuen Abs 4 an§ 41 öJN Folgendes (im
gegebenen Zusammenhang Relevantes) aus: 2752
„Nach einhelliger Gerichtspraxis werden derzeit Klagen, mit denen ein im außerstreitigen
Verfahren zu erledigender Anspruch geltend gemacht wird, und Anträge im außerstreitigen
Verfahren, über deren Gegenstand im streitigen Verfahren zu entscheiden ist, wegen U nzu-
lässigkeit des beantragten Verfahrens, zT als Unzulässigkeit des Rechtswegs bezeichnet, zu-
rückgewiesen, obwohl dasselbe Gericht auch für das richtige Verfahren zuständig wäre.
Die Zurückweisung eines Rechtsschutzbegehrens, nur weil es fälschlich als Klage oder als
Antrag im außerstreitigen Verfahren bezeichnet ist, widerspricht nun einerseits dem mit
der vorliegenden Nov verfolgten Anliegen, derartige unfruchtbare Streitigkeiten über Ver-
fahrensfragen möglichst zu vermeiden, und andererseits dem schon jetzt im § 84 Abs. 2
letzter Satz ausgedrückten, in dieser Nov noch ausgebauten Gedanken, dass die unrichtige
Bezeichnung eines Antrags keine Rolle spielen, seine Behandlung nicht hindern soll.
Durch die vorgesehene Ergänzung des § 41 soll bewirkt werden, dass ein derart falsch
bezeichnetes Rechtsschutzgesuch nicht zurückzuweisen, sondern einfach im richtigen
Verfahren zu behandeln ist (zuvor müsste allerdings ein bereits durchgeführtes unrichti-
ges Verfahren, einschließlich allenfalls ergangener, noch nicht rechtskräftig gewordener
Entscheidungen aufgehoben werden).
Im Streitfall, welches Verfahren durchzuführen ist, wäre hierüber mit einem verfahrens-
rechtlichen Beschluss abzusprechen."
2749 BuA 2016/163, 59ff. Die Stellungnahme der Regierung zu Fragen iZm dem betreffenden Ge-
setzespaket (BuA 2017/3) enthält keine Aussagen zu § 22 a JN.
2750 BGBI 1983/135.
2751 Der BuA der Regierung verweist in FN 25 auch auf die umfassende Darstellung im Kommen-
tar von Fasching!Konecny.
2752 669 BlgNR 15. GP 30f.
17.7 Auf Antrag des Justizausschusses des österr Nationalrats wurde in der Folge der ur-
sprünglich vorgeschlagene § 41 Abs 4 öJN zu einem neuen § 40a öJN umgestaltet, der
seither in Österreich unverändert in Geltung steht. Der Bericht des Justizausschusses
führt dazu ua aus: 2753
„Durch den geänderten Einbau der Bestimmung wird auch klar ausgedrückt, dass zuerst
die Frage zu entscheiden ist, in welchem Verfahren das Gericht eine Eingabe zu behan-
deln hat, und dass dann erst nach den besonderen Regeln dieses Verfahrens ( ... ) die
Frage der Zuständigkeit im engeren Sinn zu prüfen ist. Diese Prüfung des anzuwenden-
den Verfahrens geschieht also zunächst unbeschadet der Frage der Zuständigkeit.
Dass über die Frage des anzuwendenden Verfahrens im Streitfall durch einen besonderen,
gesondert anfechtbaren Beschluss zu entscheiden ist (wie schon die Erläuterungen zur Re-
gierungsvorlage Seite 31 meinen), soll ausdrücklich gesagt werden. Zweifelhaft ist das an-
zuwendende Verfahren etwa auch dann, wenn der Kläger mit dem gerichtlichen Vorgehen,
für die Behandlung seiner Klage das Verfahren außer Streitsachen zu wählen, nicht einver-
standen ist (oder umgekehrt damit, dass das Gericht über seinen auf Einleitung des außer-
streitigen Verfahrens gerichteten Antrag ein streitiges Verfahren durchführt)."
III. Terminologie
17.8 Die Grenzziehung zwischen dem streitigen und dem außerstreitigen Verfahren wird in
der älteren Lit und Rsp als eine Frage der Zulässigkeit des streitigen bzw des außerstrei-
tigen „Rechtswegs" bezeichnet. 2754 Wie der Bericht und Antrag der Regierung jedoch
zutr anführt, 2755 wird diese Frage „teilweise" auch als Zulässigkeit des streitigen bzw
des außerstreitigen „Verfahrens" bezeichnet, ,,um diesen Teilaspekt deutlicher von der
Zulässigkeit des Rechtswegs ieS, also der Zulässigkeit der Anrufung der ordentlichen Ge-
richte im Unterschied zu Verwaltungsverfahren, abzugrenzen." Tatsächlich handelt es
sich bei der Abgrenzung des streitigen vom außerstreitigen Verfahren nicht um eine
Frage des „Rechtswegs", denn auch außerstreitige Angelegenheiten sind auf dem Rechts-
weg (durch die ordentlichen Gerichte und nicht durch Verwaltungsbehörden) zu behan-
deln und zu erledigen. Erst wenn für eine Rechtssache überhaupt der Rechtsweg gegeben
ist, stellt sich die weitere Frage, in welchem (gerichtlichen) Verfahren sie zu behandeln
ist. Ich halte es daher2756 - ungeachtet einer teilweise (noch) anderen Ausdrucksweise im
Gesetz 2757 (und in den Materialien) - für klarer und besser verständlich, wenn im gege-
benen Zusammenhang die Formulierung „Verfahren" (statt „Rechtsweg") verwendet
wird. 2758 An den verfahrensrechtlichen Konsequenzen ändert sich durch diese andere
Ausdrucksweise aber selbstverständlich nichts. 2759
IV. Anwendungsbereich
Die Bestimmung des§ 22a JN ist anzuwenden, wenn der Rechtsschutzwerber innerhalb 17.9
der verschiedenen Zweige des zivilgerichtlichen Verfahrens die unrichtige Verfahrensart
gewählt hat; sie besitzt aber (wegen der strukturellen Ähnlichkeit dieser beiden Verfah-
rensarten) im Wesentlichen nur für die Unterscheidung zwischen streitigem und außer-
streitigem Verfahren praktische Bedeutung. 2760 Nachfolgend wird daher nur mehr von
diesem Verhältnis die Rede sein.
2761
Nicht anwendbar ist§ 22a JN allerdings in folgenden Fällen: 17.10
• wenn bereits bindend über die Zulässigkeit des anzuwendenden Verfahrens abgespro-
chen worden ist (§ 24 Abs 3 JN);
• wenn es sich um ein von Amts wegen eingeleitetes Verfahren außer Streitsachen han-
delt;
• wenn das streitige Verfahren unzulässig ist, das Außerstreitverfahren aber nur von
Amts wegen eingeleitet werden darf;
• wenn im Außerstreitverfahren die Parteien einander nicht kontradiktorisch gegenüber-
stehen;
• wenn eine Partei eine Wahlmöglichkeit zwischen den Verfahrensarten hat. 2762
Die öRsp 2763 schließt eine Anwendung dieser Vorschrift überdies aus, ,,wenn der Rechts- 17.11
schutzwerber bewusst eine bestimmte (wenn auch falsche) Verfahrensart wählt und da-
rauf beharrt" bzw ausdrücklich an ihr festhalten will. Es erscheint allerdings unklar, wann
diese Bedingungen vorliegen, denn der Rechtsschutzwerber wird (hoffentlich) immer
„bewusst" eine bestimmte Verfahrensart wählen und in der Folge an seiner Rechtsansicht
festhalten. Gemeint ist damit wohl, dass gegen den ausdrücklich erklärten Willen des
Rechtsschutzwerbers das von ihm gestellte Begehren nicht vom Gericht in einem anderen
Verfahren behandelt werden kann. 2764
Generell nicht angewendet werden kann§ 22a JN bei einer Unzulässigkeit des Rechts- 17.12
wegs im engeren (bzw eigentlichen) Sinn (also bei der Abgrenzung zwischen Gerichts-
barkeit und Verwaltung) und bei einer Unzulässigkeit des ordentlichen bzw außerordent-
2765 Etwa Simotta in FS Fasching 465f; öOGH I Ob 518/91 EvBI 1991/85, 381 uva; RIS-Justiz
RS0046245.
2766 So auch Ungerank, LJZ 2017, 59.
2767 Etwa Mayr in Rechberger/K/icka, ZPO' Vor § 1 JN Rz 26.
2768 Etwa öOGH 6 Ob 621/90 )BI 1991, 322; 5 Ob 497/971 immolex 1998/191, 306 = Miet 50.628 =
wohl 1998/157, 230; 1 Ob 219/0li SZ 74/180 = Miet 53.635; 7 Ob 169/16b NZ 2017, 186
(Mayr); RlS-Justiz RS00l3639; RS0005861; RS0005896.
2769 Simotta in FS Fasching 467f und Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht 9 Rz 270. Siehe auch
LGZ Wien 45 R 108/04x EF 108.713.
2770 Mayr in FS Rechberger 369ff und Mayr in Rechberger/K/icka, ZPO 5 § 40a JN Rz 4.
2771 Ballon in Fasching/Konecny 12 § 40a JN Rz 3 und Horn in Fasching!Konecny I' § 40a JN Rz 5
sowie G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG I2 § l Rz 174 f.
Aussage wörtlich wiederholt. 2772 Ob der behauptete Anspruch begründet ist, ist unerheb-
lich. Auch Fragen der Sachlegitimation oder der Schlüssigkeit spielen bei der Beurteilung
der richtigen Verfahrensart keine Rolle. 2773
Ist das einschlägige Vorbringen der Partei(en) unklar oder undeutlich, ist ein Verbesse- 17.16
rungsverfahren einzuleiten (§§ 84f ZPO; Art 10 Abs 4 AussStrG). Sollte allerdings das
Vorbringen des Klägers bzw Antragstellers trotz eines Verbesserungsversuchs derart vage
bleiben, dass eine verlässliche Zuordnung zu einer Verfahrensart nicht möglich ist - ein
eher bloß theoretischer Fall -, müsste die Klage bzw der Antrag (tatsächlich) zurückge-
wiesen werden. 2774
Stellt sich bei der gerichtlichen Prüfung heraus, dass das Rechtsschutzbegehren unrichtig 17.17
bezeichnet und daher im falschen Verfahren geltend gemacht worden ist, so ist es - ab-
gesehen von den oben (Rz 17.10) genannten Ausnahmen - nicht zurückzuweisen, 2775
sondern umzudeuten und in der richtigen Verfahrensart zu behandeln. 2776 Die für Ös-
terreich relevante Frage, 2777 ob und wie in der Folge die Rechtssache an das (sachlich und
örtlich) zuständige Gericht zu überweisen ist, spielt in Liechtenstein keine Rolle, da es im
Fürstentum nur ein zuständiges (Land-)Gericht gibt. Stimmt allerdings durch die Um-
deutung der Klage in einen Außerstreitantrag oder umgekehrt die Geschäftsverteilung
2778
beim angerufenen LG nicht mehr, so ist die Rechtssache an die nach der Geschäfts-
verteilung zuständige Abteilung abzutreten. 2779
VI. Verfahren
Ist für alle Seiten eindeutig klar, in welcher Verfahrensart die Rechtsache zu behandeln 17.18
und erledigen ist, braucht darüber nicht eigens entschieden zu werden, sondern die Sache
wird einfach im gewählten Verfahren behandelt. Ist jedoch „zweifelhaft", welches Ver-
fahren anzuwenden ist, so hat das Gericht darüber mit Beschluss zu entscheiden. Solche
Zweifel sind immer dann gegeben, wenn für das Gericht selbst Zweifel über die anzuwen-
dende Verfahrensart bestehen, wenn die Einrede der Unzulässigkeit des gewählten (strei-
tigen oder außerstreitigen) Verfahrens erhoben worden ist oder wenn das Gericht in An-
wendung des§ 22a JN die Rechtssache nicht in der von der verfahrenseinleitenden Partei
gewählten Verfahrensart behandelt. 2780 Nur wenn eindeutig ist, dass der Rechtsschut-
zwerber seinen Rechtsschutzantrag nur irrtümlich falsch bezeichnet hat, kann von einem
Beschluss abgesehen werden. 2781 In einem solchen Fall könnte sich allerdings die verfah-
renseinleitende Partei mit einer Einrede gegen die neue, abweichende Verfahrensart zur
2782
Wehr setzen und damit einen (anfechtbaren) Beschluss herbeiführen.
17.19 Fällt das Gericht einen Beschluss nach § 22a JN, dass für die anhängige Rechtssache
ein anderes Verfahren anzuwenden ist, so hat es gleichzeitig ein (allenfalls) bereits
durchgeführtes Verfahren für nichtig zu erk1ären 2783 und (allenfalls) bereits gefällte
Entscheidungen aufzuheben. Die Verfahrenseinleitung selbst wird von der Nichtiger-
kJärung jedoch nicht erfasst, sondern sie ist in die richtige Rechtsschutzform (Klage
oder Außerstreitantrag) umzudeuten; 2784 die (Gerichts-) Anhängigkeit der Rechtssache
bleibt somit aufrecht. Bei Form- oder Inhaltsmängeln des umgedeuteten Rechtsschutz-
antrags ist ein Verbesserungsverfahren einzuleiten ( §§ 84 f ZPO; Art 10 Abs 4
AussStrG).
17.20 Folge der NichtigerkJärung des in der unrichtigen Verfahrensart durchgeführten Verfah-
rens ist auch die Nichtigkeit eines allenfalls bereits durchgeführten Beweisverfahrens.
Daher nimmt die hM an, dass die gewonnenen Beweisergebnisse im neuen Verfahren
2785
nicht (und zwar auch nicht über den neuen § 281 a ZPO) verwertet werden dürfen.
2786
Dieses unökonomische Ergebnis erscheint jedoch nicht zwingend und auch Ungerank
hat sich dafür ausgesprochen, dass eine Verwertung jedenfalls dann zulässig sein sollte,
2787
wenn sämtliche Parteien damit ausdrücklich einverstanden sind.
VII. Anfechtung
A. Allgemeines
17.21 Der Beschluss nach § 22a JN ist nach der ausdrücklichen Anordnung im Gesetz selbst-
ständig (iS von abgesondert) anfechtbar. Die Anfechtung richtet sich nach hM 2788 nach
den Regeln der von der verfahrenseinleitenden Partei gewählten Verfahrensart. Auch die
Kostenentscheidung im Zwischenverfahren richtet sich nach den einschlägi?ien Bestim-
89
mungen desjenigen Verfahrens, das der Verfahrenseinleitende gewählt hat. 2
Für die Anfechtung muss daher unterschieden werden, ob der Beschluss nach§ 22a JN in 17.22
einem streitigen oder in einem außerstreitigen Ausgangsverfahren gefällt worden ist: 2790
B. Streitiges Ausgangsverfahren
Sowohl gern § 22a JN als auch gern § 483 ZPO ist ein Beschluss des LG nach § 22a JN 17.23
(selbstständig) anfechtbar. In Bagatellsachen 2791 kann gern § 485 Abs 1 Z l ZPO ein
erstinstanzlicher Beschluss allerdings nur dann angefochten werden, wenn „die Einlei-
tung oder Fortsetzung des gesetzmäßigen Verfahrens über die Klage verweigert wurde".
Diese Voraussetzung trifft auf Beschlüsse nach § 22a JN zu, welche die Einleitung oder
Fortsetzung des vom Kläger gewählten (streitigen) Verfahrens verweigern und die Klage
in das Außerstreitverfahren überweisen. Er ist daher auch bei einem CHF 5.000,- nicht
übersteigenden Streitwert anfechtbar. 2792 Ein Beschluss nach§ 22a JN, der die vom Klä-
ger gewählte Verfahrensart bestätigt, ist hingegen in Bagatellsachen nicht anfechtbar. Für
einen solchen (positiven) Beschluss besteht allerdings - wie oben bei Rz 17.18 ausgeführt
- nur dann eine Veranlassung, wenn „zweifelhaft" ist, welches Verfahren anzuwenden ist.
In limine litis gefasste Beschlüsse nach§ 22a JN können nur vom Kläger mit einem ein- 17.24
seitigen Rekurs angefochten werden. 2793 Wird der Beschluss nach Eintritt der Streitan-
hängigkeit gefasst, so steht beiden (beschwerten) Parteien ein (gern§ 489a ZPO) grund-
sätzlich zweiseitiger Rekurs zu. Die Rekursfrist beträgt 14 Tage(§ 489 ZPO).
Wenn das Gericht zweiter Instanz den Beschluss bestätigt, ist kein weiterer (Revisions-) 17.25
Rekurs zulässig. Gern § 496 Abs I ZPO sind solche Rekurse (bereits) vom Gericht erster
Instanz von Amts wegen zurückzuweisen.
Für Beschlüsse, die (erstmalig) im Berufungsverfahren ergehen, ist gern § 487 Abs 1 Z 2 17.26
ZPO der Rekurs nur statthaft, .,wenn die Nichtigkeit des erstinstanzlichen Urteils und die
Zurückweisung der Klage vom Berufungsgericht durch Beschluss ausgesprochen wurde".
Diese Bestimmung ist analog auch auf Beschlüsse über die anzuwendende Verfahrensart
2794
nach § 22a JN anzuwenden. Diese Auffassung hatte die öRsp zum gleichlautenden
2795
§ 519 Abs 1 Z 2 öZPO idF vor der WGN 1989 vertreten, und sie ist auch heute
hM 2796 zum geltenden § 519 Abs I Z I öZPO. Dasselbe muss auch gelten, wenn das Re-
kursgericht erstmals die Unzulässigkeit des streitigen Verfahrens nach § 22 a JN ausge-
sprochen hat. 2797
2790 Siehe ausf zur (etwas unterschiedlichen) Rechtslage in Österreich Mayr, NZ 2014, 224ff.
2791 Das sind gern § 535 Abs I ZPO vermögensrechtliche Streitigkeiten, deren Streitwert CHF
5.000,00 nicht übersteigt.
2792 Das ist auch hM zur vergleichbaren Regelung des§ 517 öZPO. Siehe Mayr, NZ 2014, 225;
Mayr in Rechberger/Klicka, ZPO 5 § 40a JN Rz 10; Horn in Fasching!Konecny 13 § 40a JN
Rz 13, 15.
2793 Vgl Mayr, NZ 2014, 225f mwN und RIS-Justiz RS0039183.
2794 Etwa öOGH 2 Ob 533/88 EvBI 1988/101, 404 ua; RIS-Justiz RS0008556.
2795 Durch die WGN 1989, BGBI 1989/343, wurden die früheren Z I und 2 des§ 519 Abs 1 öZPO
zu einer neuen Z I zusammengefasst.
2796 Siehe nur Mayr, NZ 2014, 226 mwN und zuletzt etwa öOGH 4 Ob 91/16k )BI 2017, 258
(Mayr); 7 Ob 169/16b NZ 2017, 186 (Mayr).
2797 Siehe nur öOGH 9 Ob 65/11 s SZ 2012/23 = EvBI 2012/92, 660 (Posani) = NZ 2013, 23; Mayr,
NZ 2014, 227 mwN.
17.27 Gegen Beschlüsse des Berufungsgerichts in Bagatellsachen ist allerdings gern § 485 ZPO
ein Rekurs (jedenfalls) ausgeschlossen.
C. Außerstreitiges Ausgangsverfahren
17.28 Ein (erstinstanzlicher) Beschluss des LG nach § 22a JN in einem außerstreitigen Aus-
gangsverfahren ist gern Art 45 Abs 1 AussStrG (jedenfalls) mit Rekurs (von sämtlichen
2799
Parteien 2798 ) anfechtbar. Der Rekurs ist zweiseitig (bzw mehrseitig); die Rekursfrist
beträgt vier Wochen (Art 46 Abs 1 AussStrG).
17.29 Zu erwähnen ist idZ die Regelung des Art 56 Abs 1 AussStrG (§ 56 Abs 1 öAußStrG),
nach der bei einem Rekurs gegen einen Beschluss über eine Sache, die (ua) .,nicht auf den
außerstreitigen Rechtsweg gehört", dieser Beschluss aufzuheben und das vorangegangene
Verfahren für nichtig zu erklären „sowie der ihm allenfalls vorangegangene Antrag zu-
rückzuweisen" ist. Diese Regelung gilt allerdings nur für eine Unzulässigkeit des außer-
streitigen „Rechtswegs" ieS, also wenn für die Sache nicht die (ordentlichen) Gerichte,
sondern Verwaltungsbehörden zuständig sind. Wenn „nur" das außerstreitige Verfahren
unzulässig ist, die Sache aber auf den (ordentlichen) Rechtsweg gehört, so ist - wie schon
oben bei Rz 17.17 ausgeführt - der Außerstreitantrag nicht zurückzuweisen, sondern
dem Erstgericht aufzutragen, das streitige Verfahren über den in eine Klage umzudeuten-
. . 2A'oo
d en A ntrag emzu1e1ten.
17.30 Gegen einen „im Rahmen des Rekursverfahrens" ergangenen Beschluss des Rekursge-
richts ist gern Art 62 Abs 1 AussStrG vorbehaltlich der Abs 2 und 3 der Revisionsrekurs
zulässig. Art 62 Abs 3 AussStrG schließt einen Revisionsrekurs über den Kostenpunkt,
über die Verfahrenshilfe sowie über die Gebühren jedenfalls aus. Gern Art 62 Abs 2
AussStrG ist der Revisionsrekurs (außerdem) unzulässig, wenn die Beschlüsse des Ge-
richts erster Instanz und des Rekursgerichts gleich lauten, mit Ausnahme jener über An-
gelegenheiten nach Art 1 Abs 1 Z 1 (Fürsorgeverfahren für Kinder), Z 2 (Vormund-
schafts- und Sachwalterschaftsverfahren) und Z 4 (einvernehmliche Scheidung) sowie
in Verfahren über das Erbrecht (Art 161 AussStrG). Diese Ausnahme von der Konformi-
tätsschranke bezieht sich mE jedoch nur auf Sachentscheidungen in den aufgezählten
Materien und nicht auf verfahrensrechtliche Entscheidungen. Gleichlautende Beschlüsse
nach § 22a JN sind daher (ebenso wie im streitigen Verfahren auch) im Außerstreitver-
fahren nicht anfechtbar.
17.31 Fällt das Rekursgericht erstmals einen Beschluss nach § 22 a JN (bzw § 40 a öJN), ist in
Österreich strittig, ob ein solcher Beschluss „im Rahmen des Rekursverfahrens" ergeht
2801
und daher den strengen Rechtsmittelbeschränkungen des § 62 öAußStrG unterliegt,
oder ob es sich dabei um einen funktionell erstinstanzlichen Beschluss handelt, der nach
2802
§ 45 öAußStrG (mit „Vollrekurs") anfechtbar ist. Diese Streitfrage stellt sich in Liech-
tenstein nicht, weil nach der Grundregel des Art 62 Abs l AussStrG (auch) Beschlüsse
des Rekursgerichts „im Rahmen des Rekursverfahrens" (jedenfalls) mit Revisionsrekurs
anfechtbar sind. Die er.vähnten Ausnahmen des Art 62 Abs 2 und 3 AussStrG sind auf
(erstmalige) Beschlüsse nach § 22a JN nicht anwendbar.
VIII. Bindungswirkung
Ein Beschluss über die anzuwendende Verfahrensart entfaltet - wenn er rechtskräftig 17.32
geworden ist - bindende Wirkung. 2803 Das ergibt sich (auch) daraus, dass § 24 Abs 4
JN den (eine Bindung normierenden)§ 24 Abs 3 JN auch im Verhältnis zwischen Streit-
und Außerstreitverfahren für anwendbar erklärt. Allerdings bedarf es dafür eines aus-
drücklichen Gerichtsbeschlusses 21104 bzw - nach der (nunmehr) hRsp 2805 - (zumindest)
einer (ausdrücklichen) Befassung des Gerichts mit dieser Frage in den Entscheidungs-
gründen: Eine bloß implizite Bejahung der Zulässigkeit des gewählten Verfahrens (nur)
durch eine meritorische Behandlung des Begehrens reicht für eine bindende Wirkung
jedenfalls nicht aus. 2806
Von dieser Bindungswirkung ausgenommen sind lediglich in limine litis gefällte Ent- 17.33
scheidungen, die im streitigen Verfahren (oder in einem dem Streitverfahren angenäher-
ten Außerstreitverfahren) gefasst worden sind. Der noch nicht am Verfahren beteiligten
gegnerischen Partei ist in diesem Fall die Anfechtung der Entscheidung verwehrt. Der
Grund dafür liegt in der Einschränkung der Entscheidungsgrundlagen auf das in der
Klage enthaltene Vorbringen. Der Verfahrensgegner kann nach Zustellung der Klage
bzw des Antrags die Einwendung der Unzulässigkeit des angewendeten Verfahrens er-
heben, worüber das Gericht ohne Bindung an den vorangegangenen Beschluss nach
2807
§ 22 a JN zu entscheiden hat.
IX. Zusammenfassung
Insgesamt handelt es sich also bei § 22a JN (ebenso wie bei dessen Vorbild § 40a öJN) 17.34
um eine sinnvolle Neuerung. Die neue Bestimmung beseitigt zwar nicht die mitunter
schwierig zu lösenden Abgrenzungsfragen zwischen streitigem und außerstreitigem Ver-
fahren, sie mildert jedoch die (vormals schwer.viegenden) verfahrensrechtlichen Konse-
quenzen der Wahl einer unrichtigen Verfahrensart ab und kann dadurch überflüssigen
Verfahrensaufwand vermeiden. 211011
Übersicht
Rz
1. Gegenstand und Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.1
II. Prozessaufrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.5
A. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.5
B. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.7
C. Geltendmachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.18
1. Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.18
2. Zeitpunkt: Nur erstinstanzlich oder auch im Berufungsverfahren? 18.19
D. Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.24
1. Grundsätzlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.24
2. Teilurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.30
a) Teilurteil über Klageforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.30
b) Endurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.33
E. Aufrechnung im Oppositionsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.36
F. Aufrechnung und Aberkennungsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.39
III. Zwischenantrag auf Feststellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.44
A. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.44
B. Zulässigkeit und Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.45
C. Allgemeine Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.48
D. Besondere Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.51
1. Feststellungsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.51
a) Präjudizialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.51
b) Über den Prozess hinausgehende Wirkung . . . . . . . . . . . . . 18.54
c) Einordnung der beiden Sondervoraussetzungen: Feststellungs-
interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.55
2. Kein Sonderverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.56
3. Sachliche Zuständigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.57
E. Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.59
IV. \-Viderklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.60
A. Begriff und Charakteristik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.60
B. Besondere Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.61
1. Enger Zusammenhang mit der Hauptklage . . . . . . . . . . . . . . . . 18.61
2. Prorogable Zuständigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.65
C. Allgemeine Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.67
D. Verfahrensrechtliche Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.70
E. Unterschiede zu Zwischenantrag auf Feststellung und Prozessaufrech-
nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.71
erhoben werden können, wie es in Österreich tatsächlich in Verfahren der Fall ist, bei de-
nen das Neuerungsverbot nicht(!) besteht, zB im österr Eheverfahren (§ 483 a Abs 2
öZPO) 2815 ,2816 doch geht die liechtensteinische Neuerungserlaubnis nicht so weit, als dass
sie Änderungen des Streitgegenstands zuließe. 2817 Aufrechnungseinrede, Zwischenantrag
auf Feststellung und Widerklage können daher zweitinstanzlich nicht mehr erhoben wer-
den2818. In Bezug auf die Aufrechnungseinrede ist dies durchaus krit zu sehen. 2819 Der
Rechtsunterschied zwischen der öZPO und der liechlensteinischen ZPO hinsichtlich der
Zulässigkeit von Neuerungen im Berufungsverfahren wirkt sich daher für die hier behan-
delten Rechtsinstrumente nicht aus. Beim Zwischenantrag auf Feststellung und bei der
Widerklage etablieren die österr Bestimmungen (§ 236 Abs 2 öZPO, § 96 Abs 2 öJN) Zu-
ständigkeitsvoraussetzungen, die zwar gegenüber vollkommen selbstständigen Klagen
gelockert, aber doch vorhanden sind. Die liechtensteinischen Parallelbestimmungen
(§ 244 Abs 2 ZPO, § 48 Abs 2 JN) haben diese Einschränkungen nicht übernommen, wohl
im Hinblick auf die Allzuständigkeit des LG. 2820 Was die Unterscheidung konkret bedeu-
tet, wird unten ausgeführt. 2821 Besonderheiten bestehen ferner in Bezug auf die in Öster-
reich unbekannte Aberkennungsklage gegenüber Zahlbefehl und Rechtsöffnung. 2822
18.4 Chronologisch wird zunächst die Aufrechnungseinrede behandelt, dann der Zwischen-
antrag auf Feststellung und erst zum Schluss die Widerklage, weil sie die Elemente beider
Instrumente in sich vereinigt und verselbstständigt, kann doch die Widerklage sowohl
zur selbstständigen Geltendmachung einer (aufrechenbaren) Gegenforderung erhoben
werden als auch zur selbstständigen Geltendmachung eines Feststellungsanspruchs.
II. Prozessaufrechnung
A. Begriff
18.5 Die Prozessaufrechnung wird vom Gesetz (§ 391 Abs 3 ZPO) und in der juristischen
Praxis meist als Aufrechnungseinrede bezeichnet. 2823 Wird die Schuldtilgung durch au-
ßergerichtliche Aufrechnung behauptet, spricht man eher von Aufrechnungseinwen-
dung2824. Hier werden beide Bezeichnungen synonym verwendet. Bei der Prozessauf-
rechnung handelt es sich um einen Doppeltatbestand, 2825 weil sie sowohl die prozess-
B. Voraussetzungen
Damit der Aufrechnungseinrede stattgegeben werden kann, muss sie die materiell-recht- 18.7
liehen Voraussetzungen erfüllen und prozessrechtlich zulässig sein. Materiell-rechtlich
müssen Forderung und Gegenforderung gültig sein (§§ 1438f ABGB), gegenseitig sein
(§ 1438 ABGB), die Gegenforderung muss sich also gegen den Kläger richten, sie müssen
fällig und gleichartig (§§ 1438, 1440 Satz l ABGB) sein und es darf kein Aufrechnungs-
verbot (§ 1440 Satz 2 ABGB) bestehen. 2832 Indessen sind die Rechtsgründe der beider-
seitigen Forderungen von geringer Bedeutung. Aus§ 1441 Satz 2 ABGB bspw folgt, dass
öffentliche Rechtsträger mit öffentlich-rechtlichen Forderungen gegen privatrechtliche
Ansprüche aufrechnen können, sofern die sonstigen Voraussetzungen erfüllt sind. Wie
zu zeigen sein wird, strahlt diese Besonderheit ins Prozessrecht aus: die Rechtskraft einer
Vorentscheidung über die Gegenforderung oder die Unzulässigkeit des Rechtswegs zur
selbstständigen Einbringlichmachung der Gegenforderung verhindern die Aufrech-
nungseinrede nicht in allen Fällen. 2833
2826 Die Aufrechnung tritt auch materiell-rechtlich nicht von selbst ein, sondern die Aufrech-
nungslage vermittelt ein Gestaltungsrecht, das durch Aufrechnungserklärung ausgeübt wer-
den muss, s nur Griss in KBB 5 § 1438 ABGB Rz 3 mwN.
2827 Rechberger!Simotta, Zivilprozessrecht" Rz 706 mwN.
2828 Siehe nur Rechberger/K/icka in Rechberger/K/icka, ZPO' § 392 Rz 13 mwN.
2829 OGH 3 CG 2016.302 LES 2018, 38 (Leitsatz); Kodek/Mayr, Zivilprozessrecht' Rz 627; ua.
2830 Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht 9 Rz 703: Die außergerichtliche Aufrechnungserklärung
kann außerhalb oder innerhalb des Prozesses erfolgen.
2831 Deix/er-Hübner in Fasching/Konecny III/2 3 § 391 ZPO Rz 21 mwN.
2832 Durch Vereinbarung können die materiell-rechtlichen Aufrechnungsvoraussetzungen erwei-
tert oder verschärft, zB vertragliche Aufrechnungsverbote vereinbart werden, s nur Holly in
Kletecka!Schauer, ABGB-ON 10' § 1438 Rz 52ff mwN, § 1440 Rz 33ff mwN.
2833 Nachweise weiter unten Rz 18.12f.
18.8 Materiell-rechtlich wirkt die Aufrechnung auf den Zeitpunkt zurück, als sich Forderung
und Gegenforderung erstmals aufrechenbar gegenüberstanden. 2834 Das hat zur Folge, dass
mit einer Gegenforderung aufgerechnet werden kann, die bereits verjährt ist, wenn die
Verjährung zum Zeitpunkt des Eintritts der Aufrechenbarkeit noch nicht eingetreten
war. 2835 Eine selbstständig eingeklagte Gegenforderung, die verjährungshalber urteilsmä-
ßig rechtskräftig abgewiesen wurde, kann dennoch zur Prozessaufrechnung verwendet
werden, sofern die Aufrechnungslage vor dem Eintritt der Verjährung bestanden hatte. 2836
18.9 Da es sich bei der Aufrechnung um einen Sachantrag handelt, 2837 müssen für diesen,
grundsätzlich, die allgemeinen Prozessvoraussetzungen vorliegen und es dürfen dem
Sachantrag keine Prozesshindernisse entgegenstehen. 2838 Wie bereits erwähnt, führt aber
die besondere Charakteristik der Prozessaufrechnung zu Abstrichen von dieser Grund-
aussage. Die inländische Gerichtsbarkeit muss für die spruchmäßige Behandlung der
Gegenforderung vorhanden sein. 2839 Da die Aufrechnungseinrede nach Maßgabe der
liechtensteinischen ZPO nur im Hinblick auf einen im Hoheitsgebiet Liechtensteins be-
reits eingeleiteten Prozess erhoben werden kann, könnte es nur noch um Fragen der
Immunität gehen. 2840 Ein Immunität genießender Kläger verzichtet allerdings konklu-
dent auf seine Immunität und unterwirft sich einer potentiellen Prozessaufrechnung bis
zur Höhe der Klageforderung, gleich, ob die Gegenforderung mit der Klageforderung in
einem rechtlichen Zusammenhang steht oder nicht. 2841
18.10 Die inländische Gerichtsbarkeit iwS bezieht sich aber nicht nur auf die Frage der Ho-
heitsgewalt und Immunität, sondern auch auf den Komplex der internationalen Zu-
ständigkeit. Ob diese für den der Aufrechnungseinrede zugrundeliegenden Gegenan-
spruch in Liechtenstein vorhanden sein muss, ist zweifelhaft, wobei die Frage weitge-
hend deswegen obsolet ist, weil § 48 JN für kompensable Gegenforderungen den Ge-
richtsstand der Widerklage zur Verfügung stellt und das Vorhandensein einer örtlichen
Zuständigkeit, also auch des Gerichtsstands der Widerklage, zugleich eine internatio-
nale Zuständigkeit begründet. 2842 Die Frage wird im deutschen Zivilprozessrecht immer
2843
wieder diskutiert. Ausgehend von Art 8 Z 3 EuGVVO war man dort lange der An-
sicht, dass eine Aufrechnungseinrede im grenzüberschreitenden Verkehr nur dann er-
hoben werden könne, wenn für die Gegenforderung zugleich der Gerichtsstand der
2844
Widerklage nach Art 8 Z 3 EuGVVO gegeben sei. Dieser besteht dort nur für kon-
nexe Gegenforderungen, nicht auch für einfach nur aufrechenbare. Der EuGH hatte
indessen dieses Verständnis von Art 8 EuGVVO verworfen und eine Ausstrahlung
der Bestimmung auf den Aufrechnungseinwand abgelehnt. 2845 Die Rechtslage ist seither
in Deutschland nicht geklärt. 2846 Die einen sprechen sich dafür aus, die internationale
Zuständigkeit nach autonomem Prozessrecht weiterhin als Prozessvoraussetzung für die
Erhebung der Aufrechnungseinrede zu verlangen, die anderen verneinen dies und stel-
len nur auf die materiell-rechtliche Aufrechenbarkeit ab. Es mehren sich aber die Stim-
2847
men, auch in Österreich, die internationale Zuständif,keit als Prozessvoraussetzung
848
für die Erhebung der Aufrechnungseinrede aufzugeben. Für Liechtenstein schließt
sich der Autor dieser Ansicht an. Man kann das argumentativ mit der Erkenntnis un-
terstützen, dass es sich bei der Aufrechnungseinrede ausschließlich um ein Verteidi-
gungsmittel des Beklagten handelt, stark materiell-rechtlich geprägt, das, obwohl Sach-
antrag, den Streitgegenstand nicht verändert. 2849 Doch ist zu wiederholen, dass der
Streitfrage in Liechtenstein keine erhöhte Relevanz zukommt, weil die internationale
Zuständigkeit immer schon dann vorhanden ist, wenn der Gerichtsstand der Wider-
klage besteht, und in Bezug auf verrechenbare Gegenforderungen besteht der dank § 48
Abs 1 JN in aller Regel.
Der compensando-Einwand einer Gegenforderung ist daher auch zulässig, wenn die Zu- 18.11
ständigkeit der liechtensteinischen Gerichte durch eine (negative) Gerichtsstandsverein-
barung überhaupt derogiert worden wäre, 2850 wobei das rügelose Einlassen die Deroga-
2843 Art 8: ,.Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann auch
verklagt werden:[ ... ] 3. wenn es sich um eine Widerklage handelt, die auf denselben Vertrag
oder Sachverhalt wie die Klage selbst gestützt wird, vor dem Gericht, bei dem die Klage selbst
anhängig ist".
2844 Darlegung und Nachweise bei Althammer in Stein/Jonas, ZPO 11 23 § 145 Rz 43.
2845 EuGH C-341/93, Danvaern Production/Schuhfabriken Otterbeck, ECLl:EU:C:1995:239. For-
mal bezog sich die Entscheidung auf Art 6 Z 3 EuGVÜ, der allerdings wörtlich dem heutigen
Art 8 Z 3 EuGVVO entsprach.
2846 Siehe BGH VIII ZR 263/00 NJW 2002, 2182 mit Darstellung der unterschiedlichen Meinun-
gen im Schrifttum (2183 f).
2847 Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht' Rz 708. AA wohl Deix/er-Hübner in Fasching/Konecny
111/2 3 § 391 ZPO Rz 34. Unbestimmt Rechberger/K/icka in Rechberger/K/icka, ZPO; § 392
Rz 12.
2848 Althammer in Stein/Jonas, ZPO Il 23 § 145 Rz 45 mwN auch zur Rsp; OLG Hamburg 4 U 100/
07 (allerdings nur im Geltungsbereich des EuGVÜ bzw der EuGVVO); Gottwald in MüKoZ-
PO IIl 5 Art 25 Brüssel la-VO Rz 93 mwN. AA OLG Karlsruhe 8 W 48/12 BeckRS 2012, 18691;
Fritsche in MüKoZPO 15 § 145 Rz 37.
2849 öOGH 4 Ob 42/15b JBI 2015, 594. - Siehe aber die Haltung der liechtensteinischen Rsp unten
Rz 18.19f, 18.23.
2850 Sollte die Derogation der Zuständigkeit der inländischen Gerichte dazu führen, dass ein Rechts-
suchender kein im Inland vollstreckbares Urteil erwirken kann, soll die Derogation unwirksam
sein OG 2 CG 2015.239 LES 2016, 287 (Leitsatz). Eine andere Lösung bestünde allerdings darin,
einem ausländischen Urteil, das auf einer Gerichtsstandsvereinbarung beruht, materiell-recht-
tion auch sonst beseitigen würde(§ 53 Abs 3 JN). Im Ergebnis anderes gölte dann, wenn
die Derogation auch ein materiell-rechtliches (allenfalls auch nur schlüssig vereinbartes)
Aufrechnungsverbot in Bezug auf den von der Derogation erfassten Anspruch enthiel-
te.2851 Diesfalls wäre die Aufrechnungseinrede zwar zulässig, aber materiell-rechtlich un-
begründet. Sie wäre also ab- statt zurückzuweisen. 2852
18.12 Die Zulässigkeit des Rechtswegs ist Prozessvoraussetzung für die Zulässigkeit der Pro-
zessaufrechnung,2853 aber weniger strikt als bei selbstständiger Klageerhebung. Gegen-
forderungen, die im Verwaltungsverfahren zu behandeln sind, können grundsätzlich
nicht für die Prozessaufrechnung verwendet werden. 2854 Doch gilt dies nicht, wenn die
2855
Gegenforderung bereits rechtskräftig festgestellt ist. Dann ist das Prozessgericht an
die Rechtskraft der Entscheidung im Verwaltungsverfahren gebunden, kann aber immer-
hin noch über die Aufrechenbarkeit als solches entscheiden. 2856 Ähnliches gilt bei For-
derungen, die selbstständig im Außerstreitverfahren geltend zu machen wären. Sie kön-
2857
nen im Streitverfahren grundsätzlich nicht compensando eingewendet werden. Liegt
allerdings eine rechtskräftige Entscheidung im Außerstreitverfahren vor, ist die Aufrech-
2858
nungseinrede zulässig. Nicht Gegenstand einer Prozessaufrechnung können auch An-
sprüche sein, die in Insolvenzverfahren geltend zu machen sind oder selbstständig im
Exekutionsverfahren. 2859 Wird etwa ein Anspruch, der durch einen Amtsbefehl oder
ein Sicherungsbot gesichert war, rechtskräftig verneint, so sind dem vom Sicherungsbot
oder dem Amtsbefehl Betroffenen alle Schäden zu ersetzen, die durch die unberechtigte
Erlassung des Sicherungsbots oder Amtsbefehls entstanden sind (Art 287 Abs l EO). Die-
ser Schadensersatzanspruch ist im Exekutionsverfahren (Sicherungsverfahren) auf An-
trag des Sicherungsgegners zu bestimmen. Als Gegenforderung im streitigen Zivilverfah-
ren kann der Anspruch nicht eingewendet werden. 2860 Etwas anderes gilt nach den bis-
liehe Bindungskraft zuzugestehen, obwohl es an sich nicht anerkannt und vollstreckt wird,
sodass den Parteien nach der Rechtsöffnung im Aberkennungsverfahren aus materiell-recht-
lichen Gründen eine Neuverhandlung über den Anspruch selbst versagt wäre, ausf Lorenz in
FS Delle Karth 609 ff.
2851 Althammer in Stein/Jonas, ZPO ll 21 § 145 Rz 47 mwN.
2852 Zu den Spruch formen s unten Rz 18.25 ff.
2853 Deix/er-Hübner in Fasching!Konecny IIl/2 1 § 391 ZPO Rz 34 mwN.
2854 Deix/er-Hübner in Fasching!Konecny IIl/2 1 § 391 ZPO Rz 35 mwN.
2855 RIS-Justiz RS0033972: "§ 1441 ABGB steht der Aufrechnung einer bereits im Verwaltungs-
verfahren rechtskräftig festgestellten öffentlich-rechtlichen Forderung gegen einen privat-
rechtlichen Anspruch nicht entgegen."; öOGH 9 ObA 99/97.
2856 Deix/er-Hübner in Fasching/Konecny III/21 § 391 ZPO Rz 37 (mit krit Anm).
2857 Deix/er-Hübner in Fasching/Konecny 111/2 1 § 391 ZPO Rz 36, schon deswegen nicht, weil das
Außerstreitverfahren vom Grundsatz der Amtswegigkeit geprägt sei, sodass ein anderes, hö-
heres Rechtsschutzniveau bestehe. Umgekehrt solle nach Deix/er-Hübner der Einwand von an
sich im streitigen Verfahren geltend zu machenden Gegenforderungen aufrechnungshalber
im Außerstreitverfahren zugelassen werden.
2858 Siehe Deix/er-Hübner in Fasching/Konecny III/2 1 § 391 ZPO Rz 37, allgemein für rechtskräftig
entschiedene Gegenforderungen (wenn auch mit krit Würdigung).
2859 Deix/er-Hübner in Fasching/Konecny IIl/2 1 § 391 ZPO Rz 36.
2860 Deix/er-Hübner in Fasching/Konecny III/2 3 § 391 ZPO Rz 36 unter (sinngemäßem) Verweis
auf öOGH 2 Ob 242/57.
C. Geltendmachung
1. Form
18.18 Die Prozessaufrechnung kann formlos §eltend gemacht werden. 2876 Sie kann sogar nur
schlüssig im Vorbringen enthalten sein. 877 Doch gilt das prozessuale Bestimmtheitsge-
bot gern § 234 ZPO auch für die Prozessaufrechnung. 2878 Es bedarf daher der ziffernmä-
ßigen Bestimmung der eingewendeten Gegenforderung. 2879 Auch wäre ein pauschaler
Einwand der Prozessaufrechnung mit mehreren im Vorbringen bezeichneten Gegenfor-
derungen unzulässig. 2880 Jene Gegenforderung, die der Hauptforderung aus mehreren
entgegengehalten wird, ist zu bezeichnen. Der Beklagte kann aber auch für jede einzelne
mehrerer bestimmt bezeichneter Gegenforderungen die Aufrechnungseinrede erhe-
ben.2881 Zur Vornahme einer Reihung ist er nicht verptlichtet. 2882 Dem Eventualcharakter
der Aufrechnungseinrede entsprechend ist es aber zulässig, Prioritäten unter mehreren
2883 öOGH 4 Ob 42/15b = JBI 2015, 594: "Zwar kann der Beklagte eine solche Reihung vorneh-
men". öOGH 1 Ob 617/91: "Das österreichische Prozeßrecht gibt den Parteien die Möglich-
keit, Eventualanträge, die an bloß innerprozessuale Bedingungen geknüpft sind, zu stellen
[.. -1 Es muss daher wie bei allen anderen Einwendungen des Beklagten [... ] durchaus als
zulässig angesehen werden, wenn er eine Reihenfolge bestimmt, in der die von ihm einge-
wendeten Gegenforderungen geprüft werden sollen."
2884 Siehe oben Rz 18.3.
2885 OGH 4. 6. 1998, 6 C 541/91 und, darauf verweisend, 5 C 372/96 LES 1999, 308.
2886 Zum Vorstehenden OGH 3 C 264/73 LES 1981, 215; konkret für die Aufrechnungseinrede
und unter Verweis auf diese Entscheidung OGH 5 C 372/96 LES 1999, 308 Erw 15. - Siehe
aber unten Rz 18.23.
2887 Siehe nur A. Kodek in Rechberger/Klicka, ZPO 5 § 482 Rz 5 mwN.
2888 OGH 4. 6. 1998, 6 C 541/91 Erw 15 (unveröffentlicht).
2889 OGH 5 C 372/96 LES 1999, 308 (310f unter Hinweis auf OGH 4. 6. 1998, 6 C 541/91); 3 C
264/73 LES 1981, 215 (keine Klageerweiterung oder Klageänderung im Berufungsverfahren
zulässig).
18.21 Doch ist hervorzuheben, dass der öOGH eine dezidiert aA vertritt: 2890
,,Anders als eine Klage bestimmt eine Aufrechnungseinrede aber nicht den Streitgegen-
stand des Prozesses. Vielmehr strebt der Beklagte damit die Vernichtung des Klagean-
spruchs an, das Bestehen der Gegenforderung ist dafür nur Vorfrage".
18.22 Setzte sich dieses (österr) Rechtsprechungsverständnis in Liechtenstein durch, nämlich,
dass die Aufrechnungseinrede zwar ein Sachantrag sei, den Streitgegenstand aber ange-
sichts ihres reinen Verteidigungscharakters nicht verändere, wäre die Aufrechnungsein-
rede im Lichte der Neuerungserlaubnis nach § 437 Abs 3 ZPO und § 438 Abs 2 ZPO in
der Berufung oder der Berufungsmitteilung noch zulässig und rechtzeitig.
18.23 Und ganz eindeutig ist die Haltung der liechtensteinischen Rsp in dieser Frage auch
wieder nicht: Anders als in den beiden bisher genannten Entscheidungen, in denen der
OGH die Zulassung der Aufrechnungseinrede erstmals im Berufungsverfahren explizit
verneinte, 2891 nahm der OGH einmal implizit (und wohl obiter) einen anderen Stand-
punkt ein. In der Revision monierte der Beklagte, dass das Berufungsgericht über die
erstmals in der Berufung erhobene Aufrechnungseinrede nicht spruchmäßig entschieden
habe. Der OGH bejahte einen Verfahrensmangel dem Grunde nach, weil das Berufungs-
gericht die Gegenforderung nur in der Begründung als nicht berechtigt beurteilt habe,
verneinte den Revisionsgrund aber dennoch, weil durch die fehlende spruchmäßige Ab-
weisung der Gegenforderung nur der Kläger beschwert sei. 2892 Das letzte Wort in der
Sache dürfte also noch nicht gesprochen sein.
D. Entscheidung
1. Grundsätzlich
18.24 Die Entscheidung über die Aufrechnungseinwendung erfolgt im Urteilsspruch. Die Pro-
zessaufrechnung ist eine Eventualeinrede. 2893 Über sie darf nur entschieden werden,
wenn die Klageforderung zu Recht besteht. Dies folgt aus § 411 ZPO, wenn dort be-
stimmt ist, dass die Entscheidung über die Aufrechnungseinrede (nur) bis zur Höhe
der festgestellten Klageforderung in Rechtskraft erwächst. Dementsprechend entfällt eine
Entscheidung über die Gegenforderung, wenn die Klageforderung nicht besteht und des-
halb abzuweisen ist. 2894 Dies gilt auch bei Abweisung der Aufrechnungseinrede. Jener
Teil der Gegenforderung, der die Klageforderung übersteigt, kann neuerlich eingeklagt
werden. 2895
18.25 Ist über die Prozessaufrechnung zu entscheiden, weil die Klageforderung (ganz oder
teilweise) begründet ist, besteht der Spruch aus drei Gliedern. Im ersten Teil werden
Bestand und Höhe der Klageforderung festgestellt, im zweiten Bestand und Höhe der
Gegenforderung, maximal bis zur Höhe der Klageforderung, und im dritten wird der
logische Schluss gezogen und die Klage entweder abgewiesen oder der Beklagte zu
einer Leistung verurteilt. Wird im zweiten Teil des Spruchs der Einwand der Auf-
rechnung mit der Gegenforderung abgewiesen, so kommt es im dritten Teil zu einer
Verurteilung des Beklagten zur Leistung in Höhe der Klageforderung. 2896 Wird im
zweiten Teil des Spruchs die Gegenforderung in einem geringeren Umfang als die
Klageforderung festgestellt, so erfolgt die Verurteilung zur Leistung im verrechnungs-
freien Umfang. 2897 Wird andererseits die Gegenforderung in Höhe der Klageforde-
rung festgestellt, so wird die Klage im dritten Teil des dreigliedrigen Spruchs abge-
wiesen. 2898
Sollte der Richter die Gegenforderung überschießend feststellen, in einem Umfang 18.26
nämlich, der über die Höhe der Klageforderung hinausgeht, so wird die Klage abgewie-
sen. Der zweite Teil des dreigliedrigen Spruchs wird dann dennoch nur bis zur Höhe der
abgewiesenen Klageforderung rechtskräftig(§ 411 ZPO). 2899
Wenn die Klageforderung besteht, die Gegenforderung aber nicht, müsste der Ein- 18.27
wand der Aufrechnung im Spruch abgewiesen werden. 2900 Gleiches gilt, wenn die Ge-
genforderung aus materiell-rechtlichen Gründen nicht aufrechenbar ist. 2901 Indessen be-
gnügt sich die Praxis häufig mit einem einteiligen Spruch, in dem sie der Klage einfach
nur stattgibt. 2902 Wenn die Klageforderung besteht, die Prozessaufrechnung aber unzu-
lässig ist, so wäre der Einwand der Aufrechnung im zweiten Teil des dreigliedrigen
Spruchs als unzulässig zurückzuweisen. 2903
Besteht die Klageforderung nicht, wird die Klage abgewiesen. Eine Entscheidung über 18.28
die Gegenforderung hat dann zu unterbleiben(§ 411 ZPO). 2904
In einer Konstellation, in der die Gegenforderung unstrittig ist, die Klageforderung aber 18.29
nicht, darf nicht sofort zur Klageabweisung geschritten werden. Sondern iS der Beweis-
erhebungstheorie ist das Verfahren über die Klageforderung bis zur Entscheidungsreife
fortzuführen. 2905
2. Teilurteil
a) Teilurteil über Klageforderung
18.30 Gern § 391 Abs 3 ZPO kann im Fall der Erhebung der Aufrechnungseinrede auch mit
einem Teilurteil vorgegangen werden, allerdings - ob des Eventualcharakters der Pro-
zessaufrechnung - nur über die Klageforderung, sobald insoweit Entscheidungsreife
eingetreten ist, und nur dann, wenn zwischen Klageforderung und Gegenforderung kein
rechtlicher Zusammenhang besteht.
18.31 Ein das Teilurteil ausschließender rechtlicher Zusammenhang zwischen Klageforderung
und Gegenforderung besteht, wenn beide in ein und demselben Vertrag, einer einzigen
gesetzlichen Vorschrift oder einem einheitlichen Rechtsverhältnis wurzeln oder auf einen
einheitlichen Lebenssachverhalt zurückgehen, der unter gleichen rechtlichen Gesichts-
2906
punkten zu würdigen ist. Der Rsp genügt ein starker wirtschaftlicher Zusammenhang
zwischen Klageforderung und Gegenforderung, ,,der die Durchsetzung des Klagsan-
spruchs ohne Rücksicht auf die Gegenforderung als Treu und Glauben widersprechend
2907
erscheinen ließe". Ein rechtlicher Zusammenhang besteht zwischen wechselseitigen
Schadensersatzforderungen aus einem Verkehrsunfall, einer Mietzinsforderung und
dem Anspruch des Mieters auf Rückzahlung der von ihm erlegten Kaution, dem Rück-
zahlungsanspruch aus Krediten zur Errichtung eines Hauses und der Gegenforderung
eines Benützungsentgelts, der Forderung aus Warenlieferung und Gegenforderung aus
der Verletzung der Lieferpflicht, dem Bereicherungsanspruch des Bestandnehmers wegen
Überzahlung und dem Bestandzins aus dem Bestandvertrag udgl. 2908 Kein hinreichender
Zusammenhang besteht zwischen einer Darlehensforderung und der Schadenersatzfor-
derung wegen Verweigerung der Gewährung eines weiteren Darlehens oder bei Ansprü-
2909
chen aus nur gleichartigen Verträgen.
18.32 Das Teilurteil lautet in einem ersten Spruchteil auf Verurteilung zur Leistung und in
einem zweiten würde ausgesprochen, dass die Entscheidung über die Gegenforderung
dem Endurteil vorbehalten wird. 2910 Das rechtskräftige Teilurteil ist selbstständig voll-
streckbar, doch kann der Beklagte einen Exekutionsaufschub nach Art 24 lit a EO bean-
tragen.2911
b) Endurteil
18.33 Im fortgesetzten Verfahren ist über die Gegenforderung und die Aufrechnung nach Maß-
gabe der Sachlage zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung erster
Instanz über die Hauptforderung zu entscheiden. 2912 Ließe man die Erhebung der Auf-
rechnungseinrede allerdings auch noch im Berufungsverfahren zu, 2913 dann müsste man
den Zeitpunkt auf den Schluss der mündlichen Verhandlung des Berufungsverfahrens 2914
verschieben. Sollte die Klageforderung nachher erfüllt worden sein, bliebe das unbeacht-
lich2915 und die nachträgliche Erfüllung der Gegenforderung ebenfalls. 2916 Wird die Ge-
genforderung im Endurteil als bestehend anerkannt, lautet der Spruch auf Feststellung
von Bestand und Höhe der Gegenforderung (bis zur Höhe der Klageforderung maximal)
und darauf, dass die Klageforderung durch Aufrechnung erloschen ist. 2917 Sollte der Be-
klagte die Klageforderung in der Zwischenzeit erfüllt haben, entstünde ein Anspruch auf
Rückforderung aus Bereicherung gern § 1435 ABGB. 2918
Besteht die Gegenforderung nicht oder ist sie nicht aufrechenbar, so wird der Einwand 18.34
der Aufrechnung im Endurteil abgewiesen. Ein weiterer Ausspruch über die Klagefor-
2919
derung entfällt dann. Bei Unzulässigkeit der Prozessaufrechnung wäre der Einwand
der Aufrechnung im Endurteil als unzulässig zurückzuweisen. 2920
Das Endurteil entscheidet jeweils auch über die Kosten des gesamten Verfahrens. 2921 18.35
E. Aufrechnung im Oppositionsprozess
Die durch Aufrechnung eingetretene Schuldtilgung bildet einen Oppositionsgrund. 2922 18.36
Die Aufrechnungseinrede im Oppositionsprozess ist in Wahrheit außergerichtliche Auf-
2923
rechnung und erfolgt unbedingt. Allerdings darf eine Oppositionsklage nur dann auf
Aufrechnung gestützt werden, wenn die Aufrechnungseinrede im Titelverfahren aus
objektiven Gründen nicht erhoben werden konnte. 2924 Subjektive Hinderungsgründe
sind dabei unbeachtlich. 2925 In der Regel bildet die Aufrechnung einen Oppositions-
grund also nur, wenn die Aufrechnungslage erst nach dem Titelverfahren eingetreten
ist. In besonderen Verfahren kann aber die Prozessaufrechnung im Titelverfahren aus-
geschlossen2926 oder nicht an der Unterlassung des Verpflichteten als Beklagter des Titel-
verfahrens gescheitert sein 2927 . Dann kann eine Oppositionsklage auch auf Aufrechnung
mit Gegenforderungen gestützt werden, die bereits während des Titelprozesses aufre-
chenbar waren.
18.37 Von der Einschränkung wird bei gerichtlichen Vergleichen und vollstreckbaren Nota-
riatsakten, nicht aber bei Schiedssprüchen Abstand genommen. 2928 Hier kann eine Auf-
rechnung mit Gegenforderungen immer erklärt werden, die bereits vor der Schaffung des
Titels aufrechenbar waren.
18.38 Bei der Aufrechnung gegen Kostenforderungen setzt sich das „Akzessorietätsprinzip"
durch. Gegen in Exekution gezogene Kosten eines Gerichts- oder Schiedsverfahrens kann
nicht mit Forderungen aufgerechnet werden, die nicht zur Aufrechnung gegen die
Hauptforderung verwendet werden könnten, sofern (und weil) die Kostenforderung
ein Annex der Hauptforderung ist. 2929 Hätte die Aufrechnungseinrede im Titelverfahren
gegen die Hauptforderung geltend gemacht werden können, unterblieb sie aber, dann
scheitert die Aufrechnungseinrede als Oppositionsgrund auch gegen in Exekution gezo-
gene Kostenforderungen. Indessen bildet die Aufrechnung gegen eine Kostenforderung
einen Oppositionsgrund, wenn das Unterbleiben der Aufrechnung im Titelverfahren für
2930
das Entstehen der Kostenforderung unerheblich war.
2925 RIS-Justiz RS000l416; öOGH 3 Ob 3/97f (Unkenntnis irrelevant). Ein anderer Rechtssatz
werde aber die Relevanz der Unkenntnis nahelegen, RIS-Justiz RS0000776: nEs muss gefordert
werden, dass der Verpflichtete im Verfahren, welches zum Exekutionstitel führt, seine Kom-
pensationsansprüche geltend macht, soferne ihm die Tatsachen, welche die Möglichkeit der
Kompensation begründen, schon in diesem Stadium bekannt sind."
2926 Siehe die der E OG 8 CG 2015.469 LES 2017, 214 zugrunde liegende Konstellation, in der
ein ausländischer Schiedsspruch zugunsten einer liechtensteinischen Rechtsperson in Ö zur
Vollstreckung beantragt wurde, das dortige Exekutionsverfahren scheiterte und die zuge-
sprochenen Kosten in Liechtenstein in Exekution gezogen wurden: Oppositionsklage
gestützt auf Aufrechnung mit einer Gegenforderung (aus dem Schiedsspruch) wurde zu-
gelassen, weil im österr Titelverfahren (Exekutionsverfahren) eine Aufrechnungseinrede
nicht erhoben werden konnte. Weitere Bsp bei Jakusch in Angst/Oberhammer, EO 3 § 35
Rz 56.
2927 Ein solcher Fall läge etwa vor, wenn das Titelfahren ein Schiedsverfahren war und das
Schiedsgericht auf die eingewendete Gegenforderung nicht einging, öOGH 3 Ob 66/12w.
2928 Holly in Kletecka/Schauer, ABGB-ON 104 § 1438 Rz 49 mwN.
2929 öOGH 3 Ob 290/05a; 3 Ob 66/12w.
2930 öOGH 3 Ob 66/12w.
wisse Ähnlichkeit besteht zur Oppositionsklage, 2931 allerdings mit dem Unterschied,
dass die Oppositionsklage einen rechtskräftigen Titel voraussetzt, die Erfüllung des
Titels feststellt und die Exekution aufhebt, während die Aberkennungsklage auf die
Beseitigung eines nur vorläufigen Titels abzielt (Art 53 Abs 4 RSO) und das zugrun-
de liegende Titelverfahren keinerlei Präjudizwirkung für das Aberkennungsverfah-
ren zeitigt (Art 53 Abs 3 RS0) 2932 . Die Aberkennungsklage richtet sich gegen eine
provisorische Rechtsöffnung, die nach einem vorangehenden Schuldentrieb-
(§§ 577ff ZPO) oder Rechtsbotverfahren (§§ 593a ff ZPO) erteilt wird, wenn Zahl-
befehl oder Rechtsbot zwar widerspruchsbedingt außer Kraft traten, im Rahmen der
Rechtsöffnung aber aufgrund prima vista glaubwürdiger Urkunden (Art 49 Abs 1 lit a
RSO) ein vorläufiger Exekutionstitel dennoch geschaffen wurde (Art 51 f RSO). Die
Aberkennungsklage ist eine materiell-rechtliche negative Feststellungsklage, 2933 die
auf die Feststellung des Nichtbestehens der dem Zahlbefehl zugrunde liegenden For-
derung und die dementsprechende Aufhebung der Rechtsöffnung abzielt (Art 53
Abs 4 RSO). Die Aberkennungsklage ist erfolgreich, wenn die materiell-rechtliche
Forderung zum Zeitpunkt der Erteilung des Zahlbefehls nicht bestand oder nicht
fällig war, 2934 genauso aber auch, wenn spätere Einwände rechtsvernichtende oder
rechtshemmende Wirkung zeitigen. 2935 Die nachträgliche Erfüllung des der Rechts-
öffnung zugrunde liegenden Anspruchs soll der Feststellungsklage (nach einer neue-
ren Entscheidung) allerdings das Rechtsschutzbedürfnis entziehen und zur Abweisung
führen. 2936 Die Parteirollen sind im Verhältnis zur materiell-rechtlichen Verteilung
von Gläubiger und Schuldner verkehrt. 2937 Der Aberkennungskläger ist der angeb-
liche Schuldner und der Aberkennungsbeklagte der angebliche Gläubiger. Auf die
Beweislastverteilung hat diese Umkehrung der Parteirollen keine Auswirkungen
(Art 53 Abs 3 RSO).
2931 Die Oppositionsklage dient der Feststellung des Erlöschens bzw der Hemmung des dem Exe-
kutionstitel zugrunde liegenden Anspruchs als auch der Unzulässigerklärung jeglicher
Zwangsvollstreckung aus dem Exekutionstitel, Jakusch in Angst/Oberhammer, E0 1 § 35
Rz 3. Sie ist schwer von der negativen Feststellungsklage, die auf die Feststellung des Nicht-
bestehens des im Exekutionstitel verbrieften Rechts gerichtet ist, abzugrenzen, Jakusch in
Angst/Oberhammer, E0 3 Rz 35 Rz 8ff.
2932 BGE 68 III 85 (87): .,Der Betriebene kann alle Einreden gegen die Forderung vorbringen,
sowohl diejenigen, die er bereits im Rechtsöffnungsverfahren geltend gemacht hat, die dort
aber als unbegründet erklärt wurden, als auch alle andern, selbst wenn sie erst nach der
Rechtsöffnung entstanden sind. Eine Beschränkung des Schuldners auf diejenigen Einreden,
die bereits im Zeitpunkt der Zustellung des Zahlungsbefehls bestanden haben, hiesse das for-
melle Recht dem materiellen in einer Weise voranzustellen, die den oben erwähnten Charak-
ter des Betreibungsrechtes als eines blossen Hilfsmittels für die Verwirklichung des materiel-
len Rechts nicht entspräche."
2933 OGH E 2551/76 LES 1981, 207; 10 CG 2011.63 GE 2013/100; Staehelin in Staehelin!Bauerl
Staehelin, SchKG 12 Art 83 Rz 14 mwN.
2934 OGH 8 CG 2010.262 GE 2014/309 Erw 8.1.
2935 OGH 8 CG 2010.262 GE 2014/309 Erw 8.1; BGE 68 III 85.
2936 OGH 10 CG 2011.63 GE 2013/100 Erw 8.1.2.4, 8.1.3.1.
2937 BGE 68 III 85.
18.40 Die Aufrechnungseinrede steht auch bei der Aberkennungsklage zu. 2938 Die Besonder-
heit liegt allerdings darin, dass in diesem Fall der Aberkennungskläger den Einwand
erhebt und nicht der Beklagte. Indessen behält die Aufrechnungseinrede - nach der hier
vertretenen Auffassung - ihre Funktion als Doppeltatbestand als materiell-rechtliche
Aufrechnung und (bedingte) Prozessaufrechnung in einem. 2939 Damit die Aberken-
nungsklage aufrechnungsbedingt überhaupt erfolgreich sein kann, muss sich der Aber-
kennungskläger sogar - nach der schon erwähnten neueren Entscheidung des OGH - der
bedingten Prozessaufrechnung bedienen, die Aufrechnung also nur für den Fall erklären,
dass die der Rechtsöffnung zugrunde liegende Forderung zurecht besteht. Erklärt er näm-
lich die Aufrechnung unbedingt, wäre die Forderung anerkannt und erfüllt und das
Rechtsschutzbedürfnis, das während der gesamten Dauer des Verfahrens vorhanden sein
muss, nach dem OGH entfallen. 2940
18.41 § 411 ZPO muss auch im Aberkennungsverfahren zum Tragen kommen und über den
Aufrechnungseinwand spruchmäßig zu entscheiden sein. 2941 Dafür kommt ein zwei-
gliedriger Spruch wie im Verhältnis beim Endurteil, das einem Teilurteil nachfolgt, in
Betracht oder auch der typisch dreigliedrige Spruch. Wie sich die Gerichte positionie-
ren werden, wird abzuwarten sein.
18.42 Bei der Zweigliedrigkeit würde im ersten Spruchteil Bestand und Höhe der Gegenfor-
derung festgestellt und im zweiten festgehalten, dass die der Rechtsöffnung zugrunde
liegende Forderung nicht besteht und die Rechtsöffnung aufgehoben wird.
18.43 Der Spruch könnte aber auch in dieser Konstellation der herkömmlichen dreigliedrigen
Form entsprechen. Im ersten Teil würde die der Rechtsöffnung zugrunde liegende For-
derung festgestellt, im zweiten die Höhe der Gegenforderung, maximal bis zur Höhe der
der Rechtsöffnung zugrunde liegenden Forderung, und im dritten Teil würde festgestellt,
dass die der Rechtsöffnung zugrunde liegende Forderung durch Aufrechnung erloschen
ist und die Rechtsöffnung daher beseitigt wird. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der
Bindung an das Begehren der Aberkennungsklage wäre darin nicht zu sehen (§ 405
ZPO), wenn im ersten Teil des Spruchs die der Rechtsöffnung zugrunde liegende Forde-
rung als bestehend festgestellt wird, während der Kläger deren Nichtfeststellung bean-
tragte. Würde die Aberkennungsklage nämlich abgewiesen, läge darin {in der Regel) eine
implizite Feststellung des Bestehens der der Rechtsöffnung zugrunde liegenden Forde-
rung.2942 Im Fall der Abweisung der Klage spräche folglich nichts dagegen, eine solche
2938 BGE 68 lll 85 (88f); OGH 10 CG 2011.63 GE 2013/100 (grds bejahend, Erw 8.2.3, das unter-
instanzliche LG zweifelnd Erw 5.3); Staehe/in in Staehe/in/Bauer/Staehelin, SchKG 12 Art 83
Rz 59.
2939 Siehe Staehelin in Staehelin/Bauer/Staehelin, SchKG I2 Art 83 Rz 59: Die Rechtskraftwirkun-
gen beziehen sich auch auf einen zur Verrechnung gestellten Gegenanspruch. - Dann muss es
sich um eine Aufrechnungseinrede handeln, weil die außergerichtliche Aufrechnung nur in
der Begründung des Urteils, nicht rechtskraftfähig, behandelt wird (s nur Klicka in Fasching/
Konecny III/2J § 411 ZPO Rz 21).
2940 OGH 10 CG 2011.63 GE 2013/100 Erw 8.1.3.
2941 Vgl Staehelin in Staehelin/Bauer/Staehelin, SchKG 12 Art 83 Rz 59 (über Gegenforderung ist
rechtskraftfähig zu entscheiden).
2942 Vgl zum Umfang der Rechtskraft bei Klageabweisung nur Rechberger/K/icka in Rechberger/
Klicka, ZPO~ § 411 Rz 10.
Feststellung transparent zu machen und auf dieser Grundlage, die Klage abzuweisen. Der
Zwischenschritt wäre bei der Stattgebung der Aberkennungsklage genauso zulässig wie
bei der Abweisung, wenn die der Rechtsöffnung zugrunde liegende Forderung bestand,
aber prozessaufrechnungshalber erloschen war. Ein Unterschied zur gewöhnlichen Kon-
stellation, in der die Aufrechnungseinrede vom Beklagten kommt, besteht eigentlich
nicht.
den Sachverhalt begrenzt. Eine Änderung des Streitgegenstands erlauben die Bestimmun-
2946
gen nicht.
18.46 Angesichts des Erfordernisses der logischen Abhängigkeit der Lösung der Hauptfrage
vom Bestand oder Nichtbestand des Rechtsverhältnisses, das Gegenstand des Zwischen-
feststellungsantrags ist, muss über das Klagebegehren noch entschieden werden können,
damit ein Zwischenantrag auf Feststellung zulässigerweise gestellt werden kann. Das wäre
nicht mehr der Fall, wenn auf den Klagsanspruch verzichtet wurde, die Klage zurück-
genommen wurde oder über die Klage bereits eine rechtskräftige Entscheidung vor-
liegt.2947 Zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Zwischenantrag auf Feststellung
muss die Streitanhängigkeit also noch aufrecht sein.
18.47 Nach dem Wortlaut von§ 244 ZPO müsste das präjudizielle Rechtsverhältnis im Verlauf des
Rechtsstreits streitig geworden sein. Diese Anordnung ist allerdings nicht wörtlich zu neh-
men. Es reicht, wenn das Rechtsverhältnis im Verlauf des Prozesses (noch) streitig ist. 2948
C. Allgemeine Voraussetzungen
18.48 Für den Zwischenantrag müssen die allgemeinen Prozessvoraussetzungen vorliegen und
es dürfen keine Prozesshindernisse 2949 bestehen. 2950 Ist der Feststellungsanspruch bereits
in einem anderen Verfahren streitanhängig oder liegt darüber eine rechtskräftige Ent-
scheidung vor, ist die Stellung nicht mehr zulässig, sondern der Antrag zurückzuwei-
sen.2951 Die inländische Gerichtsbarkeit muss gegeben sein und die internationale Zu-
ständigkeit.2952 Da das Vorliegen eines präjudiziellen Rechtsverhältnisses auch zum Ge-
genstand einer Widerklage gemacht werden könnte (§ 48 Abs l JN), bildet die interna-
tionale Zuständigkeit in der Regel kein Hindernis, weil der Gerichtsstand der
Widerklage eben diese internationale Zuständigkeit begründet 2953 .2954
18.49 An der Voraussetzung der internationalen Zuständigkeit würde es fehlen, wenn die Zu-
ständigkeit der inländischen Gerichte überhaupt durch eine negative Gerichtsstandsver-
einbarung derogiert wurde. 2955 Rügeloses Einlassen würde den Mangel allerdings heilen
(§ 53 Abs 3 JN).
18.50 Die Zulässigkeit des streitigen Rechtswegs muss ebenfalls gegeben sein.
2956
2946 OGH SC 372/96 LES 1999, 308 (311 mit Verweis aufOGH 4.6.1998, 6 C 541/91).
2947 Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht 9 Rz 617.
2948 Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht' Rz 617 mwN; Deix/er-Hübner in Fasching/Konecny III/
13 § 236 ZPO Rz 6.
2949 RIS-Justiz RS0039546 (weil der Zwischenantrag auf Feststellung einer Klage gleich zu halten
ist).
2950 Rechberger Simotta, Zivilprozessrecht 9 Rz 61 7 f; KodeklMayr, Zivilprozessrecht' Rz 521; Deix-
/er-Hübner in Fasching/Konecny III/ 13 § 236 ZPO Rz 11 ff.
2951 RIS-Justiz RS0039546 (weil der Zwischenantrag auf Feststellung einer Klage gleich zu halten
ist).
2952 Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht 9 Rz 617.
2953 Nachweise dazu oben FN 34.
2954 Siehe aber unten Rz 18.58 und 18.69.
2955 Siehe oben Rz 18.11 und unten Rz 18.68.
2956 Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht9 Rz 617.
D. Besondere Voraussetzungen
1. Feststellungsinteresse
a) Präjudizialität
Andererseits verlangt § 244 Abs I ZPO eine denk.logische Abhängigkeit der Hauptfrage 18.51
von der Lösung der Vorfrage. Der Zwischenantrag auf Feststellung kann daher nur für
ein präjudizielles Recht oder Rechtsverhältnis gestellt werden. Die Frage der Präjudizia-
lität ist gleich zu lösen wie bei§ 190 ZP0, 2957 der anordnet, ob und wann ein Verfahren
wegen Behandlung einer präjudiziellen Vorfrage in einem anderen Verfahren unterbro-
chen werden darf. Die Präjudizialität muss in beide Richtungen gehen, also sowohl für
die Stattgebung als auch die Ablehnung der Klage ganz oder teilweise maßgeblich sein.
Ein identisches Anspruchsziel führt nicht notwendig zu einer Präjudizialität, wenn die 18.52
Anspruchsgrundlagen verschiedene sind. Begehrt zB der Begünstigte einer Stiftung den
Rücktritt eines Stiftungsrats im streitigen Verfahren auf der Grundlage eines Mandats-
vertrags und im außerstreitigen Verfahren die Abberufung aus wichtigen Gründen, so
stehen die beiden Verfahren nicht im Verhältnis der Präjudizialität, auch wenn der Erfolg
im einen Verfahren das Rechtsschutzbedürfnis 2958 im anderen beseitigte. Von einer Prä-
judizialität wäre andererseits auszugehen, wenn im Rahmen der Rücktrittsklage streitig
wird, ob der Beklagte überhaupt gültig zum Mitglied des Stiftungsrats bestellt wurde,
kann doch die Rücktrittsklage nur erfolgreich sein, wenn der Beklagte tatsächlich Mit-
glied des Stiftungsrats ist. 2959 Die Zulässigkeit eines darauf gerichteten Zwischenantrags
auf Feststellung hängt allerdings von weiteren Fragen ab. Einmal davon, ob die Feststel-
lung der GültiJteit eines Bestellbeschlusses ausschließlich im Außerstreitverfahren zu
erfolgen hat, 29 0 ist doch das Außerstreitverfahren ein Sonderverfahren in § 244 Abs 2
ZPO, andererseits davon, ob die Voraussetzungen für die Feststellung eines Drittrechts-
verhältnisses in concreto vorliegen. 2961 Denn das organschaftliche Verhältnis des beklag-
ten Mitglieds des Stiftungsrats besteht unmittelbar zur Stiftung und strahlt nur mittelbar
auf die Begünstigten, also auch den klagenden Begünstigten aus. Tendenziell dürfte das
zu verneinen sein, in diesem Absatz geht es aber nur um die Darstellung der Präjudizia-
lität als solcher.
Andererseits reicht es für die Präjudizialität, wenn der Klageanspruch auf mehrere Rechts- 18.53
2962
gründe gestützt wird, die Vorfrage aber nur für einen dieser Gründe präjudiziell ist. Die
2963
Präjudizialität muss tatsächlich vorliegen; eine theoretische reicht nicht. Beim Zwi-
schenfeststellungsantrag des Beklagten besteht Präjudizialität daher nur für solche Rechts-
verhältnisse, die das Gericht seiner Entscheidung tatsächlich zugrunde legte. Wird die Kla-
ge aus einem Grund abgewiesen, der mit dem Rechtsverhältnis, auf das sich der Zwischen-
antrag auf Feststellung bezog, nichts zu tun hat, liegt Präjudizialität nicht vor. 2964
2. Kein Sonderverfahren
18.56 Sondervoraussetzungen stellt darüber hinaus § 244 Abs 2 ZPO auf. Danach ist ein Zwi-
schenfeststellungsantrag nur zulässig, wenn für die Entscheidung über den Anspruch
3. Sachliche Zuständigkeit?
Die österr Parallelbestimmung zu § 244 Abs 2 ZPO, § 36 Abs 2 öZPO, verlangt für die 18.57
Zulässigkeit des Zwischenantrags auf Feststellung außerdem das Vorliegen der sachlichen
Zuständigkeit des Prozessgerichts. Diese Voraussetzung ist in Liechtenstein nicht aufge-
nommen. Örtliche oder sachliche Zuständigkeit sind in Liechtenstein daher keine Zu-
lässigkeitsvoraussetzungen für den Zwischenantrag auf Feststellung. Ob ein Zwischen-
antrag auf Feststellung eines Rechtsverhältnisses gestellt werden kann, für das eine
Schiedsabrede gilt, ist dennoch ungewiss. Bei Vorliegen einer Schiedsabrede sind die
ordentlichen Gerichte sachlich unzuständig, doch ist die sachliche Zuständigkeit in
Liechtenstein kein gesetzliches Kriterium. Das Schiedsverfahren dürfte allerdings als Son-
derverfahren iSv § 244 Abs 2 ZPO zu qualifizieren sein. Nur ist zu beachten, dass die
Unzuständigkeit der ordentlichen Gerichte bei einer Schiedsabrede auf Vereinbarung be-
ruht. Sie wäre daher durch rügeloses Einlassen heilbar, 2978 was auch im Rahmen von
§ 244 Abs 2 ZPO beachtlich sein sollte.
Ob die sachliche Zuständigkeit in Liechtenstein wirklich nie eine Rolle spielt, ist trotz 18.58
des von der österr Rezeptionsvorlage abweichenden Gesetzestextes zweifelhaft. Die Weg-
lassung gegenüber der österr Rezeptionsvorlage wird va dem geschuldet sein, dass man
angesichts der Allzuständigkeit des liechtensteinischen LG für die Übernahme des österr
Zuständigkeitskriteriums keinen Bedarf sah. 2979 Man stelle sich eine Konstellation vor, in
der eine ausländische Gesellschaft einen aus dem Gesellschaftsverhältnis geschuldeten
Beitrag gegen einen in Liechtenstein ansässigen Gesellschafter einklagt und dieser liech-
tensteinische Gesellschafter durch Zwischenfeststellungsantrag die Nichtigkeit der Be-
schlussfassung der Gesellschaftsversammlung festgestellt wissen will, auf der die Beitrags-
pflicht gründet. Die Nichtigkeitsklage gegenüber Gesellschafterbeschlüssen ist übli-
cherweise eine Feststellungsklage, aber mit erga-omnes-Wirkung gegenüber sämtlichen
Gesellschaftern. 2980 Denn ein Beschluss kann nur für alle Gesellschafter entweder gelten
oder nicht gelten (vgl Art 179 Abs 3 PGR). Damit die Möglichkeit zur Streitbeteiligung
sämtlicher Gesellschafter gegeben und die Wirkung einer Nichtigkeitsentscheidung auf
die Gesellschaft unstrittig ist, bestehen rechtsvergleichend typischerweise zwingende
sachliche Zuständigkeiten des Handelsgerichts am Sitz der Gesellschaft - so auch in
Liechtenstein (Art 114 Abs l und Abs 2 PGR) - mit Verbindungspflicht und ähnlichem
für parallele Nichtigkeitsklagen. 2981 • Ein Zwischenantrag auf Feststellung in Liechtenstein
kann solche Wirkungen bei der ausländischen Gesellschaft nicht erzeugen. Damit ent-
behrt ein solcher Zwischenfeststellungsantrag aber der über den konkreten Prozess hin-
ausgehenden Wirkung, dem Feststellungsinteresse. Im Rahmen der Leistungsklage der
Gesellschaft darf das liechtensteinische Gericht die Gültigkeit des zugrunde liegenden
Gesellschafterbeschlusses, durch den die Leistungspflicht des Gesellschafters begründet
wurde, daher nur als Vorfrage beurteilen.
E. Entscheidung
18.59 Liegen die Voraussetzungen für die Zulässigkeit des Zwischenantrags auf Feststellung
nicht vor, ist er mit Beschluss zurückzuweisen. 2982 Andernfalls ist über den Zwischen-
feststellungsantrag mittels Urteils zu entscheiden, entweder im Rahmen eines Zwischen-
urteils, wenn die Entscheidungsreife über den Feststellungsanspruch früher eintritt, sonst
im Endurteil(§ 393 Abs 2, § 41 l Abs l ZPO). 2983
IV. Widerklage
A. Begriff und Charakteristik
18.60 Die Widerklage ist eine selbstständige Klage des Beklagten gegen den Kläger eines bereits
eröffneten Verfahrens, die zwischen Beginn der Streitanhängigkeit und dem Schluss der
mündlichen Verhandlung erster Instanz beim LG erhoben werden kann und mit welcher
ein Anspruch geltend gemacht wird, der mit dem Streitgegenstand der Vorklage in en-
gem Zusammenhang steht. 2984 Dementsprechend ergeht die Entscheidung über das Wi-
derklagebegehren in Urteilsform (§ 411 Abs l ZPO). Voraussetzung für die Zulässigkeit
der Widerklafe sind demnach die Identität der Streitparteien (nur mit verkehrten Par-
teirollen), 298· die Streitanhängigkeit der Hauptklage, 2986 die aufrechte Dauer des
Hauptverfahrens in erster Instanz, die mündliche Verhandlung erster Instanz darf also
noch nicht geschlossen sein (§ 48 Abs 2 JN, § 241 Abs 2 ZPO), sowie ein enger Sach-
zusammenhang mit der Vorklage(§ 48 Abs 1 JN). Da die Widerklage eine selbstständige
Klage ist, für die § 232 ZPO 2987 gilt, 2988 können unter den gesetzlichen Voraussetzungen
sämtliche Klagearten verwendet werden; die Widerklage kann Leistungsklage, Feststel-
lungsklage oder Gestaltungsklage 2989 sein. 2990
B. Besondere Voraussetzungen
nis während des Prozesses noch streitig ist. 2996 Die Präjudizialität ist gleich zu lösen wie
bei § 190 ZPO, der die Unterbrechung eines Verfahrens wegen der Streitanhängigkeit
eines präjudiziellen Verfahrens über eine Vorfrage regelt. 2997 Die Widerklage wegen Prä-
judizialität ist eine Feststellungsklage, doch wird, soweit erkennbar, das Vorliegen eines
rechtlichen Interesse gern § 234 ZPO neben der Präjudizialität (bzw in Österreich § 228
öZPO) nicht mehr besonders geprüft. 2998 Prozessökonomische Rücksichten dürften da-
bei eine Rolle spielen. 2999 Wie beim Zwischenantrag auf Feststellung ist allerdings zu
fordern.3 000 dass das präjudizielle Rechtsverhältnis, dessen Feststellung mittels Widerkla-
ge gefordert wird, zwischen den Parteien weiter wirken muss, über den konkreten
Rechtsstreit, der Gegenstand der Hauptklage ist, hinaus. Denn wenn das über die Haupt-
klage ergehende Urteil das Rechtsverhältnis zwischen den Parteien erschöpfend regelte,
müsste man das Feststellungsinteresse verneinen. 3001 Und würde das Rechtsverhältnis
nicht über den konkreten Rechtsstreit hinausstrahlen, ließe sich auch nur schwer, iS
des Wortlauts von § 96 Abs 1 JN, von einem zwischen den Parteien im Zuge des Haupt-
verfahrens „streitig gewordene[n]" Rechtsverhältnis sprechen. - Feststellungsfähig sind
nicht abstrakte Rechtsfragen 3002 , sondern nur Rechtsverhältnisse oder Rechte 3003 .
18.64 Mittels Widerklage kann auch eine aufrechenbare Gegenforderung geltend gemacht wer-
den, ohne dass zwischen Forderung und Gegenforderung ein konnexer Zusammenhang
bestehen muss. Die Voraussetzungen der Kompensabilität sind materiell-rechtlich nach
§§ 1438ff ABGB zu prüfen. 3004
2. Prorogable Zuständigkeit?
18.65 Die in§ 96 Abs 2 öJN aufgestellte Voraussetzung, wonach die Zuständigkeit des Prozess-
gerichts für die Widerklage durch Vereinbarung der Parteien begründet werden können
muss, findet sich in § 48 Abs 2 JN nicht. In Österreich kann daher die Widerklage nicht
erhoben werden, wenn das Prozessgericht für die Widerklage sachlich oder örtlich un-
prorogabel unzuständig ist. 3005 In Liechtenstein entfällt dieses Kriterium (s aber unten
Rz 18.58 und Rz 18.69). Allerdings ist zu beachten, dass § 241 Abs 2 ZPO eine Wider-
klage nur beim LG zulässt. Eine Widerklage scheidet demnach aus, wenn das OG erst-
zuständig ist, wie es im Amtshaftungs- und Organhaftpflichtverfahren der Fall ist
(Art 10 Abs 1 AHG).
2996 Becker-Eberhard in MüKoZPO 15 § 256 Rz 83 für die weitgehend parallele Bestimmung von
§ 256 Abs 2 dZPO.
2997 Vgl Deix/er-Hübner in Fasching/Konecny IIJ/1 3 § 236 ZPO Rz 7.
2998 Siehe nur Mayr in Rechberger/Klicka, ZPO' § 96 JN Rz 2; Simotta in Fasching/Konecny 13 § 96
JN Rz 4; s auch Becker-Eberhard in MüKoZPO 15 § 256 Rz 81 (,.Die Folge ist, dass die Prüfung
des Feststellungsinteresses ... durch die Tatbestandsmerkmale des Streits über das Rechtsver-
hältnis und dessen Präjudizialität für die Hauptentscheidung ersetzt wird"; Rz 93 „Da ein
Feststellungsinteresse nicht gesondert zu prüfen ist [... I").
2999 Becker-Eberhard in MüKoZPO l5 § 256 Rz 86.
3000 Siehe oben Rz 18.54.
3001 BGH VII ZR 247/05 NJW 2007, 82 (83).
3002 Rechberger/K/icka in Rechberger/K/icka, ZPO; § 228 Rz 5 mwN.
3003 Rechberger/Klicka in Rechberger!Klicka, ZPO 5 § 228 Rz 4 mwN.
3004 Simotta in Fasching/Konecny 13 § 96 JN Rz 4.
3005 Siehe nur Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht9 Rz 626.
Der Gerichtsstand der Widerklage besteht auch, wenn für den darin geltend gemachten 18.66
Anspruch eine Schiedsvereinbarung gilt. Dennoch soll der Beklagte die Unzuständig-
3006
keitseinrede gern § 601 ZPO erheben können.
C. Allgemeine Voraussetzungen
Da die Widerklage eine selbstständige Klage ist, müssen die allgemeinen Prozessvoraus- 18.67
setzun~en vorliegen und es dürfen der Klage keine Prozesshindernisse entgegenste-
hen.300 Zu den allgemeinen Prozessvoraussetzungen zählen das Vorliegen der inländi-
schen Gerichtsbarkeit sowie die Zulässigkeit des Rechtsweges. Prozesshindernisse be-
stünden, wenn der mit Widerklage geltend gemachte Anspruch bereits in einem anderen
Verfahren streitanhängig wäre oder insoweit eine rechtskräftige Entscheidung vor-
liegt.3008 Bei der Immunität ist zu beachten, dass sich der Kläger der Hauptklage durch
deren Einbringung auch für eine Widerklage implizit der liechtensteinischen Gerichts-
barkeit unterwirft, jedenfalls für eine Widerklage wegen Konnexität oder Präjudiziali-
tät.3009 Gleiches wird bei der Widerklage, mit der eine nur kompensable Gegenforderung
geltend gemacht wird, die sonst in keinem Konnexitäts- oder Präjudizialitätsverhältnis
zur Hauptklage steht, befürwortet, allerdings nur bis zur Höhe der Forderung der Haupt-
klage.3010
Die internationale Zuständigkeit spielt eine untergeordnete Rolle, weil der Gerichts- 18.68
3011
stand der Widerklage eben diese internationale Zuständigkeit bereits vermittelt. Sie
wäre dann entfallen, wenn im Rahmen einer negativen Gerichtsstandsvereinbarung die
Zuständigkeit der liechtensteinischen Gerichte derogiert worden wäre. Da von einer sol-
chen Derogation wieder abgewichen werden kann, wäre der Mangel durch die rügelose
Einlassung allerdings geheilt (§ 53 Abs 3 JN). 3012
Ob der Gerichtsstand der Widerklage in allen Fällen die internationale Zuständigkeit 18.69
vermittelt, ist dennoch zweifelhaft (vgl Art 53 Abs 3 RSO, arg: ,,[ ... ] als dasselbe durch
übereinkommen der Partei zuständig gemacht werden kann [... ]"). Bereits im Rahmen
der Ausführungen zum Zwischenantrag auf Feststellung wurde die Konstellation behan-
delt, in der die Gesellschafterversammlung einer ausländischen Kapitalgesellschaft
Nachschüsse der Gesellschafter beschließt und die Nachschussverpflichtung gegenüber
einem liechtensteinischen Gesellschafter beim LG einklagt. 3013 Die besonderen Voraus-
setzungen der Konnexität und Präjudizialität für die Erhebung einer Widerklage auf An-
fechtung des zugrundeliegenden Beschlusses wären erfüllt und die internationale Zustän-
digkeit wegen des Gerichtsstand der Widerklage an sich gegeben. Allerdings muss man
bedenken, dass es für Beschlussanfechtungsklagen üblicherweise zwingende, unproro-
gable Gerichtsstände am Sitz der jeweiligen Gesellschaft gibt, 3014 damit das rechtliche
Gehör aller Mitgesellschafter gewahrt und va sichergestellt ist, dass der Beschluss für alle
Gesellschafter entweder gilt oder nicht gilt3° 15 • Von einem zwingenden nicht derogierba-
ren Gerichtsstand für Verbandstreitigkeiten am Sitz der Gesellschaft gehen, mit Ausnah-
me der Zulässigkeit von Schiedsabreden, auch Art 114 Abs 2 und Abs 3 PGR aus. Beson-
dere Verfahrensbestimmungen sind damit typisch verbunden. 3016 Eine solche Funktion
und Wirkung könnte die Entscheidung des liechtensteinischen Gerichts, die den Gesell-
schafterbeschluss tatsächlich aufhöbe, gegenüber ausländischen Gesellschaften nicht ent-
falten. Dann müsste man dem (inländischen) Widerkläger aber entweder das Rechts-
schutzbedürfnis versagen, das allgemeine Klagevoraussetzung ist, 3017 oder doch, unter
Berufung auf Art 114 PGR, die Widerklage am Mangel der internationalen Zuständigkeit
der liechtensteinischen Gerichte trotz des Vorliegens des Gerichtsstands der Widerklage
scheitern lassen. 30111
D. Verfahrensrechtliche Besonderheiten
18.70 Es gibt einige verfahrensrechtliche Bestimmungen für die Widerklage, und zwar einer-
seits solche, die sich speziell auf sie beziehen, und andererseits solche, die bei der Wider-
klage in besonderem Maße anwendbar sind (wie§ 187 ZPO und die Befugnis zur Ver-
fahrensverbindung):
• Eine Prozessvollmacht erstreckt sich auch auf die Inempfangnahme der und Verhand-
lung über die Widerklage (§ 31 Abs 1 ZPO).
• Ein Widerkläger ist von der Pflicht zur Leistung einer aktorischen Kaution befreit
(§ 57 Abs 2 Z 4 ZPO). Auch sind die Kosten einer allfälligen Widerklage bei der Be-
messung der Kaution für die Hauptklage nicht zu berücksichtigen (§ 60 Abs 2 ZPO).
Die Befreiung vom Erlag der aktorischen Kaution wird aber nach Wegfall der Erstklage
nicht aufrechtzuerhalten sein; die selbstständige Fortführung des ursprünglichen Wi-
derklageverfahrens berechtigt zu einem nachträglichen Antrag auf Leistung einer akto-
rischen Kaution gern § 58 ZP0. 3019
• Gern§§ 187 und 404 Abs 2 ZPO können Verfahren, die zwischen den nämlichen Par-
teien geführt werden, zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden
werden. Obwohl in der Bestimmung nicht namentlich erwähnt, sind Klage und Wider-
klage ein typischer Anwendungsfall. 3020 Bei der Widerklage wegen Konnexität oder
3021
Präjudizialität wird die Verfahrensverbindung die Regel sein. Im Eheverfahren be-
steht eine Pflicht zur Verfahrensverbindung (§ 525 Abs 1 ZPO). Indessen hängt die
Zulässigkeit der Widerklage nicht davon ab, dass Klageverfahren und Widerklagever-
fahren miteinander verbunden werden können. 3022
3014 Siehe nur§ 104 Abs 4 iVm § 83b öJN; § 197 Abs 1 öAktG.
3015 Siehe nur§ 198 öAktG; Art 179 Abs 3 PGR.
3016 Vgl nur Art 179 Abs 5 iVm Art 126 PGR; §§ 197f öAktG.
3017 Allgemein OGH 10 CG 2011.63 GE 2013/100 Erw 8.1.2.4.
3018 Siehe aber OGH 9 CG 2002.63 LES 2006, 480 (481 gegen Ende).
3019 Mosser in Fasching/Konecny II/1 3 § 57 ZPO Rz 102.
3020 Mayr in Rechberger!Klicka, zpos § 96 JN Rz 1.
3021 Vgl Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht" Rz 627.
3022 Simotta in Fasching/Konecny I' § 96 JN Rz 7/4.
Für das Verhältnis zwischen Aufrechnungseinrede und Widerklage gilt ähnliches. Die 18.72
Aufrechnungseinrede ist eine Eventualeinrede, über die nur entschieden werden darf,
wenn das Klagebegehren zu Recht besteht. 3028 Dementsprechend ist auch ein Teilurteil
nur über das Klagebegehren zulässig(§ 391 Abs 3 ZPO). Sind Klageverfahren und Wider-
3029
klageverfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden, können
Übersicht
Rz
I. Prozessleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.1
A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.1
B. Formelle Prozessleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2
C. Materielle Prozessleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.3
1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.3
2. Nov LGBI 2018/207................................. 19.4
3. Anleitung durch den Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.6
4. Verhandlungsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.31
II. Verhandlungsprotokoll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.32
A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.32
B. Gestaltung des Verhandlungsprotokolls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.35
C. Protokollberichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.36
1. Richtigstellung des Protokollinhalts, Widerspruch (§ 212 ZPO) . 19.36
2. Amtswegige Berichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.39
III. Sitzungspolizei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.41
A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.41
B. Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.44
C. Umgang mit Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.46
IV. Beschleunigungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.49
A. Allgemeines .. _ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.49
B. Nov LGBI 2018/207 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.50
1. § 178 Abs 2 ZPO................................... 19.50
2. § 179 ZPO ....................................... 19.51
C. Beschleunigungsmöglichkeit aus Praktikersicht . . . . . . . . . . . . . . . 19.56
1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.56
2. Einige Anregungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.57
a) Vor der Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.57
b) In der Verhandlung .............................. 19.63
c) Nach der Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.75
d) Sonstiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.77
1. Prozessleitung
A. Allgemeines
Die Prozessleitung ist die Gerichtstätigkeit, mit der der Prozess in Gang gehalten und 19.1
beendet werden soll. 3032 Die Prozessleitung ist eine Amtspflicht des Gerichts (Rsp, nicht
Justizverwaltung 3033 ), und kann durch die Parteien (eine Ausnahme ist die in der Praxis
bedeutungslose einvernehmliche Fristverkürzung gern § 129 Abs I ZPO) nicht be-
schränkt werden. Die Prozessleitung obliegt vor dem Fürstlichen Landgericht dem (dort
ausschließlich tätigen) Einzelrichter (deshalb ist in der das erstinstanzliche Verfahren
betreffenden Besetzung immer vom „Richter" oder dem „Gericht" die Rede), im Verfah-
ren in zweiter oder dritter Instanz dem Vorsitzenden des Senats(§ 195 ZPO). In Amts-
haftungssachen (vgl Art 10 Abs I AHG) und Patentstreitigkeiten nach dem Patentschutz-
vertrag mit der Schweiz 3034 wird das Fürstliche Obergericht in Senatsbesetzung als erste
Instanz tätig. Praxisgemäß obliegt die Prozessleitung in diesen Verfahren, soweit nicht
Beschlüsse zu fassen sind, dem Vorsitzenden (analog § 195 ZPO 3035 ).
B. formelle Prozessleitung
19.2 Die formelle Prozessleitung umfasst den äußeren Ablauf des Verfahrens wie die Anbe-
raumung von Tagsatzungen, Zustellung von Schriftsätzen und Ladungen, Bestimmung
3037
von Fristen 3036 , die Verhandlungsvorbereitung und Leitung der Verhandlung. Die
formelle und materielle Prozessleitung greifen ineinander, ihre Unterscheidung ist mehr
akademischer Natur. Die formelle Prozessleitung in der Verhandlung regelt va § 180
Abs I und 2 ZPO (wortident mit§ 180 Abs I und 3 öZPO) sowie§ 181 ZPO. Die durch
das Gesetz v 6.9.2018 über die Abänderung der ZPO, LGBl 2018/207 (im folgenden „die
Novelle") va hinsichtlich des Verschuldensmaßstabs 3038 modifizierte Bestimmung des
§ 181 Abs 2 ZPO entspricht im Wesentlichen der Bestimmung des § 180 Abs 2 öZPO.
Abweichend von der Rezeptionsvorlage wird normiert, dass die als Beweismittel zu be-
nützenden Urkunden und Augenscheinsgegenstände zur Einsicht für den Gegner bei Ge-
richt zu erlegen sind und für den Fall, dass die Partei einem solchen Auftrag grob schuld-
haft (§ 180 Abs 2 öZPO: ,,ohne genügende Entschuldigung") nicht nachkommt und die
geforderten Beweismittel erst bei der fortgesetzten mündlichen Verhandlung(§ 180 Abs 2
öZPO: ,,~icht fr(stgerecht") vorbri~§\ dieses Vorbringen (au~ Antra~ oder von Amts we-
gen) zuruckgew1esen werden kann· 3 , falls durch dasselbe die Fortfuhrung der Verhand-
lung verzögert würde. Auch kann (neu) die Unterlassung iSd § 381 ZPO gewürdigt wer-
den. Verschleppungsabsicht ist nicht mehr Voraussetzung für das Auslösen der Konse-
quenzen des§ 181 Abs 2 ZPO. Wird eine Partei durch klare Aufträge auf jene Aktionen
hingewiesen, die sie in Erfüllung ihrer Prozessförderungspflicht zu setzen gehabt hätte,
liegt die Annahme groben Verschuldens nahe. 3040
C. Materielle Prozessleitung
1. Vorbemerkungen
Die materielle richterliche Prozessleitung ist die Gerichtstätigkeit zur Sicherung der er- 19.3
schöpfenden Verhandlung und sachgerechten Entscheidung über das Rechtsschutzbe-
gehren.3041 Sie wird substantiell in § 182 ZPO festgelegt 3042 , welcher mit dem durch
die Nov neu eingefügten § 182a ZPO den Kern der materiellen Prozessleitung bildet,
wonach der Richter zur Sammlung und Aufbereitung des Prozessstoffs gehalten ist.
zweite Satz der öZPO durch Liechtenstein übernommen wurde (dies erklärt sich va da-
raus, dass Liechtenstein mit dem LG nur ein Eingangsgericht hat).
Gern § 182 Abs I ZPO hat das Gericht darauf hinzuwirken, dass die für die Entscheidung
erheblichen tatsächlichen Angaben gemacht oder ungenügende Angaben über die zur
Begründung oder Bekämpfung des Anspruchs geltend gemachten Umstände vervollstän-
digt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweise er-
gänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, die zur wahrheitsgemäßen Fest-
stellung des Sachverhalts der von den Parteien behaupteten Rechte und Ansprüche not-
wendig erscheinen. 3049
19.7 Die öLehre 3050 leitet hieraus vier „Trigger", welche eine Anleitungspflicht auslösen, ab,
nämlich „die für die Entscheidung erheblichen tatsächlichen Angaben", ,,die Vervollstän-
digung ungenügender Angaben", ,,die Bezeichnung und Ergänzung von Beweismitteln"
sowie „alle Aufschlüsse zur wahrheitsgemäßen Feststellung des Tatbestands". Ob der
Richter in dieser Hinsicht gegen seine Pflichten verstoßen hat, erfährt er spätestens dann,
wenn eine diesen Prozessmangel aufgreifende Rüge erfolgreich war, denn letztlich ent-
scheiden immer die Umstände des Einzelfalls. 3051 Der Maßstab für die Anleitung ist nicht
so sehr das formulierte Klagebegehren, als das damit „wirklich" Begehrte. Unbestimmt-
heit, Undeutlichkeit oder Widersprüchlichkeit des Klagebegehrens sind grundsätzlich
Anlassfälle für die richterliche Anleitungspflicht. 3052
19.8 Die Auffassung, dass die materielle Prozessleitungspflicht auch Wahrheitserforschungs-
pflicht ist 3053 bzw Ziel des modernen Zivilprozesses die Erforschung der materiellen
Wahrheit ist 3054 , wird in dieser Schärfe von der österr und auch der liechtensteinischen
Rsp nicht geteilt. Zwar postuliert auch der OGH, dass Ziel des Zivilprozesses die Ent-
scheidung auf möglichst vollständiger und richtiger Tatsachengrundlage ist 3055 . Aller-
dings liegt es an den Parteien, zur Erreichung dieses Zwecks die relevanten Umstände
wahrheitsgemäß und vollständig anzugeben.
19.9 Der OGH 3056 geht grundsätzlich von der Parteienmaxime im Zivilverfahren aus: Das
Gericht hat sich auf den aus dem Parteienvorbringen hervorgehenden Streitgegenstand
zu beschränken; iaR bestimmen also die Parteien den Inhalt und die Auswirkungen
ihrer Sachanträge und damit nicht nur, welche Ansprüche begehrt werden, sondern
auch auf~rund welcher Tatsachen die Entscheidung gefällt werden soll. Auch nach
der öRsp 057 hat sich die Manuduktionspflicht des Gerichts im Rahmen des behaup-
teten Anspruchs zu bewegen. Nur in diesem Bereich ist auf die Vervollständigung des
Sachvorbringens oder auch darauf zu dringen, dass das Begehren schlüssig gemacht
wird. Die Belehrung ist zu protokollieren, eine nicht protokollierte Anleitung gilt als
nicht erfolgt. 3058
Nach § 182a ZPO hat das Gericht das Sach- und Rechtsvorbringen der Parteien mit 19.10
diesen zu erörtern und darf - außer in Nebenansprüchen - seine Entscheidung auf recht-
liche Gesichtspunkte, die eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten
hat, nur stützen, wenn es diese mit den Parteien erörtert (§ 182 ZPO) und ihnen Ge-
legenheit zur Äußerung gegeben hat. Die Erörterungspflicht des§ 182a ZPO erstreckt
sich nicht auf Nebenansprüche. Dieser Begriff ist der liechtensteinischen Rechtsordnung
ansonsten zwar fremd (vgl §§ 243, 405, 548 und 557 ZPO sowie Art 18 GGG und Art 4
Abs 2 RATG, wo stets von „Nebenforderungen" die Rede ist), doch ergibt sich zwanglos,
dass mit Nebenansprüchen die Nebenforderungen iSd Art 18 GGG bzw Art 4 Abs 2
RA TG gemeint sind, also insb Zinsen und Kosten.
In der öRsp 3059 wird die Ansicht vertreten, dass damit die richterliche Anleitungspflicht 19.11
erweitert wurde, während die Lehre 3060 überwiegend die Auffassung vertritt, dass sich
bereits aus einem richtigen Verständnis des § 182 Abs 1 ZPO der Inhalt des § 182a
ZPO ergibt. Jedenfalls wird nunmehr ausdrücklich postuliert, dass die Prozessleitungs-
pflicht des Gerichts auch dann, wenn die Parteien rechtsanwaltlich vertreten sind, eine
umfassende zu sein hat.
Die bisherige Judikatur zur Frage, ob und va in welchem Umfang eine anwaltlich ver- 19.12
tretene Partei anzuleiten ist, muss durchaus als schwankend bezeichnet werden. So judi-
zierte der OGH bereits 1998 3061 , dass dann, wenn die notwendige Präzisierung oder Auf-
schlüsselung eines unbestimmten Klagebegehrens unterlassen wird, dies nicht zum An-
lass einer Klagsabweisung genommen werden darf, ehe nicht eine Verbesserung versucht
wurde. Die Prozessleitungspflicht bejahte der OGH in dieser Entscheidung auch gegen-
über dem anwaltlich vertretenen Kläger, wobei diesfalls die Aufforderung an den Kläger
zur Präzisierung genügen würde und die Anleitungs- und Belehrungspflicht des Richters
nicht soweit gehe, dem anwaltlich vertretenen Kläger die Fassung eines geeigneten Klage-
begehrens abzunehmen. Ebenso verneinte der OGH 3062 eine Belehrungs- und Anlei-
tungspflicht gegenüber der rechtsfreundlich vertretenen Partei über die mit ihrem Vor-
bringen verbundenen Rechtsfolgen unter Hinweis darauf, dass das Gericht einer solchen
Partei die Sor§; um ein ausreichendes Vorbringen zur Stützung ihres Standpunkts über-
lassen könne 3 3• Anwaltlich vertretene Parteien sind auch nicht zur Stellung bestimmter
prozessualer Anträge anzuleiten. 3064 Auch ist das Gericht nicht verpflichtet, die anwalt-
lich vertretene Partei auf die Möglichkeit der Klagseinschränkung im Berufungsverfahren
3058 LGZ Wien 45 R 35/08 t EF 121.159; 45 R 49/ 10 d EF 128.565; näher hierzu s unten
Rz 19.33.
3059 RIS-Justiz RS0l20056; RS0l20057.
3060 Rassi in FS Delle Karth 779 mwN.
3061 OGH 4 C 461/94 LES 1998, 235.
3062 OGH 5 C 372/96 LES 1999, 308.
3063 So auch OGH 3 Cg 199/99 LES 2000, 135; 2 CG.2005.391 LES 2008, 246; 4 CG.2006.74 LES
2008, 439.
3064 OGH 04 CG.2013.226 LES 2014, 17 sowie die Ein FN 3061.
aufmerksam zu machen. 3065 Tendenziell 3066 wurde die Anleitungs- und Belehrungs-
pflicht des Richters gegenüber anwaltlich vertretenen Parteien jedoch zusehends bejaht.
19.13 In welchem Umfang sich durch die Einführung des § 182a ZPO eine Ausdehnung der
Anleitungspflicht insb hinsichtlich des Überraschungsverbots und damit der Erörterung
„rechtlicher Gesichtspunkte" ergibt, wird erst die Zukunft weisen. In Anbetracht des
österr Rezeptionsvorbilds wird der OGH die ölit und Judikatur zur Beurteilung der sich
1068
iZm § 182a ZPO ergebenden Rechtsfragen heranziehen. 3067 Der öOGH hat zunächst·
judiziert, dass auf Grundlage des§ 182a ZPO das Gericht nunmehr in Abkehr von der
stRsp zu § 182 Abs l ZPO auch dann anzuleiten hat, wenn eine Partei erkennbar recht-
liche Gesichtspunkte, die von der Gegenseite ins Spiel gebracht worden waren, übersehen
oder für unerheblich gehalten hat. Diese Rsp hat sich allerdings nicht durchgesetzt, viel-
mehr vertritt der öOGH zumindest überwiegend weiterhin die Meinung, dass die Einfüh-
rung des§ 182a ZPO nichts daran geändert hat, dass den Richter keine Anleitungspflicht
zu einem Vorbringen trifft, dessen Schwächen bereits der Gegner aufgezeigt hat. 3069
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass der OGH bereits im Jahr 2011 „obi-
ter" zur Bestimmung des § 182 a öZPO ausgeführt hat, dass die dort normierte Pflicht
nicht bezwecken kann, das Gericht zur Erörterung eines Vorbringens - und des daraus
abgeleiteten Begehrens - zu zwingen, dessen Schwächen bereits der Prozessgegner auf-
zeigt.1010
19.14 Jedenfalls hat nach der österr Judikatur§ 182a ZPO nichts daran geändert, dass es keiner
ri~hterlichen Anleitung zu eine~ Vorb_ri~gen beda~f, gegen das der Pr_~zessg~ .ger bereits
Einwendungen erhoben hat. 30 Es ex1st1ert allerdings auch Rsp des oOGH· , wonach 8
§ 182 a ZPO die Pflicht der Gerichte erweitert, weil eine Partei auch erkennbar rechtliche
Gesichtspunkte, die von der Gegenseite bereits „ins Spiel" gebracht worden seien, über-
sehen oder für unerheblich gehalten haben könnte. Der OGH hat jüngst 3073 hinsichtlich
sehr vager und nicht hinreichend präzisierter Einwendungen des Beklagten, die im Fall
ihrer Konkretisierung und Berechtigung einer Klagsstattgebung entgegenstehen könnten,
eine Anleitungspflicht gern § 182 ZPO bejaht. In derselben Entscheidung erachtete der
OGH iZm der bestrittenen Echtheit einer Unterschrift auch die Beweislast als erörte-
rungsbedürftig.
19.15 Die Prozessleitungspflicht geht nicht so weit, dass das Gericht zu erkennen zu geben
hätte, welchen Beweisaufnahmen es Glauben schenken werde und welchen nicht und
dass es in diesem Zusammenhang zur Stellung neuer Beweisanträge anzuleiten hät-
te. 3074 Fragen der Beweislast sind va dann zu erörtern, wenn aus rechtlichen Gründen
eine Beweislastumkehr in Betracht kommt.
Die Verpflichtungen der§§ 182, 182a ZPO erstrecken sich auf das gesamte Erkenntnis- 19.16
verfahren und die Erörterungspflicht besteht sohin während der gesamten Dauer des
Rechtstreits. 3075 Spiegelbildlich mit der Verpflichtung des Richters, während des gesam-
ten Verfahrens seine Sichtweise der Sach- und Rechtslage mit den Parteien zu erörtern
(§ 182a ZPO}, ist die Verpflichtung der Parteien zu sehen, keine schuldhafte Verzöge-
rung bei Vorbringen oder Beweisanbot auftreten zu lassen(§ 179 ZPO). 3076
Nach§ 232 Abs 1 ZPO (= § 226 Abs l öZPO) hat eine Klage ua die Tatsachen, aufweiche 19.17
sich der Anspruch des Klägers in Haupt- und Nebensachen gründet, im Einzelnen kurz
und vollständig anzugeben. Damit ist die Schlüssigkeit der Klage angesprochen. Un-
schlüssigkeit liegt dann vor, wenn sich aus den vom Kläger vorgetragenen Tatsachen,
das von ihm gestellte Klagebegehren nicht rechtlich ableiten lässt: Insb, weil sich der
behauptete Sachverhalt nicht unter den Tatbestand der Rechtsnorm subsumieren lässt,
3077
welche die mit dem Klagebegehren angestrebte Rechtsfolge vorsieht. Die Prüfung der
Klage auf ihre Schlüssigkeit ist frundsätzlich sogleich vorzunehmen und gegebenenfalls
ein Verbesserungsverfahren 307 einzuleiten. Dies gilt auch im Fall eines Antrags auf Fäl-
lung eines Versäumnisurteils. Es versteht sich von selbst, dass diesfalls vor Fällung einer
Säumnisentscheidung das rechtliche Gehör (des Beklagten) zu wahren ist. 3079 Einern
rechtskundigen Parteienvertreter ist insb dann selbst in jener Tagsatzung, in der er dazu
aufgefordert wurde, zumutbar, das Klagebegehren in eine schlüssige Fassung zu bringen,
wenn er von der beklagten Partei in deren Klagebeantwortung einigermaßen konkret auf
die deren Ansicht nach unschlüssige Fassung des Klagebegehrens hingewiesen wurde.
Eine Frist zur Verbesserung muss ihm dann nicht gewährt werden. 3080 Wird die Frage
der Schlüssigmachung erst in der Tagsatzung thematisiert, so ist bei besonderer Kom-
plexität des Verfahrens die Tagsatzung zur Ermöglichung der Erstattung weiteren
3081
schlüssigstellenden Vorbringens zu erstrecken.
Auf überschießende Beweisergebnisse und Feststellungen ist dann Bedacht zu nehmen, 19.18
3082
wenn diese in den Rahmen des geltend gemachten Klagegrunds fallen. Will das Ge-
richt über das Parteivorbringen hinausgehende Tatsachen berücksichtigen (.,überschie-
ßende Feststellungen"), die für die rechtliche Beurteilung des Streitfalls von Bedeutung
sein können, dann ist es gern § 182 ZPO verpflichtet, die Parteien zu befragen, ob sie die
entsprechenden Behauptungen aufstellen. 3083 Das Gericht darf bei der Beweisaufnahme
hervorgekommene Umstände nur berücksichtigen, wenn sie sich im Rahmen des geltend
gemachten Klagegrunds oder der erhobenen Einwendungen halten. Wenn das Gericht
seiner Erörterungspflicht nicht Genüge tut, sodass entscheidendes Vorbringen der Par-
teien fehlt, kann dem nicht durch entsprechende Feststellungen im Urteil ab~eholfen
werden. Uberschießende Feststellungen sind bedeutungslos und unbeachtlich. 30 4
19.19 Anleitung zur Verjährungseinrede? Die richterliche Anleitung zur Erhebung von Ein-
reden ist gerade dann besonders bedeutsam, wenn das materielle Recht die Einrede nur
im Fall ihrer Geltendmachung im Prozess berücksichtigt. Gern§ 1501 ABGB ist die Ver-
jährung nicht von Amts wegen, sondern nur über Einwand wahrzunehmen. Mit Schu-
macher3085 wird eine Anleitungsptlicht wegen einer im Vorbringen indizierten Verjäh-
rungseinrede wohl zu bejahen sein (etwa wenn der Beklagte behauptet, der Anspruch des
Klägers sei infolge Zeitablaufs „erloschen" uÄ, oder „verfallen"). Wenn sich aus dem
Parteivorbringen diese Einrede aber auch nicht andeutungsweise entnehmen lässt, wohl
aber die bisherigen Verfahrensergebnisse diesen Einwand aufdrängen, besteht nach§ 182
Abs I ZPO keine Anleitungspflicht. Dessen ungeachtet gebietet es schon der Grundsatz
der Prozessökonomie, in derartigen Fällen die Verjährungsfrage zu thematisieren, dies
gilt jedenfalls dann, wenn andernfalls ein aufwendiges Beweisverfahren durchzuführen
ist, an dessen Ende dann (möglicherweise) die Einrede der Verjährung ohnehin (und
erfolgreich!) erhoben wird. Damit begibt sich der Richter allerdings auf dünnes Eis:
19.20 Anleitung und Ablehnung: In Liechtenstein wurde bereits einmal ein Erörterungsvor-
gang zum Gegenstand eines Ablehnungsverfahrens gemacht; verfahrensgegenständlich
war, ob die richterliche Thematisierung einer allfälligen Verjährung ohne entsprechendes
Vorbringen einer rechtsfreundlich vertretenen Partei den Anspruch auf einen unabhän-
gigen und unparteiischen Richter verletzt. Dies wurde durch den StGH bejaht. 3086 Unter
Hinweis auf Rassi in Fasching!Konecny 11/3 3 §§ 182, 182a ZPO Rz69, erwog der StGH,
dass sich aus der materiellen Prozessleitung heraus keine Pflicht des liechtensteinischen
Richters ergibt, eine Verfahrenspartei auf die Geltendmachung der Verjährungseinrede
hinzuweisen, wiewohl sich nicht klar beantworten ließe, ob die materielle Prozessleitung
einen richterlichen Hinweis auf die Verjährungseinrede überhaupt zulasse. Mit der „Er-
örterung", also der klaren Thematisierung einer allfälligen Verjährung habe der Richter
auf ein wichtiges, für den Ausgang des Zivilverfahrens allenfalls entscheidendes Verteidi-
gungsmittel aufmerksam gemacht. Dieses Verhalten des Richters erwecke den Anschein
3087
der Parteilichkeit und damit der Befangenheit.
19.21 Grundsätzlich wird ein „Zuviel" an Erörterung allenfalls eine Befangenheit, aber keinen
Verfahrensmangel herstellen können. 3088 Die Grenze ist dort zu ziehen, wo Erörterung
zur Beratung mutiert. So wird nach der Rsp des OGH 3089 die Grenze der richterlichen
Anleitungsptlicht da überschritten, wo das zur Unparteilichkeit verpflichtete Gericht Ge-
3084 OGH 02 CG.2009.273 LES 2010, 200; RIS-Justiz RS0l 12212; RS0016346; öOGH 27.1.2016,
9 Ob 80/ISb.
3085 Schumacher, Anleitungspflichten 53 f.
3086 StGH 2016/129.
3087 Details vgl StGH 2016/ 129 Erw 3.2.4.
3088 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 779; Fucik in Rechberger/K/icka, ZP0 5 § 182 Rz 2.
3089 OGH 2 CG.2005.391 LES 2008.246.
fahr läuft, zum Anwalt der angeleiteten Partei zu werden. Zu konstatieren ist, dass ein
Zuviel an Erörterung wohl nur bei eklatantem Überschreiten der Grenzen der Manuduk-
tion einen Ablehnungsgrund bilden kann. Immerhin hat die uneingeschränkte Erörte-
rungspflicht bei deren Erfüllung die wichtige Folge, dass die Parteien sich nicht über
mangelndes Gehör beschweren können. 3090 Das Vertreten einer bestimmten Rechtsmei-
nung durch den Richter kann niemals einen Ablehnungsgrund bilden, 3091 dies selbst
dann, wenn diese Rechtsmeinung von der hRsp abweicht.
Anleitung zur Klagsänderung? Der öOGH judiziert 3092 , dass die Anleitungspflicht des 19.22
§-l82a ZPO insofern als erweitert anzusehen ist, als nun auf ein verfehltes Klagebegeh-
ren, das nicht dem offenkundig verfolgten Rechtsschutzziel der Partei entspricht, auf-
merksam zu machen und dem Kläger Gelegenheit zu geben ist, sein Klagebegehren auch
dann zu ändern, wenn dies eine Klagsänderung darstellt. Hierbei richtet sich die genaue
Abgrenzung der vom Gericht wahrzunehmenden Prozessleitungspflicht stets nach den
Umständen des Einzelfalls. 3093 Die Prozessleitungspflicht geht aber nicht soweit, den
Kläger etwa auf Rechtsgründe, die sich nicht einmal andeutungsweise aus den vorgetra-
genen (und allenfalls zu ergänzenden oder präzisierenden) Tatsachen ergeben, sondern
ein anderes Tatsachenvorbringen erfordern, hinweisen zu müssen. Hat der Kläger im
Rahmen des von ihm erhobenen Anspruchs ein verfehltes Klagebegehren gestellt und
kann dieser Mangel nicht durch eine amtswegige Modifikation des Begehrens behoben
werden, so ist er darüber zu belehren. 3094 Ob eine Anleitung vorzunehmen ist, sollte auch
unter dem prozessualen Aspekt des§ 243 Abs 3 ZPO (= § 235 Abs 3 öZPO) geprüft wer-
den. Ergibt diese Prüfung, dass eine Klagsänderung ohnehin richterlich zuzulassen wäre,
dann indiziert dies eine richterliche Anleitungspflicht zur Vornahme derselben. 3095 Letzt-
lich wird damit in vielen Fällen auch ein Folgeprozess verhindert.
Überraschungsurteil: Wie in Österreich 3096 bekennt sich auch die Judikatur des liech- 19.23
tensteinischen OGH 3097 seit Jahrzehnten zum Verbot der Überraschungsentscheidung,
welches sich aus§ 182 Abs 1 ZPO ergibt3°98 und durch§ 182a ZPO eine entsprechende
Ergänzung erfahren hat 3099• Demnach 3100 darf das Gericht seine Entscheidung außer in
Nebenansprüchen nur dann auf rechtliche Gesichtspunkte stützen, die seitens einer Par-
tei übersehen oder für unerheblich gehalten wurden, wenn diese Punkte erörtert wurden
und Gelegenheit zur Äußerung gegeben wurde.
Der Grundsatz, dass das Gericht die Parteien in seiner Entscheidung nicht mit einer 19.24
Rechtsauffassung überraschen darf, die diese nicht beachtet haben und auf welche das
Gericht nicht aufmerksam gemacht hat, gilt für alle drei Instanzen. 3101 Insb bedeutet das
Verbot der Überraschungsentscheidung nicht, dass das Gericht seine Rechtsansicht vor
der Entscheidung kundtun muss, 3102 es sei denn, rechtserhebliche Tatsachen wurden
nicht vorgebracht. In der anderen rechtlichen Wertung eines im Verfahren unübersehbar
behandelten Standpunkts liegt grundsätzlich keine Verletzung des§ 182a ZPO. 3103 Schon
begrifflich kann sich eine Überraschungsentscheidung nur auf ein und dasselbe Verfah-
ren und nicht auf Entscheidungen in anderen Rechtssachen oder Parallelverfahren bezie-
hen. 3104
19.25 Gel_angt das Berufung~geric_~t nur zu einer ander~n rechtl~chen Beurt_eil~~f als das Ers~-
gencht, so kann von emer Uberraschungsentsche1dung keme Rede sem. · Zur Vermei-
dung einer Überraschungsentscheidung entscheidet der OGH in der Sache nicht selbst,
wenn er seine Rsp ändert. 3106
19.26 Da sich jede Prüfung des Erfordernisses einer Prozessleitung stets nach den Umständen
des Einzelfalls richtet, werden in den FN einige Entscheidungen aufgeführt, die das Vor-
liegen einer Überraschungsentscheidung verneinen 3107 bzw bejahen oder zur Vermei-
3108
dung eines Überraschungsurteils kassatorisch waren.
19.27 Überraschungsurteil aus Sicht des StGH: Der StGH stellt an das Vorliegen eines Über-
raschungsurteils nach eigenem Bekunden 3109 relativ strenge Anforderungen. Einen Teil-
gehalt des rechtlichen Gehörs stellt lt StGH der Anspruch auf Orientierung und Äuße-
rung in einem Gerichtsverfahren dar. Daraus fließt ein Verbot der Überraschungsent-
scheidung.3110 Danach kann ein sog Überraschungsurteil den Gehöranspruch verletzen,
wenn der Beschwerdeführer keine Gelegenheit hatte, sich zu der für ihn überraschenden
. h t emer
Rec h tsansIC . Letztmstanz
. .. ß ern. 3111 I n Jungeren
zu au ... Entsc h et.d ungen 3112 beh an-
delt der StGH das Überraschungsverbot auch unter dem Aspekt des fair trial nach Art 6
EMRK. überraschend ist die Rechtsansicht aber nur dann, wenn die Parteien diese tat-
sächlich nicht in Betracht ziehen mussten. 3113 Die richterliche Prozessleitungspflicht
-- - ----- - - - ------------------
3101 So schon OGH 2 C 45/85 LES 1988, 70; 5 C 326/88 LES 1995, 172; 5 C 505/92 und 5 C 505/82
LES 1996, 93; RIS-Justiz RS0037300 (T7, T9).
3102 RIS-Justiz RS0122749.
3103 RIS-Justiz RS0037300.
3104 OGH 05 CG.2005.124 LES 2006, 335.
3105 RIS-Justiz RS0037300 (T30).
3106 OGH 09 CG.2013.235 GE 2016, 79; 06 EG.2013.31 LES 2014, 253.
3107 OGH 05 CG.2017.125 LES 2018, 56; 05 CG.2015.168 GE 2018, 294; 03 CG.2016.173 GE
2017.175; 01 CG.2010.181 LES 2012, 22; 06 CG.1991.373 LES 2008, 431; 05 CG.2005.124
LES 2006, 335; 4 EG.2002.4 LES 2004, 202.
3108 OGH 08 CG.2015.438 LES 2018, 270 = GE 2018, 337; 9. 2. 2018, 09 CG.2015.163; 09
CG.2015.283 GE 2018, 310; 09 CG.2006.312 LES 2010, 73; 04 GG.2004.12 LES 2006, 489; 4
CG.2002.60 LES 2003, 230.
3109 StGH 2015/48; StGH 2018/68 Erw 6.2 mwN.
3110 StGH 2008/135 Erw 3.1; vgl auch StGH 2008/45 Erw 2.1.
3111 StGH 2008/135 Erw 3.1; s auch StGH 2014/152 Erw 4.1; StGH 2013/162 Erw 3.3.1; StGH
2011/87 Erw 2.1; StGH 2011/84 Erw 3.1; StGH 2011/67 Erw 3.1; StGH 2011/51 Erw 3.2; StGH
2005/71 Erw 5.4; StGH 2006/1 Erw 3; StGH 2006/46 Erw 2; StGH 2008/45 Erw 2.1.
3112 StGH 2017/27 Erw 4.1; StGH 2014/98 Erw 4.1.
3113 StGH 2011/84 Erw 3.2; StGH 2012/190 Erw 2.1.
beinhaltet allerdings auch nach Auffassung des StGH nicht, dass gleichsam jede in Frage
kommende gerichtliche Entscheidung mit den Parteien zu erörtern wäre. 3114
Darüber hinaus erweitert§ 226 Abs 1 ZPO (.,Rechtsbelehrung durch den Richter"=§ 432 19.28
Abs 1 öZPO) sowie§ 237 ZPO (= § 435 öZPO) die Belehrungspflicht für rechtsunkun-
dige und nicht durch Rechtsanwälte vertretene Parteien, welche über die Grenzen des
§ 182 ZPO hinausgehen. 3115 Gegenüber einer rechtsunkundigen, nicht durch einen
Rechtsanwalt vertretenen Partei besteht eine besondere Anleitungs- und Belehrungs-
pflicht von Seiten des Gerichts. 3116 Dazu zählt auch die Obliegenheit des Richters, der
klagenden Partei bei der Bestimmung und Bezeichnung der beklagten Partei, bei der allfäl-
ligen Ergänzung des Sachvorbringens, der Angabe der Beweismittel und bei der Fassung
des Klagebegehrens behilflich zu sein, diese entsprechend aufzuklären und ihr bei der nö-
tigen Ergänzung der Klageschrift in formeller und materieller Hinsicht an die Hand zu
gehen. 3117 Die Verbesserbarkeit einer auf eine Klage iSd § 232 ZPO abzielenden Eingabe
einer rechtsunkundigen Partei findet ihre Regelung nicht nur in den §§ 84, 85 ZPO, son-
dern auch und va in den Bestimmungen der §§ 226 und 237 ZPO (§§ 432, 435 öZPO).
Diese Bestimmungen schufen sohin eine besonders weitgehende Belehrungs- und Anlei-
tungspflicht des Richters. Auch in diesen Fällen darf die Manuduktion nie so weit gehen,
dass der Richter zum Ratgeber und Rechtsfreund einer Partei wird. 3118 Die Grenze richter-
licher Anleitung wird (noch) nicht überschritten, wenn der Richter auf mögliche prozes-
suale Einwände hinweist und deren Formulierung für die nicht anwaltlich vertretene Partei
übernimmt. 3119 Durch den durch die Nov eingefügten § 84 Abs 3 ZPO, welcher weitge-
hend § 84 Abs 3 öZPO entspricht, sind vom Gericht ohnehin auch Inhaltsmängel von
Schriftsätzen zum Anlass eines Verbesserungsverfahrens zu machen und ist dies nun
auch bei nicht befristeten verfahrenseinleitenden Schriftsätzen klarstellend statuiert. 3120
Die Verletzung der richterlichen Anleitungspflicht fällt unter den Berufungsgrund der 19.29
Mangelhaftigkeit des Verfahrens. 3121 Eine erfolgreiche Geltendmachung der Mangel-
haftigkeit des Verfahrens als Folge eines Verstoßes gegen die §§ 182, 182 a ZPO setzt
voraus, dass die Partei die Relevanz des Mangels darlegt und das Unterlassene nach-
holt.3122 Der Rechtsmittelwerber hat daher darzulegen, welches zusätzliche oder andere
Vorbringen er aufgrund der von ihm nicht beachteten neuen Rechtsansicht erstattet
hätte. 312 :r
Die Prozessleitungspflicht besteht auch für das Berufungsgericht. 3124 Erachtet dieses das 19.30
Vorbringen einer Partei für unschlüssig oder unbestimmt und daher verbesserungs- bzw
anleitungsbedürftig iSd § 182 ZPO, so hat es aus diesem Grund das Urteil aufzuhe-
ben_J12s
4. Verhandlungsführung
19.31 Anders als in Österreich (vgl § 52 Geo) sind der liechtensteinischen Rechtsordnung ge-
schriebene Verhaltensregeln für den Richter fremd. Dennoch versteht es sich von selbst,
dass die Formen der gebotenen Höflichkeit zu wahren sind, die Verhandlung ruhig und
gelassen zu führen ist, jeder Eindruck der Voreingenommenheit gegenüber den Parteien
vermieden werden soll und sich das Gericht jeder unsachlichen Kommentierung von Vor-
bringen oder Beweisergebnissen zu enthalten hat. Nicht nur in der Sache, sondern auch im
Ton und Verhalten den Parteien und sonstigen Verfahrensbeteiligten gegenüber ist eine
Äquidistanz unabdingbar. Muss ein Richter immer wieder zur Durchsetzung der Ord-
nung sitzungspolizeiliche Maßnahmen androhen oder gar beschließen, hat das auch stets
mit seinem Verhandlungsstil zu tun und ist ein Ausdruck von Defiziten in der Verhand-
lungsführung. Wie gut oder schlecht ein Richter „verhandelt", ist keiner Überprüfung im
Rechtsmittelweg zugänglich, sondern allenfalls Thema von Ganggesprächen unter Rechts-
anwälten. In den seltensten Fällen bekommt der Richter ein Feed-Back in Form von Lob
oder Kritik an seinem Verhandlungsstil. Die idR alle fünf Jahre stattfindende Gerichts-
revision (vgl Art 51 GOG) und damit in den meisten Fällen verbundene „Beobachtung"
einer Verhandlung durch den Revisor ist ein äußerst dürftiges Hilfsmittel, um allfällige
Defizite in der Verhandlungsführung auszumerzen. Als weit hilfreicher erweist sich hier
die Diskussion und der Erfahrungsaustausch hinsichtlich des in besonderen Prozesssitua-
tionen geforderten Verhandlungsgeschicks mit den Kolleginnen und Kollegen.
II. Verhandlungsprotokoll
A. Allgemeines
19.32 Das Verhandlungsprotokoll stellt die Beurkundung des Gangs und des Inhalts einer jeden
mündlichen Verhandlung durch das Gericht dar. 3126 Die maßgeblichen Bestimmungen fin-
den sich in §§ 207 bis 217 ZPO und entsprechen weitgehend der Rezeptionsvorlage. So gut
wie bedeutungslos sind die Bestimmungen der§§ 263 und 265 ZPO (Feststellungen zu Pro-
tokoll/ Ausfertigung des Urteilstatbestands), welche - bis auf die Bestimmung des§ 263
ZPO (= § 265 öZPO) - auf (zwischenzeitlich) aufgehobener Rezeptionsvorlage beruhen.
19.33 Wiewohl die Bestimmung des§ 212a öZPO, welche die Möglichkeit der Protokollierung
mittels Schallträger eröffnet, zweifelsohne zumindest auf den eigentlichen Protokollie-
rungsvorgang beschleunigend wirken würde, hat der Gesetzgeber von einer Übernahme
dieser Bestimmung abgesehen. 3127 Ebenso nicht übernommen wurde die Bestimmung
des § 208 Abs l Z 2 a öZPO, welche in Österreich durch die ZVN 2002 eingefügt wurde,
wonach ua der wesentliche Inhalt der Erörterung des Sach- und Rechtsvorbringens (vgl
§ 182a ZPO) im Verhandlungsprotokoll festzustellen ist. Es dürfte sich hierbei um ein Ver-
sehen handeln. Auswirkungen auf die Praxis sind nicht zu erwarten, da schon nach der
neueren Rsp 3128 der wesentliche Inhalt der Erörterung des Sach- und Rechtsvorbringens
zu protokollieren ist: Dem Protokoll muss der Inhalt des sich auf den Sachverhalt bezie-
henden beiderseitigen Vorbringens entnommen werden können. Ist das Sach- und Rechts-
vorbringen einer Partei nicht eindeutig oder unvollständig, allenfalls auch unrichtig, so
muss der wesentliche Inhalt der Erörterung des Sach- und Rechtsvorbringens protokolliert
werden. Das Gericht hat, natürlich ohne das Ergebnis der Beweisaufnahme vorwegzuneh-
men, seine Rechtsansicht und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für das Sachvor-
bringen der Parteien und für das Verfahren offenzulegen und muss dies auch protokollie-
ren. Etwa nur zu diktieren, dass das Sach- und Rechtsvorbringen erörtert wird, genügt
nicht. Ebenso wenig reicht es aus, das sich aus der Erörterung des Sach- und Rechtsvor-
bringens ergebende neue oder ergänzende Vorbringen der Parteien im Protokoll festzu-
halten, sondern es ist auch der wesentliche Inhalt der vorhergegangenen Erörterungen des
Gerichts zu protokollieren. 3129 Die frühere Rsp
3130
, welche in diesen fällen die Protokoll-
floskel „Erörterung der Sach- und Rechtslage" als ausreichend erachtete, ist damit obsolet.
Sind Sach- und Rechtsvorbringen ohnehin vollständig und unmissverständlich, kann mit
einem Hinweis darauf im Protokoll das Auslangen gefunden werden. Eine nicht protokol-
3132
lierte Anleitung gilt als nicht erfolgt. 3131 IdR wird das Protokoll über Diktat des Richters
in Maschinenschrift aufgenommen und den Verfahrensbeteiligten sogleich nach Verhand-
lungsschluss ausgefolgt. Der Umstand, dass die Parteien unmittelbar im Anschluss an die
Tagsatzung eine Kopie des Verhandlungsprotokolls ausgehändigt erhalten, stellt einen we-
sentlichen, auch der Verfahrensbeschleunigung insgesamt dienenden Vorteil dar·' 133 und
bewirkt, dass ein Widerspruch gegen das Protokoll äußerst selten ist. In der Praxis werden
Ungenauigkeiten, Unvollständigkeiten und Unrichtigkeiten der Protokollierung nach ent-
sprechender Mitwirkung/ Anregung durch die Parteien (begleitende Protokollberichti-
gung3134) meist sogleich richtiggestellt bzw korrigiert. Zur Erleichterun~ der Protokollie-
rung können auch an sich unzulässige Schriftsätze verwendet werden. 313 Ein Kurzschrift-
protokoll iSd § 209 Abs 5 sowie§ 212 Abs 4 und 5 öZPO ist der liechtensteinischen Ver-
fahrensordnung fremd. § 280 ZPO, welcher es den Parteien ermöglichen würde, die
Aufzeichnung der Beweisaufnahme in Kurzschrift gesondert vom gerichtlichen Verhand-
lungsprotokoll zu erreichen, ist - wie in Österreich - bedeutungslos. Vereinzelt kommt es
vor, dass (insb unvertretene) Parteien die Unterfertigung des Protokolls verweigern. Der-
3136
artiges ist - anders als die Unterschrift des Richters - kein Gültigkeitserfordernis.
Zur Bestimmung des § 264 ZPO (Ausfertigung des Beweisbeschlusses) s näher unter 19.34
Rz l 9.72.
C. Protokollberichtigung
1. Richtigstellung des Protokollinhalts, Widerspruch(§ 212 ZPO)
19.36 Das Verhandlungsprotokoll ist eine öffentliche Urkunde und begründet, soweit nicht ein
ausdrücklicher Widerspruch oder die Rüge einer Partei vorliegen, den vollen Beweis
dessen, was darin verfügt, erklärt oder bezeugt wird. 3139
19.37 Die maßgeblichen Bestimmungen (§ 212 Abs 1 bis 3 ZPO) sind wortident mit der
österr Vorlage. Aus diesen ergibt sich, dass die Parteien nach Einsichtnahme in das
Protokoll auf jene Punkte aufmerksam machen können, ,,in welchen die im Protokolle
enthaltene Darlegung des Verhandlungsinhaltes dem tatsächlichen Verlaufe der Ver-
handlung nicht entspricht". Wenn diese Erklärungen der Parteien unberücksichtigt
bleiben, können diese einen Widerspruch einlegen, der in einem Anhang zum Proto-
koll zu beurkunden ist. Dem Widerspruch gegen das maschinenschriftlich ausgefertigte
Protokoll hat daher zwingend ein Protokollberichtigungsantrag vorauszu~ehen.
überdies muss er spätestens vor Schluss der Streitverhandlung erklärt werden. 31 -1 Nach
der Verhandlung eingebrachte Berichtigungsanträge sind als verspätet zurückzuwei-
sen.3141 Die Rsp des OGH 3142 , wonach trotz Unterlassung eines Widerspruchs der Ge-
genbeweis gegen die Richtigkeit eines Protokolls geführt werden kann, wird - der dies-
3143
bezüglichen Rechtsprechungsänderung des öOGH folgend - wohl nicht aufrechter-
halten.3144
Über den Widerspruch hat das Gericht nicht zu entscheiden, kann allerdings das Proto- 19.38
koll entsprechend ändern. 3145
2. Amtswegige Berichtigung
Eine amtswegige Protokollberichtigung ist grundsätzlich jederzeit möglich, insb kann 19.39
auch ein an sich unzulässiger - weil nachträglich eingebrachter - Protokollberichtigungs-
antrag zum Anlass einer Protokollberichtigung genommen werden. Obwohl eine dem
§ 212 Abs 5 letzter Satz öZPO in Bezug auf das Protokoll vergleichbare Bestimmung fehlt
(demnach können offenbare Unrichtigkeiten der Aufnahme oder der Übertragung auch
nachträglich jederzeit vom Gericht berichtigt werden), werden praxisgemäß offenbare
Unrichtigkeiten stets „ausgebessert". Angesichts der strengen Praxis des StGH zur Ge-
hörverletzung3146 ist allerdings darauf Bedacht zu nehmen, sämtlichen Parteien die Ge-
legenheit zu geben, sich vor der Berichtigung dazu zu äußern. 3147 Tippfehler können,
müssen aber nicht berichtigt werden. 3148 Da die Gerichtssprache Deutsch ist (Art 6 LV),
ist es zulässig und geboten, eine im deutschen Dialekt erstattete Aussage in Hochdeutsch
zu protokollieren. 3149 Die Parteien und Zeugen bedienen sich vielfach der Mundart, wo-
bei es fallweise unumgänglich ist, Mundartausdrücke in Anführungszeichen wörtlich
wiederzugeben, um Sinnentstellungen zu vermeiden (der mundartliche Ausdruck „i
mag mi net erinnara" bedeutet nicht etwa, dass man sich nicht erinnern will, sondern
dass man sich nicht erinnern kann).
Es versteht sich von selbst, dass überflüssiges nicht protokolliert zu werden braucht. 3150 19.40
Gewünschte Protokollierungen, die keinen Einfluss auf den Ausgang des Verfahrens ha-
ben, sind nicht vorzunehmen. 3151
III. Sitzungspolizei
A. Allgemeines
Die Regelung der „Sitzungspolizei" betrifft die Frage, welche Maßnahmen zur Aufrecht- 19.41
erhaltung der Ordnung während der Verhandlung getroffen werden können. 3152 Der
Sitzungspolizei unterliegt jedermann, der eine Verhandlung stört 3153 - mit Ausnahme
der Gerichtspersonen. Erfasst werden nur Störungen in der Verhandlung.
Die Bestimmungen über die Sitzungspolizei ermöglichen es dem Gericht, im Fall eines 19.42
Fehlverhaltens verschiedener Prozessbeteiligter entsprechende Maßnahmen zu setzen
und dabei auch Strafsanktionen zu verhängen. 3154 Einern Prozessbeteiligten, der sich
f~hlverhält, muss zuvor n_icht die Mögl!~hk_eit ~ing~räumt w~rde~, fegenüber dem Ge-
richt darzulegen, ob er sein Verhalten fur ncht1g halt oder mcht. 15 ·
19.43 Im Wesentlichen entsprechen die Bestimmungen(§§ 197-201 ZPO) der österr Rezepti-
onsvorlage. § 199 Abs 1 ZPO spricht von einer „groben Ungebühr", während die Rezep-
tionsvorlage den Ausdruck „gröberen Ungebühr" verwendet. Es ist davon auszugehen,
dass die Sanktionsschwelle in beiden Jurisdiktionen dieselbe ist.
B. Sanktionen
19.44 Während in Österreich über einen Rechtsanwalt keine Geldstrafe verhängt werden darf
(§ 200 Abs 3 öZPO), sieht die entsprechende liechtensteinische Bestimmung vor, dass bei
„erschwerenden Umständen die Angelegenheit an die zuständige Disziplinarbehörde zu
leiten ist"(§ 200 Abs 3 ZPO). Die von der Arbeitsgruppe 3156 vorgeschlagene Abschaffung
der Ordnungs- und Mutwillensstrafen gegenüber Rechtsanwälten wurde nicht Rechtsbe-
stand. Zuständige Disziplinarbehörde ist das OG (Art 49 RAG). Per 31. 12. 2019 waren 263
Rechtsanwälte in die Anwaltsliste eingetragen. Dem stehen jährlich rund 10 Disziplinarver-
fahren gegenüber, wobei keines auf eine Anzeige nach§ 200 Abs 3 ZPO zurückzuführen ist.
19.45 Wiewohl in der Praxis sitzungspolizeiliche Maßnahmen selten sind, ist eine genaue
Kenntnis des Sanktionenkatalogs der §§ 197 ff ZPO für den Verhandlungsleiter unab-
dingbar (Staffelung nach Intensität - Ermahnung nach § 197 ZPO; Entfernung von der
Verhandlung nach vorausgegangener Rechtsfolgenbelehrung; Ordnungsstrafe/Haft nach
§ 199 bzw § 200 ZPO). Die Sanktionen bei grober Ungebühr (§ 199 Abs 1 ZPO) oder
Widersetzlichkeit (§ 199 Abs 2 ZPO) setzen keine vorherige Mahnung voraus. 3157 Not-
wendige Zurechtweisungen sind ruhig und unter Vermeidung aggressiver Äußerungen
zu erteilen. Die Ordnungsstrafen sind im Vergleich zu Österreich äußerst gering(§ 199
ZPO: CHF 50,-/Österreich € 2.000,-; § 200 ZPO: CHF 100,-/Österreich € 2.000,-). Nicht
geregelt ist, wie ein in der Verhandlung gefasster Beschluss auf Entfernung von der Ver-
handlung zu vollziehen ist. Nachdem die Eingangskontrollen von Landespolizisten
durchgeführt werden, dürfte der Vollzug in der Praxis auf wenige Schwierigkeiten stoßen.
Obwohl die sitzungspolizeilich gefassten Beschlüsse sofort vollstreckbar(§ 201 ZPO)
sind, sollte mit der Vollstreckung der Ordnungsstrafe zugewartet werden, bis der Be-
schluss rechtskräftig geworden ist. 3158 § 220 Abs 4 ZPO regelt neu, dass über Rekurse
gegen Beschlüsse mit denen eine Ordnungs- oder Mutwillensstrafe verhängt wird, das
OG endgültig und unter Ausschluss jeden weiteren Rechtszugs entscheidet. Die Bestim-
mung des § 220 Abs 2 Satz 2 ZPO, welcher eine Umwandlung einer Ordnungs- oder
Mutwillensstrafe in eine Ersatzfreiheitsstrafe vorsah, wurde mit der Nov ersatzlos aufge-
hoben.3159
Ein ausdrückliches Verbot von Fernseh-, Radio-, Film- und Fotoaufnahmen von Ver- 19.47
3161
handlungen normiert Art 39 MedienG (entspricht wörtlich § 22 öMedienG). Alle
elektronischen Formen der Bild- und Tonberichterstattung sind jedenfalls unzulässig,
während die manuelle Anfertigung von Notizen, Mitschriften und Zeichnungen grund-
sätzlich zu tolerieren ist 3162 . Der Schutzzeitraum erstreckt sich dabei von der förmlichen
Eröffnung bis zum förmlichen Schluss der Verhandlung durch den Verhandlungsleiter.
Die Einhaltung des Art 39 MedienG ist Aufgabe der richterlichen Sitzungspolizei. Diese
ist auch gefordert, wenn die an sich erlaubte Berichterstattung aus dem Gerichtssaal (An-
fertigung von Zeichnungen, Notizen, etc) das Ausmaß einer Störung erreicht.
Fernseh- und Hörfunkaufnahmen und/oder Übertragungen sowie Film- und Fotoaufnah- 19.48
men sind ungeachtet ihrer technischen Art während der Gerichtsverhandlung untersagt.
163
Nicht umfasst von diesem Verbot werden daher Tweets aus dem VerhandlungssaaI3 .
,,Twittern" udgl aus dem Gerichtssaal ist daher kein Grund für sitzungspolizeiliche Maß-
nahmen, solange es nicht auf die Verhandlung störend wirkt. Stets ist in Anbetracht des
Rechts auf Meinungsfreiheit sowie der journalistischen Berufsausübungsgarantien eine
sorgfältige Interessenabwägung gefordert, bevor ein (gänzliches) Twitterverbot ausgespro-
chen wird. Auskünfte und Erläuterungen zu Verfahren sind ausnahmslos den Informa-
tionsbeauftragten (vgl Art 22 des Informationsgesetzes) vorbehalten. Das Medium des
Richters ist sein Urteil.
IV. Beschleunigungsmöglichkeiten
A. Allgemeines
Der Dauer gerichtlicher Verfahren kommt zentrale Bedeutung für die Antwort auf die 19.49
Frage zu, inwieweit die Justiz ihre Aufgaben erfüllt. Zur Rechtsverwirklichung gehört,
dass sie in angemessener Zeit geschieht. Rasche Verfahren sind maßgebend für ein gutes
Funktionieren der Justiz, welches wiederum wesentlich für das Vertrauen der Bevölke-
rung in die Justiz ist. 3164 Der Anspruch auf eine gerichtliche Entscheidung innerhalb
3160 G v 19. 5. 1999 über die Information der Bevölkerung, LGBI 1999/159.
3161 Mediengesetz v 19.10.2005, LGBI 2005/250.
3162 Dazu auch BuA 2004/82, 88.
3163 Vgl dazu auch grundlegend Thiele, RZ 2016, 130f.
3164 BuA 2018/19, 9.
angemessener Frist ist va auch ein Gebot des Art 6 Abs L EMRK 3165 . Einer der Schwer-
punkte der Nov lag darin, die ZPO im Hinblick auf ein möglichst effizientes und rasches
Verfahren anzupassen. Dies wurde ua (neben einer Stärkung der materiellen Prozessfüh-
rungsbefugnisse des Gerichts) durch eine Verschärfung der Anforderungen an die Pflicht
der Parteien zur sorgfältigen Prozessführung (vgl § 178 Abs 2, § 179 ZPO) verwirk-
licht.3166
2. § 179 ZPO
19.51 Neu ist in Abs l lediglich, dass ein Vorbringen schon dann zurückgewiesen werden kann,
wenn es grob schuldhaft (vor der Nov war Absicht Voraussetzung) verspätet vorgebracht
wurde. Damit wurde keine „Eventualmaxime" eingeführt; vielmehr ist der Kläger von
weiterem Vorbringen nach Einbringung der Klage genauso wenig ausgeschlossen wie
der Beklagte nach Einbringung der Klagebeantwortung. Im Rahmen der Vernehmlassung
wurden va von Seiten der Rechtsanwaltschaft Bedenken gegen diese Bestimmung vorge-
bracht.3169 In der Stellungnahme der Regierung v 10. 7. 2018 3170 wird dazu ausgeführt,
dass die Präklusionswirkung ohnehin mit Verantwortung anzuwenden ist. Grob fahrläs-
sig verspätet erstattetes Vorbringen ist auch dann zulässig, wenn es nicht tatsächlich zu
einer erheblichen Verzögerung des Verfahrens führt (etwa wenn ein Zeuge sofort stellig
gemacht wird). Der BuA 2018/61 3171 gibt folgende Beispiele für das Vorliegen der Vo-
raussetzungen für die Zurückweisung von Vorbringen:
19.52 Ein im entfernteren Ausland und im Rechtshilfeweg einzuvernehmender Zeuge, welcher
dem Kläger von allem Anfang an bekannt ist und für relevant erachtet wird, soll nicht
erst nach mehreren Verhandlungen und langer Verfahrensdauer kurz vor Schluss der
Verhandlung noch angeboten werden dürfen; der Beklagte soll nicht mit einer ihm be-
kannten und gegen den Kläger bereits im Zeitpunkt der Klagseinbringung zustehenden
Forderung erst nach mehreren Verhandlungen und langer Verfahrensdauer aufrechnen
können 3172 und hierzu umfassend Beweise anbieten dürfen; eine Verjährungseinrede,
verbunden mit umfangreichem Beweisanbot soll nicht auch noch nach mehreren Ver-
handlungen und langer Verfahrensdauer kurz vor Verhandlungsschluss erhoben werden
dürfen; Klagsausdehnungen mit bereits im Zeitpunkt der Klagserhebung zustehenden
Forderungen verbunden mit umfassendem Beweisanbot sollen nicht erst nach mehreren
Verhandlungen und langer Verfahrensdauer erfolgen dürfen.
Es versteht sich von selbst, dass bei verspätet erstattetem neuen Vorbringen oder Beweis- 19.53
anbot die Partei sofort glaubhaft zu machen hat, dass dies nicht früher hat erstattet
werden können und sie an der Verspätung kein grobes Verschulden trifft. Hierüber ist
jedenfalls kein Beweisverfahren durchzuführen. Dass keine aufwendigen Erhebungen zur
Prüfung der Voraussetzungen für eine Zurückweisung anzustellen sind, ergibt sich zwin-
gend aus dem Zweck der Norm. 3173 Nach den ErläutRV zur öZVN 2002 ist grobe Fahr-
lässigkeit indiziert, wenn eine Partei ohne Angabe von Gründen Vorbringen verfahrens-
verzögernd erstattet. Die Präklusionsmöglichkeit besteht auch gegenüber Nebeninterve-
nienten; im Fall einheitlicher Streitgenossen müssen die Voraussetzungen bei allen vor-
liegen. Eine Zurückweisung wegen Verspätung ist erst nach Erörterung des Sach- und
Rechtsvorbringens (§ 182a ZPO) möglich, weil sich die grobe Schuldhaftigkeit auf eine
diesbezüglich bereits erfolgte Erörterung bezieht 3174 •
§ 179 Abs 2 ZPO wurde durch die Nov um einen letzten Satz ergänzt, wonach über den 19.54
Rekurs gegen einen Beschluss des LG (Ordnungsstrafe gegen Rechtsanwalt) das OG end-
gültig und unter Ausschluss jeden weiteren Rechtszugs entscheidet (Maßnahme iS der
Verfahrensbeschleunigung). Der Höchstbetrag beträgt CHF 1.000,- (vgl § 220 Abs l
ZPO). Ein gewisser Wertungswiderspruch ist darin zu sehen, dass der Gesetzgeber eine
grob fahrlässige Prozessverschleppung durch den Rechtsanwalt mit einer bis zu 10-fach
höheren Strafe als die (vorsätzliche) Störung der Verhandlung, Ungebühr oder Beleidi-
gung durch den Rechtsanwalt belegt. Mit der Nov wurde auch der Verschuldensmaßstab
in§ 181 Abs 2 ZPO, § 275 Abs 2 ZPO und § 278 Abs 2 ZPO auf „grobes Verschulden"
herabgesetzt.
Auch nach Lehre und Rsp zur österr Rezeptionsvorlage 3175 ist die Präklusionswirkung 19.55
von den Gerichten mit Vorsicht und Verantwortung anzuwenden. Die Präklusion von
Tatsachenvorbringen und Beweisanträgen berührt zwei verfassungsrechtlich gewährleis-
tete Rechte, nämlich das rechtliche Gehör und den Gleichheitsgrundsatz3176 sowie insge-
samt den Grundsatz des „fair trial". Demnach muss eine Abwägung zwischen dem Inte-
resse an einer sachlich richtigen und jenem an einer raschen Entscheidung vorgenommen
werden. Es wird sich erst zeigen, ob angesichts der Rsp des StGH (insb zur Gehörver-
letzung3177) die Präklusionswirkung tatsächlich erreicht wird.
2. Einige Anregungen
a) Vor der Verhandlung
19.57 Viele Verfahren haben Auslandsbezug, weshalb fallweise vorwiegend aus einem EWRA-
Staat oder der Schweiz (,,Vaduzer Konvention") stammende Rechtsanwälte als Vertreter
einschreiten. Die Bestimmung des Art 82 RAG (Zustellbevollmächtigter), die der Ver-
fahrensbeschleunigung dient, wird zu wenig angewendet.
19.58 Auch Aufträge nach Art 12 Abs 1 ZustG (Namhaftmachung eines Zustellbevollmächtig-
ten durch Parteien und Beteiligte, die über keine Abgabestelle in Liechtenstein verfügen)
sollten konsequent und bei erster Gelegenheit erteilt werden. 3179
19.59 Die Zeitspanne zwischen Verhandlungstermin und Zustellung der Ladung ist so zu wäh-
len, dass die Rückscheine jedenfalls vor der Verhandlung bei Gericht einlangen. Wenn
mehrere Verhandlungen mit Beweisaufnahmen an einem Tag stattfinden, sollte zwischen
diesen ein hinreichend großes Zeitfenster gelassen werden, um Verspätungen oder gar
Vertagungen zu vermeiden. Vertagungsbitten kurz vor der Verhandlung sollte nur in
begründeten Ausnahmefällen (Erkrankung unter Vorlage eines Attests) entsprochen wer-
3180
den. Da ein derartiger Antrag keine aufschiebende Wirkung hat, tritt Säumnis ein,
wenn und solange nicht über den Antrag im stattgebenden Sinn entschieden wird. 3181
Mehrere Zeugen sind gestaffelt zu laden, zwischen den einzelnen Ladungszeitpunkten
sollten insb bei überschaubarem Beweisthema keine großen Abstände gelassen werden,
um Leerläufe bei Ausbleiben von Zeugen hintanzuhalten.
19.60 Vorbereitung des Protokolls: Dass im vorbereiteten Protokoll bereits sämtliche Forma-
lien wie Vorbringen, Beweisbeschluss, Urkundenbezeichnungen, Personalien der Par-
teien, Zeugen etc enthalten sind, ist selbstverständlich. Vorformulierte Fragenlisten sind
vielfach zu starr und zu wenig situativ.
19.61 Dolmetscher: Besonders in komplexeren Verfahren ist es hilfreich, dem Dolmetscher vor
der Verhandlung den Prozessstoff in groben Zügen näherzubringen und ihn zu instruie-
ren, wie die Protokollierung (Resümeeprotokoll, Simultanprotokoll, Abschnittsprotokoll;
3178 Vgl zur Verfahrensbeschleunigung Rassi in Fasching/Konecny II/3 3 § 180 ZPO Rz 71.
3179 OGH CO.2011.1 GE 2011, 87; StGH 2011/82 GE 2013, 6.
3180 RIS-Justiz RS0l 14577.
3181 OGH 7.10.2016, 06 CG.2015.374.
meist wohl in einer Mischform) erfolgen wird. lnsb ist der Dolmetscher anzuleiten, nach
2 bis 3 Sätzen des zu Vernehmenden diese zu übersetzen, um wortreiche und weit aus-
holende Antworten zu unterbinden.
Wann immer möglich, sind die Parteien schon zum ersten Termin zu laden. Die in der 19.62
Praxis zunehmend nicht beachtete Subsidiarität der Parteienvernehmung ist ohnehin
durch die Nov gefallen (§ 371 ZPO) und die Parteien können schon zur sog Beweisbe-
schlusstagsatzung mit der Sanktion des§ 381 ZPO, also der Berücksichtigung des Nicht-
erscheinens bei der Beweiswürdigung geladen werden. Im Fall der Verbindung der ersten
Tagsatzung mit der mündlichen Streitverhandlung gern § 246 Abs 2 ZPO bedürfte es
einer gerichtlichen Aufforderung zum Erscheinen der Partei zwar nicht, diese ist viel-
mehr durch den Vertreter stellig zu machen (bzw allenfalls eine informierte Person),
allerdings sind an das unentschuldigte Nichterscheinen zu diesem Termin keine Präklu-
sionsfolgen geknüpft. Allenfalls kann eine Anleitung des Prozessgegners zur Antragstel-
lung nach § 142 ZPO in Betracht gezogen werden.
b) In der Verhandlung
Wer im Vergleich zur Kollegenschaft viel und lange verhandelt, macht etwas falsch, mag 19.63
er auch gründlicher in der Prozessvorbereitung und -führung sein. Zwar verschafft ge-
naue Kenntnis des Aktes und der sich ergebenden Rechtsfragen Souveränität3 182 , doch
steht fallweise die allzu genaue Vorbereitung einer effizienten Verhandlungsführung im
Weg. Die überdurchschnittliche Dauer von Verhandlungen ist ein enormer Zeitfresser
und fast immer durch „Fehler" des Verhandlungsrichters bedingt, welche ihm selbst -
weil durch ein Rechtsmittel nicht fassbar - oft gar nicht bewusst sind.
IdR sind die Parteien zuerst und dann die wichtigsten Zeugen einzuvernehmen. Das 19.64
„Primat der Parteienvernehmung" hat vielfach beschleunigende Wirkung, zeigt sich doch
im Lauf der Einvernahme immer wieder, dass weitere Beweisaufnahmen entbehrlich
sind. Ein „Splitting" der PV (am ersten Verhandlungstag der Kläger, am folgenden Ter-
min der Beklagte) sollte vermieden werden. Bei umfangreichem Prozessstoff können
Beweisthemenblöcke gebildet werden, um die Einvernahme beider Parteien zum jeweili-
gen Thema am selben Tag sicherzustellen. Wenn das (baldige) Ende der Verhandlung
absehbar ist, sind Unterbrechungen (Mittagspause) oder gar Vertagungen (Abend) kont-
raproduktiv. Wenn der Richter keine Fragen hat, spricht nichts dagegen, das Fragerecht
sogleich dem Beweisführer zu überlassen.
Bei der Protokollierung hat sich die Bildung kurzer Aussageblöcke nach dem Diktat des 19.65
Richters in zusammenfassender Form als am effizientesten bewährt. Fallweise (,.wenn es
auf jedes Wort ankommt") ist eine wörtliche Protokollierung (Frage/Antwort) geboten.
Suggestivfragen der Parteienvertreter können durchaus zugelassen werden, sollten aber
wörtlich protokolliert werden, so wie auch überflüssige Fragen, solange sie nicht über-
handnehmen, zugelassen werden sollten, nimmt doch erfahrungsgemäß die Auseinan-
dersetzung über deren Zulassung mehr Zeit in Anspruch.
Erklärung zur Ferialsache (§ 224 Abs 2 ZPO): Von dieser verfahrensbeschleunigenden 19.66
Maßnahme wird in der Praxis zu selten Gebrauch gemacht. Gegen den ausdrücklichen
Willen beider Parteien sollte jedoch eine derartige Anordnung nicht erfolgen. Ohne sach-
liche Grundlage und atypisch häufig erfolgende Erklärungen zur Ferialsache ziehen uU
disziplinarrechtliche Konsequenzen nach sich.
19.67 Es ist vom Richter zu fordern, die Bestimmungen der Sitzungspolizei3 183 im Detail zu
kennen, genügt doch oft schon ein diskreter Hinweis auf die entsprechende Bestimmung,
um die Situation in den Griff zu bekommen. Außerdem verschafft diese genaue Kenntnis
Verhandlungssicherheit.
19.68 Im Zug des gesamten Verfahrens, und nicht nur zu Beginn der mündlichen Streitver-
handlung3184 sollte immer wieder die Möglichkeit eines Vergleichs ins Spiel gebracht
werden. Vielfach wird den Parteien erst im Lauf des Verfahrens bewusst, dass eine güt-
liche Einigung einer urteilsmäßigen Erledigung vorzuziehen ist. Durchaus vergleichsför-
dernd kann auch die Erörterung des Sach- und Rechtsvorbringens (tunlichst in Anwe-
senheit der Parteien) sein, zeigt sie doch - richtig angewendet - Schwächen der Parteien
in der Prozessführung auf, denen nicht zuletzt mit dem Abschluss eines Vergleichs be-
gegnet werden kann. Ein Drängen auf einen Vergleich (,.Vergleichsschinderei") ist aller-
dings zu unterlassen.
19.69 Ab und zu werden in der „Hitze des Gefechts" unnötigerweise wechselseitig Anträge
gestellt (Nichtzulassung einer Frage, Beeidigung, Zuleitung des Akts an die Staatsanwalt-
schaft, etc), deren Sinnhaftigkeit nicht der konkreten Prozesssituation entspricht. Hierbei
erweist es sich oft als zielführend, Derartiges nicht sogleich ins Protokoll einfließen zu
lassen, sondern die Verhandlung ganz normal weiterzuführen. Nach einer „Abkühlpha-
se" werden die in den Raum gestellten Anträge iaR letztlich nicht förmlich gestellt. Maß-
geblich zur Beruhigung der Gemüter kann auch das Einlegen einer Verhandlungspause
beitragen. Heikler ist der Umgang mit Ablehnungsanträgen aufgrund des Verhaltens des
Verhandlungsleiters in der Verhandlung. Hier ist - mag der Antrag subjektiv auch jeder
sachlichen Grundlage entbehren - mit sofortiger Erstreckung und Ingangsetzung des
Ablehnungsverfahrens vorzugehen.
19.70 Bei Vertagungen sind im Hinblick auf die nächste in der Rechtssache stattfindende Tag-
satzung den Parteien konkrete Aufträge iSd § 181 Abs 2 ZPO zu erteilen und ist ihnen
vor Augen zu führen, dass neben der Präklusion auch eine Würdigung nach § 381 ZPO
möglich ist, für den Fall, dass ein Auftrag überhaupt nicht befolgt wird. Diese Bestim-
mung gibt dem „aktiven Richter" ein scharfes Schwert in die Hand. 3185 In komplexeren
Verfahren ist es fallweise unumgänglich, selbst wenn bereits ein Schriftsatzwechsel erfolgt
ist, einen weiteren Schriftsatzwechsel aufzutragen bzw zuzulassen. Hierbei ist stets eine
Staffelung unter jeweiliger Fristsetzung angezeigt (Einbringung Schriftsatz, hierauf Ein-
bringung Replik), wobei zulässige vorbereitende Schriftsätze ohnehin spätestens eine
Woche vor der Verhandlung bei Gericht und beim Gegner eintreffen müssen (§ 257
Abs 7 ZPO).
Außerstreitstellungen: Zu wenig Augenmerk wird von den Richtern den Außerstreit- 19.71
stellungen 3186 gewidmet. Oftmals kommt man erst bei der Verfassung des Urteils darauf,
dass man sich einiges an Begründungsaufwand erspart hätte, wenn man die entsprechen-
den Tatsachen außer Streit gestellt hätte. Dadurch werden auch überflüssige Beweisauf-
nahmen verhindert.
Beweisbeschluss: Eine genaue Ausformulierung des Beweisbeschlusses (iSd § 264 iVm 19.72
§ 277 Abs 3 ZPO) ist va dann geboten, wenn die Beweisaufnahme durch einen ersuchten
Richter erfolgt. lnsb für Rechtshilfeersuchen in die Schweiz und den angelsächsischen/ang-
loamerikanischen Raum ist eine präzise Fragenliste unabdingbar. Auch sollte tunlichst die
Möglichkeit einer Videokonferenz(§ 283 Abs 4 ZP0 3187 ) wahrgenommen werden. Eng-
lischsprachige Urkunden können unter bestimmten Voraussetzungen ohne (zeitrauben-
de) Übersetzung verwendet werden. 3188 Bei Vorlage umfangreicher Urkundenkonvolute
sollte der Beweisführer dazu verhalten werden, die maßgeblichen Stellen darin anzugeben
bzw hervorzuheben. 3189 In Großverfahren mit mehreren Parteien auf der einen und/oder
auf der anderen Seite, in welchen eine Vielzahl von Urkunden zu erwarten sind, sollte
schon bei der ersten sich bietenden Gelegenheit mit den Parteienvertretern die Art und
Weise der jeweiligen Urkundenbezeichnungen besprochen werden. Auch sollten die Par-
teienvertreter angehalten werden, ein Urkundenverzeichnis vorzulegen.
Sachverständige - Auswahl/Auftrag/Frist/Ergänzung/Erörterung: Zwar ist die Aus- 19.73
wahl eines Sachverständigen nicht mehr selbstständig anfechtbar (§ 366 Abs 1 ZPO idFd
Nov), dennoch sollte von der Möglichkeit, den Parteien aufzutragen, geeignete Sachver-
ständige namhaft zu machen, äußerst sparsam Gebrauch gemacht werden. Als weitaus
effizienter erweist es sich, wenn der Richter in der Verhandlung 2- 3 Sachverständige in
Vorschlag bringt und nach entsprechender Erörterung einen Sachverständigen bestellt.
Schon im Vorfeld sollte mit dem Sachverständigen abgeklärt werden, ob aus dessen Sicht
eine Befangenheit besteht.
Je weniger Gerichtserfahrung der Sachverständige hat, desto konkreter sollte die Frage- 19.74
stellung im Auftrag auf den Punkt gebracht werden. Den Parteien sollte nur in absoluten
Ausnahmefällen (komplexe Themen, in welchen der Richter mangels Fachkunde bereits
mit der Erstellung eines Gutachtensauftrags überfordert ist) die Möglichkeit eröffnet wer-
den, schriftliche Fragen an den Sachverständigen zu richten. Bei der Fristsetzung(§ 357
Abs I ZPO) sollte die Frist eher großzügig bemessen werden, dafür aber zeitnah (unmit-
telbar) nach Ablauf der Frist urgiert werden. Ebenso sollte die schriftliche Gutachtens-
ergänzung (nach entsprechenden Anträgen und allenfalls Vorlage von Privatgutachten
der Parteien) die Ausnahme bilden. Der Sachverständige hat diesfalls ohnehin zur Vor-
bereitung der regelmäßig stattfindenden mündlichen Erörterung alle weiteren von den
Parteien vorgelegten Unterlagen zur Verfügung und wird darauf hinweisen, wenn eine
schriftliche Ergänzung des Gutachtens unabdingbar ist. Bei der Gutachtenserörterung
sollte zur Erleichterung der Protokollierung dem Sachverständigen gestattet werden, sei-
ne Ausführungen direkt der Schriftführerin zu diktieren. 3190
d) Sonstiges
19.77 Parallelität von Verfahrensschritten: Wo immer ohne Beschneidung der Parteirechte
die Möglichkeit besteht, Verfahrensschritte statt nacheinander parallel vorzunehmen
Übersicht
Rz
I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.1
II. Das Anerkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.3
A. Begriff und Rechtsnatur des Anerkenntnisses . . . . . . . . . . . . . . . . 20.3
B. Form, Inhalt und Zulässigkeit des Anerkenntnisses . . . . . . . . . . . . 20.9
C. Anerkenntnisurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.19
D. Anfechtung des Anerkenntnisses/ Anerkenntnisurteils . . . . . . . . . . 20.27
III. Der Verzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.32
A. Begriff und Rechtsnatur des prozessualen Verzichts . . . . . . . . . . . . 20.32
B. Form, Inhalt und Zulässigkeit des prozessualen Verzichts . . . . . . . 20.36
C. Verzichtsurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.40
IV. Der gerichtliche Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.44
A. Begriff und Rechtsnatur des gerichtlichen Vergleichs . . . . . . . . . . . 20.44
B. Form, Inhalt und Zulässigkeit des gerichtlichen Vergleichs ...... 20.55
C. Parteien des gerichtlichen Vergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.74
D. Wirkungen des gerichtlichen Vergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.76
1. Prozessbeendende Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.77
2. ·wirkung auf Neueinklagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.84
E. Rücktritt vom gerichtlichen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.89
F. Anfechtung des gerichtlichen Vergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.92
1. Allgemeines
20.1 Der liechtensteinische Zivilprozess wird weitgehend vom sog Dispositionsgrundsatz be-
herrscht. Die Prozessparteien bestimmen nach diesem Grundsatz den Beginn und den
Gegenstand des Verfahrens; sie können über diesen verfügen oder die Beendigung des
Rechtsstreits herbeiführen. Die staatliche Privatrechtsordnung überlässt es weitestgehend
den Parteien, ihre Privatrechte auszuüben, zu gestalten und durchzusetzen. Dem im Pri-
vatrecht herrschenden Prinzip der Privatautonomie entspricht im Prozessrecht der Dis-
positionsgrundsatz. Demnach wird also das Verfahren nur auf Antrag eingeleitet. Die
Parteien bestimmen den Gegenstand des Rechtsstreits durch ihre Sachanträge und kön-
nen noch während des Rechtsstreits durch Anerkenntnis, Verzicht oder Vergleich über
den zugrunde liefenden Anspruch verfügen. Das Gericht ist an die Sachanträge der Par-
3 97
teien gebunden.
3197 OGH 6 CG.2013.24 Erw 7, 8 LES 2018, 52 und die dort zit Rsp und Lehre, ua unter Hinweis
auf Fasching, Lehrbuch 2 Rz 638, 642 ff.
Thema dieses Kapitels sind nun die Sachdispositionserk.Järungen des Anerkenntnisses, 20.2
Verzichts und Vergleichs der Parteien, mit welchen sie über die gänzliche oder teilweise
Erledigung des Rechtsstreits verfügen können, indem sie sich entweder ganz oder teil-
weise dem Rechtsfolgebegehren des Gegners unterwerfen. Mit dem Anerkenntnis und
Verzicht stellen die Parteien einseitig den Kampf um ihr vermeintliches Recht ein, mit
dem Vergleich beenden sie ihn mit einem Teilerfolg. 3198
Die Bestimmung des § 395 ZPO entspricht nahezu 3199 jener des § 395 öZPO. Generell 20.4
kann daher zur Anwendung und Ausle§ung die öRsp und Lehre zur Rezeptionsgrundlage
(§ 395 öZPO) herangezogen werden. 32 0
Das prozessuale Anerkenntnis ist daher definiert als die einseitige (und vorbehaltslo- 20.5
se 3201 ) Willenserk.Järung des Bek.Jagten an das Gericht, das vom Kläger gestellte Rechts-
folgebegehren sei ganz oder teilweise (beim Teilanerkenntnis) berechtigt.
Seiner Rechtsnatur nach und gern der öRsp ist das prozessuale Anerkenntnis eine Pro- 20.6
zesshandlung. Für seine Gültigkeit sind grundsätzlich die Regeln des Prozessrechts maß-
gebend. 3202
Gegenüber dem privatrechtlichen Anerkenntnis weist das prozessuale Anerkenntnis eine 20. 7
Reihe wesentlicher Unterschiede auf: Das prozessuale Anerkenntnis ist eine einseitige
Prozesshandlung einer Partei und an das Gericht gerichtet 3203 , bedarf keiner Annahme
durch den Gegner, hat das Klagebegehren (alle Leistungs-, Feststellungs- oder Rechtsge-
staltungsbegehren, die auf disponiblen Rechten ohne Beschränkung auf Schuldrechte be-
ruhen können) zum Gegenstand und ist an die Regeln des Prozessrechts gebunden. Das
privatrechtliche Anerkenntnis (§ 1375 ABGB) hingegen ist ein Vertrag, der mit dem
Gegner geschlossen wird und daher dessen Zustimmung bedarf, kann nur obligatorische
Rechte zum Gegenstand haben und ist in der Regel formfrei.
Im Einzelfall kann ein im Prozess erk.Järtes Anerkenntnis aber auch die Erfordernisse 20.8
eines materiell-rechtlichen Anerkenntnisvertrags erfüllen. Dann liegt eine doppelfunk-
tionelle Prozesshandlung vor, die im laufenden Rechtsstreit ausschließlich nach den
Regeln des Prozessrechts zu beurteilen ist. Bei einem prozessual unwirksamen Aner-
kenntnis (wenn also kein Anerkenntnisurteil gefällt werden kann), muss das Anerkennt-
nis in diesem oder in einem neuen Rechtsstreit dahin geprüft werden, ob es im konkreten
Fall ein Anerkenntnisvertrag des materiellen Rechts war. Ein hingegen prozessual wirk-
sames Anerkenntnis wird in seiner Wirksamkeit grundsätzlich dadurch nicht berührt,
dass es als Anerkennungsvertrag wirkungslos oder anfechtbar wäre. 3204
3204 Dazu eingehend Fasching, Lehrbuch 2 Rz 766ff, 771, 1309f; Rechberger in Rechberger/K/icka,
ZPOs § 395 Rz I mwN.
3205 öOGH l Ob 304/66.
3206 Nach Ansicht von Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1312 und öOGH 3 Ob 255/04b.
Inhaltlich ist das prozessuale Anerkenntnis an keinen bestimmten Wortlaut gebun- 20.12
den. 3207 Aus der Erklärung eines prozessualen Anerkenntnisses muss aber zweifelsfrei
hervorgehen, dass der Beklagte das Klagebegehren für berechtigt ansieht. Dies ist auf-
grund objektiver Auslegung zu ermitteln (der Parteiwille ist nicht zu erforschen). 3208 Da-
zu hat der OGH in einem Urteil zu 4 CG.2009.178 3209 judiziert, dass ein privatrechtliches
Anerkenntnis nach § 1375 ABGB keiner besonderen Form bedarf und es auch schlüssig
abgegeben werden kann (so hat der OGH hier in der Erklärung, bemüht zu sein, eine
Kostennote so schnell wie möglich zu bezahlen, verbunden mit der Bitte um Stundung
für geraume Zeit, ein konstitutives Anerkenntnis erkannt). Für die Auslegung eines An-
erkenntnisses wendet der OGH in diesem Urteil die Vertrauenstheorie an. Danach be-
stimmt sich die Bedeutung einer Willenserklärung nach ihrem objektiven Sinn unter
Berücksichtigung der im redlichen Verkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche,
sofern der Erklärungsempfänger auf die objektive Erklärungsbedeutung berechtigterweise
vertraute. Nach der Vertrauenstheorie kommt es weder darauf an, was der Erklärende
wirklich wollte, noch wie der andere Teil die Erklärung subjektiv verstanden hat, sondern
welche Schlüsse der Adressat als redlicher Erklärungsempfänger (nach Treu und Glau-
ben) unter Berücksichtigung aller Umstände abzuleiten berechtigt war.
Wegen der prozessökonomischen und streitbeendenden Wirkung kann das Anerkennt- 20.13
nis nur wirksam sein, wenn es unbedingt und unbefristet erklärt und vorbehaltlos ab-
gegeben wird. 3210
Gegenstand des prozessualen Anerkenntnisses sind das Klagebegehren sowie die anderen 20.14
Urteilsanträge (auch eingewendete Gegenforderungen) oder ein bestimmbarer Teil da-
von, jedoch niemals ein bestimmter Rechtsgrund, Prozessvoraussetzungen, eine Vorfrage
oder Tatsachen (außer der Sonderfall des Urkundserklärens zur Echtheit einer Urkunde).
Zulässig ist ein Anerkenntnis des Anspruchsgrunds, wenn Grund und Höhe einer For-
derung bestritten waren. 3211 Anerkennungsfähig sind sowohl Leistungsbegehren als auch
Rechtsgestaltungs- und Feststellungsbegehren (auch von negativen Feststellungsklagen
und damit auch Zwischenanträge auf Feststellung).
Das Zugeständnis bloß tatsächlicher Behauptungen des Gegners stellt als bloße Wissens- 20.15
erklärung kein prozessuales Anerkenntnis dar. Ein solches ist vielmehr nur dann gege-
ben, wenn der Gegner des Sachantragstellers dessen Rechtsfolgebehauptung für berech-
tigt erklärt (Willenserklärung) und Grundlage für ein Anerkenntnisurteil bildet.
Mit dem Gegenstand des prozessualen Anerkenntnisses hat sich der OGH in seinem Be- 20.16
schluss zu 8 CG.2007.302 3212 eingehend befasst (und darin die dargestellte öLehre und
Rsp bestätigt). Seine Verpflichtung zum Erlag einer aktorischen Kaution dem Grunde
nach nicht (und nur der Höhe nach) zu bestreiten, hat der OGH im zitierten Beschluss
nicht als prozessuales Anerkenntnis iS des§ 395 ZPO qualifiziert, weil ein solches nur das
Anerkenntnis der Klagsforderung durch den Beklagten betreffen kann. Diese Erklärung
des Klägers stellt vielmehr ein unbeachtliches „Rechtsgeständnis" iS des § 267 ZPO dar.
Rechtliche Qualifikationen wie hier können ebenso wenig Gegenstand eines Geständnis-
ses sein wie die Anwendbarkeit eines Gesetzes (hier des§ 57 ZPO). Das Vorbringen, die
Kautionspflicht dem Grunde nach nicht zu bestreiten, ist vom OGH nur als Wissenser-
klärung dahin verstanden worden, dass der Kautionsantrag der Beklagten ausgehend von
der zu diesem Zeitpunkt bestehenden Sach- und Rechtslage berechtigt ist. Als sog „de-
klaratives Anerkenntnis" schafft diese Erklärung aber keinen neuen und vom Gesetz los-
gelösten Verpflichtungsgrund für den Erlag der Kaution, sondern bildet als Wissenser-
klärung lediglich ein Beweismittel. Sie hindert den Kläger daher nicht, im Rekurs seine
Kautionspflicht auch dem Grunde nach zu bestreiten. 3213
20.17 Das Anerkenntnis ist eine Konsequenz des Dispositionsgrundsatzes. Daher ist überall
dort, wo den Parteien kraft Gesetzes die Disposition über den Streitgegenstand ganz oder
teilweise entzogen ist, ein Anerkenntnis des Klagsanspruchs unwirksam und damit die
Fällung eines Anerkenntnisurteils unzulässig. Ein Beispiel dafür normiert § 527 Abs l
ZPO 3214 für das streitige Ehescheidungsverfahren. In einem solchen ist nach der genann-
ten Bestimmung der Abschluss eines Vergleichs, eines Anerkenntnisurteils, eines Ver-
säumnisurteils oder eines Urteils nach § 399 ZPO nicht zulässig. Vor Inkrafttreten des
§ 527 ZPO idgF im November 2010 hatte der OGH noch judiziert, dass die ausdrückliche
Zustimmung des geklagten Ehegatten zu der auf streitige Scheidungsgründe gestützten
Scheidungsklage als prozessuales Anerkenntnis zu qualifizieren sei, welches bis zur
Rechtskraft des Urteils auch ohne Einwilligung des Verfahrensgegners widerrufen wer-
den könne. 3215 Diese Rsp ist daher überholt. Ein weiteres Beispiel ist das Anerkenntnis
der Vaterschaft zu einem unehelichen Kind. Das ist ein selbstständiger materiell-recht-
licher Vaterschaftsfeststellungstatbestand (§ 163b ABGB). Ein im Zug eines Vaterschaft-
sprozesses abgegebenes Anerkenntnis der Vaterschaft führt zu keinem Anerkenntnisur-
teil und ist somit kein prozessuales Anerkenntnis. Auch die Prozessvoraussetzungen sind
der Parteiendisposition entzogen. Es können daher Klagsansprüche, welche die Rechts-
kraft von gerichtlichen Entscheidungen zum Gegenstand haben (Klagebegehren von
Nichtigkeits- und Wiederaufnahmsklagen) nicht anerkannt werden und kein Gegenstand
von Anerkenntnisurteilen sein. 3216
20.18 Die Legitimation zu einem prozessualen Anerkenntnis kommt nur der Partei bzw de-
ren gesetzlichem Vertreter und ihrem Bevollmächtigten zu, nicht jedoch dem einfa-
chen oder streitgenössischen Nebenintervenienten. Bei einer (auch materiellen) Streit-
genossenschaft wirkt das Anerkenntnis nur für und gegen den einzelnen Streitgenos-
sen, von dem und bezüglich dessen Anspruchs es erklärt wurde. Bei einer einheitlichen
Streitpartei (§ 14 ZPO) ist es nur wirksam, wenn es von allen Teilgenossen erklärt
wurde. 3217
3213 Unter Hinweis auf RIS-Justiz RS0l 14623; RS0l 11900 ua.
3214 Abgeändert durch LGBI 2010/455.
3215 LES 2007, 275.
3216 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1316; Rechberger in Rechberger/K/icka, ZPO 5 § 395 Rz 2.
3217 öOGH 5 Ob 13/58; 1 Ob 284/57; 1 Ob 304/66; Rechberger in Rechberger/K/icka, ZPO 5 § 395
Rz 3.
C. Anerkenntnisurteil
Das Anerkenntnis selbst beendet den Prozess noch nicht. Es bildet erst die Grundlage des 20.19
Anerkenntnisurteils, das jedoch nur auf Antrag des Gegners gefällt werden darf. Ein
ohne Antrag gefälltes Anerkenntnisurteil ist wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens an-
fechtbar.
Erst der Antrag des Gegners führt daher zu einem Anerkenntnisurteil. Ein solcher Antrag 20.20
des Gegners auf Fällung eines Anerkenntnisurteils ist eine formgebundene Prozesshand-
lung und muss mündlich bei der Tagsatzung erklärt werden. Schriftlich ist er nur in der
Berufungs-, Rekurs- oder Revisionsbeantwortung zulässig, wenn keine mündliche Ver-
handlung im Rechtsmittelverfahren vorgesehen ist. Die Fällung eines Anerkenntnisurteils
in erster Instanz aufgrund eines schriftlichen Urteilsantra~s außerhalb der mündlichen
Verhandlung bildet einen erheblichen Verfahrensmangel. 32 8 Bei Anerkenntnis eines An-
spruchsteils oder eines von mehreren in einer Klage geltend gemachten Ansprüchen ist
ein Teilanerkenntnisurteil zu fällen (in analoger Anwendung des § 394 Abs 2 ZPO).
Unterlässt der Gegner den Antrag auf Fällung eines Anerkenntnisurteils, dann ist er nach 20.21
Ansicht von Fasching3 219 und der österr hL gern § 133 Abs 2 ZPO säumig und infolge
beiderseitigen Nichtverhandelns zur Sache tritt Ruhen des Verfahrens ein. In der öRsp ist
dies jedoch strittig 3220 ; in Liechtenstein existiert dazu keine Rsp.
Über den Antrag des Gegners auf Fällung eines Anerkenntnisurteils muss vom Gericht 20.22
entschieden werden. Liegt kein gültiges Anerkenntnis vor, muss ein solcher Antrag mit
(anfechtbarem) Beschluss abgewiesen, andernfalls aber sofort ohne weiteres in Stattge-
bung des Antrags das Anerkenntnisurteil gefällt werden.
Nur unter folgenden Voraussetzungen darf das Anerkenntnisurteil (§ 395 ZPO) gefällt 20.23
werden:
• wenn alle Prozessvoraussetzungen gegeben sind und keine Prozesshindernisse vorlie-
gen; das ist vom Gericht vorweg zu prüfen und gegebenenfalls die Klage - allenfalls
nach einem vorgeschriebenen und erfolglos gebliebenen Heilungsversuch - zurückzu-
weisen;
• wenn eine anerkennungsfähige Rechtsfolge den Entscheidungsgegenstand bildet;
• wenn das Anerkenntnis rechtswirksam erklärt wurde;
• wenn ein ausdrücklicher Antrag des Gegners auf Fällung des Anerkenntnisurteils vor-
liegt.
Bei seiner Entscheidung hat das Gericht das Anerkenntnis zugrunde zu legen und ist 20.24
grundsätzlich an dieses gebunden. Es darf deshalb nicht mehr prüfen, ob die in der Klage
(dem Sachantrag) behaupteten Tatsachen vorliegen und ob die im Urteilsantrag begehrte
und vom Gegner anerkannte Rechtsfolge wirklich aus den Tatsachenbehauptungen ab-
geleitet werden kann. Inwieweit das Gericht dabei berechtigt und verpflichtet ist, das
Anerkenntnis selbst zu überprüfen, ist in der öLehre strittig. Allgemein anerkannt ist
nur, dass bloße rechtliche Unschlüssigkeit kein Hindernis für ein positives Anerkenntnis-
urteil ist. Nach verschiedenen Lehrmeinungen sind Anerkenntnisurteile über Anerkennt-
nisse rechtsunwirksam, die mit den Grundlagen der inländischen Rechtsordnung (ordre
public) unvereinbar sind, oder die einem gesetzlichen Verbot und den guten Sitten wider-
sprechen, oder wenn die begehrte Rechtsfolge selbst unzulässig, verboten, sittenwidrig
3221
oder dem geltenden Recht unbekannt ist.
20.25 Eine § 416 Abs 3 öZPO entsprechende Bestimmung enthält die liechtensteinische ZPO
nicht. Ein in Anwesenheit beider Parteien verkündetes Urteil aufgrund von Verzicht oder
Anerkenntnis wird daher nicht schon allein mit der Verkündung den Parteien gegenüber
wirksam und ist nicht nur auf Verlangen der Parteien schriftlich auszufertigen und zu-
zustellen (wie dies § 416 Abs 3 öZPO normiert). Dies stellt einen wesentlichen Unter-
schied zur öZPO dar.
20.26 IdR ist die Partei, über deren Antrag ein Anerkenntnisurteil gefällt worden ist, als im
Prozess obsiegend anzusehen und hat daher gegenüber der vollständig unterliegenden
Partei auch einen Kostenersatzanspruch {§ 41 ZPO). Der Kläger ist jedoch trotz seines
Obsiegens im Prozess mittels eines Anerkenntnisurteils mit den Prozesskosten dann zu
belasten, wenn sich die Sache ohne Rechtsstreit hätte erledigen lassen und daher der im
Grunde überflüssige Prozess von ihm veranlasst wurde. 3222 Es ist demnach auch zu prü-
fen, ob sich der mit einer Feststellungsklage erzielbare Erfolg auf außergerichtlichem Weg
hätte herbeiführen lassen. Beurteilungsgrundlage für den eine Ausnahme vom Erfolgs-
haftungsprinzip darstellenden Tatbestand des § 45 ZPO ist deshalb das vorprozessuale
Verhalten der Streitteile als auch deren Verhalten bis zum Anerkenntnis. Es ist also in-
soweit eine rückschauende Betrachtungsweise notwendig, die das Verhalten der Streit-
teile bis zur Streitverhandlung, bei der das Anerkenntnis erfolgt ist, mitberücksichtigen
darf und muss. Der Umstand, dass sich die Streitteile außergerichtlich (dh anlässlich der
damals noch obligatorischen Vermittlungsverhandlung) nicht einigen konnten und der
Beklagte erst bei der Streitverhandlung vor Gericht das Klagebegehren anerkannte,
schließt dessen Kostenersatzanspruch nach § 45 ZPO nicht aus. 3223
der mündlichen Verhandlung über Antrag auf Fällung eines Anerkenntnisurteils vom
Anerkennenden berichtigt werden. 3224 In der öRsp war die Zulässigkeit eines Widerrufs
des prozessualen Anerkenntnisses lange strittig. Die jüngere öRsp hat sich aber der hL
angeschlossen; sie erlaubt grundsätzlich den Widerruf, lässt allerdings offen, ob die Un-
widerruflichkeit des Prozessanerkenntnisses erst mit Fällung des Anerkenntnisurteils
oder bereits mit der Antragstellung des Gegners auf Fällung eines Anerkenntnisurteils
eintritt. 3225 Mit der Fällung des Anerkenntnisurteils wird das Anerkenntnis jedenfalls
unwiderruflich. 3226
Wenn trotz Verstoßes gegen prozessuale Zulässigkeitsvorschriften ein Anerkenntnisurteil 20.29
gefällt wurde, muss dieses mit Rechtsmitteln bekämpft werden. Die Rechtskraft des An-
erkenntnisurteils heilt die prozessualen Mängel. Das Anerkenntnisurteil ist wie jedes an-
dere Urteil mit Berufung (und allenfalls Revision) anfechtbar. Ebenso sind auch eine
3227
Nichtigkeits- und eine Wiederaufnahmsklage gegen ein Anerkenntnisurteil zulässig.
Neue Tatsachen oder Beweismittel bilden aber nur dann einen Wiederaufnahmsgrund
gern § 498 Abs 1 Z 7 ZPO, wenn bei ihrer rechtzeitigen Kenntnis kein Anerkenntnis ab-
gegeben worden wäre.
Wird der Antrag des Klägers auf Fällung eines Anerkenntnisurteils außer Acht gelassen 20.30
und ein klagstattgebendes Urteil nach sachlicher Prüfung in der Hauptsache gefällt, dann
ist der Kläger, der den mit der Klage begehrten Erfolg auf diesem Weg erzielt hat, da-
durch nicht beschwert und sein Rechtsmittel muss erfolglos bleiben. Anders ist es beim
Beklagten, der trotz eines von ihm erklärten Anerkenntnisses nach Sachprüfung verur-
teilt \\'Urde. Er ist durch ein solches Urteil beschwert.
Die Berufung des Beklagten gegen ein Anerkenntnisurteil kann sich auf die Unzulässigkeit 20.31
oder Unwirksamkeit des Anerkenntnisses und auf das Fehlen der Prozessvoraussetzungen
stützen, aber auch darauf, dass er überhaupt kein Anerkenntnis abgegeben hat oder seine
Erklärung kein Anerkenntnis war (oder die durch das Anerkenntnisurteil ausyesprochene
228
Rechtsfolge verboten, sittenwidrig oder dem geltenden Recht unbekannt ist).
3224 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1311; die öRsp ist diesbezüglich uneinheitlich; in Liechtenstein exis-
tiert dazu keine Rsp.
3225 öOGH 9 Ob 56/09i.
3226 öOGH 9 ObA 248/91; 1 Ob 264/02h; 9 Ob 56/09i; RIS-Justiz RS0040883; Rechberger in Rech-
berger!Klicka, ZPO; § 395 Rz 5.
3227 öOGH I Ob 548/49; 2 Ob 912/26.
3228 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1320; Rechberger in Rechberger!Klicka, zpos § 395 Rz 10; OGH 8
CG.2007.302 LES 2009, 234.
(2) Bezieht sich der Verzicht nur auf einen von mehreren in der Klage geltend gemachten Ansprü-
chen oder auf einen Teil eines Anspruches, so kann auf Grund des Verzichtes auf Antrag ein Teil-
urteil erlassen werden.
20.33 Die Bestimmung des § 394 ZPO entspricht nahezu 3229 jener des § 394 öZPO. Generell
kann daher zur Anwendung und Ausle§ung die öRsp und Lehre zur Rezeptionsgrundlage
(§ 394 öZPO) herangezogen werden. 32 0
20.34 Der prozessuale Verzicht ist daher definiert als die einseitige Willenserklärung des Klä-
gers an das Gericht, auf das geltend gemachte Klagebegehren (den Sachantrag) ganz oder
teilweise (bei Teilverzicht) zu verzichten. 3231
20.35 Diese dem Gericht gegenüber abgegebene Verzichtserklärung hat primär und unmittel-
bar nicht den Verzicht auf das dem Prozess zu Grunde liegende materielle Recht zum
Gegenstand, sondern den Verzicht auf die im Prozess aufgestellte Rechtsfolgebehaup-
tung. Der prozessuale Verzicht ist daher wiederum eine reine Prozesshandlung, die nicht
mit einem materiell-rechtlichen Verzichtsvertrag gern § 1444 ABGB einhergeht (dieser
setzt eine Verbindlichkeit des Schuldners voraus, die durch den Verzichtsvertrag aufge-
hoben wird). Vom materiellen Verzichtsvertrag unterscheidet sich der prozessuale Ver-
zicht aus denselben Gründen, die schon oben zu Rz 20.7 zur Unterscheidung des prozes-
sualen Anerkenntnisses vom materiell-rechtlichen Anerkennungsvertrag dargestellt wor-
den sind. Auch beim Verzicht kann im Einzelfall die prozessuale Verzichtserklärung iZm
dem Verhalten des Gegners alle Erfordernisse eines materiell-rechtlichen Verzichtsver-
trags aufweisen und so zu einer doppelfunktionellen Prozesshandlung werden, die so
wie beim Anerkenntnis im laufenden Rechtsstreit primär ausschließlich prozessrechtlich
zu beurteilen ist, aber außerhalb des Rechtsstreits (oder bei fehlen eines prozessualen
Wirkungserfordernisses) privatrechtliche Wirkungen auslösen kann 3232 • Auf die diesbe-
züglichen Ausführungen zur Rechtsnatur des Anerkenntnisses, die auch auf den Verzicht
zutreffen, sei verwiesen (oben II. A.).
3229 § 394 öZPO enthält lediglich die Wortfolge „bei der ersten Tagsatzung oder" nicht.
3230 Zuletzt zB OGH 2 CG.2011.108 LES 2018, 205.
3231 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1321; Rechberger in Rechberger/Klicka, ZPO; § 394 Rz 1.
3232 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1321; Rechberger in Rechberger/K/icka, ZPO; § 394 Rz l; Holzhammer,
Zivilprozessrecht1 225 f.
3233 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1322.
fahren ein prozessualer Verzicht und damit ein Verzichtsurteil nicht unzulässig (§ 527
Abs l ZPO). Dies im Unterschied zur öZPO (§ 460 Z 9).
Auch im Verfahren über Nichtigkeits- und Wiederaufnahrnsklagen können gerichtliche 20.38
Verzichtserklärungen abgegeben und Verzichtsurteile gefällt werden. 3234
Trotzdem kommt dem prozessualen Verzicht im liechtensteinischen Zivilprozess (wie 20.39
auch im österr Zivilprozess) - anders als dem Vergleich und auch dem gerichtlichen
Anerkenntnis - kaum praktische Bedeutung zu. Verzichtsurteile werden äußerst selten
gefällt. In der liechtensteinischen Entscheidungssammlung (LES) ist kein Verzichtsurteil
veröffentlicht. Der Grund dafür ist wohl darin gelegen, dass ein Kläger, der den Rechts-
streit auf Dauer beenden will, in der Praxis viel eher die Klagsrücknahrne unter An-
spruchsverzicht wählt. Dadurch erspart sich der Kläger die Fällung eines klagsabweisen-
den Urteils. Auf der anderen Seite erleidet der Beklagte durch die Sperrwirkung des An-
spruchsverzichts(§ 245 Abs 4 ZPO) auch ohne Verzichtsurteil keine prozessualen Nach-
teile, weil er bei Klagsrücknahrne unter Anspruchsverzicht nach § 245 Abs 4 ZPO vor
einer neuerlichen Einklagung desselben Anspruchs geschützt ist und auch Kostenersatz
beanspruchen kann. In der Praxis wird auch anstelle eines Teilverzichts des Klägers regel-
mäßig mittels bloßer Klagseinschränkung vorgegangen. Der OGH hat dazu in der Ent-
scheidung 4 CG.2013.430 3235 den Rechtssatz geprägt, dass die Klagseinschränkung als
partielle Klagsrücknahrne deren Regeln zu unterwerfen ist. Sie ist daher nach der ersten
Tagsatzung mangels ausdrücklicher Zustimmung des Beklagten nur unter explizitem
Verzicht auf den Anspruchsteil, um den die Klage eingeschränkt wird, möglich. Eine
nach der ersten Tagsatzung ohne Zustimmung des Beklagten oder ohne Anspruchsver-
zicht vorgenommene Klagseinschränkung ist vorn Gericht zurückzuweisen. Die dort ausf
begründete Rechtsmeinung des OGH orientiert sich an der Schutzbedürftigkeit des Be-
klagten und ist vorn OGH daher auch in seiner weiteren und jüngsten Rsp aufrechter-
halten worden. 3236
C. Verzichtsurteil
Der prozessuale Verzicht als solcher beendet den Rechtsstreit noch nicht, sondern bildet 20.40
lediglich die Grundlage für das Verzichtsurteil. Ein solches kann jedoch nur auf Antrag
des Beklagten gefällt werden. Auch diesbezüglich sei auf die entsprechenden Ausführun-
gen zum Anerkenntnis verwiesen (Rz 20.19).
Wie bereits zum Anerkenntnisurteil ausgeführt, ist wohl auch die Fällung eines Ver- 20.41
zichtsurteils dann als unzulässig zu erachten, wenn dadurch eine Rechtslaie geschaffen
würde, die gegen die guten Sitten oder ein gesetzliches Verbot verstößt. 323 ' Das Gericht
hat in dem Zusammenhang aber nur die Prozessvoraussetzungen zu prüfen, nicht aber,
ob der Verzicht der wahren Rechtslage entspricht (weshalb es sich beim Verzichtsurteil
um ein „Formalurteil" handelt). 3238
20.42 Solange der Beklagte nach einer Verzichtserklärung des Klägers keine Fällung eines Ver-
zichtsurteils beantragt hat, kann der Kläger seinen Verzicht ohne weiteres widerrufen;
danach nur mehr wegen eines Willensmangels (folgt man der Ansicht, dass der Verzicht
eine reine Prozesshandlung darstellt, ist die Anfechtung des Verzichts wegen eines Wil-
lensmangels mit selbstständiger Klage nicht möglich) oder we~en eines Wiederaufnah-
megrunds und wohl auch dann, wenn der Gegner zustimmt. 32 9
20.43 Stellt der Beklagte trotz der Verzichtserklärung des Klägers keinen Antrag auf Fällung
eines Verzichtsurteils, so gehen die Lehrmeinungen in Österreich auch diesbezüglich aus-
einander: Während nach überwM diesfalls Ruhen des Verfahrens analog zu § 133 Abs 2
ZPO eintreten soll, liegt nach aA Spruchreife vor (falls auch ein materiell-rechtlicher
Verzicht anzunehmen ist) und hat das Gericht in Fortsetzung des Verfahrens und unter
Zugrundelegung des materiell gültigen Verzichts ein kontradiktorisches Urteil zu fäl-
len.3240
3239 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1311, 1321; Holzhammer, Zivilprozessrecht2 228; Rechberger in Rech-
berger!Klicka, ZPOs § 394 Rz 4.
3240 Vgl den Überblick bei Rechberger in Rechberger!Klicka, ZPO 5 § 394 Rz 5.
3241 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1324; Rechberger in Rechberger!Klicka, ZPO' §§ 204- 206 Rz I ff.
3242 öBGBI I 2002/76.
3243 Zuletzt zB OGH 2 CG.2011.108 LES 2018, 205.
welchem Umfang ein Recht besteht oder entstanden ist und stellt einvernehmlich Be-
stand und Umfang des Rechts konstitutiv fest (Feststellungswirkung). Er bleibt auch
dann gültig, wenn nachträglich die Unsicherheitselemente wegfallen und die damals
zweifelhafte Sach- und Rechtslage eindeutig dargestellt werden kann (Bereinigungswir-
kung). Daraus folgt, dass der privatrechtliche Vergleich nur unter ganz beschränkten
Voraussetzungen angefochten werden kann(§§ 1382ff ABGB). Eine lrrtumsanfechtung
ist daher nur wegen eines Irrtums über solche Umstände möglich, die beide Parteien
beim Vergleichsabschluss als feststehend angenommen haben, die also nicht zweifelhaft
waren und daher nicht von der Bereinigungswirkung erfasst wurden(§ 1385 ABGB). Das
materielle Recht lässt den Vergleich weitestgehend zu und schließt ihn nur dort aus, wo
überwiegende öffentliche Interessen und die Rechtssicherheit dies verlangen (bspw gern
§ 1382 ABGB über die Gültigkeit einer Ehe; gern § 1383 ABGB über den Inhalt einer
letztwilligen Verfügung; gern § 1384 ABGB über die Verfolgung und die Bestrafung
von Offizialdelikten).
Wie der privatrechtliche Vergleich der außerprozessualen gütlichen Bereinigung streiti- 20.48
ger Rechte oder Ansprüche dient, so dient auch der gerichtliche Vergleich der gütlichen
Streitbereinigung vor oder während eines gerichtlichen Rechtsstreits. Es sind dabei die
prozessrechtlich bedingten Besonderheiten des gerichtlichen Vergleichs zu beachten:
• Der gerichtliche Vergleich kann nur rechtswirksam vor Gericht abgeschlossen werden,
wenn die prozessrechtlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen ebenso gegeben sind wie die
persönlichen Prozessvoraussetzungen der Parteien. Diesbezüglich kann auf die Aus-
führungen zum gerichtlichen Anerkenntnis (s II. B.) verwiesen werden.
• Weil § 202 Abs 1 Satz 1 ZPO vom gerichtlichen Vergleich als Mittel zur gütlichen
Streitbeendigung spricht, kommt ihm auch eine rein prozessrechtliche Wirkung auf
den laufenden Rechtsstreit iS einer prozessbeendenden Wirkung zu.
Dem gerichtlichen Vergleich über Leistungsansprüche kommt auch Vollstreckbarkeits- 20.49
wirkung zu. Er stellt gern Art 1 lit f EO einen unmittelbaren Exekutionstitel dar. Trotz
seiner Vollstreckbarkeitswirkung ist der gerichtliche Vergleich aber einem Urteil nicht
gleichzuhalten und kommen ihm auch die anderen Urteilswirkungen (materielle Rechts-
kraftwirkung, Rechtsgestaltungswirkung, Tatbestandswirkung) nicht zu. Der gerichtliche
Vergleich ist eine (bloße) Willenserklärung der Prozessparteien. Die Mitwirkung des
Richters beschränkt sich auf die allfällige Anleitung der Parteien und auf die Protokol-
lierung des Vergleichs. Daher hat auch die öRsp dem gerichtlichen Vergleich keine ge-
richtliche Entscheidungsqualität zuerkannt. Er kann daher mangels Rechtskraftwirkung
auch weder mit einem Rechtsmittel noch mit einer Nichtigkeits- oder Wiederaufnahms-
klage angefochten werden. 3244
Angesichts dieser sowohl materiell-rechtlichen als auch prozessrechtlichen Komponenten 20.50
des gerichtlichen Vergleichs stellt sich daher die Frage nach der Rechtsnatur des gericht-
lichen Vergleichs. In der öLehre haben sich eine rein materiell-rechtliche Theorie 3245
und eine rein prozessuale Theorie 3246 entwickelt. Beide Theorien werden heute in Öster-
reich aber nicht mehr vertreten. 3247 Vielmehr wird heute der Vergleich als doppelfunk-
tionelle Prozesshandlung gesehen. 3248
20.51 Dazu werden in der öLehre wiederum zwei Auffassungen vertreten, wobei sich diese va
an der weiterführenden Frage spießen, wie sich ein Mangel auf der einen (prozessualen
oder materiellen) Seite des Vergleichs auf die andere Seite auswirkt.
• Die Lehre von der Doppelnatur des Vergleichs 3249 sieht in diesem sowohl eine Pro-
zesshandlung als auch einen materiell-rechtlichen Vertrag, die aufgrund ihres einheit-
lichen Entstehungsvorgangs eine Einheit bilden. Der gerichtliche Vergleich bedarf zu
seiner Gültigkeit damit sowohl der Erfordernisse des bürgerlichen als auch der des
Prozessrechts, das Fehlen auch nur einer Voraussetzung bewirkt die Unwirksamkeit
des Vergleichs nach allen Richtungen hin.
• Die Lehre vom Doppeltatbestand 3250 vertritt den Standpunkt, dass der Prozessver-
gleich aus einem bürgerlich-rechtlichen Vertrag und einer Prozesshandlung besteht,
die hinsichtlich der Voraussetzungen und der Wirkungen selbstständig zu behandeln
sind. So soll etwa die Unwirksamkeit des materiellen Vertrags den Vergleich als Pro-
zesshandlung aufrechterhalten (und umgekehrt). Sowohl prozessuale als auch materi-
ell-rechtliche Wirkungen sind streng voneinander zu trennen und zu beurteilen. Nach
dieser Theorie beendet ein in gültigen Formen des Prozessrechts geschlossener Ver-
gleich, auch wenn er materiell-rechtlich unwirksam ist, den Prozess und könnte kon-
sequenterweise nur mit Mitteln des Prozessrechts angefochten und beseitigt werden.
Bildet ein abgeschlossener Vergleich aus formellen Gründen keinen Exekutionstitel, so
ist doch auf die ihm zugrundeliegende Parteienvereinbarung Bedacht zu nehmen. 3251
Grundsätzlich können allerdings mangelhafte Prozesshandlungen, also auch der Ver-
gleichsabschluss, auf die in den Verfahrensgesetzen vorgesehene Weise saniert wer-
den.32s2
20.52 Die für die liechtensteinische Rezeption primär relevante öRsp hat zunächst keine der
beiden Theorien der Doppelfunktionalität konsequent vertreten. 3253 Sie ging von der
Doppelfunktionalität des gerichtlichen Vergleichs aus und prüfte zu seiner Gültigkeit
jedenfalls die Erfordernisse des Prozessrechts. Soweit der gerichtliche Vergleich nicht
ausschließlich prozessuale Wirkungen beabsichtigt (dann wurde er nur als Prozesshand-
Jung angesehen 3254 ), ist danach die materiell-rechtliche Gültigkeit des Vergleichs nach
den Vorschriften des Privatrechts zu beurteilen. 3255 Vor Gericht geschlossene, aber nicht
protokollierte Vergleiche werden als privatrechtliche Vergleiche beurteilt. 3256 In jünge-
ren Entscheidungen wurde aber ausgeführt, der Vergleich habe zugleich den Charakter
eines zivilrechtlichen Rechtsgeschäfts und einer Prozesshandlung, er könne prozessual
unwirksam, als materielles Rechtsgeschäft aber wirksam sein, weshalb zwischen den Fra-
gen, ob ein gerichtlicher Vergleich den Prozess beende und welche materiellen Wirkun-
gen er habe, streng zu unterscheiden sei. 3257 Das bestätigt aber den Standpunkt der Lehre
vom Doppeltatbestand. 3258
Für das liechtensteinische Prozessrecht hat sich der OGH in einem Beschluss 3259 ein- 20.53
gehend mit der Frage der Rechtsnatur des gerichtlichen Vergleichs auseinandergesetzt.
Unter Hinweis auf die hL in Österreich, der sich auch der OGH anschließt, hat der OGH
im gerichtlichen Vergleich eine Doppelnatur erkannt. Der OGH hat in der zitierten Ent-
scheidung in unbedenklicher Weise auf die österr Literatur zu diesem Thema Bezug ge-
nommen, weil die Regelungen des liechtensteinischen Rechts sowohl in Ansehung des
Vergleichs als materiell-rechtlicher Vertrag(§§ 1380ff ABGB) als auch in Ansehung der
prozessualen Natur des Vergleichs(§§ 202ffZPO) aus dem österr Recht rezipiert wurden
und bis auf einige unerhebliche Vereinfachungen nahezu textgleich sind. Der OGH geht
dann auf die materiell-rechtlichen und prozessualen Aspekte des Vergleichs ein. Materi-
ell-rechtlich gesehen ist der Vergleich ein Neuerungsvertrag (Novation), durch welchen
streitige oder zweifelhafte Rechte dergestalt bestimmt werden, dass jede Partei sich wech-
selseitig etwas zu geben, zu tun oder zu unterlassen verbindet. Der Vergleich ist somit
materiell-rechtlich ein zweiseitig verbindlicher, entgeltlicher Vertrag, in dem die Parteien
durch gegenseitiges Nachgeben an die Stelle einer streitigen oder zweifelhaften Verbind-
lichkeit eine feststehende setzen. Der materiell-rechtliche Vergleich ist also die unter bei-
derseitigem Nachgeben einverständlich neue Festlegung strittiger oder zweifelhafter
Rechte. Die Ungewissheit wird dadurch beseitigt, dass an die Stelle der strittigen oder
zweifelhaften Verbindlichkeit eine feststehende neue gesetzt wird. 3260 In prozessualer
Sicht ist der Vergleich (auch gerichtlicher Vergleich oder Prozessvergleich genannt) lt
OGH dagegen ein vor Gericht geschlossener prozessrechtlicher Vertrag, durch den die
Parteien den Rechtsstreit gütlich beendigen oder einzelne Streitpunkte bereinigen wollen.
Im Gegensatz zum materiell-rechtlichen Vergleich ist aber für den gerichtlichen Ver-
gleich nach hM weder das Vorliegen eines strittigen noch eines zweifelhaften Rechts
Voraussetzung, noch ein gegenseitiges Nachgeben notwendig. Der Richter darf einen
von den Parteien vereinbarten Vergleich aber nur dann protokollieren, wenn er nicht
gegen zwingendes materielles Recht verstößt. 3261 Er darf daher nicht an der Schaffung
abstrakter Rechtsgeschäfte mitwirken. Dies träfe zu, wenn der Vergleich nicht der Berei-
nigung eines Streits oder Zweifels dient. Darüber hinaus, also nicht anstelle des Ver-
gleichs, sondern als prozessuale Institution neben diesem, sieht das Prozessrecht für
das Nachgeben nur einer Seite auch noch die Rechtsinstitute des Anerkenntnisses bzw
des Verzichts oder der Klagsrücknahme unter Anspruchsverzicht vor. 3262 Der gericht-
liche Vergleich kann auch vor und ohne Einleitung eines Rechtsstreits abgeschlossen
werden (§ 227 ZPO bzw § 433 öZPO), wobei auch ein Anerkenntnis prozessual in die
Form eines gerichtlichen Vergleichs gekleidet werden kann. Der OGH führt dann weiter
aus, nach der früheren rein materiell-rechtlichen Theorie war auch der gerichtliche Ver-
gleich ein rein privatrechtlicher Vertrag und nach der reinen prozessrechtlichen Theorie
eine völlig eigenständige Erscheinung des Prozessrechts, die mit dem zivilrechtlichen
Vergleich nicht gleichgesetzt werden durfte. Die nunmehr hL von der Doppelnatur
des gerichtlichen Vergleichs geht dagegen davon aus, dass der gerichtliche Vergleich
sowohl ein nach materiellem Recht zu beurteilender Vertrag als auch eine hinsichtlich
ihrer Form und ihrer Voraussetzungen nach dem Prozessrecht zu beurteilende Prozess-
handlung darstellt und zu seiner Wirksamkeit also an sich die Erfüllung beider Voraus-
setzungen notwendig ist, dies allerdings mit der Einschränkung, dass der Prozessver-
gleich auch ohne die materiellrechtliche Voraussetzung des „gegenseitigen Nachgebens"
seine doppelte Wirksamkeit entfaltet. Denn zum gerichtlichen Vergleich kommt es in der
Regel nur dann, wenn die Parteien einen Sachverhalt unterschiedlich beurteilen und da-
mit als „zweifelhaft" erscheinen lassen. In solchen Fällen besteht die Bereinigungswir-
kung des Vergleichs nicht im gegenseitigen Nachgeben in der Sache selbst, sondern in
der Beseitigung der Zweifel.
20.54 In dieser grundlegenden Erkenntnis führt der OGH weiters aus, dass auch bei den ge-
richtlichen Vergleichen Auslegungsprobleme auftreten können. Kommt es zu solchen,
gilt für die Auslegung gerichtlicher Vergleiche die Auslegungsregel des § 914 ABGB,
wonach nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften, sondern die Absicht
der Parteien zu erforschen und der Vertrag so zu verstehen ist, wie es der Übung des
redlichen Verkehrs entspricht. 3263 Dabei ist unter der „Absicht der Parteien" der Ge-
schäftszweck zu verstehen, über den vor Gericht der Konsens erklärt wurde. 3264 Dasselbe
ergibt sich auch bei der Anwendung der „Übung des redlichen Verkehrs". Denn der
rechtsgeschäftliche Verkehr darf, auch wenn er zur gerichtlichen Protokollierung eines
Vergleichs dient, nicht dazu missbraucht werden, den anderen Vertragsteil, hier Ver-
gleichsteil, zu übervorteilen. 3265
tigt, ist berechtigt, vor Einbringung derselben beim LG die Vorladung des Gegners zur
Verhandlung und zum Zweck des Vergleichsversuchs zu beantragen, wenn der Gegner
seinen Wohnsitz im Inland hat (§ 227 Abs 1 ZPO). Gegen die Entscheidung über einen
solchen Antrag ist ein Rechtsmittel nicht zulässig (§ 227 Abs 2 ZPO). Die Zustellung der
Ladung zum Vergleichsversuch muss nicht zu eigenen Handen geschehen(§ 228 ZPO).
Die zum Vergleichsversuch nicht erschienene Partei treffen keinerlei Versäumnisfolgen;
sie kann nicht durch Ordnungsstrafen zum Erscheinen genötigt werden (§ 229 ZPO).
Neben dieser förmlichen Ladung des Gegners zum Vergleichsversuch können die Par-
teien aber auch aus eigenem Antrieb gemeinsam bei Gericht erscheinen, um einen ge-
richtlichen Vergleich abzuschließen. Im einen wie im anderen Fall hat das Gericht aber
weder zu prüfen, ob eine der Parteien ernstlich einen Rechtsstreit beabsichtigt, noch, ob
die den Vergleichsgegenstand bildenden Ansprüche oder Rechtsverhältnisse tatsächlich
streitig sind. Es hat sich in beiden Fällen mit der bloßen Behauptung, dass es so sei, zu
begnügen. 3266 Kommt auf diese Weise ein Vergleich zustande, so ist nur dieser Vergleich,
nicht auch das Vorbringen zu protokollieren, das zur Begründung des ursprünglichen
Anspruchs des Antragstellers diente (§ 230 Abs 1 ZPO). Das Gericht hat die Parteien
bei der Vergleichsformulierung anzuleiten und - falls keine prozessualen oder materi-
ell-rechtlichen Verbote dem entgegenstehen - den Vergleich zu protokollieren. Bei seiner
Befugnis zur Aufnahme von Vergleichen kann das LG Vergleiche auch über Gegenstände
anregen, anleiten und protokollieren, die nicht im streitigen Verfahren durchzusetzen
sind (zB Rechtssachen des Außerstreitverfahrens). 3267 Wenn ein Vergleich bei der Tag-
satzung nicht zustande kommt, kann nur mit Einwilligung der Gegenpartei sogleich in
die Verhandlung der Rechtssache eingegangen werden. Verweigert der Gegner seine Zu-
stimmung, so muss ordnungsmäßig Klage erhoben werden(§ 230 Abs 2 ZPO). Der zum
Vergleichsversuch geladene Gegner hat bei Fruchtlosigkeit der Vergleichsverhandlungen
keinen Anspruch auf unverzüglichen Ersatz der ihm durch die Vorladung verursachten
Kosten. Es ist jedoch auf diese Kosten bei der Entscheidung über die Kosten des in der
Folge eingeleiteten Prozesses Rücksicht zu nehmen(§ 231 ZPO). Mangels Anwaltspflicht
im liechtensteinischen Zivilprozessrecht bedürfen solche vor Einleitung eines Rechts-
streits vor dem LG abgeschlossene Vergleiche auch nicht der Mitwirkung eines Rechts-
anwalts. Es stellt sich in dem Zusammenhang auch die Frage, ob für einen Vergleichs-
versuch nach den Bestimmungen der§§ 227ff ZPO auch Verfahrenshilfe gewährt wer-
den kann. Gern § 64 Abs 1 und 3 ZPO darf Verfahrenshilfe nur für einen bestimmten
Rechtsstreit gewährt werden. Sie umfasst ua auch die Beigebung eines Verfahrenshelfers
zur Vertretung vor dem Gericht. Anders als in der öZPO (deren§ 64 Abs 1 Z 3 die Bei-
gebung eines Verfahrenshelfers auch zur vorprozessualen Rechtsberatung im Hinblick
auf eine außergerichtliche Streitbeilegung umfasst 3268 } sieht die liechtensteinische ZPO
keine solche explizite Beigebung eines Verfahrenshelfers zur vorprozessualen Streitbeile-
gung vor (§ 64 Abs 1 Z 3 ZPO). Weil eine solche Klarstellung in der öZPO auch erst
durch die dortige öZVN 2004 3269 erfolgt ist, muss für den Bereich der liechtensteinischen
ZPO wohl davon ausgegangen werden, dass für einen vorprozessualen Vergleichsversuch
20.57 Während des Rechtsstreits kann der gerichtliche Vergleich vor dem Prozessgericht vom
Einlangen der Klage an bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens geschlossen
werden. In der Regel werden die Parteien im Zug der mündlichen Verhandlung den Ver-
gleich schließen. Sie können dazu auch die Wiedereröffnung einer bereits geschlossenen
mündlichen Streitverhandlung begehren. Der gerichtliche Vergleich ist auch während
eines Zwischenstreits (zB über die Verfahrenshilfe, die Nebenintervention uä) oder wäh-
rend eines Verfahrens zur Erlassung einer einstweiligen Verfügung oder zur Beweissiche-
rung zulässig und beendet auch dann in dem von ihm geregelten Umfang das Hauptver-
fahren. Nach Fällung eines Urteils ist ein gerichtlicher Vergleich nur solange und soweit
zulässig, als das Urteil noch nicht in Rechtskraft erwachsen ist und im Rechtsmittelver-
fahren noch eine mündliche Verhandlung (zur Protokollierung des Vergleichs) stattfin-
den kann. 3271
20.58 Nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens sind gerichtliche Vergleiche über die
durch die rechtskräftige Entscheidung geregelten Ansprüche oder Rechtsverhältnisse un-
zulässig. Ist das Verfahren durch Entscheidung über einen Teil der Ansprüche rechts-
kräftig abgeschlossen, zum Teil aber noch offen, dann ist eine vergleichsweise Bereini-
gung nur bezüglich des noch nicht rechtskräftig erledigten Streitgegenstands zulässig.
Außergerichtliche Vergleiche über den rechtskräftig zugesprochenen Anspruch sind
aber weiterhin möglich und eröffnen dann die Möglichkeiten einer Oppositionsklage
(Art 18 EO) oder einer Klage auf Feststellung, dass der durch das rechtskräftige Urteil
festgestellte Anspruch nachträglich erloschen ist. 3272
20.59 Der gerichtliche Vergleich kommt durch Willenseinigung beider Parteien über das
streitige oder zweifelhafte Rechtsverhältnis (Anspruch) und Protokollierung zustande.
Mit der Willensübereinstimmung beider Parteien sind die materiell-rechtlichen Bedin-
gungen hergestellt. Liegt kein materiell-rechtliches Gültigkeitshindernis vor, dann ist,
wenn auch die Protokollierung einverständlich unterbleibt, jedenfalls ein privatrechtli-
cher Vergleichsvertrag zustande gekommen. Zum gerichtlichen Vergleich wird die Par-
teienvereinbarung, wenn sie von Anfang an vor Gericht geschlossen werden soll und
gerichtlich protokolliert wird. Die Protokollierung muss durch einen Richter (oder
durch einen Rechtspfleger, soweit die zugrundeliegende und bereits anhängige Streitsa-
che in den selbstständigen Wirkungsbereich des Rechtspflegers fällt) erfolgen. Vergleiche,
die ohne Mitwirkung eines Richters von anderen Gerichtspersonen protokolliert werden,
sind unwirksam, beenden den Rechtsstreit nicht und bilden auch keinen Exekutionsti-
tel.3273
20.60 Dem Richter kommt daher beim Abschluss eines gerichtlichen Vergleichs eine zentrale
Rolle zu. Er kann in jeder Lage des Verfahrens auf einen Vergleich hinwirken und dazu
den Parteien auch Vorschläge über den Inhalt des Vergleichs machen. Er muss dabei aber
taktvoll und behutsam vorgehen und darf weder mangelnden Entscheidungswillen oder
Parteilichkeit erkennen lassen noch irgendwelche Form von Druck auf die Parteien aus-
üben.3274 Der Richter soll vergleichsbereite Parteien bei der Formulierung des Vergleichs
beraten und kann bzw soll ihnen sogar auch die nach Lage des Falls sachgerechte Nähe-
rungslösung des Streitfalls vorschlagen, darf aber nur das protokollieren, was dem aus-
drücklich Erklärten und schließlich auch wörtlich ausgedrückten Willen beider Parteien
entspricht. Tragen die Parteien dem Richter einen Vergleich vor, auf den sie sich selbst
geeinigt haben, dann hat sich der Richter mit anwaltlich vertretenen Parteien in keine
Erörterung über die Zweckmäßigkeit oder Sachgerechtigkeit des Vergleichs einzulas-
sen. n7s
Den von den Parteien vereinbarten Vergleich darf der Richter aber nur protokollieren, 20.61
wenn
• die inländische Gerichtsbarkeit gegeben ist und der Streit um das zweifelhafte Rechts-
verhältnis oder den Anspruch auf den Rechtsweg gehört;
• die Parteien partei- und prozessfähig (im Fall der Prozessunfähigkeit durch gesetzliche
Vertreter vertreten) sind; im Fall bewilligter Verfahrenshilfe und eines beigegebenen
Verfahrenshelfers die Partei selbst dem Vergleich zustimmt (§ 64 Abs 1 Z 3 ZPO);
• über den Gegenstand des Vergleichs keine rechtskräftige Entscheidung vorliegt;
• der Gegenstand des Vergleichs nicht kraft materiellen Rechts oder Prozessrechts „ver-
gleichsunfahig" ist, also kein Verbot des Vergleichs besteht;
• der Inhalt des Vergleichs nicht gegen zwingendes materielles Recht oder gegen die
guten Sitten verstößt und
• der Vergleich so bestimmt formuliert ist, dass er den Erfordernissen der Bestimmtheit
eines Exekutionstitels entspricht (Art 3 Abs I EO) 3276 .
Fehlt eine der angeführten Voraussetzungen, muss der Richter die Aufnahme des Proto- 20.62
kolls verweigern. Stellen dann die Parteien trotz richterlicher Belehrung über die Proto-
kollierungshindernisse einen ausdrücklichen Antrag auf Protokollierung des von ihnen
vereinbarten Vergleichs, dann ist ein solcher Antrag mit Beschluss abzuweisen. 3277
Bei Vorliegen der oben aufgezählten Voraussetzungen können die Parteien vom Richter 20.63
auch die Protokollierung eines außergerichtlichen Vergleichs verlangen, der damit zum
gerichtlichen Vergleich mit allen seinen prozessualen Wirkungen wird.
Um Prozessverschleppungen durch fingierte Vergleichsbereitschaft zu verhindern, sind 20.64
die Erstreckung von Tagsatzungen oder Fristverlängerungen nur im Rahmen der gesetz-
lichen Erstreckungsgründe der§§ 128, 134 ZPO möglich 3278 (§ 204 ZPO).
20.65 Eine besondere Form des gerichtlichen Vergleichs ist der in der liechtensteinischen ZPO
noch immer enthaltene Eidesvergleich (§§ 205, 206 Satz 2 ZPO). Wegen seiner völligen
Bedeutungslosigkeit ist der Eidesvergleich in der öZPO durch die öZVN 2002 aufgehoben
worden (§ 205 öZPO). In der ZPO ist der Eidesvergleich aber noch immer gültig nor-
miert. Demnach kann nach § 205 ZPO in einem gerichtlichen Vergleich die Anerken-
nung eines Rechtsverhältnisses oder die Übernahme der Verbindlichkeit zu einer Leis-
tung, Duldung oder Unterlassung von der Ablegung eines vereinbarten Eides abhängig
gemacht werden. Der Eid darf nur streitige Tatsachen zum Gegenstand haben (§ 205
Abs l ZPO). Im Vergleich muss die Tagsatzung, bei welcher der Eid abzulegen ist, oder
die Frist bestimmt werden, innerhalb welcher die eidespflichtige Partei um Bestimmung
dieser Tagsatzung einzuschreiten hat. Die Ablegung des Eides erfolgt vor dem Richter
(§ 205 Abs 2 ZPO). Wenn ein durch Vergleich vereinbarter Eid abgelegt wurde, ist der
darum ansuchenden Partei eine Abschrift des über die Eidesablegung aufgenommenen
Protokolls zu erteilen (§ 206 Satz 2 ZPO). Auch in Liechtenstein ist der Eidesvergleich in
der Praxis aber völlig bedeutungslos geworden.
20.66 Kommt ein Vergleich zustande, so ist dessen Inhalt auf Antrag ins Verhandlungsproto-
koll einzutragen(§ 203 ZPO). Zur Form des gerichtlichen Verhandlungsprotokolls sei auf
die Bestimmungen der §§ 207 ff ZPO verwiesen. Den Parteien sind auf ihr Verlangen und
auf ihre Kosten Ausfertigungen des Vergleichsprotokolls oder des den Vergleich enthal-
tenden Verhandlungsprotokolls zu erteilen (§ 206 ZPO).
20.67 Gegenstand des gerichtlichen Vergleichs kann alles sein, was Gegenstand eines Urteils
(End-, Teil- oder Zwischenurteils) sein kann und zwar auch dann, wenn es bisher noch
nicht im laufenden Verfahren geltend gemacht war. Das ist va für die Bereinigung aller
schwebenden Streitigkeiten der Parteien durch Generalvergleich in Form eines gericht-
lichen Vergleichs wichtig. 3279
20.68 In§ 205 ZPO sind als Vergleichsgegenstände die Anerkennung von Rechtsverhältnissen
oder die Übernahme der Verbindlichkeit zu einer Leistung, Duldung oder Unterlassung,
also Feststellungs- und Leistungsansprüche, genannt. Darüber hinaus sind aber auch
Rechtsgestaltungsansprüche vergleichbar, soweit die Gestaltung nicht ausdrücklich dem
Richter vorbehalten bleibt. 3280 Diese Rechte und Ansprüche sind sowohl als Ganzes als
auch zu einem selbstständig beurteilbaren Teil vergleichsfähig. Ist ein Anspruch dem
Grunde und der Höhe nach streitig, dann ist auch ein Vergleich nur über den Anspruchs-
grund zulässig. Für Vorfragen (bedingende Rechtsverhältnisse) können gerichtliche Ver-
gleiche nur dann geschlossen werden, wenn sie durch selbstständige Klage oder im Weg
eines Zwischenantrags auf Feststellung zum Gegenstand einer selbstständigen Entschei-
dung gemacht werden können. Ebenso sind Vergleiche über Gegenforderungen allein
oder zur Kompensation mit der Hauptforderung erlaubt.
20.69 Obwohl § 202 ZPO vom Vergleich „über einzelne Streitpunkte" spricht, kann sich das
aber nur auf Teilansprüche, Anspruchsteile, selbstständige Präjudizialverhältnisse und
selbstständige Gegenrechte beziehen, nicht aber auf rechtliche Qualifikationen, Prozess-
voraussetzungen, Rechtsmittelgründe, Wiedereinsetzungsgründe, das rechtliche Interesse
Inhalt des gerichtlichen Vergleichs ist eine zwischen den Parteien zustande gekommene 20.70
Vereinbarung über streitige oder zweifelhafte Ansprüche oder Rechtsverhältnisse.
Einern Vergleich können Bedingungen beigesetzt werden, wenn es sich nicht um Reso- 20.71
lutiv-, sondern um Suspensivbedingungen handelt. 3283 Die Wirksamkeit des gerichtli-
chen Vergleichs darf ebenso wenig wie die Wirksamkeit eines Urteils von einer Bedin-
gung abhängig gemacht werden, denn als Prozesshandlung darf seine Wirkung nur an
innerprozessuale Ereignisse geknüpft werden. Doch ist für diese kein Raum mehr, weil
der Vergleich selbst den Prozess in dem Umfang beendet, den er erfasst, und insoweit
kein innerprozessuales Ereignis möglich ist. 3284 Die Bedingungsfeindlichkeit des gericht-
lichen Vergleichs erstreckt sich aber nur auf die Rechtswirksamkeit des Vergleichs selbst.
Dagegen ist es zulässig, im Vergleich vereinbarte Leistungen vom Eintritt einer Bedin-
gung (Tatsache) abhängig zu machen, so wie es auch zulässig ist, im Urteil Leistungen
von Bedingungen abhängig zu machen. 3285 Es muss aber der Eintritt der Bedingung im-
mer innerhalb einer bestimmten Frist erfolgen und dies vom Gericht ohne weiteres über-
prüft werden können 3286 .
Die Beisetzung einer Suspensivbedingung, wonach der Vergleich erst wirksam werden 20.72
soll, wenn er nicht bis zu einem Zeitpunkt widerrufen wird, ist grundsätzlich zulässig
(Vergleichswiderruf). 3287 Eine solche Widerrufsmöglichkeit fördert den Abschluss von
gerichtlichen Vergleichen und ermöglicht es den Prozessbevollmächtigten, Vergleiche
auch ohne Beisein der Parteien selbst abzuschließen und protokollieren zu lassen. Ein
solcher Vergleich mit Widerrufsmöglichkeit wird unter der aufschiebenden Bedingung
des Nichtwiderrufs in bestimmter Frist geschlossen, sodass er rechtsgültig wird, wenn
keine der Parteien innerhalb der im Vergleich festgesetzten Frist den Vergleich durch
3281 ZB § 527 ZPO: "In der Frage der Ehescheidung ist der Abschluss eines Vergleichs, eines An-
erkenntnisurteils, eines Versäumungsurteils oder eines Urteils nach § 399 nicht zulässig".
3282 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1347.
3283 Gitschthaler in Rechberger/Klicka, ZPO' §§ 204-206 Rz 18 mwN.
3284 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1349; öRsp zB öOGH 3 Ob 151/80; 6 Ob 229/67.
3285 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1350.
3286 Gitschthaler in Rechberger/Klicka, ZPO; §§ 204-206 Rz 18; Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1350.
3287 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1350; Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht 9 Rz 629; Gitschthaler in
Rechberger!Klicka, ZPO; §§ 204-206 Rz 19/1; öOGH 2 Ob 574/95.
1. Prozessbeendende Wirkung
Einern im Zug eines Rechtsstreits geschlossenen gerichtlichen Vergleich (Prozessver- 20.77
gleich) kommt in dem Umfang, in dem eine Einigung über den Streitgegenstand des
Rechtsstreits erfolgt, prozessbeendende Wirkung zu. Diese Prozessbeendigungswirkung
tritt aber nur ein, wenn die Parteien dem Gericht in der prozessrechtlich vorgeschriebe-
nen Form erklären, ,,verglichen zu sein". Dem entspricht eine „Erstreckung der Tagsat-
zung wegen Vergleichsverhandlungen" nicht; die Erstreckung der Tagsatzung zum Ab-
schluss eines Vergleichs ist nämlich nur als Formvereinbarung mit deklaratorischer Wir-
kung nach einer bereits erfolgten sachlichen Einigung zu sehen. 3299 Ob ein Vergleich
einen Prozess tatsächlich beendet, ist dabei ausschließlich nach verfahrensrechtlichen
Grundsätzen zu beurteilen. 3300 Ein unter Missachtung der Prozessbeendigungswirkung
fortgesetztes Verfahren wäre mit einer Nichtigkeit behaftet, was von Amts wegen zu be-
rücksichtigen wäre. Wird demnach durch den Vergleich der gesamte Streitgegenstand
erledigt, so wäre ein allfälliger Fortsetzungsantrag zurückzuweisen. 3301
3297 öOGH 1 Ob 227/99k; Mayr, RZ 2000, 210 (210); Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1345.
3298 öOGH 3 Ob 5/89; Gitschtha/er in Rechberger/K/icka, zpos §§ 204-206 Rz 14/3.
3299 öOGH 4 Ob 556/82; 9 ObA 2241/96s; JBI 1961, 365.
3300 öOGH 7 Ob 652/76; 9 Ob 714/91.
3301 öOGH 6 Ob 588/79; 5 Ob 525/82; 1 Ob 166/49; 6 Ob 229/67 ua; Gitschthaler in Rechberger/
Klicka, ZPO' §§ 204-206 Rz 25/1; Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1330, 1357.
20.78 Wird der Prozessvergleich im Zug eines Rechtsstreits zwischen einer Partei und Dritten
(oder nur zwischen Dritten) abgeschlossen, dann tritt die prozessbeendende Wirkung
nur dann ein, wenn sie tatsächlich von den Parteien mitvereinbart wird.
20.79 Schon der wirksame Vergleichsabschluss selbst beendet den Prozess, es bedarf keines
diesbezüglichen Gerichtsbeschlusses über die Verfahrensbeendigung.
20.80 Bei Vergleichen mit Widerrufsmöglichkeit tritt die prozessbeendende Wirkung mit dem
ungenützten Ablauf der Frist oder schon vorher mit Einlangen eines dem Gericht pro-
zessual wirksam erklärten Widerrufsverzichts ein.
20.81 Wurde der Vergleich nur über die Hauptsache geschlossen, jedoch die Kostenentschei-
dung dem Gericht vorbehalten, so wird der Prozess in der Hauptsache mit Wirksamkeit
des Vergleichsabschlusses beendet, ungeachtet des Fortgangs des Verfahrens zur Kosten-
entscheidung. In diesem Fall ist vom Kläger auf Kosten einzuschränken und vom Gericht
mittels Kostenurteils zu entscheiden. 3302
20.82 Gerichtliche Vergleiche, die vor oder ohne Einleitung eines Rechtsstreits abgeschlos-
sen wurden (gerichtliche Vergleiche aufgrund eines Vergleichsversuchs nach §§ 227ff
ZPO), haben naturgemäß keine prozessbeendende Wirkung. Für diese wie auch für die
Prozessvergleiche selbst stellt sich aber die anschließende Frage, wie weit sie auf einen
künftigen Rechtsstreit wirken (vgl dazu im Folgenden Punkt 2).
20.83 Außergerichtliche Vergleiche über einen streitverfangenen Anspruch wirken für sich
allein niemals prozessbeendend. 3303 Sie können im laufenden Rechtsstreit nur bis zum
Schluss der mündlichen Verhandlung (bei Berufungen bis zum Schluss der mündlichen
Berufungsverhandlung) und nur aufgrund ausdrücklicher Parteibehauptung als rechtsbe-
gründender, rechtsverändernder oder rechtsvernichtender Tatbestand bei der Sachent-
scheidung berücksichtigt werden. Nach diesem Zeitpunkt geschlossene außergerichtliche
Vergleiche ermöglichen eine Oppositionsklage (Art 18 EO) gegen eine Zwangsvollstre-
ckung des titelmäßig festgestellten Anspruchs, außerhalb laufender Exekution eine neue
Klage.3304
riellrechtliche Einwendung an, die zur Abweisung der Klage mit Urteil führt. 3306 Die
öRsp geht davon aus, dass ein gerichtlicher Vergleich eine materiell-rechtliche Einwen-
dung gegen die neuerliche Geltendmachung des Anspruchs gibt, die die inhaltliche
Abweisung des Klagebegehrens zur Folge hat, weil der ursprüngliche Anspruch auf-
grund der durch den Abschluss des Vergleichs bewirkten Novation erloschen und an
seine Stelle der Anspruch aus dem Vergleich getreten ist. Diesem Standpunkt der öRsp
stimmt auch Fasching3 307 zu. Er begründet das damit, dass der gerichtliche Vergleich
mangels hoheitlichen Entscheidungswillens kein staatlicher Hoheitsakt und keine dem
gleichzuhaltende Entscheidung ist und daher auch nicht in Rechtskraft erwachsen
kann. Deshalb kann der gerichtliche Vergleich auch nicht zur Zurückweisung künftiger
Klagen führen.
Das Prozessrecht knüpft - etwa im Unterschied zur Klagsrücknahme unter Anspruchs- 20.86
verzieht gern § 245 Abs 4 ZPO - keine prozessuale Sperrwirkung an den gerichtlichen
Vergleich. Dies entspricht auch der Lehre von der Doppelnatur des gerichtlichen Ver-
gleichs, weil Gültigkeit und Wirksamkeit des gerichtlichen Vergleichs in gleicher Weise
auch von seiner materiell-rechtlichen Zulässigkeit und Wirksamkeit abhängen. Das mit
neuer Klage angerufene Gericht muss daher bei Behandlung der Einrede des Vergleichs
notwendig in eine Prüfung nicht nur der prozessualen, sondern auch der materiell-recht-
lichen Wirksamkeit eintreten, was nach Fasching aaO die Sachentscheidung mit Urteil
rechtfertigt.
Wird der bereits verglichene Anspruch neuerlich eingeklagt, so ist eine solche Klage ab- 20.87
zuweisen, es sei denn der Vergleich ist zwar prozessual (Streitbeendigung) und materiell
(Bereinigungswirkung) wirksam, in seiner Funktion als Exekutionstitel jedoch unwirk-
sam.3308 In diesem Fall käme es nämlich nicht zur Schaffung eines vom Gesetzgeber ver-
pönten Doppeltitels. Nach aA 3309 wird hingegen die Klagsführung als grundsätzlich für
zulässig erachtet, dem unterlegenen Beklagten seien aber die Prozesskosten zu ersetzen,
weil er zur Klagsführung keine Veranlassung gegeben habe.
Wird tatsächlich ein exekutierbarer Doppeltitel geschaffen, steht dem daraus Verptlich- 20.88
teten, der bereits einmal erfüllt hat, die Impugnationsklage nach Art 19 EO offen. 3310
20.90 Gern der öRsp ist grundsätzlich auch ein Rücktritt vom gerichtlichen Vergleich mög-
lich. 3312 Dies gilt allerdings nur dann, wenn der Rücktritt von den Parteien im Vergleich
ausdrücklich vorbehalten wurde bzw die Parteien im gerichtlichen Vergleich ausdrück-
3313
lich einen befristeten Rücktrittsvorbehalt vereinbart haben oder wenn der Vergleich
eine Verpflichtung zu einer Zug um Zug zu erbringenden Gegenleistung vorsieht. 3314
20.91 Bei zulässig erklärtem Rücktritt hat das Gericht das „alte" Verfahren über Parteiantrag
fortzusetzen, andernfalls müsste der (materiell) Rücktrittsberechtigte den Vergleich mit
selbstständiger Klage anfechten. 3315 Nicht zulässig sind hingegen eine einverständliche
Aufuebung des gerichtlichen Vergleichs und die Fortsetzung des „alten" Verfahrens, weil
der Prozessvergleich die Aufgabe des Rechtschutzbegehrens einer Partei enthält. 3316 Dies
belegt den Umstand, dass das Verfahrensrecht keine konkludenten Prozesshandlungen
kennt, wie auch die zwingende Notwendigkeit des ausdrücklichen Vorbehalts eines Rück-
trittsrechts. 3317
Verbot des Vergleichs in bestimmten Verfahren, zB in der Frage der Ehescheidung(§ 527
ZP0).3319
Die Wirkung der unterschiedlichen Unwirksamkeitsgründe tritt auch jeweils zu verschie- 20.96
denen Zeitpunkten ein. Die Unwirksamkeit des gerichtlichen Vergleichs aus prozessualen
Gründen wirkt stets auf den Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses zurück. Im materiellen
Recht kann es hingegen entweder zur ipso iure eintretenden Unwirksamkeit ex tune kom-
men (zB gern § 879 ABGB), die dann nur mehr festzustellen ist, oder zu einer solchen erst
in Folge einer Parteierklärung mit Wirkung ex tune (Anfechtbarkeit zB wegen eines Wil-
lensmangels) oder mit Wirkung ex nune (Auflösung, Gewährleistung, Vertragsrücktritt).
Ob die Unwirksamkeit eines gerichtlichen Vergleichs ex tune oder ex nune eintritt oder
ob sie automatisch durch eine Anfechtungserklärung der Parteien oder überhaupt erst
durch deren gerichtliche Geltendmachung ausgelöst wird, ist ausschließlich nach dem
materiellen Recht zu beurteilen. 3320
Daran anknüpfend stellt sich des Weiteren die Frage, wie die Unwirksamkeit eines ge- 20.97
richtlichen Vergleichs geltend gemacht werden kann. Faschin/ 321 stellt hierzu drei Lö-
sungsmöglichkeiten dar:
• Die innerprozessuale Geltendmachung: Nach der rein prozessualen Theorie und auch
den Lehren vom Doppeltatbestand und der Doppelnatur des gerichtlichen Vergleichs,
die alle bei der prozessbeendenden Wirkung des Prozessvergleichs ansetzen, kommt
die prozessbeendende Wirkung nur gültigen Vergleichen zu. Wird also die Unwirk-
samkeit des Vergleichs geltend gemacht, dann müsse sie im ursprünglichen Verfahren
geprüft werden, denn darin liege ja auch die Entscheidung über die Berechtigung der
Prozessbeendigung. 3322 Danach stellt die Partei im ursprünglichen Rechtsstreit einen
Antrag auf Fortsetzung und führt darin aus, warum der Vergleich unwirksam und der
Rechtsstreit daher nicht beendet sei. Das Gericht - das schon den angefochtenen Ver-
gleich protokolliert hat - entscheidet über den Antrag, indem es zugleich über die
Rechtswirksamkeit des Vergleichs abspricht. Dieser innerprozessualen Bekämpfung
der Gültigkeit des Vergleichs im fortgesetzten Verfahren stehen Vorteile (Zeit- und
Kostenersparnis für eine neue Klage und ein neues Verfahren und Vertrautheit des
bisherigen Richters mit der Rechtssache und dem Vergleichsabschluss) und - nicht
unerhebliche - Nachteile (insb die Involvierung des beim Vergleichsabschluss mitwir-
kenden Richters als Tatzeuge für die Willenseinigung und mögliche Willensmängel der
Parteien und prozessualer Mängel) gegenüber. 3323
• Bekämpfung mit Rechtsmitteln oder mit Nichtigkeits- oder Wiederaufnahmsklage:
Ein solches Vorgehen wäre nur vertretbar, wenn man im gerichtlichen Vergleich einen
staatlichen Hoheitsakt mit Entscheidungscharakter sehen könnte, dem auch Rechts-
kraftwirkung zukommt. Diese in der Minderheit gebliebene Lehre wird auch von der
3324
öRsp ausnahmslos abgelehnt und kommt daher nicht in Betracht.
• Bekämpfung durch selbstständige Klage: Die öRsp lässt die Bekämpfung des gericht-
lichen Vergleichs durch selbstständige und jederzeitige Klage auf Feststellung der Un-
wirksamkeit des Vergleichs oder dessen Anfechtung aus materiellen Gründen 3325
ebenso zu wie die Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit aus prozessualen Grün-
den3326. Nach jüngerer öRsp wird die rein prozessuale Unwirksamkeit des gerichtli-
chen Vergleichs durch einen Fortsetzungsantrag geltend gemacht, über welchen das
Gericht in einem Zwischenverfahren zu entscheiden hat. In diesem ist die Frage zu
klären, ob der Prozess als beendet anzusehen ist oder nicht. 3327 Eine allfällige materielle
Unwirksamkeit des Vergleichs darf dabei aber nicht geprüft werden. Die Entscheidung
über die Fortsetzung ist in einem zweiseitigen Rechtsmittelverfahren anfechtbar; be-
stätigt allerdings das Rekursgericht die erstinstanzliche Entscheidung, kann der OGH
nicht angerufen werden 3328 . Wird aufgrund des gerichtlichen Vergleichs bereits Exeku-
tion geführt, so ist diese über Antrag des Verpflichteten aufzuschieben. Nach Fortset-
zung des Verfahrens durch das Prozessgericht ist die Vollstreckbarkeitsbestätigung des
gerichtlichen Vergleichs aufzuheben und das Exekutionsverfahren nach Art 21 EO ein-
zustellen.3329 Die Anfechtungsklagen (Klagen auf Feststellung der Unwirksamkeit des
Vergleichs) gehören jedenfalls vor die Prozessgerichte, auch wenn der Vergleich nicht
im streitigen Verfahren abgeschlossen wurde. 3330
20.98 Zulässig ist nach der öRsp auch eine Klage auf Berichtigung des Vergleichstextes iS der
angeblich geschlossenen Vereinbarung 3331 , ebenso eine Klage auf Feststellung des wahren
Inhalts des Vergleichs 3332 , nicht aber eine Nichtigkeits- oder Wiederaufnahmsklage 3333 .
Wenn ein offenkundiges Versehen vorliegt, kann das den Vergleichstext beinhaltende
Protokoll aus dem Gedanken des § 419 ZPO berichtigt werden. 3334 Auch bei bloßen
Übertragungsfehlern (Abweichungen der Ausfertigungen vom Original) ist eine Berich-
tigung iS des § 419 ZPO zulässig, weil es sich dabei um das ökonomischste und rascheste
3335
Korrekturmittel zur Bereinigung offenbarer Fehler handelt. f
Der fehlerhaft rotokol-
lierte Vergleich kann als materiell-rechtliches Rechtsgeschäft aber wirksam sein. 336 Wur-
den aufgrund einer planwidrigen Unvollständigkeit - also nicht etwa bewusst - die Ver-
fahrenskosten nicht in den Vergleich aufgenommen, ist eine Titelergänzungsklage zuläs-
sig. 3337 Ein Willensmangel bei Abschluss des Vergleichs kann aber auch im Weg der
Berichtigung nicht aufgegriffen werden. 3338
Nach der Rsp des OGH kann ein gerichtlicher Vergleich (über Ehegattenunterhalt) nicht 20.99
einfach aufgrund eines Unterhaltsherabsetzungsantrags im Außerstreitverfahren nach-
träglich inhaltlich abgeändert werden. Vielmehr muss der Vergleich durch eine selbst-
ständige Klage bekämpft werden 3339 . Der OGH schliesst sich daher der in Österreich
herrschenden Rsp und Lehre an, wonach ein gerichtlicher Vergleich nur durch selbst-
ständige Klage bekämpft werden kann.
3340
In einem weiteren Fall hat der OGH die Grenzen der Anfechtung/Bekämpfung eines 20.100
gerichtlichen Vergleichs aufgezeigt und sich ganz grundsätzlich zur Auslegung und
Wirksamkeit eines gerichtlichen Vergleichs geäußert. Die dortigen Streitteile schlossen
einen (damals vermittleramtlichen) Vergleich iSd § 1380 ABGB. Das Wesen eines sol-
chen Vergleichs besteht darin, dass die Parteien streitige oder zweifelhafte Rechtsver-
hältnisse durch gegenseitiges Nachfeben dadurch bereinigen, dass sie neue und eindeu-
tige Verbindlichkeiten festsetzen. 33 1 Der OGH hat diesen Vergleich bei Auslegung nach
den allgemeinen rechtsgeschäftlichen Regeln bei entscheidendem objektivem Erklä-
rungswert und der primären Bedeutung des konkreten Vergleichszwecks als Generalver-
gleich zwischen den Parteien beurteilt. Ein bei Auflösung eines Dauerschuldverhältnis-
ses - auch die familien- und eherechtlichen Bande sind Dauerschuldverhältnisse - ab-
geschlossener Vergleich erledigt grundsätzlich alle damit im Zusammenhang stehenden
vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Darunter fallen auch Ansprüche, an die eine Partei
zwar nicht dachte, wohl aber denken musste und von denen der andere Teil annehmen
durfte, dass sie mitbereinigt wurden. Ein solcher Generalvergleich deckt mangels entge-
genstehender Parteiabsicht auch solche künftige Änderungen der Sachlage ab, die bei
Anwendung pflichtgemäßer Sorgfalt ins Kalkül zu ziehen waren. Sollen einzelne An-
sprüche nicht oder nur unter einer bestimmten Bedingung mitverglichen werden, bedarf
es diesbezüglich eines klaren Vorbehalts. Die Bereinigungswirkung eines Vergleichs um-
fasst demnach alle den Parteien bei Vergleichsabschluss bekannten oder erkennbaren
Folgen und zukünftige auch ungewisse Umstände, ausgenommen solche, die bei Ver-
gleichsabschluss nicht vorhersehbar waren. 3342 In der Klage hat der OGH den unzuläs-
sigen Versuch gesehen, den zwischen den Streitteilen abgeschlossenen Vergleich anzu-
fechten. Eine solche Anfechtung müsste sich aber auch auf alle anderen im Vergleich
geregelten Punkte erstrecken; eine bloß punktuelle Unwirksamkeit eines einzelnen Ver-
gleichsteiles wurde als unberechtigt erkannt. Die Klage habe sich nicht auf eine Ver-
gleichsanfechtung wegen Irrtums iSd § 1385 ABGB berufen (demnach wäre ein Ver-
gleich wegen Irrtums anfechtbar, wenn eine von den Parteien als feststehend angesehene
Grundlage dieses Vergleichs auf einem Irrtum beruhte). Zu den Grundlagen des Ver-
gleichs gehören nicht die Vorstellungen der Parteien über zukünftige Ereignisse. Aber
auch auf eine Änderung der Geschäftsgrundlage konnte die Klage nicht gestützt werden;
hierauf kann sich eine Partei nur berufen, wenn sich die im Vergleich beiderseits als
dauernd vorausgesetzte Sachlage ändert(§§ 901, 1380 ABGB). Verträge im Allgemeinen
und Vergleiche im Besonderen können auch nicht mit Hilfe des Bereicherungsrechts
modifiziert und zugunsten einer Partei korrigiert werden. Dafür stehen ausschließlich
die Anfechtungsinstrumente des bürgerlichen Rechts zur Verfügung. Wer ein vermeint-
lich ungünstiges Geschäft abgeschlossen hat, kann den von ihm behaupteten Nachteil
nicht durch das Bereicherungsrecht ausgleichen. 3343 Die Vergleichsanfechtung wurde
vom OGH daher als unberechtigt abgewiesen.
Jürgen Nagel
Übersicht
Rz
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.1
A. Österreichisches Vorbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.1
B. Liechtensteinische Eigenständigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.4
1. Bindung an rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung (§ 268
ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.5
2. Beweisbeschluss(§ 277 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.9
C. Aktuelle (Teil-)Reform der ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.12
1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.12
2. Beweisrelevante Novellierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.14
11. Ausgewählte Teilbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.1 9
A. Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.20
1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.20
2. Kodifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.21
3. Kasuistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.24
B. Beweisaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.33
1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.33
2. Zu den einzelnen Beweismitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.39
a) Urkunden (§§ 292 bis 319 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.40
b) Zeugen (§§ 320 bis 350 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.43
c) Sachverständige(§§ 351 bis 367 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.49
d) Augenschein (§§ 368 bis 370 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.56
e) Vernehmung der Parteien (§§ 371 bis 383 ZPO) . . . . . . . . . 21.59
C. Freie Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.63
1. Gesetzliche Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.63
2. Einschlägige Judikatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.65
D. Betragsfestsetzung gern § 273 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.73
1. Rezeptionsvorlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.73
2. Liechtensteinische Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.74
3. Sonderfall Schmerzengeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.80
E. Sicherung von Beweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.84
1. Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.84
2. Vorprozessuale Beweissicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.91
3. Vorsorgliche Beweisaufnahme im Hauptprozess . . . . . . . . . . . . 21.99
lll. Exkurs: Liechtensteinischer Sozialversicherungsprozess . . . . . . . . . . . . 21.103
A. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.103
B. Allgemeine Charakteristika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.106
1. Mischverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.106
2. Rezeptionsbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.109
1. Einleitung
A. Österreichisches Vorbild
21.1 Bekanntlich beruht die liechtensteinische ZPO auf österr Rezeptionsvorlage. Dies gilt
insb auch für das hier interessierende Beweisrecht, welches in den §§ 266 bis 389 ZPO
geregelt ist. Allerdings ist zu beachten, dass im Fürstentum Liechtenstein verschiedene
Zivilverfahrens-Novellen der Republik Österreich nicht nachvollzogen wurden 3344 bzw
erst kürzlich durch LGBI 2018/207 (dazu unten Rz 21.12) mit erheblicher zeitlicher Ver-
..
zogerung . . wor den sm
rez1p1ert . d.3345
21.2 Es entspricht stRsp des OGH, dass zur Auslegung rezipierten Rechts auf die Literatur und
Judikatur zur (jeweiligen) Rezeptionsgrundlage abzustellen ist, weil übernommenes Recht
in Liechtenstein, vorbehaltlich der Abweichung aus triftigen Gründen, so zu gelten hat,
wie es die Höchstgerichte im Ursprungsland anwenden (sog „law in action"). 3346 Hin-
gegen ist es nicht die Aufgabe der liechtensteinischen Gerichte, ausländische dogmatische
3347
Kontroversen zu „schlichten". Der Staatsgerichtshof hat iZm der Rezeption ausländi-
schen Rechts im Kleinstaat Liechtenstein die Rechtsvergleichung auch schon als „fünfte
Auslegungsmethode" bezeichnet. 3348
21.3 Diese „angewandte Rechtsvergleichung" 3349 hat freilich die Entwicklung einer eigenstän-
digen Rechtsprechung-' 350 im souveränen Fürstentum zu verschiedenen zivilprozessua-
len Fragen nicht gehindert, wie im vorliegenden Handbuch bereits aufgezeigt worden ist
und auch in diesem Beitrag noch darzulegen sein wird. Demgegenüber kann hier auf das
RIS-Justiz sowie die auch in Liechtenstein regelmäßig konsultierten und zitierten Stan-
3344 Zum Ganzen Delle Karth, LJZ 2000, 35 ff. Zum Beweisrecht im Besonderen Nagel/Bajons,
Beweis 359 ff, zur österr Rezeptionsvorlage 427 ff. Vgl auch zum deutschen Recht, und zwar
aus Sicht der Praxis Bruinier in Seitz/Büchel/Bil/ner, Richter-Handbuch} 80ff.
3345 Vgl dazu BuA 2018/19, 9, wonach die bis Ende 2018 geltende ZPO weitgehend noch der
Stammfassung von 1912 entsprach.
3346 LES 2011, 156 betreffend das aus der Schweiz rezipierte Arbeitsvertragsrecht und die diesbe-
zügliche Rsp des Bundesgerichts.
3347 Vgl OGH 01 CG.2000.64 LES 2005, 100 betreffend das ebenfalls aus der Schweiz stammende
Sachenrecht.
3348 StGH 2000/001 LES 2003, 71; vgl aber auch StGH 1994/010 LES 1995, 28, wo der StGH unter
Betonung der Eigenständigkeit der liechtensteinischen Rechtsetzung und -sprechung eine
,,Analogieautomatik" abgelehnt hatte.
3349 Näheres dazu bei /. Nagel, Auswirkungen 83. Zur mit der Rezeption in Liechtenstein verbun-
denen Tradition der Rekrutierung ausländischer Richter vgl Dür in FS Delle Karth 127ff.
Historisch interessant Perrez, Fremde Richter.
3350 lnsb die höchstrichterlichen Präjudizien werden periodisch in der von der Vereinigung Liech-
tensteinischer Richter (VLR) herausgegebenen und in die Liechtensteinische Juristen-Zeitung
(LJZ) integrierten Liechtensteinischen Entscheidungssammlung (LES) publiziert.
351
dardwerke zur öZPO, namentlich die von Rechberger sowie von Fasching!Konecn/
herausgegebenen Kommentare verwiesen werden, soweit die hiesige Rechtslage mit der-
jenigen des östlichen Nachbarlands übereinstimmt.
B. Liechtensteinische Eigenständigkeiten
Im Folgenden werden - ohne Anspruch auf Vollständigkeit und auf das Wesentliche 21.4
beschränkt - vereinzelte Abweichungen des liechtensteinischen Beweisrechts von der
österr Rezeptionsvorlage, seien diese auf eine unterschiedliche Gesetzeslage oder auf
eine eigenständige Rsp zurückzuführen, mit der gebotenen Kürze dargestellt. Auf die
aus dem Subtitel ersichtlichen Unterthemen wird dann unter Rz 21.19 ff näher eingegan-
gen.3352
In einer anderen Entscheidung hielt der OGH fest, dass das rechtskräftige Strafurteil un- 21.7
abhängig von der Bestimmung des § 268 ZPO eine Bindungs- bzw Feststellungswirkung
als Ausformung seiner materiellen Rechtskraft entfaltet. Der Zivilrichter sei - anders als
der Strafrichter in Bezug auf ein Zivilurteil - an das verurteilende Straferkenntnis ge-
bunden. Die Bestimmung des§ 268 ZPO sei ungeachtet der Aufhebung des gleichlauten-
den § 268 öZPO durch den VfGH einer den Anforderungen des Art 6 EMRK (rechtliches
Gehör) entsprechenden Auslegung zugänglich. Jedoch binde das Strafurteil den Zivilrich-
ter nur zum Nachteil des Verurteilten, der im Strafverfahren zu den im Zivilprozess bin-
denden Feststellungen rechtliches Gehör hatte. Zu einem Normenkontrollantrag an den
3357
StGH in Bezug auf den § 268 ZPO sah sich der OGH dabei nicht veranlasst. Anmer-
3351 Hier interessierend Fasching/Konecny Ill/11, einschlägig insb die Kommentierung verschiede-
ner Autoren zu §§ 266- 389 ZPO, auf welche nachfolgend bei Zweifelsfragen immer wieder
zurückgegriffen wird.
3352 Mit dem vorliegenden Beitrag das ganze Beweisrecht abzudecken, würde die Themenvorgabe
des Herausgebers und den dafür vorgesehenen Umfang bei weitem überschreiten.
3353 BGBI 1990/706.
3354 Vgl dazu Bajons in Nage//Bajons, Beweis 366 § 268 Rz 12.
3355 LGBI 2018/207.
3356 OGH 02 CG.2010.173 GE 2012, 61.
3357 OGH 10 CG.2002.25 LES 2005, 48.
kung: Damit nahm der OGH sozusagen eine verfassungs- bzw konventionskonforme
teleologische Reduktion 3358 vor, im Ergebnis zweifellos zu Recht.
21.8 Bereits früher hatte der OGH klargestellt, dass der Zivilrichter auch an die Begründung
des Strafurteils insoweit gebunden ist, als in den Urteilsgründen die tatsächlichen Fest-
stellungen aufscheinen, die den Spruch des Strafgerichts rechtfertigen und sich auf die
Tatbestandsmerkmale der strafbaren Handlung beziehen, derentwegen die Verurteilung
erfolgte. 3359
3358 Vgl dazu OGH 02 EG.2005.54 LES 2007, 275 betreffend Ehescheidung.
3359 OGH 05 C 68/77-31 LES 1981, 148.
3360 ZVN 2002 BGBI I 2002/76.
3361 Vgl Bajons in Nagel!Bajons, Beweis 362 FN 10.
3362 Publiziert in OGH 03 CG.245/99-34 LES 2000, 205. Vgl dazu auch H. Batliner/Gasser, Litiga-
tion2 45; Bajons in Nage//Bajons, Beweis 368 Rz 16b.
3363 Vgl zur bisherigen Rechtslage noch den 1. Senat des OG in seiner E v 13. 12. 2018, 04
CG.2017.8-68.
3364 OGH 06 CG.2008.129 LES 2010, 180.
3365 OGH 6 C 547/97 LES 2007, 513.
3366 In Nage//Bajons, Beweis 362 FN 10, unter Hinweis auf OGH 01 C 36/86-71 LES 1991, 143
( 153). Vgl auch zur sog Beweisanordnung nach dt Recht Bruinier in Seitz/Büchel/Bil/ner,
Richter-Handbuch} 81 f.
werde. Diese Auffassun~ verdient Zustimmung, liefe doch das Gegenteil auf einen über-
7
spitzten Formalismus 33 hinaus, der nicht der Durchsetzun~ des materiellen Rechts die-
nen würde. Sie ist denn auch zwischenzeitlich vom OGH 33 11 im Wesentlichen bestätigt
worden. Dabei präzisierte das liechtensteinische Höchstgericht allerdings, dass eine
selbstständige Würdigung von Urkunden unabhängig von den übrigen Beweismitteln
nur möglich wäre, wenn die Echtheit und Richtigkeit dieser Urkunden unbestritten sei
und diese das einzige Beweismittel bilden. 3369
1. Vorbemerkungen
Am l. l. 2019 ist in Liechtenstein das Gesetz v 6.9.2018 über die Abänderung der Zivil- 21.12
prozessordnung in Kraft getreten 3370 , welches primär eine Vereinfachung und Beschleu-
nigung des Verfahrens bezweckt, aber auch der Anpassung an die aktuelle österr Rezep-
tionsvorlage sowie der Kodifikation von Entwicklungen der hiesigen Rsp und Gerichts-
praxis diente. 3371 Das vom liechtensteinischen Gesetzgeber erklärte Ziel der Verfahrens-
beschleunigung soll ua - soweit hier interessierend - durch diverse Novellierungen im
Bereich des Beweisverfahrens erreicht werden, und zwar - kurz zusammengefasst -
durch die Beseitigung der Subsidiarität der Parteienvernehmung, Modifikationen des
Sachverständigenbeweises, moderate Einschränkungen des Unmittelbarkeitsgrundsat-
zes3372 sowie die Nutzung der Videokonferenztechnologie. 3373 Zudem soll nach der ge-
setzgeberischen Intention der Prozessverschleppung mittels verspäteter Beweisanbote
durch Zurückweisung derselben künftig bereits bei (qualifiziert) mangelnder Prozessdili-
genz Einhalt geboten werden. 337 ◄
Im Folgenden werden diejenigen Bestimmungen des neuen Beweisrechts (nF) summa- 21.13
risch dargestellt, die nicht nachstehend unter Rz 21.19 ff gesondert und ausführlicher be-
handelt werden.
2. Beweisrelevante Novellierungen
In§ 275 Abs 2 ZPO und damit korrespondierend§ 278 Abs 2 ZPO nF wird die bishe- 21.14
rige Prozessverschleppungsabsicht durch das Kriterium „grob schuldhaft" ersetzt. 3375
Nach der früheren Rsp des OGH konnte ein in erster Instanz präkludierter Beweisantrag
angesichts der (beschränkten) Neuerungserlaubnis auch noch im Berufungsverfahren er-
neuert bzw nachgeholt und damit ein selbst verschuldeter Stoffsammlungsmangel saniert
3367 Vgl dazu StGH 2011/194 LES 2013, 171 betreffend eine Kollisionskuratel im Stiftungsauf-
sichtsverfahren.
3368 Auszugsweise veröffentlicht in 02 CG.2015.258 LES 2016, 239.
3369 OGH 02 CG.2015.258 LES 2016, 239.
3370 LGBI 2018/207. Dazu die Übersicht bei R. Schneider, LJZ 2019, 20.
3371 BuA 2018/19.
3372 Im BuA 2018/ 19, 27 wird idZ von einem „Vorrang der Prozessökonomie" gesprochen.
3373 Laut BuA 2018/19, 26 sind die technischen Voraussetzungen dafür beim LG 2015 geschaffen
worden.
3374 Vgl BuA 2018/19, 28f.
3375 BuA 2018/19, 97.
21.16 § 283 Abs 4 ZPO ermöglicht neu die Substituierung einer Rechtshilfevernehmung durch
eine sog Videokonferenz, wobei diese Wahl dem Ermessen des Prozessgerichts überlassen
3383
werden sollte. Dafür sprechen zum einen die- der Wahrheitsfindung erfahrungsgemäß
besser dienende - Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme 3384 und zum andern die häufige
3385 Dies entsprach freilich bereits der bisherigen Gerichtspraxis, doch ist die nunmehr ausdrück-
lich vorgesehene Fristsetzung an den Sachverständigen neu; vgl dazu BuA 2018/ l 9, 100.
3386 Und zwar mit Kostenfolgen für eine Partei, falls deren Säumigkeit ein Ergänzungsgutachten
erforderlich macht; BuA 2018/19, 101.
3387 Dies entgegen der bisherigen OGH-Rsp, welche in der Praxis oftmals zu erheblichen Verfah-
rensverzögerungen geführt habe; so BuA 20 I 8/ I 9, 102.
3388 BuA 2018/19, 101, wonach solche Beschlüsse erst mit Mängelrüge gegen die Sachentschei-
dung anfechtbar sein sollen zwecks Verfahrensbeschleunigung.
3389 BuA 2018/19, 103. Damit ist auch die in LES 2007, 433 publizierte OGH-Entscheidung 01
CG.2005.55 insoweit obsolet.
3390 Im Außerstreitverfahren ist die Einvernahme einer Partei unter Eid nach Art 31 AussStrG
(= § 31 öAußStrG) ausgeschlossen, weil sich der (österr und damit wohl auch der liechten-
steinische) Gesetzgeber von der beeideten Vernehmung keinen effektiven zusätzlichen Beitrag
zur Wahrheitsfindung erwartete; so Höllwerth in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG I2 § 31
Rz 93. Anm: Weshalb es sich im streitigen Zivilprozess anders verhalten sollte, ist nicht er-
sichtlich.
stand genommen werden, um den Rahmen dieses Beitrags nicht zu sprengen. Der Fokus
wird denn auch auf die hiesige Rechtsanwendung gelegt, indem hier ein praxisbezogen-
kasuistischer Ansatz verfolgt wird.
A. Beweislast
1. Vorbemerkung
21.20 Die Beweislast wird in Liechtenstein nach der (mE richtigen) Ansicht von Mähr nicht
dem Prozessrecht zugeordnet, für welches die /ex fori gilt, sondern als materiell-rechtlich
qualifiziert; folglich sei dafür in kollisionsrechtlicher Hinsicht die lex causae maßgeb-
lich. 3391 Anders hat jedoch der OGH judiziert, wonach alle Beweisvorschriften als Ver-
fahrensrecht der lex fori unterliegen sollen. 3392 Dazu ist kritisch anzumerken, dass - wie
gleich zu zeigen sein wird - die liechtensteinische Hauptbeweislastregel auf schweizeri-
scher Rezeptionsgrundlage beruht, nach welcher es sich dabei eben um eine materiell-
rechtliche Frage handelt. Die entsprechende kollisionsrechtliche Anknüpfung ist freilich
lediglich von akademischer Bedeutung, solange nicht ein allenfalls anwendbares Fremd-
recht die Beweislast im konkreten Einzelfall anders regelt als das hiesige Recht. 3393
2. Kodifikation
21.21 Art 6 des aus der Schweiz rezipierten Sachenrechts (SR) 3394 enthält die lapidare Beweis-
lastregel:3395 „Wo das Gesetz es nicht anders bestimmt, hat derjenige das Vorhandensein
einer behaupteten Tatsache zu beweisen, der aus ihr Rechte ableitet." Die eben zitierte
Norm ist durch Art 6 Abs l des wenige Jahre später in Kraft getretenen Personen- und
Gesellschaftsrechts (PGR) 3396 materiell um den Halbsatz erweitert worden ,,( ... ) oder sie
zur Abwehr gegen einen Anspruch des Gegners vorbringt." Mit letzterem wollte der his-
3391 So Mähr, Internationales Zivilprozessrecht 109. Vgl zum schweizerischen Recht Hasenböhler,
Beweisrecht I 206; so auch fungo, Beweislasi-' Rz 65, wonach die Beweislastregeln materiell-
rechtlicher Natur sind und sich daher nach der kollisionsrechtlichen /ex causae richten, also
nicht nach der /ex fori. Anders offenbar die hM in Österreich, wo die Beweislastregeln dem
Prozessrecht angehören sollen; so Rechberger in Rechberger!Klicka, ZPO; Vor § 266 Rz 12
mwN, der jedoch darauf hinweist, dass va in Rechtssachen mit Auslandsbeziehung die Zu-
ordnung der Beweislastregeln zur /ex fori problematisch werden könne, wenn deren Prinzi-
pien nicht mit jenen der /ex causae zu harmonisieren seien; noch differenzierter bzw dezidier-
ter Rechberger in Fasching!Konecny lll/1 3 Vor§ 266 ZPO Rz 29, wo derselbe Autor zur Ver-
meidung von Wertungswidersprüchen für eine einheitliche Behandlung der Beweislastnor-
men mit dem Sachrecht plädiert und dementsprechend vertritt, dass eine unrichtige
Beweislastentscheidung keinen Verfahrensmangel darstellt, sondern eine (revisible) unrichti-
ge rechtliche Beurteilung bedeute.
3392 OGH 6 Cg 2000.83-68 LES 2003, 324 betreffend Gegenbeweis gegen im Ausland errichtete
Schriftstücke.
3393 Im Übrigen ist jedenfalls hinsichtlich Beweismaß und Beweiswürdigung die /ex fori anwend-
bar.
3394 LGBl 1923/4; zur Rezeptionsvorlage vgl J. Nagel, Auswirkungen 81.
3395 Dieser Wortlaut ist mit demjenigen von Art 8 chZGB identisch.
3396 LGBl 1926/4; vgl dazu den Hinweis bei/. Nagel, Auswirkungen 81 FN 441, wonach zwischen-
zeitlich, dh am 1. 1. 1924, der Zollvertrag mit der Schweiz in Kraft getreten war.
3. Kasuistik
21.24 Bereits früh verdeutlichte der OGH, dass § 1298 ABGB nur dann zur Anwendung
kommt, wenn durch die Nichterfüllung einer Verbindlichkeit ein Schaden entstanden
ist, und nur für solche Fälle gilt, in denen ein vom Gesetz oder durch Vertrag gebotenes
Verhalten nicht beobachtet wird; sonst bleibt es bei der allgemeinen Beweislastregel des
Art 6 PGR. 3405 Nach ersterer Bestimmung obliegt der Beweis der Verschuldensfreiheit
dem Organ, das gern Art 182 Abs 1 PGR die gesetzliche Pflicht hat, für die Erhaltung des
3406
Eigenkapitals der Verbandsperson besorgt zu sein.
21.25 In einem späteren Fall präzisierte das liechtensteinische Höchstgericht seine Rsp dahin-
gehend, dass die Behauptungs- und Beweislast für die dort geltend gemachte Verlet-
zung der Aufklärungs- und Belehrungspflicht eines Rechtsanwalts sowie deren Kausa-
lität dem Geschädigten obliegt, wogegen die Beweislastumkehr des § 1298 ABGB nur
den Verschuldensbereich betreffe. Anmerkung: Interessanterweise wird im dazugehöri-
3407
gen Leitsatz auf §§ 266f ZPO Bezug genommen und nicht etwa auf Art 6 Abs I
PGR.
21.26 In einer weiteren Entscheidung überwälzte der OGH nach den Kriterien der Beweisnähe
einer Bank die Beweisführungslast dafür, die Gründe für das Nichtbestehen einer Aus-
kunftspflicht gegenüber dem Nachlass eines verstorbenen Kunden iS eines Gegenbe-
3403 Diese überwiegende Wahrscheinlichkeit wird von Hasenböhler, Beweisrecht I Rz 5.62, für den
schweizerischen Rechtsbereich mit mindestens 75% beziffert. ME handelt es sich dabei um
Scheingenauigkeit, wird doch das beweiswürdigende Gericht im Einzelfall kaum mathema-
tisch exakt oder wenigstens approximativ darlegen können, wie es zu einem solchen prozen-
tualen Überzeugungsgrad gelangt. Erkennbar muss allerdings sein, von welchem Beweismaß
das Gericht überhaupt ausgegangen ist, wenn in casu ausnahmsweise nicht das Regelbeweis-
maß der ZPO (in Liechtenstein: hohe Wahrscheinlichkeit) Platz greift, widrigenfalls dies uU
auch einen sog sekundären Feststellungsmangel nach sich ziehen kann (vgl öOGH 7 Ob 221/
13w). Nach Ansicht von Albiez/Pablik/Parzmayr, Handbuch 2 I 25, hat das Gericht bereits im
Rahmen der Erörterung der Sach- und Rechtslage auf das anwendbare Beweismaß einzuge-
hen. sofern dieses vom Regelbeweismaß abweicht. Letzteres dürfte nunmehr aufgrund des
zwischenzeitlichen Nachvollzugs von § 182 a ZPO auch für den liechtensteinischen Zivilpro-
zess gelten, ansonsten dies im Einzelfall eine „Überraschungsentscheidung" zur Folge haben
könnte; zu letzterer vgl OGH 05 CG.277/2001-22 LES 2003, 123 hinsichtlich kollisionsrechtli-
cher Beurteilung, in welchem (zumal summarischen) Provisorialverfahren jedoch eine ent-
sprechende Anleitungspflicht des Gerichts verneint wurde.
3404 Zum Anscheinsbeweis vgl auch Albiez/Pablik!Parzmayr, Handbuch 2 124, wonach die Zuläs-
sigkeit des prima facie-Beweises eine Frage der rechtlichen Beurteilung ist, wogegen die Be-
wertung des Gelingens desselben der Beweiswürdigung zuzuordnen ist.
3405 OGH 10.9.1971 J 611/350; ELG 1967, 191. Anm: Bei der eben zitierten amtlichen Sammlung
der „Entscheidungen der Liechtensteinischen Gerichtshöfe" handelt es sich um den Vorläufer
der bereits vorgestellten LES.
3406 OGH 02 C 357/76-42 LES 1982, 79.
3407 Publiziert in LES 1999, 191; vgl dazu Bajons in Nagel!Bajons, Beweis 370 FN 35.
weises darzutun. Dies, nachdem der Erbe den Anscheinsbeweis 3408 für das Bestehen einer
Bankverbindung des Erblassers erbracht hatte. 3409
Hingegen obliegt im Fall einer fristlosen Auflösung des Arbeitsverhältnisses wegen ver- 21.27
tragswidrigen Verhaltens des Arbeitgebers und daraus resultierender Schadenersatzan-
sprüche die Beweislast für die Behauptung, der Arbeitnehmer habe absichtlich unterlas-
sen, einen schadensmindernden Verdienst zu erzielen, grundsätzlich dem Arbeitge-
ber.3410 Und wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit ein verpönter Kündigungsgrund fest-
steht, so obliegt der kündigenden Partei der Beweis, dass sie auch ohne Vorliegen des
verpönten Grundes gekündigt hätte. 3411
Nach der allgemeinen Beweisregel 3412 trägt ein Werkunternehmer hinsichtlich der Er- 21.28
bringung der ihm obliegenden Leistungen und der Vereinbarung eines bestimmten
Werklohns die Behauptungs- und Beweislast. Umgekehrt ist es Sache des Werkbestellers,
die Mangelhaftigkeit der Werkleistung als die für seinen Rechtsstandpunkt günstige Tat-
sache zu beweisen. 3413
ferner trifft eine Verbandsperson bzw den Ersteher eines Verantwortlichkeitsanspruchs 21.29
nach Art 218ff PGR die Beweislast dafür, dass das Tätigwerden oder die Unterlassungen
des Organs einen konkret zu bezeichnenden Schaden der Gesellschaft zur Folge hat-
ten.3414 Allerdings ist nach der höchstgerichtlichen Rsp dem Geschädigten iSv § I 311
ABGB für den Beweis der Kausalität bei Verletzung eines Schutzgesetzes eine Beweis-
erleichterung insoweit zuzugestehen, als er nur prima facie die Kausalität des rechtswid-
rigen Verhaltens für den Schadenseintritt beweisen muss; seinem Gegner ist aber die
Möglichkeit eingeräumt, diesen Beweis dadurch zu entkräften, dass er einen ernstlich
in Erwägung zu ziehenden anderen Kausalverlauf aufzeigt. 3415 Demgegenüber obliegt
der sog Exkulpationsbeweis gern § 1298 ABGB dem in Anspruch genommenen Or-
3416
gan.
Varia: Der Kläger muss die Voraussetzungen des Kondiktionsanspruchs gern §§ 1431 f 21.30
ABGB, insb auch die Rechtsgrundlosigkeit des von der beklagten Partei erlangten Vor-
teils konkret behaupten und beweisen. 3417 In einer anderen Rechtssache judizierte der
OGH, dass die Vermutung nicht für eine Bittleihe (Prekarium) spricht, sondern für
eine Miete oder Leihe, weshalb denjenigen, der die prekaristische Benützung einer Sa-
3408 Zum sog Prima facie-Beweis vgl auch Rechberger in Fasching!Konecny 11111 1 Vor§ 266 ZPO
Rz 56ff.
3409 OGH 2 C 133/95-70 LES 1998, 111.
3410 OGH 4 Cg 2001.00035 LES 2002, 331.
3411 OGH 9 CG.2009.169 LES 2011, 156.
3412 Auch im Leitsatz zu LES 2003, 139 wird auf§ 266 ZPO Bezug genommen statt auf die ein-
schlägige Beweislastregel des Art 6 Abs I PGR.
3413 OGH 5 Cg 2001/92 LES 2003, 139.
3414 OGH 1 C 472/97-92 LES 2003, 308.
3415 OGH 2 CG.2010.273 LES 2012, 85.
3416 Vgl dazu Ohri, LJZ 2007, 100 (109); dies unter Hinweis darauf, dass dieser Exkulpationsbe-
weis in der Praxis kaum einmal gelinge, wenn ein pflichtwidriges Verhalten zu bejahen sei.
3417 OGH 5 CG.2006.304 LES 2009, 303.
ehe behauptet, die Beweislast trifft. 3418 Weiter trifft die Beweislast für den „Zuord-
nunfswillen" des Bevollmächtigten gegenüber dem Machtgeber dessen Vertragspart-
ner. 419 Die Beweislast für den Zugang der Police trägt die Versicherung (der Versi-
cherungsvermittler), wobei laut OGH weder beim gewöhnlichen Brief noch beim Ein-
schreiben die Absendung der Police prima facie auf deren Zugang beim Versicherungs-
nehmer schließen lässt. 3420
21.31 In einem streitigen Ehescheidungsverfahren stellte das liechtensteinische Höchstgericht
klar, dass ungeachtet des dort geltenden Amtswegigkeits- und Untersuchungsgrundsatzes
eine entsprechende Behauptungs- und Beweislast der Streitteile besteht und dass sich die
Offizialmaxime auf die prozesskonform behaupteten und aus den Akten ersichtlichen
Fakten beschränkt. So treffe den sich auf den Scheidungsgrund des Art 56 EheG (Anm:
Unzumutbarkeit) berufenden Kläger die volle Behauptungs- und Beweislast für die Vo-
raussetzungen nach dieser Gesetzesstelle. 3421 Mit anderen Worten und noch aktueller:
Der Untersuchungsgrundsatz hat keineswegs zur Folge, dass es für die Parteien keine
Beweislast gibt; diese trifft zwar keine förmliche Beweislast, aber doch eine qualifizierte
Behauptungspflich t. 3422
21.32 Schlagend wird die Behauptungs- und Beweisführungslast bei Geltung des Verhand-
lungsgrundsatzes, wenn das Beweisverfahren zu keiner Überzeugung des Gerichts
führt, der Sachverhalt also unklar bleibt (sog non liquet). Diesfalls muss trotzdem eine
Entscheidung gefällt werden, darf doch die Beweislosigkeit einer streiterheblichen Tat-
sache nicht zu einer „Entscheidungslosigkeit" führen. 3423 Dass das Gericht von der
Richtigkeit der Tatsachenbehauptungen einer Partei nicht überzeugt ist, schließt je-
doch nicht aus, dass die Gegenpartei die Richtigkeit dieser Behauptung zugesteht; in
diesem Fall hat das Geständnis laut OGH aufgrund der Dispositionsmaxime Vor-
rang.3424
B. Beweisaufnahme
1. Allgemeines
21.33 Die Allgemeinen Bestimmungen über die Beweisaufnahme 3425 finden sich in den
§§ 275 bis 291 ZPO und entsprechen spätestens seit der Novellierung durch LGBI
2018/207 3426 weitgehend der österr Rezeptionsvorlage. Zu den verbleibenden Unter-
schieden, soweit diese nicht bloß redaktioneller Natur bzw von untergeordneter Bedeu-
tung sind:
§ 275 Abs 2 ZPO nF unterscheidet sich von seinem österr Pendant wesentlich dadurch, 21.34
dass für die Zurückweisung verspäteter Beweisanbote ein grobes Verschulden der betref-
fenden Partei an der (erheblichen) Verfahrensverzögerung genügt und keine Prozessver-
schleppungsabsicht mehr verlangt wird. Inwieweit diese Novellierung eine Verschärfung
der bisherigen Gerichtspraxis zur Folge haben wird, wird die künftige (höchstgerichtli-
che) Rsp weisen müssen. Dasselbe gilt für die damit korrespondierende Vorschrift des
3427
§ 278 Abs 2 ZPO nF.
Die Bestimmung des§ 280 ZPO über die stenographische Aufzeichnung von Beweisauf- 21.35
nahmen kann zumindest heute als „toter Buchstabe" bezeichnet werden. Dies, zumal
Zeugeneinvernahmen und Parteienvernehmungen sowie auch allfällige mündliche Erläu-
terungen von schriftlichen Sachverständigengutachten vor dem erkennenden Gericht in
Liechtenstein durch den Schriftführer über unmittelbares Diktat des Richters 3428 „in
Echtzeit" protokolliert werden, wobei das Verhandlungsprotokoll anschließend von
den Parteien bzw ihren Rechtsvertretern zu unterzeichnen ist. Anders wird dies natur-
gemäß bei einem Lokalaugenschein außerhalb des Gerichtssaals gehandhabt, wo das Pro-
tokoll anhand des dabei erstellten Tonbanddiktats des Richters erst nachträglich ausge-
fertigt wird.
Was die in §§ 282 3429 bis 287 ZPO geregelte Beweisaufnahme durch einen ersuchten 21.36
Richter anbelangt, so ist die - bedingt durch die Kleinheit des Landes und die gleich-
zeitige Bedeutung dessen internationalen Finanzplatzes - relativ häufige Inanspruch-
nahme des Rechtshilfewegs durch die liechtensteinische Justiz oftmals mit prakti-
schen Schwierigkeiten verbunden, was regelmäßig erhebliche Verfahrensverzögerungen
nach sich zieht. 3430 Es bleibt abzuwarten, inwieweit hier der neu eingefügte § 283
Abs 4 ZPO Abhilfe schaffen wird bzw die Möglichkeit der Durchführung sog Video-
konferenzen zum Zweck der Beweisaufnahme künftig effektiv genutzt werden wird.
IdZ ist noch darauf hinzuweisen, dass das Fürstentum Liechtenstein das Haager
übereinkommen über die Beweisaufnahme im Ausland in Zivil- oder Handelssachen
v 18. 3. 1970 mittlerweile ratifiziert hat, 3431 und zwar mit Inkrafttreten am l l. l.
2009. 3432 Da dazu bis dato keine publizierte Judikatur vorliegt, ist davon auszugehen,
dass die Anwendung dieses Übereinkommens in der Gerichtspraxis keine nennens-
werten Probleme bereitet. 3433
21.37 Selbstverständlich nicht nachvollzogen worden sind im Übrigen die §§ 291 a bis c
öZPO, 3434 da Liechtenstein im Gegensatz zu Österreich nicht der EU angehört, weshalb
3435
die Europäische Beweisaufnahmeverordnung hier auch nicht anwendbar ist. Nichts-
14
destotrotz ist auch die liechtensteinische EWR-Mitgliedschaft- _l 6 nicht gänzlich ohne
3437
Auswirkungen auf den hiesigen Zivilprozess geblieben, wie im Weiteren unter
Rz 21.125 noch zu zeigen sein wird.
21.38 Zum Verfahren bei der Beweisaufnahme: In Liechtenstein ist vor der Vernehmung der
iSd § 288 Abs 2 ZPO mitgebrachten Zeugen oder Sachverständigen durch das erkennen-
de Gericht zwar ein Beweisbeschluss zu fassen, 3438 doch stellt jedenfalls die Unterlassung
dessen Ergänzung keinen wesentlichen Verfahrensmangel dar, zumal es sich dabei nicht
3439
um einen Stoffsammlungsmangel handeln kann. Hingegen begründet es nach der Rsp
des OGH Nichtigkeit, wenn die Parteien von einem ausländischen Beweistermin nicht so
3432 LGBI 2009/99 (LR 0.274.132). Dies im Wesentlichen verbunden mit den Erklärungen, dass
als zentrale Behörde nach diesem übereinkommen das LG fungiert, dass Rechtshilfeersu-
chen samt Beilagen in deutscher Sprache verfasst bzw übersetzt sein müssen, dass eine
allfällige Beteiligung des ersuchenden Gerichts bei der Rechtshilfeleistung vor Ort der vor-
herigen Genehmigung bedarf, dass Aussageverweigerungsrechte und Aussageverbote des
jeweiligen Heimatstaats der betreffenden Person im Fürstentum anerkannt werden, dass
eine etwaige Beweisaufnahme durch diplomatische oder konsularische Vertreter die vorhe-
rige Genehmigung durch die Regierung voraussetzt und nicht mit Zwangsmaßnahmen ver-
bunden werden darf und dass eine „pre-trial discovery of documents" hier nicht durchge-
führt wird. Zu letzterem vgl chBGer 17. 1. 2018 4A_315/2017, wo ein US-Rechtshilfeersu-
chen auf Urkundenedition durch eine Stiftung unter Berufung auf den diesbezüglichen
schweizerischen Teilvorbehalt letztinstanzlich abgelehnt wurde, weil die gewünschte Beweis-
aufnahme auf eine verpönte „jishing expedition" hinauslief. Zum Ganzen s Meier, Haager
Beweisübereinkommen.
3433 Zwischenstaatliche Schwierigkeiten bei der Anwendung dieses Übereinkommens wären
freilich nach dessen Art 36 „auf diplomatischem Weg" beizulegen, also insoweit nicht jus-
tiziabel. Illustrativ dazu der konkrete Fall eines liechtensteinischen Rechtshilfeersuchens an
die Schweiz im Jahre 2014, wo das ersuchte BG Zürich dem LG Kosten für eine rogato-
rische Zeugeneinvernahme verrechnen wollte, was jedoch auf Intervention des liechtenstei-
nischen Amts für Justiz (AJU) vom Schweizer Bundesamt für Justiz (BJ) gestützt auf Art 14
Abs 1 des im Verhältnis Liechtenstein/Schweiz anwendbaren HBÜ rückgängig gemacht
wurde.
3434 Eingefügt durch BGBI I 2003/114.
3435 Verordnung (EG) 1206/2001 des Rates v 28. Mai 2001 über die Zusammenarbeit zwischen
den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Han-
delssachen (EuBewVO) ABI L 2001/174, 1.
3436 Siehe dazu ua /. Nagel, Auswirkungen 36ff.
3437 Genauer: Sozialversicherungsprozess, in dessen Berufungs- und Revisionsverfahren die ZPO
grundsätzlich anwendbar ist (Art 87 Abs l und Art 93 Abs 2 AHVG).
3438 Elkuch/Gassner!Gassner!Heiterer/Mähr, ZPO § 288 Rz 2; zur Beweisergänzung im Berufungs-
verfahren vgl OGH 06 C 547/97 LES 2007, 513.
3439 Vgl OGH 06 CG.2007.31 LES 2010, 150 betreffend Berufungsverfahren.
rechtzeitig verständigt werden, dass sie von ihrem Anwesenheits- und Fragerecht nach
§ 289 ZPO bei einer Beweisaufnahme Gebrauch machen können. 3440
3447 OGH 2 CG.2001.408-91 LES 2006, 413. Laut dem Leitsatz zu LES 2007, 147 liegt die Frage,
ob die vorgelegten Beweismittel ausreichen, um einen bestimmten Sachverhalt festzustellen
oder (negativ) nicht festzustellen, ebenfalls im Bereich der im Revisionsverfahren nicht über-
prüfbaren Beweiswürdigung. Ähnlich schon OGH 10 CG.2002.345-38 LES 2005, 29 betref-
fend Bescheinigungsannahmen im Rechtssicherungsverfahren; zur Urkundenauslegung bzw
zur diesbezüglichen Abgrenzung zwischen Beweiswürdigung und rechtlicher Beurteilung in-
struktiv OGH 04 CG.333/ 1999-59 LES 2003, 36. Bereits zuvor entsprach es ständiger höchst-
gerichtlicher Rsp, dass die Interpretation einer Urkunde dann keine rechtliche Beurteilung
darstellt, wenn zu deren Auslegung auch die über die damit verfolgte Absicht der Parteien
durchgeführten Beweise herangezogen wurden; so OGH 06 C 434/93-37 LES 1998, 120.
3448 OGH 9 CG.2000.137 LES 2006, 250 betreffend die englische Sprache, die auch im liechten-
steinischen Rechtsraum bereits Züge einer (zusätzlichen) Amtssprache angenommen habe.
Anders noch OGH 06 C 373/91-225 LES 2005, 58, wonach auch nicht auf die Sprachkennt-
nisse der Parteien abgestellt werden könne.
3449 OGH 10 Cg 2002.79-87 LES 2005, 379. So schon OGH 05 CG.277/2001-22 LES 2003, 123
betreffend eine Rechtswahl.
3450 OGH 4 Cg 2000.230 LES 2003, 145.
3451 OGH 3 Cg 199/99 LES 2000, 135.
3452 OGH 9 Cg 14/2000-136 LES 2002, 37.
3453 Dies offenbar in Übereinstimmung mit der in OGH 10 CG.2002.345-38 LES 2005, 29 publi-
zierten Judikatur des OGH, wonach eidesstattliche Erklärungen einer Partei im Rechtssiche-
rungsverfahren kein geeignetes Bescheinigungsmittel sind, während urkundliche Angaben
von nicht verfahrensbeteiligten Dritten im Bescheinigungsverfahren nach Art 270ff EO iSv
§ 274 ZPO (Glaubhaftmachung) sehr wohl verwertet werden können, selbst wenn diese am
Prozessergebnis wirtschaftlich beteiligt sind.
3454
weisverfahren schriftliche Aussagen generell unzulässig sind. Albiez/Pablik/Parzmayr
raten praxisbezogen dazu, zwischen Gericht und Parteien möglichst sofort zu klären, ob
eine neuerliche Beweisaufnahme vermieden oder bloß ergänzt werden soll, wenn Beweis-
3455
ergebnisse aus anderen Verfahren vorgelegt werden. Die Vorlage einer Urkunde kann
durch die beweisführende Partei selbst oder deren Prozessgegner (über Editionsan-
trag3456) erfolgen oder allenfalls von Dritten 3457 beschafft werden. Was die Beschaffung
behördlicher Urkunden im Weg der Amtshilfe nach§ 301 ZPO angeht, so darf diese zum
3458
einen nicht der Substitution gescheiterter Anträge auf Akteneinsicht dienen und muss
3459
dabei zum andern das DSG auch amtswegig beachtet werden. Die Urkundenerklä-
rung hat sich einerseits auf die Echtheit (bei einer vorgelegten Kopie auf die Überein-
stimmung mit dem Original) und andererseits auf die Richtigkeit zu beziehen, wobei der
in der Praxis oftmals übliche „Verweis zur Richtigkeit auf das eigene Vorbringen" unter
3460
bestimmten Voraussetzungen zu einem Zugeständnis führen kann.
nichts ändert. 3465 Der im Zeugniszwangsverfahren obsiegende Zeuge ist nicht Partei des
Rechtsstreits und hat keinen Anspruch auf Kostenersatz gegenüber der beweisführenden
Partei, zumal das Gericht die Zwangsmittel zur Durchsetzung der Aussagepflicht von
Amts wegen nach seinem pflichtgemäßen Ermessen anwendet. 3466 Der Prozesspartei
steht gegen die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Verweigerung der Aussage
durch einen Zeugen 3467 von Gesetzes wegen nur ein aufgeschobenes Rechtsmittel zu,
das mit dem Rechtsbehelf gegen die nächstfolgende anfechtbare Entscheidung zur Gel-
tung zu bringen ist. 3468 Ist der Zeuge jedoch von einer Verschwiegenheitspflicht wirksam
entbunden, trifft ihn die Pflicht zur Aussage; hingegen darf eine allfällige Weigerung des
Betroffenen, den Zeugen von der Verschwiegenheit zu entbinden, vom Gericht nicht im
Rahmen der Beweiswürdigung gewertet werden. 3469
21.45 Hinsichtlich der Durchführung der Zeugeneinvernahme, insb zur Zeugenbelehrung
(Wahrheits- und Eideserinnerung), 3470 kann vorab auf den insoweit selbsterklärenden
Gesetzestext verwiesen werden. 34 ,i Hinzuweisen ist idZ aber darauf, dass dem „Beweis
vom Hörensagen" - also einer Zeugenaussage über die Wahrnehmungen eines Dritten -
mit Vorsicht zu begegnen ist, wenngleich auch dieser Beweis vom Richter frei zu wür-
digen ist. 3472 Die Zurückweisung einer Ergänzungsfrage durch eine Partei ist von dieser
zu rügen (s § 196 Abs 1 ZPO nF) und kann, sofern sie zu Unrecht erfolgte, einen wesent-
lichen Verfahrensmangel darstellen; bei völliger Verweigerung des Fragerechts kann im
Einzelfall sogar Nichtigkeit vorliegen. 3473 Was die Protokollierung der Zeugenaussagen
anbelangt, deren Stil (möglichst wörtliche Wiedergabe oder nur sog Resümeeprotokoll)
weitgehend Ermessenssache ist, so wird in Liechtenstein eine allfällige Rüge 3474 dadurch
Bei Einvernahme eines Zeugen im Rechtshilfeweg·H 76 ist eine Beweisbefristung nach 21.46
§ 279 ZPO schon deshalb in Erwägung zu ziehen, weil das Rechtshilfegericht ohne gegen-
teilige Regelung in einem Staatsvertrag und/oder Rechtshilfeabkommen keinen Zeugnis-
zwang analog dem§ 333 ZPO ausüben kann. 3477 Von einem ausländischen Beweistermin
müssen die Parteien so rechtzeitig verständigt werden, dass es ihnen möglich ist, selbst
oder durch einen entsprechend informierten Substituten daran teilzunehmen; andernfalls
ist die Beweisaufnahme zu wiederholen, ansonsten die darin gelegene Gehörsverletzung
3478
das Verfahren mit Nichtigkeit behaftet. Auch wenn es nach dem Recht des ersuchten
Gerichts im Belieben des Zeugen stünde, ob dieser aussagen will oder nicht, ist ein aus-
ländisches Entschlagungsrecht für das inländische Prozessgericht irrelevant; sofern das
inländische Recht bei den Entschlagungsrechten allerdings auf Verschwiegenheitspflich-
3479
ten abstellt, sind allfällige ausländische Verschwiegenheitspflichten mit umfasst.
Die in den§§ 336ff ZPO vorgesehene, aber keinesfalls zwingende - in der heutigen Ge- 21.47
3480
richtspraxis denn auch sehr seltene - Beeidigung von Zeugen ist zwar für Christen
3475 Vgl dagegen den Praxishinweis für Österreich in Albiez/Pablik/Parzmayr, Handbuch 2 141, wo
eine solche Protokollrüge offenbar eine echte Herausforderung für den Rechtsanwalt darstellt.
In der liechtensteinischen Gerichtspraxis wird bisweilen pragmatisch vorgegangen und auch
eine erst außerhalb des Gerichtssaals im Büro des Rechtsanwalts verfasste Rüge noch berück-
sichtigt, zumal wenn nach einem „Verhandlungsmarathon" den Rechtsvertretern der Parteien
kaum mehr Zeit für eine aufmerksame Prüfung des „druckfrischen" Beweisaufnahmeproto-
kolls bleibt. Dabei empfiehlt sich aus eigener erstrichterlicher Erfahrung des Verfassers dieses
Beitrags eine gewisse „Kulanz", dient doch eine korrekte Protokollierung nicht nur der Wahr-
heitsfindung, sondern können dadurch auch unnötige (aber wesentliche) Verfahrensmängel
vermieden werden. Jedenfalls wäre selbst eine an sich verspätete Protokollberichtigung wohl
kaum geeignet, iSv § 465 Abs I Z 2 ZPO eine erschöpfende Erörterung und gründliche Beur-
teilung der Streitsache zu verhindern (zur Kausalität des Verfahrensmangels vgl OGH 06
CG.2007.31 LES 2010, ISO), solange sie inhaltlich stimmt, dh eine bereits erfolgte Zeugenaus-
sage nachträglich tatsächlich richtig wiedergibt.
3476 IdZ sei hier an den durch LGBI 2018/207 eingefügten § 283 Abs 4 ZPO erinnert, wonach die
Einvernahme eines Zeugen statt im Rechtshilfeweg auch per Videokonferenz durch den er-
kennenden Richter durchgeführt werden kann, welcher Möglichkeit laut Albiez/Pablik/Parz-
mayr, Handbuch 2 144 der Vorrang einzuräumen ist. Anm: Obwohl der Verfasser dieses Bei-
trags (noch) nicht über einschlägige Erfahrung verfügt, leuchtet es doch ohne weiteres ein,
dass solcherart Ton- und Bildübertragungen einen wesentlich besseren (wenngleich nicht di-
rekt persönlichen) Eindruck von der Glaubwürdigkeit eines Zeugen zu vermitteln vermögen
als ein schriftliches, häufig rudimentär erstelltes Einvernahmeprotokoll des ersuchten Ge-
richts.
3477 OGH 1 Cg 2/2000-58 LES 2002, 317 mit der Bemerkung, dass die Regelung des§ 279 ZPO
grundsätzlich auch für das Berufungsverfahren gilt.
3478 OGH 6 C 373/91-225 LES 2005, 58.
3479 So Albiez/Pablik/Parzmayr, Handbuch 2 146 unter Hinweis auf die abweichende Regelung der
EuBVO, welche freilich in Liechtenstein als Nicht-EU-Mitgliedstaat nicht anwendbar ist.
3480 Nach dem zweiten Satz von § 336 Abs 6 ZPO schwören Angehörige der helvetischen Konfes-
sion ohne Kruzifix und Kerzen, also ohne sog „Schwurgarnitur".
und Juden detailliert geregelt, nicht dagegen für Andersgläubige 3481 und Konfessionslose.
Eine höhere Glaubwürdigkeit sollte einer beeideten Aussage per se nicht zukommen.
Vielmehr gilt auch hier die freie Beweiswürdigung. 3482
21.48 Erwähnung verdient an dieser Stelle noch der sachverständige Zeuge, auf welchen gern
§ 350 ZPO grundsätzlich die Vorschriften über den Zeugenbeweis Anwendung finden.
Seine Sachkunde darf er jedoch nur zur besseren Erkenntnis von Tatsachen benutzen,
nicht aber um Schlussfolgerungen zu ziehen oder Bewertungen vorzunehmen; er hat nur
Anspruch auf Zeugengebühren (§§ 346f ZPO 3483 ) und kann auch nicht wie ein Sachver-
3484
ständiger abgelehnt werden (vgl§§ 355f ZP0).
3481 Dazu eine kleine Anekdote aus dem Gerichtssaal: Der Verfasser dieses Beitrags geriet in seiner
damaligen Eigenschaft als Erstrichter in Verlegenheit, als von einer Partei die Beeidigung
eines der islamischen Religion angehörigen Zeugen beantragt wurde. Wie dabei genau vor-
zugehen wäre, ist in Liechtenstein nach wie vor ungeregelt. Denkbar wäre hier eine analoge
Heranziehung der österreichischen Eidesvorschriften betreffend Muslime; vgl dazu Rechber-
ger/Fucik in Rechberger!Klicka, ZPO 5 Art XL EGZPO Rz 2f, wonach die Verwendung einer
falschen Eidesformel einen erheblichen Verfahrensmangel begründen könne (Hinweis auf
öOGH 6 Ob 195/99s EvBl 2000/91). Zur traditionellen Bedeutung des Zeugenbeweises im
islamischen Recht vgl im Übrigen Rohe, Islamisches Reche 373, nach welchem Autor die
islam-rechtliche Ausrichtung am Zeugenbeweis die Aussagekraft schriftlicher Fixierung (ge-
meint wohl: Urkundenbeweis) schmälern soll. Anm: Dieser Umstand könnte hier keinerlei
Einschränkung der freien Beweiswürdigung gern § 272 ZPO rechtfertigen.
3482 Frauenberger in Fasching!Konecny III/ J ·1 § 336 ZPO Rz I unter Hinweis darauf, dass der österr
Gesetzgeber des neuen AußStrG den Zeugeneid als Anachronismus angesehen und darauf
mangels eines zusätzlichen Beitrags zur Wahrheitsfindung bewusst verzichtet habe. Anm:
Dies trifft auch auf das ebenfalls aus Österreich rezipierte liechtensteinische AussStrG zu.
3483 Im Gegensatz zu Österreich, wo der Gebührenanspruch der Zeugen Justizverwaltungssache
ist (Albiez/Pablik/Parzmayr, Handbuch 2 142 0, ist in Liechtenstein der erkennende Richter für
die Bestimmung der Vergütung und Entschädigung zuständig.
3484 Elkuch!Gassner/Gassner/Heiterer/Mähr, ZPO § 350 Rz 1f, wonach aber die Möglichkeit be-
steht, den sachkundigen Zeugen auch zum Sachverständigen zu bestellen. Vgl zur österr Re-
zeptionsvorlage Albiez/Pablik/Parzmayr, Handbuch 2 127.
3485 Der Sachverständige ist sowohl Beweismittel als auch Hilfsorgan des Gerichts und nimmt eine
entsprechende „Zwitterstellung" ein, so wörtlich Albiez/Pablik/Parzmayr, Handbuch 2 195,
wobei er aber nicht Amtsperson iSd AHG ist.
3486 Änderung der diesbezüglichen Rsp publiziert in LES 2000, 205 und durch den OGH fortge-
schrieben in LES 2006, 495. Weiterhin Gültigkeit hat jedoch, dass es noch keinen Zweifel an
der fachlichen Eignung des Sachverständigen begründet, wenn dieser Hilfskräfte beizieht
(OGH 3 CG.2004.154 LES 2006, 495), und dass die Ablehnung eines Sachverständigen nach
§§ 355ff ZPO nicht auf die Behauptung mangelnder Sachkunde gestützt werden kann (OGH
03 CG.245/99-34 LES 2000, 205).
Beim Sachverständigenbeweis ist zu differenzieren zwischen Befund 3487 und Gutach- 21.50
ten, 3488 welche nach bestem Wissen und Gewissen sowie nach den Regeln der Wissen-
3489
schaft abzugeben sind. Zu unterscheiden ist der Sachverständife nicht nur vom sach-
3490
verständigen Zeugen, sondern auch vom Privatgutachter 3491 .- 492 Die Bestellung des
Sachverständigen kann über Antrag und muss uU auch von Amts wegen 3493 erfolgen,
wenn dem Gericht die erforderliche Sachkenntnis fehlt; die Auswahl der Person bleibt
nach vorheriger Anhörung der Parteien dem Ermessen des Gerichts überlassen. 3494 Die
Ablehnung des Sachverständigen richtet sich grundsätzlich nach den für Richter gelten-
den Ausschließungs- und Befangenheitsgründen 3495 , wobei deren Missachtung zwar kei-
ne Nichtigkeit begründet, wohl aber einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellen
kann. 3496 Allerdings kann die Ablehnung eines Sachverständigen nicht auf die Behaup-
tung mangelnder Sachkunde oder auf Bedenken gegen die Qualität des Gutachtens ge-
3487 Richtiger.veise auf die (vorsorgliche) Befundaufnahme beschränkt (also ohne eigentliches
Gutachten) zu bleiben hat der Sachverständigenbeweis bei der Beweissicherung, wenngleich
die diesbezügliche Praxis des LG jedenfalls im Rahmen eines Hauptprozesses (CG-Geschäft)
nicht immer einheitlich zu sein scheint; dazu mehr unten in Rz 21.100.
3488 Zur Abgrenzung zwischen Beschreibung der Tatsachen und der daraus gezogenen Schluss-
folgerung durch den Sachverständigen s Albiez!Pablik/Parzmayr, Handbuch 2 213 unter wei-
terem Hinweis darauf, dass die rechtlichen Subsumtionen ausschließlich dem Gericht ob-
liegen.
3489 Albiez/Pablik/Parzmayr, Handbuch 2 195, wonach der Sachverständige auch zur Unparteilich-
keit und „Äquidistanz" verpflichtet ist.
3490 Dazu wird auf die obigen Ausführungen Rz 21.43 ff verwiesen.
3491 Privatgutachten fallen nach der in OGH Sv.2009.l LES 2010, 270 publizierten OGH-Judikatur
auch dann nicht unter den Sachverständigenbeweis, wenn sie von Personen erstattet wurden,
welche die Voraussetzungen eines gerichtlichen Sachverständigen erfüllen. Vielmehr haben
sie nur den Rang einer Privaturkunde und beweisen bloß, welche Ansicht der Verfasser des
Gutachtens vertritt (OGH 1 CG.2008.344 LES 2010, 158). Im Übrigen können Privatgutach-
ten auch zur Ermittlung des anwendbaren ausländischen Rechts vorgelegt werden, wobei de-
ren Nichtberücksichtigung keinen Verfahrensmangel begründet, sondern mit einer Rechts-
rüge geltend zu machen wäre (OGH 01 CG.2005.194 LES 2010, 80).
3492 Dazu eingehend Albiez/Pablik/Parzmayr, Handbuch 2 195 f.
3493 Die amtswegige Einholung eines Sachverständigengutachtens kommt allerdings - soweit
bekannt - in der liechtensteinischen Gerichtspraxis kaum vor. Vielmehr wird hier idR
vom Richter so „manuduziert", dass eine der Parteien (oder allenfalls beide) zu einem da-
hingehenden Beweisantrag angehalten wird (jedenfalls laut Auskunft eines erfahrenen Land-
richters).
3494 Näheres bei Albiez/Pablik/Parzmayr, Handbuch 2 196ff, wobei allerdings in Liechtenstein im
Gegensatz zu Österreich keine offizielle Sachverständigenliste existiert. Aber auch eine ad hoc-
Vereidigung ist im Fürstentum unüblich; vielmehr begnügt man sich in der hiesigen Gerichts-
praxis mit dem Hinweis, dass der Sachverständige seine Tätigkeit iSd § 358 Abs 1 ZPO „nach
bestem Wissen und Gewissen", dh lege artis auszuüben hat.
3495 Vgl dazu aus verfassungsmäßiger Sicht grundlegend StGH 2003/24 LES 2006, 69 sowie OGH
10 CG.2000.199 LES 2006, 259 und 06 C 547/97 LES 2007, 450, wonach bereits der (begrün-
dete) Anschein einer Befangenheit bzw Voreingenommenheit für eine erfolgreiche Ableh-
nung genügt.
3496 Ausführlicher zur Ablehnung des Sachverständigen Albiez/Pablik/Parzmayr, Handbuch 2
208ff.
stützt werden. 3497 Zur Entscheidung darüber ist gern § 355 Abs 2 ZPO das Gericht funk-
3498
tionell zuständig, welches den Sachverständigen bestellt hat.
21.51 In der alltäglichen Gerichtspraxis bedeutsam ist die in § 365 Abs 2 ZPO ausdrücklich
vorgesehene Möglichkeit, vom Beweisführer einen Kostenvorschuss für die Sachver-
ständigengebühren zu verlangen. Bis zu dessen Erlag ist es ratsam, mit der Erteilung
3499
des Gutachtensauftrags vorerst zuzuwarten. Letzteres gilt umso mehr, als keine ge-
setzliche Grundlage für einen nachträglichen Auftrag zum Erlag eines Kostenvorschusses
besteht. 3500 Wird der Kostenvorschuss verspätet geleistet, ist der präkludierte Sachver-
ständigenbeweis nach § 279 Abs 2 ZPO dennoch aufzunehmen, wenn dadurch das Ver-
3501
fahren nicht verzögert wird. Dasselbe gilt mutatis mutandis für die mündliche Erör-
terung3502 eines bereits schriftlich eingeholten Gutachtens, würde doch deren Unterlas-
sung auch dann eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens begründen, wenn der - ergänzend
3503
aufgetragene - Kostenvorschuss nicht erlegt wird.
3497 OGH 3 Cg 245/99-34 LES 2000, 205. Die Beurteilung der Qualität des Gutachtens ist eine
Frage der Beweiswürdigung; so Albiez/Pablik/Parzmayr, Handbuch 2 211.
3498 Albiez/Pablik/Parzmayr, Handbuch 2 210f, wonach der Ablehnungswerber den Befangenheits-
grund durch parate Bescheinigungsmittel glaubhaft zu machen hat und der betroffene Sach-
verständige zur Äußerung aufzufordern ist.
3499 Siehe den dahingehenden Praxishinweis bei Albiez/Pablik/Parzmayr, Handbuch 2 200f. Die-
ser Empfehlung schließt sich der Verfasser dieses Beitrags aus eigener Erfahrung nach-
drücklich an, wenngleich die von den genannten Autoren angeführte Säumnisfolge eines
,.ruhensähnlichen faktischen Verfahrensstillstandes" iZm der Nichtleistung des aufgetrage-
nen Kostenvorschusses - soweit ersichtlich - nicht der liechtensteinischen Gerichtspraxis
entspricht; vielmehr scheint es hier üblich, in einem solchen Fall sogleich Präklusion anzu-
nehmen und das Verfahren unter Abstandnahme vom beantragten Sachverständigenbeweis
fortzusetzen; letzteres jedenfalls dann, wenn dies von der Gegenpartei ausdrücklich verlangt
wird.
3500 Albiez!Pablik/Parzmayr, Handbuch 2 203, unter Hinweis auf eine in Österreich häufig nicht
gesetzeskonforme Praxis, wobei für eine Präklusion des bereits durchgeführten Sachverstän-
digenbeweises ohnehin kein Raum mehr bliebe.
3501 Albiez/Pablik/Parzmayr, Handbuch 2 202, insb auch zum Vorgehen, wenn beide Parteien die
Einholung eines Gutachtens beantragt haben und nur eine mit ihrem Vorschussanteil säumig
ist. Elkuch!Gassner/Gassner/Heiterer/Mähr, ZPO § 279 Rz 1, weisen idZ zutr auch auf die
Möglichkeit einer Wiederaufnahmsklage gern § 499 ZPO hin.
3502 Die mündliche Gutachtenserörterung kann von Amts wegen und muss auf Antrag gern § 357
Abs 2 ZPO angeordnet werden, um die Unmittelbarkeit des Sachverständigenbeweises zu ge-
währleisten; vgl zur österr Rezeptionsvorlage Albiez/Pablik/Parzmayr, Handbuch 2 219f, mit
der für die Praktiker wertvollen Empfehlung, zur optimalen Vorbereitung einen möglichst
detaillierten Fragenkatalog zu erstellen.
3503 Albiez/Pablik/Parzmayr, Handbuch 2 203.
3504 OGH 5 Cg 2000.210 LES 2003, 221. Siehe dazu die detaillierten Ausführungen unter Rz 21.80.
3505 Zu jenem Beweismittel s unten Rz 21.56.
was jedoch keine gerichtliche Beweisaufnahme ersetzt. 3506 Ein allfälliges Abweichen vom
Gutachten ist eingehend zu begründen, zumal das Gericht durch die Bestellung des Sach-
verständigen bereits zum Ausdruck gebracht hat, nicht über das entsprechende Fachwis-
sen zu verfügen. 3507
Es steht nicht im Belieben einer Partei, bei Vorliegen eines nicht ihrem Standpunkt 21.53
entsprechenden Gutachtens die Bestellung eines zweiten Sachverständigen zu verlan-
gen; das Gericht hat eine neuerliche Begutachtung durch denselben oder einen ande-
ren Sachverständigen nur dann anzuordnen, wenn sich ein Gutachten als ungenügend,
unvollständig oder widersprüchlich enveist. 3508 Der OGH hat idZ auch klargestellt, dass
die Entscheidung des Berufungsgerichts, ob es der Beweiswürdigung des Erstgerichts
beitritt oder ob noch Kontrollbeweise - insb ein sog „Obergutachtenu - aufzunehmen
sind, zu der im Revisionsstadium nicht bekämptbaren Beweiswürdigung gehört. 3509
Liegt jedoch ein medizinisches Gutachten vor, welches die Prozessunfähigkeit einer
Partei oder eines Nebenintervenienten indiziert, so ist das Gericht im Allgemeinen ver-
pflichtet, auch seinerseits sachverständigen Rat in Form eines gerichtsärztlichen Gut-
achtens einzuholen. 3510
Sonstiges: Allein der Umstand, dass (auch) zur Höhe der klägerischen Forderung ein 21.54
Gutachten eingeholt wird, bedeutet nicht schon per se eine Ausmittlung durch einen
Sachverständigen iSd § 43 Abs 2 ZPO; dieses Kostenprivileg kommt nach einer aktuellen
OGH-Entscheidung dann nicht zum Tragen, wenn die Partei selbst die erforderlichen
Kenntnisse gehabt hätte oder hätte haben müssen. 3511 Ein neues Gutachten kann einen
Wiederaufnahmegrund gern § 498 Abs I Z 7 und Abs 2 ZPO bilden, wenn es im Vor-
prozess (unverschuldet) unbekannt war und wenn es auf einer neuen wissenschaftlichen
Methode beruht, die im Zeitpunkt der Gutachtenserstattung im Vorprozess noch nicht
bekannt war. 3512 In der liechtensteinischen Gerichtspraxis werden im Übrigen die ge-
richtlich bestellten Sachverständigen für ihre Tätigkeit entsprechend den jeweils bran-
3506 Albiez/Pablik!Parzmayr, Handbuch 2 215f, wonach das Gutachten ggf auf Basis alternativer
Sachverhaltsvarianten zu erstellen ist.
3507 Albiez/Pablik!Parzmayr, Handbuch 2 217 mit dem weiteren Hinweis auf eine mögliche Umbe-
stellung des Sachverständigen. Im gegenteiligen Sinn legendär der vom dBGH im Jahre 1961
letztinstanzlich entschiedene sog „Hühnergegacker"-Fall, wo iZm einer (unlauteren) Wer-
bung für gewöhnliche, dh nicht frische Eierteigwaren von den Vorinstanzen zwischen „Lege-
gegacker" und „Konversationsgegacker" differenziert worden war, wobei das Berufungsge-
richt dies - im Rahmen einer Hilfsbegründung - anhand einer Tonbandaufnahme aufgrund
eigener Sachkunde und Lebenserfahrung, also ohne Einholung eines sog demoskopischen
Gutachtens oder Hinzuziehung eines Sachverständigen beurteilen durfte, wenngleich das
fragliche Gegacker von einem Tierstimmenimitator stammte (BGH 27.6.1961, I ZR 135/59).
3508 OGH Pg l 17/99-37 LES 2002, 103 betreffend ein alt rechtliches Entmündigungsverfahren, was
aber aufgrund der expliziten Bezugnahme auf§ 362 ZPO auch für den streitigen Zivilprozess
gilt.
3509 OGH 09 CG.2006.8 LES 2009, 17 betreffend Invalidenrente nach dem UVersG.
3510 OGH l CG.2002.32 LES 2008, 127 mit dem weiteren wichtigen Leitsatz, wonach die Prozess-
fähigkeit eines Ausländers nach der für ihn günstigeren Norm entweder seines Heimatstaats
oder des liechtensteinischen Rechts zu beurteilen ist.
3511 OGH 06 CG.2012.100 LES 2018, 203.
3512 OGH I CG.2004.127-22 LES 2006, 442.
chenüblichen Ansätzen honoriert. 3513 Aber auch hier ist von einer Warnpflicht des Sach-
verständigen auszugehen, wenn der erlegte Kostenvorschuss im Verlauf der Gutachtens-
erstellung (jedenfalls signifikant) überschritten wird. 3514 Die Auswirkungen einer man-
gelhaften oder unvollständigen Tätigkeit des Sachverständigen auf seinen Vergütungsan-
spruch sind nunmehr in § 365 Abs 2a ZPO nF explizit geregelt.
21.55 Anmerkung: Auf die Spezifika des Sachverständigenbeweises im liechtensteinischen So-
zialversicherungsprozess, wo die ZPO in den Rechtsmittelverfahren wenigstens sinnge-
mäß zur Anwendung kommt (Art 87 Abs I AHVG zur Berufung und Art 93 Abs 2
AHVG zur Revision), wird am Schluss des vorliegenden Beitrags unter Rz 21.120 näher
einzugehen sein.
dagegen aussprechen. 3520 Im hier interessierenden Zivilprozess gibt es zwar keine Mög-
lichkeit, Dritten die Vorlage eines Augenscheinobjekts aufzutragen oder von diesen eine
3521
solche zu erzwingen, doch kommt eine entsprechende Duldun~ durchaus in Betracht.
3 22
Auch zu einem Augenschein außerhalb des Gerichtsgebäudes sind die Parteien selbst-
verständlich zu laden und dürfen diese an der Beweisaufnahme teilnehmen. 3523 Im Fall
einer Neudurchführung wegen Richterwechsels oder einer Umwürdigung durch das Be-
rufungsgericht ist der Unmittelbarkeitsgrundsatz zu berücksichtigen; eine Verwertung
des Augenscheinprotokolls ist daher nur unter den Voraussetzungen des § 281 a
ZPO 3524 zulässig und darf nicht etwa durch eine entsprechende Zeugeneinvernahme um-
gangen werden.
3520 Albiez/Pab/ik/Parzmayr, Handbuch 2 228 unter weiterem Hinweis darauf, dass der Augen-
schein uU auch ein parates Bescheinigungsmittel sein kann.
3521 Albiez/Pablik!Parzmayr, Handbuch 2 229, wonach ansonsten der Dritte auf Duldung des Au-
genscheins geklagt werden kann, sofern ein materieller Anspruch besteht.
3522 Eine solche Beweisaufnahmetagsatzung ist naturgemäß nicht öffentlich; Albiez/Pablik!Parz-
mayr, Handbuch 2 231 f mit Praxishinweis auf eine dem Lokalaugenschein und den örtli-
chen Gegebenheiten angepasste Kleidung. Anm: Dies kann im Einzelfall Reinigungskosten
ersparen, wie der Verfasser aus eigener Erfahrung als früherer Erstrichter zu berichten
wüsste.
3523 Albiez/Pablik/Parzmayr, Handbuch 2 230.
3524 In Liechtenstein - wie bereits unter Rz 21.15 erörtert - nunmehr durch LGBI 2018/207 nach-
vollzogen; zur österr Rezeptionsvorlage vgl Albiez/Pab/ik/Parzmayr, Handbuch 2 230.
3525 Ein dahingehendes Beweisanbot bezieht sich im Zweifel auf die Vernehmung beider Parteien;
so jedenfalls das OG (2. Senat) in einem rechtskräftigen Beschluss v 10. 7. 2018, 01
EG.2018.9-41.
3526 Siehe zur alten Rechtslage noch Delle Karth, LJZ 2000, 46; vgl dazu auch Bajons in Nagel!
Bajons, Beweis 366f.
3527 Rechtsvergleichend sei darauf hingewiesen, dass in der chZPO zwischen Parteibefragung
(Art 191) und Beweisaussage (Art 192) unterschieden wird, wobei die Sanktionen bei ersterer
in einer Ordnungsbuße und bei der letzteren in einer strafrechtlichen Verurteilung wegen
Falschaussage (Art 306 chStGB) bestehen können; Näheres dazu bei Schmid in Oberham-
mer/Domej!Haas, Kurzkommentar ZPO~ Art 191 f, insb zur unterschiedlichen Beweiswürdi-
gung Rz 14f.
3528 Jedenfalls ist durch diese Novellierung die in LES 2007, 433 publizierte OGH-Entscheidung 01
CG.2005.55 obsolet, wonach die PV bloß bei ungenügendem Beweisergebnis zulässig und
nicht dazu bestimmt sein sollte, andere Beweismittel zu widerlegen.
3529 Elkuch/Gassner/Gassner/Heiterer/Mähr, ZPO § 371 Rz 5; zur österr Rezeptionsvorlage vgl
auch Albiez/Pablik/Parzmayr, Handbuch 2 156.
21.60 Aus der hiesigen Kasuistik: Der OGH hat judiziert, dass die zur PV geladene Partei
alles vorkehren muss, um ihrer Vorladung 3530 nachzukommen; ein hinreichender
Grund für das Nichterscheinen setzt die Verhinderung durch eine unvorhergesehene
berufliche Inanspruchnahme oder durch eine anderweitige nicht aufschiebbare Ver-
pflichtung voraus. 3531 Klargestellt hatte das liechtensteinische Höchstgericht bereits frü-
her, dass die Ladung einer Partei zur Leistung eines sog Paupertätseids grundsätzlich
persönlich und zu eigenen Handen zu erfolgen hat. 3532 Leistet eine Partei einer ord-
nungsgemäßen Ladung zur PV nicht Folge, ist ihr Ausbleiben gern § 381 ZPO zu wür-
digen; dabei ist unbedenklich, wenn das Gericht bei unbegründetem Fernbleiben von
der PV davon ausgeht, dass diese Partei beweismäßig dem Vorbringen der Gegenpartei
offensichtlich nichts entgegenzusetzen vermag. 3533 Im Übrigen erfordert die gesetzmä-
ßige Ausführung des Rechtsmittelgrunds der Mangelhaftigkeit des Verfahrens, dass der
Rechtsmittelwerber die für die Entscheidung wesentlichen Feststellungen anführt, wel-
che - soweit hier interessierend - bei der Durchführung der PV zu treffen gewesen
wären. 3534
21.61 Zur österr Rezeptionsvorlage, mit welcher in Liechtenstein inhaltlich nunmehr auch bei
diesem Beweismittel Kongruenz besteht, empfehlen Albiez/Pablik/Parzmayr mit Fug, im
Beweisantrag klar anzugeben, welche natürliche Person einvernommen werden soll, falls es
sich bei der Partei selbst um keine solche handelt. 3535 Bloß formelle Streitgenossen sind,
soweit die festzustellenden Tatsachen ihren eigenen Anspruch betreffen, als Partei und
ansonsten als Zeugen zu befragen. 3536 Bei juristischen Personen sind die statutarischen
Organe als Partei einzuvernehmen, bei gesetzlichen Vertretern dieselben im Zeitpunkt
3537
der PV. Trotz der zivilprozessualen Unterschiede soll es keinen wesentlichen Verfah-
rensmangel darstellen, wenn fälschlicherweise eine Partei als Zeuge - oder umgekehrt -
einvernommen wird. 3538 Die Ausschließungsgründe hinsichtlich PV entsprechen im We-
sentlichen denjenigen bei Zeugen; ebenso die Aussageverweigerungsgründe, dies aller-
dings mit dem Unterschied, dass ein drohender (selbst unmittelbarer) vermögensrechtli-
3530 Notabene: Die Ladung zur PV kann nunmehr gern§ 371 Abs 2 ZPO nF auch zu Handen des
Vertreters bzw Rechtsanwalts der Partei erfolgen.
3531 OGH 8 CG.2007.179 LES 2010, 24 mit dem Zusatz, dass die Unterlassung der PV keinen
Verfahrensmangel begründet, wenn ein solcher Grund nicht behauptet wird.
3532 So OGH 06 C 373/91-161 LES 2003, 53, wobei jener Entscheidung höchstens noch rechts-
historische Bedeutung zukommt angesichts der nunmehrigen Abschaffung des Paupertätseids
nach § 60 Abs 2 Satz 2 ZPO aF durch die ZPO-Reform LGBI 2018/207.
3533 OGH 04 CG.2015.306 LES 2016, 248. Andernfalls kann die PV nur unter den Voraussetzun-
gen des § 279 ZPO präkludiert werden; zur österr Rezeptionsvorlage Albiez/Pablik/Parzmayr,
Handbuch 2 151.
3534 OGH 04 CG.2009.178 LES 2010, 234.
3535 Albiez/Pablik/Parzmayr, Handbuch 2 149.
3536 Dagegen ist der einfache Nebenintervenient als Zeuge und der streitgenössische als Partei
einzuvernehmen; so weiter Albiez/Pablik/Parzmayr, Handbuch 2 149.
3537 Albiez/Pablik/Parzmayr, Handbuch 2 149f, insb auch zur Abgrenzung der Partei vom Zeugen.
3538 Albiez/Pablik!Parzmayr, Handbuch 2 150, wonach eine solche "Fehlvernehmung" nach der
hM in Österreich selbst dann sanktionslos bleibt, wenn die Aussage einer Partei, die fälschlich
als Zeuge behandelt wurde, erzwungen wurde, obwohl dies gegenüber Parteien nicht zulässig
ist.
eher Nachteil hier nicht genügt. 3539 Trotz grundsätzlicher Wahrheitspflicht einer Partei ist
lediglich eine falsche Beweisaussage unter Eid gern § 288 Abs 2 StGB strafbar, doch kann
auch bei vorsätzlicher Falschangabe der unbeeideten Partei allenfalls ein Prozessbetrug iSd
3540
§ 146 StGB vorliegen. Die Unterlassung einer eidlichen Vernehmung verwirklicht im
Übrigen weder einen Nichtigkeitsgrund noch einen sonstigen Verfahrensmangel. 3541
Die Durchführung der PV hat im Regelfall durch das erkennende Gericht selbst zu 21.62
erfolgen und nicht etwa durch den ersuchten Richter; letzteres stellt nach § 275 Abs 2
ZPO die Ausnahme dar, woran sich insoweit auch durch LGBI 2018/207 nichts geändert
3542
hat. Ordnet das Gericht eine Rechtshilfeeinvernahme an, obwohl die gesetzlichen Vo-
raussetzungen dafür nicht gegeben sind, liegt ein Verstoß gegen den Unmittelbarkeits-
grundsatz und damit ein Verfahrensmangel vor. 3543 Ergänzungsfragen der Parteien au-
ßerhalb des Beweisthemas sind vom Gericht zurückzuweisen und Suggestivfragen zu ver-
3544
meiden, wenngleich letztere nicht per se unzulässig sein sollen. Anzumerken bleibt
der Vollständigkeit halber, dass der Partei - im Gegensatz zum Zeugen - grundsätzlich
kein Gebührenanspruch zusteht (§ 382 Abs I ZPO). 3545
C. Freie Beweiswürdigung
1. Gesetzliche Grundlage
Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung ist in § 272 ZPO normiert, dessen Abs I und 21.63
2 mit dem österr Pendant identisch bzw inhaltsgleich sind. 3546 Abs 2 unterscheidet sich
von der Rezeptionsvorlage nur in redaktioneller Hinsicht, indem die Ausdrücke „Vor-
sitzender" und „Senat" hier durch den Oberbegriff „Gerichtu ersetzt worden sind.
21.64 Hinweis: In der liechtensteinischen Justiz fungieren beim LG als erster Instanz in Zivil-
3547
sachen nur Einzelrichter. Hingegen sind das zweitinstanzliche OG 3548 und der
3549
OGH als Senate, dh als Kollegialgerichte 3550 konstituiert.
2. Einschlägige Judikatur
3551
21.65 Nach der Rsr des OGH wird die Begründungspflicht gern§ 272 Abs 3 ZPO (= § 272
Abs 3 öZPO 552 ) nicht schon dann verletzt, wenn Umstände unerwähnt bleiben, die noch
hätten erwähnt werden können, oder Erwägungen, die noch möglich gewesen wären,
nicht angestellt wurden, oder eine Befassung mit einzelnen der für den Unterlegenen
günstigen Beweisergebnisse unterblieb. Demzufolge ist es zur Vermeidung eines Verfah-
3553
rensmangels nicht erforderlich, sich mit allen Einzelheiten der Beweisrüge auseinan-
derzusetzen. Ob eine Beweiswiederholung notwendig ist, betrifft ebenso wie die Frage, ob
noch eine weitere Beweisaufnahme erforderlich ist, ausschließlich die nicht revisible Fra-
3554
ge der Beweiswürdigung. Ein kleiner Exkurs: Laut StGH verletzt es die verfassungs-
mäßige3555 Begründungspflicht nicht, wenn Offensichtliches von der entscheidenden In-
stanz nicht näher begründet wird. Nur wenn in einem entscheidungsrelevanten Punkt
eine nachvollziehbare Begründung gänzlich fehlt oder eine bloße Scheinbegründung vor-
liegt, ist dieses Grundrecht verletzt. 3556
Im Fall der Aufhebung des Ersturteils wegen eines Begründungsmangels ist es dem Be- 21.66
rufungsgericht gern OGH auch verwehrt, Richtlinien für die Beweiswürdigung des Erst-
gerichts vorzugeben oder zur Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen Stellung zu nehmen.
Vielmehr hat das OG bei Bedenken gegen die erstgerichtliche Beweiswürdigung die Be-
3557
weise zu wiederholen und die seines Erachtens richtigen Tatsachen festzustellen. IdZ
ist jedoch auf den durch LGBI 2018/207 eingefügten § 457 Abs 4 ZPO hinzuweisen, der
bereits unter Rz 21.lS vorgestellt worden ist. Abgesehen davon lässt der Unmittelbar-
keitsgrundsatz nur eine eingeschränkte Überprüfung der auf die unmittelbare Wahrneh-
mung des Erstrichters in der von ihm durchgeführten Verhandlung gestützten Sachver-
haltsfeststellungen zu; und dies nur dahingehend, ob die Beweiswürdigung vom Erstge-
3558
richt nachvollziehbar begründet wird.
In einer weiteren Entscheidung erachtete der OGH die Frage, aus welchen Gründen und 21.68
Überlegungen das Gericht eine mündliche Vereinbarung feststellt, ob es dazu schrift-
liche Dokumente, Zeugen oder Parteiaussagen heranzieht und wie es diese Aussagen ge-
3561
wichtet, als ausschließliche Frage der freien Beweiswürdigung. In einem anderen Fall
hielt das Höchstgericht fest, dass Angaben in Partei- oder Zeugenaussagen Prozessbe-
3554 OGH 02 CG.2006.213 GE 2010, 207. Vgl dazu auch Schumacher, LJZ 2015, 81 ff mwN.
3555 Art 43 Satz 3 LV.
3556 StGH 2013/108 LES 2014, 85 betreffend Abweisung von Beweisanboten in einem Außerstreit-
verfahren.
3557 OGH 02 CG.2006.315 LES 2010, 94. Zur österr Rezeptionsvorlage vgl Rechberger in Fasching/
Konecny III/! 3 § 272 ZPO Rz 12, wonach aber in analoger Anwendung des - nunmehr in
Liechtenstein durch LGBl 2018/207 nachvollzogenen - § 281 a öZPO ausnahmsweise eine
mittelbare Beweisaufnahme zur Änderung der Beweiswürdigung des Erstgerichts durch das
Berufungsgericht erlaubt sein soll.
3558 So der StGH zu StGH 2017/3 und StGH 2017/7 in Erw 3.2 im Rahmen des „groben Willkür-
rasters" betreffend ein Rekursverfahren vor dem OG.
3559 OGH 06 CG.2006.368 LES 2009, 225.
3560 Vgl OGH 08 EX.2005.3066 LES 2008, 304.
3561 OGH 08 CG.2005.183 LES 2008, 120.
hauptun~en nicht ersetzen können; auch die Vorlage einer Urkunde sei kein Parteivor-
bringen. 562
21.69 Bereits zuvor hatte der OGH klargestellt, dass das Beweisrecht Bestandteil des Verfah-
rensrechts ist, welches grundsätzlich nach der lex fori, also nach liechtensteinischem
Prozessrecht zu beurteilen ist. Dabei stellt die freie Beweiswürdigung nach § 272 ZPO
einen elementaren Grundsatz des liechtensteinischen Prozessrechts dar. So konnte im
konkreten Fall auch der Gegenbeweis gegen Urkunden und Schriftstücke, die im Ausland
errichtet worden waren, vor den liechtensteinischen Gerichten nach den Vorschriften der
hiesigen ZPO geführt werden. 3563 In einer anderen Rechtssache durfte das Tatsachenge-
richt gestützt auf § 272 Abs l ZPO bei entsprechender Beweislage ungeachtet des § 293
ZPO auch die Unrichti~keit eines in einer ausländischen öffentlichen Urkunde bezeugten
Vorgangs unterstellen: 564
21.70 Das unsubstantiierte Bestreiten eines ausreichenden gegnerischen Vorbringens durch
die Erklärung der Prozesspartei mit „Nichtwissen" ist laut OGH uU als Geständnis iSd
§ 267 ZPO
3565 anzusehen. Dies trifft jedenfalls dann zu, wenn die vom Prozessgegner
aufgestellte Behauptung offenbar leicht widerlegbar sein müsste, dazu aber im Zug des
Rechtsstreits nie konkret Stellung genommen wird. 3566
21.71 In einem Judikat aus dem letzten Jahrtausend musste der OGH im Übrigen in Erinne-
rung rufen, dass die Überlegungen zur Beweiswürdigung strikt von der Feststellung des
Sachverhalts zu trennen sind. Erst nach den Feststellungen sei zu begründen, warum die
einzelnen Tatsachen als erwiesen bzw allenfalls behauptete Tatsachen nicht als erwiesen
angenommen worden seien. 3567 In einer noch älteren Entscheidung hatte das liechten-
steinische Höchstgericht judiziert, dass die Lösung der Frage, ob eine zu Beweiszwecken
gelegte Urkunde für sich allein schon einen vollen Beweis bilde, oder ob zur Klarstellung
noch der Urkundenverfasser als Zeuge einzuvernehmen sei, zur freien Beweiswürdigung
nach § 272 ZPO gehört und daher im Revisionsverfahren nicht überprüft werden
kann.3568
21.72 Zwischenergebnis: Soweit ersichtlich, unterscheidet sich in diesem Punkt das in Liechten-
stein gelebte Recht nicht wesentlich von der österr Rezeptionsvorlage 3569 . Die beweisspe-
zifischen Besonderheiten des hiesigen Sozialversicherungsprozesses, in welchem die
3562 OGH 10 CG.2002.79-87 LES 2005, 379. Hingegen soll ein Verweis auf Honorarnoten eines
Rechtsanwalts im Vorbringen ausreichen, wobei die einzelnen Positionen nicht (nochmals)
näher aufgeschlüsselt werden müssen; so öOGH 4 Ob 199/161 zur österr Rezeptionsvorlage
und der dortigen Judikatur folgend das OG in einer kassatorischen Entscheidung v 29. 5.
2018, 05 CG.2015.124- 52.
3563 OGH 06 CG.2000.83 - 68 LES 2003, 324.
3564 OGH 04 CG.2000.230 LES 2003, 145.
3565 Zur österr Rezeptionsvorlage vgl Rechberger in Fasching!Konecny lll/lJ §§ 266, 267 ZPO
Rz 6ff, wonach die stRsp grundsätzlich von einer Bindungswirkung des Geständnisses aus-
geht, wogegen dieses nach der hL der freien Beweiswürdigung unterliegen soll; zum schlüs-
sigen Geständnis vgl aaO insb Rz 17 ff.
3566 OGH 04 CG.30/1999-88 LES 2002, 334.
3567 OGH 04 C 474/96 LES 1999, 45.
3568 OGH 07 C 31/82-31 LES 1985, 86.
3569 Vgl dazu Rechberger in Fasching/Konecny III/1 3 § 272 ZPO Rz 4ff.
ZPO ebenfalls (zumindest teilweise) zur Anwendung kommt, 3570 werden unter Rz 21.111
abgehandelt.
2. Liechtensteinische Rechtsprechung
Laut OGH schafft die Bestimmung des § 273 ZPO ausschließlich (nunmehr angesichts 21.74
von Abs 2 nF wohl: primär) eine Beweisbefreiung für die Höhe eines Schadens oder
einer Forderung, welche bei Vorliegen der Voraussetzungen vom Gericht geschätzt wer-
den kann. Die Substantiierung, die Konkretisierung und die Bezifferung - im konkreten
Fall - einer Gegenforderun~ sind auch dann erforderlich, wenn deren Festsetzung gern
§ 273 ZPO begehrt wird. 357 ·
Nach einem weiteren Präjudiz des OGH kann die Betragsschätzung gern§ 273 ZPO nach 21.75
richterlichem Ermessen ua dann erfolgen, wenn feststeht, dass einer Partei eine Forde-
rung oder der Ersatz eines Schadens zusteht, der Beweis über den strittigen Betrag aber
gar nicht oder nur mit unverhältnismäßigen Schwierigkeiten zu erbringen ist. Bei der
Beurteilung, ob unverhältnismäßige Schwierigkeiten vorliegen, ist der mit einer Beweis-
aufnahme verbundene Aufwand an Kosten, Zeit und Arbeit zu berücksichtigen; va sind
dabei auch die voraussichtlichen Kosten mit dem Streitwert zu vergleichen. Da die Höhe
3570 Vgl OG H SV .2015.8 LES 2015, 217 betreffend das invalidenversicherungsrechtliche Verfah-
ren, wo das OG zwar als erste verwaltungsunabhängige Instanz, funktionell aber als Beru-
fungsgericht tätig ist.
3571 Dogmatisch eingehend Weber, LJZ 2004, 51 ff unter Hinweis auf die doppelte "ratio legis", die
zum einen dem Schutz berechtigter Ansprüche und zum andern auch der Prozessökonomie
dienen soll. Zur freien Schadensschätzung nach § 287 dZPO vgl auch Bruinier in Seitz/Büche//
Bil/ner, Richter-Handbuch 3 98f (Rz 91), wonach diese dort nur - aber immerhin - hinsicht-
lich der Schadenshöhe „einschließlich der haftungsausfüllenden Kausalität", wofür eine gerin-
gere Wahrscheinlichkeit genügt, zur Anwendung kommt; eine solche Schätzung sei dagegen
nicht erlaubt, wenn die Schadenshöhe unschwer exakt bewiesen werden kann.
3572 Näheres dazu bei Rechberger in Rechberger!Klicka, ZPO' § 273 Rz 8.
3573 So Rechberger in Fasching/Konecny III/1 3 § 273 ZPO Rz 15.
3574 Vgl dazu BuA 2018, 19, 56.
3575 OGH 06 CG.2007.111 LES 2009, 177.
des Streitwerts zumindest ein Indiz für die Bedeutung der Streitsache für die Parteien
darstellt, muss der Richter umso größere Schwierigkeiten bei der Beweisaufnahme in
Kauf nehmen, je höher der Streitwert ist. 3576
21.76 Soweit Einnahmen eines Ehegatten bei der Unterhaltsbemessung im Hinblick auf all-
fällig nach Art 68 EheG geschuldeten Ehegattenunterhalt iSv § 273 ZPO geschätzt wer-
den, handelt es sich um rechtliche Beurteilungen, die der Revision zugänglich sind. 3577
Ob § 273 ZPO anzuwenden sei, ist dagegen eine verfahrensrechtliche Entscheidung, die
. emer
mit . , h rensruge
V ena .. , h ten 1st.
anzu1ec . 3s7s
21.77 Nach stRsp des OGH vermochte§ 273 ZPO die Glaubhaftmachung (Bescheinigung) der
Höhe einer sog aktorischen Kaution iSd § 274 ZPO nicht zu ersetzen. 3579 Dies hat sich nun
allerdings durch den mit LGBl 2018/207 novellierten§ 60 Abs 2 ZPO nF geändert. Letzte-
res gilt aber nach dem klaren Wortlaut dieser lex specialis - im Gegensatz zur allgemeinen
Regel des § 273 Abs 2 ZPO nF - lediglich für die „Höhe der Sicherheitssumme".
21.78 Ferner ist es bei der Kostenentscheidung gern § 43 Abs 2 ZPO zu berücksichtigen,
wenn die Höhe des ersiegten Betra§s durch das richterliche Ermessen bestimmt wurde
35 0
und keine Überklagung vorliegt. Die Einräumung dieses Kostenprivilegs kommt
jedoch nicht in Betracht, wenn ein Sachverständiger zwar beigezogen wurde, weil das
Gericht ihn wegen des Fehlens eigener Sachkunde benötigte, die Partei selbst jedoch die
3581
erforderlichen Kenntnisse gehabt hätte oder hätte haben müssen. Auch bei der Be-
stimmung der Sachverständigengebühren iSd § 365 ZPO kann nach einer älteren OGH-
3582
Entscheidung § 273 ZPO herangezogen werden , ebenso nach einem neueren Judikat
hinsichtlich der Pauschalierung des Kostenersatzanspruchs eines Drittschuldners iSv
Art 223 Abs 6 EO. 3583 Hinzuweisen ist schließlich noch auf Art 287 Abs l Satz 2
3. Sonderfall Schmerzengeld
Nach der Rsp des OGH ist das Schmerzengeld nach§ 1325 ABGB gestützt auf§ 273 ZPO 21.80
unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insb der körperlichen und seeli-
schen Schmerzen des Verletzten sowie der Art und der Schwere der Verletzungsfolgen,
nach freier Überzeugung des Richters global festzusetzen. Tagessätze sind bloß ein Orien-
tierungsrahmen, nicht jedoch eine bindende Berechnungsformel für das Schmerzengeld.
Zur Ausmessung des Schmerzengelds sind ausgehend vom Verletzungsbild auch Ver-
gleichsfälle heranzuziehen. In die Gesamtbetrachtung der Schmerzengeldbemessung hat
auch einzufließen, ob der Verletzte bei seinen sportlichen Betätigungen und Hobbies in
Zukunft behindert bleiben wird. 3587
In einem anderen Fall konnte von einer mangelhaften Begründung oder „Willkür" iZm 21.81
der Bemessung von Schmerzengeld keine Rede sein, weil sich das Gericht auf die allge-
meinen Grundsätze der Schmerzengeldbemessung bezog und das Schmerzengeld inner-
halb dieser Parameter ausmaß. Laut OGH wäre zwar eine konkrete Bezugnahme auf Ver-
gleichsentscheidungen wünschenswert gewesen, doch vermochte ihr Fehlen keine Man-
gelhaftigkeit des Verfahrens zu begründen. 3588
3584 Zur österr Rezeptionsvorlage des § 394 öEO s König, eV; Rz 5.100 ff, wonach der dortige
Hinweis auf - den hier interessierenden - § 273 ZPO den Dispositionsgrundsatz nicht be-
rührt, auch wenn die Sachverhaltsermittlung von Amts wegen zu erfolgen hat, wobei im Üb-
rigen eine Bescheinigung der entscheidungserheblichen Tatsachen genügen soll; ähnlich
Angst/Jakusch/Mohr, EO 15 § 394 E 58, wonach die gefährdete Partei ihren Anspruch (konkret)
zu behaupten und auf Verlangen des Gerichts glaubhaft zu machen hat.
3585 Wenngleich Art 287 Abs 1 Satz 2 EO nicht an § 273 Abs 2 ZPO nF adaptiert worden ist, ist
darin mE kein qualifiziertes Schweigen (vgl dazu StGH 2016/005 LES 2017, 45), sondern viel-
mehr ein Redaktionsversehen (vgl dazu OGH 10 HG.2009.104 LES 2010, 350) des Reform-
gesetzgebers (zu LGBI 2018/207) dahingehend zu erblicken, dass die letztere Bestimmung
mittels Analogieschlusses auch auf die erstere anzuwenden ist; dies zumal auch angesichts
des summarischen Charakters dieses Schadenersatzverfahrens (LES 2002, 162). IdS auch Kö-
nig, eV 5 Rz 5.105, der von einem "unangepassten" Wortlaut des§ 394 öEO spricht und eben-
falls keinen Grund sieht, die Anwendung des § 273 Abs 2 ZPO in diesem Kontext auszu-
schließen; weniger eindeutig Angstl/akusch/Mohr, EO 15 § 394 E 53, wonach von § 273 ZPO
Gebrauch gemacht werden müsse, wenn feststehe, dass durch die Erlassung der eV überhaupt
ein Vermögensnachteil eingetreten sei.
3586 OGH 08 CG.2014.349 LJZ 2018, 97 (LS 2) = GE 2018, 208 betreffend die Höhe eines Bonus.
3587 OGH 06 CG.2005.298 LES 2008, 346.
3588 OGH 09 CG.2004.179 LES 2007, 195. Anders noch OGH 05 C 369/90-54 LES 1994, 6 aus
Gründen der Rechtssicherheit.
21.83 Exkurs: In einer älteren OGH-Entscheidung ging es bei der Anwendung von § 273 ZPO
um eine Urheberrechtsverletzung, bei welcher der „Genugtuungsgedanke" hervorgeho-
ben wurde. 3591 Die aus der schweizerischen Rechtsordnung stammende Genugtuung
entspricht im Wesentlichen dem Schmerzengeld österr Provenienz. 3592
Wegen der in Liechtenstein bis zu LGBl 2018/207 bestandenen Subsidiarität der Par- 21.85
teienvernehmung 3597 war diese nicht zur Beweissicherung vorgesehen, 3598 was sich
nun aber aufgrund von § 371 ZPO nF geändert haben müsste. Abs 3 des § 384 öZPO
war für Liechtenstein bereits in seiner Stammfassung obsolet, zumal hier im Gegensatz
zu Österreich keine verschiedenen „Sprengel" bestehen. In Übereinstimmung mit der
öRsp ist jedoch auch im Fürstentum ein Erkundungs- bzw Ausforschungsbeweis als nicht
sicherungsfähig anzusehen. 3599
Die Übernahme von § 386 Abs 2 öZPO erübrigte sich in Liechtenstein, zumal hier - wie 21.86
bereits erwähnt - in erster Instanz in Zivilsachen ohnehin nur Einzelrichter fungieren.
Beim stattgebenden Beschluss (Anm: § 386 Abs 2 ZPO = § 386 Abs 3 öZPO) handelt es
sich zwar formal um einen Beweisbeschluss, doch enthält jener auch einen Ausspruch
über ein Rechtsschutzbegehren, weshalb er im Verlauf des Verfahrens nicht frei abänder-
3600
bar ist.
Entsprechend der stRsp und hL zur österr Rezeptionsvorlage ist auch für Liechtenstein 21.87
davon auszugehen, dass sich die Beweissicherung durch einen Sachverständigen auf die
3601
Befundaufnahme zu beschränken hat.
Gern § 388 Abs 3 ZPO hat der Antragsteller seine Kosten des Beweissicherungsverfah- 21.88
rens vorläufig selbst zu tragen und diese dann im Hauptprozess zu verzeichnen. Kommt
es endgültig zu keinem Prozess, so ist der finanzielle Aufwand durch eine eigene Klage
geltend zu machen. 3602 Auf den Kostenersatzanspruch des Antragsgegners 3603 wird nach-
stehend bei der Darstellung der hiesigen Rsp einzugehen sein.
3597 Vgl dazu noch Delle Karth, LJZ 2000, 46 unter Hinweis auf die öZVN 1983.
3598 Elkuch!Gassner!Gassner/Heiterer/Mähr, ZPO § 384 Rz 3. Anders offenbar die Rechtslage in
Österreich vgl dazu Rechberger in Rechberger/K/icka, ZPO 5 § 384 Rz 5, der auch eine analoge
Anwendung auf den Urkundenbeweis befürwortet; hinsichtlich letzterem nunmehr ableh-
nend Rassi in Fasching/Konecny III/ 13 § 384 ZPO Rz 19.
3599 So Elkuch/Ga.ssner/Gassner/Heiterer/Mähr, ZPO § 385 Rz I unter Hinweis auf EF 8924. Zur
österr Rezeptionsvorlage s Rechberger in Rechberger/K/icka, ZPO' § 385 Rz 2; ebenso Ra.ssi in
Fasching/Konecny 111/1 3 § 385 ZPO Rz 4.
3600 Elkuch/Gassner/Gassner!Heiterer/Mähr, ZPO § 386 Rz 3 mit Hinweis auf JUS 32/13. Auch
nach der österr Rechtslage bleibt das Erstgericht an seinen Beweissicherungsbeschluss gebun-
den; vgl Rechberger in Rechberger!Klicka, ZPO 5 § 386 Rz 3 und Rassi in Fasching/Konecny III/
13 § 386 ZPO Rz 7.
3601 So Rassi in Fasching/Konecny 111/1 3 § 384 ZPO Rz 20, der allerdings die Abgrenzung Befund/
Gutachten seit der ZVN 2002 im Beweissicherungsverfahren im Rahmen eines Prozesses für
entbehrlich hält. Vgl dazu auch Rechberger in Rechberger/Klicka, ZPO' § 384 Rz 5, welchem
Autor es nicht einleuchtet, dass die Erstattung eines Gutachtens gänzlich ausgeschlossen sein
soll; vgl denselben in Rechberger/K/icka, ZPO 5 § 386 Rz 4, wonach das auftragsgemäß erstat-
tete Gutachten im nachfolgenden Prozess unbeachtlich sein soll, dies unter Berufung auf
öOGH 7 Ob 120/03b.
3602 Elkuch!Gassner/Gassner/Heiterer/Mähr, ZPO § 388 Rz 2 unter Hinweis auf EvBI 1934/327
und Miet 39.761. Zur österr Rezeptionsvorlage vgl Rassi in Fasching/Konecny lll/1 3 § 388
ZPO Rz 7 ff, wonach die Akzessorietät ua dann aufgehoben werde, wenn feststeht, dass es
zum Hauptprozess nicht mehr kommen wird.
3603 Zur österr Rezeptionsvorlage Rassi in Fasching/Konecny lll/1' § 388 ZPO Rz 14 ff.
21.89 § 389 ZPO, welcher die Verwendung der vorsorglich aufgenommenen Beweise im
Hauptprozess regelt, ist mit dem österr Pendant 3604 identisch. Aufgrund des Unmittel-
barkeitsgrundsatzes hatte hier allerdings die Wiederholung der Beweisaufnahme in der
Verhandlung jedenfalls bis zum Inkrafttreten der ZPO-Reform LGBI 2018/207 stets dann
zu geschehen, wenn die Qualität des Beweismittels dieselbe geblieben war. 3605 Ob dies in
Liechtenstein angesichts der zwischenzeitlichen Rezeption des § 281 a ZPO nach wie vor
gilt, muss an dieser Stelle mangels aktueller Rsp dahingestellt und offen bleiben.
21.90 Nachtrag: Durch die Einfügung von§ 224 Abs 1 Z 12 ZPO sind die Verfahren zur Siche-
rung von Beweisen nunmehr zwecks Verfahrensbeschleunigung iS der Rechtssicherheit
3606
in den gesetzlichen Katalog der Ferialsachen aufgenommen worden.
2. Vorprozessuale Beweissicherung
21.91 Zur Beweissicherung als solcher liegen keine publizierten (höhergerichtlichen) Entschei-
dungen vor, was auf die Unanfechtbarkeit der Bewilligung der Beweissicherung zurück-
3607
zuführen sein dürfte (§ 386 Abs 3 ZPO). Hingegen hatte sich das OG schon mit der
Kostenbestimmung gern § 388 Abs 3 ZPO zu befassen. Dabei stellte das Rekursgericht
klar, dass die Kostenersatzpflicht des Antragstellers auf die Kosten der Beteiligung an der
Beweisaufnahme beschränkt ist. 36011 Davon nicht umfasst sind die Kosten einer Äußerung
zum Beweissicherungsantrag. 3609 Dazu diese Anmerkung: Zwar spricht der Gesetzes-
wortlaut (arg „Kosten für seine Beteiligung bei der Beweisaufnahme") für eine solche
3610
Limitierung des Kostenersatzes, doch ließe sich bei einer teleologischen und systema-
3611
tischen lnterpretation auch ein extensives Verständnis des § 388 Abs 3 ZPO dahin-
gehend vertreten, dass dem Antragsgegner auch die Kosten seiner (schriftlichen) Ver-
nehmung nach § 386 Abs I Satz 2 ZPO gebühren. Andernfalls ist der Beweissicherungs-
gegner gezwungen, die Kosten seiner - zumal aufgetragenen und notwendigen - Gegen-
3604 Vgl dazu Rassi in Fasching!Konecny 111/1 3 § 389 ZPO Rz 3ff, der auf das Spannungsverhältnis
zum Unmittelbarkeitsgrundsatz hinweist und § 389 Abs 3 öZPO als durch die Einfügung des
§ 281 a öZPO (Anm: letztere Bestimmung ist- wie bereits erwähnt - im Fürstentum Liechten-
stein nunmehr durch LGBl 2018/207 nachvollzogen worden) obsolet geworden ansieht. Zu-
dem schließt dieser Autor eine Bindung des Prozessgerichts an die Ergebnisse des (eigenstän-
digen) Beweissicherungsverfahrens aus, weil über den \Vert eines Beweises in letzterem Ver-
fahren nicht autoritativ abgesprochen werde. Wurde hingegen die Beweissicherung im Rah-
men des Hauptprozesses durchgeführt, können sich die Parteien gegen die Venvertung der
Ergebnisse des Beweissicherungsverfahrens nicht wehren, da dann auch § 281 a öZPO nicht
anwendbar sei.
3605 So damals noch zutr Elkuch/Gassner/Gassner/Heiterer/Mähr, ZPO § 389 Rz 3.
3606 Vgl dazu BuA 2018/19, 90.
3607 Das gilt auch für einen Beschluss eines Rechtsmittelgerichts, welcher die Beweissicherung
bewilligt; Elkuch!Gassner/Gassner/Heiterer/Mähr, ZPO § 386 Rz 4 unter Hinweis auf EvBl
1966/59.
3608 OG Nz 366/95-22 LES 1997, 65.
3609 So das OG Nz 366/95 LES 1996. 113.
3610 Dies entspricht auch der hA zur österr Rezeptionsvorlage; vgl dazu Obermaier, Kostenhand-
buch3 Rz 376.
3611 Zu den verschiedenen Auslegungsmethoden und deren Verhältnis zueinander der StGH
grundlegend in StGH 1996/40 LES 1998, 137; zur Rechtsvergleichung als sog „fünfte Ausle-
gungsmethode" StGH 2000/001 LES 2003, 71.
äußerung separat einzuklagen, wenn er diese nicht in einem allfälligen Hauptprozess ver-
zeichnen kann, was auch verfahrensökonomisch fragwürdig erscheint.
Angesichts der spärlichen bzw fehlenden Präjudizien zur Beweissicherung soll hier iS 21.92
eines Überblicks die erstinstanzliche Praxis des LG referiert werden. 3612 Dies allerdings
fokussiert auf die vorprozessuale Sicherunf von Beweisen, zumal nur die diesbezüglichen
Anträge 3613 separat registriert werden, 361 während die im Rahmen bereits anhängiger
Prozesse3615 durchgeführten vorsorglichen Beweisaufnahmen 3616 sich mit vernünftigem
Aufwand kaum eruieren lassen.
Vorab zur Illustration: Im Verfahren 06 NZ.2008.93 3617 wurde nach vorgängiger Anhö- 21.93
rung der Antragsgegner zur vorsorglichen Befundaufnahme zum Zweck der Feststel-
lung von Mängeln des Bodenbelags einer Eigentumswohnung ein Sachverständiger be-
stellt und von diesem ein Lokalaugenschein vorgenommen sowie anschließend eine Be-
weisaufnahmetagsatzung mit mündlicher Erläuterung des Experten und Einvernahme
eines Zeugen durchgeführt, worauf das gegenständliche Beweissicherungsverfahren mit-
tels deklaratorischem Beschluss für beendet erklärt und der Antragsteller zu näher be-
stimmtem Kostenersatz verpflichtet wurde. Letzterer wurde in Anlehnung an die Lit und
Judikatur zur österr Rezeptionsvorlage auf die Beweisaufnahme beschränkt, wogegen die
Gegenäußerung und weitere Eingaben der Antragsgegner nicht honoriert wurden. 3618
Seit dem vorstehend geschilderten Verfahren fanden - soweit ersichtlich - beim LG nur 21.94
noch eine Handvoll vorprozessualer Beweissicherungen statt. 3619 Dabei ging es in einem
Fall um Mängel, die iZm der Abdichtung einer Hausterrasse geltend gemacht wurden,
wobei der involvierte Generalunternehmer jegliche Gewährleistung ablehnte. Die Beur-
teilung letzterer Frage wurde vom für die Beweissicherung zuständigen Einzelrichter ei-
nem etwaigen Hauptprozess vorbehalten unter Hinweis darauf, dass jenes Verfahren nur
der vorsorglichen Befundaufnahme diente. 3620 Sodann wurde die Vornahme des eben-
3621 Der ursprüngliche Sachverständige müsste übrigens ausgewechselt werden, nachdem sich he-
rausstellte, dass er für die Antragstellerin bereits ein Privatgutachten erstellt hatte, was einen
Ablehnungsgrund nach § 355 ZPO bildete.
3622 LG 30. 3. 201 1, 06 NZ.2010. 100- 24.
3623 LG 20.9.2011, 02 NZ.2011.73-14.
3624 LG 27.12.2011, 02NZ.2011.73-25.
3625 Vgl zur österr Rezeptionsvorlage Rassi in Fasching/Konecny 111/IJ § 388 ZPO Rz 16ff, welcher
Autor gegen die Beschränkung des Kostenersatzes des Gegners im Beweissicherungsverfahren
erhebliche Bedenken äußert und dem Wort „Beweisaufnahme" keine zu enge Bedeutung bei-
legen möchte.
3626 Anm: Diese Diskrepanz ist zwischenzeitlich insoweit obsolet geworden, als nach der späteren
Geschäftsverteilung des LG andere Richter für die vorprozessuale Beweissicherung zuständig
wurden (seit 1. 1. 2019 ist dies übrigens allein die Abteilung 08).
erst) schriftlichen Befund des Sachverständigen, weil diese der (Beteiligung bei der) Be-
weisaufnahme zugerechnet und zudem im Hinblick auf die mündliche Erörterung durch
den bestellten Experten als notwendig angesehen wurde. 3627 Eine analoge Konstellation
lag dem Fall 06 NZ.2013.20 zugrunde, weshalb darauf nicht weiter eingegangen wird.
Thema der vorsorglichen Beweisaufnahme zu 02 NZ.2014.97 waren aufgrund der Benut- 21.97
zung einer Wohnung durch einen Mieter angeblich entstandene Beschädigungen bzw ein
dadurch verursachter verwahrloster Zustand, zu dessen Befundaufnahme vom dafür zu-
ständigen Einzelrichter des LG ein Sachverständiger bestellt wurde. Abgewiesen wurde
hingegen ein gleichzeitig gestellter Antrag auf Feststellung, ob und ggf in welcher Höhe
die fraglichen Mängel eine Wertminderung darstellen. Letzteres im Wesentlichen mit der
Begründung, dass unter Bedachtnahme auf die öLehre und Rsp trotz unterschiedlichen
Wortlauts des Pendants zu § 384 Abs 2 ZPO die Erstattung eines Gutachtens im Be-
weissicherungsverfahren ausgeschlossen sei. 3628 Anzumerken bleibt der Vollständigkeit
halber, dass der gegenständliche Beweissicherungsantrag nach Anberaumung einer Be-
weisaufnahmetagsatzung zurückgezogen wurde.
Im Gegensatz zum vorerwähnten Verfahren wurde beim LG zu 03 NZ.2015.10 die Be- 21.98
weissicherung durch einen Sachverständigen nicht nur zur Feststellung des Zustands von
Fußböden, sondern auch zur Ursache allfälliger Schäden angeordnet. 3629 Bei der Frage
der Schadensverursachung handelt es sich aber nicht mehr um eine bloße Befundaufnah-
me, sondern vielmehr um eine Gutachtenserstattung. Im diesbezüglichen (deklaratori-
schen) Erledigungsbeschluss wird dagegen lediglich von einer „Befundaufnahme" durch
den gerichtlichen Sachverständigen gesprochen. 3630 Wie dem auch sei: Die Eruierung der
Schadensursache musste wohl einem etwaigen Hauptprozess vorbehalten bleiben.
3633 Dieser Umstand war wohl auch auf zwei Richterwechsel im Verlauf des Verfahrens zuriick-
zuführen.
3634 Heute aber wohl aufgrund des novellierten § 371 ZPO nF anders zu beurteilen.
3635 OG 04 CG.2014.114-35 unter Bezugnahme aufOG Nz 366/95 LES 1996, 113 und OG Nz
366/95-22 LES 1997, 65.
3636 B v 28.7.2016, 04 CG.2015.251-50.
3637 ÖJZ 2016/79; dies im Gegensatz zum OLG Wien 2R 102/12b.
3638 Anm: Damit befinden sich jedenfalls die beiden zitierten OG-Senate insoweit auf einer Recht-
sprechungslinie.
zungsleistungen 3639 zur AHV und IV, die betriebliche Personalvorsorge, die Pensions-
fonds, die Kranken- und Unfallversicherung, die Mutterschaftszulagen, die Familienzula-
gen und die Arbeitslosenversicherung. 3640 Es beruht im Wesentlichen auf schweizer-
ischem Sozialversicherungsrecht, auch wenn der dort im Jahr 2003 eingeführte Allge-
meine Teil der Sozialversicherung (ATSG) 3641 in Liechtenstein (bis anhin) nicht über-
nommen worden ist. 3642
Während das schweizerische Sozialversicherungsverfahren ein Verwaltungsprozess ist, ist 21.104
der liechtensteinische Sozialversicherungsprozess idR ein Zivilprozess. Dabei ist der
Rechtsweg bzw Rechtszug je nach Materie unterschiedlich: Steht zB wie im Kranken-
und Unfallversicherungsrecht gegen die Verfügung des Versicherers die Klage an das
LG 3643 offen, 3644 so ist die ZPO umfassend anwendbar, und zwar vom Gericht erster
Instanz bis zum Verfahren vor dem OGH. 3645 Insoweit wird zur Vermeidung von Wie-
derholungen auf die vorstehenden Ausführungen verwiesen, soweit es das hier relevante
Beweisrecht betrifft.
Anders verhält es sich dagegen mit den Bereichen der AHV und IV sowie der Familien- 21.105
zulagen, in denen der jeweilige Sozialversicherungsträger3646 eine Verfügung erlässt, ge-
gen welche die versicherte Person Vorstellung sowie - verkürzt dargestellt - in weiterer
Folge gegen die jeweilige Entscheidung allenfalls Berufung beim OG 3647 und Revision
beim OGH erheben kann. Auf diese Sozialversicherungsprozesse ist die ZPO nur be-
3639 Das ELG wird hier ausgeblendet, zumal dort auch im Rechtsmittelverfahren beim VGH das
Landesverwaltungspflegegesetz (L VG) gilt und die ZPO keine Anwendung findet. Anm: Dies
zeigt auch, wie zersplittert das liechtensteinische Sozialversicherungsrecht ist, jedenfalls was
das Verfahren anbelangt.
3640 Näheres bei Hotz in FS Delle Karth 481 ff.
3641 BG über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 6. 10. 2000 (SR 831.1 ).
3642 Zwischenzeitlich sind aber wieder konkrete Reformbestrebungen im Gang zur Schaffung ei-
nes Rahmengesetzes zu den Sozialversicherungen in Liechtenstein, und zwar in Anlehnung an
das chATSG, wobei die einheitliche gerichtliche Rechtsmittelinstanz der „Knackpunkt" zu
sein scheint; vgl Postulat betreffend die Invalidenversicherung und die Sozialversicherungen
im Allgemeinen, BuA 2018/21.
3643 In der Geschäftsverteilung des LG figurieren solche Sozialversicherungsprozesse, insb zum
KVG und UVersG, unter „CG", welches Akronym für „Klagen aller Art" bzw „sonstige strei-
tige Verfahren" steht.
3644 Vgl dazu Holz in FS Delle Karth 483. Anm: Das in Art 91 Abs 1 UVersG vorgesehene, in
Abs 2 leg cit vorausgesetzte Verwaltungsverfahren umfasst das Verfahren, in welchem der
Versicherer verfügt, und ein allfälliges Einspracheverfahren, wobei dem Verwaltungsverfah-
ren laut OGH die Funktion einer Vermittlungsverhandlung zukam. Das Höchstgericht hat
auch klargestellt, dass mit der Klage gern Art 91 Abs 2 UVersG ein erstinstanzliches Gerichts-
verfahren und nicht ein Rechtsmittelverfahren über den Einspracheentscheid eingeleitet wird,
so dass eine Zurückweisung in das Verwaltungsverfahren nicht mehr in Betracht kommt;
OGH 4 CG.2006.289 LES 2009, 218.
3645 Hotz in FS Delle Karth 485.
3646 Träger ist jeweils eine selbstständige Anstalt des öffentlichen Rechts; s Art I Abs I AHVG,
Art 1 Abs I IVG und Art l Abs l FZG.
3647 Zum Ganzen s Augustin, LJZ 2015, 1 ff, welcher im Übrigen jahrelang beim OG in SV-Ge-
schäften als Berichterstatter fungiert hatte.
schränkt anwendbar, dh nur auf die gerichtlichen Rechtsmittelverfahren 3648 vor dem
OG und ggf vor dem OGH. 3649 In der Gerichtspraxis stehen dabei jedenfalls zahlenmäßig
diejenigen Sozialversicherungsprozesse im Vordergrund, bei denen es um eine Invaliden-
3650
rente geht.
Die nachstehenden Ausführungen konzentrieren sich deshalb auf das lnvalidenversiche-
rungsverfahren und fokussieren entsprechend dem Thema dieses Beitrags auf beweis-
rechtliche Besonderheiten.
B. Allgemeine Charakteristika
1. Mischverfahren
3651
21.106 Gern Art 78 Abs l IVG können die Betroffenen gegen Verfügungen der Anstalt binnen
vier Wochen das Rechtsmittel der Vorstellung an die Anstalt erheben, wobei gegen die
darüber ergangenen Entscheidungen die Berufung an das OG zulässig ist; dessen Urteil
kann mittels Revision beim OGH angefochten werden. Nach Art 78 Abs 2 IVG finden
die Bestimmungen von Art 84 bis 97b;, des Gesetzes über die Alters- und Hinterlassenen-
versicherung (AHVG) sinngemäß Anwendung. Kraft dieser Verweisung richtet sich das
Verfahren aufgrund des Rechtsmittels der Vorstellung nach dem LVG. 3652 Dem Beru-
fungsverfahren geht somit ein Anhörungs- und Vorstellungsverfahren voraus 3653 , wobei
jenes auf eine Verfügung 3654 und dieses auf eine Entscheidung der IV -Anstalt zielt. 3655 Laut
3648 Nach stRsp des OGH (publiziert in LES 2009, 62 und seither wiederholt bestätigt) gilt die in
SV-Verfahren beschränkt anwendbare ZPO über den Wortlaut der einschlägigen Bestimmun-
gen hinaus nicht nur für das Berufungs- und Revisionsverfahren, sondern auch für das (Revi-
sions-)Rekursverfahren.
3649 Siehe die einzelnen Gesetzeszitate bei Hotz in FS Delle Karth 485.
3650 Vom SV-Neuanfall beim OG (Berufungen und Rekurse in Sozialversicherungssachen) ent-
fielen im Jahr 2014 von insgesamt 54 Akten deren 44 auf Rechtsmittel gegen Entscheidungen
der IV-Anstalt. 2018 betrafen 21 von 30 Rechtsmitteln Invalidenrenten, wozu noch eine von
der IV abgelehnte Umschulungsmaßnahme (SV.2018.16) kam.
3651 G v 23. 12. 1959 über die Invalidenversicherung (LGBl 1960/5) und seitherige Abänderungen
LGBl 1969/2, 1973/4, 1980/7, 1982/14, 1988/47, 1993/3, 1993/21, 1996/39, 1996/114, 1996/
195, 2001/17, 2003/224, 2006/244, 2013/68 und LGBI 2016/231.
3652 Art 84 Abs 2 AHVG. Zur Begründungspflicht des Rechtsmittels der Vorstellung OGH
SV.2006.25 LES 2008, 285.
3653 Vgl zum Vorverfahren der schweizerischen Rezeptionsgrundlage U. Müller, Verwaltungsver-
fahren.
3654 Zu den Anforderungen an eine invalidenversicherungsrechtliche Verfügung, welche sich
nicht nach dem LVG, sondern der jeweiligen Spezialgesetzgebung richtet, OGH Sv 2008.42
LES 2010, 301; vgl dazu auch Hotz in FS Delle Karth 490, wonach alltägliche Fälle in einem
einfachen Anhörungsverfahren erledigt, komplexere und umstrittene Fälle dagegen im Vor-
stellungsverfahren einer vertieften Abklärung zugeführt werden sollen.
3655 Differenziert wird zwischen diesen beiden Verwaltungsverfahren insb auch hinsichtlich Ver-
fahrenshilfe, indem die Notwendigkeit der Beigebung eines Verfahrenshelfers im Anhö-
rungsverfahren regelmäßig verneint wird, dies im Gegensatz zum Vorstellungsverfahren;
zuletzt OGH SV.2018.3 LES 2018, 136 (Bestätigung der Rsp OGH Sv.2009.13 LES 2010,
132).
Hotz3 656 soll letzterer die Funktion eines in erster Instanz gefällten Urteils iSv § 431 Abs 1
ZPO zukommen. Anmerkung: Formell handelt es sich dabei um eine Verwaltungsent-
scheidung nach Art 89 LVG, auf welche die ZPO nur (aber immerhin) subsidiär Anwen-
3657
dung findet.
Demgegenüber kommt gern Art 78 Abs 2 IVG iVm Art 87 Abs 1 AHVG auf die Berufung 21.107
gegen die Vorstellungsentscheidung der Anstalt und das Verfahren vor dem OG 3658 die
ZPO zur Anwendung, wobei allerdings zusätzlich der Berufungsgrund der Unangemes-
senheit geltend gemacht werden kann, über welchen das OG nach freiem Ermessen ent-
scheidet.3659 Gegen Urteile des OG ist schließlich die Revision an den OGH zulässig,
3660
wobei wiederum die ZPO zur Anwendung gelangt. Dazu hat das Höchstgericht präzi-
siert, dass im IV-Verfahren die Unangemessenheit zwar ein Berufungs-, jedoch kein Re-
visionsgrund ist. 3661
Aus den genannten Gründen wird der Sozialversicherungsprozess bisweilen als „Misch- 21.108
verfahren" bezeichnet. Der OGH stellte jedoch in einer Entscheidung aus dem Jahr
2006 3662 klar, dass der liechtensteinische Sozialversicherungsprozess trotz (relativiertem)
Untersuchungsgrundsatz 3663 und weiterer Besonderheiten ein Zivilprozess bleibe und
deswegen nicht zu einem Verwaltungsprozess werde.
2. Rezeptionsbruch
Das materielle liechtensteinische Sozialversicherungsrecht, insb das hier interessierende 21.109
Invalidenversicherungsrecht, wurde aus der Schweiz rezipiert. Demgegenüber stand für
das liechtensteinische Zivilprozessrecht, welches auf das gegenständliche Berufungsver-
3656 In FS Delle Karth 489. Der genannte Autor lässt unerwähnt, dass es sich bei der Vorstellung
(nRemonstration") nach Art 89 LVG (s Überschrift unter dem IV. Abschnitt „Das Überprü-
fungsverfahren [Rechtsmittel)"), über welche die IV-Anstalt entscheidet, bereits um ein
Rechtsmittel handelt; so auch die stRsp des OGH Sv.2009.13 LES 2010, 132; Sv.2007.11 LES
2009, 155 und SV.2006.25 LES 2008, 285. Allgemeines zur Vorstellung bei Kley, Grundriss
277 ff, der freilich von einem „in die Nähe eines Rechtsmittels gerückten Rechtsbehelf' spricht
(278 oben und FN 20 im Vergleich zur österr Vorstellung). So gesehen fungiert das OG in SV-
Sachen als zweite Rechtsmittelinstanz, wenn auch als erste gerichtliche.
3657 Art 88 Abs 1 LVG.
3658 Laut OGH SV.2015.8 LES 2015, 217 wird das OG im IV-Verfahren zwar als erste verwaltungs-
unabhängige Instanz, funktionell aber als Berufungsgericht tätig, wobei gegen eine Rückver-
weisung an die IV-Stelle (in Liechtenstein recte: Anstalt) der Rekurs nur statthaft ist, wenn das
Berufungsgericht iSv § 487 Z 3 ZPO einen sog Rechtskraftvorbehalt gesetzt hat.
3659 Art 78 Abs 2 IVG iVm Art 86 Abs 1 letzter Satz und Art 87 Abs 2 AHVG. Diese Ermessens-
entscheidung des OG kann vom OGH nur unter dem Revisionsgrund der unrichtigen recht-
lichen Beurteilung daraufhin überprüft werden, ob das Berufungsgericht das ihm zustehende
freie Ermessen fehlerhaft ausgeübt, dh überschritten, unterschritten oder missbraucht hat; so
der OGH Sv.2008.17 LES 2010, 35/1. Vgl auch OGH Sv.2010.31 LES 2011, 166, wo es um den
sog Leidensabzug vom Invalideneinkommen ging.
3660 Art 78 Abs 2 IVG iVm Art 93 AHVG.
3661 OGH Sv.2011.34 LES 2012, 158 betreffend die Befristung einer Invalidenrente.
3662 Zu Sv.2004.4, auszugsweise veröffentlicht in LES 2006, 464.
3663 Näheres dazu unten zu Rz 21.112.
fahren sinngemäß anwendbar ist, 3664 die öZPO Pate. Wie bereits ausgeführt, ist bei Feh-
len einer eigenständigen Praxis die Lit und Judikatur zur jeweiligen Rezeptionsvorlage
heranzuzuziehen, wobei es in erster Linie auf die höchstrichterliche Rsp (,.law in action")
ankommt. 3665
21.110 Allerdings ist die ZPO auf das hiesige Sozialversicherungsverfahren - wie schon erörtert
- nur beschränkt anwendbar, und zwar nur auf das gerichtliche Rechtsmittelverfahren
vor dem OG und ggf vor dem OGH. 3666 Hotz3667 hält die Anwendung des Zivilprozess-
rechts auf den liechtensteinischen Sozialversicherungsprozess generell für fragwürdig. 3668
Dies nicht nur wegen des „Rezeptionsbruchs" zwischen dem materiellen schweizerischen
und dem formellen österr Recht, sondern auch angesichts der Zäsur zwischen dem vor-
gelagerten Verwaltungsverfahren und dem gerichtlichen Rechtsmittelverfahren. Anmer-
kung: Letztere „Bruchstelle" wird dadurch gemildert, dass das LVG subsidiär auf die ZPO
weiterverweist. 3669
C. Beweisrechtliche Aspekte
21.111 Der liechtensteinische Sozialversicherungsprozess, insb das hier interessierende lnvali-
denversicherungsverfahren, weist gegenüber der sinngemäß anwendbaren ZPO einige
Spezialitäten auf, die im Folgenden etwas näher beleuchtet werden.
1. Untersuchungsgrundsatz
21.112 Während im Zivilprozess idR der Verhandlungsgrundsatz gilt 3670 , greift im Invaliden-
versicherungsprozess kraft der ausdrücklichen Verweisung in Art 78 Abs 2 JVG auf
Art 96 AHVG 3671 der Untersuchungsgrundsatz Platz. 3672 Dieser wird jedoch im gericht-
lichen Rechtsmittelverfahren relativiert 3673 dadurch, dass diesem ein Vorverfahren,
nämlich ein Anhörungs- und Vorstellungsverfahren vorausgeht, in welchem die für die
Entscheidung des Sozialversicherungsträgers wesentlichen Tatsachen von Amts wegen
eingehend festzustellen sind. Zudem schließt der im SV-Prozess geltende Untersuchungs-
grundsatz ein Neuerungsverbot nicht aus, wie der OGH in einer Entscheidung von
3674
2007 judiziert hat. Erst recht kann der in einer Berufung geltend gemachte Berufungs-
grund auch im SV-Verfahren nicht mehr erweitert oder durch andere Berufungsgründe
3675
ersetzt werden.
Tatsacheninstanz ist im Bereich der Invalidenversicherung in erster Linie der Sozialver- 21.113
sicherungsträger, hier also die IV-Anstalt. Auf deren Feststellungen beruhen idR denn auch
die gerichtlichen Konstatierungen. Allerdings bedarf es nach der StGH-Rsp einer sachlich
überzeugenden Begründung, inwiefern rechtzeitig und formgültig beantragte Beweise kei-
ne für die Entscheidung wesentlichen Tatsachen betreffen oder beweisuntauglich erschei-
nen.3676 Nach einem Präjudiz des OGH steht bei einer Verletzung der Mitwirkungspflicht
gern Art 35 IVG angesichts der Geltung des Untersuchungsgrundsatzes in Anlehnun~ an
367
das schweizerische Recht eine Entscheidung aufgrund der Akten im Vordergrund.
3678
In seiner Entscheidung vom 5. 3. 2009 präzisierte der OGH seine Rsp zur Ablehnung 21.114
von Beweisanträgen in antizipierter Beweiswürdigung dahingehend, dass angebotene
solche Rente nach dem IVG beantragt. Daran ändert die gesetzlich vorgesehene Koordination
der sog 2. Säule mit der staatlichen Invalidenversicherung nichts angesichts der fehlenden
Bindungswirkung des vorangegangenen IVG-Verfahrens für den BPVG-Prozess (OGH-Judi-
katurwende nach Maßgabe der StGH-Rsp, auszugsweise veröffentlicht in OGH 04
CG.2006.269 LES 2010, 191 = GE 2010, 549).
3671 Art 96 AHVG lautet wörtlich: .,Die Rechtsmittelinstanzen haben von Amts wegen die für die
Entscheidung oder für das Urteil erheblichen Tatsachen festzustellen."
3672 Dies im Unterschied zum Stoffsammlungsmodell der ZPO, welches auf dem Verhandlungs-
grundsatz beruht; so OGH SV.2006.21 LES 2008, 214 unter gleichzeitiger Betonung der den
Parteien verfassungsrechtlich zustehenden Mitwirkungsrechte; zu letzteren vgl auch OGH
Sv.2007.11 LES 2009, 155/2. Der Untersuchungsgrundsatz gilt im Übrigen gern Art 16 Abs 1
AussStrG auch im Außerstreitverfahren, wenngleich nicht in seiner nreinen" Form; so OGH
06 NZ.2016.38 LES 2018, 118 = GE 2018, 261 betreffend Notweg nach Art 102 SR.
3673 Bestätigung der OGH-Rsp in OGH SV.2006.3 LES 2008, 216. Vgl dazu auch Hotz in FS Delle
Karth 491 f, wonach auch die Überprüfung durch den OGH im Revisionsverfahren entspre-
chend eingeschränkt ist und das Höchstgericht nicht ohne Not sein eigenes Ermessen an die
Stelle desjenigen des OG setzt, sondern sich auch im gegenständlichen Bereich in erster Linie
als Rechts- und nicht als Tatsacheninstanz versteht.
3674 Zu OGH SV.2006.30, auszugsweise veröffentlicht in LES 2008, 233, wonach indes neu nur
solches Vorbringen sei, das nach dem Inhalt der angefochtenen Verfügung oder den sonstigen
Prozessakten im Verfahren vor der verfügenden Behörde nicht vorgekommen ist.
3675 OGH Sv.2008.35 LES 2010, 299.
3676 StGH 2007/147 Erw 3.2.4, seither mehrfach bestätigt; s dazu die weiteren Judikaturnachweise
bei Hotz in FS Delle Karth 492 FN 60.
3677 So OGH Sv.2008.15 LES 2010, 31.
3678 Zu Sv.2006.22, auszugsweise veröffentlicht in LES 2009, 223, wo der OGH unter Berufung auf
seine funktionale Zuständigkeit die angefochtene Entscheidung aufhob und die gegenständ-
liche IV-Sache zur allfälligen Beweiswiederholung an das OG zurückverwies.
2. Beweismaß
21.117 Als Regelbeweismaß der aus Österreich rezipierten ZPO wird - wie schon oben unter
Rz 21.23 ausgeführt - hohe Wahrscheinlichkeit angenommen. 3685 Nach österr Recht sind
Beweismaßabstufungen, wie insb eine Beweismaßreduzierung, teils gesetzlich ausdrück-
lich vorgesehen, teils richterrechtlich anerkannt. 3686
21.118 Nach der schweizerischen Rezeptionsvorlage zum liechtensteinischen IVG müssen sämt-
liche Tatsachen, aus denen eine Anspruchsberechtigung abgeleitet wird, zumindest mit
dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sein. 3687 Dage-
gen kommen Abschwächungen des Beweismaßes oder sogar eine Umkehr der Beweislast
nur in ausgesprochenen Ausnahmefällen vor, etwa wenn die von der Verwaltung zu ver-
tretende lange Dauer des Abklärungsverfahrens den Beweis der rechtserheblichen Tat-
3688
sachen erschwert oder verunmöglicht. Aufgrund des Beweisgrads der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit hat die IV-Stelle (in Liechtenstein: Anstalt) jener Sachverhaltsdarstel-
lung zu folgen, welche der wahrscheinlichsten aller Möglichkeiten entspricht. Demgegen-
3689
über genügt Glaubhaftmachung etwa für das Eintreten auf eine Neuanmeldung oder
3690 3691
eine Rentenrevision nach IVG.
Auch nach der stRsp des OGH gilt im Sozialversicherungsrecht allgemein der Beweis- 21.119
grad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit. Allerdings kam dieses reduzierte Beweis-
maß in einem konkreten Fall betreffend Befristung einer Invalidenrente nach Art 54bis
IVG nicht zum Tragen, sondern wurde dort Art 35 IVG sinngemäß angewendet und
gestützt darauf ein günstiger Heilungsverlauf angenommen, wie er bei der Rentenbefris-
3692
tung prognostiziert worden war.
3. Expertisen
Nach konstanter OGH-Judikatur ist gegenüber medizinischen Befunden von behandeln- 21.120
den Ärzten bei der Würdigung tendenziell Zurückhaltung geboten. Dies gilt umso mehr
für ärztliche Gutachten, die in einem hängigen SV-Verfahren eigens eingeholt werden,
um amtlich eingeholte ärztliche Gutachten zu entkräften. Bei deren Würdigung ist nicht
nur auf die Vertrauensstellung von behandelnden Ärzten Bedacht zu nehmen, sondern
zusätzlich auf die hinter dem Gutachten stehende Erwartungshaltung der versicherten
Person, die es in Auftrag gegeben hatte. Dabei hat das Höchstgericht auch klargestellt,
3693
dass Privatgutachten nicht unter den Sachverständigenbeweis fallen. Demgegenüber
kommt den im sozialversicherungsrechtlichen Verwaltungsverfahren eingeholten Admi-
nistrativexpertisen3694 volle Beweiskraft zu, wenn anerkannte Fachärzte aufgrund eige-
ner Beobachtungen und Untersuchungen sowie nach Einsicht in die Akten bei der Er-
Last but not least: Mit Urteil v 16. 12. 2015 entschied der EFTA Court3702 auf Vorlage 21.124
durch den 2. Senat des OG in einem damals hier anhängig gewesenen - vorübergehend
unterbrochenen - Berufungsverfahren, dass Art 87 Abs 2 VO (EG) 987/2009 einen Leis-
tungsempfänger oder Antragsteller nicht davon abhält, die nach dieser Bestimmung ge-
troffenen Feststellungen des Trägers des Aufenthalts- oder Wohnorts (in casu: Spanien)
in einem Verwaltungsverfahren (hier: Vorstellungsverfahren bei der liechtensteinischen
IV-Anstalt) vor dem leistungspflichtigen Träger in Frage zu stellen 3703 . Dies, nachdem
die IV die Invalidenrente des Betroffenen aufgrund einer in ihrem Auftra von einer
spanischen Ärztin vor Ort durchgeführten Untersuchung eingestellt hatte. 37 4 8
Dagegen hielt der EFT A-GH bei spiegelbildlicher Konstellation in einer vom 1. Senat 21.125
vorgelegten SV-Sache in seinem Gutachten v 2. 6. 2016 3705 fest, dass erstens die vorzi-
tierte Bestimmung es dem leistungsptlichtigen Träger untersagt, die ärztlichen Festsiel-
Jungen des Trägers des Aufenthalts- oder Wohnorts (dort: Deutschland) im Verwal-
tungsverfahren in Frage zu stellen, und dass zweitens diese Bindungswirkung auch in
einem sich an das Verwaltungsverfahren vor dem leistungspflichtigen Träger anschlie-
ßenden Gerichtsverfahren (hier: Berufungsverfahren vor dem OG) gilt. Letzteres wörtlich
3706
„unter Umständen wie jenen in der gegenständlichen Rechtssache".
21.126 Fazit: Damit hat der EFT A-GH im Ergebnis der (einseitigen) Bindungswirkung nach
Art 87 Abs 2 der ins EWR-Abkommen übernommenen VO (EG) 987/2009 Anwen-
dungsvorrang'707 gegenüber der im liechtensteinischen Jnvalidenversicherungsverfahren
bzw dem diesbezüglichen Berufungsprozess geltenden freien Beweiswürdigung gern
3708
§ 272 ZP0 (iVm Art 78 Abs 2 JVG und Art 87 Abs 1 AHVG) eingeräumt. 3709
3706 Daraufhin wurde mit Beschluss des 1. Senats des OG 7.7.2016 SV.2016.11-24 in Stattgebung
der Berufung des vorgenannten Versicherten die angefochtene IV -Entscheidung aufgehoben
und die SV-Sache zur neuerlichen Entscheidung (allenfalls nach Verfahrensergänzung) an die
IV zurückverwiesen. Dies unter Hinweis auf das vorzitierte Urteil des EFTA-GH in der Rs E-
24/15, Walter Waller/Liechtensteinische Invalidenversicherung. sowie im Wesentlichen mit der
Begründung, dass die IV von den ärztlichen Feststellungen im Formular E 213 des Trägers
des Aufenthalts- bzw Wohnorts abgewichen sei.
3707 Vgl dazu VGH 2013/093 LES 2014, 236.
3708 Näheres dazu oben unter Rz 21.63.
3709 Praxishinweis: Der IV-Anstalt bleibt es weiterhin unbenommen, einen Leistungsempfanger
bzw Ansprecher durch einen Arzt ihrer Wahl in Liechtenstein oder seinen Nachbarländern
untersuchen zu lassen, wenn sie für die damit verbundenen Reise- und Aufenthaltskosten
aufkommt und es die Gesundheit des Exploranden zulässt. Diese Vorgangsweise dürfte im
Einzelfall wesentlich vom Vertrauen in die Expertise bzw Aussage- und Beweiskraft des sog
Formulars E 213 des jeweiligen EU/EWR-Staats respektive der dort damit betrauten Sachver-
ständigen abhängen - wobei sich hier pauschalisierende Annahmen freilich verbieten.
Übersicht
Rz
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.1
II. Geheimnisschutz im Beweisverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.5
A. Geheimnisschutz bei der Zeugeneinvernahme . . . . . . . . . . . . . . . . 22.5
1. Aussageverweigerungsrecht aufgrund von staatlich anerkannten
Verschwiegenheitspflichten (§ 321 Abs I Z 3 ZPO) . . . . . . . . . . 22.7
a) Allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.7
b) Anwalts- und Treuhändergeheimnis im Besonderen . . . . . . . 22.10
2. Aussageverweigerungsrecht für Rechtsanwälte (§ 321 Abs I Z 4
ZPO) ........................................... 22.15
3. Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht . . . . . . . . . . . . . . 22.16
4. Geltendmachung von Zeugnisunfähigkeit und Zeugnisverweige-
rungsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.19
5. Folgen der Verletzung der Regeln über Zeugnisunfähigkeit und
Zeugnisverweigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.21
B. Geheimnisschutz bei der Parteienvernehmung . . . . . . . . . . . . . . . 22.24
1. Verweigerungsgründe bei der Parteienvernehmung . . . . . . . . . . 22.24
2. Folgen der Verletzung der Regeln über die Parteienvernehmung 22.28
C. Geheimnisschutz bei der Urkundenvorlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.33
1. Verweigerung der Vorlage von Urkunden durch den Prozessgegner 22.34
2. Vorlage lediglich eines Teils der Urkunde durch den Beweisführer 22.36
III. Geheimnisschutz durch Ausschluss der Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . 22.37
A. Grundsatz der Verfahrensöffentlichkeit im Zivilprozess . . . . . . . . . 22.37
B. Ausschluss der Öffentlichkeit im Schiedsverfahren . . . . . . . . . . . . 22.39
C. Einführung des Ausschlusses der Öffentlichkeit auch in der ZPO? . 22.40
IV. Berufsgeheimnisse in Verfahren in eigener Sache . . . . . . . . . . . . . . . . 22.41
A. Beweisnotstand von Geheimnisträgern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.41
B. Lösungsansätze bei Beweisnotstand von Geheimnisträgern . . . . . . . 22.43
1. Notstand und Notwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.46
2. Wahrung berechtigter Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.48
a) Allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.48
b) Berufsgeheimnisträger als Nebenintervenient . . . . . . . . . . . . 22.51
V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.52
3710 Ganz besonderer Dank gebührt meiner Mitarbeiterin und Kollegin Sara Meier (MLaw), wel-
che durch ihre Unterstützung bei der Recherche, ihre kritischen Anmerkungen sowie durch
ihre Hilfe bei der Erstellung des Manuskripts maßgeblich zum Entstehen dieses Buchkapitels
beigetragen hat.
1. Einleitung
22.1 Berufliche Verschwiegenheitspflichten spielen eine wichtige Rolle im Wirtschaftsleben.
So dürfte die große Bedeutung unbestritten sein, welche diesen Berufsgeheimnissen für
den Aufbau und die Wahrung des Vertrauensverhältnisses zwischen Kunden und Bera-
tern in vielen Dienstleistungsberufen zukommt. Ohne diese Pflicht zur Verschwiegenheit
wären die wenigsten Personen bereit, ihrer Ärztin 3711 oder ihrem Anwalt uneinge-
schränkt alle Informationen offen zu legen, die für eine kunstgerechte Behandlung oder
Rechtsberatung erforderlich sind. Berufsgeheimnisse können aber über die individuellen
Interessen hinaus auch im öffentlichen Interesse liegen, etwa im Gesundheitsbereich.
IZm dem Anwaltsgeheimnis hat der EGMR die grundrechtliche Dimension von Berufs-
verschwiegenheitspflichten anerkannt. 3712 Die Bedeutung von Berufsgeheimnissen wird
zusätzlich durch die Tatsache untermauert, dass Verletzungen teilweise strafrechtlich ge-
ahndet werden. 3713
22.2 Im Zivilprozess ist das Prinzip der Wahrheitserforschung von zentraler Bedeutung. Das
Gericht hat die relevanten Tatsachen wahrheitsgemäß festzustellen 371 4, während die Par-
teien die zur Begründung ihrer Anträge erforderlichen tatsächlichen Umstände wahr-
heitsgemäß, vollständig und bestimmt anzugeben haben 3715 . Auch Zeugen trifft die
Pflicht zur Angabe der Wahrheit. 3716 Wer als Zeuge die Unwahrheit sagt, muss damit
rechnen, wegen falscher Beweisaussage vor Gericht strafrechtlich belangt zu werden. 3717
22.3 Dass die beruflichen Geheimhaltungspflichten im Spannungsverhältnis zu diesen grund-
sätzlichen Regeln des Zivilprozesses stehen, liegt auf der Hand. Der Gesetzgeber hat dies
erkannt und für gewisse, besonders schützenswerte Geheimnisse einen prozessualen Ge-
heimnisschutz verankert. 3718 Lenckner3719 hält in diesem Zusammenhang fest, dass ein
Zivilprozess die Wahrheit zutage fördern soll, aber nicht um jeden Preis. Prozessualer
Geheimnisschutz dient dabei auch dem Schutz der Wahrheitsfindung, indem zB Aus-
sageverweigerungsrechte Zeugen vor falschen Aussagen bewahren sollen. 3720
22.4 Im Folgenden soll untersucht werden, welche Regeln die liechtensteinische ZPO für den
Umgang mit diesem Spannungsverhältnis bereithält. Dabei wird der Blick va auf das
Beweisverfahren gerichtet. Dieses sieht für die Einvernahme von Zeugen und Parteien
3711 Es werden in diesem Kapitel manchmal die weiblichen und manchmal die männlichen For-
men verwendet. Vertreterinnen und Vertreter des jeweils anderen Geschlechts sind selbstver-
ständlich jeweils mitgemeint.
3712 EGMR 25. 3. 1992, 13590/88, Campbe/1/Vereinigtes Königreich; der EGMR hat festgestellt,
dass sich die Wahrung des Anwaltsgeheimnisses dadurch rechtfertigt, dass es im öffentlichen
Interesse liege, dass die Konsultation eines Rechtsanwalts unter Bedingungen möglich sei,
welche eine vollständige und ungehinderte Diskussion ermöglichen.
3713 Siehe exemplarisch § 121 StGB oder Art 63 Abs 1 lit a BankG.
3714 § 182 Abs 1 ZPO.
3715 § 178 ZPO.
3716 § 388 Abs I ZPO.
3717 § 288 StGB.
3718 Vgl Schumacher, ZZP 2010, 284.
3719 NJW 1965, 321.
3720 Frauenberger in Fasching!Konecny 111/1 3 § 321 ZPO Rz 2.
trag bzw Werkvertrag als Teil der nebenvertraglichen Treuepflicht gilt, uU vertraglich
vereinbart wurde und alles umfasst, was Auftragnehmern und Unternehmern von ihrem
Vertragspartner anvertraut und iZm der Geschäftsbesorgung bekannt wird. 3739
Inwieweit ein Aussageverweigerungsrecht aufgrund von staatlich anerkannten Ver- 22.9
schwiegenheitspflichten gern § 321 Abs 1 Z 3 ZPO besteht, bestimmt sich nach der ge-
setzlichen Ausgestaltung der Geheimnispflicht für die jeweilige Berufsgruppe. Im Folgen-
den sollen daher exemplarisch das Berufsgeheimnis für Anwältinnen und dasjenige für
Treuhänder genauer untersucht werden.
In zeitlicher Hinsicht beginnt die Pflicht von Rechtsanwälten zur Verschwiegenheit un- 22.14
abhängig vom Beginn des Vertretungsverhältnisses. Sie gilt auch für Mitteilungen, die
ihnen in der Absicht anvertraut werden, sie zu einem späteren Zeitpunkt zu mandatieren,
und zwar unabhän~i~ davon, ob das Vertretungsverhältnis später tatsächlich zustande
kommt oder nicht: 7 - 4 Die Verschwiegenheitspflicht ~ilt zudem unbegrenzt und endet
nicht mit Beendigung des Vollmachtsverhältnisses. 375 Auch das Treuhändergeheimnis
gilt in zeitlicher Hinsicht unbeschränkt. 3756 Zusammengefasst verleiht § 321 Abs I Z 3
ZPO Treuhänderinnen und Rechtsanwälten damit ein Aussageverweigerungsrecht, so-
weit sie mit der Beannvortung einer Frage ihr Berufsgeheimnis, wie es sich aus Art 21
TrHG und Art I 5 RAG ergibt, verletzen würden.
abgegeben werden. 3759 Zu beachten ist, dass eine gültige Entbindung voraussetzt, dass
dem Entbindenden die Tatsachen, die nicht länger der Verschwiegenheitsptlicht unter-
liegen sollen, genau bekannt sind, und dass die Erklärung entsprechend eindeutig und
inhaltlich bestimmt sein muss. 3760 Die Entbindung gilt zudem nur für diejenigen Infor-
mationen, die der Berechtigte freigeben will, und kann deshalb eingeschränkt erfolgen,
sowohl was den Inhalt der Weitergabe der Informationen als auch den Personenkreis
betrifft, an den die Informationen weitergegeben werden können. 3761 Eine gülti~e Ent-
bindung kann bis zum Beginn der Einvernahme jederzeit widerrufen werden. 376-
22.17 Nicht geklärt erscheint die Frage, ob ein entbundener Geheimnisträger zur Aussage
verpflichtet ist. Insb iZm dem Anwaltsgeheimnis wird in Österreich teilweise die Ansicht
vertreten, dass aus standesrechtlicher Sicht ein Rechtsanwalt auch im Fall einer Entbin-
dung sorgfältig zu prüfen hat, ob dem Mandanten durch seine Aussage ein Nachteil
droht, dessen er sich nicht bewusst ist. 3763 Nach Frauenberger 3764 ist ein entbundener
Geheimnisträger hingegen zur Aussage verpflichtet. Sollte der Entbindende von einer
geheim zu haltenden Tatsache nichts wissen oder davon eine falsche Vorstellung haben,
kann dies jedenfalls Auswirkungen auf die Reichweite der Entbindung haben: Eine gül-
tige Entbindung ist nur hinsichtlich derjenigen Tatsachen möglich, die dem Entbinden-
den bekannt sind. 3765 Für andere Sachverhalte ist eine gültige Entbindung damit von
Vornherein ausgeschlossen. 3766
22.18 Wird eine Entbindung verweigert, darf dieser Umstand grundsätzlich nicht der Beweis-
würdigung unterzogen werden. 3767
3759 OGH 10 RZ. 2012.475 GE 2013, 257, Erw 6; Frauenberger in Fasching/Konecny Ill/1 3 § 312
ZPO Rz 19; Prohaska-Marchried, Geheimnisschutz 58 f.
3760 OGH 10 RZ. 2112.475 GE 2013, 257, Erw 6.
3761 OGH 10 RZ. 2012.475 GE 2013, 257, Erw 6.
3762 OGH 10 RZ. 2012.475 GE 2013, 257, Erw 6; Frauenberger in Fasching/Konecny Ill/1 3 § 321
ZPO Rz 19.
3763 Prohaska-Marchried, Geheimnisschutz 65; Tades, RAO' § 9 Rz 3; Schur, AnwBI 2009, 260.
3764 In Fasching/Konecny III/1 3 § 321 ZPO Rz 18, 22; Schumacher, ZZP 2010, 298, schlägt in die-
sem Zusammenhang vor, dass eine Partei vor der Aussage des von der Verschwiegenheit
entbundenen Rechtsanwalts vor Gericht definitiv erklären müssen sollte, dass ein Aufklä-
rungsgespräch stattgefunden hat und die Entbindung dennoch erteilt wird.
3765 OGH 10 RZ. 2012.475 GE 2013, 257, Erw 6.
3766 Frauenberger in Fasching/Konecny IIl/1 3 § 321 ZPO Rz 19.
3767 Nach Rechberger in Rechberger/K/icka, ZPO 5 §§ 321-322 Rz 9, kann die Verweigerung in
Extremfällen aber rechtsmissbräuchlich sein; Frauenberger in Fasching/Konecny III/1 3 § 321
ZPO Rz 20; aA Rassi, JBI 2016, 685.
3768 Rechberger in Rechberger/K/icka, ZPO' § 320 Rz 3; Frauenberger in Fasching/Konecny III/1 3
§ 320 ZPO Rz 2.
eine Berücksichtigung von Amts wegen findet nicht statt. 3769 Will sich ein Zeuge auf
sein Verweigerungsrecht berufen, muss er die Gründe dafür bekanntgeben und im Fall
eines Widerspruchs glaubhaft machen. 3770 Das Gericht ist dabei an die Erklärung etwa
eines Rechtsanwalts, dass die angestrebte Auskunft unter die Verschwiegenheitspflicht
fällt, gebunden. 3771 Es entscheidet nach allfälliger Anhörung der Parteien mit (nicht
gesondert anfechtbarem) Beschluss über die Rechtmäßigkeit der Verweigerung der
Aussage. 3772
Auch dem Zeugen steht nur ein aufgeschobenes Rechtsmittel zur Verfügung. Kommt 22.20
das Gericht zum Schluss, dass ein Zeuge nicht zur Aussageverweigerung berechtigt ist,
muss er, um eine Überprüfung dieser Entscheidung zu erreichen, faktisch weiterhin die
Aussage verweigern und damit eine Zwangsmaßnahme provozieren. 3773 Das Gericht
hat den Zeugen dann durch Geldstrafe oder Haft zur Aussage zu verhalten, nachdem
es ihn angehört hat. 3774 Beschlüsse zur Verhängung von Zwangsmaßnahmen sind un-
eingeschränkt mit Rekurs anfechtbar, in dem gleichzeitig die Entscheidung über die
Berechtigung oder Nichtberechtigung der Zeugnisverweigerung angefochten werden
kann_Jns
22.22 Auch in Bezug auf § 321 ZPO ist strittig, ob dessen Verletzung einen wesentlichen
Verfahrensmangel darstellt. Holzhammer 3779 nimmt in diesem Fall einen schweren
Verfahrensfehler an, ohne dass er dies weiter begründet. Nach Frauenberger3 780 bleibt
eine Verletzung der in § 321 ZPO statuierten relativen Beweismittelverbote sanktions-
los, weil ein derartiger Verfahrensfehler in keiner Weise geeignet sei, eine erschöpfende
Erörterung und gründliche Beurteilung der Streitsache zu verhindern, sondern viel-
mehr die Beurteilungsbasis verbreitere. Fasching3 781 zufolge soll uU eine Mangelhaftig-
keit geltend gemacht werden können. Beurteile der Richter die Vorschriften über das
Entschlagungsrecht eines Zeugen unrichtig, indem er das Vorliegen eines Entschla-
gungsgrunds verneine oder nehme er auf ein bestehendes Entschlagungsrecht über-
haupt nicht Bedacht (und belehre auch nicht gern § 339 ZPO), dann liege für die Par-
teien darin ebenso wenig ein Mangel, der die erschöpfende Erörterung der Streitsache
verhindere wie bei der Verletzung des Neuerungsverbots. Billige hingegen das Gericht
dem Zeugen gesetzeswidrig ein Entschlagungsrecht zu, dann bleibe die Tatsachen-
grundlage mangelhaft und der Beweisführer werde gesetzwidrig in der Erfüllung seiner
Beweispflicht gehindert. Hier könne der Mangel zum Gegenstand einer Rechtsmittelrü-
ge gemacht werden.
22.23 Werden also Beweisergebnisse unter Verletzung der Vorschriften zu den Zeugnisunfä-
higkeiten und Zeugnisverweigerungsrechten erzielt, indem zB eine bestehende Zeugni-
sunfähigkeit nicht beachtet oder ein Zeuge nicht oder nicht richtig über sein Aussagever-
weigerungsrecht belehrt wird, hat dies nach hA keine Folgen, insb sieht die ZPO kein
Verwertungsverbot für solchermaßen erlangte Beweisergebnisse vor. 3782 Wird hingegen
dem Zeugen zu Unrecht ein Aussageverweigerungsrecht zugebilligt und sagt er deshalb
nicht aus, kann dies zum Gegenstand einer Rechtsmittelrüge gemacht werden, weil der
Beweisführer so in der Erfüllung seiner Beweispflicht gehindert wird. Dieser Mangel ver-
hindert die erschöpfende und gründliche Beurteilun§ der Sache. Es liegt kein „Zuviel",
sondern ein „Zuwenig" an Beweisergebnissen vor. 378
ausführt, dass das Gericht eine unzulässige Aussage verwende, wenn der Partei das Aus-
sageverweigerungsrecht gesetzwidrig vorenthalten werde. Da das Schutzobjekt bei der
Parteienvernehmung die Partei sei, könne sie (anders als bei der Zeugenaussage, wo
die Interessensphäre des Zeugen geschützt sei) diesen Verfahrensverstoß unter dem Ge-
sichtspunkt der §§ 465, 472 Z 2 ZPO rügen. Fasching3 796 erklärt die Ungleichbehandlung
von Parteien- und Zeugenaussagen an anderer Stelle damit, dass „das Entschlagungsin-
teresse im Interesse des Zeugen (nicht auch der Partei) [eingeräumt ist], um eine Interes-
senkollision und damit verbundene Gewissenskonflikte des Zeugen einzuschränken oder
zu vermeiden; diese haben naturgemäß auch ihre Rückwirkung auf den Wahrheitsgehalt
der Aussage und in dieser Hinsicht stellen sich die Vorschriften über das Entschlagungs-
recht neben ihrer Schutzfunktion für den Zeugen auch als Normen zum Schutze der
Wahrheitsfindung in der Rechtspflege dar."
22.29 Nach hier vertretener Auffassung vermag diese Begründung die Ungleichbehandlung
nicht zu rechtfertigen. Das Aussageverweigerungsrecht des Zeugen - jedenfalls das in
§ 321 Abs I Z 3 - 5 ZPO genannte - soll nämlich nicht nur den Zeugen schützen, son-
dern uU gerade auch die Partei. Nach Fasching3 797 soll ein solcher Verfahrensverstoß
unter dem Gesichtspunkt der §§ 465, 472 ZPO gerügt werden können. Da nach diesen
Bestimmungen aber niemals ein „Zuviel" an Prozessstoff gerügt werden kann, nachdem
das „Zuviel" niemals eine erschöpfende Erörterung und gründliche Beurteilung der
Streitsache verhindert, kann eine Mangelhaftigkeit nach §§ 465, 472 ZPO wohl nicht gel-
tend gemacht werden.
22.30 Richtig wäre es, solche Verfahrensverstöße bei Parteien genauso wie bei Zeugen zu be-
handeln, wobei folgende Konstellationen zu unterscheiden sind:
1. Wird die Partei (bzw die Zeugin) nicht über die Aussageverweigerungsrechte belehrt,
so hat die Partei dies umgehend iSv § 196 ZPO zu rügen. Unterlässt die Partei diese
Rüge, scheitert eine erfolgreiche Geltendmachung eines Verfahrensverstoßes bereits
deshalb. Im Fall einer Rüge wird das Gericht idR die Belehrung vornehmen, weshalb
diese Konstellation nicht von praktischer Bedeutung sein dürfte.
2. Sagt die Partei aus, obwohl sie sich eigentlich erfolgreich auf ein Aussageverweige-
rungsrecht berufen könnte (sei es, dass sie hier selbst einer Fehleinschätzung unterliegt
oder dass das Gericht fälschlicherweise davon ausgeht, dass kein Aussageverweige-
rungsrecht vorliegt), so hat dies keine Folgen. Die entsprechenden Beweisergebnisse
können vom Gericht verwertet werden. Dieses „Zuviel" an Prozessstoff vermag keine
Mangelhaftigkeit zu begründen.
3. Wird der Partei zu Unrecht ein Aussageverweigerungsrecht zugebilligt und sagt die
Partei nicht aus, ist der Prozessgegner und Beweisführer also um seinen Beweis ge-
bracht, begründet dies ein „Zuwenig" an Prozessstoff und damit einen nach § 196
ZPO rügeptlichtigen Verfahrensmangel. Ferner kann eine unrichtige Anwendung
des§ 381 ZPO einen Verfahrensfehler begründen 3798 : Es kann dann eine Mangelhaf-
tigkeit gerügt werden, wenn die Partei nicht aussagt, obwohl sie hätte aussagen müs-
3796 m• 40Bf.
3797 m• s17.
3798 RIS-Justiz RS0040679.
sen und das Gericht dies nicht würdigt. Auch die zu Unrecht erfolgte Würdigung
einer Nichtaussage trotz Vorliegen eines Verweigerungsgrunds stellt eine Mangelhaf-
tigkeit dar. Wie das Gericht bei zulässiger Anwendung des§ 381 ZPO die Vereitelung
einer Parteienvernehmung im konkreten Fall würdigt, ist hingegen keine Verfahrens-
frage, sondern eine Frage der Beweiswürdigung. 3799
Obwohl die ZPO grundsätzlich keine Beweisverwertungsverbote kennt, scheint es sto- 22.31
ßend, dass eine vom Gericht zu Unrecht erzwungene Aussage in jedem Fall folgenlos
bleiben soll. Für die Qualität dieses Gerichtsfehlers macht es jedenfalls keinen Unter-
schied, ob die Partei (oder der Zeuge) aussagt oder nicht. Es ist daher nicht einzusehen,
warum im einen Fall kein Verfahrensmangel vorliegen soll, im anderen hingegen schon.
Es könnte daher überlegt werden, in diesen Fällen die Geltendmachung einer Mangel-
haftigkeit zuzulassen, obwohl ein „Zuviel" an Prozessstoff vorliegt, wie dies zB auch im
Fall von „überschießenden Feststellungen" vertreten wird. 3800
Das Bestehen eines Aussageverweigerungsrechts befreit die beweisbelastete Partei nicht 22.32
davon, zwischen dem Beweis des eigenen Prozessstandpunkts und der Wahrung geheim-
niswürdiger Tatsachen abzuwägen. Die oben erwähnte beschlussmäßige Feststellung, ob
die Aussageverweigerung gerechtfertigt ist, dient immerhin dazu, der Partei Klarheit da-
rüber zu verschaffen, ob sie mit einer für sie nachteiligen Würdigung ihres Verhaltens
durch das Gericht rechnen muss. 3801 Dass dieser Beschluss allerdings erst mit der nächst-
folgenden Entscheidung angefochten werden kann, führt wie bei der Urkundenvorlage
durch den Gegner dazu, dass die Partei die Beweiswürdigung zu ihren Ungunsten nicht
mehr verhindern kann, wenn das OG den Beschluss des Erstgerichts, wonach kein Aus-
sageverweigerungsrecht vorliegt, stützt. 3802
und dürfte idR dazu führen, dass das Gericht von der Erwiesenheit der Angaben der
beweisführenden Partei ausgeht. 3805 Auch für die Vorlage von Urkunden durch den
Gegner sieht § 305 ZPO Gründe vor, die es rechtfertigen, die Vorlage zu verweigern,
und die im Wesentlichen den Aussageverweigerungsrechten entsprechen. So kann die
Gegenpartei die Vorlage einer Urkunde ua verweigern, wenn sie dadurch eine staatlich
anerkannte Pflicht zur Verschwiegenheit, von der sie nicht gültig befreit wurde, ver-
3806
letzen würde. Diesbezüglich kann auf das oben zum Aussageverweigerungsgrund
aufgrund einer staatlich anerkannten Pflicht zur Verschwiegenheit Ausgeführte verwie-
3807
sen werden. Eine Verweigerung der Vorlage ist darüber hinaus zulässig, wenn „an-
dere, gleich wichtige Gründe vorhanden sind, welche die Verweigerung [... ] rechtfer-
tigen".3808 In den Fällen einer unbedingten Vorlagepflicht gern § 304 ZPO ist die Gel-
3809
tendmachung der Verweigerungsgründe allerdings ausgeschlossen. Bezieht sich der
Gegner also selbst zum Zweck der Beweisführung auf die Urkunde, ist er nach bürger-
lichem Recht zur Ausfolgung oder Vorlage der Urkunde verpflichtet. Handelt es sich
um eine gemeinschaftliche Urkunde, kann der Gegner die Vorlage der Urkunde ebenso
nicht verweigern.
handlung zum Zweck der Störung der Verhandlung oder der Erschwerung der Sachver-
haltsfeststellung missbraucht werden würde. 3822 Das Gericht kann die Öffentlichkeit zu-
dem (auf Antrag auch nur einer Partei) ausschließen, wenn zum Zweck der Entschei-
dun~ des Rechtsstreits Tatsachen des Familienlebens erörtert und bewiesen werden müs-
sen. 823 Werden hingegen Tatsachen erörtert, die einem Berufsgeheimnis unterliegen, ist
ein Ausschluss der Öffentlichkeit nicht ausdrücklich vorgesehen.
22.38 Beachtlich ist in diesem Zusammenhang die Judikatur des öOGH. Rezeptionsgrundlage
für die liechtensteinische Bestimmung zum Ausschluss der Öffentlichkeit in Zivilverfah-
ren ist nämlich die gleichlautende Norm in der öZPO (§ 172 öZPO). Der öOGH hatte
sich mit der Frage zu befassen, ob die öZPO einen Ausschluss der Öffentlichkeit trotz
fehlender gesetzlicher Grundlage bietet, wenn in einem Verfahren Tatsachen erörtert
werden, die dem Bankgeheimnis unterliegen. Das österr Höchstgericht legt § l 72 Abs 2
öZPO im Lichte der Rsp des EGMR aus, wonach der Ausschlussgrund des Schutzes des
Privatlebens auch den Schutz von Geheimnissen in der beruflichen Sphäre umfasst. Er
kommt zum Schluss, dass ein Ausschluss der Öffentlichkeit im Fall von Berufsgeheimnis-
sen zulässig ist. 3824 Es ist nicht auszuschließen, dass ein liechtensteinisches Gericht in
einem ähnlichen Fall (unter Bezugnahme auf die europäische und öRsp) zum gleichen
Ergebnis gelangen und einen Ausschluss der Öffentlichkeit zum Zweck des Geheimnis-
schutzes für gerechtfertigt oder gar geboten erachten würde. Eine gesetzliche Grundlage
fehlt aber bis anhin.
3827 Hat die der Berufsverschwiegenheit unterliegende Partei an der Offenlegung ein Interesse wie
zB die Abwendung eines finanziellen Schadens, welches die Interessen der Geheimnisberech-
tigten an Geheimhaltung überwiegt, ist sie dazu auch berechtigt. Siehe oben unter Rz 22.7ff.
3828 Art 14 Abs 1 UNO-Pakt II.
3829 Fasching 111 1 425 f.
3832 Auch in Liechtenstein war ursprünglich geplant, nach österr Vorbild explizit Ausnahmen
vom Bankgeheimnis in das Bankengesetz aufzunehmen; vgl BuA 1992/8, 6. Während des
Gesetzgebungsprozesses wurde dann allerdings davon abgesehen; vgl Art 14 des Gesetzes v
21. 10. 1992 über die Banken und Wertpapierfirmen (Bankengesetz). Dass wohl auch in
Liechtenstein das Bankgeheimnis nicht absolut gilt, ist zumindest den Materialien zu entneh-
men; vgl LTP v 21. 10. 1992, 1520.
3833 Art 108 Abs 4 RSO und § 1306a ABGB (hierzu etwa Wittwer in Schwimann!Neumayr,
ABGB-Takom 4 § 1306a Rz 2). Vgl speziell zum Bankgeheimnis Frommelt, Bankgeheimnis
161 f.
3834 Harrer/Wagner in Schwimann/Kodek, ABGB Vl 4 § 1306a Rz 10.
3835 Vgl Art 108 Abs 3 RSO oder Art 3 StGB; Wittwer in Schwimann/Neumayr, ABGB-Takom 4
§ 1306a Rz 4.
3836 Vgl Arnold in Ruppe, Geheimnisschutz 279; Arnold, ÖJZ 1982, 4; Prohaska-Marchried, Ge-
heimnisschutz 45.
Geheimnisses erforderlich ist, um dieser Situation beizukommen. Damit die Preisgabe ge-
rechtfertigt sein kann, muss sie aber in jedem Fall verhältnismäßig sein und der Schaden,
den die Geheimnisoffenbarung anrichtet, darf nicht ( unverhältnismäßig) schwerer wiegen
als das Interesse, welches der Geheimnisträger durch die Offenbarung verfolgt.
Rechtsvergleichend sei erwähnt, dass die Geltendmachung einer Honorarforderung auf 22.50
dem Klageweg in der Schweiz ebenfalls eine Entbindung von der Berufsverschwiegenheit
erfordert, entweder durch den Mandanten selbst oder aber (subsidiär) durch die Auf-
sichtsbehörde der Rechtsanwälte. 3841 Die Aufsichtsbehörde spricht eine Entbindung
aus, soweit ein deutlich überwiegendes öffentliches oder privates Interesse dies gebietet.
Bei der Abwägung sämtlicher auf dem Spiel stehenden Interessen ist gemäß neuerer bun-
desgerichtlicher Rsp auch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Anwalt vom
Klienten grundsätzlich einen Vorschuss verlangen kann. Es sind die Umstände zu be-
rücksichtigen, welche es dem Anwalt verunmöglichen, im konkreten Fall einen Kosten-
vorschuss zu verlangen. 31142 Diese Spruchpraxis wird teilweise so interpretiert, dass das
Bundesgericht vom Anwalt (zwingend) die Einhebung eines Kostenvorschusses ver-
langt, damit seinem späteren Ersuchen um Entbindung vom Berufsgeheimnis zum Zweck
3843
der Geltendmachung einer Honorarforderung stattgegeben werden kann. Die kanto-
nale Praxis steht dem wenigstens teilweise kritisch gegenüber: Beispielsweise nach der
Zürcher Anwaltsaufsichtskommission ist der Standpunkt des Bundesgerichts nicht so zu
verstehen, dass es sich bei der Einhebung eines Kostenvorschusses um ein formelles Kri-
terium für die Entbindung des ersuchenden Rechtsanwalts von der Schweigepflicht han-
delt. 3844 Bei der Vorschussfrage handle es sich lediglich um einen Faktor, welcher - ne-
ben anderen - bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen sei. 3845 Anwältinnen treffe
daher keine generelle Pflicht zur Erhebung eines Kostenvorschusses, sondern die Annah-
me eines schützenswerten Interesses an der Entbindung vom Anwaltsgeheimnis müsse
vielmehr auch dann möglich sein, wenn kein Vorschuss verlangt worden sei. 3846 Andern-
falls käme es zu einer generellen Benachteiligung des Rechtsanwalts gegenüber dem frü-
heren Mandanten, was nicht die Meinung des Bundesgerichts sein könne. 3847 Dazu füge
es sich, dass die Pflicht zur Einhebung eines Kostenvorschusses auch nicht gesetzlich
verankert sei. Konkret bestehe nämlich keine diesbezügliche Berufsregel gemäß dem
BGFA und darüber hinaus auch keine Spezialbestimmung für Rechtsanwälte im Obliga-
tionenrecht. 3848
V. Zusammenfassung
22.52 Die zentrale Rolle, welche Verschwiegenheitspflichten einzelner Berufsgruppen spielen,
steht im Spannungsverhältnis zum im Zivilprozess geltenden Prinzip der Wahrheitser-
forschung.
22.53 Diese Problematik tritt insb im Beweisverfahren zu Tage: Soll ein Berufsgeheimnisträger
als Zeuge einvernommen werden, ist zunächst das allgemeine Aussageverweigerungs-
recht gern§ 321 Abs I Z 3 ZPO beachtlich. Ob und inwieweit im konkreten Fall ein Aus-
sageverweigerungsrecht iSv § 321 Abs 1 Z 3 ZPO besteht, bestimmt sich nach der Aus-
gestaltung der anwendbaren materiellen Vorschrift. Das Berufsgeheimnis des Anwalts
(Art 15 RAG) erstreckt sich sowohl auf iSv § 321 Abs I Z 4 ZPO anvertraute Angelegen-
heiten als auch auf Tatsachen, welche diesem in seiner beruflichen Eigenschaft anders als
durch ein eigentliches Anvertrauen bekannt geworden sind. Insofern kommt § 321 Abs 1
Z 4 ZPO, der nur von den anvertrauten Angelegenheiten spricht, neben§ 321 Abs 1 Z 3
ZPO iVm Art 15 RAG keine eigenständige Bedeutung zu.
22.54 Beruft sich ein Zeuge auf sein Aussageverweigerungsrecht, muss er die diesbezüglichen
Gründe angeben und, sofern ein Widerspruch erfolgt, glaubhaft machen. Der Geheimnis-
berechtigte kann den Geheimnisträger, zB seinen Rechtsanwalt, von dessen Verschwie-
genheitspflicht ganz oder teilweise entbinden. Ein allfälliges Zeugnisverweigerungsrecht
wird hingegen nicht von Amts wegen berücksichtigt. Die widerrechtliche Nichtbeachtung
von Zeugnisverweigerungsrechten bewirkt kein Verwertungsverbot bezüglich der gewon-
nenen Beweisergebnisse und kann überdies nicht als Verfahrensmangel iSv § 496 ZPO
geltend gemacht werden. Einen Verfahrensmangel bildet bei der Zeugenvernehmung le-
diglich die gesetzwidrige Zubilligung eines Aussageverweigerungsrechts.
Hat der Geheimnisträger im Rahmen einer Parteienvernehmung auszusagen, gelten - 22.55
mit Ausnahme des Verweigerungsgrunds des§ 321 Abs I Z 2 ZPO (unmittelbarer ver-
mögensrechtlicher Nachteil) - dieselben Aussageverweigerungsgründe wie bei der Zeu-
geneinvernahme. Über die Rechtmäßigkeit der Aussageverweigerung entscheidet das Ge-
richt auch hier im Wege eines Beschlusses. Im Unterschied zum Zeugen kann jedoch
eine Partei nicht zur Aussage oder zum Erscheinen vor Gericht gezwungen werden. Die
Aussageverweigerung wird im Rahmen der Beweiswürdigung jedoch idR zum Nachteil
der verweigernden Partei gewürdigt werden, es sei denn, die Aussage ist berechtigterwei-
se verweigert worden. Anders als bei den Zeugen stellen die gesetzeswidrige Zubilligung
eines Aussageverweigerungsrechts sowie dessen gesetzeswidrige Vorenthaltung einen
Verfahrensmangel dar (wobei diese Ungleichbehandlung von Zeugen und Parteien
vom Autor kritisiert wird). Auch bei der Parteivernehmung kann die beschlussmäßige
Feststellung über die Rechtmäßigkeit der Aussageverweigerung erst mit der nächstfolgen-
den Entscheidung angefochten werden.
Geht es schließlich um einen Urkundenbeweis, der sich auf Urkunden in Händen des 22.56
Prozessgegners bezieht, sieht § 305 ZPO Vorlageverweigerungsgründe vor, die materiell
den Aussagevenveigerungsrechten entsprechen; ergänzt um den Auffangtatbestand gern
§ 305 Z 5 ZPO für allfällige „gleich wichtige Gründe". Auch hier ist die Situation für den
Geheimnisträger unbefriedigend, weil er die Rechtmäßigkeit der Verweigerung einer Ur-
kundenvorlage erst im Rechtsmittelverfahren überprüfen lassen kann. Ausnahmsweise ist
es für die beweisführende Partei selbst zulässig, nur den entscheidungswesentlichen Teil
einer Urkunde in Vorlage zu bringen (§ 298 Abs 2 ZPO per analogiam).
Um die Folgen, die der Geheimnisträger zum Schutz seines Geheimnisses uU in Kauf 22.57
nehmen muss, so gering wie möglich zu halten, erscheint es sinnvoll, dass dieser Gewiss-
heit darüber erlangen kann, ob er sich zu Recht auf sein Verschwiegenheitsrecht beruft
oder nicht. Eine erstinstanzliche Entscheidung, dass eine Partei zur Aussageverweigerung
nicht berechtigt oder zur Vorlage einer Urkunde verpflichtet ist, müsste de lege ferenda
einer Überprüfung zugeführt werden können, ohne dass Berufsgeheimnisverpflichtete
dem Risiko einer Beweiswürdigung zu ihren Ungunsten ausgesetzt sind.
Obwohl die Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren eine zentrale Funktion im Rechtsstaat 22.58
erfüllt, kann auch aus grundrechtlichen Erwägungen überlegt werden, die Gründe für
den Ausschluss der Öffentlichkeit(§ 172 ZPO) unter gewissen Voraussetzungen auf Ver-
fahren auszudehnen, in denen Tatsachen erörtert werden, die dem Berufsgeheimnis un-
terliegen. Funktional betrachtet, könnte der Ausschluss der Verfahrensöffentlichkeit
nämlich dem Schutz von Berufsgeheimnissen dienen. Weil es regelmäßig vorkommt, dass
in einem Zivilverfahren Berufsgeheimnisse erörtert werden, könnte de lege ferenda erwo-
gen werden, analog zum Ausschluss der Öffentlichkeit im Schiedsverfahren (§ 633 ZPO)
auch im ordentlichen Zivilverfahren einen Ausschlussgrund dafür zu schaffen, wenn Be-
rufs- oder Geschäftsgeheimnisse betroffen sind.
Eine eigene Fallkategorie bildet das Tätigwerden eines Berufsgeheimnisträgers in eigener 22.59
Sache: Auch wenn ein Geheimnisträger selbst Partei eines Rechtsstreits ist, unterliegt er
Übersicht
Rz
1. Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.1
A. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.1
B. Form und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.6
1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.6
2. Urteilskopf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.8
3. Urteilsspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.11
4. Exkurs: § 405 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.15
5. Urteilstatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.18
6. Entscheidungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.20
7. Datum und Unterschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.26
8. Rechtsmittelbelehrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.27
C. Fällung und Erlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.31
1. Fällung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.31
2. Erlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.33
a) Mündliche Verkündung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.34
b) Schriftliche Erlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.40
c) Bindung des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.43
D. Zustellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.44
E. Berichtigung ............... •. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.47
F. Arten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.54
1. Endurteil (§ 390 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.54
2. Teilurteil (§§ 391, 392 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.57
3. Zwischenurteil (§ 393 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.65
a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.65
b) Grundurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.68
c) Grundlagenurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.78
4. Verzichtsurteil (§ 394 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.80
5. Anerkenntnisurteil (§ 395 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.87
6. Versäumnisurteil (§§ 396ff ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.93
a) Echtes Versäumnisurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.93
b) Unechtes Versäumnisurteil (§ 399 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . 23.101
7. Ergänzungsurteil (§ 423 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.105
G. Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.113
1. formelle Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.113
2. Materielle Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.116
3. Beseitigung der Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.124
H. Vollstreckbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.127
1. Mängel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.132
1. Nichturteile ...................................... 23.132
2. Wirkungslose/wirkungsgeminderte Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . 23. 135
1. Urteil
A. Begriff
23.1 Das Zivilurteil ist die im Namen von Fürst und Volk (Art 95 Abs l Satz 2 LV, § 413
ZPO) aufgrund eines Zivilprozesses durch das Gericht gefällte Sachentscheidung über
einen Urteilsantrag, also die Sachentscheidung über die Berechtigung eines von den Par-
teien gestellten Rechtsschutzbegehrens; es erledigt den Prozess meritorisch.
23.2 Urteilsanträge sind insb das Klagebegehren (§§ 226, 405 ZPO), der Gegenantrag des
Beklagten, der Zwischenantrag auf Feststellunfi (§§ 244, 258 Abs 2 ZPO), die Aufrech-
nungseinrede (§ 391 Abs 3, § 411 Abs l ZP0)· 852 , der Antrag auf Schadenersatz wegen
mutwilliger Prozessführung (§ 408 ZPO) sowie die in Rechtsmitteln gegen Urteile ent-
haltenen Rechtsschutzanträge (Berufungs- und Revisionsanträge).
23.3 In den im fünften Teil der ZPO (§§ 516ff ZPO) geregelten besonderen Arten des Ver-
fahrens wird über die Rechtsschutzanträge der Parteien teilweise nicht in Urteils-, son-
dern in Beschlussform entschieden. So sieht die ZPO insb im Mandats- und im Wech-
selverfahren als Entscheidungsform über das Rechtschutzbegehren den (Wechsel)Zah-
lungsauftrag (§§ 548, 557 ZPO) und im Bestandverfahren den Übergabe- bzw Übernah-
meauftrag (§ 562 ZPO) vor. 3853
3852 Eine Entscheidung darüber ist allerdings nicht erforderlich, falls der Klagsanspruch zur Gänze
abgewiesen wird (OGH 03 C 311/94 LES 1999, 191). Zur Aufrechenbarkeit verjährter Forde-
rungen OGH 02 CG.2002.96 LES 2005, 6.
3853 Hierbei handelt es sich um Beschlüsse (§ 425 Abs 1 ZPO).
Bei der Entscheidung über die Verwerfung einer vom Beklagten erhobenen Prozessein- 23.4
rede handelt es sich um einen Beschluss auch dann, wenn diese Entscheidung, weil vom
LG über die Prozesseinrede nicht abgesondert verhandelt bzw sogleich in der Hauptsache
weiterverhandelt wurde, in das Urteil aufzunehmen ist(§ 261 Abs 1 und 2 ZPO). Auch
bei der in das Urteil aufgenommenen Entscheidung über die Prozesskosten (§ 52 ZPO)
handelt es sich um einen Beschluss, desgleichen bei der in das Urteil aufgenommenen
Entscheidung über die Zulassung einer Klageänderung (§ 243 ZPO). Im Fall eines in das
Urteil aufgenommenen Beschlusses kann jene Partei, welcher die Berufung gegen das
Urteil offensteht, auch den Beschluss binnen der vierwöchigen Berufungsfrist anfechten,
dies auch dann, wenn sie das Urteil tatsächlich unbekämpft lässt. Möglich ist es auch
Rekurs und Berufung getrennt zu erheben, wobei allerdings kostenmäßig zu berücksich-
tigen sein wird, dass die Einbringung zweier Rechtsmittelschriftsätze zur zweckentsprech-
enden Rechtsverfolgung idR nicht notwendig ist und daher daraus resultierende Mehr-
kosten nicht ersatzfahig sind. Allerdings ist dann, wenn nur die Kostenentscheidung des
Urteils bekämpft wird, das Rechtsmittel (Kostenrekurs) binnen der vierzehntägigen Re-
kursfrist zu erheben. Steht hingegen der Partei gegen das Urteil die Berufung nicht zu, va
mangels Beschwer, hat sie den in das Urteil aufgenommenen Beschluss binnen der vier-
...
ze hntag1gen e urs f'
Rk Ch ten. 3854
nst anzUtec
Erstinstanzliche Urteile können vom LG nur nach Durchführung einer mündlichen 23.5
Streitverhandlung gefallt werden; auch bei echten Versäumnisurteilen (§§ 396f ZPO)
ist zumindest die erste Tagsatzung abzuhalten. Erstinstanzliche Urteile ohne jegliche vo-
rangegangene mündliche Verhandlung sind zwar wirksam, aber wegen Nichtigkeit nach
§ 446 Abs l Z 4 ZPO bis zur Rechtskraft aufhebbar. Das OG als Berufungsinstanz kann
seine Urteile ohne vorgängige mündliche Verhandlung fallen, wenn die Parteien auf die
Durchführung verzichtet haben; hat weder der Berufungswerber in der Berufung noch
der Berufungsgegner in der Berufungsmitteilung die Durchführung einer mündlichen
Berufungsverhandlung beantragt, ist anzunehmen, dass die Parteien darauf verzichtet
haben(§ 449 Abs 2 ZPO). Der OGH fallt seine Urteile als Revisionsinstanz grundsätzlich
in nichtöffentlicher Sitzung ohne vorhergehende mündliche Verhandlung (§ 478 Abs l
ZPO).Jsss
3854 OGH 4.5.2018, 08 CG.2014.415 (betr die Anfechtung eines in ein Berufungsurteil aufgenom-
menen Authebungsbeschlusses mit Revisionsrekurs gern§ 487 Z 3 ZPO). Ganz allgemein gilt
grundsätzlich, dass sämtliche in einem einheitlichen Erkenntnis zusammengefassten Ent-
scheidungen innerhalb der jeweils zur Verfügung stehenden längeren Rechtsmittelfrist ange-
fochten werden können. Dieser Grundsatz gilt allerdings nur dann, wenn auch der betreffen-
den Partei die Anfechtung jener Entscheidung offensteht, für die die längere Rechtsmittelfrist
gelten würde (RIS-Justiz RS0041670 [TB]).
3855 OGH 06 CG.2005.232 LES 2010, 264 ua.
23.7 Die Verletzung der gesetzlichen Form- und Inhaltsvorschriften kann grundsätzlich
einen Verfahrensmangel begründen, wenn dadurch die erschöpfende Erörterung und
gründliche Beurteilung der Rechtssache erschwert bzw verunmöglicht wird (§ 465 Abs l
Z 2 ZPO), oder wenn das Urteil nicht alle Sachanträge erledigt (§ 465 Abs l Z l ZPO).
Wenn allerdings der Inhalt des Urteils so unvollständig oder widersprüchlich ist, dass
eine verlässliche Überprüfung gar nicht möglich ist, ist das Urteil wegen Nichtigkeit
(§ 446 Abs l Z 9 ZPO) anfechtbar, sofern dem nicht durch eine Urteilsberichtigung ab-
geholfen werden kann. Bei Verletzung grundlegender Inhaltsvorschriften (zB Fehlen des
Urteilsspruchs) ist uU sogar von einem Nichturteil auszugehen. 3856
2. Urteilskopf
23.8 Dieser hat zunächst die Überschrift „Urteil 3857 - Im Namen von Fürst und Volk 3858" zu
enthalten.
23.9 Darauf folgt das sog „Rubrum", enthaltend (in dieser Reihenfolge): Die Bezeichnung des
Gerichts und die Namen der am Urteil mitwirkenden Richter (§ 417 Abs l Z l ZPO); die
Bezeichnung der Parteien nach Vor- und Zunamen, Beschäftigung 3859 , Wohnort und
Parteistellung sowie die Bezeichnung ihrer Vertreter bzw Bevollmächtigten und in der
Praxis allfälliger Nebenintervenienten (§ 417 Abs l Z 2 ZPO); die Bezeichnung des Streit-
gegenstands, den Hinweis, ob eine mündliche Verhandlung stattfand und ob diese öffent-
lich war; die Rechtsprechungsformel „zu Recht erkannt."
23.10 In der Praxis wird zudem über dem Urteilskopf (am rechten oberen Rand) die Geschäfts-
zahl angeführt; aus dieser ergeben sich (in dieser Reihenfolge): Die zuständige Gerichts-
abteilung des erstinstanzlich entscheidenden LG sowie die Gattungsbezeichnung der
Rechtssache; das Anfallsjahr und die Zahl, aus welcher sich ergibt, um den wievielten
Geschäftsanfall des laufenden Jahres es sich handelt; die Ordnungsnummer, welche an-
gibt, das wievielte Aktenstück das Urteil ist. 3860 Beim OG sowie beim OGH werden keine
eigenen Rechtsmittelakten geführt, weshalb die Entscheidungen der Rechtsmittelinstan-
zen die gleiche Geschäftszahl aufweisen, wie das erstinstanzliche Urteil des LG.
3. Urteilsspruch
23.11 Der Urteilsspruch (auch „Urteilstenor";§ 417 Abs l Z 3 ZPO) hat die vollständige Ent-
scheidung über das Klagebegehren und über alle weiteren in Urteilsform zu erledigenden
Sach- 3861 und Prozessanträge - durch Stattgebung, Ab- oder Zurückweisung - zu ent-
halten, sofern nicht einzelne Anträge bereits erledigt sind oder einer abgesonderten Erle-
digung3862 vorbehalten wurden (§ 404 Abs l ZPO); zudem die vom Gesetz vereinzelt
ausdrücklich vorgesehenen Aussprüche. 3863 Beim (teilweise) abweisenden Urteil ist der
abgewiesene Sachantrag deutlich zu bezeichnen.
In den Spruch einer in Urteilsform ergehenden Entscheidung sind auch der Ausspruch 23.12
über die Prozesskosten (§ 52 Abs 1 ZPO) sowie weitere Beschlüsse aufzunehmen 3864,
insb Beschlüsse betreffend die Verwerfung von Prozesseinreden, über welche entweder
nicht abgesondert verhandelt wurde(§ 261 Abs 1 ZPO), oder über die zwar abgesondert
verhandelt aber nach Verwerfung sogleich die Verhandlung zur Hauptsache aufgenom-
men wurde (§ 261 Abs 2 ZPO), sowie alle sonstigen (anfechtbaren) Beschlüsse, die dem
Urteil vorbehalten oder die mit ihm gemeinsam gefasst werden, wie zB die Zulassung
einer Klageänderung (§ 243 ZPO).
Schließlich hat der Urteilsspruch bei Leistungsurteilen - allenfalls auch von Amts wegen 23.13
- eine Leistungsfrist zu enthalten, welche üblicherweise, sofern das Gesetz nicht aus-
drücklich etwas anderes anordnet 3865 , vier Wochen beträgt (§ 409 Abs 1 ZPO). Bei Feh-
len einer Leistungsfrist ist das Urteil sofort vollstreckbar. 3866 In der Praxis wird in den
Spruch eines Leistungsurteil die Wendung „bei sonstiger Exekution" aufgenommen, was
im Hinblick auf Art 1 EO an sich überflüssig ist.
Der Spruch eines Urteils des OG als Berufungsgericht bzw des OGH als Revisionsge- 23.14
richt muss im Einzelnen erkennen lassen, inwiefern der Berufung bzw der Revision Folge
gegeben und das angefochtene unterinstanzliche Urteil bestätigt oder abgeändert wird.
3861 Zu den möglichen Sachanträgen s Fucik in Fasching/Konecny 111/2 3 § 404 ZPO Rz 6. ZB: Auf-
rechnungseinreden, wenn das Klagebegehren zumindest teilweise begründet ist; Zwischenan-
träge auf Feststellung (§ 244 ZPO).
3862 Der Vorbehalt der Entscheidung ist nur in den im Gesetz ausdrücklich erwähnten Fällen
zulässig, zB in den Fällen von § 392 Abs 2 ZPO oder § 393 Abs 4 ZPO.
3863 ZB § 531 Abs 4 ZPO oder§ 553 ZPO.
3864 In diesen Fällen lautet die Rechtsprechungsformel in der Praxis "Das Gericht hat [... ] 1.
beschlossen [... ] und 2. zu Recht erkannt [... ].".
3865 ZB § 571 ZPO.
3866 Rechberger in Rechberger/K/icka, ZPO; § 409 Rz 2.
oder eines Aliud liegt und sich aus dem Klagevorbringen eindeutig ergibt, was eigentlich
begehrt wird.
23.16 Ausgehend von der „zweigliedrigen Streitgegenstandstheorie" 3867 ist das Gericht mit
Bezug auf § 405 ZPO auch an die Tatsachenbehauptungen des Klägers gebunden auf
die er sein Begehren gründet. Hingegen ist das Gericht an die rechtliche Qualifikation
des Klägers nicht gebunden.
23.17 Ein Verstoß gegen § 405 ZPO begründet einen Verfahrensmangel, der im Rechtsmittel
gerügt werden muss und nicht von der Rechtsmittelinstanz als Nichtigkeit auch von
Amts wegen wahrgenommen werden kann. 3868
5. Urteilstatbestand
23.18 Auf den Urteilsspruch - und von diesem gesondert darzustellen (§ 41 7 Abs 2 Satz I ZPO)
- folgt der Urteilstatbestand(§ 417 Abs 1 Z 4 ZPO). Dieser ist zur Sonderung von den
anderen Bestandteilen des Urteils mit einer gesonderten Überschrift 3869 zu versehen und
hat folgenden Inhalt(§ 417 Abs 2 Satz 1 und 3 ZPO): Üblicherweise wird - obwohl von
§ 417 ZPO nicht vorgesehen - an den Beginn des Urteilstatbestands, sofern dies dem
besseren Verständnis der Begründung der Entscheidung dient, der unstrittig gebliebene
Sachverhalt(§§ 266f ZPO) gestellt. Daran anschließend folgen die bei Schluss der münd-
lichen Verhandlung aufrechten Sachanträge der Parteien samt einer gedrängten zusam-
menfassenden Darstellung des hierzu von den Parteien erstatteten Vorbringens, und
zwar zuerst betreffend den Kläger. In einem weiteren Schritt sind sodann sämtliche Be-
weismittel, zweckmäßigerweise unter Angabe der genauen Fundstelle im Akt (ON sowie
Seitenzahl) bzw bei Urkundenbeweisen unter Angabe der Bezeichnung3870, anzugeben,
und weiter das vom Gericht gern §§ 179, 181 Abs 2, § 275 Abs 2 und§ 278 Abs 2 ZPO für
unstatthaft erklärte Vorbringen, soweit es nicht bereits im Verhandlungsprotokoll ent-
halten ist, sowie die präkludierten Beweise(§§ 279, 309, 332, 335, 365 Abs 2, § 368 Abs 2
ZPO) anzuführen. Zweckmäßigerweise wird auch begründet, weshalb beantragt gewese-
ne Beweise nicht aufgenommen wurden. Anstelle der Darstellung der Beweisergebnisse
wird in der Praxis ausschließlich auf die Akten verwiesen (§ 417 Abs 3 ZPO).
23.19 Für die Urteile der Rechtsmittelgerichte sieht das Gesetz gewisse Begründungserleichte-
rungen vor(§ 469 Abs 2, §§ 469a, 482 ZPO). Allerdings ist auch in einem Berufungsurteil
des OG im Urteilstatbestand - anschließend an die Darstellung des im Berufungsverfah-
ren nicht mehr strittigen Sachverhalts - ua das Parteienvorbringen knapp und gedrängt
insoweit darzustellen, als dieses nach dem Stand der Berufungsverhandlung noch auf-
recht ist. Weiter sind die wesentlichen Feststellungen sowie die relevanten Envägungen
des erstinstanzlichen Urteils wiederzugeben. Soweit in einem Berufungsurteil insoweit
nur pauschal auf das Ersturteil verwiesen wird, stellt dies einen erheblichen Mangel
dar, der eine erschöpfende Kontrolle der Berufungsentscheidung durch den OGH zumin-
3867 Vgl bspw OGH 07 ÖR.2006.5 LES 2008, 354; 10 EG.2006.100 LES 2008, 143; 05 C 372/96 LES
1999, 308.
3868 OGH 10 CG.2004.224 LES 2007, 494; 01 CG.2005.55 LES 2007, 433 ua; RIS-Justiz RS0041089.
3869 In der Praxis: ,,Tatbestand".
3870 Die vom Kläger vorgelegten Beweisurkunden werden mit Großbuchstaben, die vom Beklag-
ten vorgelegten Beweisurkunden mit arabischen Ziffern bezeichnet.
dest zu erschweren geeignet ist und die Aufhebung der Entscheidung unumgänglich
macht. Ebenfalls ist anzugeben, wer Berufung erhoben hat, in welchem Umfang und
aus welchen Gründen. Diese Ausführungen gelten sinngemäß auch für die Urteile des
OGH.
6. Entscheidungsgründe
Die Entscheidungsgründe erstinstanzlicher Urteile sind vom Urteilsspruch und vom Ur- 23.20
teilstatbestand gesondert darzustellen (§ 417 Abs 2 ZPO). Sie enthalten, strikt voneinan-
der getrennt3 8 ; 1, die Tatsachenfeststellungen, die Ausführungen zur Beweiswürdigung
und die Darstellung der rechtlichen Beurteilung, sowie abschließend die Begründung
der Kostenentscheidung.
Die Tatsachenfeststellungen haben zunächst, sofern dies nicht bereits wegen des besse- 23.21
ren Verständnisses der Entscheidungsbegründung einleitend zum Urteilstatbestand er-
folgt ist, den von den Parteien ausdrücklich oder schlüssig außer Streit gestellten Sach-
verhalt (§§ 266 f ZPO) zu enthalten. Sodann sind vom Gericht mindestens jene Tatsachen
festzustellen, die für die Entscheidung der bei Schluss der mündlichen Verhandlung noch
aufrechten Sachanträge erforderlich sind.
An die Tatsachenfeststellungen haben sich die Ausführungen des Gerichts zur Beweis- 23.22
würdigung anzuschließen. Hierbei hat das Gericht ausführlich und nachvollziehbar zu
begründen, weshalb es die von ihm festgestellten Tatsachen als erwiesen angenommen
hat, und warum es andere behauptete (entscheidungswesentliche) Tatsachen als nicht
erwiesen annehmen konnte (§ 272 Abs 3 ZPO).
Schließlich hat das Gericht die rechtliche Beurteilung vorzunehmen, also den festgestell- 23.23
ten Sachverhalt unter die im Gesetz enthaltenen und vorgegebenen Tatbestände zu sub-
sumieren, enthaltend die Prüfung, ob sich daraus die begehrte Rechtsfolge ableiten lässt.
An den Beginn der rechtlichen Erwägungen sind allenfalls - in amtswegiger Wahrneh-
mung oder über Prozesseinrede erforderliche - Erörterungen des Gerichts über das Vor-
liegen von Prozessvoraussetzungen bzw die Begründung von in die Urteilsausfertigung
aufgenommenen Beschlüssen über die Verwerfung von Prozesseinreden zu stellen; diese
Erwägungen werden in der Praxis gelegentlich auch beim Urteilstatbestand vorgenom-
men.
Abschließend ist die Kostenentscheidung zu begründen. 23.24
Für die Urteile der Rechtsmittelgerichte sieht das Gesetz gewisse Begründungserleichte- 23.25
rungen vor(§§ 469a, 482 ZPO). In den Entscheidungsgründen hat sich das Berufungs-
gericht mit den geltend gemachten Berufungsgründen auseinanderzusetzen, wobei das
Berufungsvorbringen nicht wörtlich, sondern nur in seinem wesentlichen Kern wieder-
gegeben werden muss, und auch aus konkreten Gründen gerechtfertigte teilweise Bezug-
nahmen zB auf die Feststellungen im Ersturteil nicht ausgeschlossen sind. 3872 Bei den
Erwägungen zu einer Beweisrüge sind, falls diese begründet ist, vom Berufungsgericht
auch die entscheidungswesentlichen geänderten Feststellungen samt der diesen zugrunde
8. Rechtsmittelbelehrung
23.27 Jedes schriftlich ausgefertigte Urteil hat zwingend eine Rechtsmittelbelehrung zu
enthalten, in welcher anzugeben ist, ob das Urteil anfechtbar ist; bejahendenfalls ist
die Rechtsmittelfrist sowie die Eingabestelle anzugeben (§ 416a Abs 1 ZPO). Die
Rechtsmittelbelehrung hat zudem den Hinweis zu enthalten, dass das Rechtsmittel ent-
weder mündlich zu Protokoll des LG oder mittels Schriftsatz beim LG einzureichen ist
(§ 416a Abs 2 ZPO). Ist eine unrichtige Anfechtungsfrist angegeben und ist diese län-
ger als die gesetzliche, so bleibt die Anfechtungsfrist während dieser längeren Frist ge-
wahrt; wurde eine kürzere Frist angegeben, so gilt die gesetzliche, und wenn die
Rechtsmittelbelehrung überhaupt fehlt, so läuft die Rechtsmittelfrist nicht (§ 416a
3874
Abs 3 ZPO). Ist in der Belehrung nicht das LG, sondern stattdessen unrichtig eine
andere Amtsstelle zur Empfangnahme des Rechtsmittels bezeichnet, so gilt die Anfech-
tungsfrist auch dann als gewahrt, wenn es bei der unrichtigen Amtsstelle überreicht
worden ist; die letztere Amtsstelle hat das Rechtsmittel von Amts wegen an das Gericht
zu leiten (§ 416a Abs 4 ZPO).
23.28 Da auch im Rechtsmittelverfahren kein Anwaltszwang besteht, hat gern Rsp 3875 die
Rechtsmittelbelehrung gegenüber einer rechtsanwaltlich nicht vertretenen Partei
nicht nur das zulässige Rechtsmittel und die in Betracht kommende Rechtsmittelfrist
3873 Die Gerichtskanzlei beim LG ist aktuell in so viele Abteilungen aufgeteilt, dass jedem Land-
richter (Stand 1. 1. 2020: 15 Landrichter) eine eigene Abteilung zugeteilt werden kann; die
Gerichtskanzlei beim OG ist aktuell in drei Abteilungen, also eine Abteilung für jeden der drei
Senate (Art 19 Abs 1 GOG), aufgeteilt. Beim OGH mit zwei Senaten (Art 23 Abs 1 GOG) ist
die Gerichtskanzlei nicht in Abteilungen aufgeteilt. Den nicht-richterlichen Angestellten der
jeweiligen Abteilung obliegt die Ausfertigung der Gerichtsentscheidungen, der Ladungen und
sonstigen Erledigungen, die Registrierung der Geschäfte, die Protokollführung in den Ge-
richtsverhandlungen, die Führung der Akten und die Erledigung der sonstigen administrati-
ven Geschäfte der Gerichtsabteilung „ihres" Landrichters bzw Senats (Art 35 Abs 2 GOG).
3874 Ein nach Urteilszustellung eingebrachtes Rechtsmittel ist allerdings trotzdem rechtswirksam
(OGH 06 C 547/97 LES 2007, 360).
3875 OGH 02 C 430/82 LES 1983, 81.
Im Übrigen gilt § 416a ZPO für Rechtsmittelgegenschriften nicht; eine Berufungsmit- 23.30
teilung bzw Revisionsbeantwortung kann also auch bei unrichtiger Belehrung nur binnen
der vierwöchigen Notfrist von § 438 Abs 2 ZPO bzw § 476 Abs 2 ZPO eingebracht wer-
den.3877
2. Erlassung
Mit der Erlassung des Urteils tritt dieses aus der internen Sphäre des Entscheidungs- 23.33
organs an die Außenwelt. 3880 Das Urteil kann durch mündliche Verkündung nach
3876 StGH 1979/001 LES 1980, 25; StGH 1995/16 LES 2001, l; OGH P 60/82 LES 1990, 12.
3877 OGH 7.9.2017, 07 CG.2014.280 ("verspätete Revisionsrekursbeantwortung").
3878 Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht9 Rz 895. In streitigen Zivilsachen entscheidet erstins-
tanzlich immer ein Landrichter als Einzelrichter, im Rechtsmittelverfahren beim OG ein
Dreier- und beim OGH ein Fünfersenat (Art 19, 23 GOG). Das Verfahren zur Beratung
und Abstimmung im Fall der Senatsbesetzung ist in Art 52 ff GOG geregelt.
3879 OGH 02 Cg.2002.96 LES 2005, 448 (betreffend den Fall der Aufhebung der Berufungsent-
scheidung durch den OGH und Zurückverweisung der Rechtssache zur neuerlichen Sachent-
scheidung an das OG); Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht9 Rz 470; ebenso wenn es erst
nach Schluss der mündlichen Verhandlung zu einem Richterwechsel kommt und das Urteil
ohne deren Neudurchführung gefällt wird (Rechberger in Rechberger/K/icka, ZPO 5 § 412
Rz 4).
3880 Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht9 Rz 896.
Schluss der Verhandlung oder durch Abgabe der schriftlichen Abfassung (,,Urschrift")
3881
zur Ausfertigung an die zuständige Abteilung der Gerichtskanzlei erlassen werden.
a) Mündliche Verkündung
23.34 Nach dem in § 413 ZPO statuierten Grundsatz ist das Urteil samt den Entscheidungs-
gründen idealerweise (,,wenn möglich") sogleich nach Schluss der mündlichen Ver-
handlung zu fällen und zu verkünden. Zwingend vorgesehen ist die mündliche Ver-
kündung des Urteils - ausgenommen im Bagatellverfahren (§ 539 Abs l Satz l ZPO) -
allerdings nicht, sondern sieht § 415 ZPO die Möglichkeit vor, das Urteil der schrift-
lichen Ausfertigung vorzubehalten, ,,wenn das Urteil nicht sofort nach Schluss der
mündlichen Verhandlung gefällt werden kann." Allerdings stellt § 415 ZPO keine kla-
ren Kriterien auf, wann die Fällung eines solchen „vorbehaltenen Urteils" zulässig sein
soll_Jss2
23.35 Das mündlich verkündete Urteil hat gern § 414 Abs 1 ZPO zu enthalten: 1. Die feier-
liche Verkündigungsformel „Im Namen von Fürst und Volk" (Art 95 Abs 1 Satz 2 LV,
§ 413 ZPO); 2. den Urteilsspruch im vollen Wortlaut; 3. die wesentlichen Entscheidungs-
gründe31183; und 4. die grundsätzliche Entscheidung über die Kostenersatzpflicht, wäh-
rend die Bestimmung des Kostenersatzbetrags der schriftlichen Urteilsausfertigung vor-
behalten werden kann. In Bagatellsachen(§§ 535ff ZPO) hat der Richter bei mündlicher
Verkündigung des Urteils die Parteien zudem auf die beschränkten Anfechtungsmöglich-
keiten aufmerksam zu machen (§ 539 Abs 2 ZPO).
23.36 Die mündliche Verkündung des Urteils ist von der Anwesenheit der Parteien unabhän-
gig(§ 413 Satz 3 ZPO).
23.37 Das mündlich verkündete Urteil ist vom Richter zwingend samt den vollständigen Ent-
scheidungsgründen schriftlich abzufassen (§ 414 Abs 2 ZPO). Eine erleichterte Abfas-
sung des mündlich verkündeten Urteils etwa nach dem Vorbild von § 417 a öZPO (,,ge-
kürzte Urteilsausfertigung") oder§ 418 Abs 1 Satz 2 und 3 öZPO (,,Urteilsvermerk") ist
nicht vorgesehen.
23.38 Die ZPO sieht nicht ausdrücklich eine Frist vor, binnen welcher das sogleich nach
Schluss der mündlichen Verhandlung verkündete Urteil vom Richter schriftlich abzufas-
sen ist. Auch hierfür wird allerdings die vierwöchige Instruktionsfrist von § 415 ZPO zu
gelten haben.
23.39 Eine sofortige mündliche Urteilsverkündung nach Schluss der mündlichen Verhand-
lung ist im Fall des vorzeitigen Schlusses der Verhandlung nach § 193 Abs 3 ZPO aus-
geschlossen. Im Fall der neuerlichen Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach
Aufhebung der vorangegangenen Entscheidung durch das Rechtsmittelgericht ist eine
mündliche Urteilsverkündung nach der Verfahrenslage ebenfalls nicht möglich.
b) Schriftliche Erlassung
Falls das Urteil nicht sogleich nach Schluss der mündlichen Verhandlung verkündet 23.40
wird, ist es gern§ 415 ZPO binnen der lnstruktionsfrist von vier Wochen nach Schluss
der mündlichen Verhandlung - im Fall des§ 193 Abs 3 ZPO nach Einlangen der Akten
über die ausständige Beweisaufnahme - vom Richter schriftlich abzufassen und der zu-
ständigen Abteilung der Gerichtskanzlei zur Erstellung der für die Parteien bestimmten
Ausfertigungen zu übergeben.
Die Verletzung der vierwöchigen I nstruktionsfrist begründet keinen Verfahrensman- 23.41
gel. 3884 Sie kann allerdings uU disziplinarrechtlich relevant sein. Zudem steht den Par-
teien die Möglichkeit eines Fristsetzungsantrags an die für die Dienstaufsicht zuständige
Gerichtsbehörde offen (Art 49a GOG).
Die schriftliche Urteilserlassung ist in der Praxis angesichts der regelmäßig vorliegen- 23.42
den rechtlichen und tatsächlichen Komplexität der streitigen Zivilsachen in weiter Aus-
dehnung des Anwendungsbereichs von § 415 ZPO der Normalfall. Ein Vorbehalt der
Urteilsfällung ohne Vorliegen der Voraussetzungen von § 415 ZPO bleibt innerprozes-
sual sanktionslos 3885 , begründet also insb weder eine Nichtigkeit noch einen Verfahrens-
mangel.
D. Zustellung
Die Urteilszustellung ist die in gesetzlich vorgeschriebener Form erfolgte Aushändigung 23.44
einer schriftlichen Ausfertigung des Urteils an die Parteien. 3888
Grundsätzlich ist jedes Urteil den Parteien zuzustellen und können die Parteien darauf 23.45
wirksam nicht verzichten; erst mit der von Amts wegen vorzunehmenden Zustellung der
schriftlichen Ausfertigung wird das Urteil den Parteien gegenüber wirksam - auch wenn
es zuvor nach Schluss der Verhandlung mündlich verkündet wurde (§ 416 Abs l
ZPO). 3889 Eine Ausnahme besteht lediglich für Bagatellverfahren (§§ 535ff ZPO), in wel-
chen die Wirksamkeit bereits mit mündlicher Verkündung in Anwesenheit beider Par-
teien eintritt (§ 539 Abs l Satz 3 ZPO); die Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung
des Bagatellurteils erfolgt dann nur, wenn die Parteien dies verlangen (§ 539 Abs I Satz 2
ZPO).3s90
23.46 Mit der Wirksamkeit gegenüber den Parteien beginnen die Rechtsmittelfristen 3891 und
bei Leistungsurteilen - sofern gegen das Urteil innerhalb der Rechtsmittelfrist kein
Rechtsmittel erhoben, auf ein Rechtsmittel verzichtet oder ein erhobenes Rechtsmittel
vor der Entscheidung der Rechtsmittelinstanz zurückgenommen wurde - auch die
grundsätzlich vierwöchige 3892 Leistungsfrist zu laufen. Wurde ein rechtzeitiges und zu-
lässiges Rechtsmittel eingelegt, beginnt die Leistungsfrist mit dem Tag nach Eintritt der
(formellen) Rechtskraft des Urteils (§ 409 Abs 3 ZPO). Mit Ablauf der Leistungsfrist tritt
die Vollstreckbarkeit ein.
E. Berichtigung
23.47 Ein bereits ergangenes (auch rechtskräftiges) Urteil kann von dem Gericht, welches das
Urteil gefällt hat, im Fall offenbarer Unrichtigkeiten jederzeit von Amts wegen oder auf
Antrag einer Partei berichtigt werden(§ 419 Abs I ZPO). 3893
23.48 Berichtigungsfähig sind nur „Fehler" des Gerichts, nicht solche der Parteien. Der Fehler
muss dem Willen des Gerichts zur Zeit der Urteilsfällung widersprechen und aus dem
Zusammenhang des Urteils für jedermann erkennbar sein. 3894 Nicht berichtigungsfähig
sind Fehler, die das Ergebnis eines richterlichen Werturteils bei der Tatsachenfeststellung
oder der rechtlichen Beurteilung sind. 3895 Gern§ 419 Abs l ZPO berichtigungsfähig sind
Schreib- und Rechenfehler, Abweichungen der Urteilsausfertigung von der gefällten Ent-
scheidung (,.Urschrift"), klar als solche erkennbare Auslassungen sowie überflüssige, of-
fenbar irrige und klar erkennbar nicht zur Sache gehörende Ausführungen. 3896
23.49 Das Gericht kann über die Berichtigung ohne vorhergehende mündliche Verhandlung
entscheiden(§ 419 Abs I Satz I ZPO). Der die Berichtigung verfügende Beschluss, wel-
3890 Vgl demgegenüber§ 416 Abs 3 öZPO, welcher eine entsprechende Ausnahme auch für An-
erkenntnis- und Verzichtsurteile sowie für klagsstattgebende Versäumnisurteile hinsichtlich
des Klägers vorsieht.
3891 Sobald das Gericht allerdings an seine Entscheidung gebunden ist, kann diese von der Partei
bereits vor deren Zustellung angefochten werden. Wer ein Rechtsmittel erheben will, muss
nicht zuvor die Zustellung einer Entscheidungsausfertigung abwarten. Mit der Einlegung des
Rechtsmittels bereits vor Zustellung der Entscheidung ist das Rechtsmittelrecht erschöpft,
sodass im Fall der nachträglichen Zustellung der angefochtenen Entscheidung mit der Be-
gründung, die Rechtsmittelfrist beginne erst jetzt zu laufen, kein neues Rechtsmittel erhoben
werden kann (OGH EX.2007.3417 LES 2009, 59; "Grundsatz der Einmaligkeit des Rechtsmit-
tels").
3892 § 409 Abs I Satz 2 ZPO (und damit der Berufungs- sowie der Revisionsfrist entsprechend
[§ 434 Abs 1, § 474 Abs 2 ZPO]).
3893 OGH 03 CG.2005.274 LES 2010, 27.
3894 Dolinar!Roth/Duursma-Kepplinger, Zivilprozessrecht" 112; Rechberger in Rechberger!Klicka,
ZPO 5 § 419 Rz 1.
3895 OGH 10 C 331/97 LES 1998, 238.
3896 Rechberger!Simotta, Zivilprozessrecht• Rz 900.
eher den genauen Wortlaut der Berichtigung zu enthalten hat, ist mit abgesondertem
1897
Rekurs anfechtbar· ; der einen Berichtigungsantrag zurückweisende Beschluss ist nicht
selbstständig anfechtbar(§ 419 Abs 2 Satz 2 ZPO). Über Rekurse gegen Berichtigungsbe-
schlüsse des LG entscheidet das OG endgültig; gegen die Rekursentscheidung des OG ist
also der Revisionsrekurs an den OGH in keinem Fall zulässig(§ 419 Abs 2 Satz 3 ZPO).
Berichtigungsbeschlüsse des OG als Rekursgericht können nur dann selbstständig ange-
fochten werden, wenn der ihnen zugrundeliegende Beschluss selbstständig anfechtbar
ist. 3898
Bei Verwerfung des Antrags auf Urteilsberichtigung ist dem Antragsteller der Ersatz aller 23.50
entstandenen Kosten aufzuerlegen, sonst sind die Kosten gegenseitig aufzuheben (§ 422
ZPO).
Nach Rechtskraft des Berichtigungsbeschlusses ist die Berichtigung auf der im Akt er- 23.51
liegenden Originalausfertigung des Urteils (.,Urschrift") zu vermerken und in den den
Parteien zugestellten Urteilsausfertigungen, welche ihnen zu diesem Zweck abzufordern
sind, ersichtlich zu machen (§ 421 ZPO).
Die Berichtigung des Urteils kann auch in höherer Instanz angeordnet werden (§ 419 23.52
Abs 3 ZPO). Dabei erfolgt die Berichtigung durch das Instanzgericht, während der Voll-
zug dem ursprünglich erkennenden Gericht obliegt. 3899
Mit Zustellung der berichtigten Urteilsausfertigung beginnt grundsätzlich eine neue 23.53
Rechtsmittelfrist zu laufen. Dies gilt allerdings dann nicht, wenn der Rechtsmittelwerber
auch ohne Berichtigung keinen Zweifel über den wirklichen Inhalt der Entscheidung
haben konnte; maW: eine neue Rechtsmittelfrist beginnt nur dann zu laufen, wenn die
Parteien erst durch die Berichtigung volle Klarheit über den Entscheidungsinhalt erlan-
gen konnten. 3900
F. Arten
1. Endurteil (§ 390 ZPO)
Das Endurteil (.,Vollurteil") erledigt die gesamten bei Schluss der mündlichen Verhand- 23.54
Jung noch unerledigten Urteilsanträge eines Rechtsstreits vollständig. Dies setzt voraus,
dass der ganze Rechtsstreit „zur Entscheidung reif' ist. Entscheidungsreif ist das Ver-
fahren dann, wenn der vorliegende Sachverhalt ausreicht, um über die Berechtigung des
gestellten Begehrens erkennen zu können. Entscheidungsreife liegt auch dann vor, wenn
sich die Klagebehauptungen nur mit einem von mehreren Rechtsgründen rechtfertigen
lassen und keine einzige der vom Beklagten vorgebrachten rechtshindernden oder rechts-
vernichtenden Einreden durchgreift. 3901 Die Entscheidungsreife für klagsabweisende Ur-
3897 Gegenstand des Rekurses ist das Vorliegen der Voraussetzungen für die vorgenommene Be-
richtigung, nicht hingegen der Inhalt der berichtigten Entscheidung selbst, welche nur mit
dem dafür vorgesehenen Rechtsmittel angefochten werden kann (OGH 10 EG.2006.100 LES
2008, 310).
3898 OGH 06 CG.2006.368 LES 2008, 264.
3899 Rechberger in Rechberger!Klicka, ZPO 5 § 419 Rz 9.
3900 OGH 03 C 69/96 LES 2001, 41; RIS-Justiz RS0041797 (Tl, T49, T52).
3901 Deix/er-Hübner in Fasching/Konecny 111/2 3 § 390 ZPO Rz 1.
teile ist dann anzunehmen, wenn sich keine der möglichen Anspruchsbegründungen als
richtig erweist oder schon eine begründete Einwendung des Beklagten dem Klagean-
spruch die Grundlage entzieht. 3902
23.55 § 390 Abs 2 ZPO regelt die Urteilsfällung bei Verbindung mehrerer, ursprünglich durch
selbstständig angebrachte Klagen eingeleiteter Prozesse durch das Gericht im Rahmen
seiner Prozessleitungsbefugnis gern § 187 ZPO. In diesem Fall muss über jeden dieser
Ansprüche - entweder gemeinsam oder getrennt - durch Endurteil entschieden werden.
Allerdings ist ein gemeinsames Endurteil nur bezüglich jener Rechtsstreite möglich, in
denen sich dieselben Parteien gegenüberstehen (§ 187 Abs 2, § 404 Abs 2 ZPO). Wird
eine der verbundenen Klagen vor den anderen zur Entscheidung reif, dann muss das
Gericht die Verbindung aufheben und über den bereits entscheidungsreifen Rechtsstreit
mit Endurteil entscheiden. 3903
23.56 Bei Klagseinschränkung auf Kosten entscheidet die Praxis (mehrheitlich) mit Urteil,
obgleich richtigerweise mit Beschluss zu entscheiden wäre. 3904 Gegen das „Urteil" ist
der Rekurs zulässig. Da bei Einschränkung des Klagebegehrens auf Nebengebühren eine
Bagatellsache (§ 535 ZPO) vorliegt, ist gegen die Rekursentscheidung des OG der Revi-
sionsrekurs an den OGH in jedem Fall und unabhängig von der Höhe der Kosten gern
3905
§ 485 Abs 2 ZPO ausgeschlossen.
3908 Der Urteilsspruch lautet dann in etwa: "l. Der Beklagte ist schuldig, dem Kläger binnen vier
Wochen CHF ... zu bezahlen. 2. Die Entscheidung über die vom Beklagten eingewendete
Gegenforderung von CHF ... und über die Prozesskosen wird dem Endurteil vorbehalten."
Hinsichtlich der Form des Spruchs des vom Gericht zu fällenden mehrgliedrigen Urteils, falls
es im Fall einer prozessualen Aufrechnungseinrede des Beklagten nicht mit Teilurteil über die
Klageforderung entscheidet, kann verwiesen werden auf: Fucik, ÖJZ 2014, 11 ff und Fasching,
Lehrbuch 2 Rz 1293; vgl auch OGH 03 C 311/94 LES 1999, 191.
3909 OGH 06 CG.2008.378 LES 2010, 94; 05 CG.2001.92 LES 2003, 139.
3910 Deix/er-Hübner in Fasching/Konecny lll/2 3 § 391 ZPO Rz 10.
3911 RIS-Justiz RS0036951; RS0036974 (Tl).
3912 RIS-Justiz RS0036974.
3913 RIS-Justiz RS0036929; RS0037204; RS0040047. Allerdings können daraus Amtshaftungsan-
sprüche resultieren.
3914 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1415.
23.64 Bezüglich der Vollstreckbarkeit von Teilurteilen können Probleme entstehen, wenn der
Klagsforderung stattgegeben 3915 und die Entscheidung über eine mit Aufrechnungsein-
rede geltend gemachte Gegenforderung dem Endurteil vorbehalten bleibt (,,Vorbehalts-
urteil"). 3916
b) Grundurteil
23.68 Das Zwischenurteil über den Grund des Anspruchs ist nur dann zulässig, wenn ein An-
spruch dem Grund und der Höhe nach 3919 streitig und die Streitsache zunächst nur in
Ansehung des Grunds zur Entscheidung reif ist (§ 391 Abs I ZPO).
23.69 Das Grundurteil ist grundsätzlich nur bei Leistungsklagen möglich. Es klärt, ob das Kla-
gebegehren dem Grunde nach berechtigt erscheint oder nicht; im weiteren Verfahren
3915 Der beklagten Partei ist im Umfang der zu Recht bestehenden Klageforderung ein Zahlungs-
auftrag zu erteilen (OGH 8. 6. 2018, 08 CG.2015.386).
3916 Näher Deix/er-Hübner in Fasching/Konecny III/2 3 § 391 ZPO Rz SSff; Fasching, Lehrbuch 2
Rz 1296 ff.
3917 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1426.
3918 Anders: OG 09 CG.2007.I01 LES 2014, 191 (wobei allerdings die Fällung eines Zwischenur-
teils über die Verjährungseinrede in der Berufung nicht als Verfahrensmangel gerügt worden
war). Gegenteilig nunmehr: OG 09 CG.2019.40 LES 2019, 241.
3919 Es muss sich also um Ansprüche auf Geld oder vertretbare Sachen handeln.
über die Anspruchshöhe sind sämtliche Einwendungen gegen den Anspruchsgrund aus-
geschlossen.
Zum Grund des Anspruchs gehören alle rechtserzeugenden Tatsachen, aus denen der 23.70
Anspruch abgeleitet wird, und alle Einwendungen, die seinen Bestand berühren. Durch
die Fällung eines Zwischenurteils werden alle den Grund des Anspruchs betreffenden
Rechtsgründe, Einwendungen, Angriffs- und Verteidigungsmittel abschließend erledigt.
Im fortgesetzten Verfahren über die Höhe des Anspruchs darf auf sie nicht mehr Bedacht
genommen werden. 3920
Stellt sich heraus, dass kein Rechtsgrund für den geltend gemachten Anspruch besteht, 23.71
dann muss das Klagebegehren mit Endurteil abgewiesen werden; die Fällung eines abwei-
senden Zwischenurteils ist unzulässig. Zwischenurteile über den Grund des Anspruchs
müssen daher immer ganz oder teilweise bejahend sein.
Ein Zwischenurteil über den Grund des Anspruchs kann auch dann gefällt werden kann, 23.72
wenn noch strittig ist, ob der Anspruch überhaupt mit irgendeinem Betrag zu Recht
besteht (§ 393 Abs 1 ZPO). Das bedeutet allerdings nicht, dass ein Zwischenurteil auch
dann möglich ist, wenn noch gar nicht feststeht, dass das dem Beklagten vorgeworfene
Verhalten einen Schaden des Klägers verursacht hat. Ein Zwischenurteil ist vielmehr nur
in den Fällen möglich, wo nur strittig ist, ob der tatsächlich entstandene Schaden, allenfalls
durch eine Teilzahlung oder durch eine Aufrechnung einer Gegenforderung, getilgt ist. 3921
Bei einem aus mehreren Anspruchsteilen zusammengesetzten Begehren muss schon 23.73
im Urteilsspruch des Grundurteils eindeutig erkennbar sein, welche Anspruchsteile als
dem Grunde nach zu Recht bestehend angenommen wurden 3922 , und auch in den Grün-
den muss klar zum Ausdruck kommen, welche rechtserzeugenden Tatsachen und welche
Einwendungen vom Gericht behandelt und beurteilt wurden. 3923
Die Erlassung eines Grundurteils ist eine gebundene, nicht anfechtbare 3924 Ermessens- 23.74
entscheidung des Gerichts, die einen entsprechenden Urteilsantrag der Parteien nicht
erfordert und auch ohne vorgängige Einschränkung des Verfahrens auf den Grund des
Anspruchs, welche allerdings in der Praxis regelmäßig erfolgt, zulässig ist.
Verstößt das Gericht gegen die gesetzlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen, so kann die 23.75
Entscheidung we~en Mangelhaftigkeit des Verfahrens nach § 465 Abs 1 Z 2 ZPO ange-
fochten werden. 3 25
Da es nur ausnahmsweise möglich sein wird, bereits im Grundurteil über die Kosten 23.76
endgültig abzusprechen, ist die Kostenentscheidung idR der Endentscheidung vorbehal-
ten (§ 393 Abs 4 ZPO iVm § 52 Abs 4 ZPO).
3920 Deix/er-Hübner in Fasching!Konecny III/2 3 § 393 ZPO Rz 5, 6f zur Schwierigkeit der Abgren-
zung „Anspruchsgrund" - .,Anspruchshöhe".
3921 RIS-Justiz RS0I02003.
3922 ZB wenn in einem Schadenersatzprozess verschiedene Schadenspositionen (Schmerzensgeld,
Sachschaden, entgangener Verdienst, Haushaltsschaden etc) gemeinsam geltend gemacht
werden.
3923 Deix/er-Hübner in Fasching!Konecny 111/2 1 § 393 ZPO Rz 15/1.
3924 RIS-Justiz RS0040047; RS0036970; RS0037204 (T3).
3925 Rechberger in Rechberger!Klicka, zpos § 393 Rz 4.
23.77 Dem Zwischenurteil über den Grund des Anspruchs kommt keine über den konkreten
Rechtsstreit hinausreichende materielle Rechtskraftwirkung und auch nicht die Wir-
kung eines Feststellungsurteils zu; es entfaltet Bindungswirkung vielmehr nur innerhalb
3926
des konkreten Rechtsstreits.
c) Grundlagenurteil
23.78 Mit dem Grundlagenurteil(§ 393 Abs 2 ZPO) wird über den von einer Partei gern§§ 244,
258 Abs 2 ZPO gestellten Zwischenfeststellungsantrag entschieden, falls die Verhand-
lung über die mit diesem begehrte Feststellung eines Rechtsverhältnisses oder Rechts vor
der Entscheidung über das Klagebegehren entscheidungsreif ist. Bei gleichzeitiger Ent-
scheidungsreife des Zwischenfeststellungsantrags und der Klage ist über ersteren im End-
urteil (als Feststellungsurteil) zu entscheiden.
23. 79 Beim Grundlagenurteil handelt es sich um ein echtes Feststellungsurteil, das sowohl in
formelle als auch in materielle Rechtskraft erwächst, welche über den Rechtsstreit hinaus-
3927
reicht und denselben Umfang besitzt wie ein selbstständiges Feststellungsurteil.
Das Verzichtsurteil ist bzgl seiner Urteilswirkungen dem streitig geschaffenen Urteil 23.84
vollkommen gleichgestellt. Insb äußert es in gleicher Weise und in gleichem Umfang
Rechtskraftwirkung gegenüber jeglicher neuerlichen Anhängigmachung desselben An-
spruchs.
Da die Klagsrücknahme unter Anspruchsverzicht auf einfacherem We~ zum gleichen 23.85
Ergebnis führt, ist die praktische Bedeutung des Verzichts sehr gering. 39 · 1
Der Verzicht kann auch nur mit Bezug auf einen von mehreren in der Klage geltend 23.86
gemachten Ansprüchen oder auf einen Teil eines Anspruchs erklärt werden, in welchem
Fall auf Antrag des Beklagten ein Verzichts-Teilurteil zu erlassen ist (§ 394 Abs 2 ZPO).
Wählt der Kläger anstelle eines Teilverzichts den Weg der Klagseinschränkung ist zu
berücksichtigen, dass die Klagseinschränkung als partielle KJagsrücknahme deren Regeln
zu unterwerfen und daher nach der ersten Tagsatzung mangels ausdrücklicher Zustim-
mung des Beklagten nur unter explizitem Verzicht auf den Anspruch(steil), um den die
Klage eingeschränkt wird, möglich ist; eine nach der ersten Tagsatzung ohne Zustim-
mung des Beklagten oder ohne Anspruchsverzicht vorgenommene KJagseinschränkung
ist vom Gericht zurückzuweisen. 3932
3931 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1323. In diesem Fall endet das Verfahren ohne Sachentscheidung. Die
Klagsrücknahme unter Anspruchsverzicht wird lediglich mit deklarativem Beschluss des Ge-
richts zur Kenntnis genommen.
3932 OGH 04 CG.2013.430 LES 2015, 103.
3933 Im Unterschied zum Anerkenntnis des materiellen Rechts(§ 1375 ABGB). Zur „Doppelfunk-
tionalität" des prozessualen Anerkenntnisses Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1309f.
3934 Falls der Streitgegenstand allerdings der Disposition der Parteien entzogen ist, also in Ver-
fahren in denen der Untersuchungsgrundsatz gilt, ist die Fällung eines Anerkenntnisurteils
unzulässig, so bspw kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung im streitigen Eheschei-
dungsverfahren (§ 527 ZPO).
3935 Deix/er-Hübner in Fasching/Konecny III/2 1 § 395 ZPO Rz 1. Bei Anerkenntnis bloß eines An-
spruchsteils oder eines von mehreren in der Klage geltend gemachten Ansprüchen ist ein
Anerkenntnis-Teilurteil zu fällen. Sind Grund und Höhe einer Forderung bestritten, kann
auch nur der Anspruchsgrund anerkannt werden (.,Anerkenntnis-Zwischenurteil").
3936 Ein Anerkenntnis kann auch schon in der ersten Tagsatzung abgegeben werden (§ 250 Abs 1
ZPO; § 395 ZPO).
3937 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1313.
23.90 Die Fällung eines Anerkenntnisurteils bedarf eines vom Kläger in der mündlichen Ver-
handlung gestellten Urteilsantrags; die Fällung des Anerkenntnisurteils außerhalb der
3938
mündlichen Verhandlung ist hingegen grundsätzlich zulässig.
23.91 Falls die prozessualen Voraussetzungen für die Fällung eines Anerkenntnisurteils vor-
liegen hat der Kläger einen Anspruch darauf, dass vom Gericht über seinen Antrag
entschieden wird, und zwar entweder iS der Fällung eines Anerkenntnisurteils oder
mit beschlussmäßiger Zurück- bzw Abweisung 3939 seines Antrags auf Fällung eines An-
erkenntnisurteils.
23.92 Das Gericht ist an das Anerkenntnis grundsätzlich gebunden, darf also nicht zB prü-
fen, ob der in der Klage behauptete Sachverhalt der Wahrheit entspricht oder die Klage
schlüssig ist. °
394
Fehlt es allerdings an einer Prozessvoraussetzung ist die Klage ungeach-
tet eines Anerkenntnisses des Beklagten mit Beschluss zurückzuweisen.
3938 Ein über einen bloß schriftlichen Antrag des Klägers vom Gericht gefälltes Anerkenntnisurteil
ist nicht nichtig, allerdings uU mit einem erheblichen Verfahrensmangel behaftet (Deixler-
Hübner in Fasching/Konecny 111/2 3 § 395 ZPO Rz 11). Ein ohne Antrag des Gegners gefälltes
Anerkenntnisurteil ist wegen Verstoßes gegen § 405 ZPO nichtig (Deix/er-Hübner in Fa-
sching/Konecny IIl/2 3 § 395 ZPO Rz 13/1 [str]). Stellt der Kläger keinen Antrag auf Fällung
eines Anerkenntnisurteils ergeht zwar kein Anerkenntnisurteil, aber das Gericht kann im
fortzusetzenden Verfahren die im Anerkenntnis zugestandenen Tatsachen für die Entschei-
dungsbegründung des kontradiktorischen Urteils heranziehen (Deix/er-Hübner in Fasching/
Konecny IIl/2J § 395 ZPO Rz 13/1). Nach einem Teil der Lehre tritt Ruhen des Verfahrens ein
(Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1319 ft).
3939 ZB wenn das Anerkenntnis nicht rechtswirksam, insb von einer hierzu nicht legitimierten
Person (bspw einem Nebenintervenienten oder dem Verfahrenshelfer ohne Zustimmung
der Partei[§ 64 Abs I Z 3 ZPO] oder im Fall einer einheitlichen Streitpartei [§ 14 ZPO] nicht
von allen Teilgenossen gemeinsam) erklärt wurde, oder wenn die Erklärung nicht den Form-
oder Inhaltserfordernissen eines gültigen Anerkenntnisses entspricht.
3940 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1320. Dort auch zur Überprüfbarkeit der Anerkennungsfähigkeit des
anerkannten Anspruchs nach materiellem Recht (dazu auch Deix/er-Hübner in Fasching/Ko-
necny lll/2J § 395 ZPO Rz 8 f).
3941 Im Rechtsmittelverfahren gibt es keine Versäumnisurteile(§§ 461, 513 ZPO).
3942 OGH 6.10.2017, 05 CG.2016.390.
Die Fällung eines Versäumnisurteils ist sowohl gegen den Kläger als auch gegen den 23.95
Beklagten und nur über ausdrücklichen Antrag des Erschienenen möglich. Der Antrag
muss vom Erschienenen sofort bei der ersten Tagsatzung bzw der ersten Streitverhand-
lung gestellt werden und kann nicht nachgeholt werden; wird kein Antrag gestellt, tritt
Ruhen des Verfahrens ein. 3943 Ein ohne Antrag gefälltes Versäumnisurteil ist mit einem
3944
Verfahrensmangel behaftet.
Über den Antrag muss das Gericht grundsätzlich noch in der ersten Tagsatzung entschei- 23.96
den. 3945 Wenn allerdings der Nachweis der ordnungsgemäßen und rechtzeitigen Ladung
des Säumigen fehlt 3946, kann das Gericht die Fällung des Versäumnisurteils bis zu einem
kalendermäßig zu bestimmenden Tag vorbehalten (,,vorbehaltenes Versäumnisurteil")
und die Verhandlung schließen. Langt bis zum bezeichneten Tag der Zustellnachweis
über die rechtzeitige Ladung ein oder ergeben die gerichtlichen Erhebungen, dass dem
Säumigen die Ladung noch rechtzeitig zugestellt worden war, hat das Gericht binnen acht
Tagen das Versäumnisurteil zu fällen (§ 402 Abs l Z l ZPO). Ergibt sich aus den ein-
langenden Rückscheinen oder den gerichtlichen Erhebungen, dass die Ladung dem Säu-
migen nicht (bzw nicht ordnungsgemäß oder nicht rechtzeitig) zugestellt wurde, ist der
Antrag auf Fällung eines Versäumnisurteils abzuweisen, und sind die Parteien neuerlich
zu einer erstreckten Tagsatzung zu laden (§ 402 Abs 3 ZPO).
Entscheidungsgrundlage des Versäumnisurteils ist grundsätzlich nur das Vorbringen 23.97
der erschienenen Partei. Deren tatsächliches Vorbringen ist „für wahr zu halten", die noch
beweisbedürftigen Tatsachen bedürfen also keines Beweises; dh, das Gericht hat nicht zu
3947
prüfen, ob die behaupteten Tatsachen wirklich vorliegen , und darf entsprechend auch
keinen Beweisbeschluss fassen. Notorische Tatsachen (§ 269 ZPO) oder in einem vorlie-
genden rechtskräftigen verurteilenden Straferkenntnis festgestellte Tatsachen (§ 268 ZPO)
hat das Gericht allerdings zu berücksichtigen. 3948 Ebenfalls nicht zu berücksichtigen sind
die Tatsachenbehauptungen des Erschienenen, soweit sie „durch die vorliegenden Beweise
widerlegt" werden. Auf „schriftliche Aufsätze" des Säumigen ist, sofern sie ein Vorbringen
zum Streitgegenstand 3949 enthalten, nicht Bedacht zu nehmen(§ 398 ZPO). 3950
3943 Außer der Antrag wurde deshalb unterlassen, weil der erschienene Kläger ein Neuvorbringen
va zur Änderung der Klage erstattet hat, zu welchem Neuvorbringen dem säumigen Beklagten
das rechtliche Gehör zu gewähren ist (Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht" Rz 928).
3944 Fasching III 1 623.
3945 Wird über Antrag des erschienenen Klägers ein positives Versäumnisurteil gefällt, kann die
ziffernmäßige Bestimmung des vom Beklagten geschuldeten Kostenersatzes der schriftlichen
Ausfertigung des Versäumnisurteils vorbehalten werden (§ 53 Abs 2 ZPO).
3946 Oder das Gericht trotz Vorliegens eines Zustellnachweises Bedenken hinsichtlich der Ord-
nungsmäßigkeit oder der Rechtzeitigkeit der Zustellung hat (Rechberger/Simotta, Zivilpro-
zessrecht9 Rz 932).
3947 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1397.
3948 Fasching III 1 620.
3949 Auf sonstige Anträge (zB Vertagungs- oder Ablehnungsanträge) oder in einer vom säumigen
Beklagten vor der ersten Tagsatzung eingebrachten Klagebeantwortung enthaltene Einwen-
dungen prozesshindernder Prozessvoraussetzungen ist vom Gericht allerdings Bedacht zu
nehmen (Fasching III 1 627).
3950 ZB bei Säumigkeit des Beklagten nicht auf eine von diesem vor der ersten Tagsatzung einge-
brachte Klagebeantwortung (OGH 05 CG.2007.70 LES 2008, 349).
23.98 Bei Prüfung des Vorliegens der Prozessvoraussetzungen und überhaupt mit Bezug auf
3951
die Beachtung sonstiger von Amts wegen wahrzunehmender Umstände ist das Ge-
richt nicht eingeschränkt (§ 401 Abs 1 ZPO). Ebenso ist das Gericht in seiner rechtli-
chen Beurteilung frei. Das Gericht muss also bei Säumnis des Beklagten prüfen, ob das
Klagebegehren bestimmt und schlüssig ist; widrigenfalls muss das Gericht ein die Klage
abweisendes (negatives) Versäumnisurteil fällen. 3952 Ist der Kläger säumig, reicht es
grundsätzlich aus, wenn der Beklagte die Richtigkeit der Tatsachenbehauptungen des
Klägers allgemein bestreitet 3953 und die Fällung eines - in der Praxis explizit klageabwei-
senden - Versäumnisurteils beantragt, worauf das Gericht die Klage ohne Prüfung der
Rechtslage mit Versäumnisurteil abzuweisen hat.
23.99 Dem Versäumnisurteil kommen die gleichen Rechtskraftwirkungen zu wie jedem ande-
ren streitigen Sachurteil.
23.100 Gegen den Beschluss auf Ab- 3954 oder Zurückweisung3955 des Antrags auf Fällung eines
Versäumnisurteils ist der Rekurs zulässig. Die Rekursentscheidung ist nach Maßgabe der
§ 495 Abs 2, § 496 ZPO mit Revisionsrekurs anfechtbar. Gegen das Versäumnisurteil ist
die Berufung zulässig, wobei gern Rsp entgegen der sonst im Berufungsverfahren zuläs-
sigen beschränkten Neuerungserlaubnis (§ 432 Abs 2, § 452 Abs 2 ZPO) ein absolutes
Neuerungsverbot gilt. 3956 Das Berufungsurteil kann außer in Bagatellsachen (§ 535
ZPO) nach Maßgabe von § 471 ZPO mit Revision angefochten werden. Wird mit der
Berufung geltend gemacht, dass keine bzw keine ordnungsgemäße Ladung des Säumigen
erfolgt sei, also eine Nichtigkeit nach § 446 Abs l Z 4 ZPO gerügt, hat das Berufungs-
gericht darüber mit Beschluss zu entscheiden (§ 441 Z 4, § 443 Abs 1 ZPO). Wird die
Nichtigkeitsrüge für nicht begründet befunden, ist der Berufung keine Folge zu geben;
gegen diese Entscheidung steht kein Rechtsmittel offen. 3957 Hält das Berufungsgericht die
Nichtigkeitsrüge für begründet, hat es das Versäumnisurteil aufzuheben und dem Erst-
gericht die Einleitung einer Streitverhandlung aufzutragen; gegen diesen Beschluss ist ein
Rekurs an den OGH gern § 487 Abs 1 Z 3 ZPO nur bei Anbringung eines Rechtskraft-
vorbehalts zulässig.
3951 ZB prozessualer Vorschriften deren Verletzung mit Nichtigkeit bedroht ist (§ 446 ZPO).
3952 OGH 06 CG.2006.299 LES 2010, 189; 01 CG.2007.257 LES 2009, 55; 01 CG.2003.13 LES 2004,
233. Im Rahmen von § 243 Abs 4 ZPO (ausgenommen das Umsteigen auf einen anderen
Gegenstand oder das Interesse) ist es jedoch dem Kläger erlaubt, ein Neuvorbringen zu er-
statten und damit die Klage schlüssig zu stellen, ohne dass dies der Fällung eines Versäum-
nisurteils entgegensteht. Zu einer Klageänderung ist dem Beklagten hingegen das rechtliche
Gehör zu gewähren (Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1399; Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht 9
Rz 931).
3953 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1400.
3954 ZB wenn keine Säumnis vorliegt oder wenn es an einer Prozessvoraussetzung für die sachliche
Erledigung der Klage mangelt (in welchem Fall zugleich die Klage mit Beschluss zurückzu-
weisen ist).
3955 ZB wenn der Antrag von einer hierzu nicht legitimierten Person gestellt wurde.
3956 OGH J 580/223 ELG 1962-1966, 155; 05 C 269/77 LES 1981, 140; 05 C 97/82 LES 1984, 14.
3957 OGH 08 C 285/88 LES 2002, 162; 04 CG.2006.74 LES 2008, 439; 09 CG.2001.20 LES 2004, 19;
8.1.2015, 05 CG.2014.6; 6.4.2017, 08 CG.2015.380.
3958 Und zwar für den Fall, dass die Tagsatzung erstreckt werden muss, auch in der fortgesetzten
Verhandlung, wenn er zu dieser erscheint (Fasching 111 1 632f [str]).
3959 Das ist zB auch dann der Fall, wenn das neu Vorgebrachte mit dem bisher Vorgebrachten
nicht in rechtlichem und tatsächlichem Zusammenhang steht; der Erschienene kann daher
etwa nicht mehr die Klage ändern oder ein Leistungsbegehren ausdehnen (Fasching III 1 633).
3960 Auch bei Nichtentscheidung über ein Eventualbegehren im Fall der Abweisung des Haupt-
begehrens (Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1439).
3961 ZB Zwischenanträge auf Feststellung (§ 244 ZPO), prozessuale Aufrechnungseinreden oder
Rechtsmittelanträge.
oder nur unvollständig entschieden wurde. 3962 Gern dem Wortlaut von § 423 Abs l
ZPO ist auch dann mit Ergänzungsurteil 3963 zu entscheiden, wenn bloß über den Pro-
zesskostenersatz nicht (vollständig) entschieden wurde.
23.106 Das Ergänzungsurteil kann nur über Antrag erlassen werden. Es ist von jenem Gericht
zu fällen, dessen Entscheidung ergänzt werden soll. Der Antrag, welcher den Inhalt des
Ergänzungsurteils klar erkennen lassen muss, ist binnen der gesetzlichen 3964 Frist von
acht Tagen nach Zustellung des Urteils „bei dem Prozessgerichte" 3965 anzubringen; eine
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung dieser Frist ist unzulässig
(§ 423 Abs 2 ZPO).
23.107 Das Gericht entscheidet nach vorhergehender mündlicher Verhandlung, wenn es eine
solche für notwendig hält 3966 ; die Verhandlung ist auf den nicht erledigten Teil des
Rechtsstreits zu beschränken (§ 423 Abs 3 ZPO).
23.108 Ein Ergänzungsurteil hat allen Form- und Inhaltsvorschriften (§§ 417f ZPO) eines
.,normalen" Urteils zu entsprechen. Das Ergänzungsurteil ist wie ein Endurteil selbststän-
dig anfechtbar. 3967
23.109 Wird der Ergänzungsantrag ab- oder zurückgewiesen, ist gegen diesen Beschluss der Re-
kurs zulässig (§ 423 Abs 3 letzter Satz ZPO).
23.110 Anstatt eines Urteilsergänzungsantrags steht der Partei bei unvollständiger Erledigung
der Sachanträge nach ihrer Wahl 3968 auch die Möglichkeit der Erhebung einer Berufung
offen (§ 465 Abs 1 Z l ZPO). Durch die Stellung eines Ergänzungsantrags wird der Lauf
der Berufungsfrist nicht unterbrochen (§ 424 ZPO). Werden Ergänzungsantrag und Be-
rufung gleichzeitig erhoben, ist der Ergänzungsantrag vorab zu erledigen und im Fall
seines Erfolgs die Berufung als unbegründet abzuweisen. 3969
Wurde gegen die Nichterledigung eines Sachantrags weder rechtzeitig ein Ergänzungs- 23.111
urteil beantragt noch Berufung erhoben, so erlischt die Streitanhängigkeit und scheidet
dieser Anspruch aus dem Verfahren aus; mangels rechtskräftiger Entscheidung über den
nicht erledigten Anspruch kann dieser neuerlich mit selbstständiger Klage geltend ge-
macht werden. 3970
Bei Vorliegen der Voraussetzungen gern § 419 ZPO kommt auch eine U rteilsberichti- 23.112
gung in Frage.
G. Rechtskraft
1. Formelle Rechtskraft
Die formelle Rechtskraft eines Urteils bedeutet dessen Unanfechtbarkeit in dem Rechts- 23.113
streit, in dem es ergangen ist 3971 ; sie ist notwendige Voraussetzung der materiellen
Rechtskraft. 3972
Die formelle Rechtskraft eines Urteils tritt ein, wenn dagegen kein Rechtsmittel mehr 23.114
offen steht3973 oder die Rechtsmittelfrist ungenützt abgelaufen ist 3974 sowie durch Abgabe
eines Rechtsmittelverzichts oder durch eine Rechtsmittelzurücknahme. Der Zeitpunkt
des Eintritts der formellen Rechtskraft kann daher für jede Partei verschieden sein. Unzu-
lässige oder verspätet erhobene Rechtsmittel schieben den Eintritt der formellen Rechts-
kraft nicht hinaus.
Die formelle Rechtskraft ist vom Gericht von Amts wegen wahrzunehmen. 23.115
2. Materielle Rechtskraft
Die materielle Rechtskraft eines U rteils 3975 bedeutet dessen U nabänderlichkeit. Die 23.116
Rechtslage zwischen den Parteien steht endgültig fest: unwiederholbar und bin-
dend.3976 Sie kann erst eintreten, wenn das Urteil allen Parteien gegenüber in formelle
Rechtskraft erwachsen ist und äußert sich in der Einmaligkeitswirkung (,.ne bis in
idem") sowie in der Bindungswirkung (.,Präjudizialitätswirkungu).
Die Einmaligkeitswirkung verhindert eine neuerliche Verhandlung und Entscheidung 23.117
zwischen den gleichen Parteien über denselben Streitgegenstand (.,Identität des An-
spruchs"); insofern stellt die materielle Rechtskraft eine jederzeit auch von Amts wegen
wahrzunehmende negative Prozessvoraussetzung dar (§ 251 Abs 2, § 411 Abs 2 ZPO)
und begründet die Außerachtlassung dieses Prozesshindernisses einen in § 446 Abs 1
3970 OGH 05 Cg 2001.92 LES 2003, 139; Rechberger in Rechberger/Klicka, ZPO' §§ 423-424 Rz 6
und A. Kodek in Rechberger/K/icka, ZPO 5 § 496 Rz 5.
3971 Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht' Rz 938.
3972 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1496.
3973 Urteile des OGH sowie gern§ 471 Abs 2 ZPO mit Revision nicht anfechtbare Berufungsurteile
des OG. Diese letztinstanzlichen Urteile erwachsen mit Zustellung an die Parteien in formelle
Rechtskraft.
3974 Bei Teilanfechtung erwächst der nicht angefochtene Teil in formelle Rechtskraft (,,Teilrechts-
kraft").
3975 Auch im Inland vollstreckbaren ausländischen Urteilen kann materielle Rechtskraft zukom-
men (OGH 03 C 24/90 LES 1997, 179).
3976 Dolinar!Roth/Duursma-Kepplinger, Zivilprozessrecht 14 105.
ZPO nicht explizit angeführten Nichtigkeitsgrund. 3977 Von einer Identität der Ansprü-
che ist nach der zweigliedrigen Streitgegenstandstheorie dann auszugehen, wenn das neu
gestellte Begehren inhaltlich dasselbe oder ein quantitatives Minus fordert, was bereits
rechtskräftig zuerkannt wurde, und zugleich die zur Begründung des neuen Begehrens
vorgetragenen rechtserzeugenden Tatsachen dieselben sind, auf welche bereits das frühe-
3978
re Begehren gestützt wurde. Die Einmaligkeitswirkung der materiellen Rechtskraft
greift auch dann, wenn der später geltend gemachte Anspruch das begriffliche Gegenteil
3979
des bereits rechtskräftig entschiedenen Anspruchs darstellt.
23.118 Die Bindungswirkung der materiellen Rechtskraft äußert sich darin, dass es dem Richter
eines Folgeprozesses verboten ist, die in einem Vorprozess zwischen denselben Parteien
rechtskräftig entschiedene Hauptfrage neuerlich, nunmehr als Vorfrage, selbstständig zu
beurteilen; vielmehr hat er die für ihn präjudizielle Entscheidung des Vorprozesses
seiner eigenen Entscheidung zugrunde zu legen. 3980 Die Verletzung der Bindungswir-
kung steht ebenfalls unter Nichtigkeitssanktion. 3981 Gern Rsp besteht eine Bindungswir-
kung auch dann, wenn zwei Prozesse zwischen den gleichen Parteien in so engem inhalt-
lichen Zusammenhang stehen, ,,dass Rechtssicherheit und Entscheidungsharmonie keine
andere Lösung der Rechtsfrage gestatten; in einem solchen Fall führt die inhaltliche Bin-
dung an die Vorentscheidung dazu, dass unter Ausschluss der sachlichen Behandlung
und Prüfung des Gegenstandes dem neuerlichen Urteil die rechtskräftige Vorentschei-
3982
dung zugrunde zu legen ist."
23.119 In Rechtskraft erwächst grundsätzlich nur der Spruch des Urteils. 3983 Allerdings sind
die Entscheidungsgründe zur Auslegung und Individualisierung des rechtskräftig ent-
schiedenen Anspruchs heranzuziehen. Dies gilt insb dann, wenn die Rechtskraftwirkung
eines abweisenden Urteils festgestellt werden soll (,,relative Rechtskraftwirkung der Ent-
scheidungsgründe"), in welchem Fall die Rechtskraft auf den vom Gericht zur Vernei-
nung des Klageanspruchs heranfezogenen Sachverhalt (,,auf die maßgeblichen Abwei-
398
sungsgründe") beschränkt ist.
23.120 Gern ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung{§ 411 Abs l ZPO) in materielle Rechtskraft
erwächst die Entscheidung über eine vom Gegner aufrechnungsweise eingewendete Ge-
3977 OGH 6. 4. 2017, 08 CG.2015.380; RIS-Justiz RS0041896; gern § 498 Abs I Z 6 ZPO einen
Wiederaufnahmsgrund, falls die zweite Entscheidung in (formelle) Rechtskraft erwachsen
sollte.
3978 OGH 03 CG.2006.91 LES 2008, 81 uva; Rechberger in Rechberger/K/icka, ZPO; § 411 Rz 7.
3979 Rechberger in Rechberger/Klicka, ZPO 5 § 411 Rz 8. Gern RIS-Justiz RS0041331 (T2) greift die
Einmaligkeitswirkung nur, wenn das zweite Begehren die „reine Negation" (= das kontradik-
torische Gegenteil) des ersten darstellt, während sonst (,.beim unvereinbaren Gegenteit) ein
Sonderfall der Bindungswirkung anzunehmen ist (so auch Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1517).
3980 Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht 9 Rz 946.
3981 OGH 6.4.2017, 08 CG.2015.380; RIS-Justiz RS0074226.
3982 OGH 03 C 382/98-75 LES 2002, 313. Krit die Lehre (zB Rechberger in Rechberger!Klicka, ZPO 5
§ 411 Rz 11); vgl auch RIS-Justiz RS0IOI02 ("Die Grenzen der materiellen Rechtskraft können
aus Gründen der Entscheidungsharmonie allein nicht ausgeweitet werden."). Teilweise abwei-
chend idS nunmehr auch OGH 6. 2. 2015, 10 CG.2014.190.
3983 OGH 02 CG.2003.228 LES 2006, 338 (,.Teileinklagung einer Forderung").
3984 RIS-Justiz RS0041331; RS0043259.
genforderung, allerdings nur bis zur Höhe, in der die Klageforderung zu Recht be-
steht. 3985
Die materielle Rechtskraft wirkt grundsätzlich nur zwischen den Parteien des Verfah- 23.121
rens (,.inter partes"). 3986 Die Rechtskraft wird allerdings in bestimmten Fällen auf Dritte
erstreckt, so insb auf Einzel- und Gesamtrechtsnachfolger oder gern ausdrücklicher ge-
setzlicher Anordnung, zB Art 179 Abs 3 PGR, Art 68 Abs l KO oder Art 161 Abs 2
EO.3987
Auch rechtskräftige Urteile können zudem gern§ 419 ZPO berichtigt werden. 23.126
3985 OGH 10 CG.2009.80 LES 2012, 36; Rechberger in Rechberger/K/icka, ZPO; § 411 Rz 13.
3986 Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht 9 Rz 957; OGH 02 CG.2006.315 LES 2010, 94.
3987 Das ist im Hinblick auf Art 6 EMRK bzw Art 31 Abs 1 LV und dem daraus vom StGH ab-
geleiteten Anspruch auf rechtliches Gehör problematisch (vgl auch OGH 04 CG.2000.198 LES
2002, 302).
3988 Neues rechtserzeugendes Tatsachenvorbringen kann der Kläger in einem Folgeprozess erstat-
ten, weil dann gern dem „zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff' die Identität der Ansprüche
zu verneinen ist.
3989 Rechberger/Simotta, Zi\;lprozessrecht9 Rz 956; Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1534f. Diese Präklu-
sionswirkung der materiellen Rechtskraft eines Urteils verhindert, dass der in einem Vorpro-
zess obsiegenden Partei in einem nachfolgenden Verfahren der Prozesssieg wieder aus der
Hand geschlagen wird (OGH 02 CG.2003.228 LES 2006, 338). Falls das Tatsachenvorbringen
erster lnstanz unverschuldet nicht erstattet wurde, kommt allerdings eine Wiederaufnahme-
klage in Frage (§ 498 Abs l Z 7 und Abs 2 ZPO).
H. Vollstreckbarkeit
23.127 Vollstreckbar sind nur stattgebende Leistungsurteile, also solche Urteile, welche einem
auf Leistung (positives Tun), Duldung oder Unterlassung gerichteten Klagebegehren Fol-
ge geben. Die Vollstreckbarkeit ermöglicht dem siegreichen Kläger die Durchsetzung des
im Leistungsurteil enthaltenen Leistungsbefehls gegen den Beklagten mit den in der Exe-
kutionsordnung (EO) vorgesehenen staatlichen Zwangsmitteln. 3990 Demgegenüber
sind über Feststellungsklagen (§ 234 ZPO) und Rechtsgestaltungsklagen 3991 ergehende
Urteile sowie eine Leistungsklage abweisende Urteile nur im Kostenzuspruch vollstreck-
bar.
23.128 Die Verurteilung zu einer Leistung ist im Allgemeinen nur zulässig, wenn deren Fälligkeit
zum Zeitpunkt der Urteilsschöpfung bereits eingetreten ist(§ 406 Satz 1 ZP0). 3992 Sofern
ein Anspruch noch nicht bindend feststeht und überdies auch nicht fällig ist, ist das
Klagebegehren abzuweisen. 3993 Davon unberührt bleibt die Möglichkeit des Gerichts,
die Erfüllungszeit bei Verpflichtung des Schuldners zu einer (fälligen) Leistung nach
Tunlichkeit oder Möglichkeit rechtsgestaltend festzusetzen.
23.129 Die Vollstreckbarkeit eines Leistungsurteils setzt den Ablauf der vom Gericht darin zwin-
gend zu bestimmenden Leistungsfrist voraus, welche grundsätzlich vier Wochen beträgt
(§ 409 Abs 1 ZPO) 3994 und damit gleich lang ist wie die Frist zur Ausführung einer Be-
rufung bzw Revision (§ 434 Abs l, § 474 Abs 2 ZPO). In den in § 409 Abs 2 ZPO ange-
führten Fällen hat das Gericht eine „angemessene" Leistungsfrist zu bestimmen. Ist diese
Frist kürzer als die vierwöchige Berufungs- bzw Revisionsfrist, so gilt die Erfüllungsfrist
mit der Rechtsmittelfrist abgelaufen (§ 409 Abs 5 ZPO).
23.130 Wenn gegen das Urteil ein Rechtsmittel nicht eingelegt wurde, beginnt die Leistungs-
frist an dem der Zustellung an den zur Leistung Verpflichteten folgenden Tag zu laufen
(§ 409 Abs 3 ZPO). 3995 Wurde gegen das Urteil rechtzeitig ein zulässiges Rechtsmittel
3990 Wenn die Leistungspflicht in der Abgabe einer Willenserklärung besteht, gilt diese Erklärung
allerdings bereits im Zeitpunkt des Eintritts der formellen Rechtskraft des Urteils als abge-
geben (Art 267 EO).
3991 Das sind auf die Begründung, Änderung oder Aufhebung eines Rechtsverhältnisses zwischen
den Parteien gerichtete Klagen (Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht" Rz 610).
3992 Bei Leistung von Alimenten kann gern § 406 Satz 2 ZPO auch eine Verurteilung zu erst in
Zukunft fällig werdenden Leistungen erfolgen; das ist va bei Leistungen von Invalidenrenten
in der Kranken- und Unfallversicherung sowie der betrieblichen Personalvorsorge relevant
(OGH 05 CG.2013.477 LES 2015, 31 [einer Feststellungsklage nach§ 234 ZPO fehlt es damit
am erforderlichen Feststellungsinteresse]).
3993 Maßgeblicher Zeitpunkt der Fälligkeit im Fall einer Anfechtung des Urteils erster Instanz in
der Hauptsache ist angesichts der beschränkten Neuerungserlaubnis im Berufungsverfahren
(§ 432 Abs 2 und§ 453 ZPO) der Schluss der mündlichen Verhandlung zweiter Instanz, falls
eine Berufungsverhandlung stattfindet (OGH 04 C 50/98 LES 2000, 236; 02 C 415/94 LES
1995, 96).
3994 In Wechselstreitigkeiten beträgt die Leistungsfrist 14 Tage (§ 555 Z I ZPO), desgleichen in
Bestandstreitigkeiten (§ 571 ZPO).
3995 In Bagatellverfahren (§ 535 ZPO) beginnt die Leistungsfrist, falls das Urteil mündlich in Ge-
genwart beider Parteien verkündet wurde, am Tag nach der Urteilsverkündigung zu laufen
(§ 409 Abs 3 und § 539 Abs l Satz 2 ZPO).
eingelegt, beginnt die Frist mit dem Tag nach Eintritt der formellen Rechtskraft des Ur-
teils zu laufen (§ 409 Abs 4 ZPO).
Die Vollstreckbarkeit des angefochtenen Urteils wird wie die Rechtskraft nur im Umfang 23.131
der Rechtsmittelanträge gehemmt (§§ 436, 474 Abs 3 ZPO, ,,Grundsatz der Teilrechts-
kraft").
1. Mängel
1. Nichturteile
Ein Nichturteil liegt dann vor, wenn der der „Entscheidung" anhaftende Mangel derart 23.132
ist, dass nicht einmal der äußere Tatbestand einer gerichtlichen Entscheidung erfüllt
wird.3996
Ein Nichturteil liegt insb dann vor, wenn die „Entscheidung" nicht von einem Ge- 23.133
richt3 997 oder einem nicht geschäftsfähigen Richter gefällt wurde.
Nichturteile sind prozessual ein „rechtliches Nullum". Dagegen erhobene Rechtsmittel 23.134
sind als unzulässig zurückzuweisen, weil es an einer anfechtbaren Entscheidung fehlt. 3998
2. Wirkungslose/wirkungsgeminderte Urteile
Selbst bei schwerwiegendsten Verstößen gegen das Prozess- oder das materielle Recht 23.135
resultiert keine „absolute Nichtigkeit" des Urteils, sondern lediglich dessen Anfechtbar-
keit.3999
Völlig wirkungslos sind Urteile für oder gegen eine nicht existente Partei 4000 sowie sog 23.136
„perplexe Urteile", also Urteile, die derart widersprüchlich abgefasst sind, dass sich ein
rechtskraftfähiger Inhalt nicht feststellen lässt.
Urteile die aufgrund tatsächlicher Hindernisse eine oder mehrere Urteilswirkungen nicht 23.137
entfalten können, werden als wirkungsgemindert bezeichnet. 4001 Wirkungsgemindert
sind zB mangels Vollstreckbarkeit Urteile, die eine tatsächlich unmögliche Leistung an-
ordnen. 4002
Wirkungslose bzw wirkungsgeminderte Urteile sind, weil es sich jedenfalls um gültige 23.138
Urteile handelt, mit den normalen Rechtsmitteln anfechtbar. 4003
3. Anfechtbare Urteile
23.139 Haften einem gültigen sowie wirksamen Urteil Fehler und Mängel an, ist dieses an-
fechtbar. Die Fehler und Mängel müssen also 4004 mit einem Rechtsmittel rechtzeitig gel-
tend gemacht werden, damit die Rechtsmittelinstanz sie durch Aufhebung oder Abände-
rung des Urteils korrigieren kann. Wird ein Fehler oder Mangel nicht mit einem fristge-
recht erhobenen Rechtsmittel geltend gemacht, heilt er mit Rechtskraft des Urteils.
23.140 Jedes erstinstanzliche Urteil des LG kann mit Berufung zum OG angefochten werden. Im
4005
Fall eines in das Urteil aufgenommenen Beschlusses kann jene Partei, welcher die
Berufung gegen das Urteil offensteht, auch den Beschluss binnen der vierwöchigen Be-
rufungsfrist anfechten, dies auch dann, wenn sie das Urteil tatsächlich unbekämpft lässt.
Möglich ist es auch Rekurs und Berufung getrennt zu erheben, wobei allerdings kosten-
mäßig zu berücksichtigen sein wird, dass die Einbringung zweier Rechtsmittelschriftsätze
zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung idR nicht notwendig ist und daher daraus
resultierende Mehrkosten nicht ersatzfähig sind. Allerdings ist dann, wenn nur die Kos-
tenentscheidung des Urteils bekämpft wird, das Rechtsmittel (Kostenrekurs) binnen der
vierzehntägigen Rekursfrist zu erheben. Steht hingegen der Partei gegen das Urteil die
Berufung nicht zu, va mangels Beschwer, hat sie den in das Urteil aufgenommenen Be-
4006
schluss binnen der vierzehntägigen Rekursfrist anzufechten.
23.141 Grundsätzlich können alle Berufungsurteile des OG mit Revision zum OGH angefochten
werden (§ 471 Abs 2 ZPO). Nicht weiter anfechtbar sind gern § 471 Abs 1 ZPO Beru-
fungsentscheidungen des OG in Bagatellsachen (§ 535 ZPO). Zudem ist die Revision
grundsätzlich nicht statthaft, wenn in vermögensrechtlichen Streitigkeiten der in sinnge-
mäßer Anwendung der Art 3 ff RA TG bestimmte Streitgegenstand, über den das Beru-
fungsgericht entschieden hat (Entscheidungsgegenstand), in der Hauptsache an Geld
oder Geldeswert insgesamt den Betrag von CHF 50.000,- nicht übersteigt, und das an-
gefochtene Urteil des LG vom Berufungsgericht in der Hauptsache zur Gänze bestätigt
wird (§ 471 Abs 2 ZPO). Diese Revisionsbeschränkung gilt allerdings in den in § 471
Abs 3 Z l bis 3 ZPO angeführten Fällen, also insb dann nicht, wenn das erstinstanzliche
Urteil vom LG unter Bindung an eine vom Berufungsgericht zuvor geäußerte Rechtsan-
sicht gefällt wurde(§ 465 Abs 1 iVm § 468 Abs 2 ZPO), es sei denn, das Berufungsgericht
hatte seinem im ersten Rechtsgang gefällten Aufhebungsbeschluss einen Rechtskraftvor-
behalt beigefügt (§ 487 Abs 1 Z 3 ZPO).
B. Arten
1. Prozessbeendende Beschlüsse
Prozessbeendende Beschlüsse4010 entscheiden über Rechtsschutzanträge der Parteien 23.145
und erledigen diese aus materiellen oder prozessualen Gründen abschließend. 4011 Sie ent-
falten „urteilsgleiche Wirkungen" insofern, als sie der materiellen Rechtskraft zugäng-
lich sind. 4012
Hierzu zählen bspw Sachentscheidungen in Beschlussform 4013 oder Beschlüsse, mit de- 23.146
nen die Klage oder Berufungen/Revisionen zurückgewiesen werden. 4014
4007 Die ZPO verwendet terminologisch uneinheitlich anstelle des Begriffs „Beschluss" auch an-
dere Bezeichnungen, zB „Anordnung", .,Verfügung", .,Zahlbefehl", .,Zahlungsauftrag", .,Über-
gabe- oder Übernahmeauftrag" etc.
4008 M. Bydlinski in Fasching/Konecny IIl/2 3 Vor§§ 425ff ZPO Rz l; OGH 02 CG.2003.201 LES
2007, 523; 05 CG.2004.131 LES 2006, 419; 01 CG.2000.318 LES 2003, 296. Weist daher zB
das LG eine Klage wegen Fehlens einer Prozessvoraussetzung mit „Urteil" zurück, ist da-
gegen nur das Rechtsmittel des binnen der Frist von vierzehn Tagen einzubringenden Re-
kurses zulässig, oder: Gegen einen vom Berufungsgericht in Urteilsform gefällten Aufhe-
bungs- und Zurückweisungsbeschluss ist der Revisionsrekurs nur dann zulässig, wenn das
Berufungsgericht seiner Entscheidung einen Rechtskraftvorbehalt beigesetzt hat (§ 487
Abs 1 Z 3 ZPO).
4009 Deix/er-Hübner in Fasching!Konecny Ill/2 3 Vor§§ 390ff ZPO Rz 5.
4010 Die Einteilung folgt Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1588ff.
4011 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1588.
4012 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1599.
4013 Hierzu oben bei Rz 23.144.
4014 Pochmarski!Lichtenberg, Beschluss und Rekurs 4.
2. Verfahrensgestaltende Beschlüsse
23.147 Hierzu zählen die Aufhebungs- und Zurückweisungsbeschlüsse der Rechtsmittelge-
richte sowie Entscheidungen über Zwischenstreitigkeiten, zB Beschlüsse über eine
vom Kläger zu leistende Prozesskostensicherheitsleistung, die Zulassung eines Nebenin-
tervenienten, die Bewilligung oder Entziehung der Verfahrenshilfe, die Zulassung einer
Klageänderung, die Unterbrechung des Verfahrens etc.
23.148 Solche Beschlüsse entfalten keine außerhalb des Rechtsstreits wirksame materielle
Rechtskraftwirkung, binden aber innerhalb des Rechtsstreits das Gericht und die Par-
teien.4015
3. Prozessleitende Beschlüsse
23.149 Die prozessleitenden Beschlüsse werden in§ 425 Abs 2 ZPO ausdrücklich genannt. Hier-
zu zählen die der notwendigen und zweckmäßigen Durchführung des Verfahrens die-
nenden Beschlüsse, die keinen Selbstzweck haben und auch kein vom Verfahren losge-
löstes Eigenleben zu entfalten vermögen. 4016
23.150 § 425 Abs 2 ZPO stellt klar, dass das Gericht an seine prozessleitenden Beschlüsse nicht
gebunden ist, sondern diese, falls es die Verfahrenssituation erfordert, jederzeit abändern
kann. Solche Beschlüsse erwachsen auch nicht in materielle Rechtskraft.
23.151 Zu den prozessleitenden Beschlüssen zählen va alle iZm der Beweisaufnahme gefassten
bzw der Sammlung des Prozessstoffs dienenden Beschlüsse. 4017
2. Begründung
a) Begründungspflicht
Gern § 428 Abs l ZPO ist eine Begründung nur für jene Beschlüsse obligatorisch, mit 23.153
denen über widerstreitende Anträge entschieden oder ein Antrag abgewiesen wird.
Aus § 428 Abs l ZPO kann nicht zwingend im Umkehrschluss abgeleitet werden, dass
alle anderen Beschlüsse unbegründet bleiben könnten; freiwillig begründet werden kann
nach Ermessen des Gerichts jedenfalls jeder Beschluss. 4020 Gern Rsp 4021 besteht eine Be-
gründungspflicht jedenfalls auch für jene Beschlüsse, die über einen einem Urteilsantrag
gleichwertigen Rechtsschutzantrag ergehen.
Aus der in Art 43 Satz 3 LV normierten grundrechtlichen Begründungspflicht ist ab- 23.154
zuleiten, dass unabhängig von § 428 Abs l ZPO jedenfalls all jene Beschlüsse begründet
werden müssen, gegen welche einer Partei ein Rechtsmittel zusteht, weil der Beschluss
sonst von der Partei nicht auf deren Stichhaltigkeit überprüft werden und sie sich gegen
eine fehlerhafte Begründung nicht zur Wehr setzen kann, und zudem auch der Rechts-
mittelinstanz andernfalls eine sinnvolle Überprüfung des angefochtenen Beschlusses gar
nicht möglich ist. 4022 Auch nicht (mehr weiter) anfechtbare, iS von Art 15 Abs 1 StGH
enderledigende Beschlüsse müssen im Hinblick auf eine allfällige Individualbeschwerde
an den StGH wegen Verletzung verfassungsmäßig und durch die EMRK gewährleisteter
Rechte begründet werden. 4023 Zudem sieht Art 95 Abs 2 Satz 2 LV ebenfalls explizit vor,
dass Richter ihren Entscheidungen und Urteilen Gründe beizufügen haben. In der Praxis
kommen unbegründete Beschlüsse denn auch faktisch nicht vor.
b) Umfang
Der Umfang der Begründungspflicht ist in § 428 Abs 2 ZPO geregelt. Danach hat die 23.155
Begründung zu enthalten die Anträge, über welche im Beschluss entschieden wird, und
den Sachverhalt, falls er nicht aus einem gleichzeitig mitgeteilten Schriftsatz oder aus
einer beigeschlossenen Protokollsabschrift zu entnehmen ist, und auch dann nur inso-
weit, als es zum Verständnis des Ausspruchs oder der Verfügung erforderlich ist. Nach
dem Wortlaut dieser Bestimmung müsste die Begründung va weder eine Beweiswürdi-
gung noch eine rechtliche Beurteilung des Sachverhalts enthalten, in bestimmten Fällen
müsste nicht einmal ein Sachverhalt festgestellt werden.
Allerdings ist § 428 Abs 2 ZPO im lichte des grundrechtlichen Anspruchs auf rechts- 23.156
genügliche Begründung gern Art 43 Satz 3 LV verfassungskonform zu interpretieren.
Jeder Beschluss bedarf daher einer nachvollziehbaren und überprüfbaren Begründung;
dh, dass sich das Gericht in der Begründung mit allen entscheidungsrelevanten Fragen
auseinanderzusetzen und die mit Bezug auf die maßgeblichen Fragen in tatsächlicher
D. Kundmachung
23.158 Alle während der Verhandlung oder Tagsatzung zur Beweisaufnahme vom Gericht
gefassten Beschlüsse sind mündlich zu verkünden (§ 426 Abs 1 ZPO) und in das Ver-
handlungsprotokoll aufzunehmen (§ 208 Abs l Z 3 ZPO). Die Verletzung der Verkün-
dungsfflicht bleibt sanktionslos, ein Fristsetzungsantrag gern Art 49a GOG ist mög-
lich.40 6
23.159 Die mündlich verkündeten Beschlüsse sind in schriftlicher Ausfertigung zuzustellen,
wenn einer oder beiden Parteien (unabhängig von deren Anwesenheit bei Verkündung
des Beschlusses) ein abgesondertes Rechtsmittel gegen den Beschluss oder das Recht zur
sofortigen Exekutionsführung auf Grund des verkündeten Beschlusses zusteht (§ 426
Abs l ZPO), nebst dem wenn eine oder beide Parteien bei der Verkündung nicht anwe-
send waren und die Leitung des Verfahrens die Zustellung des Beschlusses an den (die)
abwesende(n) Partei(en) erfordert(§ 426 Abs 2 ZPO) 4027, und schließlich wenn den Par-
teien gegen den verkündeten Beschluss weder ein abgesondertes Rechtsmittel zusteht
noch der Beschluss das Recht zur sofortigen Exekutionsführung begründet, über Verlan-
gen einer Partei (§ 426 Abs 3 Satz 1 ZPO).
23.160 Außerhalb der mündlichen Verhandlung gefasste Beschlüsse müssen den Parteien in
schriftlicher Ausfertigung zugestellt werden (§ 427 Abs 1 ZPO). Ein Beschluss, durch
welchen ein Antrag einer Partei ohne vorherige Anhörung des Gegners abgewiesen wird,
ist diesem nur auf Verlangen der antragstellenden Partei zuzustellen(§ 427 Abs 2 ZPO).
E. Wirksamkeit
23.161 An mündlich in einer Tagsatzung verkündete Beschlüsse ist das Gericht mit deren Ver-
kündung gebunden und an die außerhalb der mündlichen Tagsatzung gefassten Be-
schlüsse, welche zwingend schriftlich auszufertigen sind (§ 427 Abs l ZPO), sobald die
schriftliche Abfassung zur Ausfertigung an die Gerichtskanzlei übergeben wurde (Art 35
Abs 2, 36 Abs 1 GOG). An bloß prozessleitende Beschlüsse ist das Gericht allerdings
niemals gebunden (§ 425 Abs 2 ZPO).
4024 Wille in Kley/Vallender, Grundrechtspraxis 554 unter Hinweis auf die einschlägige Rsp des
StGH.
4025 Für Beschlüsse, mit denen eine eV erlassen wird, wird dies von der Rsp ausdrück.lieh gefordert
(OGH 10 CG.2002.345 LES 2004, 218).
4026 M. Bydlinski in Fasching!Konecny III/2 3 § 426 ZPO Rz 1.
4027 Va prozessleitende Beschlüsse (zB Beschluss auf Erstreckung einer Tagsatzung).
Beschlüsse werden, falls sie gern § 426 Abs l, 2 und 3 Satz l, § 427 ZPO schriftlich aus- 23.162
zufertigen sind, gegenüber den Parteien erst mit der Zustellung wirksam; allfällige
Rechtsmittel- und Leistungsfristen beginnen also mit der Zustellung zu laufen. Alle an-
deren Beschlüsse werden mit ihrer mündlichen Verkündung gegenüber den Parteien
wirksam(§ 426 Abs 3 Satz 2 ZPO). Haben die bei der mündlichen Verkündung des Be-
schlusses anwesenden Parteien auf die Zustellung einer schriftlichen Beschlussausferti-
gung verzichtet, ist darin noch kein Verzicht auf ein Rechtsmittel zu erblicken, allerdings
hat dann die Verkündung die Wirkung einer Zustellung. 4028
Grundsätzlich erwachsen alle Beschlüsse den Parteien gegenüber in formelle Rechtskraft. 23.163
Hinsichtlich der Anfechtbarkeit von Beschlüssen wird auf nachstehende Ausführungen
(Rz 23.164ft), hinsichtlich der materiellen Rechtskraft auf vorstehende Ausführungen
(Rz 23.145 ff) verwiesen.
F. Anfechtbarkeit
1. Vorbemerkung
Das gegen Beschlüsse von der ZPO vorgesehene Rechtsmittel ist der Rekurs. Das gegen 23.164
die Beschlüsse des OG als Rekursgericht (,,Rekursentscheidungen") zum OGH erhobene
Rechtsmittel wird zur Unterscheidung von dem gegen erstinstanzliche Beschlüsse des LG
zum OG erhobenen Rechtsmittel in der Praxis als „Revisionsrekurs" bezeichnet, obwohl
dieser Begriff der ZPO fremd ist. 4029
4033 ZB § 291 Abs 2 ZPO; § 39 Abs 2 ZPO (Urkundenbeweis);§ 349 Abs 2 ZPO (Zeugenbeweis);
§ 366 Abs 2 ZPO (Sachverständigenbeweis).
4034 Außer in Bagatellsachen ist der Wert des Streitgegenstands für die Statthaftigkeit des Rekurses
irrelevant.
4035 OGH 6. 4. 2017, 05 CG.2015.298. Die für Rekursentscheidungen entwickelte Rsp, wonach bei
rekursgerichtlichen Aufhebungsbeschlüssen zwischen „echten" und „unechten Aufhebungs-
beschlüssen" zu unterscheiden ist, gilt für berufungsgerichtliche Aufhebungsbeschlüsse nicht
(OGH 4. 9. 2015, SV.2015.10).
4036 OGH 05 CG.205.144 LES 2016, 178.
4037 OGH 10 HG.2009.18 LES 2010, 147; uva.
dungsglied ohne das andere Entscheidungsglied für sich allein nicht bestehen kann, so
ist die Rechtsmittelzulässigkeit für alle Punkte der mehrgliedrigen Entscheidung zu be-
jahen, sofern das OG die Entscheidung erster Instanz auch nur in einem Punkte ab-
geändert hat. 4038 Wird eine „eingliedrige Entscheidung" des LG durch das OG als
Rekursgericht nur zum Teil bestätigt, so greift der Rechtsmittelausschluss des § 496
Abs I ZPO dann nicht Platz und ist die Rekursentscheidung zur Gänze anfechtbar,
wenn der bestätigende und der abändernde Teil der Rekursentscheidung in einem der-
art unlösbaren sachlichen Zusammenhang stehen, dass sie von vornherein nicht geson-
dert und deshalb nur einheitlich beurteilt werden können; fehlt dieser Zusammenhang
und können die Ansprüche und Gegenstände, über die die Vorinstanzen entschieden
haben, für sich ein eigenes rechtliches Schicksal haben, so ist der konforme Beschluss-
4039
teil der Vorinstanzen der Anfechtbarkeit entzogen.
Allerdings normiert die ZPO in einer erheblichen Anzahl von Fällen, dass die Rekurs- 23.170
entscheidung auch für den Fall des Vorliegens abweichender Entscheidungen erster und
4040
zweiter Instanz nicht weiter mit Revisionsrekurs anfechtbar ist.
Hebt das OG den mit einem Rekurs angefochtenen Beschluss des LG auf und verweist die 23.171
Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das LG zurück, so ist dieser Aufhebungs-
beschluss des OG in jedem Fall 4041 nur anfechtbar, wenn dieses den Revisionsrekurs
ausdrücklich für zulässig erklärt (§ 495 Abs 1 ZPO [.,Rechtskraftvorbehalt"] 4042 ). Diese
Regelung gilt nur für „echte Aufhebungsbeschlüsse", nicht aber für solche Beschlüsse,
die zwar nach dem Wortlaut ihres Spruchs aufheben, ihrem Sinn und ihrer Funktion
nach aber eine Abänderung bedeuten. Diese liegt vor, wenn in der Kassation des erstge-
richtlichen Beschlusses zugleich auch schon die abschließende Entscheidung über die
Unzulässigkeit oder Unrichtigkeit der Entscheidung des Untergerichts liegt, so dass über
den bisherigen Entscheidungsgegenstand nicht mehr abzusprechen ist, weil dies inhalt-
lich schon durch den Beschluss des Rekursgerichts geschah. 4043
selbstständig, sondern erst mit dem gegen die nächstfolgende selbstständig anfechtbare
Entscheidung eingebrachten Rechtsmittel angefochten werden kann (,,vorbehaltener"
bzw „aufgeschobener" Rekurs). 4044 Die Partei ist allerdings nur berechtigt und nicht
verpflichtet, den aufgeschobenen Rekurs schon mit einem Rekurs gegen die nächste
selbstständig anfechtbare Entscheidung zu verbinden. Sie kann vielmehr den nicht selbst-
ständig anfechtbaren Beschluss auch erst mit der Berufung gegen die Entscheidung in der
Hauptsache anfechten, wobei eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens geltend zu machen
ist, dies auch dann, wenn sie mittlerweile gegen eine selbstständig anfechtbare Entschei-
4045
dung Rekurs erhoben hat.
23.173 Falls als Folge des Abschlusses des Hauptverfahrens keine weitere anfechtbare Entschei-
4046
dung mehr ergeht, fällt die Anfechtungsbeschränkung grundsätzlich weg.
23.174 Wenn ein abgesonderter Rekurs generell ausgeschlossen ist, vermag auch eine unzutref-
fende Rechtsmittelbelehrung dieses versagte Rechtsmittel nicht zu eröffnen, sondern ist
.. . .. k . 4041
der Re kurs a1s unzu 1ass1g zuruc zuweisen.
G. Vollstreckbarkeit
23.175 Beschlüsse, die einen Leistungsbefehl enthalten (,,Leistungsbeschlüsse"), sind vollstreck-
4048 4049
bar. Die Leistungsfrist beträgt 14 Tage und beginnt, weil ein Rekurs idR in Bezug
auf den Eintritt der Vollstreckbarkeit keine aufschiebende Wirkung hat (§ 492 Abs 1
ZPO), die Vollstreckbarkeit also vor (formeller) Rechtskraft eintritt, bereits im Zeitpunkt
4050
des Eintritts der Wirksamkeit gegenüber der Partei zu laufen.
23.176 Über Antrag des (Revisions)Rekurswerbers kann das LG dem Rechtsmittel aufschieben-
de Wirkung zuerkennen (§ 492 Abs 2 ZPO). Bei seiner Entscheidung über einen solchen
Antrag hat das LG eine Interessenabwägung vorzunehmen und dabei die aus einer Hem-
mung der Vollstreckung für den Gegner resultierenden Nachteile den Erfolgsaussichten
des Rechtsmittelwerbers sowie den für diesen im Fall der Vollstreckung resultierenden
4051
Nachteilen gegenüberzustellen. Gegen den Beschluss, mit welchem dem Antrag statt-
4044 ZB § 18 Abs 4 ZPO (,.Zulassung der Nebenintervention");§ 186 ZPO (,,Zurückweisung eines
Vorbringens wegen Prozessverschleppungsabsicht [§ 179 Abs I ZPO)"); § 316 Abs 1 ZPO
(.,Zeugenbeweis");§ 419 Abs 2 Satz 2 ZPO (,.Zurückweisung Berichtigungsantrag").
4045 A. Kodek in Rechberger/K/icka, ZPO 5 § 515 Rz 3.
4046 OGH 05 CG.2002.92 LES 2006, 320 (,,Zurückweisung Nebenintervention"). Die Rekursfrist
beginnt in diesem Fall mit der Zustellung der prozessbeendigenden Entscheidung bzw der
zeitlich nachfolgenden Entscheidung.
4047 OGH 06 CG.2005.59 LES 2006, 383.
4048 OGH Nz 182/87 LES 1991, 9 ua.
4049 Ausnahmen zB § 492 Abs 1 Satz 2 ZPO; § 18 Abs 3 ZPO; § 73 Abs 2 ZPO. Die Anfechtung
eines Kautionsbeschlusses (§ 59 Abs 2 ZPO) durch die erlagspflichtige Partei mit Rekurs hat
ex lege und im Anfechtungsumfang die Unterbrechung der Erlagsfrist zur Folge und beginnt
diese Frist mit der Zustellung der Rekursentscheidung neu zu laufen; eines Aufschiebungsan-
trags bedarf es hierzu nicht (OGH 02 CG.2005.296 LES 2007, 364).
4050 Siehe hierzu Rz 23.161 ff.
4051 OGH 05 CG.2007.11 LES 2008, 298 uva; A. Kodek in Rechberger/Klicka, ZPO; § 524 Rz 2.
gegeben wird, steht kein abgesonderter Rekurs offen; die Verweigerung ist hingegen
selbstständig anfechtbar (§ 492 Abs 2 Satz 2 ZPO). 4052
Wird einem Rekurs die aufschiebende Wirkung zuerkannt, so führt dies nicht dazu, dass 23.177
die Leistungsfrist mit der Zustellung einer Entscheidung, wonach dem Rekurs keine Fol-
ge gegeben wurde, wieder neu zu beginnen hätte. Vielmehr dauert lediglich die vom
Erstgericht verfügte einstweilige Hemmung der Vollstreckung, die mit dem Tag der An-
tragsstattgebung eintritt, bis zum Ablauf des Tages, an dem die Rekursentscheidung zu-
gestellt wird. 4053
3. Rechtsmittelbelehrung
Gern § 430a ZPO für sinngemäß anwendbar erklärt wird hinsichtlich des erforderlichen 23.180
Inhalts der Rechtsmittelbelehrung und der Folgen einer falschen bzw fehlenden Rechts-
mittelbelehrung§ 416a ZPO.
4052 Allerdings ist in der Praxis vom OG über diesen Rekurs idR deswegen nicht mehr zu ent-
scheiden, weil es die Entscheidung über den ersten Rekurs, also die Rekursentscheidung in
der Sache, zufolge Spruchreife vorgängig bzw gleichzeitig fällt, womit es dem Rekurswerber
mit Bezug auf seinen zweiten Rekurs gegen die seinen Aufschiebungsantrag abweisende Ent-
scheidung an der erforderlichen Beschwer fehlt, weshalb dieser zurückzuweisen ist (OGH 04
EG.2007.95 LES 2009, 22; OG 05 CG.2008.406 LES 2010, 193 [auch bezüglich Kostentragung
in diesem Fall]). In der Praxis verweist das OG spruchgemäß den Rekurswerber mit seinem
zweiten Rekurs auf die Entscheidung über seinen ersten Rekurs anstatt ersteren zurückzu-
weisen.
4053 Zechner in Fasching/Konecny IV/1 2 § 524 ZPO Rz 12; OGH 03 C 174/80 LES 1986, l 18. Die
Anfechtung eines Kautionsbeschlusses (§§ 58f ZPO) durch die erlagspflichtige Partei mit Re-
kurs hat allerdings ex lege und im Anfechtungsumfang die Unterbrechung der Erlagsfrist zur
Folge, und beginnt diese Frist mit der Zustellung der Rekursentscheidung neu zu laufen; eines
Aufschiebungsantrags bedarf es hierzu nicht (OGH 02 CG.2005.296 LES 2007, 364, ua
[stRsp ]).
4054 M. Bydlinski in Fasching/Konecny 111/2 3 § 425 ZPO Rz 6.
Übersicht
R.z
1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.1
A. Berufung und Rekurs als Rechtsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.1
B. Einteilung von Berufung und Rekurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.4
II. Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.9
A. Prozessvoraussetzungen der Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.9
1. Statthaftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.9
2. Rechtsmittellegitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.13
3. Rechtzeitigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.16
4. Beschwer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.26
5. Kein Rechtsmittelverzicht und keine Rechtsmittelzurücknahme . 24.33
6. Einmaligkeit des Rechtsmittels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.36
B. Formalerfordernisse der Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.40
C. Inhaltliche Erfordernisse der Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.44
D. Berufungsgründe im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.53
1. Nichtigkeitsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.53
2. Verfahrensmängel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.58
a) Formalfehler des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.62
b) Formalfehler des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.63
c) Stoffsammlungsmängel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.64
3. Aktenwidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.66
4. Unrichtige Sachverhaltsfeststellung aufgrund unrichtiger Beweis-
würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.71
5. Unrichtige rechtliche Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.77
III. Rekurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.84
A. Prozessvoraussetzungen des Rekurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.84
1. Statthaftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.84
2. Rechtsmittellegitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.89
3. Rechtzeitigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.91
4. Beschwer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.99
5. Kein Rechtsmittelverzicht und keine Rechtsmittelzurücknahme . 24.100
6. Einmaligkeit des Rechtsmittels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.101
B. Formalerfordernisse des Rekurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.102
C. Inhaltliche Erfordernisse des Rekurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.103
1. Allgemeines
A. Berufung und Rekurs als Rechtsmittel
24.1 Rechtsmittel sind Anträge auf Abänderung oder Aufhebung von Entscheidungen, die
dem Rechtsschutzbegehren des Antragstellers nicht oder nicht vollständig stattgegeben
haben. 4055 Sie sollen eine Überprüfung der Entscheidung der Vorinstanz ermöglichen.
24.2 Die ZPO sieht drei verschiedene Rechtsmittel vor: die Berufung4056 , die Revision 4057 und
den Rekurs 4058 . Während sich die Berufung gegen Urteile der ersten Instanz richtet,
richtet sich der Rekurs gegen Beschlüsse4059 und die Revision gegen Urteile der zweiten
Instanz 4060 • Dabei ergehen alle Gerichtsentscheidungen, welche nicht kraft ausdrückli-
cher gesetzlicher Anordnung als Urteile zu fällen sind, als Beschluss. 4061
24.3 Wählt das Erstgericht die falsche Entscheidungsform, beeinflusst dies weder die Zulässig-
keit noch die Behandlung des Rechtsmittels (jalsa demonstratio non nocet). 4062 Vielmehr ist
für die Zulässigkeit und die Behandlung des Rechtsmittels allein maßgeblich, ob die Ent-
scheidung richtigerweise als Urteil oder als Beschluss zu fassen gewesen wäre. Dies ist inso-
fern von Relevanz, als einerseits die Rechtsmittelfrist für einen Rekurs kürzer ist 4063 und
andererseits die Form- und Inhaltserfordernisse einer Berufung strenger sind 4064 •
führen also dazu, dass die Entscheidungsbefugnis im Umfang des erhobenen Rechts-
mittels an das im Instanzenzug übergeordnete Gericht (OG) übergeht. 4067 Dieser
Grundsatz ist für den Rekurs allerdings insofern einzuschränken, als das Erstgericht
4068
in den in § 490 Abs l und 2 ZPO genannten Fällen dem Rekurs selbst stattgeben
kann.
Der fristgerechten Berufung kommt aufschiebende Wirkung zu. 4069 Im Gegensatz dazu 24.5
hemmt die Erhebung eines Rekurses die Vollstreckbarkeit des an~efochtenen Beschlusses
4070 4071 072
grundsätzlich nicht. Gern § 492 Abs 2 ZPO kann das LG allerdings über An-
trag des Rekurswerbers dem Rekurs aufschiebende Wirkung zuerkennen, wenn der Ge-
genpartei kein unverhältnismäßiger Nachteil droht und andernfalls der Zweck des Rekur-
ses vereitelt würde.
Bei der Berufung wie auch dem Rekurs hat der Rechtsmittelgegner grundsätzlich die 24.6
Möglichkeit, in einer Rechtsmittelgegenschrift Stellung zum erhobenen Rechtsmittel zu
4074
nehmen. 4073 Beide Rechtsmittel sind somit grundsätzlich zweiseitig ausgestaltet. 4075
Dies ist nunmehr4076 in Nachvollziehung einer langjährigen Rsp 4077 auch für den Rekurs
explizit im Gesetz (§ 489a ZPO) festgehalten.
24.7 Sowohl die Berufung wie auch der Rekurs sind zudem nur beschränkte Rechtsmittel. Es
können nämlich erstens nur Gerichtsfehler und keine Parteifehler geltend gemacht wer-
den.4078 Zweitens gilt grundsätzlich 4079 das Verbot der reformatio in peius: Das OG kann
also die angefochtene Entscheidung des LG grundsätzlich nicht zum Nachteil des Rechts-
mittelwerbers abändern - es sei denn, der Gegner hat ebenfalls ein Rechtsmittel einge-
legt.4080 Stets zu berücksichtigen ist eine eingetretene Teilrechtskraft der angefochtenen
Entscheidung. 4081 Schließlich sind beide Rechtsmittel auch insofern beschränkt, als nur
bestimmte Rechtsmittelgründe geltend gemacht werden können. 4082
24.8 Nach liechtensteinischem Zivilprozessrecht müssen die Berufung und der Rekurs nie an-
gemeldet werden, sondern sind beide ohne Anmeldung immer statthaft. 4083
II. Berufung
A. Prozessvoraussetzungen der Berufung
1. Statthaftigkeit
24.9 Ein Rechtsmittel ist dann statthaft, wenn die angefochtene Entscheidung erstens über-
haupt und zweitens durch das gewählte Rechtsmittel anfechtbar ist. 4084 Maßgebend ist
dabei nicht die vom Gericht gewählte, sondern die vom Gesetz vorgeschriebene Entschei-
dungsform.4085 Ist die gesetzliche Entscheidungsform unanfechtbar, während die gewähl-
te anfechtbar wäre, so ist das Rechtsmittel nicht statthaft. 4086 Ist umgekehrt die gesetz-
liche Entscheidungsform anfechtbar, während die gewählte dies nicht wäre, so ist das
Rechtsmittel dennoch statthaft.
24.10 Eine falsche Bezeichnung des Rechtsmittels schadet für die Frage der Statthaftigkeit des
Rechtsmittels nicht. 4087 Ist nur die Bezeichnung falsch, sind ansonsten aber alle Voraus-
setzungen des richtigem-eise zu wählenden Rechtsmittels erfüllt, so ist das Rechtsmittel so
4076 Seit der Teilreform der ZPO mit LGBI 2018/207 v 6. 9. 2018.
4077 StGH 1997/3 LES 2000, 57.
4078 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1679; Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht9 Rz 1076.
4079 Das Verbot der reformatio in peius gilt nicht bei der amtswegigen Wahrnehmung von Nich-
tigkeitsgründen, bei Rekursen gegen prozessleitende Beschlüsse (vgl Pochmarski/Lichtenberg,
Beschluss und Rekurs 30) sowie bei einem Revisionsrekurs gegen einen mit einem Rechts-
kraftvorbehalt versehenen Aufhebungsbeschluss des OG (vgl OGH 5 CG.2017.125 LJZ
2018, 51).
4080 Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht 9 Rz 1077.
408 I Rechberger!Simotta, Zivilprozessrecht 9 Rz 1077.
4082 Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht 9 Rz 1076.
4083 §§ 413 f und 434 Abs 2 ZPO; Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1676/ I.
4084 Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht• Rz 1057; A. Kodek in Rechberger/K/icka, ZPO' Vor
§ 461 Rz 6.
4085 Pochmarski/Lichtenberg/Tanczos/Kober, Berufung3 10 mwN; OGH 2 CG.2003.201 LES 2007,
523; 1 CG.2000.318 LES 2003, 296; RIS-Justiz RS0036324.
4086 Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht 9 Rz 1057.
4087 § 84 Abs 2 Satz 2 ZPO; § 431 Abs 2 ZPO.
zu behandeln, wie wenn es richtig bezeichnet worden wäre. 4088 Erfüllt das irrig ergriffene
Rechtsmittel dagegen die notwendigen Form- und Inhaltserfordernisse des eigentlich
statthaften Rechtsmittels nicht, dann muss ein Verbesserungsverfahren gern § 84 Abs 3
ZPO durchgeführt werden. 4089 Hat die Partei aufgrund der fälschlicherweise vom Erst-
gericht gewählten Entscheidungsform die Rechtsmittelfrist versäumt, dann kann sie Wie-
dereinsetzung in den vorigen Stand verlangen. 4090
Eine Berufung ist statthaft gegen sämtliche Urteile der ersten Instanz 4091 , dh des 24.11
LG.4092
Ist gegen die Entscheidung kein Rechtsmittel statthaft, so ist das Rechtsmittel mittels 24.12
Beschlusses als unzulässig zurückzuweisen (.,zu verwerfen"), und zwar in nichtöffentli-
cher Sitzung sowie ohne vorhergehende mündliche Verhandlung. 4093
2. Rechtsmittellegitimation
Zur Erhebung der Berufung sind sowohl die Parteien als auch allfällige Nebeninterve- 24.13
nienten legitimiert. Für letztere gilt dies allerdings nur mit der Einschränkung, dass die
Erhebung der Berufung nicht im Widerspruch zu den Prozesshandlungen der Hauptpar-
tei stehen kann. 4094 Eine Berufung durch den Nebenintervenienten ist daher unzulässig,
wenn die Hauptpartei einen Rechtsmittelverzicht abgegeben hat oder das Rechtsmittel
des Nebenintervenienten zurücknimmt. 4095
Wird eine an sich prozessfremde Partei zB aufgrund einer ungenauen Parteibezeichnung 24.14
zu Unrecht in ein Verfahren einbezogen, so ist diese bis zu ihrem rechtskräftigen Aus-
scheiden aus dem Verfahren ebenfalls legitimiert, Rechtsmittel zu erheben. 4096 Nachdem
die Parteibezeichnung auf ein anderes Rechtssubjekt umgestellt wurde, ist die „Quasi-
Partei" grundsätzlich trotz fehlenden Prozessrechtsverhältnisses zur gegnerischen Partei
legitimiert, die Überprüfung dieser Rechtsansicht zu verlangen. 4097
Erhebt eine Person, welcher keine Rechtsmittellegitimation zukommt, eine Berufung, 24.15
so ist diese mittels Beschlusses als unzulässig zurückzuweisen (.,zu verwerfen") und
zwar in nichtöffentlicher Sitzung sowie ohne vorhergehende mündliche Verhand-
lung.4098
3. Rechtzeitigkeit
24.16 Gern § 434 Abs 1 ZPO beträgt die Frist für die Berufung vier Wochen. Diese Frist ist
nicht erstreckbar4099 und beginnt grundsätzlich mit der Zustellung der schriftlichen
Urteilsausfertigung an die Partei oder, wenn diese vertreten ist, an deren Vertreter4100 .
Dies gilt grundsätzlich selbst dann, wenn das Urteil bereits nach Schluss der Verhandlung
mündlich verkündet wurde. 4101 Nur in Bagatellsachen 4102 - und auch dann nur, wenn
beide Parteien bei der Urteilsverkündung anwesend waren - beginnt die Berufungsfrist
bereits mit der Verkündung zu laufen. 4103 Eine Anmeldung der Berufung ist nach liech-
tensteinischem Zivilprozessrecht nie nötig.
24.17 Gern§ 416a Abs I ZPO muss jedes Urteil eine Rechtsmittelbelehrung enthalten. fehlt
diese, so beginnt die Berufungsfrist nicht zu laufen. Wird unrichtigerweise eine zu kurze
Frist angegeben, so gilt die gesetzliche. Wird dagegen unrichtigerweise eine zu lange Frist
angegeben, so ist die Berufungsfrist bei Einreichung der Berufung während der angege-
benen Frist gewahrt. 4104
24.18 Als Wochenfrist endet die Berufungsfrist mit dem Ablauf desjenigen Tags der letzten
Woche, welcher durch seine Benennung dem Tag entspricht, an dem die Frist begonnen
hat. 4105 Fällt das Ende der Berufungsfrist auf einen Samstag 4106 , Sonntag, Feiertag4107
oder den Karfreitag 4108 , gilt gern § 126 Abs 2 ZPO der nächste Werktag als letzter Tag
der Frist. Demgegenüber werden der Beginn sowie der Lauf der Berufungsfrist durch
Samstage, Sonntage, Feiertage und den Karfreitag nicht gehemmt. 4109 Außer in Ferial-
sachen4110 wird der Lauf der Frist durch die Gerichtsferien 4111 gehemmt. 4112 Bei einer
Zustellung der schriftlichen Urteilsausfertigung vor den Gerichtsferien läuft die Frist zu-
nächst bis zu den Gerichtsferien. Der verbleibende Teil der Frist läuft aber erst nach den
Gerichtsferien weiter. 4113 Wird das Urteil während der Gerichtsferien zugestellt, beginnt
die Berufungsfrist erst nach den Gerichtsferien zu laufen. Der OGH judiziert dabei in
stRsp, dass bei Zustellung in den Gerichtsferien im Sommer (jeweils 15. Juli bis 25. Au-
gust) die Berufungsfrist in Nichtferialsachen jeweils erst am 26. August zu laufen beginnt
und daher am 23. September (und nicht am 22. September) endet. 4114 Dies muss entspre-
chend für die Gerichtsferien im Winter (jeweils vom 24. Dezember bis zum 6. Januar)
gelten, womit die Berufungsfrist in Nichtferialsachen bei Zustellung in den Gerichtsferien
im Winter am 4. Februar endet.
Auch Anträge auf Verfahrenshilfe wirken sich auf die Berechnung der Berufungsfrist 24.19
aus: Beantragt eine Partei während der laufenden Berufungsfrist die Bewilligung der Ver-
fahrenshilfe einschließlich der Beigebung eines Verfahrenshelfers, so wird gern § 73 Abs 2
ZPO die Berufungsfrist grundsätzlich 4115 unterbrochen. Wird dem Antrag stattgegeben,
beginnt die Frist zur Einbringung der Berufung frühestens 4116 mit der Zustellung des
Beschlusses, mit dem der Verfahrenshelfer bestellt wird. Wird der Antrag dagegen abge-
wiesen, beginnt die Frist mit Eintritt der Rechtskraft des abweisenden Beschlusses zu
laufen. Die Frist wird auch dann unterbrochen, wenn die die Verfahrenshilfe beantragen-
de Partei bereits durch einen frei gewählten Rechtsanwalt vertreten war. 4117 Nach der Rsp
gilt das Gesagte auch dann, wenn der Verfahrenshilfeantrag bereits vor Fristbeginn ge-
4118
stellt wurde.
Bei einem Entzug bzw einer Erlöschenserklärung der Verfahrenshilfe wird die Beru- 24.20
fungsfrist mit Zustellung des Beschlusses, in welchem die Verfahrenshilfe für erloschen
erklärt oder entzogen wird, bis zum Eintritt der Rechtskraft dieses Beschlusses unterbro-
chen und beginnt dann von Neuem zu laufen. 4119
Auch im Fall der Berichtigung eines Urteils gern § 419 ZPO beginnt mit der Zustellung 24.21
der berichtigten Entscheidung grundsätzlich eine neue Rechtsmittelfrist gegen das ganze
berichtigte Urteil zu laufen, außer der Rechtsmittelwerber konnte auch ohne Berichti-
gungsbeschluss keinen Zweifel über den wirklichen Inhalt des richterlichen Ausspruchs
haben. 4120
Für die Berechnung der Berufungsfrist für den Nebenintervenienten ist zu differenzie- 24.22
ren, ob dieser bereits im erstinstanzlichen Verfahren beigetreten ist oder erst im Rechts-
mittelverfahren beitritt: In ersterem Fall läuft für den Nebenintervenienten eine eigene
Berufungsfrist ab Zustellung der schriftlichen Urteilsausfertigung an ihn. 4121 In letzterem
Fall ist dem Nebenintervenienten das Urteil zuzustellen, womit für ihn die Rechtsmittel-
frist in Gang gesetzt wird - dies allerdings nur, wenn die Rechtsmittelfrist für die Haupt-
4114 OGH 4 CG.2004.12 LES 2007, 520; 4 CG.2004.12 LES 2006, 489.
4115 Keine Unterbrechung tritt nach der öRsp, welche aufgrund der österr Rezeptionsvorlage von
§ 73 Abs 2 ZPO (vgl BuA 1992/65, 23) auch für Liechtenstein maßgeblich sein dürfte, ein,
wenn der Verfahrenshilfeantrag nicht abgewiesen, sondern als unzulässig zurückgewiesen
wird, vgl Fucik in Rechberger/K/icka, ZPO; § 73 Rz 2.
4116 Erfolgt die Zustellung der schriftlichen Urteilsausfertigung an den Verfahrenshelfer zu einem
späteren Zeitpunkt, läuft die Berufungsfrist erst ab Zustellung der schriftlichen Urteilsausfer-
tigung an diesen.
4117 OGH 2 CG.2014.267 LJZ 2015, 86.
4118 Fucik in Rechberger/K/icka, ZPO' § 73 Rz 2; Pochmarski/Lichtenberg!Tanczos/Kober, Beru-
fung) 14.
4119 § 68 Abs 4 ZPO.
4120 Rechberger/Klicka in Rechberger/K/icka, ZPO' § 419 Rz 8; RIS-Justiz RS004 l 797.
4121 OGH 9 CG.2003.258 LES 2008, 106; Pochmarski/Lichtenberg/Tanczos/Kober, Berufung' 16.
partei, auf deren Seite er beigetreten ist, noch nicht abgelaufen ist. 4122 Wenn auch die
vom Nebenintervenienten unterstützte Partei das Ersturteil mit Berufung bekämpft hat,
ist die Berufung des Nebenintervenienten auch dann rechtswirksam und rechtzeitig,
wenn der Beitritts- und Rechtsmittelschriftsatz dem Prozessgegner erst nach Verstreichen
der Berufungsfrist zugestellt wurde. 4123
24.23 Eine Berufung ist dann als rechtzeitig überreicht anzusehen, wenn sie am letzten Tag der
Frist der Post übergeben wird. 4124 Maßgeblich ist dabei der postamtliche Aufgabever-
merk. Dies bedeutet, dass der Absender also entweder den Brief am Schalter des Postamts
zu dessen Öffnungszeiten abgeben oder die Sendung so rechtzeitig in den Postkasten
einwerfen muss, dass die planmäßige Aushebung des Kastens noch am selben Tag er-
folgt.412s
24.24 Fristwahrend ist auch die Einbringung der Berufung mittels E-Mail, wenn das E-Mail
die Berufungsschrift im PDF-Format als Anlage enthält. 4126 Das Fehlen der Originalun-
terschrift (vgl § 75 Z 3 ZPO) stellt allerdings einen formellen Mangel dar, welcher - nach
Wahl des vorprüfenden Gerichts - durch Einbringung eines ordnungsgemäß unterfer-
tigten Schriftsatzes, welcher mit dem per E-Mail eingebrachten Schriftsatz überein-
stimmt, oder durch Unterfertigung des Ausdrucks der E-Mail-Eingabe verbessert werden
kann.
24.25 Eine verspätete Berufung ist gern § 438 Abs l Satz 2 ZPO grundsätzlich bereits vom
Erstgericht zurückzuweisen. Unterlässt das LG dies, wird die verspätete Berufung durch
das OG mittels Beschluss in nichtöffentlicher Sitzung und ohne vorhergehende münd-
liche Verhandlung verworfen. 4127
4. Beschwer
24.26 Voraussetzung jeder Berufung (wie auch jedes anderen Rechtsmittels) ist eine Beschwer
des Rechtsmittelwerbers, also ein Anfechtungsinteresse. 4128 Dies wird damit begründet,
dass es nicht Sache der Rechtsmittelinstanzen sei, rein theoretische Fragen zu entschei-
den.4129
24.27 Die Beschwer muss sowohl bei Einbringung des Rechtsmittels als auch im Zeitpunkt der
Entscheidung über das Rechtsmittel gegeben sein. 4130 Mangels Vorliegens einer Beschwer
ist die Berufung vom OG mit Beschluss als unzulässig zurückzuweisen (,,zu verwerfen")
und zwar in nichtöffentlicher Sitzung und ohne Durchführung einer mündlichen Beru-
fungsverhandlung.4131 Dies gilt auch für ein ursprünglich zulässiges Rechtsmittel, wenn
die Beschwer nachträglich weggefallen ist. Der nachträgliche Wegfall der Beschwer ist aller-
dings gern § 50 Abs 2 ZPO bei der Entscheidung über die Kosten nicht zu berücksichtigen.
Dies bedeutet, dass bei der Kostenentscheidung der Erfolg des Rechtsmittels hypothetisch
nachzuvollziehen ist, so dass dem Rechtsmittelwerber, dessen Rechtsmittel ohne Wegfall
der Beschwer erfolgreich gewesen wäre, auch die Kosten zuzusprechen sind. 4132
4133
Ausgangspunkt jeder Beschwerprüfung ist die formelle Beschwer. Als formell be- 24.28
schwert gilt ein Rechtsmittelwerber dann, wenn die Entscheidung von dem ihr zugrun-
deliegenden Sachantrag des Rechtsmittelwerbers zu dessen Nachteil abweicht. 4134 Dabei
ist allein der Vergleich zwischen dem Spruch der Entscheidung und dem Antrag bzw
Gegenantrag, über den entschieden wurde, maßgeblich. 4135 Wenn dem Antrag des
Rechtsmittelwerbers im Spruch der Entscheidung voll stattgegeben wurde, kann aus
der Begründung der Entscheidung durch das Erstgericht (zB Stattgebung der Klage mit
anderen rechtlichen Erwägungen als vom Kläger angestrebt) von Ausnahmefällen abge-
sehen keine ausreichende Beschwer abgeleitet werden. 4136
Beim Beklagten ist zu prüfen, ob sein Gegenantrag auf Zurückweisung aus prozessualen 24.29
Gründen oder auf Sachabweisung der Klage lautet. 4137 Der Beklagte ist daher auch dann
beschwert, wenn die Klage zurück- statt abgewiesen wurde (es sei denn, die Zurückwei-
sung erfolgte aus einem Grund, der der neuerlichen Einbringung einer gleichlautenden
Klage entgegensteht) oder wenn die Klage nur wegen der als zu Recht bestehend erkann-
ten Gegenforderung abgewiesen wird, nachdem der Beklagte primär das Bestehen der
Klagsforderung bekämpfte und nur eventualiter eine Gegenforderung einwendete. 4138
Von der formellen Beschwer unterscheiden Lehre und Rsp die materielle Beschwer. Ein 24.30
Rechtsmittelwerber ist materiell beschwert, wenn seine (materielle oder prozessuale)
Rechtsstellung durch die Entscheidung beeinträchtigt wird, diese also für ihn ungünstig
ausfallt. 4139 Eine materielle Beschwer des Rechtsmittelwerbers wird ausnahmsweise als
ausreichend anerkannt (i) bei Fehlen eines Sachantrags, mit welchem die Entscheidung
verglichen werden könnte, (ii) bei Aufhebungsbeschlüssen des Berufungsgerichts 4140 und
(iii) bei Zwischenurteilen über den Grund des Anspruchs 4141 . 4142 Im Rahmen der Beur-
teilung der Beschwer eines Berufungswerbers ist dabei nur der letzte Punkt relevant, weil
bei einem erstinstanzlichen Urteil immer ein Sachantrag vorliegt, mit welchem dieses
verglichen werden kann (Klagebegehren, Antrag auf gänzliche oder teilweise Klagsabwei-
sung oder auf Klagszurückweisung).
24.31 Abgesehen von den soeben dargestellten Ausnahmen wird für die Zulässigkeit eines
Rechtsmittels grundsätzlich eine formelle Beschwer des Rechtsmittelwerbers gefor-
dert.4143 Selbst bei Vorliegen einer formellen Beschwer ist das Rechtsmittel jedoch zu-
rückzuweisen, wenn die Rechtsstellung des Rechtsmittelwerbers durch die Entscheidung
nicht beeinträchtigt wird. 4144
24.32 Ist eine Berufung mangels Beschwer unzulässig und daher zurückzuweisen, können vom
OG auch keine Nichtigkeitsgründe wahrgenommen werden. 4145
Die liechtensteinischen Gerichte haben bislang nach der Erstattung eines Rechtsmittel- 24.38
schriftsatzes oder einer Rechtsmittelgegenschrift innerhalb der Rechtsmittelfrist einge-
brachte weitere Schriftsätze gestützt auf den Grundsatz der Einmaligkeit des Rechtsmit-
tels stets ohne materielle Behandlung als unzulässig zurückgewiesen. 4162
Trotz der per 1. 1. 2019 erfolgten Einführung der Verbesserungsmöglichkeit eines In- 24.39
haltsmangels 4163 ist nicht damit zu rechnen, dass die liechtensteinischen Gerichte prinzi-
piell vom Grundsatz der Einmaligkeit des Rechtsmittels abgehen werden. Vielmehr ist
davon auszugehen, dass ein zweiter Schriftsatz in Anlehnung an die öRsp nur dann mög-
lich ist, wenn die ursprüngliche Rechtsmittelschrift an einem den Verbesserungsvor-
schriften unterliegenden Mangel gelitten hat. 4164
beantwortung vorliegen".
4165 § 435 Abs I ZPO.
rerseits die Bezeichnung des Urteils, gegen welches Berufung erhoben wird,4166 ent-
halten.4167
24.41 Gern § 75 Z l ZPO muss die Berufungsschrift - wie alle Schriftsätze - die Bezeichnung
des Gerichts, an das sich die Berufung richtet (in concreto das LG) 4168 , die Bezeichnung
der Parteien und deren Vertreter sowie die Bezeichnung des Streitgegenstands enthalten.
Bei bloß teilweiser Anfechtung ist sinnvollerweise das Berufungsinteresse anzugeben. 4169
Ferner müssen gern § 75 Z 2 ZPO die Beilagen bezeichnet werden und schließlich wird
gern § 75 Z 3 ZPO die Unterzeichnung der Berufung durch den Berufungswerber oder
seinen Vertreter vorausgesetzt.
24.42 Eine unrichtige Bezeichnung des Rechtsmittels ist unerheblich, sofern nur das Begeh-
ren deutlich erkennbar ist. 4170
24.43 Hält die Berufung diese Formerfordernisse nicht ein und sind die Formgebrechen ge-
eignet, eine ordnungsgemäße geschäftliche Behandlung der Berufung zu hindern, so
hat das Gericht von Amts wegen ein Verbesserungsverfahren gern §§ 84f ZPO einzu-
leiten.4171 Bleibt das Verbesserungsverfahren erfolglos, so führt der Formmangel zur Zu-
rückweisung (Verwerfung) der Berufung durch das OG in nichtöffentlicher Sitzung
und ohne Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung. 4172
24.45 Die Berufungserklärung darf keinen Zweifel über den Umfang der Anfechtung belassen,
4174
weil der nicht angefochtene Teil der Entscheidung in Rechtskraft erwächst. Dabei
sollte die Berufungserklärung mit dem Berufungsantrag übereinstimmen. Bei Divergenz
4175
ist der Berufungsantrag maßgeblich. Fehlt die Berufungserklärung oder ist diese un-
4176
bestimmt, so darf deswegen keine Zurückweisung der Berufung erfolgen. Im Zweifel
4166 Wird in der Berufung gleichzeitig auch ein Beschluss bekämpft, ist auch dieser zu bezeichnen.
4167 § 437 Abs 1 Z 1 ZPO.
4168 § 435 Abs 1 ZPO.
4169 Brugger, Berufung1 Rz 55.
4170 § 84 Abs 2 und § 431 Abs 2 ZPO.
4171 Pochmarski!Lichtenberg/Tanczos/Kober, Berufung·' 29.
4172 Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht 9 Rz 1071; § 441 Z 2 iVm § 443 Abs I iVm § 444 Abs 1
ZPO.
4173 § 437 Abs I Z 2 ZPO.
4174 Pochmarski!Lichtenberg/Tanczos/Kober, Berufung3 37.
4175 OGH 4 CG.2013.445 LJZ 2015, 87; RIS-Justiz RS0041772.
4176 Da in § 441 Z 2 ZPO nur der Berufungsantrag und die Berufungsgründe genannt sind, vgl
auch Pochmarski!Lichtenberg/Tanczos/Kober, Berufung3 40.
gilt bei einer unbestimmten Berufungserklärung das erstinstanzliche Urteil als zur Gänze
angefochten. 4177
Die ZPO zählt die Berufungsgründe nicht im Einzelnen auf. In der Praxis werden aber 24.46
folgende Berufungsgründe anerkannt: Nichtigkeitsgründe, sonstige Verfahrensmängel,
Aktenwidrigkeit, unrichtige Sachverhaltsfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdi-
gung und unrichtige rechtliche Beurteilung. 4178 In Bagatellsachen 4179 kann die Berufung
nur wegen der in § 472 ZPO genannten Revisionsgründe ergriffen werden. 4180 Die Er-
hebung einer Beweisrüge scheidet damit in Bagatellsachen aus.
Die Berufungsgründe sind einzeln und getrennt auszuführen, 4181 andernfalls sind die 24.47
Berufungsausführungen nur beachtlich, wenn sie sich eindeutig einem bestimmten Be-
rufungsgrund zuordnen lassen. 4182 Eine falsche Bezeichnung des Berufungsgrunds scha-
det dagegen nicht. 4183 Das OG ist grundsätzlich an die geltend gemachten Berufungs-
gründe gebunden. 4184 Nur Nichtigkeitsgründe sind - bei einer formell zulässigen Beru-
fung - von Amts wegen wahrzunehmen. 4185
Der Berufungsantrag kann entweder ein Aufhebungs- oder ein Abänderungsantrag sein. 24.48
Dies hängt von den geltend gemachten Berufungsgründen ab. 4186 Bei einem Leistungs-
urteil muss der Abänderungsantrag ziffernmäßig bestimmt sein. 4187 Das OG ist an den
Berufungsantrag gebunden und darf weder qualitativ noch quantitativ über den Beru-
fungsantrag hinausgehen. 4188
Nach der Rsp inkludiert ein Abänderungsantrag immer auch einen Aufbebungsan- 24.49
trag. 4189 Umgekehrt ist dies prinzipiell nicht der Fall, es sei denn, nach dem Inhalt der
Berufung bestünde kein Zweifel, welche Abänderung erfolgen soll. 4190
Fehlt der Berufungsantrag oder ist er nicht eindeutig, hat das Berufungsgericht ein Ver- 24.50
besserungsverfahren durchzuführen. Bleibt das Verbesserungsverfahren erfolglos, führt
das vollständige Fehlen zur Zurückweisung der Berufung (,,Verwerfung") durch das
OG in nichtöffentlicher Sitzung. 4191
24.51 Begehrt der Berufungswerber (oder der Berufungsgegner) die Durchführung einer
mündlichen Berufungsverhandlung, so muss er die Anberaumung einer mündlichen
Berufungsverhandlung ausdrück.lieh beantragen. Ansonsten wird davon ausgegangen,
dass die Parteien auf die Anordnung einer Tagsatzung für die mündliche Berufungsver-
handlung verzichtet haben. 4192
24.52 In der Berufung können grundsätzlich auch neue Angriffs- und Verteidigungsmittel so-
wie neue Tatsachen und Beweismittel vorgebracht werden. Diese Neuerungserlaubnis ist
allerdings beschränkt. 4193 Insb kann das OG das neue Vorbringen auf Antrag oder von
Amts wegen zurückweisen, wenn es schuldhaft nicht bereits im erstinstanzlichen Ver-
fahren vorgebracht worden ist. 4194 Zudem sind Noven generell unzulässig bei Berufungen
.. .
gegen V ersaummsurte1 ·1 e. 4195
D. Berufungsgründe im Einzelnen
1. Nichtigkeitsgründe
24.53 Nichtigkeitsgründe iSd ZPO sind schwerwiegende Verfahrensfehler, die ohne Rücksicht
darauf, ob sie auf die Richtigkeit der Entscheidung einen Einfluss haben, von Amts
wegen wahrzunehmen 4196 sind. 4197 Dies gilt allerdings nur, wenn ein zulässiges Rechts-
mittel in der Hauptsache vorliegt. 4198 Ist dagegen das Rechtsmittel in der Hauptsache
unzulässig (zB verspätet) oder wird nur ein Nebenpunkt angefochten (zB die erstinstanz-
liche Kostenentscheidung), kann das OG allfällige Nichtigkeitsgründe nicht amtswegig
wahrnehmen. 4199
24.54 Verneint das OG das Bestehen eines Nichtigkeitsgrunds und verwirft es die Nichtigkeits-
berufung mit Beschluss, kann dies beim OGH nicht mehr gerügt werden 4 200, es sei denn,
die Begründung des OG ist aktenwidrig oder rechtlich unhaltbar. 4201 Wird aber ein die
Nichtigkeit begründender Umstand weder vom Berufungswerber geltend gemacht noch
amtswegig vom OG aufgegriffen, so kann dieser Umstand auch noch mit der Revision
geltend gemacht werden, weil dann die Nichtigkeit erster Instanz auf das Verfahren zwei-
ter Instanz durchschlägt. 4202
4192 § 449 Abs 2 Satz 2 ZPO; eingeführt durch die ZPO-Nov LGBl 2018/207.
4193 Zu den einzelnen Schranken im Detail s Kapitel „Berufungs- und Rekursverfahren"
Rz 25.16ff.
4194 § 452 Abs 3 ZPO; eingeführt durch die ZPO-Nov LGBl 2018/207.
4195 OGH 5 C 269/77 LES 1981, 140; 5 C 97/82 LES 1984, 84.
4196 Nach der Rsp des StGH kann nach einer langen Verfahrensdauer eine Nichtigkeit (fehlende
Prozesslegitimation, fehlende Parteifähigkeit und Unzulässigkeit des Rechtswegs) nicht mehr
wahrgenommen werden, weil dies mit dem Verbot des überspitzten Formalismus bzw dem
Grundsatz von Treu und Glauben und damit dem Willkürverbot unvereinbar wäre (StGH
2007/084; StGH 2010/089).
4197 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1753; Pochmarski/Lichtenberg/Tanczos/Kober, Berufung·' 49.
4198 Pochmarski/Lichtenberg/Tanczos/Kober, BerufungJ 49.
4199 OGH 1 CG.2005.171 LES 2007, 280; Pochmarski/Lichtenberg/Tanczos/Kober, Berufung' 49.
4200 OGH 8 CG.2015.380 LJZ 2017, 46; 10 CG.2009.203 LES 2010, 385; A. Kodek in Rechbergerl
Klicka, ZPO' § 503 Rz 2.
4201 Schumacher, LJZ 2015, 81.
4202 Brugger, Berufung2 Rz 120.
§446 Abs 1 ZPO enthält eine nicht taxative 4203 Auflistung von Nichtigkeitsgründen.
Demnach ist das angefochtene Urteil nichtig:
• wenn ein kraft Gesetzes ausgeschlossener Richter an der Entscheidung teilnahm.
Dieser Nichtigkeitsgrund ist nicht nur gegeben, wenn der entscheidende Landrichter
gern Art 56 GOG ausgeschlossen ist, sondern auch dann, wenn dieser erfolgreich nach
Art 57 GOG abgelehnt wurde. Ein zu einem früheren Zeitpunkt nicht bekannter 4204
Ablehnungsgrund kann auch noch in der Berufung geltend gemacht werden. 4205 Dies-
falls unterbricht das OG das Berufungsverfahren, bis rechtskräftig über den Ableh-
nungsantrag entschieden wurde.
• wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war.
Von praktischer Relevanz ist dieser Nichtigkeitsgrund insb bei einer von einem Rechts-
pfleger getroffenen Entscheidung, die nach dem Gesetz in die Zuständigkeit des Rich-
ters fällt. 4206 Die weiteren, von der öLehre und Judikatur diesem Nichtigkeitsgrund
zugeordneten Fälle 4207 sind in Liechtenstein jedenfalls für das Berufungsverfahren
nicht von praktischer Relevanz, weil die Landrichter in zivilprozessualen Streitigkeiten
immer als Einzelrichter entscheiden 4208 und - mit Ausnahme der Untersuchungs- und
Rechtshilferichter - sämtliche Richter auch für streitige Zivilverfahren zuständig
sind. 4209 Im Unterschied zur öZPO 4210 sieht die liechtensteinische ZPO aber keine
Heilung von Besetzungsmängeln vor, wenn sich beide Parteien in die Verhandlung
eingelassen haben, ohne den Mangel zu rügen.
• wenn das Gericht auch nicht durch ausdrückliche Vereinbarung der Parteien für diese
Rechtssache zuständig gemacht werden konnte.
Dieser Nichtigkeitsgrund ist verwirklicht, wenn die Rechtssache der inländischen Ge-
richtsbarkeit entzogen ist. Voraussetzung für den Ausspruch der Unzuständigkeit und
der Nichtigerklärung des vorangegangenen Verfahrens ist allerdings, dass noch keine
rechtskräftige gegenteilige Entscheidung vorliegt 4211 sowie - sofern es sich nicht um
eine unprorogable Unzuständigkeit handelt - die rechtzeitige Rüge der Unzuständig-
keit durch den Beklagten. 4212
Ferner ist dieser Nichtigkeitsgrund bei Überschreiten der funktionellen Zuständigkeit
verwirklicht. 4213
• wenn einer Partei die Möglichkeit, vor Gericht zu verhandeln, durch ungesetzlichen
Vorgang entzogen wurde.
Dieser Nichtigkeitsgrund schützt den Anspruch der Parteien auf rechtliches Ge-
hör.4214 Dabei wird für die Annahme der Nichtigkeit vorausgesetzt, dass (1) ein un-
gesetzlicher Vorgang, der (2) einer Partei (3) die Möglichkeit nimmt, (4) vor Gericht
zu verhandeln, vorliegt. 4215 Der Nichtigkeitsgrund ist aber nicht nur dann verwirk-
licht, wenn einer Partei die Möglichkeit, sich im Verfahren zu äußern, überhaupt
genommen wird, sondern auch dann, wenn einer gerichtlichen Entscheidung Tatsa-
chen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen sich die Beteiligten
nicht äußern konnten. 4216 Der Nichtigkeitsgrund wurde in der Rsp ua bei einem
Versäumnisurteil trotz gesetzwidriger oder fehlender Zustellung4217 , bei fehlender
Zweiseitigkeit des Rechtsmittelverfahrens 4218 sowie bei der Nichtgewährung der Mög-
lichkeit, sich zu einem Gutachten zu äußern 4219 , angenommen. Ebenfalls bejaht wird
der Nichtigkeitsgrund, wenn eine zwingend vorgesehene mündliche Verhandlung 4220
nicht stattfindet. 4221
• wenn eine Partei gar nicht oder, falls sie eines gesetzlichen Vertreters bedarf, nicht
durch einen solchen vertreten war (unter dem Vorbehalt der nachträglichen Geneh-
migung4222).
Unter diesen Nichtigkeitsfrund zu subsumieren sind ua Vollmachtsmangel des ein-
422
schreitenden Vertreters ; Unterlassung der Bestellung eines Kollisionskurators trotz
Notwendigkeit dazu, Prozessführung durch eine prozessunfähige Partei ohne Vertre-
ter; Prozessführung durch den Gemeinschuldner trotz Konkurseröffnung 422 4; Prozess-
führung durch den Masseverwalter über einen nicht zur Masse gehörenden An-
spruch.4225
• wenn über eine nicht auf den Rechtsweg gehörige Sache erkannt wurde.
Der Rechtsweg ist unzulässig, wenn (i) richtigerweise der Verwaltungsrechtsweg zu
beschreiten gewesen wäre, wenn (ii) ein Sondergericht zu entscheiden gehabt hätte
und wenn (iii) die Rechtssache im außerstreitigen Verfahren zu behandeln gewesen
wäre. 4226 Der letzte Fall dürfte an praktischer Bedeutung verlieren, nachdem das Erst-
gericht bei Zweifeln über das anwendbare Verfahren nunmehr einen selbstständig an-
fechtbaren Beschluss zu fällen hat 4227 und gern § 24 Abs 3 iVm Abs 4 JN die Unzu-
ständigkeit des Außerstreitrichters und die Nichtigkeit des vorangegangen Verfahrens
nicht ausgesprochen werden können, wenn dem eine - auch in einem anderen Ver-
fahren ergangene 4228 - noch bindende Entscheidung desselben Gerichts oder eines
anderen Gerichts entgegensteht.
Eine Schiedsvereinbarung begründet nicht die Unzulässigkeit des Rechtswegs, sondern
bloß die heilbare sachliche Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts. Weist das Ge-
richt die Klage nicht von Amts wegen in limine litis zurück, kann die Unzulässigkeit
des ordentlichen Rechtswegs als Prozessvoraussetzung nur mehr über Einrede des Geg-
ners, welche dieser noch vor Sacheinlassung erheben muss, wahrgenommen wer-
den.4229
• wenn die Öffentlichkeit in ungerechtfertigter Weise ausgeschlossen wurde
Dieser Nichtigkeitsgrund ist verwirklicht, wenn die Öffentlichkeit ausgeschlossen ¼'Ur-
de, ohne dass die in § 172 ZPO statuierten Voraussetzungen dafür vorliegen. Die un-
gerechtfertigte Zulassung der Öffentlichkeit stellt dagegen einen bloßen Verfahrens-
mangel dar. 4230
• wenn die Parteien oder deren Vertreter der Vorschrift des§ 210 Abs 2 ZPO zuwider
von ihnen abgefasste Entwürfe zu Verhandlungsprotokollen zu den Akten gebracht
haben.
Gern § 210 Abs 2 Satz 2 ZPO dürfen Entwürfe zu Verhandlungsprotokollen nicht
entgegengenommen werden. Allerdings bewirkt nicht jeder Verstoß gegen die Proto-
kollierungsvorschriften die Nichtigkeit. 4231 So sieht das Gesetz zT selbst vor, dass
gewisse von einer Partei verfasste Niederschriften dem Protokoll angeschlossen wer-
den dürfen. 4232 Von einer Nichtigkeit auszugehen ist nur, wenn die Grundsätze der
Mündlichkeit und Unmittelbarkeit des Verfahrens durch den Verstoß beeinträchtigt
werden. 4233
• wenn die Fassung des Urteils so mangelhaft ist, dass dessen Überprüfung nicht mit
Sicherheit vorgenommen werden kann, wenn das Urteil mit sich selbst in Wider-
spruch ist oder für die Entscheidung keine Gründe angegeben sind und diesen Män-
geln durch eine vom Berufungsgericht angeordnete Berichtigung des Urteils (§ 419
ZPO) nicht abgeholfen werden kann.
Der letzte in § 446 ZPO vorgesehene Nichtigkeitsgrund enthält drei verschiedene Tat-
bestände: Zunächst ist dieser Nichtigkeitsgrund verwirklicht, wenn das Urteil so man-
gelhaft gefasst ist, dass es nicht mit Sicherheit überprüft werden kann, dh wenn kon-
krete Gründe überhaupt fehlen und nur all§emeine Wendungen gebraucht werden,
somit bloß eine Scheinbegründung vorliegt. 42 4 Zweitens ist das Urteil gern§ 446 Abs 1
Z 9 ZPO nichtig, wenn der Spruch des Urteils mit sich selbst in Widerspruch ist, wenn
also die einzelnen Teile des Spruchs einander logisch ausschließen. 4235 Und schließlich
ist das Urteil gern § 446 Abs l Z 9 ZPO nichtig, wenn im Urteil überhaupt keine Grün-
de angegeben sind. 4236 Fehlen für einen Spruchpunkt jegliche Gründe und besteht ein
untrennbarer Zusammenhang zwischen den einzelnen Spruchpunkten, führt dies zur
Nichtigkeit der gesamten Entscheidung. 4237
24.56 Wie bereits ausgeführt ist die Aufzählung der Nichtigkeitsgründe in § 446 Abs l ZPO nur
demonstrativ. Die Rsp hat daneben weiters als Nichtigkeitsgrund anerkannt: die Verwei-
gerung des Beschwerderechts4238 , den Verstoß fegen die Bindungswirkung einer Vorent-
scheidung4239, den Mangel der Parteifähigkeit4 40 sowie die Entscheidung über ein zuvor
unter Anspruchsverzicht zurückgenommenes Klagebegehren 4241 . Als Nichtigkeitsgrund
gelten zudem der Verstoß gegen die res iudicata 4242 sowie die Missachtung der Streit-
anhängigkeit4243_4244
24.57 Der Berufungsantrag ist bei der Geltendmachung eines Nichtigkeitsgrunds immer ein
Aufhebungsantrag. -ms
2. Verfahrensmängel
24.58 Im Unterschied zu den Nichtigkeitsgründen sind sonstige Verfahrensmängel nur wahr-
zunehmen, wenn sie ausdrücklich geltend gemacht werden. 4246 Sie sind also nicht von
Amts wegen wahrzunehmen. 4247 Außerdem muss ein sonstiger Verfahrensmangel im
Unterschied zu den Nichtigkeitsgründen wesentlich sein, also abstrakt geeignet sein,
die Unrichtigkeit der Entscheidung herbeizuführen. 4248 Ist dies nicht der Fall, liegt
der Berufungsgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens nicht vor. Der Berufungswer-
ber muss daher in der Berufung grundsätzlich die abstrakte Eignung des Verfahrens-
mangels dartun, wenn diese nicht offenkundig ist. Ma W muss der Berufungswerber
grundsätzlich die Kausalität idS darlegen, dass die Auswirkungen des Verfahrensman-
gels auf die Entscheidung in der Hauptsache zum Nachteil des Berufungswerbers dar-
gestellt werden. 4249 Dies gilt allerdings nicht bei Begründungsmängeln: Im Hinblick auf
diese ist davon auszugehen, dass sie von vornherein wesentlich sind, wenn dadurch die
Überprüfung der rechtlichen Überlegungen des Erstgerichts unmöglich ist. Die Kausa-
lität könnte ja nicht bescheinigt werden, da der Berufungswerber (Revisionswerber)
mangels Begründung gar nicht in der Lage ist, auf eine rechtliche Beurteilung Bezug zu
4250
nehmen.
Ein Verfahrensmangel kann zudem nur durch einen Gerichtsfehler, nicht dagegen durch 24.59
einen ausschließlichen Fehler einer Partei begründet werden. 4251 Ein Parteifehler kann
allerdings zugleich einen Gerichtsfehler darstellen, zB wenn das Gericht seine Anleitungs-
pflicht gern § 182 ZPO verletzt hat. 4252
Wurde ein Verfahrensmangel des erstinstanzlichen Verfahrens in der Berufung nicht 24.60
geltend gemacht, dann kann dieser auch in der Revision nicht mehr bekämpft werden.
Eine vom OG verneinte Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens kann grund-
sätzlich auch nicht mehr als Revisionsgrund geltend gemacht werden. Dies gilt nur
dann nicht, wenn das OG infolge unrichtiger Anwendung verfahrensrechtlicher Vor-
schriften eine Erledigung der bereits in der Berufung erhobenen Mängelrüge unterlässt
oder infolge einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung die Mängelrüge nicht wahr-
nimmt oder sie mit einer durch die Aktenlage nicht gedeckten Begründung verworfen
hat.4253
An die Einteilung von Delle-Karth 4254 anknüpfend ist zwischen Formalfehlern des Ver- 24.61
fahrens, Formalfehlern des Urteils und Stoffsammlungsmängeln zu unterscheiden:
c) Stoffsammlungsmängel
24.64 Stoffsammlungsmängel sind jene Fehler des Verfahrens, die eine unvollständige Sach-
grundlage der Entscheidung zur Folge haben. Es geht somit um jene Gerichtsfehler wäh-
rend des Verfahrens, welche sich auf die Feststellungen oder die Beweiswürdigung aus-
wirken, ohne dass damit gegen eine ausdrückliche prozessuale Vorschrift verstoßen wür-
de.4266 Zu den Stoffsammlungsmängeln zählen bspw die unrichtige Nichtzulassung von
Beweisen 4267 , die unzutreffende Präklusion von Beweisen 4268 , die Verletzung der Prozess-
leitungspflicht4269, die Unterlassung der Erörterung einer die Parteien überraschenden
Rechtsansicht 4270 sowie die unzulässige Zurückweisung von Fragen an Zeugen und Par-
teien 4271 _4272
Weil das OG gern§ 465 Abs 3 ZPO die Möglichkeit hat, das Verfahren selbst zu ergänzen 24.65
und dann meritorisch zu entscheiden, ist primär ein Abänderungs- und erst subsidiär
ein Aufhebungsantrag zu stellen. 4273
3. Aktenwidrigkeit
Mit dem Berufungsgrund der Aktenwidrigkeit können Tatsachenfeststellungen des LG 24.66
bekämpft werden, die mit dem Akteninhalt in Widerspruch stehen (idR „Zitierfeh-
ler").4274 Der Berufungsgrund der Aktenwidrigkeit setzt entweder einen Übertragungs-
irrtum oder einen bewussten Übertragungswiderspruch voraus, wobei beides aus den
Akten erkennbar sein muss. 4275 Die bekämpfte Tatsachenfeststellung muss also auf einem
4276
bei der Darstellung der Beweisergebnisse unterlaufenen Irrtum beruhen. Eine Akten-
widrigkeit besteht daher ausschließlich in einem Widerspruch zwischen dem Inhalt ei-
nes bestimmten Aktenstücks und dessen Wiedergabe durch das LG. 4277 Hat das Erst-
gericht die Tatsachenfeststellung aufgrund von Schlussfolgerungen oder einer wertenden
Betrachtung von verschiedenen Beweisergebnissen gewonnen, ist der Berufungsgrund
der Aktenwidrigkeit nie gegeben. 4278
Eine Feststellung des LG ist somit nur dann aktenwidrig, wenn dafür überhaupt keine 24.67
beweismäßige Grundlage besteht, 4279 nicht aber schon dann, wenn die Feststellung ir-
gendeinem Beweismittel widerspricht 4280 oder das LG nach Ansicht des Berufungswer-
bers das Beweismittel, auf welches das LG die Feststellung stützt, zu Unrecht herange-
zogen hat 4281 . Die Nichtbeachtung von Verfahrensergebnissen kann nie eine Aktenwid-
rigkeit begründen. 4282 Ebenso wenig begründet die unrichtige Wiedergabe von Parteien-
b eh auptungen eme. Ak tenw1'd ng
. k e1t.
. 4283
Selbst wenn aber ein Widerspruch zwischen einer Tatsachenfeststellung und dem zu ih- 24.68
rer Begründung angeführten Beweismittel vorliegt, ist der Berufungsgrund der Akten-
widrigkeit nur verwirklicht, wenn die davon angeblich betroffenen Tatfragen auch ent-
scheidungswesentlich sind. 4284 Die gesetzesgemäße Ausführung der Aktenwidrigkeit er-
fordert daher - neben der Angabe der bekämpften Feststellung und der begehrten Ersatz-
feststellung sowie der Darlegung des Widerspruchs zwischen der bekämpften Feststellung
und dem Akteninhalt - auch die Darlegung der Relevanz für die Entscheidung. 4285
sichtlich der Erledigung der Beweisrüge durch das Berufungsgericht ist nur dann anzu-
nehmen, wenn sich das Berufungsgericht mit der Beweisrüge überhaupt nicht befasst
oder hierzu in der Berufungsentscheidung keine nachvollziehbaren Überlegungen anstellt
bzw festhält. 4296
Der Berufungsantrag ist bei einer Beweisrüge immer ein Abänderungsantrag. 4297 24.76
dings nicht vor, wenn eine entsprechende Behauptung vom Berufungswerber im erstin-
stanzlichen Verfahren gar nicht aufgestellt wurde. 4305 Von einem sekundären Feststel-
lungsmangel ist dagegen auch dann auszugehen, wenn einander widersprechende Fest-
stellungen des LG vorliegen, die letztlich dazu führen, dass keine für die rechtliche Sub-
sumtion taugliche Sachverhaltsgrundlage gegeben ist. 4306
24.80 Eine gesetzesgemäße Ausführung der Rechtsrüge bedingt, dass von dem vom LG fest-
gestellten Sachverhalt ausgegangen wird. 4307 Zudem muss konkret dargelegt werden,
aus welchen Gründen die rechtliche Beurteilung der Sache durch das LG unrichtig er-
scheint. Das bloße Aufstellen einer Behauptung genügt ebenso wenig wie das Vorbrin-
gen, der geltend gemachte Anspruch bestehe (nicht) zu Recht. 4308
24.81 Werden diese Erfordernisse eingehalten, hat das OG grundsätzlich 4309 die rechtliche
Qualifikation der Sache nach jeder Richtung hin zu überprüfen und ist nicht an die
Rechtsansicht des Berufungswerbers gebunden. 4310 Auch sekundäre Feststellungsmängel
sind bei Vorliegen einer gesetzmäßig ausgeführten Rechtsrüge von Amts wegen wahrzu-
nehmen.4311
24.82 Wird die Rechtsrüge im Berufungsverfahren nicht oder nicht gesetzmäßig ausgeführt,
kann die rechtliche Beurteilung auch im Revisionsverfahren nicht mehr bekämpft wer-
den, es sei denn, der Sachverhalt hat infolge einer vom OG durchgeführten Beweis-
wiederholung oder Beweisergänzung eine nicht unbedeutende Veränderung erfah-
ren.4312
24.83 Der Berufungsantrag ist bei einer Rechtsrüge primär ein Abänderungsantrag und subsi-
diär ein Aufhebungsantrag. 4313
III. Rekurs
A. Prozessvoraussetzungen des Rekurses
1. Statthaftigkeit
Ein Rekurs ist statthaft, wenn ein erstinstanzlicher oder ein vom OG im Berufungsver- 24.84
fahren gefällter 4314 Beschluss4315 vorliegt und dieser anfechtbar ist. 4316 Gern § 483 Abs l
ZPO ist ein Beschluss immer mittels Rekurses anfechtbar, außer wenn das Gesetz die
Anfechtung explizit ausschließt. Ein Rechtsmittelausschluss ist dabei nicht ausdehnend
auszulegen, vielmehr ist im Zweifel von der Zulässigkeit eines Rekurses auszugehen. 4317
Neben den Fällen, in welchen die Ergreifung eines Rechtsmittels gegen eine bestimmte 24.85
4318
Art von erstinstanzlichen Beschlüssen vom Gesetz gänzlich ausgeschlossen wird, gibt
es auch Fälle, in welchen das Gesetz nur die selbstständige Anfechtung eines Beschlusses
ausschließt (sog aufgeschobene Rekurse) 4319 . 4320 Solche Beschlüsse können mit der
4321
nächstfolgenden, selbstständig anfechtbaren Entscheidung angefochten werden. Al-
ternativ können die Parteien mit der Bekämpfung eines solchen Beschlusses aber auch
bis zum Rechtsmittel gegen die Endentscheidung zuwarten. 4322 Wird aufgrund des Ab-
schlusses der Hauptsache keine weitere anfechtbare Entscheidung mehr ergehen, kann
4323
ein aufgeschobener Rekurs selbstständig überreicht werden.
24.86 In Bagatellsachen ist ein Rekurs gegen einen erstinstanzlichen Beschluss nur in den in
§ 485 Abs 1 ZPO aufgeführten Fällen möglich.
24.87 Gegen die im Berufungsverfahren ergangenen Beschlüsse des OG ist ein Rekurs gern
§ 487 ZPO nur statthaft, wenn (i) das OG mit dem Beschluss die Berufung zurückge-
wiesen hat, wenn (ii) die Nichtigkeit des erstrichterlichen Urteils und die Zurückweisung
der Klage vom Berufungsgericht durch Beschluss ausgesprochen wurde oder wenn (iii)
das OG das erstinstanzliche Urteil aufgehoben sowie die Rechtssache an das LG zurück-
verwiesen und diesen Beschluss mit einem Rechtskraftvorbehalt versehen hat.
24.88 Ist ein Rekurs nicht statthaft, weil der angefochtene erstinstanzliche Beschluss überhaupt
nicht oder nicht selbstständig anfechtbar ist, so ist dieser vom LG gern § 491 ZPO zu-
4324
rückzuweisen. Unterlässt das LG dies, ist der Rekurs vom OG zu verwerfen.
2. Rechtsmittellegitimation
24.89 Als Rekursberechtigte kommen nicht nur Parteien und Nebenintervenienten, sondern
auch sonstige „Beteiligte" in Frage. 4325 So sind bei Beschlüssen in Zwischenstreitigkeiten
und bei Entscheidungen über Kosten und Gebühren auch Personen mit parteigleicher
Stellung berechtigt, einen Rekurs zu erheben. 4326 Parteigleiche Stellung haben alle Perso-
nen, denen ein Antragsrecht zusteht, denen ein Handlungs- oder Leistungsbefehl erteilt
wird oder denen ein gesetzlicher Anspruch gewährt wird. 4327 Bspw sind Zeugen und
Sachverständige bezüglich der über ihre Rechte und Pflichten absprechenden Beschlüsse
rechtsmittellegitimiert. 4328
24.90 Erhebt eine Person, der keine Rechtsmittellegitimation zukommt, einen Rekurs, ist dieser
als unzulässig zurückzuweisen.
3. Rechtzeitigkeit
24.91 Gern § 489 Abs 1 ZPO beträgt die Frist für die Erhebung eines Rekurses 14 Tage. Diese
Frist kann nicht verlängert werden 4329 und beginnt grundsätzlich mit der Zustellung der
schriftlichen Ausfertigung des anzufechtenden Beschlusses. 4330 Handelt es sich um ei-
nen nicht selbstständig anfechtbaren Beschluss4331 , beginnt die Rechtsmittelfrist mit Zu-
stellung allenfalls nachfolgender selbstständig bekämptbarer Beschlüsse bzw mit Zustel-
lung der Endentscheidung 4332 zu laufen. 4333 In Bagatellsachen beginnt die Rechtsmittel-
frist wie bei der Berufung bereits mit der Verkündun~ zu laufen, wenn beide Parteien bei
der Verkündung des Beschlusses anwesend waren. 43 · 4 Ebenso mit der mündlichen Ver-
kündung des Beschlusses beginnt die Rekursfrist zu laufen, wenn beide Parteien auf eine
schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten, selbstständig anfechtbaren Be-
schlusses, nicht aber auf die Erhebung eines Rechtsmittels dagegen verzichten.
Da es sich bei der Rekursfrist um eine Tagesfrist handelt, wird der Tag der Auslösung 24.92
der Frist (Zustellung der schriftlichen Ausfertigung des Beschlusses) gern § 125 Abs l
ZPO bei der Berechnung der Frist nicht mitgerechnet. 4335 Für den Einfluss von Samsta-
gen, Sonntagen, Feiertagen sowie des Karfreitag wie auch der Gerichtsferien kann auf die
Ausführungen zur Rechtzeitigkeit der Berufung verwiesen werden. 4336 Das dort Gesagte
gilt auch für die Berechnung der Rekursfrist.
Enthält eine Ausfertigung zugleich ein Urteil und einen Beschluss, so kommt auch für 24.93
die Anfechtung des Beschlusses die längere Berufungsfrist (vier Wochen) in Betracht,
selbst wenn lediglich der Beschluss angefochten wird.~-137 Von diesem Grundsatz gibt es
jedoch Ausnahmen:
Wird nur die Kostenentscheidung des LG angefochten, muss der Kostenrekurs zwin- 24.94
gend binnen 14 Tagen erhoben werden. 4338 Nur wenn gleichzeitig auch das in der
Hauptsache ergangene Urteil bekämpft wird, kann die Kostenentscheidung während
der längeren Berufungsfrist von vier Wochen mit einer Berufung im Kostenpunkt be-
kämpft werden.
Der Grundsatz gilt zudem nur dann, wenn dem Rekurswerber überhaupt ein Rechtsmit- 24.95
tel gegen die der längeren Frist unterliegende Entscheidung (also das Urteil) zustand. 4339
Ist dies nicht der Fall (zB mangels Beschwer), so ist der Rekurs nur rechtzeitig, wenn er
binnen der Rekursfrist von 14 Tagen erhoben wurde.
Der Vollständigkeit halber anzufügen ist, dass der Grundsatz grundsätzlich nicht für 24.96
Rechtsbehelfe gilt. 4340 So gilt zB für einen Wiedereinsetzungsantrag immer die Frist
von 14 Tagen. 4341
4331 Ein solcher muss nur auf Verlangen der Parteien noch schriftlich ausgefertigt werden, wenn
er den Parteien bereits mündlich in einer Tagsatzung verkündet wurde.
4332 Wenn die Partei mit der Bekämpfung bis dahin zuwarten will.
4333 Pochmarski/Lichtenberg, Beschluss und Rekurs 37.
4334 § 489 Abs 2 ZPO.
4335 Pochmarski!Lichtenberg, Beschluss und Rekurs 40.
4336 Vgl Rz 24.18.
4337 OGH 3 C 69/96 LES 2001, 41; Pochmarski/Lichtenberg, Beschluss und Rekurs 40.
4338 A. Kodek in Rechberger!Klicka, ZPO 5 § 521 Rz I; Pochmarski/Lichtenberg/Tanczos/Kober, Be-
rufung' 13.
4339 öOGH 1 Ob 36/14x JBI 2014, 540; 5 Ob 171/14d wobl 2015/88, 236.
4340 Pochmarski/Lichtenberg, Beschluss und Rekurs 35f.
4341 § 148 Abs 2 ZPO.
24.97 Hinsichtlich der Unterbrechung der Frist iZm Angelegenheiten der Verfahrenshilfe sowie
der Einzelheiten einer fristwahrenden Einbringung kann ebenfalls auf die Ausführungen
zur Rechtzeitigkeit der Berufung verwiesen werden. 4342
24.98 Ein verspäteter Rekurs ist vom LG von Amts wegen zurückzuweisen. 4343 Unterlässt das
LG die Zurückweisung, wird der verspätete Rekurs vom OG verworfen. 4344
4. Beschwer
24.99 Auch die Erhebung eines Rekurses setzt eine Beschwer des Rechtsmittelwerbers vo-
raus.4345 Zum Erfordernis der Beschwer kann grundsätzlich auf die diesbezüglichen Aus-
führungen zur Berufung verwiesen werden. 4346 Im Unterschied zur Berufung kann sich
im Rahmen eines Rekurses aber das Problem stellen, dass der angefochtenen Entschei-
dung kein Antrag der Partei(en) zugrunde liegt (amtswegig gefasster Beschluss) bzw dem
Antrag einer Partei kein Gegenantrag der gegnerischen Partei gegenübersteht. 4347 Dies
gilt insb für verfahrensgestaltende und prozessleitende Verfügungen. In diesen Fällen ist
lediglich auf die materielle Beschwer abzustellen, wobei grundsätzlich kein strenger Maß-
stab anzulegen sein wird. 4348
dig 4367 ) bezeichnet werden, solange die Rekursausführungen einen bestimmten Rekurs-
grund deutlich erkennen lassen. Genügt der Rekursschriftsatz diesen inhaltlichen Anfor-
derungen nicht, ist ein Verbesserungsverfahren nach§ 84 Abs 3 ZPO durchzuführen. 4368
24.105 Im Gesetz werden als Rekursgründe nur die Nichtigkeit 4369 und die unrichtige rechtliche
Beurteilung4370 genannt. Es entspricht aber stRsp, dass jedenfalls auch erhebliche Verfah-
rensmängel sowie die Aktenwidrigkeit geltend gemacht werden können. 4371 Grundsätz-
lich kann mit einem Rekurs auch eine unrichtige Sachverhaltsfeststellung aufgrund un-
richtiger Beweiswürdigung geltend gemacht werden. 4372 Die Erhebung einer Beweisrüge
ist allerdings durch den Unmittelbarkeitsgrundsatz beschränkt: Da das Rekursgericht im-
4373
mer in nichtöffentlicher Sitzung und ohne mündliche Verhandlung entscheidet, schei-
det eine unmittelbare Beweisaufnahme von Partei- und Zeugenaussagen durch das OG aus.
Der Unmittelbarkeitsgrundsatz gebietet es daher, die Bekämpfung der Tatfrage im Rekurs-
verfahren auf Feststellungen des LG, die entweder aufgrund mittelbarer Beweisaufnah-
men 4374 oder aufgrund von Urkunden 4375 getroffen wurden, zu beschränken. 4376 Nach
Pochmarski!Lichtenberg4377 soll die Bekämptbarkeit der erstgerichtlichen Beweiswürdi-
gung allerdings nur in jenen Fällen ausgeschlossen sein, in welchen der persönliche Ein-
druck des Erstgerichts ausdrücklich oder erkennbar Einfluss auf die Beweiswürdigung hat-
te. In Bezug auf den Inhalt und die gesetzmäßige Ausführung der Rekurs~ründe kann auf
43 8
die entsprechende Darstellung der Berufungsgründe verwiesen werden.
24.106 Obwohl nach dem Gesetz Neuerungen im Rekursverfahren nicht explizit ausgeschlossen
sind und in Liechtenstein im Ge.fiensatz zu Österreich im Berufungsverfahren eine be-
9
schränkte Neuerungserlaubnis 43 ' besteht, gilt nach der Rsp im Rekursverfahren ein
4380
striktes Neuerungsverbot. Es ist also nicht möglich, in der Rekursschrift neue Tat-
sachen und Beweise vorzubringen.
Da dem Rekurs keine aufschiebende Wirkung zukommt, 4381 muss der Rekurswerber ei- 24.107
nen Antrag auf einstweilige Hemmung stellen, wenn er eine Vollstreckung des ange-
fochtenen Beschlusses verhindern will. Dabei kann der angefochtene Beschluss bis zur
Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung mittels konstitutiven Beschlusses vollstreckt
werden. 4382 Voraussetzung für die Gewährung der aufschiebenden Wirkung ist, dass dem
Rechtsmittelgegner durch die Gewährung der Hemmung kein unverhältnismäßiger
Nachteil erwächst und ohne die Gewährung der Hemmung der Zweck des Rekurses ver-
eitelt würde. 4383 Das LG, welches für die Entscheidung über sämtliche Anträge auf einst-
weilige Hemmung zuständig ist, hat bei der Entscheidung die Erfolgsaussichten des
Rechtsmittels zu berücksichtigen und eine Interessenabwägung vorzunehmen. 4384 Dabei
kann es gleichzeitig mit der Anordnung der einstweiligen Hemmung auch allenfalls not-
wendige Sicherungsmaßregeln (etwa den Erlag einer Sicherheitsleistung) verfügen.
Übersicht
Rz
1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.1
A. Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.1
1. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.1
2. Berufungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.4
3. Form und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.9
4. Schranken der berufungsgerichtlichen Überprüfung . . . . . . . . . 25.13
a) Geltend gemachte Berufungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.13
b) Nur beschränkte Neuerungserlaubnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 25. 16
c) Verschlechterungsverbot und Teilrechtskraft . . . . . . . . . . . . 25.22
B. Rekurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.26
1. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.26
2. Rekursgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.29
3. Form und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.32
4. Grenzen der rekursgerichtlichen Überprüfung . . . . . . . . . . . . . 25.35
a) Neuerungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.35
b) Sonstiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.36
C. Obergericht als Berufungs- und Rekursinstanz . . . . . . . . . . . . . . . 25.38
1. Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.38
2. Senatsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.44
II. Berufungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.53
A. Verfahren vor dem Landgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.53
1. Erhebung der Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.53
a) Berufungshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.53
b) Gebühreneinziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.61
2. Berufungsmitteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.65
3. Abschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.74
B. Verfahren vor dem Obergericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.77
1. Verfahren nach Einlangen des Akts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.77
2. Vorprüfungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.79
3. Hauptverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.87
a) Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.87
b) Mündliche Berufungsverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.91
c) Ablauf der mündlichen Berufungsverhandlung . . . . . . . . . . 25.95
aa) Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.95
bb) Beweiswiederholung/zulässige neue Beweise . . . . . . . . . 25.102
cc) Beweisergänzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.108
dd) Sonstiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.113
4. Berufungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.119
a) Beschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25. 119
b) Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.121
1. Einleitung
A. Berufung
1. Begriff
Die Berufung dient als ordentliches(§ 434 ZPO), zweiseitiges(§ 438 ZPO), aufsteigendes 25.1
und aufschiebendes (§ 436 ZPO) Rechtsmittel den Parteien des Zivilprozesses dazu, die
vom LG über die Sachanträge4385 erstinstanzlich gefällten Urteile in tatsächlicher und
rechtlicher Hinsicht einer Kontrolle auf Gerichtsfehler durch das OG zu unterziehen
(§ 431 Abs l ZPO). Wird nur die in das Urteil aufgenommene Kostenentscheidung an-
4386
gefochten, hat dies mit Kostenrekurs zu geschehen. Falls eine vom LG in das Urteil
aufgenommene Entscheidung über die Verwerfung einer Prozesseinrede bekämpft wird,
4387
hat dies mit Berufung zu erfolgen.
Die Berufung ist zulässig nur gegen die vom LG gefällten Urteile, und zwar gegen alle 25.2
Arten von Urteilen. 4388
2. Berufungsgründe
Die Berufungsgründe sind im Gesetz nicht zusammenfassend aufgezählt, 4391 sondern 25.4
lassen sich aus der ZPO nur erschließen. Es gibt folgende drei Gruppen von Berufungs-
gründen:4392 Verfahrensverletzungen; fehlerhafte Lösung der Tatfrage; unrichtige Lösung
der Rechtsfrage.
25.5 Bei den Verfahrensverletzungen werden als Berufungsgründe die Nichtigkeit 4393
sowie die Mangelhaftigkeit des Verfahrens 4394 (.,Verfahrensrüge") unterschieden.
Dazu kommt die unvollständige Erledigung der Sachanträge gern § 465 Abs 1 Z 1
ZPO.4395
25.8 In Bagatellsachen (§ 535 ZPO) kann das erstinstanzliche Urteil gern § 470 ZPO nur aus
den in § 472 ZPO genannten Revisionsgründen angefochten werden; namentlich eine
Beweisrüge steht also nicht offen.
4400 Falls ein vom LG in das Urteil aufgenommener Beschluss über die Verwerfung einer vom
Beklagten erhobenen Prozesseinrede anstatt mit abgesondertem Rechtsmittel gemeinsam
mit der in der Hauptsache erhobenen Berufung angefochten wird, ist auch dieser Beschluss
zu bezeichnen, ebenso ein mit sog „vorbehaltenem Rekurs" in der Berufung bekämpfter, in
dem dem angefochtenen Urteil vorangegangenen Verfahren ergangener, nicht selbstständig
anfechtbar gewesener Beschluss.
4401 OGH 5.12.2014, 8 CG.2011.1; 4.5.2016, 07 CG.2012.286; 09 CG.2003.258 LES 2008, 106 ua.
4402 Ein Abänderungsantrag inkludiert immer auch einen Aufhebungsantrag; hingegen beinhaltet
ein Aufhebungsantrag keinen Abänderungsantrag (OGH 5. 5. 2017, 07 CG.2015.329; 8. 1.
2015, 7 CG.2013.268; CO.2009.1 LES 2010, 286 ua).
4403 Ein Abänderungsantrag muss den Wortlaut der gewünschten Entscheidung - allenfalls unter
Hinweis auf das Klagebegehren - wiedergeben, also den Bestimmtheitserfordernissen des
§ 232 ZPO genügen. Bei Divergenz von Berufungserklärung und Berufungsantrag ist letzterer
maßgeblich (OGH 8. 5. 2015, 04 CG.2013.445).
4404 OGH 05 C 263/97 LES 2001, 35 (,.Elementarer Grundsatz des Berufungsverfahrens").
grund gestützt wurde, hat das OG nicht zu prüfen, ob der Anspruch auch auf eine andere
Norm gestützt werden könnte. Falls der Berufungswerber einen noch im erstinstanzli-
chen Verfahren geltend gemachten Rechtsgrund ( = selbstständige rechtserzeugende,
rechtshemmende oder rechtsvernichtende Tatsache) in der Berufung fallen lässt, also
nicht mehr aufrecht hält bzw auf diesen in der Rechtsrüge nicht mehr zurückkommt,
ist er vom OG nicht zu prüfen. 4405 Wenn mehrere im Tatsachenbereich trennbare An-
sprüche erhoben wurden, hat das OG nur auf jene Ansprüche Rücksicht zu nehmen, auf
die sich die Rechtsrüge bezieht. 4406
25.15 Falls nur eine Beweis- oder Verfahrensrüge 4407 erhoben wird, ist das OG nicht befugt,
die rechtliche Beurteilung der Sache durch das LG zu überprüfen, und zwar nicht einmal
dann, wenn das Urteil offensichtlich falsch ist oder zwingendes Recht verletzt wird. 4408
Allerdings kommt es zu einer eigenen rechtlichen Beurteilung durch das OG, wenn sich
bei erfolgreicher Beweis- bzw Verfahrensrüge in sachverhaltsmäßiger Hinsicht eine Än-
derung ergibt, wenn sich also als Resultat der erfolgreichen Beweis-/Verfahrensrüge die
entscheidungswesentlichen Sachverhaltsgrundlagen ändern.
4405 OGH 08 CG.2003.140 LES 2005, 425. Die in der Berufung nicht aufrecht erhaltenen Rechts-
gründe können auch in der Revision gegen das Berufungsurteil nicht mehr geltend gemacht
werden.
4406 OGH 2. 12. 2016, 01 CG.2012.85.
4407 Desgleichen bei nicht gesetzmäßig ausgeführter Rechtsrüge (OGH 05 C 263/97 LES 2001, 35).
4408 OGH 05 C 263/97 LES 2001, 35.
4409 Zur Rechts- und Aktenwidrigkeitsrüge kommen Neuerungen schon deswegen kaum in Frage,
weil Gegenstand der rechtlichen Überprüfung immer nur der festgestellte oder der trotz ent-
sprechender Behauptungen ungeprüft gebliebene Sachverhalt ist, und das Vorliegen einer
Aktenwidrigkeitsrüge aufgrund der Aktenlage zu beurteilen ist. Nichtigkeitsgründe sind oh-
nehin von Amts wegen wahrzunehmen, sodass ein entsprechendes Neuvorbringen jedenfalls
zu beachten ist.
bzw der Berufungsgegenschrift gestattet, hingegen nicht mehr im weiteren Verlauf des
Berufungsverfahrens (.,Eventualmaxime"; § 452 Abs 2 ZP0). 4410 Klageänderungen(§ 243
ZPO) - also die quantitative oder qualitative Änderung des Klagebegehrens oder eine Än-
derung des Klagegrunds, ie eine Abänderung der anspruchsbegründenden Tatsachen -
sind auch mit Einwilligung des Gegners nicht erlaubt (§ 453 Abs 3 ZPO). 4411 Einreden,
va solche die ein Element der Parteidisposition enthalten, also zB eine Verjährungseinrede,
ein Mitverschuldenseinwand oder eine Aufrechnungseinrede, müssen vom Beklagten be-
reits in erster Instanz erhoben werden; dh, der Beklagte hat bereits in erster Instanz die
4412
entsprechenden Tatsachenbehauptungen aufzustellen und hierfür Beweis anzubieten.
Zudem kann das Berufungsgericht ein Neuvorbringen zurückweisen, wenn es von der 25.20
4413
Partei schuldhaft nicht bereits im erstinstanzlichen Verfahren erstattet wurde. Ein
Neuvorbringen ist daher durch das OG dann zurückzuweisen, wenn es aufgrund eines
Parteifehlers, insb wegen unsorgfaltiger Prozessführung oder Unachtsamkeit (.,mangeln-
4414
de Prozessdiligenz"), nicht bereits im erstinstanzlichen Verfahren erstattet wurde.
Werden daher in der Berufung neue Tatsachen und Beweismittel vorgebracht, empfiehlt
es sich zu begründen, weshalb ein entsprechendes Vorbringen samt Beweisanbot nicht
bereits im erstinstanzlichen Verfahren erfolgte.
In jedem Fall zulässig ist das Vorbringen neuer Tatsachen und Beweise mit Bezug auf 25.21
die vom OG jederzeit von Amts wegen wahrzunehmenden Umstände, also insb ein Vor-
bringen mit Bezug auf Prozessvoraussetzungen, Voraussetzungen der Zulässigkeit der
Berufung oder Nichtigkeitsgründe.
Nichtigkeitsgründe nicht berücksichtigt werden; ein Verstoß gegen die eingetretene Teil-
rechtskraft begründet eine Nichtigkeit der Berufungsentscheidung. 4416
25.23 Das für das Berufungsverfahren aus § 432 Abs 1, § 436 ZPO abzuleitende Verschlechte-
rungsverbot (Verbot der reformatio in peius) bei Teilanfechtung des erstinstanzlichen Ur-
teilsH17 bedeutet, dass das OG in Erledigung der Berufung das angefochtene Urteil nicht
zum Nachteil des Berufungswerbers abändern darf. 4418 Erhebt daher nur eine Partei Beru-
fung, besteht der schlechteste Ausgang des Berufungsverfahrens für diese grundsätzlich in
der Bestätigung des angefochtenen Urteils. Haben beide Parteien Berufung erhoben, darf
das OG im Rahmen der durch die Berufungsanträge beider Parteien gezogenen Grenzen
entscheiden, und bedeutet es keinen Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot, dass nur
einer Berufung Folge gegeben wird. Eine nachteilige Änderung der Entscheidungsgründe
allein verstößt ebenfalls nicht gegen das Verschlechterungsverbot. 4419
25.24 Eine Ausnahme vom Verschlechterungsverbot besteht insofern, als das OG aus Anlass
einer zulässigen Berufung Nichtigkeitsgründe immer von Amts wegen auch zum Nachteil
des Berufungswerbers wahrzunehmen hat.
25.25 Ein Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot begründet, wenn nicht gleichzeitig ge-
gen die Teilrechtskraft verstoßen wird, lediglich einen erheblichen Mangel des Beru-
fungsverfahrens.4420
B. Rekurs
1. Begriff
25.26 Der Rekurs ist das ordentliche, grundsätzlich nicht aufschiebende 4421 und idR zweiseiti-
ge4422 sowie devolutive4423 Rechtsmittel gegen Beschlüsse des LG, also gegen die erst-
instanzlichen Entscheidungen des LG, welche nicht kraft ausdrücklicher Anordnung als
Urteile zu erlassen sind. Der Rekurs zielt auf Abänderung, Aufhebung oder ersatzlose
Beseitigung des angefochtenen Beschlusses durch das OG ab.
25.27 Die ZPO bezeichnet das gegen Rekursentscheidungen des OG und das gegen die vom OG
im Berufungsverfahren gefällten Beschlüsse zum OGH erhobene Rechtsmittel gleicher-
4416 § 411 Abs 2 ZPO. A. Kodek in Rechberger/Klicka, ZPO; § 462 Rz l; OGH 05 C 175/99 LES
2000, 92; 07 GB.2003.4 LES 2005, 383.
4417 Wird das erstinstanzliche Urteil zur Gänze angefochten, gibt es weder Teilrechtskraft noch
Verschlechterungsverbot (Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1746).
4418 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1749.
4419 Konecny in Fasching/Konecny IV/1 3 Einleitung IV/1 ZPO Rz 76.
4420 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1749.
4421 Aufschiebende Wirkung kommt dem Rekurs nur bezüglich des Eintritts der Rechtskraft, aber
grundsätzlich - anfechtbare Strafverfügungen und Zuerkennung der aufschiebenden Wir-
kung über Antrag durch das LG ausgenommen (§ 492 Abs 2 ZPO) - nicht bezüglich der
Vollstreckbarkeit zu(§ 492 Abs 1 Satz 1 ZPO).
4422 § 489a ZPO. Nicht zweiseitig ist der Rekurs, falls dem die Dringlichkeit der Rechtssache ent-
gegensteht, oder dadurch der Zweck des Rekurses vereitelt würde, oder wenn der Rekurs vor
Streitanhängigkeit erhoben wurde.
4423 Ausnahmsweise ist der Rekurs remonstrativ (§ 490 Abs I und 2 ZPO). Vgl auch Art 10 Abs 3
RPflG und Art 50 AussStrG.
maßen als Rekurs (vgl § 487 Abs 1 ZPO). In der Praxis wird das gegen die zweitinstanz-
lichen Beschlüsse des OG (,,Rekursentscheidungen") zum OGH erhobene Rechtsmittel
allerdings zwecks terminologischer Unterscheidung als „Revisionsrekurs" bezeichnet,
4424
obwohl dieser Begriff der ZPO fremd ist.
Grundsätzlich ist jeder Beschluss des LG selbstständig mit Rekurs anfechtbar, sofern 25.28
das Gesetz dessen Anfechtbarkeit nicht ausdrücklich ausschließt (§ 483 Abs I ZPO).
In Bagatellsachen (§ 535 ZPO) ist der Rekurs gegen Beschlüsse des LG nur in den in
§ 485 Abs l Z 1 bis 5 ZPO explizit aufgezählten Fällen statthaft. Gelegentlich sieht die
ZPO vor, dass gegen einen Beschluss ein abgesondertes Rechtsmittel nicht zulässig ist. In
diesen Fällen kann der Beschluss des LG gern § 484 ZPO nicht selbstständig, sondern erst
mit dem gegen die nächstfolgende selbstständig anfechtbare Entscheidung eingebrachten
Rechtsmittel, spätestens mit dem Rechtsmittel gegen die Endentscheidung, angefochten
werden (,.vorbehaltener" bzw „aufgeschobener" Rekurs).
2. Rekursgründe
Die Rekursgründe sind wie die Berufungsgründe in der ZPO nicht explizit aufgezählt. 25.29
Der Rekursgrund der Nichtigkeit ergibt sich aus§ 483 Abs 2 ZPO, welcher insoweit auf 25.30
§ 446 ZPO verweist, jener der unrichtigen rechtlichen Beurteilung aus § 488 Abs 2
ZPO. Als Rekursgrund kommen darüber hinaus wesentliche Verfahrensmängel und
Aktenwt'd rtg
. ke1t
. m. Frage. 4425
4424 OGH 06 CG.2017.593 LES 2019, 236. Das gegen die vom OG im Berufungsverfahren gefällten
Beschlüsse zum OGH erhobene Rechtsmittel (s § 487 Abs 1 ZPO) wird demgegenüber nach
dieser Entscheidung entgegen einer langjährigen Praxis nicht mehr als „Revisionsrekurs",
sondern nunmehr ebenfalls als Rekurs bezeichnet.
4425 OGH 2R EX.2008.1496 LES 2010, 156.
4426 OGH 08 EX.2005.3066 LES 2008, 304; 04 CG.2002.60 LES 2003, 230; Sloboda in Fasching/
Konecny IV/1 3 § 514 ZPO Rz 82.
25.33 Die Bezeichnung des angefochtenen Beschlusses wird zwar im Gegensatz zur Berufung
nicht ausdrücklich als Formerfordernis genannt, ist jedoch zweckmäßig. In jedem Fall
muss aus der Rekurserklärung bzw dem Rekursantrag ersichtlich sein, welcher Beschluss
4427
angefochten wird.
25.34 Im Gegensatz zur Berufung sieht die ZPO keine inhaltlichen Vorgaben für den Rekurs
vor. Es wird auch nicht etwa wie bei der Revision (vgl§ 482 ZPO) auf die Vorschriften über
die Berufung verwiesen. Die Rsp ist bezüglich der inhaltlichen Anforderungen relativ groß-
zügig. Demnach ist an die Bestimmtheit des Rekursantrags selbst dann, wenn über einen
Sach- bzw Rechtsschutzantrag einer Partei entschieden wird, ein großzügiger Maßstab an-
zulegen,4428 und schadet selbst ein fehlender oder verfehlter Rekursantrag nicht, solange
der Rekurs durch die Anfechtungserklärung und seine Ausführungen (Rekursbegrün-
dung) deutlich bestimmt ist; der Rekursantrag muss nur im Ergebnis zuverlässig deutbar
sein. 4429 Eine Rekurserklärung ist nicht erforderlich, sondern genügt es, wenn der Rekurs-
werber erkennbar eine Überprüfung des angefochtenen Beschlusses anstrebt und zu er-
kennen gibt, wodurch er sich für beschwert erachtet. 4430 Selbstredend muss der Rekurs
inhaltlich auch zumindest einen zulässigen Rekursgrund gesetzmäßig geltend machen.
Die namentliche Anführung der geltend gemachten Rekursgründe ist nicht unbedingt er-
forderlich; erforderlich ist alleine, dass die Rekursausführungen einen bestimmten
Rechtsmittelgrund deutlich erkennen lassen. 4431 Mindesterfordernis eines Rekurses ist
gern Rsp insgesamt lediglich, dass mit diesem erkennbar die Überprüfung der angefochte-
nen Entscheidung begehrt und angegeben wird bzw aus der Art der bekämpften Entschei-
dung und dem Gesamtzusammenhang erkennbar ist, inwieweit sich der Rekurswerber
durch den bekämpften Beschluss für beschwert erachtet und was er anstrebt. 4432
4427 In diesem Fall schadet selbst die unrichtige Bezeichnung des angefochtenen Beschlusses nicht
(OGH 10 HG.2008.10 LES 2009, 241).
4428 OGH 10 HG.2008.10 LES 2009, 241.
4429 OGH 09 EG.2001.19 LES 2007, 145; 02 C 209/96 LES 2001, 81.
4430 OGH 10 Cg 234/00 LES 2001, 204. Zu berücksichtigen ist idZ, dass bei einer Vielzahl von
Beschlüssen ein getrennter Anfechtungsumfang nicht denkbar ist (zB Beschluss auf Zurück-
weisung der Nebenintervention), sodass eine Rekurserklärung jedenfalls entbehrlich ist bzw
einen übertriebenen Formalismus darstellen würde (Pochmarski/Lichtenberg, Beschluss und
Rekurs 560.
4431 OGH 08 EX.2009.1221 LES 2010, 104; 2R EX.2008.1496 LES 2010, 156.
4432 OGH 4. 11. 2016, 09 CG.2015.308; E 5069/98 LES 2000, 41.
4433 Zu den Ausnahmen Zechner in Fasching/Konecny IV/1 2 Vor§§ 514 ZPO Rz 94ffund Sloboda
in Fasching!Konecny IV /1 3 § 514 ZPO Rz 90ff (zB Ausführungen zur Rechtzeitigkeit des Re-
kurses; Darlegungen zur Rechtsmittellegitimation des Rekurswerbers; sonstige von Amts we-
gen wahrzunehmende entscheidungswesentliche Umstände wie zB die Darlegung eines Nich-
tigkeitsgrunds oder das Fehlen einer Prozessvoraussetzung; reine Rechtsausführungen; Hin-
weis auf offenkundige Tatsachen; Ausführungen zur Dartuung des Rekursgrunds der Mangel-
haftigkeit des Verfahrens).
Aktenlage zur Zeit seiner Erlassung zu überprüfen und sind für die Rekursentschei-
dung solche Umstände und Tatsachen grundsätzlich irrelevant, die erst nach Erlas-
sung der erstinstanzlichen Entscheidung aktenkundig wurden bzw entstanden sind. 4434
Das Neuerungsverbot gilt auch dann, wenn der Rekurswerber vor der Beschlussfas-
sung vom LG zulässigerweise - zB in Verfahrenshilfeangelegenheiten oder im Provi-
sorialverfahren - nicht angehört wurde. 4435 Die Verletzung des Neuerungsverbots
durch das OG kann mit Revisionsrekurs 4436 als Verfahrensmangel beim OGH gerügt
werden. 4437
b) Sonstiges
Auch im Rekursverfahren ist das OG wie im Berufungsverfahren grundsätzlich an die 25.36
geltend gemachten Rekursgründe gebunden 4438 und können nur Gerichtsfehler gerügt
werden.
Bezüglich des Gebots zur Wahrung der Teilrechtskraft und des Verschlechterungsver- 25.37
bots wird auf die einschlägige Lehre verwiesen. 4439
4434 OGH 03 Cg 163/99 LES 2001, 20; E 6317/98 LES 2000, 171; 06 C 545/98 LES 2000, 26; 02 C
20/97 LES 1998, 297 uva.
4435 OG 03 CG.2013.352 LES 2014, 260 (bestätigt StGH 2013/179; "Verfahrenshilfe"); OGH 02 C
20/97 LES 1998, 297 ("Provisorialverfahren").
4436 Vorausgesetzt dieser ist zulässig, was insb im Fall eines Authebungsbeschlusses des OG nur
bei ausdrücklicher Zulässigerklärung der Fall ist (§ 495 Abs 2 ZPO).
4437 OGH 06 C 545/98 LES 2000, 26.
4438 Sloboda in Fasching!Konecny IV/1 3 § 526 ZPO Rz 32.
4439 Zechner in Fasching/Konecny IV/1 2 Vor§§ 514 ZPO Rz 120ff; Sloboda in Fasching/Konecny
IV/1 3 § 526 ZPO Rz 35ff; Fasching, Lehrbuch 2 Rz 2013.
4440 Der Landtag hat nicht mehr Stellenprozente bewilligt (Art 18 Abs 2 GOG).
2. Senatsentscheidung
25.44 Wie die Willensbildung des Senats zu erfolgen hat, ist im Wesentlichen in Art 52f GOG
geregelt.
25.45 Die Entscheidung des Senats erfolgt in offener, nicht (partei-)öffentlicher Abstimmung
mit absoluter Stimmenmehrheit, wobei Abstimmungszwang besteht. 4445 Der Abstim-
mung hat eine Beratung vorauszugehen, welche ebenfalls nicht (partei-)öffentlich ist,
und bei welcher der Berichterstatter seine Anträge stellt.
Beratung und Abstimmung, welcher ein beeideter Schriftführer beigezogen werden muss, 25.46
werden vom Vorsitzenden geleitet.
Grundlage der Abstimmung und Beratung ist der vom Berichterstatter, das ist entweder 25.47
der Senatsvorsitzende oder der Beisitzer (§ 440 ZPO), 4446 erstellte schriftliche Entschei-
dungsentwurf.
Das Abstimmungsergebnis wird gern Art 53 Abs 2 Satz 2 GOG derart erzielt, dass zuerst 25.48
der Berichterstatter seine Stimme abgibt, dann der Oberrichter und zuletzt der Vorsit-
zende. Da als Berichterstatter, der einen Entscheidungsentwurf zu verfassen hat, wie er-
wähnt der Vorsitzende und der Beisitzer fungieren können, ist fraglich, in welcher Rei-
henfolge abzustimmen ist, wenn der Vorsitzende gleichzeitig als Berichterstatter fungiert.
Zweckmäßigerweise stellt in diesem Fall der Vorsitzende als Berichterstatter zwar zu-
nächst seine Anträge, stimmt aber als letzter ab.
Über die Zuständigkeit des Gerichts sowie andere Prozessvoraussetzungen, über die Not- 25.49
wendigkeit von Ergänzungen und andere Vorfragen ist immer zuerst abzustimmen; bei
Vorliegen mehrerer Streitpunkte ist über jeden einzelnen besonders abzustimmen. Alle
Stimmen haben das gleiche Gewicht; sind sich die rechtskundigen Richter (Vorsitzender
und Beisitzer) nicht einig, gibt die Stimme des nebenamtlichen Oberrichters, welcher
nicht rechtskundig sein muss, also der „Laienrichteru, den Ausschlag.
Die Beratungs- und Abstimmungsergebnisse sind zwingend durch den beigezogenen 25.50
Schriftführer im „Beratungsprotokoll", welches vom Schriftführer und dem Vorsitzen-
den zu unterzeichnen ist, zu beurkunden (Art 54 Abs 2 GOG). Das über die Beratung
und Abstimmung erstellte Protokoll ist für die Parteien nicht öffentlich (§ 219 Abs l
ZPO).
Solange der Vorsitzende die Entscheidung des Senats weder mündlich verkündet noch 25.51
zur Ausfertigung an die Gerichtskanzlei übergeben hat, kann auf die Beratung und Ab-
stimmung zurückgekommen werden, wobei über das Rückkommen in der ursprüngli-
chen Senatsbesetzung zu beschließen ist (,,Revotation"; Art 55 GOG).
Die Entscheidungen des OG werden in Urschrift in der Praxis nur vom Senatsvorsitzen- 25.52
den unterzeichnet, die für die Parteien bestimmten Ausfertigungen von der nicht-rich-
terlichen Angestellten der für den Senat zuständigen Abteilung der Gerichtskanzlei
(Art 35 Abs 2, Art 36 Abs l GOG).
4446 Angesichts der begrenzten personellen Ressourcen des OG müssen zwingend beide als Be-
richterstatter eingesetzt werden. Vgl auch die Geschäftsverteilung des OG (abrufbar unter
,..,ww.gerichte.li), aus welcher sich ergibt, dass die Berichterstattertätigkeit vom Senatsvorsit-
zenden und dem Beisitzer zur Herstellung einer gleichmäßigen Belastung im Einvernehmen
zu regeln ist.
II. Berufungsverfahren
A. Verfahren vor dem Landgericht
1. Erhebung der Berufung
a) Berufungshandlung
25.53 Das Berufungsverfahren wird durch Erhebung der Berufung eingeleitet, und zwar ent-
weder durch Überreichung der Berufungsschrift oder durch Erklärung zu gerichtlich-
4447
em Protokoll beim LG (§ 435 Abs l ZPO). Der Anmeldung der Berufung bedarf es
nie, auch dann nicht, wenn das LG sein Urteil mündlich verkündet hat. Wird die Beru-
fung fälschlicherweise an das OG anstatt richtig an das LG adressiert, kann daraus dem
Rechtsmittelwerber kein Nachteil erwachsen, weil LG und OG dieselbe Anschrift haben,
und die Abteilung für Zentrale Dienste beim LG auch den Posteinlauf für das OG besorgt
(Art 37 GOG).
4448
25.54 Für die Berufungsschrift besteht keine Anwaltsptlicht.
25.55 Die Erhebung der Berufung hat innerhalb der Notfrist von vier Wochen zu erfolgen
(§ 434 ZPO). 4449 Die Frist beginnt ab Zustellung der schriftlichen Urteilsausfertigung
zu laufen (§ 414 Abs 2, § 416 Abs 1, § 434 ZPO). 4450 Bei anwaltlicher Vertretung ist
nur die Zustellung an den mit einer Prozessvollmacht ausgestatteten Parteienvertreter
maßgeblich (§ 92 ZPO).
25.56 Zur Fristwahrung genügt es, wenn die Berufung am letzten Tag der Frist zur Post ge-
geben wird (§ 126 Abs 3 ZPO). 4451 Fristwahrend - allerdings mit einem (verbesserungs-
4452 4453
fähigen) formellen Mangel behaftet - kann die Berufung auch per Telefax oder per
4454
E-Mail als PDF-Dokument eingereicht werden; das Übermittlungsrisiko liegt aller-
dings beim Berufungswerber.
4447 Berufungen werden in der Praxis nur selten durch Erklärung zu Protokoll erhoben. Ansons-
ten nimmt das Protokoll gern (nicht ganz unproblematischer) Praxis des LG entweder jener
Landrichter auf, dessen Urteil angefochten wird, oder unter dessen Anleitung und Aufsicht
ein beim LG beschäftigter Gerichtspraktikant.
4448 ln der Praxis sind aber die allermeisten Parteien trotzdem rechtsanwaltlich vertreten.
4449 Im Verfahren zur Geltendmachung wechselmäßiger Ansprüche beträgt die Berufungsfrist
14 Tage (OGH 04 CG.2007.128 LES 2010, 39).
4450 In Bagatellsachen (§ 535 ZPO), in welchen der Landrichter das Urteil nach Schluss der Ver-
handlung mündlich zu verkünden hat (§ 539 Abs 1 Satz 1 ZPO), beginnt die Berufungsfrist
bereits mit der Verkündung zu laufen, falls beide Parteien bei der Urteilsverkündung anwe-
send waren.
4451 Wird die Berufung nicht am Schalter des Postamts abgegeben, sondern in einen Postkasten
eingeworfen, hat dies so rechtzeitig zu geschehen, dass dieser auch tatsächlich noch am
selben Tag geleert wird; maßgeblich ist, dass die Berufung noch mit dem postamtlichen
Aufgabevermerk des letzten Tages der Berufungsfrist versehen wird (OGH 4. 11. 2016,
09 CG.2015.308).
4452 Fehlen der Originalunterschrift der Partei bzw ihres gesetzlichen Vertreters oder Bevollmäch-
tigten.
4453 OGH 11. 4. 2014, 08 EX.2012.6905 ua.
4454 OGH 3.12.2015, 01 CG.2013.37; StGH 20.9.2010, 2009/208.
Der Lauf der Berufungsfrist wird - falls es sich nicht um eine Ferialsache (§ 224 ZPO) 25.57
handelt - durch die Gerichtsferien beeinflusst; 4455 zudem hemmen Sonn- und Feiertage
sowie Samstage und der Karfreitag4456 zwar den Ablauf, nicht aber den Beginn der Be-
· 4457
ru fungs f nst.
Wird innerhalb offener Berufungsfrist erstmalig die Bewilligung der Verfahrenshilfe 25.58
auch durch Beigebung eines Rechtsanwalts als Verfahrenshelfer beantragt, wird die Be-
rufungsfrist unterbrochen (§ 73 Abs 2 ZPO). Dies gilt auch dann, wenn die Partei bereits
durch einen frei gewählten Rechtsanwalt vertreten wird, ohne dass dieser die Vollmacht
zurückzulegen hätte, und wenn der Verfahrenshilfeantrag bereits vor Beginn der Beru-
fungsfrist gestellt wurde. 4458 Bei Bewilligung der Verfahrenshilfe beginnt die Berufungs-
frist mit der Zustellung des Bestellungsbeschlusses der Rechtsanwaltskammer und der
Urteilsausfertigung an den Verfahrenshelfer neu zu laufen. 4459 Wird der Verfahrenshilfe-
antrag abgewiesen, beginnt die Berufungsfrist am Tag nach Eintritt der Rechtskraft des
abweisenden Beschlusses neu zu laufen.
4460
Das LG hat nach Erhebung der Berufung und Gebühreneinziehung die Rechtzei- 25.59
tigkeit des Rechtsmittels zu prüfen und die Berufung, falls sie verspätet erhoben wurde,
mit Beschluss zurückzuweisen (§ 438 Abs 1 Satz 2 ZPO); gegen diesen Beschluss steht
dem Berufungswerber der Rekurs an das OG offen. Weist das LG eine verspätete Beru-
4461
fung nicht zurück, hat das OG dies nachzuholen.
Wegen Form- und Inhaltsgebrechen darf das LG die Berufung nicht zurückweisen, und 25.60
zwar auch dann nicht, wenn es zulässigerweise (was in der Praxis allerdings kaum je
einmal vorkommt) selbst ein erfolgloses Verbesserungsverfahren (§§ 84fZPO) eingeleitet
4462
hatte.
b) Gebühreneinziehung
Nach Erhebung der Berufung hat das LG den Akt zur Einbringung der mit dieser Partei- 25.61
prozesshandlung anfallenden Gerichtsgebühren 4463 an die beim LG eingerichtete Abtei-
4455 Eine laufende Frist wird gehemmt; falls der Anfang der Frist in die Gerichtsferien fällt, be-
ginnt der Lauf mit deren Ende (§ 225 ZPO). Wenn die schriftliche Urteilsausfertigung wäh-
rend der vom 15.7. bis zum 25.8. eines jeden Jahres dauernden „Sommer-Gerichtsferien"
(Art I GerFerV) zugestellt wird, beginnt die Berufungsfrist in Nichtferialsachen am 26.8. zu
laufen und endet damit am 23.9. (OGH 04 CG.2004.12 LES 2006, 489 und LES 2007, 520 ua;
konsequenterweise müsste gern dieser Rsp die Berufungsfrist bei Zustellung des Urteils wäh-
rend der vom 24.12. bis zum 6.1. eines jeden Jahres dauernden "Weihnachts-Gerichtsferien"
am 4.2. enden).
4456 LGBI 1964/29.
4457 § 126 Abs l und 2 ZPO.
4458 OGH 8. 5. 2015, 02 CG.2014.267.
4459 Wurde das Urteil vom LG zunächst dem frei gewählten Rechtsanwalt zugestellt und dieser in
der Folge zum Verfahrenshelfer bestellt, ist die spätere Zustellung des Bestellungsbeschlusses
maßgeblich.
4460 Dazu nachstehend Rz 25.61 ff.
4461 § 441 Z l, § 443, § 444 Abs l und§ 464 ZPO; A. Kodek in Rechberger!Klicka, ZPO; § 468 Rz 1.
4462 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 516 und 1783.
4463 Art 3 lit a Z 3 GGG.
lung für Zentrale Dienste zu leiten, welche dem Berufungswerber die fällig gewordene
Gebühr vorschreibt und deren Entrichtung überwacht.
25.62 Wird die Gebühr, falls der Berufungswerber weder persönlich oder sachlich 4464 noch
4465
aufgrund Verzichts oder Nachlasses durch den Präsidenten des LG gebührenbefreit
4466
ist, nicht fristgerecht binnen vier Wochen vollständig erlegt, hat das LG nach Rüc-
klangen des Akts von der Abteilung für Zentrale Dienste die Berufung dem OG vorzu-
legen.
25.63 Darauf hat der Vorsitzende jenes Senats, welchem die Berufung gern Geschäftsverteilung
zugewiesen wird, die Berufung für zurückgezogen zu erklären, falls er zur Überzeugung
gelangt, die Gebühr sei tatsächlich nicht fristgerecht entrichtet worden. 4467 Gegen diesen
Beschluss des Senatsvorsitzenden steht dem Berufungswerber der binnen zwei Wochen
ab Zustellung beim LG einzubringende Rekurs (das Gesetz verwendet den Begriff „Be-
schwerde" [Art 38 GGG]), welchem keine aufschiebende Wirkung zukommt, an den Se-
nat offen, welcher endgültig entscheidet. 4468 Nach dem Wortlaut der „missglückten" Re-
gelung von Art 38 Abs 3 Satz 2 GGG hätte der Senat in Zweierbesetzung zu entscheiden.
In der Praxis entscheidet der Senat richtigerweise in Dreierbesetzung, wobei an die Stelle
des Senatsvorsitzenden, welcher den angefochtenen Beschluss als Einzelrichter fasste und
für den daher der Ausschließungsgrund von Art 56 lit d GOG greift, dessen Stellvertreter
tritt.
25.64 Wird rechtskräftig festgestellt, dass die Berufung als zurückgezogen gilt, ist das Beru-
fungsverfahren beendet. Widrigenfalls hat das LG nach Rücklangen des Akts vom OG
das weitere Verfahren über die Berufung zu betreiben.
2. Berufungsmitteilung
25.65 Sobald der Berufungswerber die Gerichtsgebühren entrichtet hat bzw hiervon befreit
wurde, hat das LG - falls es die Berufung nicht sofort als verspätet zurückweist - dem
Berufungsgegner4469 zur Wahrung des rechtlichen Gehörs eine Abschrift der Berufung
zur allfälligen Erstattung einer Berufungsmitteilung zuzustellen(§ 438 Abs 1 Satz 1 ZPO).
25.66 Die Berufungsmitteilung ist wie die Berufung beim LG einzubringen, und zwar binnen
einer vierwöchigen Notfrist 4470 ebenfalls entweder mit vorbereitendem Schriftsatz oder
durch protokollarisches Anbringen (§ 438 Abs 2 ZPO), wobei natürlich ebenfalls kein
Anwaltszwang besteht. Eine Gleichschrift der Berufungsmitteilung ist vom LG dem Be-
rufungswerber zuzustellen.
Falls die Berufungsmitteilung mit vorbereitendem Schriftsatz erstattet wird, hat sie den 25.67
allgemeinen Schriftsatzerfordernissen von § 75 ZPO zu genügen.
Nach dem Wortlaut von § 438 Abs 2 ZPO hat sich der Inhalt der Berufungsmitteilung 25.68
auf ein allfälliges Neuvorbringen zu beschränken, und zwar ausschließlich auf das Vor-
bringen neuer Tatsachen und Beweise zur Widerlegung der vom Gegner angezogenen
Berufungsgründe. In der Praxis wird in der Berufungsmitteilung vom Berufungsgegner,
insb wenn er anwaltlich vertreten ist, inhaltlich zu den vom Gegner in der Berufung er-
hobenen Rügen Stellung bezogen, also eine Berufungsbeantwortung erstattet, was von
§ 438 Abs 2 ZPO jedenfalls nicht untersagt und im Hinblick auf den verfassungsrechtlich
gewährleisteten Gehörsanspruch jedenfalls zulässig ist.
Wurde die Berufung verspätet erhoben, muss darauf, wie auf eine sonstige Unzulässig- 25.69
keit der Berufung4471 , in der trotzdem statthaften Berufungsmitteilung hingewiesen wer-
den, widrigenfalls für diese, weil zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung nicht not-
wendig, gern § 41 ZPO kein Kostenersatz gebührt. 4472 Erkennt der Erstrichter erst auf-
grund eines entsprechenden Vorbringens in der Berufungsmitteilung, dass die Berufung
verspätet ist, kann er diese auch jetzt noch zurückweisen.
Eine Pflicht zur Erstattung einer Berufungsmitteilung besteht nicht. Die Säumnisfolge 25.70
der Unterlassung einer (rechtzeitigen) Berufungsmitteilung besteht darin, dass der Beru-
fungsgegner von einem zulässigen Neuvorbringen ausgeschlossen ist.
Die in erster Instanz obsiegende Partei ist nicht verpflichtet, die von ihr als unrichtig 25.71
und für ihren Prozessstandpunkt als nachteilig erachteten erstinstanzlichen Feststel-
lungen oder zu ihrem Nachteil unterlaufe Verfahrensfehler bereits in der Berufungs-
mitteilung zu rügen; ebenso wenig muss sie vom LG für unwesentlich gehaltene recht-
liche Gesichtspunkte erörtern, also nicht zB zu ihrem Nachteil dem LG unterlaufene
rechtliche Feststellungsmängel rügen. 4473 Vielmehr können diese Rügen, falls der Geg-
ner mit seiner Berufung erfolgreich ist, in einer allfälligen Revision gegen das Berufungs-
urteil nachgeholt werden. Der OGH wird bei einer in der Revision vom erstinstanzlich
obsiegenden Berufungsgegner nachgeholten Rüge das Berufungsurteil grundsätzlich 4474
wegen einer vom OG nicht verschuldeten Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens auf-
heben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das OG zurückverweisen,
welches sich dann mit den entsprechenden Rügen auseinandersetzen muss. 4475 In Baga-
tellsachen (§§ 535ff ZPO) ist die Revision allerdings ausgeschlossen (§ 471 Abs 2 ZPO),
weshalb entsprechende Rügen 4476 in der Berufungsmitteilung jedenfalls empfehlenswert
sind.
25.72 Verspätete Berufungsmitteilungen sind vom LG dem OG vorzulegen, und nicht wie
verspätete Berufuntien zurückzuweisen. Das OG lässt eine verspätete Berufungsmittei-
lung unbeachtet. 447 '
25.73 Handelt es sich beim Berufungswerber um eine gern §§ 57f ZPO für die Prozesskosten
des Gegners sicherheitspflichtige Partei, kann der Berufungsgegner, statt eine Beru-
fungsmitteilung einzubringen, binnen der hierfür offen stehenden Notfrist von vier Wo-
chen einen Kautionsantrag stellen; er kann den Kautionsantrag auch mit seiner Beru-
fungsmitteilung verbinden (§ 59 Abs l ZPO). Der Kautionsantrag ist vom LG dem Be-
rufungswerber zur Erstattung einer Gegenäußerung idR binnen der Frist von 14 Tagen
zuzustellen.
3. Abschluss
25.74 Nach Einlagen der Berufungsmitteilung bzw nach Ablauf der hierfür offen stehenden
Frist hat das LG die Berufung und die Berufungsmitteilung mit dem Gerichtsakt samt
allen Beilagen und Beiakten dem OG vorzulegen (§ 439 Abs 1 ZPO). Hat der Berufungs-
gegner, anstatt eine Berufungsmitteilung einzubringen, einen Kautionsantrag gern § 59
Abs I ZPO gestellt, legt das LG dem OG die Berufung unter Hinweis auf diesen und eine
vom Berufungswerber dazu allenfalls erstattete Gegenäußerung vor. Die Einholung einer
Berufungsmitteilung obliegt in diesem Fall nach Abschluss des Kautionsverfahrens dem
Vorsitzenden des zuständigen Berufungssenats. Mit der Vorlage an das OG ist das Vor-
verfahren vor dem LG beendet.
25.75 In keinem Fall darf das LG der Berufung selbst Folge geben.
25.76 Von der in § 439 Abs 2 ZPO vorgesehenen Möglichkeit, bei nicht vollständiger Erledi-
gung aller Sachanträge, also insb bei Teilurteilen, dem OG nur Ablichtungen der relevan-
ten Aktenstücke vorzulegen und die Verhandlung über die noch nicht erledigten Streit-
punkte fortzuführen, wird in der Praxis vom LG kaum einmal Gebrauch gemacht.
4475 OGH 3.11.2017, 5 CG.2015.168; 7.10.2016, 8 CG.2009.407. Es sind allerdings auch Kons-
tellationen denkbar, in denen der OGH selbst entscheidet.
4476 Eine Beweisrüge ist in Bagatellsachen allerdings ausgeschlossen (§ 470 ZPO iVm § 472 ZPO).
4477 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1785 aE. Anders Pimmer in Fasching/Konecny lV/1 3 § 468 ZPO Rz 18:
,.Zurückweisung durch Erstgericht, allenfalls Berufungsgericht mit Beschluss"; letzteres ent-
spricht der Praxis des OG.
2. Vorprüfungsverfahren
Der mit der Berichterstattung betraute Senatsvorsitzende oder Beisitzer hat - gegebenen- 25. 79
falls nach Abschluss eines vorgängigen Kautionsverfahrens und Einlangen einer erst an-
4478 Der nebenamtliche Oberrichter ist nie Berichterstatter. Die Zuteilung der Berichterstattertätig-
keit ist gern aktueller Geschäftsverteilung (Stand: 1. 1. 2020; abrufbar unter www.gerichte.li)
zwischen Vorsitzendem und Beisitzer im Einvernehmen zu regeln, was einen gerechten Belas-
tungsausgleich ermöglicht. Da bei drei Senaten (Art 18 Abs 1 GOG) nur zwei Beisitzer ernannt
bzw vom Landtag bewilligt sind (Art 18 Abs 2 GOG), deren Arbeitskapazität sich zweckmäßig
kaum auf drei Senate aufteilen lässt, ist im dritten Senat Berichterstatter immer der Senatsvor-
sitzende.
4479 § 59 Abs 2 Satz 2 ZPO. Zur Berücksichtigung eines allfälligen „Überlings" einer vom Beru-
fungswerber bereits erstinstanzlich erlegten Prozesskostensicherheitsleistung: OGH 02
CG.2008.93 LES 2010, 261.
4480 OGH 06 CG.2012.30 LES 2014, 130.
4481 Die Rekurserhebung durch den Berufungswerber hat ex lege und im Anfechtungsumfang die
Unterbrechung der Erlagsfrist zur Folge, und beginnt diese Frist mit der Zustellung der Re-
kursentscheidung des Kollegiums neu zu laufen; eines Aufschiebungsantrags bedarf es hierzu
nicht (OGH 02 CG.2005.296 LES 2007, 364).
4482 Der Antrag ist dem Berufungswerber zur Gegenäußerung zuzustellen (OGH 04 CG.2004.252
LES 2008, 74; 02 CG.2005.296 LES 2007, 364). Jedenfalls bis zur Einbringung dieses Antrags bei
Gericht kann der Berufungswerber den Erlag nachholen (OG 02 CG.2011.140 LES 2012, 173,
bestätigt StGH 2011/123). Gern älterer Rsp desOGH ist der Erlag noch solange möglich, als nicht
der Beschluss, die Berufung für zurückgenommen zu erklären, gefasst wurde (OGH 02 C 78/71
ELG 1973, 321 ). In einer jüngeren Entscheidung hat der OGH die Frage, bis wann der Erlag noch
nachgeholt werden könne, hingegen offengelassen (OGH 06 CG.2016.253 LES 2018, 123).
wenn auch die Klage zurückgewiesen wird. Allerdings ist es dem OG nicht verwehrt
dann, wenn es das angefochtene Urteil aufhebt und die Rechtssache an das Erstgericht
zur neuerlichen Verhandlung zurückverweist, seinem Beschluss einen Rechtskraftvorbe-
halt beizufügen(§ 448 ZPO), womit der Aufhebungsbeschluss gern§ 487 Abs 1 Z 3 ZPO
4488
mit Rekurs zum OGH angefochten werden kann.
§ 441 Z 5 ZPO: 25.84
4489
Ob die Berufung gegen den gern § 261 Abs 3 ZPO in das Urteil aufgenommenen Be-
schluss (,,Ausspruch") über die Einreden der Unzuständigkeit, der Streitanhängigkeit
oder der Rechtskraft 4490 berechtigt ist. Praktisch relevant ist lediglich die Anfechtung von
4491
Beschlüssen, mit denen eine dieser Einreden des Beklagten vom LG abgewiesen wurde.
Ist der Berufung stattzugeben, hat das OG das erstinstanzliche Urteil sowie das diesem vo-
rausgegangene Verfahren aufzuheben und die Klage zurückzuweisen (§ 445 Abs 2 ZPO).
Gegen diesen Beschluss ist gern § 487 Abs 1 Z 2 ZPO der Rekurs an den OGH zulässig.
Liegt einer der Tatbestände von § 441 ZPO vor, hat das OG über die Berufung gern 25.85
§ 443 Abs 1 ZPO in nichtöffentlicher Sitzung und ohne vorhergehende mündliche Ver-
handlung mit Beschluss zu entscheiden, welcher nach Maßgabe von § 487 Abs 1 ZPO
mit Rekurs zum OGH anfechtbar ist. Das OG kann die zur Entscheidung allenfalls noch
erforderlichen Erhebungen entweder selbst vornehmen oder damit das LG beauftragen,
insb wenn entscheidungswesentliche Tatsachen nicht aktenkundig sind (§ 443 Abs 2
ZPO). Zu den Ergebnissen dieser Erhebungen ist den Parteien vom OG das rechtliche
Gehör zu gewähren. 4492 Liegt einer der Tatbestände von§ 441 ZPO vor, wird die Beru-
fung also bereits im Vorverfahren erledigt und kommt es zu keinem Berufungshauptver-
fahren mehr. 4493 Widrigenfalls ist das Hauptverfahren einzuleiten.
Bei Verneinung der in § 441 ZPO genannten Tatbestände ist nur in den Fällen von § 441 25.86
Z 3, 4 und 5 ZPO ein Beschluss auszufertigen, welcher, sofern keine weiteren Berufungs-
gründe geltend gemacht ,vurden, das Berufungsverfahren beendet. Werden in der Beru-
fung noch weitere Berufungsgründe geltend gemacht und gelangt der mit der Vorprüfung
befasste Berichterstatter, welcher immer zugleich auch Berichterstatter mit Bezug auf die
3. Hauptverfahren
a) Vorbemerkungen
25.87 Wurde die Berufung nicht wegen Nichterlags einer dem Berufungswerber aufgetragenen
Prozesskostensicherheitsleistung für zurückgenommen erklärt oder bereits im Vorprü-
fungsverfahren erledigt, ist vom Vorsitzenden das Verfahren (,.Berufungshauptverfah-
ren"4495) zur Erledigung der abgesehen von Nichtigkeiten geltend gemachten Berufungs-
gründe einzuleiten, und zwar entweder durch Anberaumung einer mündlichen Beru-
fungsverhandlung oder, falls eine solche nicht stattzufinden hat, durch Anberaumung
einer nichtöffentlichen Sitzung zur Erledigung der Berufung.
25.88 Zur mündlichen Berufungsverhandlung sind vom Senatsvorsitzenden die Parteien res-
pektive deren Rechtsvertreter zu laden, wobei die Ladungen spätestens zehn Tage vor
dem Gerichtstag zuzustellen sind (Art 59 Abs 1 GOG).H 96 Die Ladungen haben auch
die sog „Senatsmitteilung" zu enthalten, das ist die Bekanntgabe der Namen der drei
Richter des Senats, welche über die Berufung entscheiden werden, sowie die Bekanntgabe
des Namens der Schrift- und Protokollführerin. 4497 Allfällige Ausschließungs- oder Ab-
lehnungsgründe sind von den Parteien bei sonstiger Verwirkung des Ablehnungsrechts
binnen fünf Tagen ab Zustellung der Ladung geltend zu machen (Art 59 Abs 3 GOG). 4498
------- - - - - - -
4494 Falls keine mündliche Berufungsverhandlung stattfindet, fallen damit das Vorprüfungsverfah-
ren und das Hauptverfahren faktisch zusammen.
4495 Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht9 Rz 1102.
4496 § 450 Abs 1 ZPO, welcher eine Einlassungsfrist von „ungefähr" 14 Tagen (,.Instruktionsfrist")
vorsieht, ist durch Art 59 Abs 1 GOG materiell derogiert.
4497 Falls keine mündliche Berufungsverhandlung stattfindet, hat die Bekanntgabe der konkreten
Senatsbesetzung jedenfalls zehn Tage bevor das OG in nichtöffentlicher Sitzung über die Be-
rufung entscheidet, zu erfolgen.
4498 Wurde die Senatsbesetzung nicht bekannt gegeben, können allfällige Ablehnungsgründe auch
noch in dem gegen die Entscheidung des OG zum OGH erhobenen Rechtsmittel geltend ge-
macht werden, bleibt aber ansonsten der Verstoß gegen Art 59 Abs 3 GOG sanktionslos
(OGH 02 NP.2008.57 LES 2010, 22). Steht gegen die Entscheidung des OG allerdings kein
Rechtsmittel mehr offen und ist die Entscheidung zugleich enderledigend iS von Art 15
StGHG (zB Urteile in Bagatellsachen [§ 535 ZPO)), kann der Verstoß gegen Art 59 Abs 3
GOG mit Individualbeschwerde wegen Verletzung des Rechts auf den ordentlichen Richter
(Art 33 Abs 1 LV) bzw wegen Verletzung des Beschwerderechts (Art 43 LV) beim StGH ge-
rügt werden (StGH 2008/042; StGH 2013/097).
b) Mündliche Berufungsverhandlung
Grundsätzlich hat eine mündliche Berufungsverhandlung stattzufinden (§ 449 Abs l 25.91
ZPO).
Allerdings können die Parteien auf eine mündliche Verhandlung verzichten. Hat weder 25.92
der Berufungswerber in der Berufungsschrift noch der Berufungsgegner in der zur Erstat-
tung einer Berufungsmitteilung offenstehenden Frist die Anberaumung einer mündlichen
4501
Berufungsverhandlung ausdrücklich beantragt, wird unwiderleglich angenommen,
dass die Parteien auf eine mündliche Berufungsverhandlung verzichtet haben (§ 449 Abs 2
ZPO). Der Antrag auf Anberaumung einer mündlichen Berufungsverhandlung kann bis
4502
zum Beginn der Berufungsverhandlung von jeder Partei einseitig widerrufen werden.
Das OG kann jedoch trotz Verzichts der Parteien eine mündliche Verhandlung anord- 25.93
nen, wenn dies im einzelnen Fall erforderlich erscheint (§ 449 Abs 3 Satz 2 ZPO). Eine
mündliche Berufungsverhandlung ist - die Geltendmachung entsprechender Beru-
fungsgründe vorausgesetzt - insb in folgenden Fällen anzuordnen: l. Wenn Zweifel an
der Richtigkeit der Beweiswürdigung des LG bestehen und daher eine Beweiswieder-
holung oder - im Fall zulässiger Neuerungen - die Aufnahme neuer, im erstinstanzlichen
Verfahren noch nicht vorgekommener Beweise beabsichtigt ist. 2. Wenn durch Ergän-
zung des Beweisverfahrens eine Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens be-
hoben oder wenn vom LG nicht getroffene, für eine abschließende rechtliche Beurteilung
erforderliche, Feststellungen nachgeholt werden sollen, also die Sachverhaltsgrundlage
4 03
erweitert werden muss. ' 3. Wenn zur Vermeidung einer Überraschungsentschei-
dung bestimmte Rechts- und Tatfragen mit den Parteien erörtert werden müssen.
4499 Falls nicht der Senatsvorsitzende selbst, sondern der Beisitzer Berichterstatter ist, wird er sich,
bevor er solche Verfügungen trifft, mit diesem zweckmäßigerweise vorab absprechen.
4500 ZB wenn das OG im Vorverfahren eine wegen Nichtigkeit erhobene Berufung verworfen und
den darüber gefassten Beschluss ausgefertigt oder einen solchen Beschluss in der mündlichen
Berufungsverhandlung verkündet hat (A. Kodek in Rechberger/K/icka, ZPO~ § 495 Rz 1).
4501 Besteht diesbezüglich Unklarheit, ist ein Verbesserungsverfahren einzuleiten (§§ 84f ZPO).
4502 Pimmer in Fasching/Konecny IV /1 2 § 492 ZPO Rz 17.
4503 Falls das LG alle Beweise aufgenommen hat, sich die fehlenden Feststellungen also aufgrund
der bereits vorliegenden erstinstanzlichen Beweisergebnisse treffen lassen, hat das OG eine
Beweiswiederholung vorzunehmen.
25.94 Findet keine mündliche Berufungsverhandlung statt, hat der bereits im Vorprüfungs-
verfahren bestimmte Berichterstatter einen schriftlichen Entscheidungsentwurf zu verfas-
sen, über den vom Senat in nichtöffentlicher Sitzung zu beraten und abzustimmen ist. In
diesem Fall dient die zur meritorischen Entscheidung über die Berufung durchzuführen-
de nichtöffentliche Sitzung de facto zugleich auch der Beratung und Abstimmung über
die im Vorverfahren gern§ 441 ZPO zu prüfenden Umstände.
Erachtet der Senat die Sache für entscheidungsreif, hat er die Verhandlung zu schließen 25.100
und entweder die Entscheidung sofort mündlich zu verkünden, was in der Praxis kaum
einmal der Fall ist, oder diese der schriftlichen Entscheidung vorzubehalten (§ 433 ZPO
iVm §§ 414f ZPO).
Gelangt der Senat zur Auffassung, dass eine Beweiswiederholung bzw eine Beweiser- 25.101
gänzung erforderlich ist, hat er einen entsprechenden (Beweis)Beschluss zu fassen und
zu verkünden 4506 sowie anschließend die erforderlichen Beweise aufzunehmen, wobei für
das Beweisverfahren grundsätzlich die für das erstinstanzliche Verfahren geltenden Vor-
schriften über die Beweisaufnahme und die Beweismittel anzuwenden sind (§ 458 ZPO
iVm §§ 266 bis 389 ZPO). 4507 Nach Aufnahme der wiederholten bzw ergänzten Beweise
ist die Verhandlung zu schließen und die Entscheidung zu erlassen.
4506 OGH 06 C 547/97 LES 2007, 513. Laut Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1805 hat das Berufungsgericht
zudem einen nicht anfechtbaren Beschluss auf Aufhebung des angefochtenen Urteils zu fas-
sen, wobei die Unterlassung einer solchen Beschlussfassung allerdings sanktionslos bleibt.
4507 Abweichungen ergeben sich etwa aus § 457 Abs 3 ZPO oder angesichts der per l. l. 2019
erfolgten Aufhebung von§ 459 Abs l ZPO aus§ 459 Abs 2 und 3 iVm § 377 ZPO.
4508 Oftmals wird es der Partei zum Verschulden gereichen, dass sie die neuen Beweise nicht
bereits im erstinstanzlichen Verfahren angeboten hat, und wird das OG daher das entspre-
chende Vorbringen zurückweisen (§ 452 Abs 3 ZPO).
4509 OGH 05 CG.2005.83 LES 2007, 352;10 CG.2001.474 LES 2006, 42 ua; RIS-Justiz RS0043461.
Wobei eine Rügepflicht gern§ 196 ZPO besteht.
4510 Die Beweiswiederholung infolge Beweisrüge schließt natürlich nicht aus, dass das OG auf-
grund seiner eigenen Beweiswürdigung in tatsächlicher Hinsicht die gleichen Schlüsse zieht
wie das LG, womit der vom LG festgestellte Sachverhalt unverändert bleibt.
cc) Beweisergänzung
25.108 Zu einer Beweisergänzung kann es gern§ 465 Abs I Z 2 ZPO abgesehen vom Vorbrin-
gen neuer Tatsachen und Beweismittel im Rahmen der (beschränkten) Neuerungserlaub-
4511 Welche vom OGH allerdings nur wahrgenommen werden kann, wenn das OG seinem Auf-
hebungsbeschluss einen Rechtskraftvorbehalt beisetzt (§ 487 Abs l Z 3 ZPO).
4512 OGH 04 Cg 31/2000 LES 2001, 157; RIS-Justiz RS0040132 und RS0042081 (Tl und T2).
4513 Oder nach einem Richterwechsel (§ 412 Abs 2 ZPO) wurden die Protokolle über die vom
ersten Richter unmittelbar aufgenommenen Beweise durch den neuen Richter zulässigerweise
nur verlesen (RIS-Justiz RS0042209).
4514 OGH 02 CG.2006.315 LES 2010, 94; Pimmer in Fasching/Konecny IV/IJ § 488 ZPO Rz 6.
Wenn das LG seine Feststellungen nur auf mittelbar aufgenommene Beweise gestützt hat,
kann das OG auch ohne Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung und neu-
erliche Verlesung der mittelbar aufgenommenen Beweise abweichende oder ergänzende Fest-
stellungen treffen (RIS-Justiz RS0043026 [T4)).
4515 Spätestens vor der mittelbaren Beweisaufnahme.
4516 Pimmer in Fasching/Konecny IV/IJ § 488 ZPO Rz 15. Die Parteien können grundsätzlich auch
nur teilweise auf die Unmittelbarkeit verzichten (Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1807).
4517 RIS-Justiz RS0042096.
wie der geringeren Honoraransätze in der ersten Instanz der Prozessökonomie dient und
weiter berücksichtigt, dass andernfalls den Parteien keine Tatsacheninstanz mehr zur
Verfügung stünde, weil der OGH auch bei Treffen ergänzender oder anderer Feststellun-
gen durch das OG nicht als Tatsacheninstanz fungiert. 4523
25.112 Die Berücksichtigung des Inhalts einer in den Feststellungen des angefochtenen erstin-
stanzlichen Urteils - wenn auch ohne wörtliche Wiedergabe - enthaltenen Urkunde,
deren Echtheit überdies zugestanden wurde, im Rahmen der rechtlichen Beurteilung,
ist im Übrigen ohne Beweisergänzung möglich, erfordert also nicht die Durchführung
einer mündlichen Berufungsverhandlung zur entsprechenden Verbreiterung der Sachver-
haltsgrundlage,4524 desgleichen die Berücksichtigung solcher Tatsachen, die von den
Parteien außer Streit gestellt wurden (§§ 266f ZPO). 4525
dd) Sonstiges
25.113 Ab Erhebung der Berufung bis zum Schluss der mündlichen Berufungsverhandlung, falls
eine solche nicht stattfindet, bis zur Abgabe der Urschrift der Berufungsentscheidung an
die Gerichtskanzlei zur Ausfertigung, können die Parteien Ruhen des Verfahrens ver-
einbaren (§ 453 Abs 4 Satz l ZPO); 4526 Ruhen tritt auch dann ein, wenn beide Parteien
der Berufungsverhandlung fernbleiben. 4527
25.114 Desgleichen kann auch die Klage noch im Berufungsverfahren zurückgenommen wer-
den, ohne Anspruchsverzicht jedoch nur mit Zustimmung des Beklagten. Im Umfang
der Zurücknahme der Klage wird das angefochtene Urteil ex lege wirkungslos, was
vom OG mit deklarativem Beschluss festzustellen ist (§ 453 Abs 4 Satz 2 ZPO).
25.115 Eine Klagseinschränkung auf Kosten ist auch noch im Berufungsverfahren erlaubt. 4528
25.116 Die Berufung kann ab ihrer Erhebung bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung,
falls eine solche nicht stattfindet bis zur Entscheidung des OG, entweder durch Erklärung
bei der mündlichen Verhandlung oder durch vorbereitenden Schriftsatz zurückgenom-
men werden, was vom OG mit deklarativem Beschluss zur Kenntnis genommen wird
(§ 454 Abs l ZPO). Die Zurücknahme der Berufung hat zur Folge, dass der Berufungs-
werber dem Gegner die Kosten zu ersetzen hat, welche dieser entweder in der münd-
lichen Berufungsverhandlung, wenn eine solche nicht stattfindet, binnen der Notfrist
von vier Wochen ab Verständigung von der Zurücknahme zu beantragen hat; über die
Kostenersatzpflicht hat der Berufungssenat zu entscheiden (§ 454 Abs 2 und 3 ZPO).
Zur beschränkten Neuenmgserlaubnis im Berufungsverfahren ist auf obige Ausführun- 25.117
gen zu verweisen. 4529
Für das Protokoll über die Berufungsverhandlung gelten die allgemeinen Bestimmun- 25.118
gen(§§ 207ff ZPO) mit den aus§ 462 ZPO sich ergebenden Erleichterungen.
4. Berufungsentscheidung
a) Beschluss
Mit Beschluss hat das OG die Berufung zurückzuweisen, wenn eine Prozessvorausset- 25.119
zung oder eine besondere Zulässigkeitsvoraussetzung für die Berufung fehlt, und dieser
Mangel nicht bereits im Vorprüfungsverfahren wahrgenommen wurde (§§ 463 f ZPO).
Ein solcher Beschluss ist gern § 487 Abs 1 Z 1 und 2 ZPO mit Rekurs zum OGH anfecht-
bar.
Gern§ 468 Abs 1 ZPO ebenfalls mit Beschluss zu entscheiden, nämlich das angefochtene 25.120
Urteil aufzuheben und die Rechtssache an das LG zurückzuverweisen (,,kassatorische
Entscheidung"), hat das OG in den in § 465 Abs 1 Z l bis 3 ZPO genannten Fällen
(.,Nichterledigung eines Sachantrags"; Vorliegen eines „primären Verfahrensmangels"
oder eines „sekundären Feststellungsmangels"), falls es nicht ausnahmsweise das Verfah-
ren gern § 465 Abs 3 ZPO selbst ergänzt. Das LG, an das die Rechtssache zurückverwie-
sen wird, ist gern § 468 Abs 2 ZPO an die vom OG im Aufhebungsbeschluss vertretene
Rechtsansicht gebunden, soweit diese für die Aufhebung maßgeblich war und sich im
fortgesetzten Verfahren nicht eine Änderung des Sachverhalts ergibt; auch das OG selbst
ist im zweiten Rechtsgang an seine im Aufhebungsbeschluss geäußerte Rechtsansicht ge-
bunden.4530 Ein solcher Aufhebungsbeschluss des OG ist in allen Fällen 4531 nur dann
anfechtbar, wenn das OG den Rekurs für zulässig erklärt hat (.,Rechtskraftvorbehalt";
§ 487 Abs l Z 3 ZPO).
b) Urteil
Immer dann, wenn nicht einer der in §§ 463 bis 465 ZPO vorstehend erwähnten Fälle 25.121
vorliegt, wird die Berufung sachlich geprüft und über den Streitgegenstand sachlich mit
Urteil entschieden (§ 466 Abs 1 ZPO), also das erstinstanzliche Urteil (teilweise) bestä-
tigt4532 oder (teilweise) abgeändert ([teilweise] .,reformatorische Entscheidung").
Berufungsurteile des OG in Bagatellsachen (§ 535 ZPO) sind nicht weiter anfechtbar 25.122
(§ 471 Abs I ZPO).
Alle anderen Urteile des OG sind grundsätzlich mit Revision zum OGH anfechtbar 25.123
(§ 471 Abs 2 ZPO).
4529 Rz 25.16ff.
4530 A. Kodek in Rechberger/K/icka, ZPO; § 499 Rz 4.
4531 OGH 4.9.2015, SV.2015.10 uva.
4532 In der Praxis wird die Berufung nicht „abgewiesen", sondern ihr „keine Folge gegeben".
25.124 Eine Ausnahme von diesem Grundsatz besteht dann, wenn in vermögensrechtlichen
Streitigkeiten der in sinngemäßer Anwendung der Art 3 ff RATG bestimmte Streitgegen-
stand, über den das OG entschieden hat (Entscheidungsgegenstand), in der Hauptsache
an Geld oder Geldeswert insgesamt den Betrag von CHF 50.000,- nicht übersteigt und
das angefochtene Urteil des LG vom OG in der Hauptsache zur Gänze bestätigt wird
(§ 472 Abs 2 Z I und 2 ZPO). Diese Revisionsbeschränkung gilt allerdings in den in
§ 471 Abs 3 Z I bis 3 ZPO aufgeführten Fällen, also insb dann nicht, wenn das erstins-
tanzliche Urteil vom LG unter Bindung an eine vom OG zuvor geäußerte Rechtsansicht
gefällt wurde(§ 465 Abs I iVm § 468 Abs 2 ZPO), es sei denn, das OG hatte seinem im
ersten Rechtsgang gefällten Aufhebungsbeschluss einen Rechtskraftvorbehalt beigefügt
(§ 487 Abs I Z 3 ZPO).
III. Rekursverfahren
A. Verfahren vor dem Landgericht
25.125 Wie das Berufungsverfahren wird auch das Rekursverfahren durch Erhebung des Rechts-
mittels (Rekurses) entweder durch Einbringung eines Schriftsatzes, für welchen keine
Anwaltspflicht besteht, oder durch Erklärung zu gerichtlichem Protokoll beim LG ein-
geleitet (§ 488 Abs I ZPO).
25.126 Die vierzehntägige Notfrist zur Erhebung des Rekurses beginnt mit Zustellung der
schriftlichen Beschlussausfertigung (§ 489 Abs 2 ZP0). 4533 Bezüglich der Fristwahrung
und des Einflusses der Stellung eines Verfahrenshilfeantrags gilt das zur Berufung Ge-
sagte.4534
25.127 Nach Erhebung des Rekurses hat das LG zunächst wie bei der Berufung die Gebühren-
einziehung durch die Abteilung für Zentrale Dienste zu veranlassen. Das Gebührenein-
ziehungsverfahren gestaltet sich gleich wie bei der Berufung, sodass auch insofern auf das
dort Gesagte verwiesen werden kann. 4535
25.128 Im Gegensatz zur Berufung hat das LG nach Entrichtung der Gerichtsgebühr durch den
Rekurswerber nicht nur die Rechtzeitigkeit, sondern auch die Zulässigkeit des Rekurses
zu prüfen; unzulässige 4536 oder verspätete Rekurse hat das LG von Amts wegen zurück-
zuweisen (§ 491 ZPO). Der vom LG gefasste Zurückweisungsbeschluss kann mit Rekurs
bekämpft werden; die vom OG darüber getroffene Rekursentscheidung ist nur nach
Maßgabe von § 496 Abs 1 ZPO mit Revisionsrekurs zum OGH anfechtbar, also dann,
wenn das OG nicht spruchgemäß gleich entscheidet wie das LG. 4537 Unterlässt das LG
die Zurückweisung, ist diese vom OG nachzuholen (§ 494 Abs 2 ZPO).
4533 Falls die bei der mündlichen Verkündigung des Beschlusses anwesenden Parteien auf eine
schriftliche Beschlussausfertigung verzichtet haben, beginnt die Rekursfrist mit der Verkün-
digung zu laufen. In Bagatellsachen (§ 535 ZPO) beginnt die Rekursfrist, wenn der Beschluss
in Gegenwart beider Parteien verkündet wurde, mit dem der Verkündigung folgenden Tag zu
laufen (§ 489 Abs 2 ZPO).
4534 Oben Rz 25.55 ff.
4535 Oben Rz 25.61 ff.
4536 ZB nicht statthafte (hierzu oben Rz 25.28) oder von einer hierzu nicht legitimierten Person
erhobene Rekurse.
4537 Gibt das OG dem Rekurs keine Folge, ist dem Rekurswerber der Revisionsrekurs versagt.
Das Rekursverfahren ist, falls das Verfahren bereits streitanhängig 4538 ist, gern § 489 a 25.129
ZPO grundsätzlich wie das Berufungsverfahren zweiseitig. Ist der Rekurs weder verspä-
tet noch unzulässig, hat ihn das LG daher dem Gegner zur Erstattung einer Rekursbe-
antwortung zuzustellen. Es ist nicht maßgeblich, um welche Art von Beschluss es sich
handelt, sodass insb auch das Verfahren über Rekurse gegen bloß prozessleitende Be-
schlüsse zweiseitig ist. Die Rekursbeantwortung ist binnen der Notfrist von 14 Tagen
ab Zustellung des Rekurses beim LG zu erstatten (§ 489a Satz 2 ZPO). Von der Einho-
lung einer Rekursbeantwortung darf das LG gern § 489a Satz 1 ZPO nur dann absehen,
wenn dem die Dringlichkeit der Rechtssache entgegensteht oder dadurch der Zweck des
Rekurses vereitelt würde. 4539
Bei der Rekursbeantwortung handelt es sich um einen vorbereitenden Schriftsatz, wel- 25.130
eher zumindest den allgemeinen Formalerfordernissen eines Schriftsatzes (§ 75 ZPO) zu
genügen hat. Inhaltliche Erfordernisse sieht die ZPO für die Rekursbeantwortung nicht
vor.4,40
Falls der Rekurswerber in seinem Rechtsmittel einen Antrag auf Bewilligung der auf- 25.131
schiebenden Wirkung gestellt hat - die Erhebung des Rekurses hindert gern § 492 Abs 1
ZPO die Ausführung des angefochtenen Beschlusses und dessen Vollstreckbarkeit nicht-,
hat das LG über diesen Antrag nach Einlangen der Rekursbeantwortung zu entscheiden.
Gegen den die Hemmung bewilligenden Beschluss steht kein Rechtsmittel offen; der den
Antrag abweisende Beschluss kann mit Rekurs angefochten werden (§ 492 Abs 2 Satz 2
ZPO).
Bei Rekursen gegen die in § 490 Abs 1 und 2 ZPO angeführten Beschlüsse kann das LG 25.132
dem Rekurs auch selbst stattgeben, ist der Rekurs also ausnahmsweise nicht devolutiv,
sondern remonstrativ. Ein solcher Beschluss ist mit Rekurs anfechtbar.
Nach Einlangen der Rekursbeantwortung hat das LG den Rekurs - nach Entscheidung 25.133
über einen vom Rekurswerber allenfalls gestellten Aufschiebungsantrag - .,ohne Auf-
schub mit aufklärendem Bericht und mit allen für die Beurteilung des Rekurses erforder-
lichen Akten vorzulegen" (§ 490 Abs 3 ZPO). In der Praxis wird dem OG idR entgegen
der ausdrücklichen Anordnung in § 490 Abs 3 ZPO der gesamte Akt auch dann vorge-
legt, wenn die Rekurserhebung den weiteren Gang des Verfahrens nicht hindern würde.
In solchen Fällen wäre es der Verfahrensbeschleunigung dienlich, wenn das LG dem OG
nur jene Aktenteile in Kopie vorlegen würde, die dieses zur Entscheidung übe·r den Re-
kurs benötigt, um dann das Verfahren in der Hauptsache während des Rekursverfahrens
fortzusetzen.
Wie im Berufungsverfahren steht auch im Rekursverfahren dem Gegner die Möglichkeit 25.134
offen, binnen der Frist zur Erstattung einer Rekursbeantwortung entweder gleichzeitig
4538 Diese tritt mit Zustellung der Klage an den Beklagten ein (§ 240 Abs 1 ZPO).
4539 Das dürfte va für Rekurse gegen Beschlüsse, mit denen das LG eine einstweilige Verfügung
(Art 270ff EO) erlassen hat, relevant sein.
4540 Ist der Rekurs verspätet oder unzulässig, ist zwar eine Rekursbeantwortung trotzdem statthaft,
gebührt dem Rekursgegner dafür aber nur dann Kostenersatz, wenn er auf Verspätung oder
Unzulässigkeit des Rekurses hingewiesen hat (OGH 4. 9. 2015, SV.2015.10; 06 CG.2008.378
LES 2010, 94 uva).
Zustellung, also noch vor Einlangen der Zustellnachweise, wird der Akt an das LG re-
tourniert.
Wenn der Rekurs unstatthaft oder verspätet ist, oder wenn Form- und Inhaltsmängel - 25.141
nach erfolglosem Verbesserungsversuch - eine geschäftsordnungsgemäße Behandlung
verunmöglichen, hat das OG, soweit dies nicht bereits das LG als Eingangsgericht getan
hat, den Rekurs zurückzuweisen. 4549 Dieser Beschluss kann mit Revisionsrekurs zum
OGH angefochten werden. 4550
Erkennt das OG nach sachlicher Prüfung, dass die geltend gemachten Rekursgründe 25.142
nicht greifen, hat es den angefochtenen Beschluss zu bestätigen, dh den Rekurs abzu-
weisen.4551 Dieser Beschluss ist nicht weiter mit Revisionsrekurs zum OGH anfechtbar
(§ 496 Abs 1 ZPO). 4552
Findet das OG den Rekurs sachlich begründet, hat es entweder reformatorisch oder 25.143
kassatorisch zu entscheiden. Im Fall der reformatorischen Entscheidung hat das OG
4553
den angefochtenen erstinstanzlichen Beschluss abzuändern; ein solcher Beschluss ist
grundsätzlich - falls also das Gesetz nicht ausdrücklich anordnet, dass das OG endgültig
4554
entscheidet - mit Revisionsrekurs zum OGH anfechtbar(§ 496 Abs 1 ZPO). Entschei-
det das OG kassatorisch, hebt es also den angefochtenen Beschluss auf und verweist die
Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das LG zurück, so ist dieser Beschluss un-
4555
ter allen Umständen nur dann anfechtbar, wenn das OG den Revisionsrekurs aus-
4556
drücklich für zulässig erklärt hat (,,Rechtskraftvorbehalt"), was allerdings nur dann
zulässig ist, wenn die ZPO nicht anordnet, dass das OG endgültig entscheidet (§ 495
Abs 2 Satz l und Abs 3 ZPO). Das LG, an welches die Rechtssache zurückverwiesen wird,
ist an die vom OG im Aufhebungsbeschluss geäußerte Rechtsansicht gebunden.
§ 494 Abs 3 ZPO verlangt, dass den Parteien eine schriftliche Ausfertigung der Rekurs- 25.144
entscheidung zuzustellen ist. Welchen Inhalt die Rekursentscheidung aufzuweisen hat,
regelt die ZPO nicht. Die §§ 425 ff ZPO, welche Form und Inhalt von Beschlüssen regeln,
können jedenfalls nicht unbesehen angewendet werden. 4557 In der Praxis enthalten Re-
kursentscheidungen des OG immer einen von der Begründung äußerlich klar abgeson-
derten Spruch. In der Begründung seiner Rekursentscheidungen setzt sich das OG ange-
sichts der strengen Rsp des StGH zu der in Art 95 LV iVm Art 43 Satz 3 LV grundrecht-
lich bewehrten Begründungspflicht idR sehr ausf mit den geltend gemachten Rekurs-
gründen sowie, falls diese bejaht werden, mit den vom Gegner dafegen in einer
Rekursbeantwortung ins Treffen geführten Argumenten auseinander, 455 und orientiert
sich überhaupt an der für Urteile geltenden Vorschrift des § 417 ZPO.
25.145 Falls eine Entscheidung über die Kosten des Rekursverfahrens nicht möglich ist, 4559 sind
diese Kosten spruchgemäß zu weiteren Kosten des Verfahrens zu erklären (§ 52 ZPO).
Übersicht
Rz
I. Funktion von Revision und Revisionsrekurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.1
II. Revisionsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.6
A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.6
B. Nichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.9
C. Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.13
1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.14
2. Verfahrensrüge: Fallkonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.21
a) Krass unrichtige Feststellungen; offensichtlich unhaltbare Be-
weiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.21
b) Sachlich nicht nachvollziehbare Begründung für eine Abwei-
sung von Beweisanträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.24
c) Beweis der Unrichtigkeit ergänzender offenkundiger Tatsachen 26.25
d) Verletzung des Unmittelbarkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . 26.26
e) Anfechtung durch die in zweiter Instanz unterliegende Partei 26.29
0 Amtswegig wahrzunehmende Verfahrensmängel . . . . . . . . . 26.30
D. Aktenwidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.31
E. Unrichtige rechtliche Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.37
1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.38
a) Prüfungsumfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.38
b) Prüfungsgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.42
2. Rechtsrüge: Fallkonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.46
a) Abgrenzung von Tat- und Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . 26.46
b) Sekundäre Feststellungsmängel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.48
c) Verstoß gegen die Gesetze der Logik und Erfahrung . . . . . . 26.51
d) Auslegung von Urkunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.52
e) Feststellung und Anwendung ausländischen Rechts . . . . . . . 26.54
O Überraschungsurteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.55
26.2 Diese Charakterisierung (auch) des Revisions- und Revisionsrekursverfahrens 4561 in bür-
gerlichen Rechtsstreitigkeiten 4562 ist nach wie vor aktuell: Für den Praktiker (Anwalt)
bestehen nach einem in erster Instanz verlorenen Prozess mit Berufung und Revision
noch zwei weitere Chancen, das Blatt zu wenden - wobei die Bedingungen immer prekä-
rer werden. Denn im Revisions- oder Revisionsrekursstadium eines Prozesses fungiert
der OGH nicht mehr als Tatsachen-, sondern nur noch (und zwar ausschließlich!) als
„Kontrollinstanz in materiell- und formell-rechtlicher Beziehung". 4563
26.3 Umso wichtiger ist die gesetzesgemäße Ausführung der im Werkzeugkasten der§§ 446
und 472 ZPO vorgegebenen Revisions- und Revisionsrekursgründe der Nichtigkeit,
Mangelhaftigkeit des Verfahrens, Aktenwidrigkeit und unrichtigen rechtlichen Be-
urteilung: Wird ein Urteil oder Beschluss des OG mit einem anderen Angriffsmittel
oder nicht dem Gesetz gemäß bekämpft (,.nicht prozessordnungskonform zur Darstel-
lung gebracht"), lehnt der OGH die Wahrnehmung seiner Kontrollfunktion in
stRsp ab.
26.4 Auch wenn das Gesetz als Revisionsrekursgründe nur die Nichtigkeit und unrichtige
rechtliche Beurteilung nennt, können mit Revisionsrekurs auch Verfahrensmängel und
Aktenwidrigkeit geltend gemacht werden 4564 : Im Revisions- und Revisionsrekursverfah-
ren stehen die gleichen vier Rechtsmittelgründe zur Verfügung. Der Einfachheit halber
werden sie nachstehend unter dem Titel der Revisionsgründe zusammengefasst.
26.5 Von der am 1. 1. 2019 in Kraft getretenen ZPO-Nov v 6. 9. 2018 4565 werden die Revi-
sionsgründe - und ihre sedes materiae4566 - inhaltlich nicht berührt; zahlenmäßig sollen
Rechtsmittelverfahren in Zukunft abnehmen. 4567 Nachdem die Ausgestaltung der Revi-
sionsgründe in den §§ 446 und 472 ZPO der Rezeptionsvorlage 4568 fast Wort für Wort
entspricht (die Abweichungen 4569 sind bedeutungslos), ist die einschlägige öLehre und
Rsp in jeder Hinsicht richtungsweisend; sodass sich dieser Beitrag darauf beschränken
kann, Kernpunkte aus der Kasuistik des OGH~ 570 herauszuschälen. Keinen Gegenstand
dieses Beitrags bilden die Besonderheiten der Anwendung der von Art 87 Abs I und 93
Abs 2 AHVG verwiesenen §§ 446 und 472 ZPO auf das sozialversicherungsrechtliche
(Rechtsmittel-)Verfahren. 4571
4561 Rechtsmittel gegen Aufhebungsbeschlüsse des Berufungsgerichts (§ 487 Abs I Z 3 ZPO) sind
seit einer Judikaturänderung vom November 2019 als Rekurse zu bezeichnen: OGH 06
CG.2017.593 LES 2019, 236.
4562 Art 100 Abs I LV.
4563 OGH 7 C.31/82 LES 1985, 86.
4564 OGH 2R EX.2008.1496 LES 2010, 484.
4565 LGBl 2018/207.
4566 §§ 446, 472 ZPO.
4567 Dies wegen der mit dieser Nov beschlossenen Beschränkung des lnstanzenzugs (vom OG an
den OGH; s dazu BuA 2018/19, 3.2.1).
4568 §§ 477, 503 öZPO.
4569 Bsp: ,.Appellationsgericht" in der ZPO, ,,Berufungsgericht" in der öZPO.
4570 Per 31. 12. 2018.
4571 Siehe dazu Hotz in FS Delle Karth 481; OGH Sv.2007.9 LES 2009, 62.
II. Revisionsgründe
A. Allgemeines
Nachdem sich die Aufzählung der Revisionsgründe in § 472 ZPO erschöpft und (auch) 26.6
durch Analogie nicht erweitern lässt 4572 , können Fehler bzw Unrichtigkeiten des Beru-
fungsverfahrens oder des Berufungsurteils, die nicht bzw nicht eindeutig 4573 unter einen
der gesetzlich vorgesehenen Revisionsgründe fallen, in der Revision nicht releviert und
vom OGH nicht aufgegriffen werden. Dazu gehören - in der Praxis immer wieder ver-
kannt - in erster Linie die von den Unterinstanzen in tatsächlicher Hinsicht getroffenen
Feststellungen; dh der vom LG und/oder OG gewonnene Prozessstoff.
Wird die Revision auf keinen der vom Gesetz vorgegebenen bzw „genau definierten" 4574 26.7
Revisionsgründe gestützt oder werden letztere nicht voneinander getrennt dargelegt (son-
dern „durchmischt" 4575 ) - oder widerspricht die Revision den Erfordernissen der §§ 472
und 475 ZPO aus sonstigen Gründen (wie zB dann, wenn sie sich auf Verweise auf den
Inhalt der Berufung beschränkt 4576 oder wenn die Ausführungen in der Revision keinen
konkreten Bezug auf den geltend gemachten Revisions~rund beinhalten 4577 ) - wird sie,
auch wenn die ZPO eine „materielle Friedensordnung" 4 • 78 bezweckt, vom OGH verwor-
fen4579 bzw ganz oder teilweise zurückgewiesen 4580 : Bei Inhaltsmängeln einer Revision
(eines Revisionsrekurses 4581 ) geht einem Verbesserungsauftrag (des OGH) eine gesetz-
liche Grundlage nach wie vor ab. 4582
Eine Ausnahme macht der OGH nur unter bestimmten, in stRsp relevierten Umstän- 26.8
den: So schadet die falsche Benennung 4583 eines Rechtsmittelgrunds oder dessen feh-
lende namentliche Anführung4584 nicht. Ebenso ist in dem im Vergleich zum Revi-
sionsverfahren weniger formstrengen Revisionsrekursverfahren - auch wenn die Gren-
zen eines Rechtsmittelverfahrens und damit die Nachprüfungskompetenz des OGH
durch die Rechtsmittelanträge abgesteckt werden 4585 - auch das Fehlen eines (schlüs-
4572 OGH 09 CG.2003.258 LES 2008, 106. Lovrek in Fasching/Konecny IV/1 3 § 503 ZPO Rz 4.
4573 OGH 09 CG.2006.8 LES 2009, 17.
4574 OGH 01 CG.2013.164 GE 2015, 53.
4575 OGH 6 CG.2008.258 GE 2013, 163.
4576 OGH 05 CG.2008.49 GE 2010, 21 l; 5 C 51/94 LES 1999, 49. Lovrek in Fasching/Konecny IV/1 3
§ 506 ZPO Rz 14.
4577 OGH 8 CG.2005.183 LES 2008, 120.
4578 OGH 4 C 194/81 LES 1983, 53.
4579 OGH 4 Cg 333/1999 LES 2003, 36.
4580 OGH 05 CG.2008.49 GE 2010, 211; 6 CG.2005.232 LES 2010, 264. Anders OGH 04
CG.2013.476: ,.Die Revisionsgründe sind für sich gesondert und kurz, jedoch erschöpfend,
bestimmt und schlüssig darzulegen. Mangelt es an einer getrennten Ausführung der Revi-
sionsgründe, so ist das nicht weiter beachtlich, soweit die Zugehörigkeit der Rechtsmittelaus-
führungen zu dem einen oder anderen Revisionsgrund erkennbar ist."
4581 OGH EX.2002.1952 LES 2003, 260.
4582 OGH 6 CG.2005.232 LES 2010, 264; Delle-Karth, LIZ 2/2000, 39.
4583 OGH 4 C 84/83 LES 1991, 10; 2 C 400/79 LES 1983, 83.
4584 OGH 8 EX.2009.1221 LES 2010, 104.
4585 OGH 6 CG.2008.302 LES 2010, 18.
sigen 4586 ) Antrags dann nicht nachteilig, wenn aus der Art der bekämpften Entschei-
dung und aus dem Gesamtzusammenhang erkennbar ist, warum sich der Rechtsmit-
telwerber für beschwert erachtet und was mit dem Rechtsmittel angestrebt werden
soll. 4587 Das Gleiche gilt für einen verfehlten oder auch nur missverständlich formulier-
ten Antrag jedenfalls dann, wenn das Ziel des Rechtsmittels durch die Anfechtungser-
klärung und seine Ausführungen bestimmt ist. 4588 Auch ein solcher Antrag führt -
jedenfalls im Revisionsrekursverfahren und auch bei einer rechtsfreundlich vertretenen
Partei - nicht zur Zurückweisung des Rechtsmittels, sondern zu einem Verbesserungs-
auftrag.4589
B. Nichtigkeit
26.9 Nach § 472 Z 1 ZPO kann die Revision begehrt werden, wenn das Berufungsurteil wegen
einem der in § 446 ZPO bezeichneten Mängel nichtig ist (Nichtigkeitsrüge).
26.10 Die (im Gesetz nicht abschließend aufgezählten 4590 ) Nichtigkeitsgründe der ZPO sind
schwere Verletzungen grundsätzlicher Verfahrensvorschriften, die ohne Rücksicht da-
rauf, ob die von ihnen betroffene Entscheidung sachlich richtig ist oder nicht, auch von
Amts wegen wahrgenommen werden müssen. Verfahrensverstöße sind dann Nichtig-
keitsgründe, wenn so schwerwiegende Grundvoraussetzungen einer geordneten Zivil-
rechtspflege verletzt werden, dass die daraus hervorgegangene Entscheidung allein schon
im öffentlichen Interesse an einer geordneten Rechtspflege beseitigt werden muss, selbst
wenn sie im Einzelfall sachlich richtig sein sollte. 4591
26.11 Wird eine Nichtigkeit erster Instanz vom Berufungsgericht nur als eine Mangelhaftigkeit
des Verfahrens erörtert, liegt keine (den OGH) bindende, die Nichtigkeit verneinende
und einer Anfechtung in dritter Instanz entzogene Entscheidung (des Berufungsgerichts)
vor. Vielmehr ist auch die das Ersturteil bestätigende Entscheidung (des Berufungsge-
richts) mit einer Nichtigkeit behaftet, die vom OGH wahrzunehmen ist. 4592 In gleicher
Weise kann eine schon in erster Instanz unterlaufene angebliche Nichtigkeit, die auf das
Berufungsverfahren durchschlägt und vom Berufungsgericht nicht verneint wurde, in der
Revision geltend gemacht werden 4593 (und muss eine solche Nichtigkeit vom OGH sogar
von Amts wegen berücksichtigt werden 4594 ); nicht aber eine allfällige, im Verfahren erster
Instanz unterlaufene Nichtigkeit, auf die das Berufungsgericht eingegangen ist und die es
verworfen hat. 4595
Nichtigkeiten werden in der Praxis zwar immer wieder gerügt; zu einer Aufhebung von 26.12
Berufungsurteil4596 oder -verfahren 4597 kommt es jedoch kaum; dies nicht zuletzt des-
halb, weil der OGH bei der Beurteilung allfälliger Nichtigkeiten unterinstanzlicher Ur-
teile mit Rücksicht auf den damit zunichte gemachten Verfahrensaufwand restriktiv vor-
zugehen pflegt.~ 598 Wegen ihres mit § 477 öZPO identischen Wortlauts kann auf eine
Erläuterung der neun, in § 446 ZPO gesetzlich (wenn auch nicht abschließend 4599 ) gere-
gelten Nichtigkeitsgründe an dieser Stelle verzichtet und auf die einschlägige, auch in
Liechtenstein maßgebende Lit und Judikatur zu § 477 öZPO verwiesen werden.
1. Allgemeines
4602
IZm Stoffsammlungsmängeln , den in der Praxis am häufigsten gerügten angeblichen 26.14
Verfahrensmängeln, erfasst § 472 Z 2 ZPO Gesetzesverletzungen bei der Stoffsammlung
(oder bei der Erörterung des Verhandlungsstoffs 4603 ) unter dem Gesichtspunkt, dass sie
eine erschöpfende Erörterung und gründliche Beurteilung der Sache zu hindern ge-
eignet gewesen waren 4604 - wobei eine Verfahrensrüge von vornherein nicht dazu füh-
ren kann, das Ergebnis der unterinstanzlichen Stoffsammlung und/oder die von den Un-
terinstanzen in tatsächlicher Hinsicht getroffenen Feststellungen zu überprüfen 4605 : Ein
Revisionsgrund der unrichtigen Beweiswürdigung und/oder unrichtigen Feststellung von
Tatsachen „existiert nicht" 4606 •
Das Ergebnis der unterinstanzlichen Stoffsammlung kommt durch die Würdigung der 26.15
aufgenommenen Beweise zustande, was deshalb von Bedeutung ist, weil es dem OGH
verwehrt ist, in die freie Beweiswürdigung der Unterinstanzen einzugreifen. Der unter-
instanzlich festgestellte Sachverhalt ist für den OGH in jedem Fall unüberprüfbar, wo-
zu auch die Entscheidung des Berufungsgerichts gehört, ob es der Beweiswürdigung
des Erstgerichts beitritt, ob es vom Bestehen oder Nichtbestehen einer erstgerichtlich
festgestellten Tatsache überzeugt ist 4607 oder ob es dazu eine Beweiswiederholung oder
-ergänzung für erforderlich hält 4608 , ob eine verlässliche Prüfung der Beweiswürdigung
und deren Korrektur aufgrund eigener Beweisaufnahme oder durch die bloße Verle-
sung von Einvernahmeprotokollen von Zeugen und Parteien möglich ist 4609 oder ob in
erster Instanz weitere Beweise (wie zB in Gestalt der Vernehmung einer nicht gehörig
entschuldigt ausgebliebenen Partei 4610 ) unter Einschluss eines Kontrollbeweises aufzu-
nehmen gewesen wären (bspw in Gestalt eines Obergutachtens). 4611
26.16 Eine im Revisionsverfahren grundsätzlich unzulässige Bekämpfung der freien Beweis-
würdigung4612 bildet aber auch der Vorwurf, dass sich das Berufungsgericht mit be-
stimmten Beweisergebnissen nicht oder nicht ausreichend auseinandergesetzt habe 4613
oder auf sie keinen Bezug nehme 461 4, oder eine Kritik an der Entscheidung (des Erst-
oder Berufungsgerichts) darüber, welche Glaubwürdigkeit einem Beweismittel zukommt
(wie zB einem Zeugen). 4615
26.17 Mangelhaft ist das Berufungsverfahren vor diesem Hintergrund nur dann, wenn sich
das Berufungsgericht mit einer Beweisrüge überhaupt nicht befasst 4616 bzw eine solche
Rüge nicht ausreichend erörtert 4617 hat, sodass im Berufungsurteil dazu keine nach-
vollziehbaren Überlegungen festgehalten sind. 4618 Existieren solche Überlegungen, fällt
es in den Bereich der irrevisiblen freien Beweiswürdigung, ob sie richtig oder falsch
sind. 4619 Das Gleiche gilt dann, wenn das Berufungsgericht die vom Erstgericht aufge-
nommenen Beweise wiederholt: Durch die eigene Beweisaufnahme und -würdigung
erledigt es den Berufungsgrund der unrichtigen Beweiswürdigung und unrichtigen Tat-
sachenfeststellung iS einer „umfassendste(n) Überprüfung der Beweiswürdigung erster
Instanz" 4620 .
26.18 Keine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens liegt schließlich in einer (aus der Sicht
des Rechtsmittelwerbers) mangelhaften, unvollständigen oder rechtlich nicht schlüssigen
materiell-rechtlichen Begründung des Berufungsurteils. 4621
4607 OGH 09 CG.2006.8 LES 2009, 17; 8 C 285/88 LES 2002, 162.
4608 OGH 02 CG.2006.213 GE 2010, 207; 1 CG.2003.336 LES 2006, 493; 1 C 361/91 LES 1993, 51.
4609 OGH 2 CG.2006.315 LES 2010, 94.
4610 OGH 1 CG.2005.55 LES 2007, 433.
4611 OGH 3 C 382/98 LES 2002, 313; 9 C 509/98 LES 2001, 162.
4612 OGH 3 C 382/98 LES 2002, 313; 8 C 285/88 LES 2002, 162.
4613 OGH 03 CG.2008.73 GE 2011, 18.
4614 OGH 5 C 51/94 LES 1999, 49.
4615 OGH 1 CG.2003.336 LES 2006, 493.
4616 OGH 02 CG.2006.138 LES 2009, 196; 09 CG.2006.8 LES 2009, 17; 06 CG.1991.373 LES 2008,
431; 03 CG.2002.272 LES 2008, 339; 5 C 51/94 LES 1999, 49.
4617 OGH 9 Cg 2001.101 LES 2005, 34.
4618 OGH 9 C 509/98 LES 2001, 162; 4 Cg 31/2000 LES 2001, 157.
4619 OGH 6 C 434/93 LES 2000, 44.
4620 OGH 06 CG.1991.373 LES 2008, 431.
4621 OGH 09 CG.2010.272 LES 2011, 169.
Für die Wahrnehmung einer Verfahrensrüge durch den OGH bestehen zwei Schranken: 26.19
Zum einen können Mängel des Berufungsverfahrens nur dann zur Aufhebung des Beru-
fungsurteils führen, wenn sie für die Entscheidung wesentlich waren oder sich auf diese
auswirken konnten 4622 ; wenn der Mangel also abstrakt dazu geeignet war, eine erschöp-
fende Erörterung und gründliche Beurteilung der Streitsache zu verhindern. 4623 Für die
gesetzmäßige Ausführung einer Verfahrensrüge ist daher - und zwar konkret 4624 -
darzulegen 4625 , welche Auswirkungen der Verfahrensmangel auf die Entscheidung in
der Hauptsache hatte (Kausalität des Verfahrensmangels) 4626 und welche günstigen, für
die Entscheidung der Rechtssache wesentlichen Beweisergebnisse oder Feststellungen 4627
.. 4628
zu erwarten gewesen waren.
Zum anderen kann ein Verfahrensmangel erster Instanz, der im Berufungsverfahren 26.20
zwar gerügt, vom Berufungsgericht jedoch verneint worden ist, in dritter Instanz nicht
mehr geltend gemacht werden. Dieser Grundsatz ist stRsp 4629 (auch in Österreich 4630 )
und umfasst auch die Begründung, die das Berufungsgericht für das Nichtvorliegen des
Verfahrensmangels gegeben hat (sodass auch sie der Überprüfung durch den OGH ent-
zogen ist). 4631 Er gilt jedoch dann nicht, wenn dem Berufungsgericht bei der Behandlung
der Beweisrüge selbst ein Verfahrensmangel unterlaufen ist 4632 (wie zB dann, wenn der
Verfahrensmangel erster Instanz vom Berufungsgericht mit einer Scheinbegründung ver-
neint \rnrde 4633 ), oder dann, wenn das Berufungsgericht eine Erledigung der Mängelrüge
unterlassen oder sie mit einer durch die Aktenlage nicht gedeckten Begründung verwor-
fen oder den Verfahrensmangel erster Instanz infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung
4634
der Sache nicht wahrgenommen hat. Hat das Berufungsgericht die Behandlung einer
Rechtsrüge deshalb verweigert, weil es sie - unrichtigerweise - als nicht gesetzesgemäß
ausgeführt erachtet hat, muss dies in der Revision mit Verfahrensrüge bekämpft wer-
den.46JS
4622 OGH 4 CG.2008.14 LES 2010, 239. Bsp für einen nicht kausalen Verfahrensmangel: OGH
10 Cg 2002.79 LES 2005, 379.
4623 OGH 04 CG.2009.17 LES 2010 234.
4624 OGH 8 C 285/88 LES 2002, 162.
4625 Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Erheblichkeit des Mangels offenkundig ist: OGH 02
CG.2015 unter Verweis auf RIS-Justiz RS0043049.
4626 OGH 02 CG.2009.327 GE 2012, 30; 06 CG.2007.31 LES 2010, 150.
4627 OGH 04 CG.2009.17 LES 2010 234.
4628 OGH 05 CG.2008.49 GE 2010, 211 mit Verweis auf LES 2006, 250 und LES 2002, 162.
4629 OGH 7 C 111/82 LES 1985, 125; 4 CG.2005.179 LES 2008, 392; 4 CG.2006.74 LES 2008, 439;
02 CG.2006.138 LES 2009, 196; 6 CG.2006.299 LES 2010, 189.
4630 Lovrek in Fasching/Konecny IV/ 13 § 503 ZPO Rz 99.
4631 OGH 9 C 509/98 LES 2001, 162. Dies gilt nach OGH 7 C 111/82 LES 1985, 125 jedoch dann
nicht, wenn dem Berufungsgericht bei der Prüfung der Frage, ob der Verfahrensmangel vor-
liegt, selbst ein Verfahrensmangel unterlaufen ist.
4632 OGH 7 C l l 1/82 LES 1985, 125.
4633 OGH 6 CG.2007.347 LES 2010, 169.
4634 OGH 08 EG.2015.13.
4635 OGH 06 CG.201 l.150 GE 2012, 171 mit Verweis auf RIS-Justiz RS004323l.
2. Verfahrensrüge: Fallkonstellationen
a) Krass unrichtige Feststellungen; offensichtlich unhaltbare
Beweiswürdigung
26.21 Dem Obenstehenden folgend ist der für den OGH maßgebende Sachverhalt jener, der
nach den unterinstanzlich getroffenen Feststellungen spätestens zum Zeitpunkt des
4636
Schlusses der mündlichen Berufungsverhandlung gegeben war.
26.22 In Abweichung von diesem Grundsatz ist der von den Unterinstanzen festgestellte Sach-
4637
verhalt für den OGH - eine darauf gerichtete Verfahrensrüge vorausgesetzt - dann
überprüfbar, wenn sich die Feststellungen als krass unrichtig oder durch die Beweis-
aufnahme überhaupt nicht gedeckt erweisen, wenn sie auf einer offensichtlich unhalt-
baren Beweiswürdigung beruhen 4638 oder wenn das Berufungsgericht eine Beweisrüge
9
übergangen oder mit inhaltsleeren Floskeln oder Scheinbegründungen abgetan hat. 4 <'>-'
Eine solche Konstellation kann an den OGH mit Verfahrensrüge herangetragen werden.
26.23 Erst- und Berufungsurteil sind durch den OGH dann aufzuheben, wenn dem Ersturteil
gravierende, vom Berufungsgericht übergangene Feststellungsmängel anhaften, die eine
ergänzende Erörterung des Sachverhalts mit den Parteien und deren weiteres Vorbringen
unumgänglich machen 4640 und die Weiterungen des Verfahrens noch nicht abzusehen
sind. 4641 Mit der Aufhebung wird das Verfahren in den Stand vor Schluss der Verhand-
- kversetzt. 4642
1ung erster Instanz zuruc
Ein Bsp für eine wegen Verletzung des Unmittelbarkeitsprinzips erfolgreich geltend ge- 26.28
machte Verfahrensrüge ist der Beschluss (des OGH) v 7. 2. 2007. 4655
D. Aktenwidrigkeit
26.31 Nach § 472 Z 3 ZPO kann die Revision deshalb begehrt werden, weil dem Urteil des
Berufungsgerichts in einem wesentlichen Punkte eine tatsächliche Voraussetzung zu-
grunde gelegt erscheint, die mit den Prozessakten erster oder zweiter Instanz im Wi-
derspruch steht (Aktenwidrigkeitsrüge).
4662
26.32 Der Revisionsgrund der Aktenwidrigkeit - der in der Praxis kaum zum Zug kommt
(,.lahme Ente" 461, 3 ) - kann, wie der OGH schon in den sechziger Jahren des letzten Jahr-
hunderts betont hat, nur dann aufgegriffen werden, wenn unterinstanzliche Feststellun-
gen auf aktenwidriger Grundlage getroffen worden sind, dh auf einem bei der Dar-
stellung der Beweisergebnisse unterlaufenen Irrtum oder als Folge eines Formverstoßes,
der aus den Prozessakten selbst erkenn- und behebbar ist. 4664
26.33 Diesen Grundsatz hat der OGH immer weiter verfeinert: Eine Aktenwidrigkeit liegt
dann vor, wenn das Berufungsgericht eine entscheidungswesentliche Feststellung ge-
4665
troffen hat, für die nach der Aktenlage keine tatsächliche bzw überhaupt keine be-
weismäßige 4666 Grundlage vorhanden ist, wenn ein Widerspruch zwischen dem Inhalt
eines aktenmäßigen Vorgangs 4667 oder eines bestimmten Aktenstücks 4668 und dessen
Wiedergabe durch das Berufungsgericht besteht (Übertragungsirrtum oder Übertra-
gungswiderspruch)4669, wenn Feststellungen durch das Berufungsgericht unrichtig wie-
dergegeben werden 4670 oder wenn bei der Darstellung der Beweisergebnisse ein Irrtum
unterlaufen ist. 4671
Keine Aktenwidrigkeit liegt demgegenüber bei einer unrichtigen Würdigung oder un- 26.34
richtigen Heranziehung oder Übergehung eines möglichen Beweismittels vor 4672 ,
wenn eine allenfalls mögliche Feststellung nicht getroffen oder eine Feststellung - im
Rahmen der Beweiswürdigung4673 - durch Schlussfolgerung gewonnen wurde 4674 , wenn
eine Feststellung auf einer Würdigung aufgenommener Beweise bzw auf Schlussfolgerun-
gen aus richtig zitierten Beweisergebnissen beruht 4675 , wenn an bestimmte, in den Pro-
zessakten enthaltene Tatsachen Schlussfolgerungen feknüpft werden 4676 , wenn Parteibe-
hauptungen unrichtig wiedergegeben worden sind 4 77 oder wenn ein Widerspruch zwi-
schen einer Feststellung und irgendeinem vorhandenen Beweismittel besteht. 4678 Ebenso
wenig stellt eine im Berufungsverfahren vorgekommene Aktenwidrigkeit den Revisions-
grund nach § 472 Z 3 ZPO her. 4679
Eine Aktenwidrigkeit wird vom OGH nur dann aufgegriffen, wenn sie eine für die Ent- 26.35
scheidung kausale Feststellung des Berufungsurteils betrifft 4680 , dh wenn sie für das
Berufungsurteil von wesentlicher Bedeutung gewesen war 4681 bzw dazu geeignet ist, die
Entscheidungsgrundlagen zu verändern. 4682 Dies ist vom Revisionswerber für eine geset-
zesgemäße Ausführung dieses Revisionsgrunds im Einzelnen darzulegen. Eine im Beru-
fungsverfahren nicht erhobene Aktenwidrigkeitsrüge kann in der Revision nicht nachge-
4683
tragen werden.
4666 OGH 4 Cg 333/1999 LES 2003, 36; 4 Cg 2000.230 LES 2003, 145.
4667 OGH 06 CG.1991.373 LES 2008, 431.
4668 OGH 8 CG.2005.183 LES 2008, 120.
4669 OGH 09 CG.2003.258 LES 2008, 106; 9 Cg 2001.74 LES 2005, 321.
4670 OGH I CG.2005.6 LES 2008, 32.
4671 OGH 6 CG.2006.368 LES 2008, 256.
4672 OGH 09 CG.2006.8 LES 2009, 17.
4673 OGH 06 CG.1881.373 LES 2008, 431.
4674 OGH 06 CG.1991.373 LES 2008, 431; 4 Cg 2000.230 LES 2003, 145; 4 Cg 333/1999 LES
2003, 36.
4675 OGH 2 C 88/89 LES 1993, 12.
4676 OGH 09 CG.2003.258 LES 2008, 106.
4677 Hat das Gericht ein Vorbringen der Partei tatsächlich übersehen oder missverstanden, kann
dies zu einer mit Rechtsrüge geltend zu machenden unrichtigen rechtlichen Beurteilung füh-
ren (OGH 6 CG.2006.368 LES 2008, 256).
4678 OGH 09 CG.2003.258 LES 2008, 106.
4679 OGH J 580/107 ELG 1967-1972, 82.
4680 OGH 4 Cg 33/1999 LES 2003, 36; 2 C 88/89 LES 1993, 12; J 580/107 ELG 1967-1972, 82.
4681 OGH 2 C 88/89 LES 1993, 12.
4682 OGH I CG.2005.6 LES 2008, 32.
4683 OGH 04 CG.2012.185 LES 2014, 183.
26.36 Nachdem der OGH an aktenwidrige Feststellungen des Berufungsgerichts nicht gebun-
4684
den ist, kann er an deren Stelle die durch den Akteninhalt gedeckten Feststellungen
4685
oder den im Rechtsmittelverfahren unbekämpft gebliebenen Sachverhalt setzen und
dann, wenn die Entscheidungsgrundlage vollständig bleibt, in der Sache selbst entschei-
den.
1. Allgemeines
a) Prüfungsumfang
26.38 Zur Abgrenzung von der Nichtigkeits- und Verfahrensrüge hat der OGH im Jahre 2005
entschieden, dass der Revisionsgrund nach § 472 Z 4 ZPO nur bei unrichtiger rechtlicher
Beurteilung in materiell-rechtlicher Beziehung gegeben ist; zur Bekämpfung einer un-
richtigen Anwendung der Verfahrensgesetze dienten die Revisionsgründe nach § 472 Z 1
und 2 ZPO. 4686
26.39 Wurde der Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gesetzesgemäß, dh
insb unter Berücksichtigung des untergerichtlich festgestellten Sachverhalts - und mit
einer konkreten und bestimmten Begründung, warum dieser Sachverhalt materiell-recht-
lich falsch beurteilt wurde 4687 - ausgeführt, muss der OGH die dem angefochtenen Urteil
zugrundeliegende rechtliche Beurteilung nach jeder Richtung hin überprüfen, wobei er
in der Anwendung der in Betracht kommenden Rechtsnormen frei ist 4688 und auch bis-
lang nicht erörterte heranzuziehen hat 4689 : Die rechtliche Beurteilung ist „eine Angele-
. d'1e von Amts wegen au fzugre1,en
gen h e1t, ·c . «4690 .
1st
26.40 Demgegenüber ist eine nicht gesetzesgemäß ausgeführte Rechtsrüge - und zwar insb
eine Rüge unrichtiger rechtlicher Beurteilung, die nicht auf dem von den Unterinstanzen
4691
festgestellten Sachverhalt aufbaut - einer nicht erhobenen bzw nicht vorliegenden
4692 4693
gleichzuhalten und unbeachtlich . Dies gilt auch für eine Rechtsrüge, die sich in
b) Prüfungsgrenzen
Im Revisionsverfahren ist der OGH an eine Beschränkung entweder der Klagegründe 26.42
oder der Einwendungen durch den Revisionswerber gebunden und nur im Rahmen
des von diesem aufgegriffenen Problemkreises (des Prüfungsrahmens) zur allseitigen
Prüfung der Rechtssache berechtigt und verpflichtet: Nur in diesem Rahmen kann der
OGH die Rechtsfrage nach allen Richtungen hin und unabhängig von den Argumen-
ten der Unterinstanzen und Parteien Iösen. 4701
Eine in der Berufung unterlassene oder nicht gesetzmäßig ausgeführte 4702 Rechtsrüge 26.43
kann in dritter Instanz nicht nachgeholt werden. 4703 Das Gleiche gilt dann, wenn sich
die Rechtsrüge zweiter Instanz nur auf einzelne von mehreren rechtserzeugenden Tat-
sachen, nicht aber auf die anderen bezogen hatte; sodass sich die Überprüfung des Erst-
urteils durch das Berufungsgericht auf die noch geltend gemachten Umstände be-
schränkt: Die in der Berufung nicht aufrecht erhaltenen Rechtsgründe können in der
Rechtsrüge der Revision nicht mehr geltend gemacht werden 4704 ; damit im Einklang darf
der OGH einen selbstständigen anspruchsvernichtenden Aspekt, auf den eine Revision
nicht mehr zurückkommt, nicht mehr aufgreifen. 4705
Das Gleiche gilt aber auch bei einer in der Revision erstmals erhobenen Einrede des 26.44
Rechtsmissbrauchs 4706 oder - wie der dem Urteil StGH 2013/020 zugrunde liegende Fall
auf anschauliche Weise zeigt - bei einer in erster Instanz erhobenen, in der Berufung aus
2. Rechtsrüge: Fallkonstellationen
a) Abgrenzung von Tat- und Rechtsfrage
26.46 Der OGH hat die Abgrenzung zwischen der im Revisionsverfahren nicht mehr überprüf-
baren Tatfrage von der im Revisionsverfahren überprüfbaren Rechtsfrage in stRsp wie
folgt vorgenommen: Stellen der von den Unterinstanzen festgestellte Sachverhalt den
Untersatz der Entscheidung und die auf diesen Untersatz anzuwendenden Rechtsnormen
den Obersatz dar, stellen alle Schlussfolgerungen, die zum Untersatz (also zum Sachver-
halt) geführt haben - und der Inhalt des Untersatzes selbst (also die den Sachverhalt
bildenden Tatsachen) - die Tatfragen dar. In den Bereich der Rechtsfragen gehören
demgegenüber nur jene Erwägungen, die zur Auffindung des Obersatzes, nämlich der
anzuwendenden Rechtsnormen, führen und die rechtliche Beurteilung der durch den
Sachantrag verkörperten Rechtsfolgen zulassen 4708 .
26.47 Nach einer Entscheidung (des OGH) vom 5. 11. 2012
4709 handelt es sich bei der Erfor-
schung des wahren Parteiwillens um eine gemischte Frage (quaestio mixta), bei der
zwischen der Sammlung von Indizien für den Parteiwillen als Tatsachenfeststellung
und deren rechtlicher Bewertung zu unterscheiden ist. Auch bei quaestiones mixtae ist
die Tat- und die Rechtsfrage durch das Gericht, aber auch durch den Rechtsmittelwerber
immer voneinander abzugrenzen. 4710
b) Sekundäre Feststellungsmängel
26.48 Unter dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung sind auch sog sekun-
däre Feststellungsmängel geltend zu machen (auch als „rechtliche Feststellungsmän-
gel"4711 oder „unechte Verfahrensmängel" 4712 bezeichnet). Eine gesetzesgemäß ausge-
führte Rechtsrüge vorausgesetzt, sind sekundäre Feststellungsmängel vom OGH amts-
wegig wahrzunehmen. 4713
26.49 Sekundäre Feststellungsmängel (des Berufungsverfahrens) liegen dann vor, wenn das Be-
rufungsgericht Beweisaufnahmen deshalb abgelehnt oder die für eine rechtliche Beurtei-
lung der Sache notwendigen Feststellungen deshalb nicht getroffen hat, weil es das Be-
weisthema aufgrund einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung für unerheblich hielt, ob-
wohl dem angebotenen Beweis (und dem damit zusammenhängenden Beweisthema) bei
richtiger rechtlicher Beurteilung Rechtserheblichkeit zukommt. 4714 Dies gilt auch dann,
wenn das Berufungs~ericht bestimmte Beweisaufnahmen unter Abweisung von Beweis-
715 4716
anträgen unterlassen oder von einer Beweiswiederholung Abstand genommen hat.
Sekundäre Feststellungsmängel können jedoch dann nicht mehr geltend gemacht wer-
den, wenn das Gericht zu jenem Beweisthema, dem sie gelten, Feststellungen getroffen
4717
hat oder wenn die Unvollständigkeit der Feststellungen nicht aus einer Verfahrens-
verletzung des Gerichts resultiert, sondern aus einem Parteifehler (und noch dazu aus
einem Parteifehler, der trotz des „beschränkten Berufungssystems"4718 der §§ 432 und
4719
452 ZPO nicht mehr behoben werden kann).
Sekundäre Feststellungsmängel können durch (ergänzende) Feststellungen des OGH 26.50
nicht saniert werden. Ihr Vorhandensein führt daher zu einer Aufhebung der unterins-
tanzlichen Urteile und zu einer Zurückverweisung der Rechtssache an das Erstgericht zur
neuerlichen Entscheidung. 4720 Anders verhält es sich nur dann, wenn es nicht um eine
Gesamtklärung des Lebenssachverhalts, sondern nur um eine Ergänzung/Vervollständi-
gung der Sachverhaltsgrundlage geht, die vom Berufungsgericht nachgeholt werden
4721
kann.
im Rahmen der rechtlichen Beurteilung der Sache gegebenenfalls auch gegen den Willen
der Parteien wahrzunehmen sei, sofern eine gesetzmäßig ausgeführte Rechtsrüge vorliegt,
zu relativieren. 4742
f) Überraschungsurteile
Die bei einer gesetzesgemäß ausgeführten Rechtsrüge erfolgende Überprüfung des Sach- 26.55
verhalts in alle Richtungen hin kann auch Rechtsfragen betreffen, die mit den Parteien
vor den Unterinstanzen nicht erörtert worden waren. 4743 Solche Rechtsfragen schrän-
ken den OGH in seiner rechtlichen Beurteilung unter dem Blickwinkel des „Überra-
schungsurteils" insofern ein 4 74 4, als sie den Parteien vor Urteilsfällung dann zur Kenntnis
gebracht werden müssen, wenn die neuen rechtlichen Gesichtspunkte die Sammlung zu-
sätzlicher Tatsachengrundlagen und damit weitere Feststellungen erfordern. 4745 In sol-
chen Fällen ist das Berufungsurteil zur Vermeidung eines Überraschungsurteils (des
OGH) aufzuheben und an das Berufungsgericht zwecks Wahrung des rechtlichen Gehörs
zurückzuverweisen. 4746
Ein Überraschungsurteil des Berufungsgerichts kann beim OGH - Erheblichkeit vo- 26.56
rausgesetzt - mit Verfahrensrüge angefochtenen werden 4747 , wobei darzulegen ist, wel-
ches zusätzliche oder andere Vorbringen, das zu einer anderen Entscheidung (des Beru-
fungsgerichts) ~eführt hätte, aufgrund der nicht beachteten neuen Rechtsansicht erstattet
worden wäre. 4 48
Übersicht
Rz
I. Die Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 27.1
A. Gegenstand und Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 27 .1
B. Zulässigkeit der Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 27.5
1. Die Statthaftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 27.5
2. Rechtzeitigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 27.6
3. Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 27.8
4. Beschwer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 27.9
C. Das Verfahren vor dem Erstgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 27.11
l. Rechtzeiligkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 27.14
2. Zustellung der Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 27.19
3. Vorlage der Akten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 27.21
4. Kautionsanträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 27.22
5. Weitere funktionelle Zuständigkeiten des LG . . . . . . . . . . . . .. 27.23
II. Das Verfahren vor dem Revisionsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 27.26
A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 27.26
B. Die Grenzen der revisionsgerichtlichen Überprüfung . . . . . . . . . .. 27.27
l. Die Teilrechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 27.28
a) Die Grenzen des Revisionsantrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 27.28
b) Revisionsantrag und Revisionserklärung . . . . . . . . . . . . . .. 27.32
c) Bestimmtheit des Revisionsantrags . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 27.33
d) Teilrechtskraft schon im Berufungsverfahren . . . . . . . . . . .. 27.38
e) Grenzen bei Wahrnehmung von Nichtigkeitsgründen . . . .. 27.40
f) Klagszurücknahme im Rechtsmittelverfahren? . . . . . . . . . .. 27.41
2. Prozessordnungsgemäße Rechtsrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 27.42
3. Wahrnehmbarkeit von Verfahrensmängeln . . . . . . . . . . . . . . .. 27.44
III. Die Entscheidung über die Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 27.47
A. Entscheidung mit Beschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 27.47
1. Unzulässige Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 27.47
2. Verfahrensmängel und Nichtigkeitsgründe . . . . . . . . . . . . . . .. 27.49
3. Aufhebung und Zurückverweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 27.52
B. Entscheidung mit Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 27.54
1. Die Revision
A. Gegenstand und Zielsetzung
27.1 Das Revisionsverfahren ist das Verfahren über das Rechtsmittel gegen Urteile des Beru-
fungsgerichts. Während die Überprüfung erstinstanzlicher Urteile dem Fürstlichen Ober-
gericht (OG) als Berufungsgericht übertragen ist(§§ 431 ff ZPO) stellt die Revision das
aufsteigende und zweiseitige Rechtsmittel an den Fürstlichen Obersten Gerichtshof
(OGH) gegen die Urteile des Berufungsgerichts dar. 4749 Gegenstand der oberstgerichtli-
chen Revision sind ausschließlich „Urteile des Berufungsgerichts" (§ 471 Abs 2 und 3
ZPO). 4750 Mit Ausnahme der in erster Instanz unterlaufenen Nichtigkeiten, die der
OGH dann, wenn sie nicht schon das Berufungsgericht verneint hat, 4751 von Amts wegen
aufgreift (§ 479 Abs 2 ZPO), sind Verfahren und Urteil der ersten Instanz nicht Revi-
sionsgegenstand.4752 Das Revisionsverfahren hat damit ausschließlich das Berufungsver-
fahren und die meritorische Entscheidung der Streitsache durch das OG zum Gegen-
stand. Anders als die in den romanischen Ländern bestehende Kassationsbeschwerde, die
zur Aufhebung und Zurückverweisung der Rechtssache durch das Höchstgericht führt,
hat die Revision des liechtensteinischen (und österr) zivilprozessualen Verfahrensrechts
auch die reformatorische Entscheidung in der Sache selbst zum Ziel.
Aufgabe des OGH im Revisionsverfahren ist die Fallgerechtigkeit, sohin Rechtsfragen 27.2
des materiellen Rechts und des Verfahrensrechts fallbezofen zu lösen. Aber auch die
Rechtseinheit, Rechtssicherheit und Rechtsentwicklung47 3 sind grundsätzlich wesent-
liche verfahrensrechtliche Ziele eines Revisionsverfahrens. 4754 Die Funktion der obersten
Instanz der Zivilgerichtsbarkeit besteht damit sowohl in der Einzelfallgerechtigkeit als
auch in der „Stabilisierung der Rechtsprechung". 4755 Schon der Gesetzgeber der Rezep-
tionsvorlage öZPO sah die „Gleichförmigkeit der Rechtsprechung" und die „Rechtsein-
heit" als Ausrichtungsziel und wollte möglichst wenig Rechtssachen „dem corrigirenden
Einflusse des Obersten Gerichtshofes" entziehen. 4756 Freilich sollten Revision und Revi-
sionsrekurs vorwiegend der „Fallgerechtigkeit" dienen. 4757 Diese Ziele sind zwar im liech-
tensteinischen Zivilverfahrensrecht weder in die eine noch in die andere Richtung aus-
drücklich verankert, 4758 ergeben sich aber schlüssig aus der Entstehungsgeschichte der
Rezeptionsvorlage öZPO, der Grundkonzeption eines dreiinstanzlichen Rechtsmittelzugs
4759
und aus der Rsp des OGH und des StGH.
27.3 Was den dogmatischen Rang dieser Ziele betrifft, so sind sie für das liechtensteinische
Zivilverfahrensrecht mangels eines nachweisbaren Überwiegens als gleichrangig anzuse-
hen. Demgegenüber werden die Aufgaben des öOGH seit der ZVN 1983 4760 nicht mehr
primär in der Wahrung der Einzelfallgerechtigkeit, sondern in erster Linie in der Siche-
rung der Rechtseinheit und Ermöglichung der Rechtsfortbildung erblickt. 4761
27.4 Nicht zu übersehen ist die heute immer wichtiger werdende Aufgabe (auch) der Revi-
sionsgerichte, auf die Einhaltung und gleichförmige Anwendung des Gemeinschafts-
rechts zu achten und dadurch die internationale Rechtseinheit und Gerechtigkeit zu för-
dern.4762 Der für Liechtenstein zuständige EFTA-Gerichtshof entscheidet ua in Vor-
abentscheidungsverfahren (preliminary reference procedure) über Anfragen von Gerich-
ten der Mitgliedstaaten zur Auslegung des EWR-Vertrags. 4763 Durch entsprechende
Beschlüsse des Revisionsgerichts, eine gemeinschaftsrechtlich relevante Rechtsfrage
dem EFTA-Gerichtshof zur Erstattung eines Gutachtens vorzulegen, können diese Ziele
erreicht werden.
im Zeitpunkt ihres Inkrafttretens. 4768 Daher konnte § 471 Abs I ZPO aF (,.Gegen die
Urteile des Appellationsgerichts findet die Revision statt") tatsächlich als programmati-
sche Aussage über die in Liechtenstein grundsätzlich unbeschränkte Zulässigkeit der Re-
vision angesehen werden. Im liechtensteinischen Zivilprozess war sohin der Zugang zum
.,Tempel der Gerechtigkeit" 4769 nicht beschränkt! Die ZPO-Nov 2018 4770 hat nun maß-
volle Revisionsbeschränkungen unter dem Gesichtspunkt des Wertes des Entschei-
dungsgegenstands des Berufungsgerichts (CHF 50.000,-) und jenem der gänzlichen Kon-
formität der Entscheidungen des LG und OG eingeführt (§ 471 Abs 2 ZPO), die freilich
durch Ausnahmen des § 471 Abs 3 ZPO wieder reduziert werden. Eine generelle Revi-
sionsbeschränkung iS des § 502 Abs 1 öZPO auf erhebliche Rechtsfragen des materiellen
und formellen Rechts wurde im Landtag abgelehnt.
2. Rechtzeitigkeit
Die Zulässigkeit des Rechtsmittels setzt auch seine Rechtzeitigkeit voraus. Die Recht- 27.6
zeitigkeit erfordert, dass die Revision innerhalb der vierwöchigen Revisionsfrist erhoben
wird. Die Revision ist daher innerhalb der Frist beim LG zu überreichen oder am letzten
Tag der Frist zur Post zu geben.
Eingaben per Telefax wurden schon seit Jahren für zulässig und fristwahrend erachtet, 27.7
wobei der Formmangel der fehlenden eigenhändigen Unterschrift auf Grund eines ent-
sprechenden Verbesserungsauftrags gern§§ 84, 85 ZPO zu beheben ist. 4771 Der StGH 4772
entschied, dass einer via E-Mail im PDF-Format erfolgten Übersendung eines Rechts-
mittels bzw einer Beschwerde analog dem Telefax fristwahrende Wirkung zukommt.
Maßgebend für die Einhaltung der Frist sei der automatisch auf dem E-Mail angebrachte
Empfangsvermerk. Der mit dieser Übermittlungsart verbundene Formmangel der fehlen-
den Originalbeschwerdeschrift könne durch die Nachreichung der Originalurkunde ge-
heilt werden.
3. Wirksamkeit
Wie eine Klage so hat auch die Revision einen notwendigen (zwingenden) Inhalt: Revi- 27.8
sionen, die zwingende inhaltliche Voraussetzungen nicht aufweisen, sind unzulässig
und mit Beschluss zurückzuweisen. So entsprechen etwa Revisionsschriften, die nur
Verweisungen auf Inhalte und Anträge einer früheren Rechtsmittelschrift oder auf
den Inhalt eines Urteils enthalten, nicht den zwingenden gesetzlichen Erfordernissen
des § 475 ZPO. 4773 Daher sind nach stRsp 4774 Verweise in der Revision bzw im Revi-
sionsrekurs auf Ausführungen in der Berufung bzw im Rekurs und in anderen Akten-
stücken unzulässig, weil jede Rechtsmittelschrift einen in sich geschlossenen selbstständi-
gen Schriftsatz darstellt und nicht durch die Bezugnahme auf den Inhalt anderer in der-
selben oder in anderen Sachen erstatteten Schriftsätze ersetzt oder ergänzt werden kann.
4775
Derartige Inhaltsmängel sind keiner Verbesserung zugänglich. Vielmehr muss das
Rechtsmittel ohne weitere Erörterung der sich stellenden Sach- und Rechtsfragen zurück-
gewiesen werden. 4776
4. Beschwer
27.9 Auch die Revision des liechtensteinischen Zivilprozessrechts setzt eine Beschwer, also ein
Anfechtungsinteresse voraus, da es nicht Sache der Rechtsmittelinstanzen ist, rein theo-
4777
retische Fragen zu entscheiden. Auf Seiten des Rechtsmittelwerbers ist für jedes
Rechtsmittel eine sowohl bei Rechtsmitteleinbringung als auch im Zeitpunkt der Rechts-
mittelentscheidung noch vorhandene formelle Beschwer, das ist das in höherer Instanz
geforderte Rechtsschutzinteresse, vorauszusetzen. Formell beschwert ist ein Rechtsmittel-
werber dann, wenn die angefochtene Entscheidung von dem ihr zu Grunde liegenden
Sachantrag des Rechtsmittelwerbers zu dessen Nachteil abweicht. Eine bloß materielle
Beschwer, die schon dann vorliegt, wenn durch die Entscheidung die Rechtsstellung
des Rechtsmittelwerbers irgendwie beeinträchtigt wird, reicht nach allgemeiner Auffas-
sung nicht aus. 47711
27.10 Allerdings hat der OGH mitunter allein die formelle Beschwer als Zulässigkeitsvoraus-
setzung nicht genügen lassen: Sie reicht für die Bejahung der Rechtsmittelzulässigkeit
dann nicht aus, wenn zwar die angefochtene Entscheidung dem in der Vorinstanz ge-
stellten Antrag widerspricht, damit aber die Rechtsstellung der Partei nicht beeinträchtigt
wird. In diesen Fällen ist deren Rechtsmittel dennoch mangels Beschwer zurückzuwei-
sen.4779
4775 OGH 07 CG.2012.286 GE 2017, 100 = LJZ 2016, 9/4; 09 C 130/99-47 LES 2001, 139.
4776 OGH 06 CG.2005.232 LES 2010, 264; 01 CG.2013.164 GE 2015, 53.
4777 OGH 10 CG.128/00 LES 2002, 234.
4778 OGH 05 VA.2004.14 LES 2008, 64; 08 EX.2008.2810 LES 2010, 211; 09 CG.2011.232 LJZ 2015,
86 uva.
4779 OGH 02 NP.2006.61 LES 2008, 316; 03 CG.2007.66 LES 2008, 120; 5 VA.2004.14 LES
2008, 64.
4780 § 507 Abs 1 öZPO.
schränkung der funktionellen Zuständigkeit des LG in § 476 Abs l ZPO auf die Zurück-
weisung verspätet erhobener Revisionen.
1. Rechtzeitigkeitsprüfung
Die Revisionsfrist beträgt vier Wochen von der Zustellung des Berufungserkenntnisses 27.14
an, die Frist für die Revisionsbeantwortung vier Wochen von der Zustellung der Revi-
sionsschrift an (§ 474 Abs 2, § 476 Abs 2 ZPO). Sowohl die Einhaltung der Frist für die
Revision als auch jene für die Revisionsbeantwortung sind vom Erstgericht zu überprü-
fen. Für die Revisionsbeantwortung ergibt sich dies schon deshalb, weil nur die Recht-
zeitigkeitsprüfung der Revisionsschrift durch das Erstgericht, nicht aber jene der Revi-
sionsbeantwortung, ein Wertungswiderspruch wäre und überdies der Zusammenhang
der Abs l und 2 des § 476 ZPO offensichtlich davon ausgeht. Bei den Fristen für die
Revision wie für die Revisionsbeantwortung handelt es sich um Notfristen, die weder
einer Verlängerung noch einer richterlichen Bestimmung zugänglich sind. 4781
Für den liechtensteinischen Zivilprozess ist idZ eine Besonderheit zur Beurteilung der 27.15
Rechtzeitigkeit einer Revision bzw einer Revisionsbeantwortung zu berücksichtigen:
Das LG besorgt aufgrund der funktionalen Zuständigkeitsbestimmung des § 476 Abs l
4782 4783
ZPO den Einlaufdienst auch für den OGH. Vom öOGH wird in stRsp die
Ansicht vertreten, dass im Fall der Vereinigung der Einlaufstellen mehrerer Gerichte
die unrichtige Adressierung des Rechtsmittels an das unzuständige Gericht nicht
schadet. Dies gilt auch für den Wiedereinsetzungsantrag: Bei Versäumung von Fristen
im Rechtsmittelverfahren ist stets das LG für die Entscheidung über einen Wiederein-
setzungsantrag zuständig (§ 148 Abs l ZPO). Für den liechtensteinischen Zivilprozess
gilt deshalb, dass ein rechtsirrtümlich an den OGH gerichteter, beim LG eingereichter
und von diesem dem OGH vorgelegter Wiedereinsetzungsantrag hinsichtlich der Ver-
säumung der Revisionsfrist nicht neuerlich an das LG zurückzuleiten, sondern dessen
tatsächlicher Eingang beim hiefür funktionell zuständigen LG maßgebend ist. In die-
sem Fall schadet daher die unrichtige Adressierung an das unzuständige Gericht
nicht.4784
Nach dem Wortlaut des § 476 Abs l ZPO hat das LG zunächst die Rechtzeitigkeit der 27.16
überreichten Revision zu prüfen und erst dann die Zustellung der Revisionsschrift an den
Revisionsgegner zu verfügen. Die verspätete Revision ist daher schon bei Gerichtsan-
hängigkeit mit Beschluss zurückzuweisen. 4785 Wird die Revision ungeachtet ihrer Ver-
spätung dem Revisionsgegner zugestellt, so hat dieser freilich die Möglichkeit, in der
Revisionsbeantwortung auf die Verspätung der Revision hinzuweisen, Das LG hat die
Rechtzeitigkeit auch in diesem Stadium noch zu prüfen und eine allfällig verspätete Revi-
sion nach Eingang der Revisionsbeantwortung zurückzuweisen. Die Judikatur spricht
dem Rechtsmittelgegner dann, wenn er in seiner Rechtsmittelbeantwortung auf die Ver-
4786
spätung des Rechtsmittels hingewiesen hat, Kosten zu.
27.17 Die Revisionsbeantwortung hat das LG dem Revisionswerber zuzustellen. Ungeachtet des
Schweigens des Gesetzes ist das LG auch befugt, eine verspätete Revisionsbeantwortung
zurückzuweisen.
27.18 Dem OG stehen dieselben Befugnisse hinsichtlich der Zurückweisung einer verspätet
eingebrachten Revision bzw Revisionsbeantwortung wie dem LG zu. 4787 Weisen LG
und OG eine verspätete Revision bzw Revisionsbeantwortung nicht zurück, so weist sie
der OGH zurück. 4788 Der Beschluss, mit dem die Revision oder die Revisionsbeantwor-
tung vom Erstgericht oder Berufungsgericht als verspätet zurückgewiesen wird, ist im
Rechtsmittelweg an den OGH bekämptbar. Im Fall der Konformität dieser Beschlüsse
greift allerdings die Rechtsmittelbeschränkung des § 496 Abs 1 ZPO ein.
27.20 Der OGH 4790 steht - entgegen einem Teil der öRsp 4791 - nicht auf dem Standpunkt, dass
die gegen ein unzulässiges Rechtsmittel gerichtete Rechtsmittelbeantwortung zurück-
zuweisen ist. 4792 Die Rechtsmittelgegenschrift ist zulässig, Kostenersatz für diese gebührt
aber grundsätzlich nur, wenn ausdrücklich auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels hin-
4786 OGH 06 CG.2017.440 GE 2019, 88; 06 CG.2005.59-52 LES 2006, 383; 7 GB.2003.4 LES 2005,
383; P 2/77 LES 1993, 131 uva.
4787 OGH 06 CG.2017.440 GE 2019, 88; Fasching, Lehrbuch' Rz 1736; Rechberger/Simotta, Zivil-
prozessrecht• Rz 1119.
4788 OGH 06 CG.2017.440 GE 2019, 88; öOGH 4 Ob 158/77 DRdA 1978, 260; 2 Ob 238/12g RdW
2013/269 ua; E. Kodek in Rechberger/Klicka, ZPO' § 507 Rz 1.
4789 Materialien I 362.
4790 OGH 05 VA.2004.14 LES 2008, 36; 07 CG.2012.441; RIS-Justiz RS0035979.
4791 RIS-Justiz RS0043897, RS0123268.
4792 öOGH 8 Ob 67112d Zak 2012/531, 279.
gewiesen wird. 4793 Das gilt auch im Revisionsrecht, denn nur im Fall des Hinweises auf
die Unzulässigkeit ist die Revisionsbeantwortung als zur zweckentsprechenden Rechts-
4794
verfolgung oder -verteidigung notwendig anzusehen. Unter streng dogmatischen Ge-
sichtspunkten könnte freilich auch vertreten werden, dass infolge eines unzulässigen - zB
verspäteten - Rechtsmittels die Rechtskraft der Entscheidung eingetreten ist und daher
eine Rechtsmittelbeantwortung unzulässig sein muss.
4. Kautionsanträge
Dem Rechtsmittelwerber ist der Kautionsantrag seines Rechtsmittelgegners bereits vom 27.22
LG zur allfälligen Gegenäußerung zuzustellen. Die Akten sind daher dem OGH erst
nach Erstattung dieser Gegenäußerung oder nach Verstreichen der hiefür vom LG ge-
setzten Frist vorzulegen. 4797 Im Falle von Kautionsanträgen für das Revisionsverfahren,
die der Vorsitzende des Rechtsmittelsenats zu entscheiden hat (§ 59 Abs 2 ZPO), 4798 ob-
liegt es daher dem LG, diese den Revisionswerbern zuzustellen und die Akten erst nach
Erstattung von allfälligen Ge enäußerungen bzw nach Verstreichen der hiefür gesetzten
Frist dem OGH vorzulegen. 4 99
9
5. Weitere funktionelle Zuständigkeiten des LG
überdies hat das LG funktionelle Zuständigkeit auch für Aufträge zur Verbesserung von 27.23
Schriftsatzmängeln 4800 und für die Vornahme allfälliger Erhebungen und Beweisauf-
nahmen iZm der Rechtzeitigkeit des Rechtsmittelschriftsatzes sowie zur Erledigung
4801
von Aufträgen des OGH iZm allfälligen Nichtigkeitsgründen. Diese Agenden des
LG sind bereits Bestandteil des Revisionsverfahrens.
Wenn aus einer Eingabe nicht ersichtlich ist, ob es sich hierbei um ein Rechtsmittel, eine 27.24
Klage oder um eine Eingabe „sui generis" handelt, ist es Aufgabe des Erstgerichts dies-
bezügliche Aufklärungen, insb durch Erteilung von Verbesserungsaufträgen, einzulei-
4793 OGH 06 CG.2017.440 GE 2019, 88; 06 CG.2005.59-52 LES 2006, 383; 7 Gß.2003.4 LES 2005,
383; P 2/77 LES 1993, 131.
4794 öOGH 3 Ob 5/09w Zak 2009/253 mwN.
4795 IdF ZPO-Nov LGBI 2018/207.
4796 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1736; Rechberger!Simotta, Zivilprozessrecht9 Rz 1119.
4797 OGH 02 CG.2008.93 LES 2010, 261 (OGH 10 CG.128/00 LES 2002, 234 ist daher überholt).
4798 Vgl OGH 09 CG.2016.487 zu einer irrtümlich vom Erstrichter entschiedenen Kaution für das
Revisionsrekursverfahren.
4799 Zum Einfluss des Kautionsverfahrens auf die Rechtsmittelbeantwortungsfrist s Rz 11.101.
4800 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1735.
4801 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1735.
ten. Wenn sich daraus die zur geschäftlichen Behandlung erforderliche Klarheit nicht
ergibt, dann ist die Eingabe bereits vom LG als „nicht zu geschäftsordnungsgemäßen
Behandlung geeignet" mit Beschluss zurückzuweisen.
27.25 Wiedereinsetzungsanträge sind grundsätzlich an das Gericht zu richten, bei dem die
Prozesshandlung versäumt wurde(§ 148 Abs l ZPO). Da die Revision und die Revisions-
beantwortung beim Erstgericht einzubringen sind, muss der Wiedereinsetzungsantrag
gegen die Versäumung dieser Rechtsmittelfristen auch beim Erstgericht vorgenommen
werden. Bei Versäumung von Fristen im Rechtsmittelverfahren ist daher stets das LG für
die Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag zuständig. 4802
1. Die Teilrechtskraft
a) Die Grenzen des Revisionsantrags
27.28 Die gesetzlich ausdrücklich in § 473 Abs 1 ZPO angeordnete Begrenzung des Prüfungs-
umfangs durch die im Revisionsverfahren gestellten Anträge hat ihren Rechtsgrund in
der zwingend zu beachtenden Teilrechtskraft. Dieses Rechtsinstitut stützt sich auf die
übereinstimmenden Normen des Berufungs- (§ 432 Abs 1, § 436 ZPO) und Revisions-
verfahrens (§ 473 Abs 1, § 474 Abs 3 ZPO). Insoweit das Urteil des Berufungsgerichts
nicht angefochten wird, erwächst es in Teilrechtskraft. Das Revisionsgericht hat daher
4802 StGH 2010/23 GE 2014, 126 (Erw 2.3.3); OGH 06 CG.2005.386 LES 2008, 445; RIS-Justiz
RS0036584.
4803 Eingefügt durch LGBI 2010/455.
4804 Für viele OGH 08 CG.2007.253 GE 2011, 84; 08 CG.2014.138; 09 CG.2014.327 LES 2015, 163
= GE 2016, 36.
genau darauf zu achten, inwieweit das bekämpfte Urteil infolge der Anfechtung durch
den Revisionswerber noch nicht rechtskräftig oder bereits teilrechtskräftig geworden ist.
4805
Der OGH hat im Rahmen einer aufhebenden Entscheidung ausgesprochen, dass eine
Rechtsmittelinstanz über teilrechtskräftig gewordene Sprüche der Untergerichte nicht,
in welcher Art auch immer, zu judizieren hat und daher diese auch nicht zu bestätigen
hat. Bei teilrechtskräftig gewordenen Zusprüchen und Abweisungen kann sich daher die
Entscheidung eines Rechtsmittelgerichts nur zwischen diesen beiden Grenzen bewe-
gen.4806
4805 OGH IR PG.2012.23; vgl OGH 07 C 333/87-29 LES 1990, 147; 05 C 175/99 LES 2000, 92.
4806 OGH IR PG.2012.23; 02 PG.2002.83-67.
4807 OGH 01 CG.2007.257 LES 2009, 55; 04 CG. 2013.445 LJZ 2015, 87; s auch Schumacher, LJZ 3/
2015, 83.
4808 Vgl OGH 02 CG.2005.204 LES 2008, 344; 07 HG.2015.98.
4809 OGH 10 EG.2006.100 LES 2008, 143; 02 CG.2005.204 LES 2008, 344; 06 CG.2008.169 LES
2010, 113; 08 EX.2013.1794; 07 HG.2015.98 ua.
4810 OGH 10 EG.2006.100 LES 2008, 143; 10 HG.2009.66 LES 2010, 320; Fasching, Lehrbuch 2
Rz 1748.
OGH die Rechtsfrage auch ohne Aufhebung der Entscheidung anders beurteilen, es kön-
nen aber auch neue Beweisaufnahmen in unterer Instanz mit dem Ziel der „Verbreite-
rung der Tatsachengrundlage" erforderlich sein. Grundsätzlich sollte daher ein Aufhe-
bungsantrag immer mit einem Abänderungsantrag verbunden sein, zumal Aufhebungs-
anträge allein nur dort in Frage kommen, wo es ausschließlich um die Behebung ver-
fahrensrechtlicher Mängel der unteren Instanzen geht (s Rz 27.36).
Jedem Abänderungsantrag wohnt ein Aufhebungsantrag inne, 4816 nicht aber umge- 27.36
kehrt. Ist dann, wenn statt eines Abänderungsantrags nur ein Aufhebungsantrag gestellt
wurde, nach dem Inhalt des Rechtsmittels hinreichend klar, dass in Wirklichkeit eine
bestimmte Abänderung der angefochtenen Entscheidung (auch) begehrt wird, dann ist
der verfehlte Rechtsmittelantrag infolge bloßen Vergreifens im Ausdruck unschäd-
lich.4817 Vergreifen im Ausdruck setzt aber voraus, dass nach den Revisionsausführungen
klar ist, welche (abändernde) Entscheidung tatsächlich angestrebt wird, zumal der
OGH nicht Mutmaßungen über den Willen des Rechtsmittelwerbers anstellen darf. 4818
Kommt nach dem Inhalt des Rechtsmittels keine aufhebende, sondern bloß eine abän-
dernde Entscheidung in Betracht, ist ein Verbesserungsauftrag möglich. 4819
Der OGH 4820 hat letztlich speziell bei Revisionsrekursen einen großzügigen Maßstab 27.37
bei der Beurteilung der Schlüssigkeit von Rechtsmittelanträgen angelegt: Ein fehlender
oder verfehlter Rechtsmittelantrag schadet nicht, solange der Rekurs durch die Anfech-
tungserklärung und seine Ausführungen (Rekursbegründung) deutlich bestimmt ist. Dies
ist auch für Revisionsanträge zu befürworten. Selbst ein missverständlicher Antrag führt
danach nicht zur Zurückweisung des Rechtsmittels. Vielmehr wäre - auch gegenüber
einer rechtsanwaltlich vertretenen Partei - ein Verbesserungsauftrag zu erteilen.
4816 OGH 02 CG.2017.73 GE 2018, 18; 8.1.2015, 7 CG.2013.268; vgl RIS-Justiz RS0041774; Klau-
ser/Kodek, JN/ZPO 18 § 467 E 15.
4817 Lovrek in Fasching!Konecny IV/1 3 § 506 ZPO Rz 9; öOGH 7 Ob 22/l7m RdW 2017/408, 562.
4818 Vgl Lovrek in Fasching/Konecny JV/1 3 § 506 ZPO Rz 8; öOGH 2 Ob 180/976; 10 Ob 55/11 b
ZVR 2012/42, 75; RIS-Justiz RS0I09220, RS0042147.
4819 Lovrek in Fasching/Konecny IV/1 3 § 506 ZPO Rz 9.
4820 OGH 09 EG.2001.19 LES 2007, 145; 10 CG.234/00 LES 2001, 204; s schon OGH 2 C 209/96
LES 2001, 81.
4821 öOGH 8 Ob 39/80 SZ 53/66.
27.39 Für die Beurteilung der Frage, ob und inwieweit sich das Berufungsgericht bei seiner
Entscheidung innerhalb dieser Grenzen der Teilrechtskraft gehalten hat, orientiert sich
der OGH daher auch an den Rechtsmittelanträgen im Berufungsverfahren. 4822
f) Klagszurücknahme im Rechtsmittelverfahren?
4824
27.41 Im Rechtsmittelverfahren der ZPO ist eine Klagszurücknahme nicht vorgesehen.
Dennoch ergibt sich in der Praxis die Notwendigkeit, mit diesem Antrag prozessual um-
zugehen, etwa dann, wenn Rechtssachen im Rechtsmittelstadium außergerichtlich ver-
glichen werden und der Kläger eine Klagszurückziehung unter Anspruchsverzicht an-
zeigt. Eine pragmatische Lösung hat das Fürstliche Obergericht für diese Fälle insofern
gefunden, als die Klagszurücknahme im Einverständnis mit den Parteien in eine Verein-
barung „ewigen Ruhens" umgedeutet wird. 4825 Diese Vereinbarung ist gern § 168 ZPO
4826
auch während des Berufungs- und Revisionsverfahrens zulässig. Im Revisionsverfah-
ren ist die Zulässigkeit der Umdeutung der Klagszurückziehung unter Anspruchsverzicht
4827
in eine Vereinbarung „ewigen Ruhens" ebenso zu beJahen. Das Ruhen des Verfahrens
4 28
wird diesfalls deklarativ vom Gericht beschlossen. Es hat zur Folge, dass eine Sach-
entscheidung des OGH für die Dauer des Ruhens entfällt. 4829 Die Rechtssache bleibt in
dritter Instanz streitanhängig, bis das Verfahren wieder aufgenommen wird. Das Beru-
fungsurteil erwächst nicht in Rechtskraft. Der Anspruchsverzicht des Klägers ist im al-
lenfalls fortgesetzten Verfahren auf materiell-rechtlicher Ebene zu berücksichtigen.
2. Prozessordnungsgemäße Rechtsrüge
27.42 Der OGH ist reine Rechtsinstanz, die Überprüfung der Tatfrage ist ihm daher ver-
wehrt.4830 Eine Bekämpfung der Tatsachenfeststellungen der Untergerichte ist daher eine
nicht gesetzmäßige Ausführung der Revision.
Für eine umfassende rechtliche Beurteilung tst allerdings die prozessordnungsgemäße 27.43
Ausführung der Rechtsrüge vorausgesetzt. Wird die Rechtsrüge nicht gesetzmäßig aus-
geführt, was insb dann zutrifft, wenn der Revisionswerber nicht von den getroffenen
Feststellungen ausgeht (,, W unschsachverhalt") 41131 oder keine auf unrichtiger rechtlicher
Beurteilung beruhenden Feststellungsmängel behauptet, dann liegt in Wahrheit eine
Rechtsrüge nicht vor, sodass die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts von vorne-
herein nicht überprüft werden kann. 4832 Eine Rechtsrüge ist auch dann nicht gesetzmäßig
ausgeführt, wenn sie sich darauf beschränkt, allgemein die Unrichtigkeit der unterins-
tanzlichen rechtlichen Beurteilung zu behaupten, ohne dies zu konkretisieren und sich
mit den Argumenten des Rechtsmittelgerichts auseinanderzusetzen. 4833 Diesfalls ist es
dem OGH verwehrt, auf materiellrechtliche Fragen einzugehen. 4834 In all diesen Fällen
stellt daher die nicht prozessordnungsgemäße Rechtsrüge eine Grenze für die rechtliche
Beurteilung des Revisionsgerichts dar. Eine nicht gesetzmäßig ausgeführte Rechtsrüge
wird in der Rsp 4835 des OGH einer nicht erhobenen Rechtsrüge gleichgehalten: Sie kann
eine Überprüfung der im angefochtenen Urteil verfochtenen Rechtsansicht nicht bewir-
ken.
Der mit der Nov 2018 nach dem Vorbild der öZPO geänderte § 196 ZPO setzt für die 27.46
Geltendmachung von Verstößen gegen eine das Verfahren und insb die Form einer Pro-
zesshandlung regelnde Vorschrift eine Rüge voraus. 4840 Die Abgrenzung der rügepflich-
tigen von den nicht rügepflichtigen Mängeln hat der zivilverfahrensrechtlichen Praxis
4831 Vgl OGH 07 EG.2015.67 LES 2016, 184; 04 CG.2012.243 LES 2016, 32.
4832 OGH 01 CG.2007.257 LES 2009, 55; 01 CG.2003.336 LES 2006, 493.
4833 OGH 06 EG.2013.78 LES 2017, 82.
4834 OGH 02 CG.2015.16 LJZ 2016, 86.
4835 OGH 04 CG.2012.243 LES 2016, 32; RIS-Justiz RS0041820.
4836 So schon Klein, Vorlesungen 259; vgl A. Kodek in Rechberger!Klicka, ZPO 5 § 503 Rz 8.
4837 OGH CO.2014.4; lO CG.2013.318 GE 2017, 165; lO CG.2006.379 GE 2013, 45.
4838 Fasching. Lehrbuch 2 Rz 1908.
4839 Klauser!Kodek, JN/ZPO'" § 504 ZPO E 3.
4840 Zu dieser Neuerung s auch R. Schneider, LJZ 2019, 25; Schumacher, LIZ 2019, 78 f.
Liegt allerdings gar kein zulässiges Rechtsmittel vor, können vom OGH weder Nichtig- 27.51
keitsgründe noch Verfahrensmängel wahrgenommen werden. 4847
Übersicht
Rz
1. Gemeinsamkeiten der Nichtigkeits- und Wiederaufnahmsklage . . . . . . 28.1
A. \\' esen und Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.1
B. Rezeptionsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.7
C. Klagslegitimation und Beschwer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.14
1. Klagslegitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.14
2. Beschwer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.16
D. Besonderheiten des Aufhebungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.17
1. Eingeschränkte Dispositionsbefugnis der Parteien . . . . . . . . . . . 28.17
2. Klagefristen(§ 502 ZPO) ............................. 28.19
a) Relative Klagefrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.19
b) Absolute Klagefrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.21
3. Zuständigkeit (§ 500 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.22
4. Klagsinhalt (Inhaltserfordernisse einer Nichtigkeits- bzw Wieder-
aufnahmsklage) (§ 504 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.24
E. Ablauf eines Nichtigkeits- bzw Wiederaufnahmsprozesses . . . . . . . 28.26
1. Vorprüfungsverfahren (§ 506 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.27
2. Aufhebungsverfahren (iudicium rescindens) . . . . . . . . . . . . . . . 28.34
3. Erneuerungsverfahren (iudicium rescissorium) . . . . . . . . . . . . . . 28.36
F. Rechtsmittelklagen in anderen zivilgerichtlichen Verfahren . . . . . . 28.40
1. Außerstreitverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.40
2. Exekutions- und Provisorialverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.42
3. Konkursverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.43
4. Schiedsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.44
II. Nichtigkeitsklage (§ 497 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.46
A. Gegenstand der Nichtigkeitsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.46
B. Anfechtbare Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.47
C. Nichtigkeitsklagegründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.52
1. Ausgeschlossenheit des Richters (§ 497 Abs I Z I ZPO) . . . . . . 28.52
2. Besonders schwerwiegende Verstöße gegen das rechtliche Gehör
(§ 497 Abs I Z 2 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.55
III. Wiederaufnahmsklage (§ 498 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.61
A. Gegenstand der Wiederaufnahmsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.61
B. Anfechtbare Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.63
C. Wiederaufnahmsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.65
1. Strafrechtliche Wiederaufnahmsgründe (§ 498 Abs I Z 1-4 ZPO) 28.65
2. Nichtbeachtung oder Änderung einer identischen oder präjudiziel-
len Entscheidung (§ 498 Abs 1 Z 5 und 6 ZPO) . . . . . . . . . . . . 28.67
3. Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der Entscheidungsgrundlage
der Vorentscheidung(§ 498 Abs I Z 7, § 499 ZPO) . . . . . . . . . . 28.70
4856 Fasching IV' 470; Jelinek in Fasching/Konecny IV/1 3 Vor§§ 529ff ZPO Rz I; StGH 2012/018
GE 2014, 155; OGH C 253/84 LES 1986, 41.
4857 Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht' Rz 1141.
4858 Fasching IV' 470; Jelinek in Fasching/Konecny IV/1 3 Vor§§ 529ff ZPO Rz 1.
4859 Holzhammer, Zivilprozeßrecht 2 343.
Wurde aufgrund der im Vorprozess ergangenen Entscheidung bereits die Exekution ein- 28.6
geleitet, kann gern Art 24 lit a und b EO die Aufschiebung der Exekution beantragt wer-
den. Ist die Rechtsmittelklage erfolgreich, kann nach Rechtskraft der Entscheidung die
Einstellung der Exekution gern Art 21 Abs 1 lit a EO beantragt werden.
B. Rezeptionsgrundlage
Liechtenstein hat mit LGBI 1912/9 die Bestimmungen der öZPO über die Rechtsmittel- 28.7
klagen (§§ 529 bis 547 öZPO) inhaltlich vollständig, im Wortlaut weitestgehend über-
nommen und seither nicht mehr geändert und steht daher im Wortlaut noch auf dem
Stand der Stammfassung der öZPO.
Die österr Novellierungen der Bestimmungen über die Rechtsmittelklagen, nämlich die 28.8
Anpassung der strafrechtlichen Wiederaufnahmsgründe (§ 530 Abs 1 Z 2-4 öZPO) an
die Tatbestände des neu eingeführten öStGB durch BGB! 1974/4994860 und die Ände-
rungen durch das öKSchG BGB! 1979/140 wurden von Liechtenstein nicht übernom-
men.
Durch das öKSchG wurde § 530 Abs 1 Satz 1 öZPO dergestalt geändert, dass die Be- 28.9
schränkung der Wiederaufnahmsklage auf Urteile aufgehoben wurde. Anstelle der
Wortfolge "ein durch Urteil geschlossenes Verfahren" trat die Wortfolge „ein Verfahren,
das durch eine die Sache erledigende Entscheidung abgeschlossen worden ist". In der
Folge wurden auch die Bestimmungen §§ 532, 534, 535, 544, 545, 546 öZPO angepasst
und der Begriff „Urteil" durch "Entscheidung" ersetzt.
Da Liechtenstein die Stammfassung der öZPO beibehielt, wurden Wiederaufnahmskla- 28.10
gen, die sich nicht gegen ein Verfahren richteten, das mittels Urteil entschieden wurde,
zurückgewiesen. Nach damaliger Rsp lasse der klare Wortlaut des § 498 ZPO, insb das
Wort „Urteil" im einleitenden Satz, eine erweiternde oder gar berichtigende Auslegung
dahin, dass darunter auch Beschlüsse verstanden werden müssen, nicht zu. Die Bestim-
mungen der ZPO über die Wiederaufnahmsklage enthielten Ausnahmebestimmungen
gegenüber den sonstiien zivilprozessualen Vorschriften und dürften nicht ausdehnend
interpretiert werden. 4 61
Mit Beschluss des OGH zu 06 CG.2013.553 LES 2014, 246 wurde diese Rsp geändert. 28.11
Das OG und ihm folgend der OGH ließen erstmals eine Wiederaufnahmsklage zu, die
sich gegen eine meritorische Entscheidung richtete, die nicht in Urteilsform ergangen
ist, nämlich gegen einen Zahlbefehl. Unter Bezugnahme va auf die Auffassung Fa-
schings4862 legten die Rechtsmittelgerichte dar, dass die Beschränkung der Wiederauf-
nahmsklage auf Urteile zu unvertretbaren Ergebnissen insb im Mahn-, Mandats- und
Wechselmandatsverfahren führen würde. Es stelle einen sachlich nicht zu rechtferti-
genden Wertungswiderspruch dar, wenn einem in einem summarischen Verfahren
geschaffenen Exekutionstitel - wie im Anlassfall einem Zahlbefehl - eine höhere Be-
standsgarantie zukomme als einem in einem streitigen Verfahren ergangenen Urteil.
Daher müsse eine sinnvolle und teleologische Auslegung des Gesetzes das Wort „Ur-
teil" in § 498 Abs l ZPO als Entscheidung in der Sache verstehen. Zu diesem Ergebnis
führe auch die Überlegung, dass gemessen am Maßstab der gesamten Rechtsordnung
eine planwidrige Unvollständigkeit innerhalb des positiven Rechts vorliege, die im
Analogiewege zu schließen sei. Zu einer solchen „Lückenfüllung" selbst entgegen dem
Gesetzeswortlaut (contra Legern) sei das Gericht gern Art l Abs 2 PGR berechtigt und
verpflichtet.
28.12 Legt man das Wort „Urteil" in§ 498 Abs l ZPO iS der neuen E des OGH aus, so gilt dies
auch für die§§ 500,502,503,512,513 und 515 ZPO. Im nachfolgenden Text wird daher
jeweils der Begriff „Entscheidung" statt „Urteil" verwendet, obwohl der Gesetzestext auf
Urteil lautet.
28.13 Soweit liechtensteinisches Recht auf ausländischer Rezeptionsgrundlage beruht, darf und
soll hierzu nach ständiger liechtensteinischer Praxis Lehre und Rsp des jeweiligen Ur-
sprungslands beigezogen werden. Im Vordergrund steht dabei die Rsp der Höchstgerich-
te im Ursprungsland, denn übernommenes Recht soll in Liechtenstein vorbehaltlich der
Abweichung aus triftigen Gründen so gelten, wie es im Ursprungsland tatsächlich gilt
(law in action). Darauf wollte der liechtensteinische Gesetzgeber sein eigenes Recht aus-
richten.4863 Zur Auslegung der Bestimmungen über die Rechtsmittelklagen ist daher die
öLehre und öRsp heranzuziehen. 4864
4863 OGH 01 CG.2000.64 LES 2005, 100; StGH 30. 6. 2003, 2002/88; OGH 09 CG.2009.169 LES
2011, 156; 06 CG.2011.319 LES 2013, 138; 05 CG.2013.177 GE 2014, 211 uva.
4864 OGH 3. 9. 2010, 03 CG.2008.118.
4865 OGH Ns 1, 2/2002 LES 2003, 240; OG 14.3.2013, 09 CG.2012.198; Rechberger!Simotta, Zivil-
prozessrecht9 Rz 1145; Fasching, Lehrbuch 2 Rz 2035; Jelinek in Fasching/Konecny IV/IJ Vor
§§ 529ff ZPO Rz 19.
4866 Jelinek in Fasching/Konecny IV/1 3 Vor§§ 529ff ZPO Rz 22; OG 10.10.2012, 05 CG.2008.41.
4867 A. Kodek in Rechberger!Klicka, ZPO; Vor§ 529 Rz 3.
2. Beschwer
Wie bei den Rechtsmitteln ist auch bei den Rechtsmittelklagen die formelle Beschwer 28.16
des Klägers erforderlich. Nach stRsp in Österreich 4868 hat die im Vorprozess unterle-
gene Partei kein Klagerecht, wenn sie vom Rechtsmittelklagegrund nicht betroffen
ist.4869
b) Absolute Klagefrist
28.21 Mit Ausnahme des Nichtigkeitsklagegrunds des § 497 Abs l Z 2 ZPO muss die Nichtig-
keits- bzw Wiederaufnahmsklage innerhalb von zehn Jahren nach Eintritt der Rechts-
kraft der anzufechtenden Entscheidung erhoben werden (§ 502 Abs 3 ZPO). Diese Frist
ist eine prozessuale Präklusivfrist. Sie ist nicht erstreckbar und nicht restituierbar. 4875
4872 öOGH 2 Ob 606/28 SZ 10/191; Jelinek in Fasching/Konecny IV/1 3 § 534 ZPO Rz 21 ff; Rech-
berger/Simotta. Zivilprozessrecht 9 Rz 1150.
4873 OGH 06 CG.2015.66 GE 2018, 104; Jelinek in Fasching/Konecny IV/1 3 § 534 ZPO Rz 31 ff.
4874 OGH 04 CG.2004.388 LES 2007, 187.
4875 A. Kodek in Rechbergcr/K/icka, ZPO; § 534 Rz l; Je/inek in Fasching/Konecny IV/1 3 § 534 ZPO
Rz 43f.
4876 OGH 9.3.2018, 05 CG.2017.595; 08 CG.2012.201 GE 2013, 99.
Wird die Nichtigkeits- oder Wiederaufnahmsklage bei einem unzuständigen Gericht 28.23
eingebracht, ist diese von Amts wegen an das zuständige Gericht zu überweisen. 4877
des ersten bis dritten Teils der ZPO Anwendung, sofern die Bestimmungen über die
Rechtsmittelklagen keine Abweichungen vorsehen (§ 501 ZPO).
28.28 Das Vorprüfungsverfahren vereint die Funktion der ersten Prüfung der Klage und des
Berufungsvorverfahrens(§ 441 ZP0). 4882 Es wird die Rechtzeitigkeit, das Vorliegen der
allgemeinen Prozessvoraussetzungen, die aktive und passive Klagslegitimation, die Be-
schwer, die Statthaftigkeit, die Behauptung eines in §§ 497 bis 499 ZPO genannten Nich-
tigkeits- oder Wiederaufnahmsgrunds, das Vorliegen eines bestimmten schlüssigen Be-
gehrens sowie das Fehlen von Inhaltsmängeln und Formgebrechen geprüft. Fehlt eine
allgemeine oder besondere Prozessvoraussetzung, so ist die Klage mit Beschluss „als
zur Bestimmung einer Tagsatzung für die mündliche Verhandlung ungeeignet" zurück-
zuweisen 411113, dies geR.ebenenfalls nach erfolgloser Erteilung eines Verbesserungsauf-
trags (§§ 84f ZP0). 411 4
28.29 Im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung ist insb zu prüfen, ob eine schlüssige Behaup-
tung eines Rechtsmittelklagegrunds vorliegt. Das Gericht hat seiner Prüfung das Vor-
bringen in der Rechtsmittelklage zugrunde zu legen. Es hat also die Richtigkeit der
Klagsbehauptung zu unterstellen und auf dieser Grundlage eine rechtliche Beurteilung
dahin vorzunehmen, ob diesfalls der Rechtsmittelklage Erfolg beschieden sein würde.
Ergibt die Vorprüfung, dass die Klage schon aufgrund des eigenen Vorbringens des
Klägers aus rechtlichen Erwägungen oder wegen absoluter Untauglichkeit des Rechts-
mittelklagegrunds erfolglos bleiben müsste, so ist sie unschlüssig und daher iSd § 506
ZPO unzulässig. Ob die Behauptungen des Rechtsmittelklägers zutreffen, ist nicht Ge-
genstand der Zulässigkeitsprüfung; eine Beweisaufnahme hat nicht stattzufinden. 4885
Der Kläger hat ein konkretes und substantiiertes Vorbringen zu den Rechtsmittelkla-
gegründen zu erstatten. Ausführungen sind zumindest in dem Ausmaß vorzunehmen,
dass eine Erkennbarkeit des geltend gemachten Rechtsmittelklagegrunds gegeben
ist.4886
28.30 Macht ein Kläger den Wiederaufnahmsgrund des § 498 Abs l Z 7 ZPO geltend, so ist -
sofern nach der Klagsbehauptung „Neuheit" gegeben ist - im Rahmen der Schlüssigkeits-
prüfung zu untersuchen, ob es sich um Tatsachen und Beweismittel handelt, deren Vor-
bringen im früheren Verfahren eine der Partei günstigere Entscheidung in der Haupt-
sache herbeigeführt haben würde, wobei von der dem angefochtenen Urteil zu Grunde
liegenden Rechtsansicht auszugehen ist. Die neuen Tatsachen oder Beweismittel haben
sich dabei nicht unmittelbar auf die rechtliche Beurteilung auszuwirken. Es genügt, wenn
sie geeignet sind, eine wesentliche Änderung der Beweiswürdigung herbeizuführen.
Sie müssen jedoch so erheblich sein, dass die Berücksichtigung der ergänzenden Tatsa-
chen zu einer anderen Entscheidung des Vorprozesses führen könnte. Diese Eignung ist
Das Vorprüfungsverfahren erfolgt vor Zustellung der Klage an den Gegner, weshalb die 28.33
Klage noch nicht streitanhängig ist. Es ist ein einseitiges Verfahren, in dem dem Gegner
(noch) kein rechtliches Gehör zusteht. Das Gericht hat dem Gegner den Zurückwei-
sungsbeschluss nicht zuzustellen und auch das Rekursverfahren gegen den a limine Zu-
rückweisungsbeschluss hat einseitig zu bleiben. 4889
4887 StGH 2012/018 GE 2014, 155; OGH 05 C 263/97 LES 2001, 35.
4888 OGH 06 CG.2015.66 GE 2018, 104; A. Kodek in Rechberger/K/icka, ZPO; § 538 Rz 1.
4889 OG 11. 7. 2018, 03 CG.2018.85; OGH 02 CG.2004.276 LES 2006, 186; Jelinek in Fasching!
Konecny IV/1 3 § 538 ZPO Rz 35.
4890 OGH 06 CG.2015.66 GE 2018, 104; StGH 2012/018 GE 2014, 155; OGH 05 C 263/97 LES
2001, 35; A. Kodek in Rechberger/K/icka, ZPO; § 541 Rz l; Jelinek in Fasching/Konecny IV/1 3
§ 541 ZPO Rz 7f.
dungsgrundlage darstellt. Fällt diese „beschränkte Beweiswürdigung" negativ aus, ist das
Aufhebungsbegehren mit Urteil abzuweisen. 4891
deraufnahmsgrund des§ 497 Abs l Z l ZPO nur gegeben, wenn ein erkennender Richter
von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen war, nicht aber wenn
ein Richter mit Erfolg abgelehnt wurde.
3. Konkursverfahren
Gern Art 1 Abs 2 KO sind - soweit nichts anderes angeordnet ist - auf das Konkursver- 28.43
fahren die Bestimmungen der ZPO, der JN und deren Einführungsgesetze sinngemäß
anzuwenden. Dieser Wortlaut spricht dafür, dass die Bestimmungen der ZPO über die
4896
Rechtsmittelklagen im Konkursverfahren anwendbar sind. Soweit ersichtlich haben
die liechtensteinischen Rechtsmittelgerichte die Frage der Zulässigkeit der Nichti~~eits-
4 9
oder Wiederaufnahmsklage im Konkursverfahren aber bisher nicht entschieden. '
4. Schiedsverfahren
Im Schiedsverfahren übernimmt die Aufhebungsklage gern § 628 ZPO zum Teil die 28.44
4898
Funktion der Rechtsmittelklagen. Walser bezeichnet die Aufhebungsklage als Rechts-
mittelklage, mit der beim staatlichen Gericht ein erstinstanzliches Klageverfahren (und
damit kein Rechtsmittelverfahren) eingeleitet werde. Es handle sich um eine prozessuale
Rechtsgestaltungsklage, mit der die Aufhebung des Schiedsspruchs durch das staatliche
4899
Gericht begehrt wird. Zuständig ist das OG.
Die Aufhebungsgründe sind in § 628 Abs 2 Z l - 8 ZPO taxativ aufgezählt. Es sind dies 28.45
einerseits schwere Verstöße gegen grundlegende Verfahrensrechte der Parteien, ande-
rerseits stellt auch die Verletzung des materiell-rechtlichen ordre public einen Aufhe-
bungsgrund dar. 4900 § 628 Abs 2 Z 6 ZPO verweist auf die strafrechtlichen Wiederauf-
nahmsgründe des§ 498 Abs 1 Z 1-5 ZPO. Hingegen stellen die Wiederaufnahmsgründe
des § 498 Abs l Z 6 (Auffinden einer früheren Entscheidung über die Sache) und Z 7
4894 Nach Fasching, Lehrbuch 2 Rz 2042 kann eine analoge Anwendung der §§ 529 und 530 öZPO
ausnahmsweise in Betracht kommen, wo ein besonderes Schutzbedürfnis besteht, einen sa-
cherledigenden Beschluss des Vollstreckungsverfahrens zu beseitigen; Jelinek in Fasching/Ko-
necny IV/IJ Vor§§ 529ff ZPO Rz 51 f.
4895 OGH C 253/84 LES 1986, 41; OG E 2731/73 LES 1981, 79; OGH 08 CG.2012.201 GE 2013, 99.
4896 Jelinek in Fasching/Konecny IV/!} Vor§§ 529ff ZPO Rz 53f; Fasching, Lehrbuch 2 Rz 2042.
4897 OG S 271/93 LES 1994, 63 hat die Frage über die Zulässigkeit der Wiederaufnahme im Kon-
kursverfahren offengelassen.
4898 Rechberger in Rechberger!Klicka, ZPO 5 § 611 Rz 1.
4899 Walser, Schiedsfahigkeit 467ff.
4900 Schumacher, LJZ 2011, 111 f.
ZPO (Auffinden oder Beweisbarwerden neuer Tatsachen und Beweismittel) nur dann
einen Grund dar, einen Schiedsspruch aufzuheben, wenn am Schiedsverfahren eine na-
türliche Person beteiligt ist, die nicht selbst Unternehmer ist(§ 634 Abs 3 Z 2 ZPO)4 901 •
Diesfalls ist die Frist für die Aufhebungsklage nach den Bestimmungen über die Wieder-
aufnahmsklage zu beurteilen.
B. Anfechtbare Entscheidung
28.47 Gern § 497 ZPO können mit der Nichtigkeitsklage nur rechtskräftige gerichtliche Ent-
scheidungen, durch welche eine Sache erledigt ist, angefochten werden. Die Sache „er-
ledigen" Urteile und ihnen teichgestellte Entscheidungen, die abschließend über ein
Rechtsbegehren absprechen. 4 2
28.48 Unter Rechtskraft wird die formelle Rechtskraft verstanden, die allerdings auch dann
eintritt, wenn die Prozessunfähigkeit einer Partei nicht erkannt worden ist. 4903
28.49 Ob die Sacherledigung in Form eines Urteils oder eines Beschlusses ergeht oder eine
andere Bezeichnung hat, ist gleichgültig. 4904
28.50 Gerichtliche Vergleiche sind keine Entscheidungen und können nicht mit Nichtigkeits-
klage oder Wiederaufnahmsklage angefochten werden. 4905
28.51 Vereinbaren die Parteien aufgrund eines außergerichtlichen Vergleichs ewiges Ruhen
und nimmt das Gericht die Ruhensanzeige zur Kenntnis, stellt dies keine Entscheidung
dar, durch welche die Streitsache gern § 497 Abs l ZPO sachlich erledigt ist. 4906
C. Nichtigkeitsklagegründe
1. Ausgeschlossenheit des Richters(§ 497 Abs 1 Z 1 ZPO)
28.52 Die Nichtigkeitsklage kann erhoben werden, wenn ein erkennender Richter von der
Ausübung des Richteramts in der Rechtssache kraft Gesetzes ausgeschlossen war. Dieser
Nichtigkeitsklagegrund entspricht dem Nichtigkeitsgrund des § 446 Abs l Z l ZPO. Die
Ausschließungsgründe sind in § 56 GOG geregelt.
4901 § 634 ZPO gilt sinngemäß auch für Schiedsverfahren betreffend Ansprüche aus dem Arbeits-
vertrag (§ 635 ZPO).
4902 Rechberger!Simotta, Zivilprozessrecht' Rz 1144.
4903 Verst Senat 1 Ob 6/01 s; RIS-Justiz RS0l 16036; A. Kodek in Rechberger!Klicka, ZPO' § 529
Rz 9f; Rechberger!Simotta, Zivilprozessrecht9 Rz 1162.
4904 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 2038.
4905 Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht 9 Rz 1144.
4906 OGH 06 CG.2011.178 GE 2013, 277.
Bloße Befangenheit des Richters bildet keinen Grund für eine Nichtigkeitsklage. 4907 28.53
Die Nichtigkeitsklage kann nicht erhoben werden, wenn der Ausschließungsgrund (§ 497 28.54
Abs I Z I ZPO) schon vor der rechtskräftigen Entscheidung erfolglos geltend gemacht
wurde oder wenn die Partei imstande gewesen wäre, den Ausschließungsgrund im frü-
heren Verfahren oder durch Rechtsmittel geltend zu machen(§ 497 Abs 2 und 3 ZPO).
gung eines Rechtsmittels) und der Erhebung einer Nichtigkeitsklage hat, bestehen in Ös-
terreich divergierende Entscheidungen des OGH und einzelner LG und entsprechend
4911
auch unterschiedliche Lehrmeinungen. Der Anwendungsbereich des § 529 Abs l Z 2
öZPO, dem § 497 Abs l Z 2 ZPO wörtlich entspricht, ist daher sehr umstritten.
28.59 In Liechtenstein hatte sich - soweit ersichtlich - das OG in Rekursen gegen Zahlbefehle
und gegen eine Exekutionsbewilligung, in denen Geschäftsunfähigkeit des Schuldners
während der Einsprachefrist gegen den Zahlbefehl resp bei Erlass des Titels vorgebracht
wurde, mit diesem Thema zu befassen. Da diesen Fällen aber wegen des strikten Neue-
rungsverbots im Rekursverfahren nicht Folge zu geben war, wurde die Frage der Prozess-
unfähigkeit im Titelverfahren nur am Rande behandelt und darauf hingewiesen, dass
4912
allenfalls Nichtigkeitsklage erhoben werden könnte.
28.60 Ausgeschlossen ist eine Nichtigkeitsklage, wenn die Prozessführung nachträglich ge-
nehmigt (§ 497 Abs l Z 2 letzter HS ZPO) oder der Mangel der Prozessfähigkeit oder
der gesetzlichen Vertretung bereits im Vorprozess erfolglos geltend gemacht wurde
(§ 497 Abs 2 ZPO). Im Gegensatz zum Ausschließungsgrund nach § 497 Abs l Z l
ZPO besteht aber keine Pflicht, den Nichtigkeitsklagegrund nach § 497 Abs 1 Z 2 ZPO
im Vorprozess geltend zu machen.
B. Anfechtbare Entscheidung
28.63 Im Gegensatz zur Nichtigkeitsklage, mit der gern § 497 ZPO eine rechtskräftige Entschei-
dung, durch welche eine Sache erledigt ist, angefochten werden kann, richtet sich die
Wiederaufnahmsklage nach dem Wortlaut von § 498 ZPO gegen ein durch Urteil ge-
schlossenes Verfahren. Wie Pollak4914 und Fasching4 915 ausführten, ist diese Beschrän-
kung darauf zurückzuführen, dass bei Übernahme der Vorschriften der dZPO nicht be-
achtet wurde, dass dem österr Prozessrecht - anders als dem deutschen - auch Sachen-
tscheide in anderer Form als in Urteilsform bekannt sind. In Österreich wurde die auf
einem Redaktionsversehen des Gesetzgebers beruhende Beschränkung der Wiederauf-
nahmsklage auf Urteile durch das Konsumentenschutzgesetz 4916 aufgehoben.
In Liechtenstein besteht zwar nach wie vor der Wortlaut der Stammfassung des § 530 28.64
öZPO, die neuere Rsp gelangte aber zur Ansicht, dass durch eine sinnvolle und teleo-
logische Auslegung das Wort „Urteil" in § 498 Abs 1 Satz 1 ZPO als Entscheidung in
der Sache zu verstehen sei. 4917 Anlassfall für diese Entscheidung war eine Wiederauf-
nahmsklage, die sich gegen einen Zahlbefehl richtete. Dem OG und der bestätigenden
E des OGH folgend, ist nunmehr auch in Liechtenstein davon auszugehen, dass eine
Wiederaufnahmsklage gegen jede die Sache erledigende Entscheidung zulässig ist, unab-
hängig davon, in welcher Form (Urteil, Beschluss oder andere Bezeichnung) diese ergan-
gen ist, so zB auch gegen Versäumnis-, Anerkenntnis- oder Verzichtsurteile.
C. Wiederaufnahmsgründe
1. Strafrechtliche Wiederaufnahmsgründe (§ 498 Abs 1 Z 1-4 ZPO)
Ein weiterer Unterschied zur öZPO ergibt sich bei den strafrechtlichen Wiederauf- 28.65
nahmsgründen. Der österr Gesetzgeber passte im Zug der Einführung des neuen Straf-
gesetzbuchs 1974 durch BGB) 1974/499 § 530 Abs 1 Z 2-4 öZPO an die neuen Straftat-
bestände an. lnsb trat in § 530 Abs I Z 3 öZPO an die Stelle der Generalklausel, die alle
nicht bereits unter Z 1 oder 2 fallenden Betrugstatbestände erfasste, eine detaillierte Auf-
zählung aller jener Delikte, die nunmehr einen Wiederaufnahmsgrund nach Z 3 bilden.
Diese Änderung wurde deshalb notwendig, weil man im öStGB den Betrugstatbestand
neu gefasst und die unechten Betrugsdelikte selbstständig vertypt hatte, so dass es für die
früher unter die Z 3 fallenden Delikte keine Sammelbezeichnung mehr gab. 4918
Obwohl auch in Liechtenstein 1988 ein neues StGB nach österr Rezeptionsvorlage in 28.66
Kraft trat, blieben die Bestimmungen über die strafrechtlichen Wiederaufnahmsgründe
der ZPO unverändert bestehen. Über den Grund, warum bei der jüngsten ZPO-Nov
2018 keine Anpassung an die Tatbestände des StGB vorgenommen wurde, lassen sich
nur Vermutungen anstellen. Möglicherweise spielen generell die Bestimmungen über
die Rechtsmittelklagen und insb die Bestimmungen über die strafrechtlichen Wiederauf-
nahmsgründe in der Praxis eine so geringe Rolle, dass sie bei der ZPO-Nov 2018
schlichtweg vergessen gingen. Zwar wurden in einigen Klagen strafrechtliche Wiederauf-
nahmsgründe geltend gemacht, diese traten aber gegenüber dem gleichzeitig geltend ge-
machten Wiederaufnahmsgrund des Auffindens neuer Tatsachen und Beweismittel in
den Hintergrund 4919 , sodass keine oberstgerichtlichen E zu den strafrechtlichen Wieder-
aufnahmsgründen vorliegen. Möglicherweise haben die liechtensteinischen Rechtsan-
4925 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 2063; felinek in Fasching/Konecny IV/IJ § 530 ZPO Rz 165; vgl Schu-
macher in FS Delle Karth 929f.
4926 Buchegger/Markowetz, Grundriss 439.
4927 RIS-Justiz RS0040999.
4928 StGH 2017/072 GE 2018, 234.
4929 OGH 01 CG 2004.127 LES 2006, 442; StGH 2010/127 GE 2012, 156; OGH 13.1.2011, 06
CG.2008.96.
4930 OGH 04 CG.2004.388 LES 2007, 187; StGH 2009/134 GE 2012, 135; gern StGH 2006/111 GE
2009, 300 bildet die neue rechtliche Beurteilung durch den EGMR in Liechtenstein keinen
Grund für eine Wiederaufnahme.
28.75 Die neuen Tatsachen und Beweismittel müssen geeignet sein, eine günstigere Entschei-
dung über den Gegenstand des Vorprozesses herbeizuführen. Die neuen Tatsachen und
Beweismittel müssen sich nicht unmittelbar auf die rechtliche Beurteilung auswirken.
Schon die Möglichkeit eines günstigeren Ergebnisses genügt, wobei es ausreicht, dass
die neuen Tatsachen und Beweismittel geeignet sind, eine wesentliche Änderung der Be-
weiswürdigung herbeizuführen. 4931
28.76 Der Kläger muss ohne Verschulden außer Stande gewesen sein, die neuen Tatsachen
und Beweismittel „vor Schluss der mündlichen Verhandlung, auf welche in erster Ins-
tanz das Urteil erging"(§ 498 Abs 2 ZPO) geltend zu machen. Aufgrund der beschränk-
ten Neuerungserlaubnis im Berufungsverfahren verschiebt sich dieser Zeitpunkt auf die
Einbringung der Berufungsschrift oder der Berufungsmitteilung. Ob die Unkenntnis
im Vorprozess unverschuldet gewesen ist, beurteilt sich nach der bei der Prozessführung
geltenden Sorgfaltspflicht. Unterlässt es eine Partei Beweismittel namhaft oder benutz-
bar zu machen, die entscheidungswesentlich sind und deren Bedeutung ohne weiteres
erkennbar war, so liegt darin ein Verschulden. Die Wiederaufnahmsklage ist nicht dazu
4932
bestimmt, von den Parteien begangene Fehler ihrer Prozessführung zu beheben. Das
Verschulden an der Unterlassung der rechtzeitigen Geltendmachung im Vorprozess ist
von Amts wegen zu prüfen. Den Kläger treffen die Behauptungs- und Beweislast, dass ihn
kein Verschulden an der verspäteten Kenntnis trifft.
28.77 Der Ausschluss der Wiederaufnahme bei Verschulden der Partei gilt nur für§ 498 Abs 1
Z 6 und 7 ZPO, nicht jedoch für die übrigen Wiederaufnahmsgründe.
4931 A. Kodek in Rechberger!Klicka, ZPO' § 530 Rz 17; OGH 05 C 263/97 LES 2001.35; OG S 271/
93 LES 1994, 63; StGH 2012/199 GE 2014, 194; StGH 2012/018 GE 2014, 155; OGH 01
CG.2008.180 LES 2010, 107.
4932 OGH 01 CG.2004.127 LES 2006, 442; 04 CG.2004.388 LES 2007, 187; Fasching, Lehrbuch 2
Rz 2067.
Einleitung eines Strafverfahrens zur Ermittlung und Feststellung der behaupteten Straf-
tat zu veranlassen (§ 507 Abs 1 ZPO). Das Wiederaufnahmsverfahren wird unterbro-
chen. Nach rechtskräftigem Abschluss des Strafverfahrens kommt es zum Wiederauf-
nahmsverfahren nur dann, wenn dieses zu einer rechtskräftigen Verurteilung geführt
hat oder wenn es aus anderen Gründen als wegen mangelnden Tatbestands oder we-
gen Mangels an Beweisen nicht zu einer Verurteilung geführt hat(§ 507 Abs 2 ZPO).
Ist es wegen mangelnden Tatbestands oder wegen Mangels an Beweisen zu keiner Ver-
urteilung gekommen, ist die Wiederaufnahmsklage nach Bekanntgabe des Ergebnisses
des strafgerichtlichen Verfahrens als unzulässig zurückzuweisen (§ 507 Abs 2 Satz 2
ZPO).
Erfolgte der Freispruch oder die Einstellung bzw die Nichteinleitung des Strafverfah- 28.81
rens aus anderen Gründen, hat das Zivilgericht nach dem Eintritt der Rechtskraft des
Freispruchs bzw nach dem Wirksamwerden einer nicht rechtskraftfähigen Beendigung
des Strafverfahrens selbst die angebotenen Beweise über die behauptete Tathandlun§
493
aufzunehmen und über das Bestehen des Wiederaufnahmsgrunds zu entscheiden.
Liegt bei Klagserhebung aus den Wiederaufnahmsgründen des § 498 Abs 1 Z 1 - 5 ZPO 28.82
bereits ein rechtskräftiges Strafurteil über die als Wiederaufnahmsgrund behauptete
Straftat vor, ist die Wiederaufnahmsk.Jage zulässig. Gern § 268 ZPO ist der Zivilrichter
an das rechtskräftige verurteilende Erkenntnis des Strafgerichts gebunden und hat ohne
Überprüfung der Richtigkeit des strafrechtlichen Erkenntnisses die Wiederaufnahme zu
b ew1•11•1gen. 49l~
·
Wird eine Wiederaufnahmsklage gleichzeitig mit einem Rechtsmittel oder während 28.83
eines Rechtsmittelverfahrens eingebracht, ist von Amts wegen oder auf Antrag das
Rechtmittelverfahren zu unterbrechen, wenn ein strafrechtlicher Wiederaufnahms-
grund geltend gemacht wird und das rechtskräftige Straferkenntnis der Klage in Ur-
schrift oder beglaubigter Abschrift beigelegt wird(§ 512 ZPO). In§§ 512 und 513 ZPO
heißt es wörtlich Berufungs- oder Revisionsverfahren und nicht Rechtsmittelverfahren.
Nachdem aber nach neuer Rsp die Wiederaufnahmsklage nicht nur gegen Urteile, son-
dern gegen jede die Sache erledigende Entscheidung zulässig ist, ist stattdessen gleich wie
in §§ 544 ff öZPO die Bezeichnung Rechtsmittel zu verwenden.
Ob in den übrigen Fällen, in denen eine Wiederaufnahmsklage zugleich mit einem 28.84
Rechtsmittel oder während des Rechtsmittelverfahrens eingebracht wird, das Rechtsmit-
telverfahren unterbrochen werden soll, hat das zur Verhandlung über die Klage beru-
fene Gericht mit Rücksicht auf die besonderen Verhältnisse des Falls und die für das
Vorhandensein des Wiederaufnahmsgrunds vorgebrachten Beweise zu entscheiden
(§ 513 ZPO).
Übersicht
Rz
I. Verfahren in Ehesachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.1
A. Allgemeines und historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.1
B. Grundsätze des streitigen Eheverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.7
1. Eingeschränkter Dispositionsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.7
2. Untersuchungsgrundsatz ............................. 29.12
3. Säumnisfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.15
4. Persönliche Parteienteilnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.16
5. Tod des Ehegatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.18
6. Nichtöffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.19
7. Ferialsache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.21
8. Prozesskostensicherheitsleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.22
9. Unterbrechung des streitigen Eheverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . 29.23
C. Besonderheiten der einzelnen Eheverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.27
1. Verfahren bei Klage auf Scheidung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.27
a) Versöhnungsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.27
b) Teilurteil über Scheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.28
c) Regelung der Scheidungsfolgen im außerstreitigen Verfahren 29.31
2. Verfahren bei Klage auf Ungültigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.32
a) Klagslegitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.32
b) Besonderheiten des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.33
D. Scheidung auf gemeinsames Begehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.35
II. Bagatellverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.46
A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.46
B. Besonderheiten des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.47
III. Besitzesschutzverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.52
A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.52
B. Besonderheiten des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.54
IV. Mandats- und Wechsel(mandats)verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.57
A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.57
B. Mandatsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.62
C. Verfahren in Wechselstreitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.69
V. Verfahren in Bestandstreitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.73
A. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.73
B. Außergerichtliche Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.76
C. Gerichtliche Aufkündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.78
1. Inhalt der Aufkündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.78
2. Übergabs- und Übernahmsaufträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.84
1. Verfahren in Ehesachen
A. Allgemeines und historische Entwicklung
29.1 Das liechtensteinische Eherecht und - damit verbunden, weil oftmals den materiell-
rechtlichen Regelungen folgend - das Eheverfahren sind wie wohl kein anderer Rechts-
bereich geprägt von Systemänderungen bzw dem wechselnden oder gleichzeitigen Zu-
rückgreifen auf die zum Teil divergierenden Rezeptionsvorlagen aus der Schweiz und
Österreich. Auch wenn jeweils eine in sich geschlossene materiell- und verfahrensrecht-
liche Einheit geschaffen (zu schaffen versucht) wurde 4935 , konnten durch die Mischung
von Normen unterschiedlicher Provenienz Ungereimtheiten, Missverständnisse und Un-
klarheiten sowie die eine oder andere Diskrepanz zwischen vormaligem und neuem
Recht nicht verhindert werden.
29.2 Im Zuge der Rezeption der öZPO im Jahr 1912 4936 wurden die in Österreich außerhalb
der öZPO geregelten Sondervorschriften über ein selbstständiges Eheverfahren 4937 über-
nommen. Während die öZPO 1895 keine Regelung des Eheverfahrens enthielt, hat der
liechtensteinische Gesetzgeber schon bei Einführung der ZPO das Verfahren in Ehesa-
chen als besondere Art des Verfahrens im 1. Abschnitt des 5. Teils(§§ 516 bis 534 ZPO)
geregelt. Von dieser Stammfassung des Eheverfahrens in der ZPO finden sich heute nur
noch einige wenige Leitgedanken wie etwa der Untersuchungsgrundsatz, der Entfall der
4935 Vgl etwa BuA über die Revision des Scheidungs- und Trennungsrechts, BuA 1998/21, 43
(Übergangsbestimmungen): nBei der Erarbeitung der Übergangsbestimmungen stand man
vor dem Problem, trotz der massiven Systemänderung und den sich daraus ergebenden Dis-
krepanzen zwischen neuem und altem Recht, eine Lösung zu finden, welche dafür Gewähr
bietet, dass Paare, welche sich nach neuem Recht scheiden lassen können und solche Paare,
die nach altem Recht bereits getrennt wurden oder sich in einem anhängigen Trennungsver-
fahren befinden, einigermaßen gleich behandelt werden.".
4936 G v 10. 12. 1912 über das gerichtliche Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten (ZPO),
LGBI 1912/9.
4937 Hfl) v 23. 8. 1819, JGS 1819/1595, und JMV v 9. 12. 1897 betreffend das Verfahren in strei-
tigen Eheangelegenheiten, RGBI 1897/382 (idF 12.5.1911, RGBI 1911/91), nach welcher im
streitigen Eheverfahren subsidiär die ZPO anzuwenden war; ausf zu diesen Rechtsquellen
Fasching IV' 910ff.
abgesonderten ersten Tagsatzung, der Ausschluss von Versäumnisurteilen oder die Er-
zwingung des persönlichen Erscheinens der Parteien.
Durch die ZPO-Nov 1974 4938 erfolgte sodann eine gänzliche Neufassung des Eheverfah- 29.3
4940
rens. 4939 Grund dafür war die Einführung eines neuen Eherechts im Jahr 1974, wel-
ches die Anpassung der Verfahrensvorschriften an die neuen materiellen Vorschriften
notwendig machte. Die neuen Verfahrensvorschriften wurden gesetzestechnisch anstelle
der bisherigen§§ 516 bis 534 ZPO eingefügt. Das Gros der neuen Eheverfahrensnormen
befasste sich mit dem wesentlich aus dem materiellen Recht sich ergebenden neu gestal-
teten Verfahren des liechtensteinischen Trennungs- und Scheidungssystems, nämlich
dem Verfahren zur einverständlichen Trennung (§§ 518 und 519 ZPO), zur Trennung
ohne Einverständnis (§§ 520 bis 53 l ZPO) 4941 und dem Scheidungsverfahren (§ 532
ZPO) sowie dem Verfahren auf Ungültigerklärung der Ehe(§§ 533 und 534 ZPO). Das
Verfahren zur streitigen Trennung beanspruchte, analog dem materiellen Recht, die
meisten Bestimmungen für sich.
Die nächste umfassende Neuregelung der eherechtlichen Verfahrensvorschriften brach- 29.4
te die Reform des Scheidungs- und Trennungsrechts im Jahr 1999 4942 mit Änderungen
ua des EheG 4943 und der ZPO 4944 • Auslöser und Grundlage dieser Revision war die
Diskrepanz zwischen Gesetz und Rechtswirklichkeit. Die Praxis hatte deutlich gemacht,
dass das Eherecht von 1974 nicht (mehr) dem herrschenden Bedürfnis und der Rechts-
wirklichkeit entsprach. Insb hatte sich gezeigt, dass der Großteil der in streitiger Form
abgeführten Ehetrennungsverhandlungen nur deswegen stattfand bzw stattfinden
musste, weil bei einer einvernehmlichen Trennung die nachfolgende Scheidung der
Ehe verunmöglicht war. Auch hatte sich gezeigt, dass in der überwiegenden Zahl
der Fälle die Ehen nicht aus einem der klassischen Trennungsgründe getrennt wurden,
sondern weil die Ehen zerrüttet waren. Ein Grundpfeiler der Revision war daher die
Einführung des Zerrüttungsprinzips und die gleichzeitige Abschaffung des Verschul-
densprinzips. Dieser grundsätzlichen Entscheidung für das Zerrüttungsprinzip folgend
4938 G v 30. 5. 1974 über die Abänderung der ZPO, LGBl 1974/35.
4939 Zum Ganzen: Sprenger, Ehetrennungs- und Ehescheidungsrecht.
4940 EheG v 13. 12. 1973, in Kraft getreten mit 1. 6. 1974, LGBl 1974/20. Die maßgeblichen Neue-
rungen des - sowohl auf schweizerischer als auch auf österr Rezeptionsvorlage (chZGB und
öEheG bzw ABGB) beruhenden - Ehegesetzes 1974 waren die Einführung der obligatorischen
Zivilehe (Art 22-27 EheG) und die Ermöglichung der Scheidung der Ehe iS einer Auflösung
des Ehebandes (Art 73- 78 EheG) - nach einem zwingend vorangehenden (streitigen) Tren-
nungsverfahren mit anschließender Trennungszeit von mindestens drei Jahren. Zu den ver-
schiedenen Rezeptionsquellen s die Gegenüberstellung der Art des EheG mit den entspre-
chenden Normen des chZGB, dem öEheG bzw ABGB (aF) in Sprenger, Ehetrennungs- und
Ehescheidungsrecht 507 ff.
4941 Die "streitige Trennung" war - in der Variante als Vorstufe der Scheidung, die nur noch ein
rein formaler Akt war, in dem der Fristablauf und die Nichtwiederaufnahme der ehelichen
Gemeinschaft festgestellt wurden - das "eigentliche Scheidungsverfahren" des liechtensteini-
schen Rechts (Sprenger, Ehetrennungs- und Ehescheidungsrecht 280).
4942 BuA über die Revision des Scheidungs- und Trennungsrechts, BuA 1998/21.
4943 G v 17. 12. 1998 über die Änderung des EheG, LGBl 1999/28.
4944 G v 17. 12. 1998 über die Änderung der ZPO, LGBl 1999/29.
wurde für die Revision des Ehegesetzes auf die schweizerische Rezeptionsvorlage 4945
zurückgegriffen, da diese dem liechtensteinischen Vorhaben materiell eher entsprach.
Im Vordergrund stand die Scheidung auf ~emeinsames Begehren, die den gemeinsa-
men Willen der Ehegatten berücksichtigt. 4 46 Über das eigentliche Scheidungssystem
hinaus war die Gesetzesrevision va durch eine Vereinheitlichung des Verfahrens ge-
kennzeichnet, welches einerseits die Anwendung einer Verfahrensart (mit einer Erle-
digung mittels Urteil) für alle Scheidungsformen - unabhängig davon, ob es sich um
eine einvernehmliche Scheidung oder um ein mittels Klage eingeleitetes streitiges
Scheidungsverfahren handelt - und andererseits die Abschaffung des Dualismus Schei-
dungsrichter/Ptlegschaftsrichter bezüglich der Regelung der Scheidungsfolgen betref-
fend die Kinder beinhaltete. Sämtliche Scheidungsfolgen sollten von Gesetzes wegen
im Rahmen des Scheidungsverfahrens geregelt werden. Mit dem Ausspruch der Schei-
dung sollten sämtliche Unsicherheiten bezüglich der rechtlichen Stellung der Ehegatten
4947
gelöst werden.
29.5 !Zm der Schaffung eines Ausserstreitgesetzes (AussStrG} 4948 , welchem das öAußerstreit-
gesetz (öAußStrG) 4949 als Rezeptionsgrundlage diente, erfolgte 2010 neuerlich ein Sys-
4950
temwechsel oder „zumindest eine Präzisierung" . Die Scheidung auf gemeinsames Be-
4951
gehren (einvernehmliche Scheidung) ist nunmehr - analog den §§ 93 bis 96
öAußStrG - im AussStrG (§§ 93 bis 96) geregelt. Die entsprechenden Bestimmungen
der ZPO (§§ 518 bis 519a) wurden - mit der ZPO-Nov 2010 4952 - aufgehoben. Die Ent-
scheidung über die Scheidung auf gemeinsames Begehren und über die Nebenfolgen -
über welche auch in streitigen Ehesachen nunmehr ausschließlich im Außerstreitverfah-
ren zu entscheiden ist (§ 527 Abs 2 ZPO) 4953 - erfolgt mit Beschluss.
29.6 Anlässlich der Schaffung eines Partnerschaftsgesetzes (PartG) 4954 ½'Urde § 516 a in die
ZPO eingefügt 4955 , wonach die Bestimmungen über das Verfahren in Ehesachen - auch
das Verfahren bei Auflösung auf gemeinsames Begehren4956 - sinngemäß für die einge-
tragene Partnerschaft gelten.
Eine Änderung des Klagebegehrens kann bis zum Schluss der mündlichen Verhand- 29.8
Jung erster Instanz vorgenommen werden, und zwar ohne Einwilligung des Beklagten.
§ 526 Abs 1 ZPO modifiziert die allgemeine Klagsänderungsbestimmung des § 243 ZPO
sohin insofern, als die (nach Abs 2 leg eil) verlangte oder (nach Abs 3 leg eil) durch
Gerichtsbeschluss zu ersetzende Einwilligung des Beklagten nicht erforderlich ist. Eine
Klagsänderung liegt nicht nur vor bei Änderung eines (von einem Ehegatten zu stellen-
den) Eheungültigerklärungsbegehrens (Art 31, 35 bis 37 EheG) in ein Scheidungsbe-
gehren, eines Trennungsbegehrens in ein Scheidungsbegehren, eines Klagebegehrens
auf Scheidung wegen Unzumutbarkeit (Art 56 EheG) in ein solches auf Scheidung nach
Getrenntleben (Art 55 EheG) oder jeweils umgekehrt, sondern bspw auch dann, wenn
die klagende Partei anstelle der oder neben den Tatsachen, aus denen das Begehren
zunächst abgeleitet wird, andere Tatsachen, zB neue, nicht zum bisher behaupteten
Sachverhalt gehörende Fakten (Vorwürfe) zum Scheidungsgrund der Unzumutbarkeit
vorbringt. 495 ~
Die Klagsrücknahme ist bis zur Rechtskraft des Urteils über die Scheidung, Tren- 29.9
nung oder Ungültigerklärung zulässig, und zwar auch ohne Einwilligung des Beklag-
ten. § 526 Abs 2 Satz l ZPO ändert damit die Klagsrücknahmebestimmung des ordent-
lichen Zivilprozesses (§ 245 ZPO) ab, wonach eine Klagsrücknahme (unter Anspruchs-
verzicht) längstens bis zum Schluss der mündlichen Streitverhandlung möglich ist.
Diese Erweiterung der Klagsrücknahmemöglichkeit in zeitlicher Hinsicht hat ihren
4960
Grund im favor matrimonii. Diesem „zentralen Gedanken der möglichsten Erhal-
4961
tung der Ehe" entspricht auch die Anordnung, dass ein zwar bereits ergangenes,
aber noch nicht in Rechtskraft erwachsenes Urteil als aufgehoben gilt (§ 526 Abs 2
Satz 2 ZPO).
Ausfluss der Dispositionsmaxime ist auch, dass die Parteien - im streitigen Ehetren- 29.10
nungs- und Ehescheidungsverfahren, nicht aber gern der ausdrücklichen Regelung des
§ 533 Abs 7 ZPO im Eheungültigerklärungsverfahren - Ruhen des Verfahrens verein-
baren können(§ 168 ZPO) und bei Säumnis beider Parteien gern§ 170 ZPO Ruhen des
Verfahrens eintritt. 4962
29.11 Dem Wesen und den Wirkungen der Ehe entsprechend können die Parteien aber nur in
eingeschränktem Maße über den Streitgegenstand disponieren. Der Dispositionsgrund-
satz gilt nicht für Verfügungen über den Bestand oder die Auflösung der Ehe. 4963 Der
Abschluss eines Vergleichs sowie die Fällung eines Anerkenntnis- oder eines (echten
oder unechten) Versäumnisurteils4964 ist - in der Frage der Ehescheidung, Ehetrennung
oder Ungültigerklärung der Ehe - unzulässig (§ 527 Abs 1 ZPO iVm § 532 Abs 1, § 533
Abs 6 ZPO). Geständnisse und Außerstreitstellungen werden im Gesetz zwar nicht für
unzulässig erklärt. Sie können aber aufgrund des Untersuchungsgrundsatzes keine bin-
dende Wirkung iSd § 266 ZPO entfalten. 4965 Vom Verbot der Fällung eines Anerkennt-
nisurteils zu unterscheiden ist die - als prozessuales Anerkenntnis zu qualifizierende und
bis zur Rechtskraft des Urteils auch ohne Einwilligung des Verfahrensgegners widerruf-
bare4966 - Zustimmungserklärung des beklagten Ehegatten iSd Art 59 EheG. Wenn
der beklagte Ehegatte der auf die Scheidungsgründe der Art 55 und 56 EheG gestützten
Scheidungsklage ausdrücklich zustimmt, ist das weitere Verfahren nach den Bestimmun-
gen über die Scheidung auf gemeinsames Begehren unter den dort geregelten Voraus-
setzungen durchzuführen.
2. Untersuchungsgrundsatz
29.12 Der Eheprozess ist vom Untersuchungsprinzip beherrscht. Anders als in Österreich 4% 7
gilt der Untersuchungsgrundsatz in Liechtenstein für alle streitigen Eheverfahren. Am
4962 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 2330; Simotta in Fasching/ Konecny lll/2 3 § 460 ZPO Rz 175, 181;
Sprenger, Ehetrennungs- und Ehescheidungsrecht 284.
4963 StGH 1987 /10 LES 1988, 102.
4964 Während nach § 527 ZPO idF LGBl 1974/35 auch Teil- und Zwischenurteile ausgeschlossen
waren, sind seit der ZPO-Nov 2010, LGBl 2010/455, diese Urteile in § 527 Abs I ZPO nicht
mehr angeführt bzw ist das Teilurteil in Abs 2 leg cit völlig neu geregelt (s auch unten zu
Rz 29.28ft). Die seinerzeitige Diskussion betreffend die (Un-)Zulässigkeit eines Teilurteils, in
welchem nur die Ehetrennung einheitlich entschieden wird und die Nebenfolgen dem End-
urteil vorbehalten werden (vgl Sprenger, Ehetrennungs- und Ehescheidungsrecht 283 FN 698),
sowie die diesbezügliche Rsp (vgl OGH 01 C 282/85 LES 1989, 144; StGH 2007/72 GE 2009,
305) sind damit (teilweise) überholt.
4965 Vgl auch öl und öRsp zur ähnlichen Regelung des § 460 Z 9 öZPO: Fasching, Lehrbuch 2
Rz 2330 und 2351; Simotta in Fasching/Konecny III/2 3 § 460 ZPO Rz 180, 180/1 mwN; Rech-
berger!Klicka in Rechberger/K/icka, ZPO 5 §§ 266-267 Rz 1; öOGH 3 Ob 224/98g; öOLG
Wien 11 R 37/87 EF 55.059.
4966 OGH 02 EG.2005.54 LES 2007, 275 (teleologisch einschränkende Auslegung der „sprachlich
missglückten", vom schweizerischen Rezeptionsvorbild abweichenden Bestimmung des Rück-
wechselverbots in Art 59 Satz 2 EheG).
4967 Seit dem öPersEheKindRÄG 1983, BGBI 1983/566 gilt der Untersuchungsgrundsatz in Ö nur
noch im Verfahren über die Nichtigerklärung und die Feststellung des Bestehens oder Nicht-
bestehens der Ehe(§ 460 Z 4 öZPO), nicht aber mehr im Verfahren auf Scheidung und Auf-
hebung einer Ehe. Zum (teilweise abgeschwächten oder eingeschränkten) Untersuchungs-
grundsatz im schweizerischen ehe(schutz)rechtlichen Verfahren nach Inkrafttreten der
chZPO zum 1. 1. 2011: Vetterli in Schwenzer, FamKomm Scheidung I2 Anh ZPO Art 272
Rz 2f; Meyer in Schwenzer, FamKomm Scheidung I2 Anh ZPO Art 277 Rz 14ff.
deutlichsten kommt diese Maxime im § 523 ZPO zum Ausdruck. Sie klingt aber auch im
§ 527 Abs I oder§ 53 I Abs 1 ZPO an. Gern § 523 Abs 1 ZPO (und Art 61 EheG) hat das
Gericht von Amts wegen zu untersuchen, ob die Voraussetzung des dreijährigen Ge-
trenntlebens (Art 55 EheG) oder ein Unzumutbarkeitsgrund (Art 56 EheG) vorliegt, ob
der Scheidungsklage stattgegeben werden kann und ob der Grund für die Unzumutbar-
4968
keit dem beklagten Eheteil überwiegend oder ganz zugerechnet werden kann.
Das Gericht hat hierbei alle im Verfahren hervorgekommenen Tatsachen zu berücksich- 29.13
tigen und auch solche Beweise aufzunehmen, die keine der Parteien angeboten hat(§ 523
Abs 2 ZPO). § 523 Abs 3 ZPO verlangt auch die Beweisführung bezüglich Tatsachen, die
vom Prozessgegner zugestanden wurden. Die Zulassung eines Geständnisses iSd § 266
ZPO würde die Erforschung der materiellen Wahrheit verunmöglichen. Der solcherma-
ßen normierte Amtswegigkeits- und Untersuchungsgrundsatz (Untersuchungsmaxime)
berechtigt und verpflichtet das Gericht, auf alle Umstände Bedacht zu nehmen, und diese
ohne Rücksicht auf das Prozessverhalten der Parteien auf ihre materielle Wahrheit zu
prüfen. Es liegt aber in der Natur der Sache, dass das Gericht, das von Amts wegen alle
maßgeblichen Tatsachen feststellen soll, iaR darauf angewiesen ist, dass ihm die Parteien
das Grundsubstrat an Tatsachen und vorhandenen Beweismitteln liefern, wovon das Ge-
richt ja keine Kenntnis haben kann. Der Untersuchungsgrundsatz hat daher nicht zur
Folge, dass es für die Parteien keine Beweislasten gibt. Die Pflicht des Gerichts zur amts-
wegigen Prüfung des Sachverhalts endet dort, wo ein Vorbringen der Parteien überhaupt
nicht vorliegt oder trotz richterlicher Anleitung nicht so konkretisiert wird, dass eine
Überprüfung möglich ist. Die Parteien trifft idS keine förmliche Beweislast, aber doch
4969
eine qualifizierte Behauptungspflicht. Mit dieser Maßgabe besteht also auch in dem
vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Eheverfahren eine entsprechende Behaup-
tungs- und Beweislast der Streitteile und beschränkt sich die Offizialmaxime auf die
4970
prozesskonform behaupteten und aus den Akten ersichtlichen Fakten.
Die Untersuchungsmaxime berührt auch nicht die elementaren Grundsätze des Prozess- 29.14
rechts. Der Grundsatz der Einmaligkeit des Rechtsmittels gilt auch im Eheverfahren mit
Untersuchungsgrundsatz. Auf einen prozessual unzulässigen zweiten Berufungsschrift-
4968 Diese etwas eigentümlich formulierte Dreiteilung der von Amts wegen zu untersuchenden
Fragenkomplexe hat historische Gründe. Mit der zweiten zu prüfenden - für sich allein schon
eine umfassende Untersuchungsmaxime beinhaltenden - Frage C»ob der Scheidungsklage
[idF LGBI 1974/20 „dem Trennungsbegehren"] stattgegeben werden kann") war ursprünglich
die Prüfung der »Klagsausschliessungsgründe" der Art 62, 63 und 64 EheG idF LGBl 1974/20
angesprochen (einjährige Sperrfrist, Verzeihung und Verjährung des Trennungsgrundes) -
vgl hierzu ausf: Sprenger, Ehetrennungs- und Ehescheidungsrecht 176ff, 299. Zu den Gründen
für die Aufhebung dieser Klagsausschließungsgründe vgl BuA 1998/21, 24 f.
4969 Ähnlich die Behauptungs- und Substanzierungslast im Rahmen des schweizerischen Ver-
handlungsgrundsatzes (Art 55 Abs l, 277 Abs I chZPO); vgl Meyer in Schwenzer, FamKomm
Scheidung 12 Anh ZPO Art 277 Rz 7f mwN.
4970 OGH 07 EG.2015.67 LES 2016,184; 06 EG.2004.66 LES 2006, 307; BGer 8. 3. 2000, 5 C.148/
1999; vgl auch OGH 10 HG.2003.17 LES 2008, 82; OG 02 EG.2009.32 GE 20IO 381 (in Ver-
fahren mit Untersuchungscharakter trifft die Parteien eine „Mitwirkungs- und Prozessförde-
rungspflicht"); RIS-Justiz RS0008752; Fasching, Lehrbuch 2 Rz 2351. Ausf zu den Grenzen des
Untersuchungsgrundsatzes auch: Simotta in Fasching/Konecny Ill/2i § 460 ZPO Rz 66ff.
satz einer Partei muss das Berufungsgericht nicht eintreten. 4971 Ebenso vermag die Be-
stimmung des § 523 ZPO an § 432 Abs 2, § 435 Abs 2, § 438 Abs 2 und § 452 ZPO etwas
zu ändern, wonach ua neue Tatumstände und Beweise ausschließlich in den Berufungs-
schriften geltend gemacht werden können. 4972 Die nur beschränkte Neuerungserlaubnis
im liechtensteinischen Berufungsverfahren (§ 452 Abs 3 ZPO) besteht auch für den
Scheidungsprozess.
3. Säumnisfolgen
29.15 Wegen des Untersuchungsgrundsatzes gibt es im Eheverfahren kaum Säumnisfolgen. So
sind - wie ausgeführt - insb keine Versäumnisurteile zulässig. Die für das streitige Ehe-
verfahren charakteristische Versäumnisregelung enthält§ 529 ZPO. Bei Nichterscheinen
4973
des Klägers zur ersten mündlichen Verhandlung ist die Scheidungs- oder Trennungs-
klage(§ 529 iVm § 532 Abs l ZPO) auf Antrag des Beklagten als ohne Verzicht auf den
Anspruch mit Beschluss für zurückgenommen zu erklären. Außerdem ist beschlussmäßig
festzustellen, dass der Eheprozess durch die fingierte Klagszurücknahme beendet ist. 4974
Da § 533 Abs 6 ZPO die Bestimmung des § 529 ZPO nicht erwähnt, ist davon auszu-
gehen, dass diese Säumnisregelung für Klagen auf Ungültigerklärung der Ehe nicht
gilt. 4975 Wenn der Beklagte den Antrag, die Klage für zurück~enommen zu erklären,
nicht stellt und zur Sache vorbringt, dann ist zu verhandeln; 49 6 erstattet er kein Vor-
bringen, wird er selbst säumig und tritt Ruhen des Verfahrens ein. 4977
4. Persönliche Parteienteilnahme
29.16 Verweigert eine Partei ohne genügenden Grund die Untersuchung durch einen Sachver-
ständigen oder leistet sie der Aufforderung zum persönlichen Erscheinen oder der La-
dung zur Parteienvernehmung ohne genügenden Grund nicht Folge, so kann gegen sie
eine Ordnungsstrafe verhängt oder ihre zwangsweise Vorführung angeordnet werden
(§ 523 Abs 4 ZPO). Das persönliche Erscheinen der Parteien ist notwendig, weil in
Ehesachen der Parteienvernehmung eine besondere Bedeutung zukommt und diese häu-
fig das einzige und jedenfalls wesentliche Beweismittel darstellt. Für den Versöhnungs-
4971 OGH 06 EG.2004.66 LES 2006, 307; aA noch OGH J 426/142 ELG 1947, 69.
4972 OGH 06 EG.2004.66 LES 2006, 307.
4973 Versäumt der Kläger eine fortgesetzte mündliche Verhandlung, tritt die Säumnisfolge des
§ 529 ZPO nicht ein.
4974 Simotta in Fasching/Konecny III/2 3 § 460 ZPO Rz 86.
4975 Die durch die ZPO-Nov 1999 vor den§§ 526ff ZPO eingefügte Überschrift „Verfahren über
die Ungültigkeit der Ehe und Scheidung der Ehe auf Klage" würde dafür sprechen, dass die
Säumnisfolge des § 529 ZPO auch im Verfahren über die Ungültigerklärung der Ehe gilt.
Dabei dürfte es sich aber wohl um ein Versehen des Gesetzgebers handeln, da die auch im
Verfahren über die Ungültigerklärung der Ehe anzuwendenden Vorschriften der§§ 526fZPO
in § 533 Abs 6 ZPO ausdrücklich erwähnt werden, was bei Bedachtnahme auf die genannte
Überschrift nicht notwendig gewesen wäre. Andererseits würde - weil § 529 ZPO Ausfluss des
favor matrimonii ist - wenig dagegensprechen, diese Säumnisfolge zumindest in jenen Ver-
fahren über die Ungültigkeit der Ehe eintreten zu lassen, in denen ein Ehegatte und nicht der
Staatsanwalt als Kläger auftritt.
4976 Sprenger, Ehetrennungs- und Ehescheidungsrecht 283.
4977 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 2338; Simotta in Fasching!Konecny III/2 3 § 460 ZPO Rz 84.
versuch gern Art 57 EheG ist das persönliche Erscheinen zudem zwingend vorgesehen
(§ 521 Abs 1 Satz 2 ZPO).
Das persönliche Erscheinen der Parteien kann durch Verhängung einer Ordnungsstrafe 29.17
und durch die zwangsweise Vorführung erzwungen werden. Das Verfahren zur Durch-
setzung der Pflicht zum persönlichen Erscheinen lässt sich dem Gesetz nicht klar ent-
nehmen. Nach der allgemeinen Vorschrift des § 380 Abs 3 ZPO dürfen Parteien nicht
unter Anwendung von Zwangsmaßregeln zum Erscheinen vor Gericht verhalten werden.
Unter Zwangsmaßregeln sind ua die in § 333 Abs 1 ZPO genannten Maßnahmen ge-
meint (Verhängung einer Ordnungsstrafe, Verdoppelung derselben und zwangsweise
Vorführung). Nachdem nun§ 523 Abs 4 ZPO eine Ausnahme zu§ 380 Abs 3 ZPO dar-
stellt, wird das persönliche Erscheinen - so es nach den Umständen des Einzelfalls not-
wendig und dessen Erzwingung angemessen ist (arg „kann") 4978 - iSd § 333 Abs I ZPO
zwangsweise durchzusetzen sein.
6. Nichtöffentlichkeit
Das Verfahren in streitigen Ehesachen ist nicht öffentlich(§ 522 ZPO). Die Erörterung 29.19
von „Tatsachen des Familienlebens", wie sich § 172 Abs 2 ZPO ausdrückt, bildet das
Kernstück des Eheverfahrens und deshalb wird, anders als nach § 172 Abs 2 ZPO, nicht
nur auf Antrag einer Partei, sondern generell die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Die Pri-
vat- und Intimsphäre, die durch die Regelung des § 522 ZPO im streitigen Eheschei-
dungsverfahren geschützt werden soll, ist auch bei den anderen die Ehe betreffenden
Verfahren tangiert.
4978 Sprenger, Ehetrennungs- und Ehescheidungsrecht 320 hält eine zwangsweise Vorführung nur
in Notfällen für gerechtfertigt. Zum Meinungsstand in Ö bei ähnlicher Gesetzeslage (zwangs-
weise Durchsetzung des persönlichen Erscheinens nur "erforderlichenfalls"): Simotta in Fa-
sching/Konecny III/2 3 § 460 ZPO Rz 37ff.
4979 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 2339; RIS-Justiz RS004 l 706.
4980 OG 28. 2. 1980, 3 C 165/70 (Einstellung des Verfahrens und Feststellung, dass das Urteil als
aufgehoben gilt).
29.20 Obwohl § 17 4 Abs I ZPO das Recht auf Zuziehung einer Vertrauensperson nur für den
Fall des Ausschlusses der Öffentlichkeit durch richterlichen Beschluss vorsieht, ist die
Teilnahme einer Vertrauensperson auch im streitigen Eheverfahren zu gestatten, da es
keinen Unterschied machen kann, ob der Ausschluss der Öffentlichkeit, weil Tatschen
des Familienlebens erörtert werden, durch Gesetz oder richterlichen Beschluss erfolgt,
denn in beiden Fällen geht es um die Geheimhaltung von Tatsachen der Privat- und
Intimsphäre. 4981
7. Ferialsache
29.21 Verfahren in Ehe- und Partnerschaftssachen nach den §§ 516ff ZPO sind Ferialsachen
(§ 224 Abs I Z 16 ZPO). Damit erfolgt eine Gleichstellung mit der einvernehmlichen
Scheidung nach den Bestimmungen des AussStrG, welches keine Gerichtsferien vorsieht
(Art 23 Abs I AussStrG). 4982
8. Prozesskostensicherheitsleistu ng
29.22 Eine Prozesskostensicherheitsleistung für ausländische Kläger entfällt gern § 57 Abs 2 Z 3
ZPO.
auf gemeinsames Begehren, in welchem nur die Ehegatten Parteien sind (Art 93 Abs 2
4984
AussStrG), eingeleitet werden kann.
Die (die Unterbrechung des Scheidungsprozesses auslösende) Zustimmung zum Sehei- 29.24
dungsbegehren kann bis zur rechtskräftigen Erledigung der Scheidungsklage, also auch
noch im Rechtsmittelverfahren 4985 erklärt werden. Da der rechtskräftige Scheidungsbe-
schluss die Wirkungen einer Klagszurücknahme zur Folge hat (§ 525 Abs 3 ZPO), muss
die (die Scheidungsklage „ablösende" bzw den anhängigen Ehescheidungsprozess unter-
brechende) Zustimmungserklärung so lange zulässig sein, als im Scheidungsprozess eine
Zurücknahme der Klage möglich ist, sohin bis zum Eintritt der Rechtskraft des Schei-
4986
dungsurteils (§ 526 Abs 2 ZPO).
Die Unterbrechung ist mit Beschluss auszusprechen. Wird dem Scheidungsantrag 29.25
rechtskräftig stattgegeben, so gilt die Scheidungsklage mit Eintritt der Rechtskraft des
Scheidungsbeschlusses als zurückgenommen; die Prozesskosten sind gegeneinander auf-
zuheben. Der Scheidungsprozess und damit auch dessen Unterbrechung sind mit diesem
4987
Zeitpunkt beendet. Wenn der Scheidungsantrag aber zurückgezogen oder rechtskräf-
4988
tig abgewiesen (oder zurückgewiesen ) worden ist, so ist der unterbrochene Schei-
dungsprozess - gemäß dem favor matrimonii nur auf Antrag - wieder aufzunehmen
und endet damit die Unterbrechung.
§ 525 Abs 3 ZPO enthält eine fingierte Klagszurücknahme, die gern § 245 Abs 5 ZPO 29.26
dieselben Rechtsfolgen wie eine tatsächlich erfolgte Klagsrücknahme hat. Die Schei-
dungsklage ist daher gern § 245 Abs 3 ZPO „als nicht angebracht" anzusehen, der Schei-
dungsprozess ist beendet. Die Wirkungen des § 245 Abs 3 ZPO treten ex lege ein, es
4984 Bei der Klage des Staatsanwalts ist die Ausgangslage eine andere: Die Klage des Staatsan-
walts ist gegen beide Ehegatten zu richten (§ 533 Abs 3 ZPO) und steht das öffentliche
Interesse an der Ungültigerklärung im Vordergrund, weshalb die Klage bspw auch dann
noch erhoben werden kann, wenn das Band der Ehe durch den Tod des einen Ehegatten
gelöst worden ist oder die Ehegatten bereits rechtskräftig geschieden sind (§ 533 Abs 1
ZPO). Zur Aufhebung der Differenzierung zwischen Nichtigkeit und Anfechtung der Ehe
im EheG und der diesbezüglich unterschiedlichen Folgen für das Verfahrensrecht s auch
unten zu Rz 29.32. Vgl auch Simotta in Fasching/Konecny III/2 3 § 460 ZPO Rz 184ff (mwN
zur öLehre und öRsp zur ähnlichen Bestimmung des § 460 Z 10 öZPO), die - aufgrund des
öffentlichen Interesses an der Nichtigerklärung der Ehe und aufgrund der ex-tune-Wirkung
der Nichtigerklärung - für eine Unterbrechung des einvernehmlichen Ehescheidungsverfah-
rens bis zur Rechtskraft der Erledigung der vom Staatsanwalt eingeleiteten Ehenichtigkeits-
klage eintritt (Simotta, ÖJZ 1987, 173). So auch die Praxis des LG und OG im Fall der
Einleitung eines Verfahrens wegen Ungültigkeit der Ehe durch die Staatsanwaltschaft wäh-
rend eines anhängigen (streitigen) Eheverfahrens (Unterbrechung iSd § 190 ZPO) (bspw
OG 10. 7. 2014, 05 EG.2013.61).
4985 OG 5.12.2017, 09 EG.2016.94.
4986 Simotta in Fasching/Konecny IIl/2 3 § 460 ZPO Rz 196; Simotta, ÖJZ 1987, 129f. Dagegen
spricht auch nicht die Bestimmung des § 524 Abs 2 ZPO, wonach eine Widerklage nur bis
zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz anzubringen ist, weil dies der allge-
meinen Vorschrift des§ 241 Abs 2 ZPO entspricht.
4987 Simotta in Fasching/Konecny 111/2 3 § 460 ZPO Rz 208f; Simotta, ÖJZ 1987, 167.
4988 Simotta, ÖJZ 1987, 134.
bedarf keines konstitutiven Beschlusses des Gerichts. 4989 Wenn die Fiktion der Zurück-
nahme der Scheidungsklage erst zu einem Zeitpunkt eintritt, in dem sich der Scheidungs-
prozess bereits im Rechtsmittelverfahren befindet, dann werden - wie bei der tatsächlich
erfolgten Klagszurück.nahme - die bereits ergangenen Urteile der vorangegangenen In-
stanzen kraft Gesetzes wirkungslos (§ 453 Abs 4 iVm § 526 Abs 2 ZPO), was gern § 453
Abs 4 letzter HS und § 482 ZPO beschlussmäßig festzustellen ist.
4989 lovrek in Fasching/Konecny 111/1 3 § 237 ZPO Rz 38. Zur Frage, ob die Fassung eines dekla-
rativen Beschlusses erforderlich oder geboten ist, vgl Simotta in Fasching/Konecny III/2 3 § 460
ZPO Rz 214 mwN.
4990 Die Bestimmungen des Scheidungsverfahrens sind sinngemäß auf das Verfahren über die Tren-
nung der Ehe anwendbar. Im Trennungsurteil ist (.,nuru) auszusprechen, dass mit Eintritt der
Rechtskraft die Verpflichtung zur ehelichen Gemeinschaft und zur ehelichen Treue aufgehoben
ist, das Band der Ehe aber bestehen bleibt, und dass das Trennungsurteil seine Wirkung verliert,
wenn die getrennten Ehegatten die eheliche Gemeinschaft wieder aufnehmen und davon das
Gericht durch eine gemeinsame schriftliche Erklärung verständigen(§ 532 ZPO).
4991 Sprenger, Ehetrennungs- und Ehescheidungsrecht 117 ff.
4992 OG 5 C 7/95 LES 1995, 185: Nach Auffassung des OG sei der Versöhnungsversuch iSd EheG
einem vermittleramtlichen Verfahren ähnlich und müsse dort eine klagende Partei das Nicht-
erscheinen der Gegenpartei auch nicht tatenlos hinnehmen, sondern könne den Leitschein
verlangen(§ 17 Abs 4 iVm § 28 VAG). Sprenger, Ehetrennungs- und Ehescheidungsrecht 117,
hatte seinerzeit die Durchführung des Versöhnungsversuchs durch den Vermittler angeregt.
4993 Simotta in Fasching/Konecny IIl/2 3 § 460 ZPO Rz 100; GlU 8484.
4994 BuA 2010/79, 183.
Teilurteil über die Scheidung der Ehe tritt aber erst dann „in Kraft", nachdem im außerstrei-
tigen Verfahren vor dem gleichen Gericht über die Nebenfolgen der Scheidung befunden
wurde. Die Bezeichnung als Teilurteil ist insofern unpräzise, als es -was nach der Bezeichnung
zu erwarten wäre - kein Endurteil gibt, da im fortgesetzten außerstreitiien Verfahren über die
Nebenfolgen der Scheidung nicht mit Urteil, sondern mit Beschluss 995 zu entscheiden ist.
Was unter dem „verzögerten" Inkrafttreten des Teilurteils genau zu verstehen ist, kann 29.29
dem Gesetz und den Gesetzesmaterialien - wiewohl diese Frage große statusrechtliche
Bedeutung haben kann 4996 - nicht mit Klarheit entnommen werden. Formell rechtskräf-
tig wird das Teilurteil jedenfalls dann, wenn kein Rechtsmittel erhoben, auf ein solches
verzichtet oder einem solchen endgültig nicht stattgegeben wird. Insofern missverständ-
lich sind die Gesetzesmaterialien, wonach die Rechtskraft (und Vollstreckbarkeit) dieses
Teilurteils erst nach Rechtskraft der Entscheidung über die Scheidungsfolgen eintritt. 4997
Nach der Rsp 4998 hat § 527 Abs 2 ZPO (nur) aus prozessökonomischen Gründen einge-
führt werden müssen, damit nicht der gesamte Verfahrensaufwand für die Regelung der
Nebenfolgen umsonst wäre, wenn letztlich bspw durch die Entscheidung letzter Instanz
die Klage auf Scheidung der Ehe abgewiesen würde, und sagt diese Bestimmung nichts
darüber aus, dass die Scheidung erst in Kraft tritt, wenn sämtliche Nebenfolgen rechts-
kräftig erledigt sind. Gerade dies wird nun aber in § 527 Abs 2 ZPO ausdrücklich geregelt
(arg „tritt erst in Kraft, nachdem [... ) über die Nebenfolgen der Scheidung befunden
wurde"). Auch wenn diese Gesetzesbestimmung nicht ausdrücklich von der „rechtskräf-
tigen" Erledigung der Nebenfolgen spricht, kann nach Sinn und Zweck dieser Bestim-
mung nur eine solche gemeint sein. Wenn man den Eintritt der Rechtswirkungen der
Ehescheidung schon bis zur Regelung der Nebenfolgen hinausschieben will, dann wohl
bis zur Rechtskraft der Entscheidung über die Scheidungsfolgen. Eine andere Auslegung
des § 527 Abs 2 ZPO wäre gänzlich unverständlich. 4999
4995 Gern Art 36 Abs I AussStrG stellt der Beschluss die Entscheidungsform im Verfahren außer
Streitsachen dar.
4996 Bspw hins der Frage der Unwirksamkeit eines bereits ergangenen Scheidungsteilurteils bei
Versterben eines Ehegatten vor Eintritt der Rechtskraft iSd § 530 ZPO oder der Frage, ab
welchem Zeitpunkt dem (ehemaligen) Ehegatten die neuerliche Verehelichung möglich ist.
4997 BuA 2010/79, 84.
4998 OGH 04 CG.2012.261 LES 2014, 113.
4999 Der OGH argumentiert in LES 2014, 113 mit§ 519a Abs 4 ZPO idF ZPO-Nov 1999, der eine
Teilrechtskraft einzelner Punkte des Scheidungsurteils ausdrücklich vorgesehen hat. Diese
Bestimmung wurde mit Inkrafttreten des AussStrG 2010 aufgehoben, weil das Verfahren über
die einvernehmliche Scheidung und die Nebenfolgen der Scheidung in das Außerstreitver-
fahren verwiesen wurden. Der Gesetzgeber ist damals davon ausgegangen, dass die entspre-
chenden Regelungen(§§ 518 bis 519a ZPO) im AussStrG zu finden sind und deshalb aufge-
hoben werden können (BuA 2010/79, 87). Daraus ergebe sich - so der OGH - aber klar, dass
die Teilrechtskraft einzelner Teile des Scheidungsbeschlusses bei Teilanfechtung weiterbeste-
hen solle und nach den Bestimmungen des AussStrG zu beurteilen sei. Diese durchaus über-
zeugenden Ausführungen haben nun aber - was den Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der
Scheidung bzw den Zeitpunkt des Eintritts der Gestaltungs-/Rechtswirkung der Scheidung
anlangt - den Gesetzestext des § 527 Abs 2 ZPO gegen sich. Zur Teilrechtskraft iSd § 519 a
Abs 4 ZPO idF ZPO-Nov 1999 vgl ferner OGH 02 EG.2003.127 LES 2007, 297. Zur Teil-
rechtskraft des Scheidungsbeschlusses s auch zu Rz 29.45.
29.30 !Zm dem Grundsatz der sogenannten Einheitlichkeit des Eheverfahrens 5000 , wonach „zu-
gleich bzw gewissermaßen im Verbund mit dem Ausspruch der Scheidung auch über sämt-
liche Scheidungsfolgen abzusprechen ist" 5001 , wird die Bestimmung des § 527 Abs 2 ZPO
nur so verstanden werden können, dass die Scheidung erst mit dem rechtskräftigen (außer-
streitigen) Beschluss über die Nebenfolgen der Scheidung rechtswirksam wird und die Ge-
staltungswirkung des Teilurteils über den Scheidungsausspruch also bis zu diesem Zeit-
punkt „aufgeschoben" ist. 5002 Der Gesetzgeber will offensichtlich die Auflösung des Ehe-
bands von der (rechtskräftigen) Regelung der Scheidungsfolgen abhängig machen. 5003 Bei
der hier vertretenen Auslegung 5004 wird die Bestimmung des§ 531 Abs 4 ZPO, wonach im
Scheidungsurteil auszusprechen ist, dass mit Eintritt der Rechtskraft das Band der Ehe ge-
5000 Vgl BuA 1998/21, 27f; OGH 06 EG.2017.31 LES 2018, 197.
5001 OGH 05 C 68/95, 5 C 293/95 LES 1999, 125 (,,Durch die Konfrontation mit den Scheidungs-
folgen wird den Ehegatten bereits während des Scheidungsverfahrens vor Augen geführt, wel-
che tatsächlichen Auswirkungen ihre Scheidung bzw Trennung hat und kann dadurch allenfalls
auch übereilten Scheidungen vorgebeugt werden. Die Einheitlichkeit des Scheidungs- bzw
Trennungsverfahrens erfüllt damit gleichermaßen eine Schutz- und Warnfunktion und ermög-
licht aufeinander abgestimmte Regelungen der verschiedenen Scheidungsfolgen. Diese Einheit-
lichkeit ist zwingenden Rechts und unterliegt nicht der Disposition der Parteien.").
5002 Vgl idZ auch das Auseinanderfallen der formellen und materiellen Rechtskraft im Fall eines
Rechtsmittelverzichts nach Verkündung des Scheidungsbeschlusses iSd Art 95 Abs 4
AussStrG (= § 94 Abs 3 öAußStrG): Formell rechtskräftig und damit unanfechtbar wird der
Scheidungsbeschluss schon vor seiner Zustellung an die Parteien, wenn diese (wirksam) auf
Rechtsmittel verzichten. Das Eheband wird aber erst mit der Zustellung des Scheidungsbe-
schlusses an beide Ehegatten aufgelöst. Während die Zurücknahme des Scheidungsantrags
nur bis zur formellen Rechtskraft des Scheidungsbeschlusses möglich ist, bleibt das Eheband
selbst bis zum Zeitpunkt der Zustellung des Scheidungsbeschlusses - somit bis zu dem erst
durch diesen Zustellakt bewirkten Eintritt der materiellen Rechtskraft - aufrecht (öOGH 2 Ob
181/06s; 6 Ob 259/02k; RIS-Justiz RS0041706; Deix/er-Hübner in Rechberger, AußStrG 2 § 94
Rz 6f; Nademleinsky in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG § 95 Rz 15, 19).
5003 Vgl demgegenüber Lehre und Rsp zu den Regelungen der Nachbarländer Schweiz und Ö,
nach welchen die „Einheitlichkeit des Eheverfahrens" ihre Grenze im Grundsatz der Teil-
rechtskraft findet. Zur Durchbrechung des Grundsatzes der notwendigen Einheit des Schei-
dungsverfahrens durch die Teilrechtskraft der Scheidung nach schweizerischer Rechtslage:
Steck in BSK I6 Art 148 ZGB Rz 13 mit Beispielen zu den materiell-rechtlichen Wirkungen
der Teilrechtskraft [zur Rechtslage vor Inkrafttreten der chZPO); Steck in Schwenzer, Farn-
Komm Scheidung 12 Anh ZPO Art 283 Rz Sf; BGE 130 III 537 mwN; zur eheaullösenden
Rechtswirkung der Ehescheidung - mit Erlöschen der beiderseitigen Rechte und Pflichten
der Ehegatten - mit (Teil-) Rechtskraft des Scheidungsausspruchs nach öRechtslage: Staben-
theiner in Rummel, ABGB 3 § 46 EheG Rz 5; öOGH 7 Ob 549/92; 7 Ob 709/88; 5 Ob 542/80.
5004 Zur möglichen (statusrechtlichen) ,,Ungleichbehandlung" eines Scheidungsurteils gern § 527
Abs 2 ZPO iS dieser Auslegung und eines im Verwaltungsverfahren nach Art 97 AussStrG
anerkannten ausländischen Scheidungsurteils vgl OGH 06 EG.2017.31 LES 2018, 197: In die-
sem Verfahren wurde ein im Verwaltungsweg anerkanntes und im Zivilstandsregister einge-
tragenes ausländisches Scheidungsurteil „bildlich" dem inländischen Teilurteil über die Schei-
dung gleichgesetzt und ausgesprochen, dass unter analoger Anwendung des § 527 Abs 2 ZPO
das Verfahren nunmehr über die Scheidungsfolgen fortzusetzen sei. In diesem Fall war das
Scheidungsurteil statusrechtlich „besser gestellt" als ein Teilurteil nach§ 527 Abs 2 ZPO, wel-
ches erst nach der außerstreitigen Regelung der Scheidungsfolgen in Kraft tritt und erst dann
im Zivilstandsregister einzutragen ist.
löst ist, ausdehnend iZm der Bestimmung des§ 527 Abs 2 ZPO dahingehend zu interpre-
tieren sein, dass das Band der Ehe - im Fall eines Teilurteils gern § 527 Abs 2 ZPO - nicht
schon mit Rechtskraft dieses Teilurteils, sondern erst mit der Rechtskraft des dem Teilurteil
nachfolgenden Beschlusses über die Nebenfolgen der Scheidung gelöst ist. 5005
5005 So auch die neuere Praxis des LG. Rsp des OG oder des OG H zu dieser Rechtsfrage liegt - soweit
ersichtlich - nicht vor. In der E 06 EG.2012.73 GE 2014, 6 hat der OGH (zwar) ein erstinstanz-
liches Teilurteil über die Ehescheidung, welches den Ausspruch (nur) nach§ 531 Abs 4 ZPO
enthielt, wieder hergestellt, die Frage der eheauflösenden Wirkung der Ehescheidung laut die-
sem Teilurteil bzw der Ausspruch nach § 531 Abs 4 (iVm § 527 Abs 2) ZPO waren von den
Parteien aber nicht releviert worden und standen damit damals auch nicht zur Überprüfung.
5006 Zum außerstreitigen Verfahren über die Scheidungsfolgen und insb zur Bestimmung des
Art 95 Abs 3 AussStrG s unten zu Rz 29.35 ff.
5007 Während das chZGB (Art 104 ff) bei der Eheungültigkeit zwischen Nichtigkeit (neu: unbe-
fristete Ungültigkeit) und Anfechtbarkeit (neu: befristete Ungültigkeit) und das öEheG
(§§ 20ff, §§ 33ff) zwischen Nichtigerklärung und Aufhebung unterscheiden, wobei das Krite-
rium der Unterscheidung jeweils das öffentliche oder private Interesse an der Ungültigkeit
darstellt, hat das EheG die - auf Vorstellungen des kanonischen Rechts zurückgehende -
Differenzierung der Eheungültigkeit in nichtige und aufhebbare Ehen fallengelassen und
spricht von Ungültigkeit schlechthin. Diese bei den Ungültigkeitsgründen aufgegebene Unter-
scheidung zwischen Nichtigkeit und Anfechtbarkeit „kehrt aus Praktikabilitätsgründen durch
die Hintertüre bei der Regelung des Verfahrens zurück" (Sprenger, Ehetrennungs- und Ehes-
cheidungsrecht 67) bzw wird gleichsam um eine Stufe verschoben, von der Ebene der Un-
gültigkeitsgründe auf die Stufe des Verfahrens - einerseits von Amts wegen durchzuführende
Verfahren und andererseits Aktivlegitimation nur des verletzten Ehegatten (bzw gesetzlichen
Vertreters) (zum Ganzen: Sprenger, Ehetrennungs- und Ehescheidungsrecht 61, 66ff).
arglistige Täuschung und Art 37 EheG - begründete Furcht) kann die Klage nur von dem
in seinen Rechten verletzten Ehegatten und im Fall des Art 34 EheG (mangelnde Ein-
willigung des gesetzlichen Vertreters) vom gesetzlichen Vertreter erhoben werden. 5008
5008 Die Nennung des Art 38 EheG in § 533 Abs 2 ZPO - und korrespondierend in Art 40 Abs 2
EheG idF LGBl 1974/20 - war offensichtlich kein Versehen des Gesetzgebers (vgl Sprenger,
Ehetrennungs- und Ehescheidungsrecht 69 ff), ist aber durch die Abänderung des Art 40
Abs 2 EheG mit LGBl 1999/28 - ohne gleichzeitige Anpassung des § 533 Abs 2 ZPO - eines
geworden. Nach § 533 Abs 1 ZPO ist in den Fällen, in denen nach den Bestimmungen des
EheG das Verfahren auf Ungültigerklärung einer Ehe von Amts wegen durchzuführen ist, die
Staatsanwaltschaft zur Klagserhebung verpflichtet. Nach Art 40 EheG ist das Verfahren auf
Ungültigerklärung - mit Ausnahme der Fälle der Art 31, 34, 35, 36 und 37 EheG - von Amts
wegen durchzuführen, sohin auch in den Fällen des Art 38 und Art 38a EheG.
5009 § 530 ZPO gilt damit - trotz der Nennung in § 533 Abs 6 ZPO - bei den von der Staats-
anwaltschaft eingebrachten Klagen nicht.
5010 Vgl oben Rz 29.15.
Abänderung des Art 54 EheG mit der EheG-Nov 1999 durchaus auch noch nach Schaf-
fung des AussStrG 2010 als zutr zu beurteilen sind, wird man schon iSd Kollisionsregel
,,/ex posterior derogat legi priori" vom Vorrang der außerstreitigen Bestimmung auszu-
gehen haben. Zudem beendet die Zurücknahme des Antrags iSd Art 94 Abs 4 iVm Art 11
Abs 1 AussStrG das Verfahren ex lege, ein dahingehender Beschluss ist nur deklarativ.
Infolge dieser ex lege-Beendigung des Verfahrens ist kein Raum (mehr) für einen Auftrag
des Gerichts iSd Art 54 Abs 1 EheG.
29.42 Zu den Nebenfolgen der Scheidung, über die sich die Ehegatten nicht einig sind, stellt
jeder Anträge (Art 51 Abs 3 EheG). Im Rahmen dieser Anträge hat das Gericht die offe-
nen Punkte zu regeln. Liegen trotz Aufforderung des Gerichts keine solchen Anträge vor,
so hat das Gericht gern Art 95 Abs 3 AussStrG das gemeinsame Scheidungsbegehren
abzuweisen. Abgesehen davon, dass es in der Praxis kaum vorkommen wird, dass ein
Ehegatte - trotz entsprechenden gerichtlichen Auftrags oder entsprechender Anlei-
tung5015 durch das Gerichts - keine Anträge stellt, sind Notwendigkeit und Zweck dieser
Bestimmung nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Nach der Vorstellung der Regierung
haben die Ehegatten sich in einem solchen Fall im streitigen Verfahren auseinanderzu-
setzen.5016 Um ein paradoxes „lm-Kreis-Drehen" 5017 zu verhindern, wird man diese Be-
stimmung einschränkend iSd Gesetzesmaterialien 5018 zum Begriff „Anträge" in Art 51
Abs 3 EheG zu interpretieren haben. Die Bestimmung des Art 51 Abs 3 EheG ist dem-
nach nicht so zu verstehen, dass die Regelung der noch offenen Scheidungsfolgen nur
entsprechend den Anträgen der Parteien erfolgt. Die Regelung der noch offenen Punkte
hat iSd Art 51 Abs 1 EheG durch das Gericht „nach den im Gesetz vorgesehenen Grund-
sätzen von Gesetzes wegen" zu erfolgen. So verstanden meint Art 51 Abs 3 EheG nur,
dass die Parteien zu den einzelnen Folgen der Ehescheidung ihre Vorbringen einreichen
können. Die Regierung hielt eine Erwähnung dieses für jedes kontradiktorische Verfah-
ren geltenden Grundsatzes hier nur deshalb für angebracht, weil das zugrundeliegende
Verfahren der Scheidung auf gemeinsames Begehren prinzipiell nicht kontradiktorischer
Natur ist.
29.43 Im Beschluss auf Scheidung auf gemeinsames Begehren muss die Scheidung sowie die
Genehmigung der Scheidungsvereinbarung samt den Folgen für Eltern und Kinder aus-
gesprochen werden (Art 96 Abs 1 und 2 AussStrG) 5019 - wenn sich aus der Anhörung
ergibt, dass beide Ehegatten den Entschluss zur Scheidung aus freiem Willen und nach
reiflicher Überlegung gefasst haben und die vorgelegte Vereinbarung nicht offensichtlich
5015 Vgl Art 50 Abs 3 EheG und Art 95 Abs 2 AussStrG, die ausdrücklich eine Anleitungspflicht
des Gerichts vorsehen.
5016 BuA 2010/79, 83.
5017 Das von einem der Ehegatten - nach Abweisung des gemeinsamen Scheidungsbegehrens -
eingeleitete streitige Verfahren ist - nachdem die Ehegatten sich über die Scheidung einig sind
- iSd § 525 Abs 3 ZPO aber wieder zu unterbrechen und hat das weitere Verfahren iSd Art 59
EheG nach den außerstreitigen Vorschriften des Art 93 ff AussStrG zu erfolgen. Das Eheschei-
dungsverfahren befindet sich also wiederum im Stadium des Art 95 AussStrG mit der dro-
henden Folge des Abs 3 leg cit.
5018 BuA 1998/21, 64.
5019 In Art 96 Abs I und 2 AussStrG wurde die Bestimmung des bisherigen § 519 Abs I und 2
erster Satz ZPO eins-zu-eins (nur "Beschluss" statt „Urteil") übernommen.
unangemessen ist. Die - nach Art 50 EheG idR je einmal getrennt und zusammen vor-
zunehmende - Anhörung der Ehegatten verfolgt den Zweck, die Freiwilligkeit und Ernst-
haftigkeit des Scheidungsbegehrens zu ermitteln und dient dem Gericht weiters zur Be-
urteilung, ob die Vereinbarung über die Scheidungsfolgen genehmigt werden kann. Die
Vereinbarung ist genehmigungsfähig, wenn sie klar, vollständig und nicht offensicht-
lich unangemessen ist. Die Genehmigungspflicht durch das Gericht dient in erster Linie
dem Schutz der wirtschaftlich und sozial schwächeren Partei. Hält das Gericht eine ihm
vorgelegte Scheidungsfolgenvereinbarung in einem bestimmten Punkt für nicht geneh-
migungsfähig, hat es deren Unangemessenheit aufzuzeigen und auf eine einvernehmliche
Regelung zu dringen. 5020
Der Beschluss auf Scheidung ist zu begründen und bewirkt mit seiner Rechtskraft die 29.44
Auflösung der Ehe (Art 96 Abs 3 und 4 AussStrG). Ein Ausspruch darüber, wer im Au-
ßenverhältnis gegenüber den Gläubigern als Schuldner aufzutreten hat (Art 86 EheG), ist
nach Möglichkeit auch in den Scheidungsbeschluss aufzunehmen. Art 96 Abs 6 AussStrG
gibt neu die Möglichkeit, zusätzlich zum eigentlichen Beschluss auch explizit einen Schei-
dungsbeschluss ohne Begründung und ohne Hinweis auf die Schuldner iSv Art 86 EheG
(,,gekürzte" Beschlussausfertigung) zu erhalten. Hier geht es va um Ausfertigungen für
ausländische Behörden oder allenfalls für andere Dritte, die keine Details über Schulden
und Ähnliches erfahren müssen. 5021
Im Verfahren über die Scheidung auf gemeinsames Begehren können einzelne Teile des 29.45
Scheidungsbeschlusses in Teilrechtskraft erwachsen. Eine Teilrechtskraft kann allerdings
nur dann eintreten, wenn der nicht angefochtene Teil inhaltlich selbstständig beurteilt
werden kann. Steht der nicht angefochtene Teil in untrennbarem Zusammenhang mit
der noch überprüfbaren Entscheidung, so tritt auch hins des nicht angefochtenen Teils
keine formelle Rechtskraft ein. 5022
Die Ausnahmebestimmung des Art 62 Abs 2 Fall 3 AussStrG bezüglich Konformatsent-
scheidungen gilt auch für Entscheidungen über die Regelungen von Nebenfolgen bei
einer Scheidung auf gemeinsames Begehren, zumal Art I Abs 2 lit d AussStrG ausdrück-
lich nicht nur von der Ehescheidung auf gemeinsames Begehren, sondern auch von „allen
damit einhergehenden Belangen" spricht. 5023
II. Bagatellverfahren
A. Allgemeines
Die Vorschriften über das Bagatellverfahren wurden im Rahmen der Rezeption der 29.46
öZPO im Jahr 1912 übernommen. In Österreich war das bereits 1873 geschaffene Ba-
gatellverfahren5024 mit einzelnen Sondervorschriften in das reguläre bezirksgerichtliche
Verfahren der ZPO (§§ 448 bis 453 öZPO) übernommen worden. Der liechtensteini-
sche Gesetzgeber hat das Bagatellverfahren als eine besondere Verfahrensart eingeführt
und die österr Bestimmungen mit geringfügigen textlichen oder auf die unterschied-
liche Gerichtsorganisation zurückzuführenden Änderungen in den §§ 535 bis 540 ZPO
übernommen. Mit Ausnahme der Aufhebung der Bestimmung über die (erleichterte)
Vollmachtserteilung an die Ehegattin (§ 536 ZPO) und der Anhebung der „Bagatell-
grenze"5025 ist das Bagatellverfahren bis zur ZPO-Nov 2018 5026 unverändert geblieben.
Mit dieser Nov wurden die „Bagatellgrenze" des § 535 ZPO auf CHF 5.000,- angeho-
ben, in Abs 2 leg cit bestimmte Rechtsstreitigkeiten explizit als Bagatellsachen ausge-
nommen5027 und in § 539 Abs 2 ZPO die Anfechtungsmöglichkeit erstinstanzlicher Ba-
5028
gatellurteile neu geregelt.
5025 Zuletzt mit der ZPO-Nov 1987, LGBl 1987/27/l. aufCHF 1.000,-.
5026 G v 6. 9. 2018 über die Abänderung der ZPO, LGBI 2018/207.
5027 Die wesentlichen Gründe für die Schaffung solcher Ausnahmetatbestände waren zum einen,
für familien-, bestand- und arbeitsrechtliche Streitigkeiten den Zugang zum OGH zu ermög-
lichen, und zum anderen die Vermeidung der Schwächung der Arbeitnehmerrechte durch die
Unmöglichkeit der Anfechtung der erstinstanzlichen Beweiswürdigung - s BuA betreffend die
(Teil)Reform der ZPO und die Abänderung weiterer Gesetze (Vereinfachung und Beschleu-
nigung des Verfahrens), BuA 2018/19, 151.
5028 Dabei wurde ein von der Rsp (StGH 2011/127 LES 2012, 125) als offensichtliches Versehen
des Gesetzgebers beurteilter Widerspruch betreffend die Anfechtungsmöglichkeit erstinstanz-
licher Bagatellurteile - nur wegen bestimmter Nichtigkeiten oder auch wegen Verfahrens-
mängeln, Aktenwidrigkeit und unrichtiger rechtlicher Beurteilung - iS einer Angleichung
des § 539 Abs 2 ZPO an § 470 Abs I ZPO mittels Verweises auf§ 472 ZPO aufgelöst (BuA
2018/19, 152).
5029 Fasching IIl 1 § 453 ZPO Anm 2.
5030 G v 4.5.2017 über die Gebühren der Gerichte und Beschwerdekommissionen, LGBI 2017/
169.
5031 G v 16. 12. 1987 über den Tarif für Rechtsanwälte und Rechtsagenten, idF LGBI 2013/6.
neten (mit unter CHF 5.000,- bewerteten) familien-, bestand- und arbeitsrechtlichen
Streitigkeiten (§ 535 Abs 2 ZPO). 5032
Der Beschleunigung des Verfahrens dienen die Einstufung der Bagatellsachen als Fer- 29.48
ialsachen (§ 224 Abs 2 Z 7 ZPO), die Verpflichtung des Gerichts zur sofortigen Aufnah-
me der Verhandlung in der Hauptsache nach Durchführung einer abgesonderten Ver-
handlung über die Prozesseinreden und zur Aufnahme der Entscheidung über die Pro-
zesseinreden in das Urteil (§ 537 ZPO), die mündliche Verkündung des Urteils (so-
gleich nach Schluss der Verhandlung) 5033 (§ 539 Abs I Satz I ZPO), die
5035
Wirksamkeit 5034 des in Anwesenheit beider Parteien mündlich verkündeten Urteils
mit dem Zeitpunkt der Verkündung(§ 539 Abs I ZPO) sowie die Rechtsmittelbeschrän-
kungen und die Unzulässigkeit der Anrufung des OGH (§ 470 Abs 3, § 471 Abs I und
5036
§ 485 Abs 2 ZPO). Die Berufung kann nur wegen der in § 472 ZPO aufgezählten
Gründe ergriffen werden, dh wegen Nichtigkeit des Urteils, wegen Verfahrensmängeln
oder Aktenwidrigkeit und wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung, nicht aber wegen
5032 Die Formulierung in § 535 Abs 2 ZPO ist - wenn man sich die Absicht der Regierung für
diese neue Gesetzesbestimmung vor Augen hält (vgl BuA 2018/19, 151) - möglicherweise
etwas missglückt bzw ist der Hinweis auf Art 20 GGG bzw Art 11 RA TG missverständlich.
Art 20 GGG betrifft bspw nur solche arbeits- oder bestandrechtlichen Streitigkeiten, bei de-
nen „nicht ein Geldbetrag Gegenstand der Klage ist". Eine Streitigkeit über einen Lohn oder
einen Mietzins von bspw CHF 3.000,- oder CHF 5.000,- wäre also eine Bagatellsache, weil
diesfalls in der Klage ein konkreter (CHF 5.000,- nicht übersteigender) Geldbetrag gefordert
wird, damit (die Bewertung des) Art 20 GGG gar nicht zur Anwendung gelangt und es sich
sohin nicht „um eine in Art 20 GGG bezeichnete Streitigkeit" handelt. Andererseits würden
bspw für eine - nach Art 20 lit a GGG mit CHF 3.000,- zu bewertende - Streitigkeit über ein
Arbeitszeugnis die Sondervorschriften des Bagatellverfahrens nicht gelten. IZm den Ausfüh-
rungen im BuA 2018/19, 151 wird man § 535 Abs 2 ZPO aber wohl nur so interpretieren
können, dass sämtliche arbeits- und bestandrechtlichen Streitigkeiten keine Bagatellsachen
sind.
5033 Die mündliche Verkündung des Urteils in Bagatellsachen entspricht im Grunde dem, was in
§ 413 ZPO vorgeschrieben ist. Demnach ist das Urteil, wenn möglich, sogleich nach Schluss
der mündlichen Verhandlung zu fällen und zu verkündigen. Auch wenn§ 539 ZPO die Ein-
schränkung „wenn möglich, sogleich" nicht enthält, ergibt sich die Zulässigkeit der Unter-
lassung der Urteilsverkündung dennoch aus der Natur der Sache, denn die Höhe des Streit-
werts kann kein Maßstab dafür sein, ob die dem Rechtsstreit zugrunde liegende Rechtsfrage
schwierig zu lösen ist oder nicht; wenn die sofortige Verkündung des Urteils Schwierigkeiten
begegnet - etwa wenn ein weitergehendes Gesetzesstudium notwendig ist - entfällt diese Ver-
pflichtung zur Urteilsverkündung (Neumann, Kommentar 11 3 1357). Diesfalls kommt § 415
ZPO zur Anwendung. Das Urteil ist schriftlich auszufertigen und zuzustellen. Eine besondere
Verkündung des Urteils findet dann nicht statt.
5034 Für die Wirksamkeit des verkündeten Urteils ist es erforderlich, dass zumindest der Ur-
teilsspruch vollständig - einschließlich des Kostenzuspruchs auch der Höhe nach - ver-
kündet wird (Neumann, Kommentar Il 3 1357f; Fasching 111 1 § 452 ZPO Anm 3; GlUNF
5021).
5035 Wenn nur eine Partei bei der Urteilsverkündung anwesend war, ist eine Urteilsausfertigung
beiden Parteien (auch der anwesenden) von Amts wegen zuzustellen und wird das Urteil erst
mit dieser Zustellung wirksam - auch gegenüber der erschienenen Partei (Fasching lll 1 § 452
ZPO Anm 5; Elkuch/Gassner/Gassner/Heiterer/ Mähr, ZPO § 539 Anm 3).
5036 OGH 01 CG.2017.526 LES 2018, 214.
unrichtiger Beweiswürdigung (§ 539 Abs 2 ZPO). Der Rekurs ist nur gegen die in § 485
Abs I ZPO taxativ aufgezählten Beschlüsse zulässig.
29.49 Zu den Vorschriften der Vereinfachung und kostenbegünstigenden Gestaltung des Ver-
fahrens gehört jene des § 539 ZPO, wonach Ausfertigungen des in Anwesenheit beider
Parteien verkündeten Urteils nur auf Verlangen zugestellt werden. Wenn die Parteien
keine Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung verlangen, muss das Gericht keine den
5037
§§ 417,418 ZPO entsprechende Ausfertigung verfassen. Das Gericht wird aber nach
der Rechtsmittelbelehrung iSd § 539 Abs 2 ZPO die Parteien ausdrücklich zu befragen
(und das Ergebnis dieser Befragung zu protokollieren) haben, ob sie auf die Berufung
gegen das Urteil verzichten oder ob sie eine solche beabsichtigen und (daher) die Zu-
stellung einer schriftlichen Urteilsausfertigung verlangen. 5038 Es darf nämlich nicht über-
sehen werden, dass die Vereinfachungen des Bagatellverfahrens ihren Kern in dem prak-
tischen Rechtsmittelausschluss des § 539 Abs 2 ZPO idF vor der ZPO-Nov 2018 - Beru-
fung nur wegen der im § 446 Z I bis 7 ZPO aufgezählten Nichtigkeiten 5039 - hatten und
nur dadurch gerechtfertigt waren. Dies gilt insb für die Regelung, dass die Rechtsmittel-
frist schon mit der Verkündung des Urteils beginnt und nicht erst mit der Zustellung
seiner schriftlichen Ausfertigung (§ 539 Abs l, § 434 Abs 2 ZPO), weil wegen der An-
fechtbarkeit nur aus einigen bestimmten Nichtigkeitsgründen eine genaue Kenntnis
(des Verhandlungsablaufs 5040 und) der Entscheidungsgründe nicht erforderlich war.
Nachdem nun die Anfechtungsmöglichkeiten des Urteils in Bagatellsachen wesentlich
ausgeweitet worden sind und zur (derart erweiterten) Überprüfung des erstinstanzlichen
Urteils durch das Berufungsgericht zweifellos ein vollständig ausgefertigtes und nicht nur
das im Verhandlungsprotokoll festgehaltene, mündlich verkündete Urteil - bestehend
aus dem Urteilsspruch (§ 538 Abs l Z 3 ZPO) und den allenfalls festgehaltenen wesent-
lichen Entscheidungsgründen (§ 414 Abs I ZPO) - erforderlich ist 5041 , ist die Notwen-
digkeit der Ausfertigung des Urteils sogleich nach der Urteilsverkündung festzustellen
und wird bei einem Verlangen auf Zustellung das Urteil umgehend auszufertigen sein,
um den Parteien die mit der Verkündung des Urteils zu laufen begonnene Frist zur Er-
hebung und Abfassung der Berufung nicht unangemessen zu verkürzen. Aufgrund dieser
5037 Fasching 111 1 § 452 ZPO Anm 3. Die Novellierung des § 452 Abs 2 öZPO mit der (dritten)
GEN 1921. BGB! 1921/743, womit die "Urteilsausfertigung" für den Gerichtsakt durch einen
Urteilsvermerk ersetzt worden ist, wurde in Liechtenstein nicht nachvollzogen. Vgl auch § 1
Abs 3 der KaisV v 14. 12. 1915, RGBI 1915/372, wonach in Bagatellsachen im Fall der Ver-
kündung des Urteils in Anwesenheit beider Parteien die Abfassung des Urteils „auf die Fest-
stellung des Urteilsspruches zu beschränken" war.
5038 Vgl Neumann, Kommentar 11 1 1358.
5039 So auch §§ 452, 501 öZPO aF.
5040 Siehe Rz 29.50.
5041 Es versteht sich von selbst, dass die Prüfung etwa geltend gemachter rechtlicher Begründungs-
mängel (einschließlich sekundärer Feststellungsmängel) nur auf der Grundlage eines Urteils
mit „vollständigen"(§ 417 Abs 1 Z 5 ZPO) - und nicht nur "wesentlichen"(§ 414 Abs 1 ZPO)
- Entscheidungsgründen erfolgen kann.
Überlegungen kann es - trotz der Vorschrift des § 539 Abs l Satz l ZPO 5042 - zweck-
mäßig und der Sache dienlich(er) sein, das Urteil nur in „klaren" Fällen und wenn eine
Anfechtung nicht zu erwarten ist, mündlich zu verkünden. 5043
§ 538 ZPO sieht verschiedene Protokollerleichterungen in Bagatellverfahren vor, wel- 29.50
chen in der Praxis aber keine wesentliche Bedeutung zukommt. 5044
Wird ein Rechtsstreit im Laufe des Verfahrens auf die Kosten eingeschränkt, so handelt 29.51
es sich von diesem Zeitpunkt an um eine Bagatellsache. 5045 Der Streitwert beträgt dies-
falls gern Art 13 Abs 4 RATG nämlich CHF l.000,-. Nach der Rsp des OG ist nach einer
solchen Klagseinschränkung auf Kostenersatz nicht mit (Kosten-)Urteil, sondern mit Be-
schluss zu entscheiden. 5046 Das OG stützt sich dabei auf Fasching5° 47 , der uHa die Be-
stimmung des§ 55 öZPO (= § 55 ZPO) im Fall der Einschränkung auf Kosten die Ent-
scheidung in Beschlussform befürwortet. Nach § 55 ZPO kann die in einem Urteil ent-
5042 Angesichts der Ausweitung der Anfechtungsmöglichkeit des Urteils in Bagatellsachen und der
Anhebung der Bagatellgrenze wäre - so wie in der öRezeptionsvorlage (s nächste FN) - eine
Aufhebung der Verpflichtung des Gerichts zur sofortigen Verkündung des Urteils im Baga-
tellverfahren und/oder eine Anpassung des § 539 ZPO dahingehend, dass die Berufungsfrist
auch in Fällen der verlangten Zustellung einer Urteilsausfertigung erst mit dieser Zustellung
zu laufen beginnt, zumindest überlegenswert (gewesen). Aus dem BuA 2018/19 ist diesbezüg-
lich nichts zu entnehmen.
5043 Solche Überlegungen waren auch Grund dafür, dass in ö die Bestimmungen über das Baga-
tellverfahren durch die ZVN 1983 überhaupt aufgehoben worden sind (s AB 1337 BlgNR
15. GP 16). Vgl auch die Gesetzesmaterialien zur öZPO-Nov 1955, BGBI 1955/282 womit
die Verpflichtung des Gerichts zur sofortigen Verkündung des Urteils im Bagatellverfahren
beseitigt und § 452 Abs 1 öZPO entsprechend abgeändert worden ist, weil „die dringende
Erledigung idR nicht von ausschlaggebender Bedeutung ist, das Urteil im Bagatellverfahren
oft von der Beurteilung schwieriger Rechtsfragen abhängt und Bagatellurteile trotz ihres im
einzelnen geringen Streitwertes in vielen Fällen für gleichgelagerte Rechtsverhältnisse von
grundsätzlicher Bedeutung sind" (ErläutRV 565 BlgNR 7. GP 10). Zur Zulässigkeit der Unter-
lassung der mündlichen Verkündung s auch Rz 29.48.
5044 Trotz der nunmehr erweiterten Möglichkeiten der Anfechtung eines Urteils in Bagatellsachen
mittels Berufung(§ 539 Abs 2 ZPO idF ZPO-Nov 2018) ist die Bestimmung des§ 538 ZPO
über den Inhalt des Verhandlungsprotokolls unverändert geblieben. Der auf das Notwendigs-
te beschränkte Inhalt des Verhandlungsprotokolls gern § 538 ZPO war und ist jedoch abge-
stimmt auf die ursprüngliche Anfechtungsmöglichkeit (des§ 539 Abs 2 idF vor der ZPO-Nov
2018) nur wegen der in§ 446 Z I bis 7 ZPO aufgezählten Nichtigkeiten. Zur Feststellung des
Vorliegens der nunmehr erweiterten zulässigen Berufungsgründe, insb Verfahrensmängel
oder Aktenwidrigkeit, wird jedoch eine umfassendere Protokollierung der Beweisaufnahme
und des Ablaufs der Verhandlung notwendig sein. In der Praxis erfolgt schon derzeit auch in
Bagatellverfahren die Protokollführung ohne die Erleichterungen des § 538 ZPO. In Ö ist die
korrespondierende Gesetzesbestimmung(§ 451 öZPO) bereits mit der öZPO-Nov 1955, BGBI
1955/282, aufgehoben worden, ua mit der Begründung, dass die Unterlassung der Protokol-
lierung des Parteivorbringens oder der Ergebnisse des Beweisverfahrens bei einer Vertagung
oder Wiederaufnahme des Verfahrens oder für die Urteilsbegründung als Mangel empfunden
werde (ErläutRV 565 BlgNR 7. GP 10).
5045 OGH 01 CG.2017.526 LES 2018, 214; 07 CG.2015.329 GE 2017, 234; 10 CG.2011.63 GE 2013/
100; OG 05 C 202/77 LES 1982, 151; öOGH EvBI 1955/123; Fasching III'§ 448 ZPO Anm 8.
5046 OG 05 C 202/77 LES 1982, 151.
5047 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 470.
haltene Entscheidung über den Kostenpunkt ohne gleichzeitige Anfechtung der in der
Hauptsache ergangenen Entscheidung nur mit Rekurs angefochten werden. Damit ist -
so das OG - klargestellt, dass die in das Urteil der Hauptsache aufgenommene Kosten-
entscheidung in Wahrheit ein Beschluss ist. Als weiteres Argument für diese Ansicht
führt das OG die Bestimmung des § 485 ZPO an, nach dessen Z 5 der Rekurs in Bagatell-
sachen zulässig ist, wenn über die zu ersetzenden Kosten durch Beschluss entschieden
wurde.so4s
III. Besitzesschutzverfahren
A. Allgemeines
29.52 Im Rahmen der Rezeption der öZPO wurde auch das österr Verfahren in Besitzstö-
rungsstreitigkeiten übernommen. Die §§ 454 bis 460 der öZPO wurden mit geringfügi-
gen textlichen Änderungen im 3. Abschnitt des 5. Teils der ZPO (§§ 541 bis 547 ZPO)
übernommen.
5049
29.53 Aus Anlass der Übernahme des schweizerischen Sachenrechts 1923 wurde mit dem
5050
Nachtrags-Gesetz 1924 das Besitzstörungsverfahren als nunmehriges „Besitzer-
schutzverfahren"5051 grundlegend umgestaltet. Dieses Verfahren ist nicht nur auf die
Feststellung des letzten ruhigen Besitzstands und der erfolgten Störung beschränkt,
sondern kann das Klagebegehren einer Besitzesschutzklage im Fall einer Entziehung
der Sache auch auf Rückgabe dieser Sache und Schadenersatz lauten (Art 506
5052
SR). Ebenso kann mit einer Klage aus Besitzesstörung neben der Beseitigung der
Störung und der Unterlassung fernerer Störung auch Schadenersatz begehrt werden
(Art 507 SR).
5048 In Ö ist die Frage der Kostenentscheidung in Beschluss- oder Urteilsform nach wie vor str:
Für Entscheidung mit Beschluss die hL (vgl etwa Fasching, Lehrbuch 2 Rz 470; Fasching Il 1
378f; M. Bydlinski in Fasching/Konecny II/1 3 § 55 ZPO Rz 5; M. Bydlinski, RZ 1989, 159;
Fucik in Rechberger!Klicka, ZPO' § 41 Rz 3 mwN), für Entscheidung mit Urteil die über-
wiegende Rsp (vgl insb Rsp-Nachweise bei Klauser/Kodek, JN/ZPO 18 § 55 ZPO E 2; RIS-
Justiz RS0036080). Zur Frage Ergänzungsurteil oder Ergänzungsbeschluss im Fall des
§ 423 ZPO: Elkuch/Gassner/Gassner/Heiterer/Mähr, ZPO § 423 Anm I; M. Bydlinski in Fa-
sching/Konecny II/1 3 § 52 ZPO Rz 2 mwN; Rechberger/K/icka in Rechberger/Klicka, ZPO'
§ 423 Rz 2 mwN.
5049 Sachenrecht v 31. 12. 1922 (SR), LGBl 1923/4.
5050 NachtragsG v 26. 5. 1924 zur JN, ZPO und zu deren Einführungsgesetz, LGBl 1924/9.
5051 So die Überschrift vor den§§ 451 ff ZPO (und Art 20 GGG). Ansonsten wird in der ZPO und
im SR durchgehend der Begriff „Besitzesschutz(verfahren)" verwendet (§§ 541 Abs 2, 543
Abs I und 593 a Abs 2 ZPO sowie Überschrift vor Art 505 ff SR).
5052 OGH 03 CG.2007.275 LES 2009, 229 mwN (ausf insb zum Gegenstand des Besitzesschutzver-
fahrens und zur Einrede des besseren Rechts iSd Art 506 Abs 2 SR); 04 CG.2016.249 LES
2017, 31; 02 C 71/76 LES 1980, 36; J 454/256 ELG 1947, 99.
Schutz und die Wiederherstellung des letzten Besitzstands gerichtet ist (§ 224 Abs l Z 3
ZPO). Nach dem allgemeinen Gebot des § 542 Abs l ZPO ist bei Besitzstreitigkeiten
schon grundsätzlich auf die Dringlichkeit des Verfahrens besondere Rücksicht zu neh-
men. Mit Ausnahme der eidlichen Parteienvernehmung, die erst im Berufungsverfahren
zulässig ist (§ 543 Abs 2 ZPO), sind im Besitzesschutzverfahren alle Beweismittel und
„alle Erörterungen gemäß den Artikeln über den Besitzesschutz des Sachenrechts" 5053
zulässig (§ 543 Abs l ZPO). Vor Einreichung einer - als Besitzesschutzklage zu über-
schreibenden (§ 541 Abs 2 ZPO) - Klage kann der Kläger ein Rechtsbot beantragen
(§ 542 Abs 2, § 593 a Abs 2 ZPO). Die Erlassung eines Amtsbefehls 5054 vor oder während
eines Besitzesschutzverfahrens wird vom Gesetz ausdrücklich für zulässig erklärt (§ 542
Abs 2 ZPO). Der ausländische Kläger muss im gesamten Verfahren keine Prozesskos-
tensicherheit leisten(§ 57 Abs 2 Z 4 ZPO). Die Entscheidung im Besitzesschutzverfahren
erfolgt mittels Urteil. Dagegen sowie gegen die im Verfahren ergehenden Beschlüsse sind
die gleichen Rechtsmittel wie im ordentlichen Zivilprozess zulässig (§§ 544, 545
ZPO)_soss
Nach § 39 JN ist das LG für Besitzstörungsstreitigkeiten (nur) zuständig, wenn die Stö- 29.55
rung im Inland erfolgte. § 39 JN begründet nach der Rsp 5056 einen ausschließlichen Ge-
richtsstand. Die liechtensteinischen Gerichte sind daher für Besitzesschutzklagen gegen
Personen mit Wohnsitz und (damit) allgemeinem Gerichtsstand im Inland international
nicht zuständig, wenn die Besitzesentziehung bzw Besitzesstörung im Ausland erfolgte.
Dies gilt auch für eine mit einer Besitzesschutzklage verbundene, aus der Besitzesstörung
bzw Besitzesentziehung abgeleitete Schadenersatzklage.
Die klagsweise Geltendmachung von Besitzesschutzansprüchen „verjährt" in einem Jahr 29.56
ab Besitzesentziehung bzw ab Beginn der Besitzesstörung (Art 508 Abs 2 SR). Das Gesetz
spricht zwar von Verjährung, nach der hL 5057 handelt es sich dabei jedoch um eine Ver-
wirkungsfrist, die nur durch Klageerhebung gewahrt werden kann. Voraussetzung der
Besitzesschutzklage ist der „sofortige" 5058 Protest des Besitzers nach Kenntnis von Ein-
griff und Täter (Art 508 Abs I SR).
5053 Der materiell-rechtliche Besitzesschutz ist in den Art 505 ff SR geregelt. Es handelt sich dabei
um eine Rezeption der Art 926ff chZGB. Im Rahmen des Besitzesschutzes kann die Klage aus
Besitzesentziehung (Art 506 SR= Art 927 chZGB) und die Klage aus Besitzesstörung (Art 507
SR= Art 928 chZGB) erhoben werden.
5054 Der Hinweis auf die RSO ist überholt, da die (einstweilige) Rechtssicherung und der Amts-
befehl nunmehr in der EO (Art 270ff bzw Art 2760 geregelt sind und die entsprechenden
Bestimmungen der RSO idF LGBI 1923/8 (Art 15 bis 36) mit dem EGEO, LGBI 1972/32/1,
aufgehoben worden sind.
5055 OGH 03 CG.2007.275 LES 2009, 229.
5056 OGH 04 CG.2016.249 LES 2017, 31.
5057 Ernst in BSK ZGB II' Art 929 Rz 4f mwN.
5058 Nachdem das G nicht sagt, wieviel Zeit dem Besitzer für seinen Protest zur Verfügung steht,
hat das Gericht im Einzelfall unter Würdigung der Umstände zu entscheiden, ob der Protest
"sofort" und rechtzeitig erfolgt ist bzw ob ein "unmittelbarer" Protest möglich und zumutbar
war (Ernst in BSK ZGB If Art 929 Rz 3 mwN zur Rsp).
5059 In Ö hatten für das Mandatsverfahren und das Wechselverfahren bereits vor der Zivilprozess-
reform des Jahres 1895 Vorschriften bestanden, die sich bewährt hatten und welche daher als
besondere Verfahrensarten in die öZPO (§§ 548 bis 554 und §§ 555 bis 559) übernommen
worden waren (Mandatsverfahren zuletzt geregelt in der KaisV v 21. 5. 1855, RGBI 1855/95
und der JMV v 18. 7. 1859, RGBI 1859/130; Wechselverfahren zuletzt geregelt in der )MV v
25. 1. 1850, RGBl 1850/52).
5060 G v 20. 5. 1987 über die Abänderung der ZPO, LGBl 1987/27.
5061 In der Stammfassung LGBI 1912/9/1 waren eine Leistungs- bzw Einwendungsfrist von 3 Ta-
gen vorgesehen, die Frist zur Stellung eines Wiedereinsetzungsantrags und zur Erhebung ei-
nes Rechtsmittels (Berufung, Revision und Rekurs) betrug 8 Tage. Aus den Gesetzesmateria-
lien zur ZPO-Nov 1987, BuA 1987/4, ist keine Begründung für die - im Verhältnis zu der mit
gleichem Gesetz eingeführten allgemeinen vierwöchigen Berufungs- und Revisionsfrist - ver-
kürzte Rechtsmittelfrist zu entnehmen.
5062 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 2105. Neben dem Mandats- und Wechselmandatsverfahren wird auch
das Bestandverfahren zu den Auftragsverfahren gezählt.
5063 Art 1 fit b EO nennt - anders als die österr Rezeptionsvorlage - nur die „Zahlungsaufträge im
Wechsel- und Scheckverfahren", nicht aber auch jene im Mandatsverfahren. Dabei handelt es
sich aber offensichtlich um ein Versehen des Gesetzgebers. Auch in der mit Einführung der
EO (EGEO, LGBl 1972/32/1) teilweise aufgehobenen RSO waren „Zahlungsaufträge im Man-
dats- und Wechselverfahren" als Vollstreckungstitel definiert (vgl Art 43 oder Art 111 RSO
idF LGBI 1923/8).
werden diese Verfahren auch als besondere Formen des Urkundenprozesses 5064 bezeich-
net.
Im Mandats- und Wechselverfahren entfällt eine Prozesskostensicherheitsleistung für 29.60
ausländische Kläger, und zwar für das gesamte Verfahren (§ 57 Abs 2 Z 4 ZPO). Das
Mandatsverfahren ist nicht mit der Erhebung von Einwendungen als beendet anzusehen,
sondern endet erst mit der Rechtskraft des Urteils, mit dem über die Aufrechterhaltung
oder Aufhebung des Zahlungsauftrags entschieden wird, sodass auch im Rechtsmittelver-
fahren grundsätzlich keine Kautionspflicht besteht. 5065
Das (allgemeine) Mandatsverfahren nach den §§ 548 ff ZPO hat in der Praxis keine Rele- 29.61
vanz. 5066 Eine etwas größere, wenngleich insgesamt auch nur recht geringe Bedeutung
kommt ihm in der Sonderform des Wechselmandatsverfahren zu. 5067
B. Mandatsverfahren
Die Voraussetzungen für das Mandatsverfahren sind neben den allgemeinen Prozessvo- 29.62
raussetzungen
1. ein auf Leistung von Geld oder vertretbaren Sachen gerichtetes Klagebegehren,
2. ein ausdrücklicher Antrag auf Erlassung eines Zahlungsauftrags in der Klage,
3. der urkundliche Nachweis aller forderungsbegründenden Tatsachen und
4. die Vorlage dieser „mandatsfähigen" 5068 Urkunden in Urschrift bereits in der Klage
(§ 548 ZPO).
Der Nachweis der forderungsbegründenden Tatsachen und der gern§ 549 ZPO zu bewei- 29.63
senden Umstände (Rechtsnachfolge sowie Unterbrechung oder Hemmung der Verjäh-
rung) kann erbracht werden durch inländische öffentliche Urkunden (,.im Geltungsge-
biet dieses Gesetzes errichtet") 5069 , durch Privaturkunden, auf welchen die Unterschriften
5070
der Aussteller von einem inländischen Gericht oder Notar beglaubigt sind, sowie
5064 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 2105; Fasching IV' Vor §§ 548 ff ZPO 568.
5065 OG 07 CG.2016.77 LES 2017, 37 (Änderung der Rsp).
5066 Der Motivenberichl 1974 zur Neubearbeitung und Vereinfachung der ZPO, JN und des VAG
(DS 94/1974-8-1 A, Einleitung und 64) hielt das Mandatsverfahren schon damals für entbehr-
lich, weil es in Ö kaum und in Liechtenstein noch viel weniger angewendet werde. Vgl auch
Oberhammer in FS Sprung 307, der das (,,praktisch offenbar weitgehend außer Übung ge-
kommene") Urkundenmandatsverfahren als "erfolglose Schwester" des Mahnverfahrens be-
zeichnet. In Ö wurde das Mandatsverfahren mit der öZVN 2009, BGBI I 2009/30, abgeschafft
und die§§ 549-554 öZPO aufgehoben; in§ 548 öZPO wurde neu das EU-Bagatellverfahren
geregelt.
5067 Während im Durchschnitt der letzten 15 Jahre alle ein bis zwei Jahre ein Wechselzahlungs-
auftrag beim LG eingebracht worden ist, wurde in diesem Zeitraum - soweit ersichtlich - kein
einziger Antrag auf Erlass eines allgemeinen Zahlungsauftrags gestellt.
5068 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 2111.
5069 §§ 292 f ZPO.
5070 Bei Rezeption dieser öZPO-Bestimmung wurde die Möglichkeit der Beglaubigung durch einen
Notar mit dem Hinweis ins Gesetz aufgenommen, dass Liechtenstein zwar über keinen Notar
verfügen würde, jedoch nicht ausgeschlossen sei, dass irgendwann einmal dieses Rechtsinstitut
geschaffen werde (vgl Gutachten Hämmerle v 24. 5. 1912, 15). Diese Erwägungen sind mit dem
Notariatsgesetz v 3. 10. 2019 (NotarG), LGBI 2019/306, Wirklichkeit geworden, wobei durch
durch Urkunden, aufgrund derer für die eingeklagte Forderung bereits eine (nicht be-
kämpfte und nicht streitige) grundbücherliche Einverleibung eines dinglichen Rechts er-
folgt ist.
29.64 Das Gericht hat ohne mündliche Verhandlung und ohne Einvernahme des Beklagten den
Zahlungsauftrag zu erlassen (§ 550 ZPO). Im Zahlungsauftrag ist dem Beklagten aufzu-
tragen, binnen 14 Tagen den gegen ihn geltend gemachten Anspruch zu befriedigen oder
seine Einwendungen gegen den Zahlungsauftrag zu erheben. Die 14-tägige Einwen-
dungsfrist ist eine Notfrist, die nicht verlängert werden kann (§ 550 Abs 2, § 128
ZPO). Die Zustellung des Zahlungsauftrags hat zu eigenen Handen zu erfolgen (§ 550
Abs 3 ZPO).
29.65 Gegen die Erlassung des Zahlungsauftrags ist mit Ausnahme eines Rekurses gegen die
Kostenentscheidung kein Rechtsmittel zulässig. Der Zahlungsauftrag kann nur mit recht-
zeitig erhobenen Einwendungen bekämpft werden. Für die Einwendungen gilt die Even-
tualmaxime5071, der Beklagte muss also bei sonstigem Ausschluss alle „seine" 5072 Ein-
wendungen - seien es Prozesseinreden, Einreden gegen die Zulässigkeit des Mandatsver-
fahrens oder Einreden gegen den Bestand der Klagsforderung - in den Einwendungen
vorbringen. Eine ökonomische und sinnvolle Anwendung der Eventualmaxime muss
aber dazu führen, dass der Beklagte Einwendungen, die ihm vor Ablauf der Frist ohne
sein Verschulden noch nicht zu Gebote standen, auch noch nach Ablauf der Einwen-
5073
dungsfrist bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vorbringen kann. Auch sol-
che Umstände müssen allerdings unverzüglich nach Kenntnis vorgebracht bzw nachge-
tragen werden. 5074 Verspätete Einwendungen sind ohne Verhandlung mit Beschluss
zurückzuweisen (§ 552 Abs 3 ZPO). Die Bestimmungen über die Eventualmaxime sind
075
zwingendes Recht und von Amts wegen zu berücksichtigen. Entgegen Faschini' ist ein
Verstoß gegen die Eventualmaxime nicht sanktionslos, sondern vielmehr vom Rechts-
mittelgericht aufzugreifen. Verspätet erhobene Einwendungen sind einer rechtsmittelge-
richtlichen Entscheidung nicht zugrunde zu legen, auch wenn das Untergericht sich da-
5076
mit befasst hat.
die Einführung einer exekutionsfähigen notariellen Urkunde (Art 41 NotarG) die Erwirkung
eines Exekutionstitels im Wege des Mandatsverfahrens mittels notariell beglaubigter Urkunde
auch in Zukunft kaum praxisrelevant sein wird.
5071 StGH 2009/140 GE 2013, 400; OGH 04 CG.2007.128 LES 2010, 39; 03 C 177/86 LES 1989, 23
(überholt hins der Ausführungen zur Eventualmaxime im Bestandverfahren).
5072 Die Eventualmaxime wurde in der öL und Rsp aus den Worten „seine Einwendungen" in
§ 550 Abs 2 ZPO abgeleitet. Vgl idZ Fasching 1V 1 § 552 ZPO Anm 2 die damals hL und
Rsp zum seinerzeit gleichlautenden § 550 Abs 2 öZPO. In Ö wurde mit Einführung des
öKSchG, BGBI 1979/140, das Wort „seine" in vorgenannter ZPO-Bestimmung gestrichen,
sodass seither die aus dieser Bestimmung abgeleitete Eventualmaxime bis zur Aufhebung
des§ 550 öZPO im Jahr 2009 (s oben FN 121) nicht mehr galt; vgl auch Klicka in Fa-
sching/Konecny IV/1 2 § 552 ZPO Rz 6.
5073 Fasching IV 1 § 552 ZPO Anm 2 mwN; aA Neumann, Kommentar 11 3 1583.
5074 OGH 04 CG.2007.128 LES 2010, 39.
5075 Fasching IV 1 § 559 ZPO Anm 4.
5076 OGH 04 CG.2007.128 LES 2010, 39.
Nach rechtzeitiger Erhebung der Einwendungen ist „auf tunlichst kurze Zeit" eine Tag- 29.66
satzung zur mündlichen Streitverhandlung anzuberaumen (§ 552 Abs 4 ZPO). In dem
das Verfahren erledigenden Urteil ist auszusprechen, ob der Zahlungsauftrag aufrecht
erhalten bleibt oder ob und inwiefern dieser aufgehoben wird (§ 553 ZPO).
Im Unterschied zur österr Rezeptionsvorlage enthält die ZPO keine Sondervorschriften 29.67
betreffend die Klagsrücknahme oder die Zurücknahme der Einwendungen. Die diesbe-
züglichen, in Österreich durch die GEN 1914 5077 ins Gesetz eingefügten Regelungen in
§ 552 Abs 4 und 5 öZPO wurden vom liechtensteinischen Gesetzgeber nicht nachvollzo-
gen. In sinngemäßer Anwendung der allgemeinen Vorschriften über die Klagsrücknahme
(§ 245 Abs l ZPO) wird daher eine Klagsrücknahme ohne Zustimmung des Beklagten bis
zum Beginn der ersten Tagsatzung und eine solche unter Anspruchsverzicht bis zum
Schluss der mündlichen Verhandlung möglich sein. Nachdem im Mandatsverfahren der
Zahlungsauftrag durch die Erhebung von Einwendungen mangels entsprechender Geset-
zesvorschrift nicht ex lege seine Kraft verliert 5078 und die Einwendungen iSd § 552 ZPO
analog einem Rechtsmittel zu behandeln sind 5079, ist die Zurücknahme der Einwendun-
gen zulässig. § 454 ZPO über die Zurücknahme der Berufung ist analog anzuwenden.
Wenn dem Antrag auf Erlassung eines Zahlungsauftrags nicht stattgegeben werden kann, 29.68
dann ist das Mandatsverfahren - sofern die Klage die allgemeinen Voraussetzungen er-
füllt - in das ordentliche Verfahren überzuleiten bzw anstelle des Mandatsverfahrens
das ordentliche Verfahren einzuleiten (§ 554 ZPO). Nach Faschin/ 080 hat das Gericht
ausdrücklich einen anfechtbaren 5081 Beschluss über die Abweisung des Antrags auf Erlas-
sung des Zahlungsauftrags zu fassen (und nicht nur die mündliche Verhandlung anzu-
ordnen), da der Kläger durch die abschlägige Erledigung des Antrags beschwert ist. Bei
Fehlen der allgemeinen Prozessvoraussetzungen ist die Zurückweisung der Klage auszu-
sprechen (§ 554 zweiter HS ZPO).
C. Verfahren in Wechselstreitigkeiten
Wechselstreitigkeiten sind - nach der Definition des§ 555 ZPO - .,Verfahren über Klagen 29.69
zur Geltendmachung wechselmässiger Ansprüche". 5082 Gegenstand des Wechselprozesses
sind sohin ausschließlich wechselmäßige Ansprüche, das sind nur die „auf Zahlung (oder
Erlag) von Geld gerichteten, aus einem Wechsel abgeleiteten 5083 und auf das Wechselgesetz
(WG) 5084 gestützten Ansprüche" 5085 • Das Gericht hat nur zu prüfen, ob der geltend ge-
machte Anspruch aufgrund des Wechsels berechtigt ist. Ob der Klagsanspruch - wenn
er aus dem Wechsel nicht abgeleitet werden kann - aus einem anderen Grund, etwa
dem Grundgeschäft berechtigt ist, darf das Gericht nicht prüfen. 5086 Es gilt insoweit der
Grundsatz der „beschränkten Kognition", gleichgültig ob es sich um eine ordentliche
Wechselklage oder um eine Wechselmandatsklage handelt. Nach Art 68 Abs 2 Scheckge-
setz (SchG) 5087 gelten für die Geltendmachung von Rückgriffsansprüchen aus einem
Scheck die für Wechselsachen erlassenen Prozessvorschriften. Ausgenommen hiervon sind
jedoch - entsprechend der inhaltlich beschränkten Kognition des Wechselprozesses - die
gerichtliche Verfolgung von Schadenersatzansprüchen wegen mangelnder Deckung des
Schecks und die Streitigkeiten aus dem unmittelbaren Rechtsverhältnis zwischen dem In-
haber des Schecks und dem Aussteller oder dem unmittelbaren Vormann des Inhabers.
29.70 Wechsel- und Scheckstreitigkeiten sind Ferialsachen (§ 224 Abs l Z l ZPO).
29.71 Das Wechselmandatsverfahren folgt in Voraussetzungen und Verfahrensablauf dem
Mandatsverfahren (§ 559 ZPO). Die Verweigerung oder Erlassung des Wechselzahlungs-
auftrags, dessen Bekämpfung, die Erhebung von Einwendungen und deren verfahrens-
mäßige Behandlung (mündliche Verhandlung und Urteilsfällung) richten sich daher
nach den Vorschriften über das Mandatsverfahren. Als Mandatsurkunde müssen ein for-
mal gültiger und, was die Echtheit angeht, unbedenklicher Wechsel in Urschrift (§ 557
ZPO) und allenfalls weitere Original-Urkunden zum Nachweis der Umstände des§ 557
Abs 2 ZPO (Vollmacht) und des§ 558 ZPO (bei Geltendmachung von Rückgriffsansprü-
chen Urkunden iSd Art 43 und 44 WG) vorgelegt werden.
29.72 Der in§ 559 ZPO noch vorgesehene Wechselsicherstellungsauftrag, der eine Exekution zur
Sicherstellung gern Art 43 RSO ermöglichte, ist durch die Aufhebung der entsprechenden
Vorschriften der RSO 5088 und die Tatsache, dass die EO - anders als die österr Rezeptions-
vorlage - keine Regelung der Exekution zur Sicherstellung beinhaltet, überholt.
V. Verfahren in Bestandstreitigkeiten
A. Historische Entwicklung
29.73 Im Zuge der Rezeption der öZPO im Jahr 1912 wurden die gesetzlichen Regelungen über
das Bestandsverfahren in der öZPO (§§ 560 bis 576) mit einigen kleineren, im Wesent-
lichen auf die unterschiedliche Gerichtsorganisation zurückzuführenden Änderungen als
6. Abschnitt in den 5. Teil der ZPO übernommen. Diese Stammfassung blieb bis zur
5083 Zu den Ansprüchen, die nicht unmittelbar aus dem Wechsel selbst abgeleitet werden: Klicka
in Fasching/Konecny IV/1 3 Vor§§ 555-559 ZPO Rz 15.
5084 G v 24. ll. 1971 betreffend das Wechselrecht, LGBI 1971/51/l.
5085 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 2127.
5086 Klicka in Fasching/Konecny IV/1 3 Vor§§ 555-559 ZPO Rz 14; A. Kodek in Rechberger/K/icka,
ZPO 5 Vor § 555 Rz 2.
5087 G v 24.11.1971 betreffend das Scheckrecht, LGBI 1971/51/2.
5088 Durch das EGEO, LGBI 1972/32/1.
Totalrevision des Miet- und Pachtrechts und des Verfahrens in Bestandsachen im Jahr
2016 mehr oder weniger unverändert in Geltung. Die in Österreich durchgeführten No-
vellierungen der §§ 560 ff öZPO wurden (zunächst) nicht nachvollzogen.
Durch die Mieterschutzgesetz-Nov 1975 5089 wurden - nach schweizerischem Vorbild - 29.74
„Schutzbestimmungen für Mieter von Wohnungen"(§§ 1108a bis 11080 ABGB) und
Bestimmungen über die „Erstreckung des Mietverhältnisses für Wohnungen"
(§§ 1116a bis l l l6e ABGB) ins ABGB eingefügt. 5090 Diese Bestimmungen enthielten
ein paar wenige Vorschriften betreffend das Verfahren zur Anfechtung von Mietzinser-
höhungen5091 und das Erstreckungsverfahren 5092 .
Mit der ABGB-Nov 2016 5093 und der ZPO-Nov 2016 5094 erfolgte eine gänzliche Neure- 29.75
gelung des Bestandrechts im ABGB und - damit verbunden - des Verfahrens bei Be-
standstreitigkeiten in der ZPO. Diese Totalrevision des Miet- und Pachtrechts erfolgte
im Wesentlichen nach schweizerischem Vorbild. Mit der erwähnten ABGB-Nov wurden
im § 1090 ABGB 109 Artikel 5095 eingefügt, welche auf dem schweizerischen Obligatio-
nenrecht (Art 253 bis 300 chOR) gründen. Dabei wurden auch einige verfahrensrecht-
liche Bestimmungen, unter anderem ein Verfahren betreffend die Anfechtung außerge-
richtlicher Kündigungen, übernommen, welche bewusst nicht in die ZPO aufgenommen,
sondern im ABGB belassen worden sind. 5096 In der ZPO wurden zum einen die in Öster-
reich in den letzten Jahrzehnten durchgeführten Novellierungen der §§ 560 ff öZPO
nachvollzogen. Zum anderen wurden Verfahrensbestimmungen, welche der Erstreckung
von Miet- und Pachtverhältnissen dienen, neu in der ZPO geregelt(§ 566 ZPO). Darüber
hinaus wurde die Bestimmung des§ 224 Abs I Z 4 ZPO (Ferialsache) angepasst. 5097
B. Außergerichtliche Kündigung
Die §§ 565 und 566 ZPO, welche die - gern Art l lit s EO einen Exekutionstitel darstel- 29.76
!ende - außergerichtliche Aufkündigung regelten, wurden mit der ZPO-Nov 2016 auf-
5089 G v 14. 11. 1974 über die Abänderung des Fünfundzwanzigsten Hauptstückes des ABGB,
LGBI 1975/6. Zum Ganzen: Nägele, Mietrecht.
5090 Schweizerische Rezeptionsgrundlage für die§§ 1108a-l 108o ABGB war der Bundesbeschluss
über Maßnahmen gegen Missbräuche im Mietwesen v 30. 6. 1972 (BMM) (AS 1972
1502- 1511), jene für die §§ 1116a-1116e ABGB die Art 267a-267 e OR (AS 1970
1276-1279, AS 1972 8951).
5091 Die Mietzinserhöhung konnte innert 14 Tagen seit Empfang der Mitteilung über die Miet-
zinserhöhung beim zuständigen Vermittleramt (als zwingend vorgeschriebener erster Instanz)
und - bei erfolglosem Vermittlerversuch - binnen 14 Tagen nach dem Vermittlungsversuch
beim Gericht als unzulässig angefochten werden (§ 1108 k ABGB).
5092 Die§§ 1116a-l l 16e ABGB enthielten Fristen für die Anbringung des Erstreckungsbegehrens
und regelten die Zuständigkeit des Gerichts für das Erstreckungsverfahren (ohne vorausge-
hende Vermittlungsverhandlung).
5093 G v 9. 6. 2016 über die Abänderung des ABGB, LGBI 2016/267.
5094 G v 9.6.2016 über die Änderung der ZPO, LGBI 2016/268.
5095 1. Abschnitt Mietvertrag (Art 1- 76), 2. Abschnitt Pachtvertrag (Art 77- 109).
5096 BuA betreffend Totalrevision des Miet- und Pachtvertrags, Teilrevision der ZPO und Abän-
derung der EO, BuA 2015/133, 37, 145f.
5097 Ferialsachen sind damit Streitigkeiten über Aufkündigung, Übergabe und Übernahme ge-
pachteter oder gemieteter Sachen, Wohnungen oder anderer Räume.
gehoben. 5098 Außergerichtliche Aufkündigungen sind zwar noch möglich, stellen aber
keinen Exekutionstitel mehr dar. Die außergerichtliche Kündigung hat keine prozessuale
Wirkung (mehr) und stellt lediglich eine privatrechtliche Gestaltungserklärung dar.
Mit der ABGB-Nov 2016 wurde parallel zum Verfahren über die gerichtliche Aufkündi-
gung (nach der ZPO) ein Anfechtungsverfahren geschaffen, welches der gekündigten
Partei die Anfechtung einer ihrer Ansicht nach treuwidrigen, zweckfremden oder schi-
kanösen Kündigung ermöglicht(§ 1090 Art 66f ABGB iVm § 560 ZPO). 5099 Gegenstand
des Anfechtungsverfahrens ist ausschließlich die außergerichtliche Kündigung. 5100 Die
Notwendigkeit der Einführung eines solchen - aus dem schweizerischen Rechtsbereich
rezipierten 5101 - Anfechtungsverfahrens - neben bzw parallel zum gerichtlichen Aufkün-
digungsverfahren nach der ZPO - ist nicht ohne weiteres ersichtlich. Die Überprüfung
der Wirksamkeit der Kündigung im Anfechtungsverfahren führt nämlich - wie in den
Gesetzesmaterialien auch zutr ausgeführt wird 5102 - nur entweder zur Aufhebung bzw
Ungültigerk.Järung der Kündigung, wenn sie gegen Treu und Glauben verstößt, oder aber
zur Klagsabweisung. Die Anfechtung schafft damit aber jedenfalls keinen Exekutions-
titel zur zwangsweisen Durchsetzung der Kündigung. Dafür sind ausschließlich eine ge-
richtliche Aufkündigung bzw ein Übergabs- und Übernahmsauftrag nach den §§ 561 ff,
565 ZPO (Art 1 lit e EO) oder ein der Räumungsklage stattgebendes Urteil notwendig.
Während die Anfechtung nach schweizerischem Recht die gesetzliche Möglichkeit für
den Mieter ist, die (außergerichtliche) Kündigung 5103 des Vermieters zu bekämpfen,
und so die Beendigung des Mietverhältnisses und weiter zu verhindern, dass die (wirk-
sam gewordene) Kündigung „Titel" bzw Grundlage für ein allfälliges Ausweisungsver-
fahren wird, hat für den liechtensteinischen Rechtsbereich die Anfechtung der außerge-
richtlichen Kündigung für die Beteiligten - bei Bedachtnahme auf die oben dargestellten
möglichen Ergebnisse eines solchen Verfahrens - nur bedingt einen „Mehrwert". 5104 Im
Hinblick auf die Anspruchsverwirkung gern § 560 ZPO sieht sich ein gekündigter Be-
standnehmer aber möglicherweise „gehalten", eine außergerichtliche treuwidrige Kündi-
5098 Die außergerichtliche Aufkündigung als Exekutionstitel hatte nur geringe praktische Bedeu-
tung und stellte nahezu totes Recht dar. In ö war die Aufhebung bereits mit der öZVN 1983,
BGB! 1983/135 erfolgt. Vgl auch BuA 2015/133, 151 mHa öGesetzesmaterialien.
5099 Bei der außergerichtlichen Kündigung kommt die Klägerrolle im Anfechtungsprozess dem
Gekündigten zu, welcher die (Gestaltungs-)Klage auf Aufhebung bzw Ungültigerklärung
der Kündigung (wegen Treuwidrigkeit bzw Missbräuchlichkeit) zu erheben hat. Zum Charak-
ter der Anfechtungsklage ausf: Higi in ZK OR V/2b 4 Vorbern zu Art 271-273c Rz 8, Art 271
Rz 22ff, 92ff; vgl auch BG 4A_327/2015.
5100 BuA 2015/133, 146.
5101 Art 271 ff, insb Art 273 chOR.
5102 BuA 2015/133, 40.
5103 Die Kündigung eines Mietverhältnisses erfolgt in der Schweiz ausschließlich „aussergericht-
lich", wenn auch unter Verwendung eines (vom Kanton genehmigten) amtlichen Formulars
(Art 266I chOR, Art 9 Verordnung über die Miete und Pacht von Wohn- und Geschäftsräu-
men vom 9.5.1990 [VMWG]). Diese Kündigung kann dann vom Mieter bei der zuständigen
Schlichtungsstelle und ggf in weiterer Folge bei Gericht angefochten werden (Art 273 chOR).
5104 Die gekündigte Partei kann jedoch in der Anfechtungsklage (eventualiter) einen Erstreckungs-
antrag stellen, sodass es im Fall der Abweisung des Anfechtungsbegehrens (zumindest) zu
einer Erstreckung des Bestandverhältnisses kommen kann.
gung anzufechten. 5105 Nach § 560 ZPO muss nämlich die außergerichtlich gekündigte
Partei die Anfechtungsklage innert vier Wochen nach Empfang der Kündigung bei Ge-
richt einreichen, ,,ansonsten ihr Anspruch verwirkt ist". Mit der Säumnis der gekündig-
ten Partei geht also ihr Anspruch auf Ungültiferklärung der Kündigung unheilbar unter,
die Kündigung bleibt unanfechtbar gültig. 510 Die Nicht-Anfechtung einer treuwidrigen
Kündigung hat also - vorausgesetzt die Kündigung ist nicht von Anfang an nichtig 5107 -
zur Folge, dass das Mietverhältnis mit dem in der Kündigung ausgesprochenen Kündi-
gungstermin beendet wird. Räumt der Bestandnehmer das Bestandobjekt zu diesem Zeit-
punkt jedoch nicht, bleibt dem Bestandgeber idR nur die Räumungsklage (wegen titel-
loser Benützung). 5108 In diesem Räumungsverfahren kann dann die gekündigte Partei -
da sie nur das Anfechtungsrecht iSd § 560 ZPO verwirkt hat - aber wiederum ihre Ein-
wendungen erheben, und zwar auch solche iSd § 1090 Art 66f ABGB. 5109
C. Gerichtliche Aufkündigung
1. Inhalt der Aufkündigung
Die gerichtliche Aufkündigung wird von der hL und Rsp als doppelfunktionelle Pro- 29.78
zesshandlung angesehen, welche einerseits die materiell-rechtliche Gestaltungserklärung
eines Vertragsteils, den Bestandvertrag zu einem bestimmten Termin zu beenden, und
damit verbunden einen prozessrechtlichen Antrag an das Gericht enthält, den Kündi-
gungsauftrag zu erlassen und damit einen Exekutionstitel zu bewirken. 5110
Die gerichtliche Aufkündigung hat die Bezeichnung der Parteien (§ 75 ZPO), die Be- 29.79
zeichnung des Bestandgegenstands, die Bezeichnung des Zeitpunkts, in welchem der
Bestandvertrag enden soll (Kündigungstermin) 5111 , sowie den Antrag zu enthalten,
dem Gekündigten aufzutragen, entweder den Bestandgegenstand zum Kündigungster-
min zu übernehmen bzw zu übergeben oder gegen die Aufkündigung Einwendungen
5105 Soweit ersichtlich wurden seit Inkrafttreten des neuen Miet- und Pachtrechts mit l. l. 2017
nur zwei Klagen auf Anfechtung einer Kündigung beim LG eingebracht. Beide Verfahren
endeten mit einem Vergleich.
5106 Higi in ZK OR V/2b 4 Art 273 Rz 63; Weber in BK OR 14 Art 273 Rz 3; BGE 121 III 156.
5107 Die Anspruchsverwirkung des§ 560 ZPO gilt nicht für Kündigungen, die gern § 1090 Art 50
ABGB von Anfang an unwirksam bzw nichtig sind.
5108 Die gerichtliche Aufkündigung ist idR nicht mehr zulässig, weil diese ein aufrechtes Bestand-
verhältnis voraussetzt. Allgemein zum Verhältnis Aufkündigung/Räumungsklage und zum
notwendigen - allenfalls widersprüchlichen - Vorbringen der kündigenden Partei im (ggf
parallel geführten) Aufkündigungs- bzw Räumungsverfahren: Lovrek in Fasching/Konecny
IV/1 3 § 560 ZPO Rz 53f mwN; OGH 03 C 177/86 LES 1989, 23 (grundsätzliche Wahlmög-
lichkeit zwischen Aufkündigung und Räumungsklage, die jedoch im Mietvertrag einge-
schränkt werden kann).
5109 BuA 2015/133, 120.
5110 Elkuch/Gassner/Gassner/Heiterer/Mähr, ZPO § 561 Anm l; Fasching, Lehrbuch 2 Rz 2140; Lov-
rek in Fasching/Konecny IV/1 3 § 560 ZPO Rz 34 mwN; Lovrek in Rummel/Lukas, ABGB'
§ 1116 ABGB Rz 25 mwH; LGZ Wien EF 138.558; aA Frauenberger in Rechberger/Klicka,
ZPO' § 561 Rz l, der uHa Oberhammer, Auftragsverfahren 111 ff, ein Rechtsgestaltungsbe-
gehren annimmt.
5111 Der Kündigungstermin ergibt sich vorrangig aus dem Bestandvertrag und - bei Fehlen einer
vertraglichen Vereinbarung - aus§ 1090 Art 38ff, 43ff, l00ff ABGB.
bei Gericht anzubringen(§ 562 ZPO). Die gerichtliche Aufkündigung ist eine formstren-
ge Prozesshandlung, die allen diesen Inhaltserfordernissen zu genügen hat. Wenn die
Aufkündigung den vorgeschriebenen Inhalt nicht hat, hat das Gericht ein Verbesse-
rungsverfahren einzuleiten (§ 562 Abs 2 ZPO), wobei der Kündigende dabei den ur-
sprünglich beabsichtigten (und in der Kündigung genannten) Kündigungstermin ändern
5112
kann, um die Einhaltung der Kündigungsfrist sicherzustellen. Bei Erfolglosigkeit des
5113
Verbesserungsverfahrens ist die Aufkündigung mit Beschluss zurückzuweisen.
29.80 Das Gesetz verlangt keine Bezeichnung der Kündigungsgründe. Der Aufkündigende
muss also nicht bereits in der Aufkündigung die Kündigungsgründe angeben. 5114 Zwin-
gende Zulässigkeitsvoraussetzung für die gerichtliche Aufkündigung ist - da iSd § 561
ZPO nur ein Bestandvertrag gerichtlich aufgekündigt werden kann - die (unbedingte,
schlüssige und widerspruchslose) Behauptung des Vorliegens eines Bestandvertrags
bereits im verfahrenseinleitenden Antrag.Sll 5 Fehlt sie, so ist der Antrag - ggf nach Ein-
.
1e1tung emes Ver besserungsvena
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29.81 Die Bestimmungen der ZPO unterscheiden nicht zwischen ordentlicher oder außeror-
dentlicher Kündigung. Die Regeln der§§ 561 ff ZPO gelten für beide Formen der gericht-
lichen Aufkündigung. Nach § 561 Abs 1 ZPO können Bestandverträge sowohl vom Be-
standgeber als auch vom Bestandnehmer gerichtlich aufgekündigt werden.
29.82 Das Gericht hat über die den Inhalts- und Formerfordernissen entsprechende und recht-
zeitige Aufkündigung des Kündigenden (mittels Beschluss) einen entsprechenden (Räu-
mungs-)A uftrag 5117 an den Gegner der aufkündigenden Partei zu erlassen und diesen -
samt Gleichschrift der Aufkündigung - dem Gegner zu eignen Handen „unverzüglich"
zuzustellen (§ 564 ZPO).
29.83 Für die Aufkündigung eines Bestandverhältnisses gebührt nach der bei gleicher Gesetzes-
lage anzuwendenden öRsp kein Kostenersatz. Wurden aber Einwendungen erhoben,
5118
dann sind die Kosten der Aufkündigung Prozesskosten.
Art 99 Abs l ABGB), ist eine Kündigung zur Vertragsbeendigung nicht erforderlich und
auch nicht zulässig. Um dennoch die rechtzeitige Übergabe oder Übernahme des Be-
standgegenstands sicherzustellen und auch die Schaffung eines Exekutionstitels zur Er-
zwingung der Übergabe oder Übernahme zu gewährleisten, schafft § 565 ZPO die Mög-
lichkeit, einen gerichtlichen Auftrag zur Übergabe oder Übernahme des Bestandgegen-
stands bei Vertragsende zu erwirken. Diese Übergabs- und Übernahmsaufträge erfüllen
verfahrensrechtlich die gleichen Funktionen wie eine gerichtliche Aufkündigung und un-
terliegen denselben Form- und Zustellungsvorschriften. Unterschiede ergeben sich nur
insofern, als der vertragliche Endtermin (Übergabs- oder Übernahmstermin) feststeht
und die Übergabe des Bestandgegenstands im Zeitpunkt des Vertragsablaufs (.,zur be-
stimmten Zeit") aufzutragen ist. Der Antrag darf frühestens sechs Monate vor Ablauf
des Bestandverhältnisses gestellt werden (§ 565 Abs 2 ZPO).
§ 565 Abs l bis 3 ZPO entspricht fast unverändert dem § 567 ZPO aF. Lediglich die Frist 29.85
zur Erhebung von Einwendungen ist auf die einheitliche vierwöchige Frist angepasst
worden. Die in § 567 Abs 4 ZPO aF geregelt gewesene „Kündigungsklage" (Klage neben
oder verbunden mit einer Kündigung) wurde - als „zweifelhaftes und entbehrliches
Rechtsinstitut" 5119 - aufgehoben bzw in § 565 ZPO nF nicht übernommen.
3. Verspätete Aufkündigung
Eine gerichtliche Aufkündigung ist wirksam, wenn sie vor Beginn der Kündigungs- 29.86
frist 5120 bei Gericht eingelangt und dem Gegner zugestellt worden ist oder wenn der
Gegner bei verspäteter Zustellung gegen die Aufkündigung keine Einwendungen erhebt
oder die Verspätung nicht rügt. Wenn der Gegner die Verspätung aber rügt, ist die
Aufkündigung für den ersten späteren Kündigungstermin wirksam, für den die Frist
zum Zeitpunkt ihrer Zustellung noch offen war (§ 563 Abs l Satz l und Abs 2 ZPO).
Aus dieser Regelung ergibt sich nach hA 5121 folgender Regelungsmechanismus bzw er-
geben sich folgende Konstellationen:
• Wird die gerichtliche Aufkündigung (der Kündigungsschriftsatz des Bestandgebers
oder Bestandnehmers) verspätet, nämlich bereits nach Beginn der für den darin ge-
nannten Kündigungstermin einzuhaltenden Kündigungsfrist bei Gericht „angebracht",
ist sie von Amts wegen mit - anfechtbarem (§ 483 Abs l ZPO) - Beschluss zurückzu-
weisen (§ 563 Abs l Satz 2 ZPO). 5122
5119 BuA 2015/133, 152 unter Hinweis auf lby in Fasching Konerny IV/1 2 § 567 ZPO Rz 19 ff sowie
Frauenberger in Rechberger/K/icka, ZPO; § 567 Rz 4. Vgl auch Elkuch/Gassner/Gasmer/Heite-
rer/Mähr, ZPO § 567 Anm 3.
5120 Im Unterschied zur alten Rechtslage(§ 560 ZPO aF) und der österr Rezeptionsvorlage (§ 560
öZPO) sind die Kündigungstermine und Kündigungsfristen nunmehr - als materiell-recht-
liche Vorschriften - (richtigerweise) im ABGB geregelt (§ 1090 Art 38 bis 41. 43 bis 45 und
100 bis 103).
5121 Stabentheiner, wob) 2009, 97, 112f; Frauenberger in Rechberger/Klicka, ZPO 5 § 563 Rz !;
Würth/Zingher/Kovanyi/Etzersdorfer, Miet- und Wohnrecht 23 § 33 MRG Rz 11; öOGH
6 Ob 167/16a.
5122 Nach der RV zur öZVN 2009, BGBI 1 2009/30, ErläutRV 89 BlgNR 24. GP 23 ist für die Be-
urteilung der Rechtzeitigkeit der Einbringung der Postlauf nicht zu berücksichtigen; es reicht
insofern aus, wenn der Kündigungsschriftsatz am letzten Tag der Frist zur Post gegeben wird.
• Wird die Aufkündigung rechtzeitig vor Fristbeginn bei Gericht „angebracht", hat das
Gericht den (Räumungs-)Auftrag zu erlassen und die Aufkündigung jedenfalls zuzu-
stellen, und zwar auch dann, wenn bereits absehbar oder allenfalls auch schon gewiss
ist, dass die Zustellung verspätet - also nach Befinn der einzuhaltenden Kündigungs-
frist - erfolgen wird (§ 563 Abs 1 Satz 3 ZPO). 5 23
• Ist die Aufkündigung bzw der gerichtliche Auftrag verspätet zugestellt, ist zu differen-
zieren:
- Erhebt der Kündigungsgegner keine Einwendungen, wird die Aufkündigung zu dem
genannten Kündigungstermin wirksam (§ 563 Abs 2 Satz l Fall 2 ZPO).
- Erhebt der Kündigungsgegner zwar Einwendungen, macht er aber weder darin noch
im Verlauf des darüber geführten Verfahrens die verspätete Zustellung der Aufkün-
digung geltend, ist die Verspätung nicht zu beachten(§ 563 Abs 2 Satz 1 Fall 2 ZPO).
- Macht der Kündigungsgegner - in den Einwendungen oder im weiteren Vorbringen
- die verspätete Zustellung geltend, hat das Gericht, wenn es die Kündigung als Er-
gebnis des Verfahrens aufrecht erhält, im Urteil als Datum der Wirksamkeit der
Aufkündigung jenen Termin zu benennen, der zum Zeitpunkt der Zustellung an
den Kündigungsgegner unter Berücksichtigung der einzuhaltenden Kündigungsfrist
noch offen war (§ 563 Abs 2 Satz 2 iVm § 570 ZPO).
29.87 Die Regelung des § 563 Abs 2 Satz 2 ZPO gilt unabhängig davon, ob es sich um gesetz-
liche oder vertragliche Kündigungstermine oder -fristen handelt. Der „spätere Kündi-
gungstermin" iSd Gesetzesstelle kann auch ein vertraglich vereinbarter Kündigungster-
min sein. Die Feststellung des wirksamen Kündigungstermins - im Fall einer verspäteten
Aufkündigung - hat zudem Bedeutung für den Ausspruch nach § 571 Abs 2 ZPO, wenn
die gern§ 563 Abs 2 letzter Satz ZPO „verlängerte" Bestandzeit im Zeitpunkt der Urteils-
fällung noch nicht verstrichen ist.
4. Einwendungen
29.88 Die Einwendungen sind das einzige „Rechtsmittel" gegen die gerichtliche Aufkündigung
bzw den gerichtlichen Räumungsauftrag. Der Inhalt der Einwendungen ist nicht be-
schränkt auf die Anfechtungsgründe des § 1090 Art 66, 67 ABGB. 5124 Die Einwendun-
gen können auch nur die bloße Erklärung, Einwendungen zu erheben (,,leere" Einwen-
dungen), enthalten. 5125 Ebenso können Einwendungen betreffend die allgemeinen Pro-
zessvoraussetzungen oder zu den (unrichtigen) Kündigungsterminen und -fristen erho-
ben werden (vgl § 563 Abs 2 ZPO).
5123 Das Gericht hat also nur zu prüfen, ob die Aufkündigung rechtzeitig eingebracht wurde; ob
auch die Zustellung der Aufkündigung noch rechtzeitig möglich ist, muss nicht geprüft wer-
den (Stabentheiner, wobl 2009, 97 FN 80).
5124 Der BuA 2015/133, 147 lässt die Frage offen, ob in den Einwendungen alles eingewendet
werden kann oder ob hier § 1090 Art 66f ABGB über die Anfechtungsgründe sinngemäß
anwendbar ist, bzw verweist lediglich darauf, dass die Konkretisierung der Anfechtungsgrün-
de des§ 1090 Art 66f ABGB wie auch der Einwendungen iSv § 562 Abs 1 ZPO den Gerichten
überlassen ist.
5125 lby in Fasching/Konecny !Vill§ 564 ZPO Rz 9; Frauenberger in Rechberger/Klicka, ZPO 5
§ 564 ZPO Rz 3.
Während in der Stammfassung die Einwendungsfrist acht bzw drei Tage betrug, wurde 29.89
sie nunmehr - entsprechend der österr Rezeptionsvorlage - auf vier Wochen verlängert
(§ 562 Abs 1 ZPO).
Nach der Rechtslage vor der ZPO-Nov 2016 war nach hL und stRsp das Bestandverfahren 29.90
in Ansehung der Einwendungen von der Eventualmaxime beherrscht. Die Worte „seine"
bzw „ihre" Einwendungen in den §§ 562 und 565 ZPO wurden in dem Sinne ausgelegt,
dass der Antragsgegner bei sonstigem Ausschluss fristgerecht und in einem Schriftsatz
alles vorzubringen hatte, was er in materiell-rechtlicher und in prozessualer Hinsicht ge-
gen den gerichtlichen Auftra~, sei es aus dem Gesetz, sei es aus einem abgeschlossenen
Vertrag, vorzubringen hatte. 5 26 Nunmehr ist durch die ZPO-Nov 2016 klargestellt, dass
im Bestandverfahren keine Eventualmaxime herrscht. In den entsprechenden Gesetzes-
texten (,,in seinen Einwendungenu in § 562 Abs 1 ZPO und „seine Einwendungen" in
§ 567 [nunmehr § 565) Abs 1 ZPO) wurde jeweils das Wort „seine(n)" gestrichen. In
§ 571 ZPO wurde anstatt „Einwendungen wegen verspäteter Zustellung" die Formulie-
rung „Behauptung verspäteter Zustellung" gewählt. Diese Modifizierungen erfolgten ge-
rade zur Klarstellung, dass es im liechtensteinischen Bestandverfahren keine Eventual-
maxime (mehr) gibt. 5127
5126 OGH 03 C 177/86 LES 1989/23 mwN zur damals hL und Rsp des öOGH. Vgl auch Fasching
IV 1 § 562 ZPO Anm 14.
5127 BuA 2015/133, 148f.
5128 Zu den im Rahmen der Vernehmlassung von einem Teilnehmer geäußerten Bedenken gegen
die Aufhebung der „besonderen Dringlichkeit" ist im BuA 2015/133, 155 festgehalten, dass
zum einen der Charakter des Bestandverfahrens aus seiner Gesamtkonzeption heraus schon
ein „beschleunigtes" Verfahren sei und zum anderen gerade mit der Einführung der Rechts-
mittelbeschränkung in § 574 ZPO eine nachhaltige Verfahrensbeschleunigung erfolgen
würde.
5129 Diese Regelung entspricht der durch die öZVN 2002, BGBl 1 2002/76 in § 571 Abs 4 öZPO
angefügten Bestimmung.
der Rechtsmittelfristen und der Tagsatzungen) ist sohin unter den Voraussetzungen des
§ 146 ZPO ohne Einschränkung zulässig. Ausgeschlossen ist (nur) eine Wiedereinsetzung
gegen die Versäumung der Kündigungsfristen, weil es sich dabei um materiell-rechtliche
Fristen handelt. 5130
29.93 Soweit die gerichtliche Aufkündigung bzw der Übergabs- oder Übernahmsauftrag in
Rechtskraft erwächst, ist sie (er) ein Exekutionstitel gern Art I lit e EO. Dieser ist auch
gegen den Unterbestandnehmer vollstreckbar, sofern nicht ein zwischen dem Unterbe-
standnehmer und dem Bestandgeber bestehendes Rechtsverhältnis entgegensteht (§ 567
ZPO). 5131 Diesfalls kann die Exekution mit der Exszindierungsklage gern Art 20 EO be-
kämpft werden. 5132
29.94 Gerichtliche Entscheidungen in Bestandstreitigkeiten treten (mit Ausnahme des Kosten-
zuspruchs) 6 Monate nach Ablauf der Räumungs- bzw Übergabsfrist außer Kraft, wenn
nicht innerhalb dieser Zeit die Exekution zur Erzwingung der Räumung bzw Übernahme
beantragt wurde (6-monatige Vollstreckungsverjährung) (§ 573 Abs 2 ZPO). Eine ge-
richtliche Aufkündigung bzw der Übergabs- oder Übernahmsauftrag (sowie das die Auf-
kündigung bzw den Auftrag aufrechterhaltende Urteil) können nicht nur von der kün-
digenden gegen die gekündigte Partei, sondern auch von der gekündigten Partei gegen-
über der kündigenden Partei in Vollzug gesetzt werden (,,iudicium duplex").
29.95 Das über die Einwendungen ergehende Urteil muss aussprechen, ob und inwieweit und -
bei Behauptung verspäteter Zustellung - zu welchem Termin die Aufkündigung oder der
Übergabs-/ Übernahmsauftrag als wirksam erkannt oder aufgehoben wird (§ 570 ZPO).
Wird die Aufkündigung (ganz oder teilweise) aufrechterhalten, dann muss im Urteil auch
ausgesprochen werden, ob und wann der Beklagte verpflichtet ist, den Bestandgegen-
stand zu übergeben oder zu übernehmen. Dabei ist nach § 571 ZPO folgendes zu be-
achten:
• Ist im Zeitpunkt der Urteilsfällung der Kündigungstermin noch nicht verstrichen bzw
die Bestandzeit noch nicht abgelaufen, hat das Urteil auszusprechen, dass der Bestand-
gegenstand längstens binnen 14 Tagen nach Ablauf der Bestandzeit zu übergeben bzw
übernehmen ist (§ 571 Abs 2 ZPO).
• Ergeht das Urteil erst nach dem Kündigungstermin oder nach Ablauf der Bestandzeit,
ist die Leistungsfrist von 14 Tagen festzusetzen (§ 571 Abs I ZPO).
29.96 Aufgrund des Verweises auf§ 409 Abs 3 und 4 ZPO in § 571 Abs I Satz 2 ZPO ergibt
sich für die Berechnunf der Leistungsfrist folgendes: Wenn gegen das Urteil kein Rechts-
mittel erhoben wird 513 , berechnet sich die Frist von dem Tag nach Zustellung des Urteils
an die zur Leistung verpflichtete Person. Es fallen somit die Leistungsfrist und die Rechts-
mittelfrist auseinander, sodass bereits vor Rechtskraft eine Leistungsverpflichtung gege-
ben ist. Ist hingegen ein Rechtsmittel erhoben worden, beginnt die Leistungsfrist mit dem
Tag nach Eintritt der Rechtskraft. Das Auseinanderfallen von Leistungs- und Rechtsmit-
telfrist hat zur Folge, dass die Leistungsfrist zwar vor der Rechtsmittelfrist abläuft, dieser
Umstand aber erst nach ungenütztem Verstreichen der Rechtsmittelfrist festgestellt wer-
den kann. Praktisch beträgt daher die Leistungsfrist bei Urteilen in Bestandstreitigkeiten
nicht 14 Tage, sondern 4 Wochen (vgl auch§ 409 Abs 5 ZPO). Ein nach Ablauf der Leis-
tungsfrist eingebrachter Exekutionsantrag ist daher abzuweisen, wenn nicht im Zeitpunkt
der Entscheidung über den Exekutionsantrag auch schon die Rechtsmittelfrist ungenützt
abgelaufen ist. 5134
Die Räumungsfrist des § 571 Abs 2 ZPO - 14 Tage nach Ablauf der Bestandzeit - gilt 29.97
nach der ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung auch dann, wenn gegen die gerichtliche
Autkündigung oder gegen den Auftrag zur Übergabe oder Übernahme des Bestandge-
genstands nicht rechtzeitig Einwendungen erhoben worden sind. Damit soll der Bestand-
nehmer, der sich mit der Autkündigung - ohne Einwendungen zu erheben - abfindet,
nicht schlechter gestellt werden, als ein Bestandnehmer, der das Kündigungsverfahren
nach unberechtigten Einwendungen verliert, aber den Bestandgegenstand dennoch erst
14 Tage nach Wirksamkeit bzw Rechtskraft des ihn zur Räumung verpflichteten Urteils
zu übergeben hat, wenn die Bestandzeit im Zeitpunkt der Urteilsfällung abgelaufen
ist. 5135
6. Rechtsmittelbeschränkung
§ 574 ZPO sieht vor, dass in Bestandstreitigkeiten Rechtsmittel gegen Entscheidungen 29.98
des Gerichts zweiter Instanz nur zulässig sind, wenn die Entscheidung von der Lösung
einer Rechtsfrage des materiellen Rechts oder des Verfahrensrechts abhängt, der zur
Wahrung der Rechtseinheit, Rechtssicherheit oder Rechtsentwicklung erhebliche Be-
deutung zukommt. Als Beispiel wird genannt, dass das Gericht zweiter Instanz von
der Rsp des Obersten Gerichtshofs abweicht oder eine solche Rsp fehlt oder uneinheit-
lich ist. Diese Regelung orientiert sich am österr Modell der „Zulassungsrevision"
(§ 502 Abs l und § 528 Abs 1 öZPO). Dieses Modell der Einschränkung der Revisions-
möglichkeiten war - in etwas abgeänderter Form - ursprünglich auch Bestandteil der
(Teil-)Reform der ZPO zur Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens im Jahr
2018 (in § 471 der ZPO-Vorlage im BuA 2018/19 5136 ), ist dann jedoch nicht Gesetz
5134 Fasching, Lehrbuch 2 Rz 1552; Fucik in Fasching/Konecny lll/2 3 § 409 ZPO Rz 16; Rechberger/
Klicka in Rechberger/K/icka, ZPO' § 409 Rz 7.
5135 Weichselbraun in Fasching Konecny IV/1 3 § 573 ZPO Rz 6; Frauenberger in Rechberger!Klicka,
ZP0 5 § 563 Rz I; öOGH I Ob 299/98x.
5136 BuA betreffend die (Teil-)Reform der ZPO, BuA 2018/19. In der Stellungnahme der Regie-
rung zu den anlässlich der ersten Lesung betreffend diese ZPO-Teilreform aufgeworfenen
Fragen, BuA 2018/61, 19 wurde ausdrücklich auf den im Zuge der Mietrechtsreform 2016
angepassten § 574 ZPO verwiesen, der „bislang in der Praxis zu keinerlei Problemen oder
Auslegungsschwierigkeiten geführt habe".
geworden.m 7 § 471 ZPO idF LGBI 2018/207 enthält keine Regelungen (mehr) iS einer
Zulassungsrevision nach der öZPO. So gesehen hat die Rechtsmittelbeschränkung des
§ 574 ZPO die ZPO-Nov 2018 „überlebt". Nachdem das Bestandverfahren als Sonder-
form des Zivilprozesses im 5. Teil der ZPO (besondere Verfahrensarten) geregelt ist,
geht die spezielle Rechtsmittelregelung des § 574 ZPO den allgemeinen Vorschriften
über Rechtsmittelbeschränkungen vor. ' 138
5137 Die nunmehrige Fassung des§ 471 ZPO fußt auf einem (vom Landtag angenommenen) Ab-
änderungsantrag zweier Landtagsabgeordneter in der Landtagssitzung am 6. 9. 2018 (2. Le-
sung BuA 2018/19 und 2018/61).
5138 Fasching IV 1 Vor §§ 548 ff ZPO 566: Auf die besonderen Verfahren der ZPO finden die all-
gemeinen Vorschriften des 1. bis 4. Teils der ZPO (nur dann) Anwendung, ,,soweit das Gesetz
für die betreffende besondere Verfahrensart nicht ausdrücklich abweichende Bestimmungen
verfügt".
5139 Die mit der MiSchG-Nov, LGBl 1975/6, aus dem schweizerischen Recht übernommenen Mie-
terschutz- und Kündigungsschutzbestimmungen (§§ 1108a-l 108o, §§ l l l6a-l l l 6e ABGB)
hatten zudem - anders als in der Rezeptionsvorlage und anders als nach der nunmehr gel-
tenden Rechtslage(§ 1090 Art 70 und 109 ABGB) - nur für Wohnungen und nicht für Ge-
schäftsmieten Gültigkeit (vgl OGH 05 C 175/99 LES 2000/92 mwN).
5140 BuA 2015/133, 153.
5141 BuA 2015/133, 153 FN 192.
5142 Seit Inkrafttreten der ZPO-Nov 2016 mit l. l. 2017 wurde - soweit ersichtlich - in keinem
einzigen Fall das Erstreckungsbegehren in einer Widerklage, sondern ausschließlich im Rah-
men der Einwendungen gegen die gerichtliche Aufkündigung (als Eventualbegehren) geltend
gemacht. Das LG hatte in keinem Fall über das Erstreckungsbegehren zu entscheiden, weil die
die Aufkündigung oder Räumung gestellt werden kann und nicht mit Widerklage in
einem zweiten - wenn auch mit dem erstgenannten zu verbindenden - Verfahren
geltend gemacht werden muss. Der Gesetzestext des § 566 Abs 1 und Abs 2 ZPO 5143
würde für eine solche Auslegung auch insofern Raum bieten, als in den Fällen des
Abs 2 - wenn ua bereits ein Aufkündigungs- oder Räumungsverfahren gerichtsanhän-
gig ist - der Abs I des § 566 ZPO, der das Anbringen des Erstreckungsbegehrens mit
Klage vorschreibt, eben nicht gilt und damit in diesen Fällen das Erstreckungsbegehren
nicht zwingend mit (Wider-)Klage geltend zu machen wäre. Nur wenn der Bestand-
nehmer die außergerichtliche Kündigung nicht anfechten will, gegen die gerichtliche
Aufkündigung keine Einwendungen erheben will oder das Räumungsbegehren nicht
bestreiten will, aber dennoch eine Erstreckung des Bestandverhältnisses erreichen
möchte, muss er Klage erheben. 5144 Für eine solche Auslegung würde auch sprechen,
dass die Regelungen über die Erstreckung des Bestandverhältnisses in § 1090 Art 68 ff,
109 ABGB im Ganzen betrachtet nichts anderes besagen, als dass durch eine Entschei-
dung des Gerichts Kündigungstermine auf Antrag erstreckt werden können, wenn dies
auf der einen Seite im Interesse des Bestandnehmers dringend geboten ist, wenn die-
sem also im Fall einer zeitgerechten Räumung eine außergewöhnliche Härte träfe, und
wenn auf der anderen Seite ein Aufschub des Termins, also eine Erstreckung, um
höchstens eineinhalb Jahre dem Bestandgeber nach der Lage der Dinge zugemutet
werden kann und die außergewöhnliche Härte für den Bestandnehmer damit vermie-
den werden kann. 5145
Jedenfalls für den weitaus häufigsten Fall in der Praxis - Erhebung von Einwendungen 29.102
gegen die gerichtliche Aufkündigung verbunden mit einem Erstreckungsbegehren - wäre
die Beibehaltung der bisherigen Praxis - Zulässigkeit der Stellung eines Erstreckungsbe-
gehrens (als „Eventualbegehren") in den Einwendungen gegen die gerichtliche Aufkün-
digung5146 - verfahrensvereinfachend und ökonomisch und würde damit auch der Inten-
tion des Gesetzgebers nach einer beschleunigten und „schlichtenden" Erledigung von
Kündigungs-, Räumungs- und Erstreckungsverfahren 5147 entsprochen - jedenfalls mehr
als mit einer Aufsplittung in zwei (zumindest zunächst) getrennte, jeweils kostenverursa-
Parteien - sofern es überhaupt zu einer mündlichen Verhandlung gekommen ist - einen Ver-
gleich geschlossen haben.
5143 Bei der Auslegung einer Rechtsnorm ist zunächst immer vom Wortlaut auszugehen (vgl bspw
OGH 7 HG.2016.212 LES 2017, 66/1).
5144 So auch die Praxis vor der ZPO-Nov 2016, s zB Verfahren zu OGH 6. 5. 1991, 5 C 194/90.
5145 So der OGH 6. 5. 1991, 5 C 194/90, 16ff zu den alten, inhaltlich weitgehend identen §§ 1116a
ff ABGB, auch uHa die vormalige liechtensteinische Rechtslage und§ 34 öMRG, BGB! 1981/
520, wonach das Gericht in Rechtssachen über die Kündigung oder Räumung gemieteter
Wohnräume auf Antrag im Urteil eine längere als die gesetzliche Räumungsfrist festsetzen
kann, wenn der Mieter wichtige Gründe dafür geltend macht und dem Vermieter aus der
Verzögerung der Räumung kein unverhältnismäßiger Nachteil erwächst.
5146 Vgl etwa das Verfahren zu OGH 5 C 175/99 LES 2000, 92.
5147 BuA 2015/133, 38f.
chende Verfahren über die Einwendungen einerseits und das widerklageweise 5148 geltend
zu machende Erstreckungsbegehren andererseits. 5149
29.103 Schließlich ist noch darauf zu verweisen, dass der ZPO Anträge, die in ihrer Wirkung der
Klage weitgehend gleichgestellt sind und die auch in der mündlichen Verhandlung zu
Protokoll erklärt werden können, nicht fremd sind: so etwa die Klagsänderung (§ 243
ZPO), der Zwischenantrag auf Feststellung (§§ 244, 258 ZPO) oder der Antrag gern
5150
§ 408 ZP0 • Andere in einem laufenden Prozess vom Beklagten gestellte Anträge sind
5151
nach Lehre und Rsp 5152 - soweit sie die Formvorschriften für eine Klage erfüllen - als
selbstständige Klage zu behandeln. Der öOGH hat zB einen von der beklagten Partei -
ohne Erhebung einer Widerklage - im Ehestreit gestellten Antrag, ihm für den Fall der
5153
Stattgebung der Ehescheidung Unterhalt zuzusprechen, als Klage angesehen. JdS kann
ein im Rahmen eines Aufkündigungs- oder Räumungsverfahrens vom Beklagten gestell-
tes Erstreckungsbegehren - gern§ 22a JN zulässigerweise - auch als Klagebegehren (um-
)gedeutet werden und wird dieses - da eine Zuständigkeit iSd §§ 40, 48 JN gegeben ist
und nach Verbindung iSd § 187 ZPO - sodann auch Gegenstand der Verhandlung und
Urteilsfällung im Aufkündigungs- oder Räumungsverfahren sein (können).
5148 Auf die Problematik einer „bedingten Widerklage" im Kontext der grundsätzlichen Bedin-
gungsfeindlichkeit des Klagebegehrens wird an dieser Stelle nur hingewiesen: Vgl Geroldinger
in Fasching Konecny 111/1 3 § 226 ZPO Rz 91 f mwN. Nach der Rsp des öOGH (4 Ob 516/75;
6 Ob 32/ 13 v) ist die Erhebung einer bedingten Widerklage unzulässig.
5149 Auch nach der chRsp kann den Parteien nicht zugemutet werden, über die Fragen der Be-
endigung des Mietverhältnisses (als Voraussetzung des Erstreckungsbegehrens) und die Er-
streckung desselben in separaten Verfahren (einerseits ordentliches und andererseits verein-
fachtes Verfahren) zu prozessieren; es hat vielmehr eine einheitliche Beurteilung des Erstre-
ckungsbegehrens mit den entsprechenden Vorfragen, insb der Beendigung des Mietverhält-
nisses bzw der Gültigkeit der Kündigung, im vereinfachten Verfahren nach Art 243 Abs 2 lit c
chZPO zu erfolgen (BG 4A_270/2015 BGE 142 III 278). Aufgrund der Besonderheiten des
schweizerischen vereinfachten Verfahrens - insb der Möglichkeit der mündlichen Klageer-
hebung, der vereinfachten Anforderungen an den Inhalt der Klage und der verstärkten Für-
sorgepflicht des Gerichts bzw der „sozialen Untersuchungsmaxime" - ist die Anbringung ei-
nes Erstreckungsbegehrens relativ formfrei und unkompliziert möglich (allgemein zum ver-
einfachten Verfahren: Killias in BK chZPO Il 1 Vorbern Art 243 ZPO). Vgl auch Mayer!Mar-
xer, Miet- und Pachtrecht 51, welche die Vorschrift, die Erstreckung mittels Klage zu
verlangen, als „prohibitiv" beurteilen und für eine Verlagerung des gesamten Erstreckungs-
verfahrens in das Außerstreitverfahren eintreten, weil dort die Antragstellung formloser erfol-
gen könne und die Interessenslage beider Parteien sich dort von Amts wegen ausgewogener
abklären ließe.
5150 Zur prozessualen Funktion dieses Antrags, der selbstständiger Entscheidungsgegenstand ist
und über den im Urteil im Spruch zu erkennen ist vgl 1-'ucik in 1-'asching!Konecny III/2' § 408
ZPO Rz 7 f; Fasching IIl 1 § 408 ZPO Anm I und 4.
5151 Geroldinger in Fasching!Konecny Ill/1 3 § 226 ZPO Rz 231 f.
5152 RIS-Justiz RS0037590.
5153 öOGH I Ob 392/60.
Mit dieser ausdrücklichen Feststellung wird - ,,zur Erleichterung bei der Rechtsanwen-
dung"5154 - auf die §§ 560ff ZPO verwiesen. Nachdem dieser Verweis nur die außerge-
richtlichen und gerichtlichen Kündigungen sowie das Erstreckungsbegehren erwähnt
und auch nur diese Verfahren in den §§ 560 ff ZPO geregelt sind, stellt sich die Frage,
in welchem Verfahren (streitig oder außerstreitig) die sonstigen Streitigkeiten nach den
neuen Bestandrechtsvorschriften zu behandeln sind. Hierher gehören insb die Vorschrif-
ten über die Anfechtung des Mietzinses (§ 1090 Art 60 bis 64 ABGB) 5155 . Während im
Rezeptionsland Schweiz für Bestandstreitigkeiten, sofern ua der Schutz vor missbräuch-
lichen Miet- und Pachtzinsen betroffen ist, das vereinfachte Verfahren gilt (Art 243 Abs 2
lit c chZPO) und auch in Österreich zahlreiche mietrechtliche Streitigkeiten, ua solche
über die Angemessenheit des vereinbarten oder begehrten Hauptmietzinses, in das au-
ßerstreitige Verfahren verwiesen sind (§ 37 Abs 1 Z 8 öMRG), hat der liechtensteinische
Gesetzgeber sich offensichtlich für eine andere Lösung entschieden. Auf eine entspre-
chende Anfrage im Vernehmlassungsverfahren stellte die Regierung klar, dass alle Be-
stimmungen in der Mietrechts-Vorlage, welche auf die Gerichtszuständigkeit hinweisen,
nach den allgemeinen Grundsätzen im streitigen Verfahren nach der ZPO - und nicht
im außerstreitigen Verfahren - geltend zu machen sind. 5156 Damit haben auf alle in den
bestandrechtlichen Bestimmungen des§ 1090 ABGB dem Gericht zugewiesenen Streitig-
5157
keiten die Bestimmungen der ZPO zur Anwendung zu gelangen. Ausgenommen sind
nur jene Regelungen, in denen ausdrücklich auf das außerstreitige Verfahren verwiesen
wird.s1se
29.106 Im Rahmen der Rezeption der öZPO im Jahr 1912 wurde auch das österr Mahnverfahren
5160 5161
übernommen. Dieses mit dem öMahnG 1873 geschaffene Verfahren war älter als
5162
die ZPO und wurde in Österreich durch Art XXVIII EGZPO mit geringfügigen Ände-
rungen in Geltung belassen. Während in Österreich das Mahnverfahren ua auch aufgrund
eines Streits über dessen Rechtsnatur - teilweise wurde es als außerordentliche Prozessart,
teilweise als außerstreitiges Verfahren oder als dem Exekutionsrecht zugehörig angese-
hen5163 - bei Erlassung der ZPO nicht in dieser selbst geregelt wurde, hat der liechtenstei-
nische Gesetzgeber das Mahnverfahren nicht außerhalb der ZPO belassen, sondern in den
§§ 577ff in die ZPO eingebaut, ,,um damit die einheitliche Regelung des zivilgerichtlichen
5164
Verfahrens nach außen hin besonders sinnfällig zum Ausdruck zu bringen" .
29.107 Während das österr Mahnverfahren mehrfach und umfangreich geändert worden ist 5165 ,
haben die Vorschriften des liechtensteinischen Schuldentriebverfahrens nur einige weni-
.. ~y
ge und nur punktuelle Anderungen erfahren. Mit zwei Gesetzesnovellen 1921 und
5167
1924 wurden neben kleineren Änderungen die betragsmäßige Begrenzung der im
Mahnverfahren geltend zu machenden Forderungen (in § 577 ZPO) aufgehoben und
das Mahnverfahren in die landesübliche Bezeichnung 5168 „Schuldentriebverfahren" um-
benannt. Im Unterschied zur Rezeptionsvorlage heißt die gerichtliche Entscheidung im
Schuldentriebverfahren auch nicht „Zahlungsbefehl" sondern - dem damaligen Sprach-
gebrauch entsprechend 5169 - ,,Zahlbefehl". Seit I 924 sind die Bestimmungen des Schul-
dentriebverfahrens mit Ausnahme zweier kleinerer Abänderungen mit der ZPO-Nov
5170
2018 unverändert geblieben. Mit der genannten Nov wurde (nur) die - längst über-
5160 In dem bis zur Einführung der ZPO in Kraft stehenden G v 9. 10. 1865 betreffend den Schulden-
betrieb im Fürstentum Liechtenstein, LGBI 1865/5/1, war das Mahnverfahren nfür einfache
Forderungssachen" ohne Rücksicht auf die Höhe des Betrags obligatorisch. Mit G v 16. 8.
1892 (Abänderung und Ergänzung der Bestimmungen des Exekutionsverfahrens), LGBI
1892/4, war die Wirksamkeit des Zahlbefehls auf drei Jahre beschränkt worden. Bei Einführung
der ZPO wollte der liechtensteinische Gesetzgeber dem Gläubiger - in Abkehr vom bisherigen
obligatorischen System - die Wahlmöglichkeit einräumen, seine Forderung im Wege des
Mahnverfahrens oder im Wege des ordentlichen Prozesses geltend zu machen. Die zeitliche
Beschränkung der Exekutionsfähigkeit des Zahlbefehls wurde als unsachgemäß und zweckwid-
rig beurteilt, weil dadurch der Gläubiger zu neuen gerichtlichen Schritten gezwungen sei, die
dem Schuldner abermals Kosten auferlegen würden ( Walker, Gesetzesentwürfe 236).
5161 G v 27. 4. 1873 über das Mahnverfahren, RGBl 1873/67.
5162 G v 1. 8. 1895 betreffend die Einführung der ZPO, RGBI 1895/112.
5163 Vgl Oberhammer in FS Sprung 301 f.
5164 OGH 05 C 185/81 LES 1983, 125.
5165 Zu erwähnen ist insb die öZVN 1983, BGBI 1983/135, mit welcher das Mahnverfahren mit
vielen Abänderungen in die öZPO (§§ 448ff öZPO an Stelle des früheren Bagatellverfahrens)
übernommen und als obligatorisches Verfahren ausgestaltet wurde. Mit der öZVN 2002,
BGBI I 2002/76, wurde das Mahnverfahren auch im österr Gerichtshofverfahren vorgesehen
(§§ 244ff öZPO) und mit dem öBudgetbegleitG 2009, BGBI I 2009/52 wurde die Wertgrenze
auf€ 75.000,- erhöht.
5166 G v 17. 10. 1921 betreffend die Abänderung und Ergänzung der ZPO, LGBI 1921/19.
5167 NachtragsG v 26. 5. 1924 zu JN, ZPO und EGZPO, LGBI 1924/9.
5168 Vgl die Bezeichnung lt SchuldenbetriebG, LGBI 1865/5/1.
5169 Vgl§§ 1 ff SchuldenbetriebG, LGBI 1865/5/1.
5170 G v 6.9.2018 über die Abänderung der ZPO, LGBI 2018/207.
fällige - Angleichung der Rekursfrist (von acht Tagen) an die einheitliche Frist von
14 Tagen vorgenommen (§ 581 Abs 3 und§ 588 ZPO).
Mit den oben erwähnten ZPO-Nov 1921 und 1924 wurde außerdem aus dem schweizeri- 29.108
sehen Rechtsbereich das „Rechtsbotsverfahren" in das liechtensteinische Verfahrensrecht
eingeführt. Der Begriff „Rechtsbot" stammt aus dem kantonalen Prozessrecht, wo ein ent-
sprechendes Verfahren in mannigfaltiger Ausgestaltung anzutreffen war. 5171 Das Institut
des Rechtsvorschlags ist dem schweizerischen Bundesrecht (Art 69ff, 74ff chSchKG 5172 )
entnommen. Die Bestimmungen des Rechtsbotsverfahrens wurden zum Großteil eins-zu-
eins jenen des Schuldentriebverfahrens nachempfunden(§§ 593a ff ZPO).
Während das Mahnverfahren in der ursprünglichen (reinen) Form in Österreich für die 29.109
gerichtliche Praxis kaum Bedeutung erlangte und vielmehr nur in Form der sog Mahn-
klage, bei der das Mahngesuch in einer Klage gestellt wird und im Fall des Widerspruchs
das weitere Verfahren über die Klage stattfindet, üblich wurde, ist es in Liechtenstein
gerade umgekehrt. Dies hatte auch damit zu tun, dass nach dem Vermittleramtsgesetz
5173
(V AG) der Mahnklage zwingend ein Leitschein beigelegt sein musste (§ 42 Abs 3
V AG), das Mahngesuch jedoch auch schon vor Einleitung des Vermittlungsverfahrens
gestellt werden konnte (§ 42 Abs l Z 5 VAG). Auch nach Aufhebung des Vermittler-
amtsgesetzes mit l. 7. 2015 ist die Anzahl der mit einem Mahngesuch verbundenen
Mahnklagen iSd § 393 ZPO verschwindend klein (geblieben). 5174 Das Institut des Rechts-
5175
bots hat in Liechtenstein keine große Bedeutung.
B. Schuldentriebverfahren
1. Besondere Voraussetzungen
Der Gesetzgeber wollte mit dem Schuldentriebverfahren „für voraussichtlich unbestritte- 29.110
ne und nur aus Nachlässigkeit oder Mangel an Zahlungsmitteln nicht berichtigte" 5176
5177
Ansprüche auf Leistung von Geld oder anderen vertretbaren Sachen (§ 577 Abs l
5178
ZPO) ein besonderes gerichtliches Verfahren schaffen, um dem Gläubiger kosten-
günstig und schnell einen Exekutionstitel zu verschaffen. Aus diesem Grund hat der
Gläubiger in dem Gesuch um Erlassung des (bedingten) 5179 Zahlbefehls gern § 580 ZPO
erstens die Parteien genau zu bezeichnen und zweitens den Betrag der Forderung und
den Rechtsgrund derselben und, wenn die Forderung aus mehreren Posten besteht, den
Betrag jeder einzelnen Post und deren Rechtsgrund anzugeben. Die Angabe des Rechts-
grunds zwingt den Gläubiger nicht, eine strenge juristische Qualifikation vorzunehmen.
Vielmehr hat er den die rechtliche Grundlage bildenden Sachverhalt bloß eindeutig und
kurz zu bezeichnen, sodass auch für den Schuldner und für das Gericht bei der Prüfung
allfalliger Streitanhängigkeit oder Rechtskraft kein Zweifel besteht, welche Forderungen
von ihm eingemahnt wurden. Der Gläubiger im Schuldentriebverfahren ist somit nicht
5180
verpflichtet, seine Behauptungen zu beweisen oder auch nur glaubhaft zu machen.
29.111 Anders als nach der österr Rezeptionsvorlage ist das Zahlbefehlsgesuch nicht nur gegen
den „persönlichen" Schuldner zulässig. Dem Gesuch können auch Forderungen zugrun-
de gelegt werden, die sich aus einer Sachhaftung, also einer auf bestimmte Vermögens-
5181
stücke beschränkten Haftung ableiten. Dies war in der Rsp lange Zeit strittig, ist nun
jedoch iS der Zulässigkeit eines Zahlbefehls auch gegen den Realschuldner ausjudi-
ziert.5182 Das Zahlbefehlsbegehren lautet in Anlehnung an die österr Rechtspraxis dahin-
gehend, dass vom Drittpfandbesteller Zahlung (bis zur Höhe der Kapitalforderung) .,bei
sonstiger Exekution in die Pfandsache" begehrt wird.
29.112 Gegen Personen unbekannten Aufenthalts ist die Erlassung eines Zahlbefehls unzulässig
(§ 579 ZPO). 5183
29.113 Auf das Schuldentriebverfahren (und das Rechtsbotsverfahren 5184 ) haben die Gerichts-
ferien keinen Einfluss (§ 223 Abs 2 ZPO).
2. Verfahrensablauf
29.114 Das Gericht hat das Gesuch aufgrund der bloßen Angaben des Gläubigers - ohne Anhö-
rung des Schuldners (§ 581 Abs 1 ZPO) - zu erledigen. Im Schuldentriebverfahren ist
5179 „Bedingt" ist der Zahlbefehl insofern, als er nur dann vollstreckbar wird, wenn kein Wider-
spruch erhoben wird.
5180 Trotz mancher äußerer Ähnlichkeiten kann demgegenüber in den Urkundenprozessen, insb
dem Mandats- und Wechselmandatsverfahren, die Erlassung eines gerichtlichen Zahlungsauf-
trags nur erfolgen, wenn der Gläubiger seine Forderung nicht nur konkretisiert, sondern ih-
ren Bestand dem Gericht bereits in der Klage an Hand bestimmter qualifizierter Urkunden
nachgewiesen oder zumindest glaubhaft gemacht hat.
5181 Vgl etwa M. Frick, liechtenstein-journal 1/2012, 2ff.
5182 StGH 2016/142; StGH 2015/86 GE 2017/229.
5183 Probleme bereitet in der Praxis gelegentlich, dass sich erst bei der Zustellung des Zahlbefehls
herausstellt, dass der Schuldner unbekannten Aufenthalts ist. Die Bestellung eines Abwesen-
heits- bzw Zustellkurators ist in solchen Fällen ausgeschlossen, da dies im Widerspruch zu
§ 579 ZPO stehen würde (Fasching 11 1 60). Damit der Gläubiger in solchen Fällen den Anspruch
weiter gerichtlich betreiben und bspw in einem über seine Klage eingeleiteten streitigen Zivil-
verfahren einen Kurator für den abwesenden Schuldner beantragen kann, war es nach Lehre und
Rsp zum öMahnG notwendig und zulässig, dass das Gesuch um Erlassung eines Zahlbefehls
zurückgenommen wird. Diese Rücknahme wirkt diesfalls als ein Verzicht auf die Wirksamkeit
des Zahlbefehls bzw auf die dem Gläubiger aus dem Zahlbefehl entstandenen Rechte und stellt
eine Außerkraftsetzung des Zahlbefehls dar (Neumann, Kommentar 13 380; EvBl 1953/123).
5184 Eingefügt mit der ZPO-Nov 2018, LGBl 2018/207.
von der Richtigkeit der Angaben des Gläubigers auszugehen. Das Gericht hat lediglich zu
prüfen, ob das Gesuch in formeller Hinsicht den Anforderungen der§§ 577 bis 580 ZPO
entspricht. Eine inhaltliche Überprüfunf der geltend gemachten Forderung, bspw in An-
sehung der vorprozessualen Kosten 518 oder betreffend die Schuldnerposition 5186 , hat
nicht zu erfolgen. Entspricht das Gesuch den formellen Anforderungen und ergibt sich
ferner aus den Angaben des Gesuchstellers nicht, dass die Forderung überhaupt zurzeit
unstatthaft ist oder dass dieselbe noch durch eine Gegenleistung bedingt ist, so hat das
Gericht den Zahlbefehl zu erlassen. Im entgegengesetzten Fall ist das Zahlbefehlsgesuch
zurückzuweisen (§ 581 Abs 2 ZPO).
Der Befugnis des Gerichts, einen vollstreckbaren Zahlbefehl erlassen zu können, ohne 29.115
auch nur die Glaubhaftmachung der Forderung bzw ohne die Konkretisierung der an-
spruchsbegründenden Tatsachen verlangen zu können oder zu dürfen, stehen auf Seiten
des Schuldners weitgehende Bekämpfungsmöglichkeiten gegenüber. So kann der Schuld-
ner den Zahlbefehl durch die bloße Erklärung der Widerspruchserhebung außer Kraft
setzen, ohne seinerseits die anspruchsvernichtenden Tatsachen nachweisen oder nur vor-
bringen zu müssen. 5187
Dementsprechend bestimmt§ 584 ZPO, dass es bei der Erhebung des Widerspruchs der 29.116
Angabe von Gründen nicht bedarf. Zur Erhebung des Widerspruchs genügt die vom
Schuldner bei Gericht mündlich oder schriftlich abgegebene formlose Erklärung mit
dem Inhalt, dass er gegen den Zahlbefehl Widerspruch erhebt. Zur Gültigkeit des Wider-
spruchs ist die eigenhändige Unterschrift des Schuldners nicht erforderlich. 5188 Es ist
auch nicht unbedingt notwendig, dass das Wort „Widerspruch" tatsächlich gebraucht
wird, sofern aus der Erklärung selbst eindeutig hervorgeht, dass der Schuldner die Außer-
kraftsetzung des Zahlbefehls bewirken will. Das Gesetz begnügt sich mit jeder auch
schlüssigen Erklärung, der ein solcher Sinn deutlich entnommen werden kann. So kann
im Einzelfall etwa auch ein bloßer Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe oder ein
Wiedereinsetzungsantrag die vom Gesetz geforderte Bestreitungsabsicht des Schuldners
deutlich zum Ausdruck bringen. 5189 Will der Schuldner die Forderung nur teilweise be-
streiten, steht ihm die Möglichkeit der Erhebung eines Teilwiderspruchs zur Verfügung.
In diesem Fall hat er nach § 585 Abs 2 ZPO den bestrittenen Betrag genau anzugeben,
widrigenfalls der Widerspruch für die ganze Forderung gilt.
Der Zahlbefehl wird durch die bloße Erhebung des Widerspruchs außer Kraft gesetzt, er 29.117
„verliert seine Kraft" (§ 585 Abs 1 ZPO). Der Widerspruch vernichtet den Zahlbefehl
endgültig, er kann durch eine Zurückziehung des Widerspruchs nicht wieder aufle-
ben. 5190 Mit der Erhebung des Widerspruchs innerhalb der Widerspruchsfrist ist das
Mahnverfahren beendet und es ist Sache des Gläubigers, die zur Einleitung des ordent-
lichen Zivilprozesses erforderlichen Anträge zu stellen, soweit er nicht schon sein Zahl-
befehlsgesuch von vornherein für den Fall eines Widerspruchs mit einem Klagsantrag
verbunden hatte.
29.118 Das Gesuch um Erlassung des Zahlbefehls hat in Betreff der Streitanhängigkeit und der
Unterbrechung der Verjährung die Wirkung einer Klage (§ 589 ZPO). Da der Zahlbe-
fehl jedoch „bedingt" ist und durch den Widerspruch außer Kraft gesetzt werden kann,
bewirkt die Erhebung des Widerspruchs die Fortsetzung der Verjährungsfrist. Sie wird
nur so lange gehemmt, wie die Dauer vom Tag der Erlassung des Zahlbefehls bis zum
Einlangen des Widerspruchs bei Gericht beträgt.
29.119 Im Fall der Verbindung des Zahlbefehlsgesuchs mit einer Mahnklage(§ 593 ZPO) erhält
der Schuldner mit dem Zahlbefehl eine Rechtsbelehrung iSd § 593 Abs 2 ZPO zugestellt,
dass im Fall des Widerspruchs das weitere Verfahren über die Klage stattfinden werde.
Wenn der Schuldner gegen den Zahlbefehl Widerspruch erhebt, ist damit das Gesuch auf
Erlassung des Zahlbefehls gegenstandslos geworden und das Gericht hat die Tagsatzung zur
mündlichen Verhandlung auszuschreiben. Bei dieser mündlichen Verhandlung hat der
Schuldner/Beklagte alle Prozesseinreden vorzubringen, auch wenn er sie im Widerspruch
bereits vorgebracht hat, weil diese Einreden wirksam nur mündlich bei der ersten Verhand-
lung bis zur Sacheinlassung vorgetragen werden können(§§ 250,251 und 259 ZPO).
C. Rechtsbotsverfahren
29.120 Nach§ 593 a ZPO kann, abgesehen von Ausnahmen vornehmlich auf dem Gebiet des Fa-
milienrechts, zur Geltendmachung irgendeines Anspruchs auf Feststellung, Rechtsgestal-
tung, Leistung oder Unterlassung- ,,der Klage vorgängig oder gleichzeitig mit derselben"
- beim LG um die Erlassung eines Rechtsbots angesucht werden. Über das Rechtsbotsge-
such wird vom LG ohne Anhörung des Gegners entschieden(§ 593c Abs I ZPO). Gegen
das vorn Gericht erlassene Rechtsbot kann der Schuldner innerhalb einer Frist von 14 Ta-
gen Einspruch erheben, wobei dieser Einspruch, der schweizerischen Terminologie fol-
gend, als „Rechtsvorschlag" bezeichnet worden ist; der Rechtsvorschlag setzt das Rechtsbot
außer Kraft (§ 593 d Abs l Z 3 und 4 ZPO). Die Bestimmungen des Rechtsbotsverfahrens
sind - wie diese Aufzählung zeigt - großteils jenen des Schuldentriebverfahrens nachemp-
funden. In§ 593 e ZPO wird zudem ausdrücklich festgelegt, dass auf das Rechtsbotsverfah-
ren, soweit keine abweichenden Bestimmungen getroffen wurden, die Vorschriften über
das Schuldentriebverfahren (Mahnverfahren) ergänzende Anwendung zu finden haben.
29.121 Im Unterschied zur schweizerischen Rechtslage, wo der Rechtsvorschlag den Zahlungsbe-
fehl (das Rechtsbot) nicht endgültig aufhebt, sondern nur die Weiterführung der mit dem
Zahlungsbefehl (dem Rechtsbot) eingeleiteten Betreibung hemmt 5191 , haben das Rechtsbot
und der Rechtsvorschlag in Liechtenstein - durch die Angleichung des Rechtsbotsverfah-
rens an das Schuldentriebverfahren in§ 593e ZPO - eine abweichende verfahrensrecht-
liche Regelung dahingehend gefunden, dass der gegen ein Rechtsbot erhobene Rechtsvor-
5190 OGH 05 C 185/81 LES 1983, 125; OG E 942/74 ELG 1972, 203; Fasching II' 68.
5191 Staehelin in Staehelin/Bauer/Staehelin, SchKG I2 Art 78 Rz I mwN.
schlag durch bloße Erklärung ebenso wenig zurückgenommen werden kann wie der Wi-
derspruch gegen den Zahlbefehl. Durch die Erhebung des Rechtsvorschlags (Wider-
spruchs) wurde das Rechtsbot (der Zahlbefehl) außer Kraft gesetzt und endgültig ver-
nichtet. Was aber prozessual, also öffentlich-rechtlich endgültig vernichtet ist, kann durch
bloße private Willenserklärung in der früheren Form nicht mehr aufleben. 5192
D. Exkurs: Rechtsöffnungsverfahren
1. Besondere Voraussetzungen und Verfahren
Das liechtensteinische Schuldentrieb- und Rechtsbotsverfahren ist ohne Zusammenschau 29.122
mit dem Rechtsöffnungsverfahren nicht vollständig abgehandelt. Dieses wurde nach
schweizerischem Vorbild f:eschaffen, und zwar nach den Bestimmungen über die pro-
visorische Rechtsöffnung 51 3 (Art 49ff RSO 5194 ), und ist über die Neuregelung des Exe-
kutionsrechts hinaus in Geltung geblieben. Das Rechtsöffnungsverfahren kann gern
Art 49 Abs l RSO sowohl im Schuldentriebverfahren wie auch im Rechtsbotsverfahren
zwischen dem Zahlbefehl bzw Rechtsbot und dem ordentlichen zivilgerichtlichen Ver-
fahren eingeschoben werden. Nachdem im Schuldentrieb- und Rechtsbotsverfahren nur
Behauptungen, nicht aber Urkunden oder andere parate Beweismittel eine Rolle spielen,
soll durch die Ermöglichung der Einbringung von Urkunden oder anderen rasch greif-
baren Beweismitteln soweit Klarheit verschafft werden können, dass die Führung eines
aufwendigen Prozesses vermieden werden kann. 5195
Zweck des Rechtsöffnungsverfahrens ist es, die Betreibung einer Forderung in be- 29.123
stimmten, rasch bescheinigbaren Fällen nicht bis zur Einleitung eines ordentlichen Ver-
fahrens zu blockieren. Die Betreibung soll nicht stillstehen, sondern fortgesetzt werden
können, wenn die Forderung auf einer (inländischen oder ausländischen) öffentlichen
Urkunde 5196 oder auf einem durch die Unterschrift des Schuldners bekräftigten
29.124 Der Gläubiger kann im Rechtsöffnungsverfahren seinen Anspruch nur durch Urkunden
beweisen, die im Original oder in beglaubigter Abschrift vorgelegt werden müssen. Der
Schuldner hat seine - auch materiell-rechtlichen 5200 - Einwendungen gegen das Rechts-
öffnungsbegehren und gegen die Schuld durch Urkunden oder zur Verhandlung mit-
gebrachte Zeugen sofort glaubhaft zu machen; andere Mittel zur Glaubhaftmachung -
insb die Parteienvernehmung - sind nicht zulässig (Art 50 Abs 4 RSO). Die Glaubhaft-
machung besteht darin, dass mehr für die Verwirklichung der vom Schuldner behaupte-
ten und die Rechtsöffnung hindernden Tatsachen spricht als dagegen. Es sind dabei le-
diglich diejenigen Einwendungen des Schuldners relevant bzw vom Gericht zu berück-
sichtigen, als diese das Rechtsöffnungsbegehren und die geltend gemachte Schuld sofort
5201
zu entkräften vermögen.
29.125 Es findet grundsätzlich nur eine Verhandlung statt. Dem Gläubiger ist das Erscheinen
freigestellt. Bei unentschuldigtem Ausbleiben des Schuldners wird ohne weiteres auf
Grund der Akten entschieden; andere Versäumnisfolgen treten nicht ein (Art 50 Abs 3
RSO). Die Auferlegung einer Prozesskostensicherheit ist unzulässig. Das Rechtsöff-
nungsverfahren ist summarischer Natur und vom Gebot der Raschheit und Eilbedürftig-
keit geprägt und weist Parallelen zum Rechtssicherungsverfahren auf, in dem nach der
Rsp va aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung eine aktorische Kaution generell
nicht in Betracht kommt. 5202
5197 Art 49 Abs 2 lit b RSO nennt als Beispiele für private Schuldanerkennungen, ,,welche aus-
drücklich oder sonst in schlüssiger Weise ein unterschriftlich bekräftigtes Schuldanerkenntnis
enthalten, gleichgültig, ob diese Schuldanerkennung im Inlande oder Auslande erfolgt ist":
Anerkennung in einem Brief, einfacher Schuldschein, Obligo, unterschriebene Kontokor-
rent-Rechnungen, Kaufverträge, Bürgschaftsscheine, Check, Versicherungspolicen.
5198 Vgl BGE 119 III 67: Die Rechtsöffnung gehört zu den „rein betreibungsrechtlichen Streitig-
keiten".
5199 StGH 2009/096 GE 2011, 74; OGH 02 C 66/84 LES 1986, 128; 5 C 185/81 LES 1983, 131; OG
E 2853/97 LES 1999, 263; E 1025/87 LES 1988, 80; Staehelin in Staehelin/Bauer!Staehe/in,
SchKG 12 Art 84 Rz 68; BGE 93 II 436.
5200 StGH 2017/17; StGH 2013/81 GE 2013, 446.
5201 StGH 2016/60 GE 2018, 246; vgl auch OG E 5289/76 ELG 1973, 229.
5202 OGH 08 RÖ.2006.102 LES 2008, 62 (Unzulässigkeit der Auferlegung einer Prozesskostensi-
cherheit „jedenfalls im Rechtsmittelverfahren nach den Bestimmungen der Art 50 und 51
RSO"); OG 1. 12. 2010, 08 RÖ.2010.22 (Befreiung von der Kautionspflicht „nicht nur für
das eigentliche Rechtsöffnungsverfahren, sondern auch für die damit in Zusammenhang ste-
henden Zwischenverfahren."); überholt OG E 1740/76 ELG 1973, 223.
Der stattgebende Rechtsöffnungsbeschluss stellt nicht den durch den Widerspruch bzw 29.126
Rechtsvorschlag des Schuldners außer Kraft getretenen Zahlbefehl bzw das außer Kraft
getretene Rechtsbot wieder her, sondern schafft einen neuen Exekutionstitel. Dieser wird
aber erst und nur dann vollstreckbar, wenn die Klage auf Aberkennung der Forderung
nicht rechtzeitig eingebracht oder rechtskräftig abgewiesen worden ist (Art 1 lit d EO).
Seit der ZPO-Nov 2018 sind Rechtsöffnungsverfahren gern Art 49ff RSO Ferialsachen 29.127
(§ 224 Abs 1 Z 9 ZPO).
2. Aberkennungsklage
Während gegen den das Rechtsöffnungsgesuch abweisenden Beschluss der Rekurs zu- 29.128
lässig ist, kann der stattgebende Rechtsöffnungsentscheid (Beschluss) ausschließlich mit
der - innerhalb vierzehn Tagen nach Zustellung des Rechtsöffnungsentscheids einzu-
bringenden - Aberkennungsklage bekämpft werden; andere Rechtsmittel 5203 sind nicht
zulässig (Art 51 Abs 4 RSO). Gegenstand dieser Klage ist nicht mehr die Zulässigkeit
gewisser Vollstreckungsmaßnahmen, sondern der materielle Bestand der vom Aberken-
nungsbeklagten geltend gemachten Forderung. 5204 Die Aberkennungsklage richtet sich
nicht gegen das Rechtsöffnungsverfahren allein, sondern in erster Linie auf Feststellung,
dass die gesamte oder ein Teil der in Betreibung gesetzten Forderung nicht oder nicht
mehr besteht oder dass sie derzeit nicht eintreibbar ist; die Aufhebung der Rechtsöff-
nung stellt nur einen formellen Teil des Urteilsspruchs dar (Art 53 Abs 4 RSO). Der
Schuldner hat im Aberkennungsverfahren Gelegenheit, seinen Standpunkt in einem
ordentlichen Prozessverfahren und ohne Einschränkung der Beweismittel und Einreden
klarzulegen. Er kann sowohl alle Einreden gegen die Forderung vorbringen, die er be-
reits im Rechtsöffnungsverfahren geltend gemacht hat, die dort aber als unbegründet
erklärt wurden, als auch alle anderen, selbst wenn sie erst nach der Rechtsöffnung ent-
standen sind. 5205
Die Aberkennungsklage ist nicht betreibungsrechtlicher Natur, sondern eine durch das 29.129
Gesetz vorgesehene materiell-rechtliche negative Feststellungsklage. 5206 Gläubiger und
Schuldner stehen sich hier in der Auseinandersetzung um das materielle Recht gegen-
über. Es ist dieselbe Lage wie im ordentlichen Verfahren gern Art 51 Abs 2 lit b RSO, aber
mit vertauschten Parteirollen. Der Kläger in der Aberkennungsklage ist der betriebene
Schuldner (Rechtsöffnungsgegner), Beklagter ist der betreibende Gläubiger (Rechtsöff-
nungswerber). Der Kläger/Schuldner muss das Nichtbestehen der Forderung nur be-
haupten, der Beklagte/Gläubiger dagegen muss das Gegenteil beweisen. Im Aberken-
nungsverfahren muss die beklagte Partei daher ihre Forderung behaupten und beweisen,
5203 OGH 02 CG.2013.213 LJZ 2015 35/2; 01 CG.2008.125 LES 2010, 162 mwH: Die Aberken-
nungsklage ist kein Rechtsmittel gegen den Rechtsöffnungsentscheid; dieser wird im Aber-
kennungsverfahren nicht überprüft; allfällige Mängel des Schuldentrieb- oder des Rechtsöff-
nungsverfahrens sind für das Aberkennungsverfahren nicht wesentlich.
5204 OGH 02 C 66/84 LES 1986/128.
5205 OGH 08 CG.2010.262 LES 2014, 117.
5206 StGH 2009/096 GE 2011, 74; OGH 10 CG.2011.63 GE 2013 100; 2 C 66/84 LES 1986, 128;
E 2551/76 LES 1981, 207; Staehelin in Staehe/in/Bauer/Staehe/in, SchKG 12 Art 83 Rz 14ff
mHa die Rsp des BGer.
5207 OGH 02 C 66/84 LES 1986, 128; 05 C 185/81 LES 1983, 125; OG E 1025/87 LES 1988, 80.
5208 OGH 03 CG.2014.447 LES 2015, 247.
Übersicht
Rz
1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ........... 30. l
II. Internationaler Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . ........... 30.3
III. Schiedsvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ........... 30.5
A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ........... 30.5
B. Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ........... 30.10
C. Sonstige Ausnahmen von der Schiedsfähigkeit . . . . ........... 30. l 5
D. Konsumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ........... 30.18
E. Intertemporales Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ........... 30.25
IV. Die Tätigkeit als Schiedsrichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . ........... 30.27
V. Einwendung im gerichtlichen Verfahren . . . . . . . . . . . ........... 30.30
A. Rügeptlicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ........... 30.30
B. Mittellose Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ........... 30.31
VI. Rechtsbehelf gegen den Schiedsspruch . . . . . . . . . . . . . ........... 30.32
VII. Verfahren vor den ordentlichen Gerichten . . . . . . . . . . ........... 30.41
VIII. Anerkennung und Vollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . ........... 30.46
A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ........... 30.46
B. Das New Yorker übereinkommen . . . . . . . . . . . . . ........... 30.50
C. Verfahren zur Anerkennung und Vollstreckung ausländischer
Schiedssprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ........... 30.53
IX. Die Liechtenstein Rules . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ........... 30.55
A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ........... 30.55
B. Kürze und Übersichtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . ........... 30.59
C. Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ........... 30.60
D. Vertraulichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ........... 30.61
E. Berücksichtigung der Interessen mittelloser Parteien ........... 30.62
1. Allgemeines
Das Schiedsverfahren der§§ 594ff ZPO wurde mit einer Nov im Jahr 2010 reformiert. 30.1
Wie die übrigen Bestimmungen der liechtensteinischen ZPO sind auch jene über das
Schiedsverfahren fast vollständig an das österr Vorbild angelehnt. Bis auf einige wenige
Ausnahmen entsprechen deshalb die §§ 594 bis 635 ZPO beinahe wortwörtlich den
§§ 577 bis 618 öZPO. Die österr Regelung folgte ihrerseits wiederum weitgehend dem
UNCITRAL Model Law on International Commercial Arbitration 19855210 . Folglich ent-
5209 Dr. Nina Schmied leistete wertvolle Vorarbeiten, für die ich danke.
5210 UNCITRAL Modellgesetz, ergänzt 2006.
III. Schiedsvereinbarung
A. Allgemeines
30.5 Mit einer Schiedsvereinbarung unterwerfen die Parteien gern § 598 ZPO alle oder einzel-
ne Streitigkeiten, die zwischen ihnen in Bezug auf ein bestimmtes Rechtsverhältnis ver-
traglicher oder nichtvertraglicher Art entstanden sind oder künftig entstehen, der Ent-
scheidung durch ein Schiedsgericht. Wie die öZPO unterscheidet auch das liechtenstei-
nische Gesetz in § 599 ZPO hinsichtlich der Schiedsfähigkeit einerseits vermögensrecht-
liche und nicht vermögensrechtliche sowie andererseits öffentliche und private
Ansprüche.
30.6 Gegenstand einer Schiedsvereinbarung kann zunächst grundsätzlich jeder vermögens-
rechtliche Anspruch sein, über den von den ordentlichen Gerichten zu entscheiden ist.
Sind Ansprüche in Liechtenstein vor Verwaltungsbehörden geltend zu machen, sind sie
nach § 599 Abs I ZPO vom Anwendungsbereich grundsätzlich ausgenommen.
30.7 Schließen Parteien eine Schiedsvereinbarung für nicht vermögensrechtliche Ansprüche
ab, so hat sie nur insofern rechtliche Wirkung, als die Parteien über den Gegenstand des
Streits einen Vergleich abschließen können. Diese Ausnahmebestimmung umfasst so-
wohl privatrechtliche als auch solche Ansprüche, welche vor Verwaltungsbehörden gel-
tend zu machen sind. Zu prüfen ist hier, ob die Parteien über den Streitgegenstand einen
Vergleich abschließen können. 5214
Maßgeblich für die Bestimmung der objektiven Reichweite einer Schiedsklausel ist 30.8
deren Text unter Berücksichtigung vernünftiger und den Zweck der Klausel favorisier-
ender Auslegung und Anwendung sämtlicher Auslegungsgrundsätze, einschließlich des
Grundsatzes der ausdehnenden Auslegung. 5215
Im Jahr 2017 wurde die Notwendigkeit einer Spezialvollmacht zum Abschluss von 30.9
Schiedsklauseln in § 1008 ABGB abgeschafft, während eine solche in Österreich noch
notwendig ist. 5216
B. Gesellschaftsrecht
Gesellschaftsrechtliche Ansprüche oder Vorgänge sind nach überwiegender Lehre auf- 30.10
grund ihrer vermögensrechtlichen Natur umfassend schiedsfahig; auf die Vergleichsfä-
higkeit des Anspruchs kommt es hier nicht (mehr) an, 5217 wobei Einschränkungen im
Rahmen der gerichtlichen Aufsicht bestehen (s Rz 30.14). Nicht schiedsfahig sind etwa
die Feststellung der gültigen Errichtung sowie die Auflösung und Löschung einer Ver-
bandsperson. 5218
Die von Walser vorgeschlagene Differenzierung innerhalb des Gesellschaftsrechts nach 30.11
gewinnorientierten und ideellen Zwecken sowie die aufgeworfenen Fragen des Persön-
lichkeitsrechts der juristischen Personen bringen mehr Probleme mit sich, als sie lö-
sen.5219 Es ist nicht nötig, .,vermögensrechtlich" mit „gewinnorientiert" gleichzusetzen.
„Vermögensrechtlicher Natur" sind nach hM alle Streitigkeiten, denen eine (im weitesten
Sinn) vermögensrechtliche Anspruchsgrundlage zugrunde liegt, oder die (wenn auch
nicht auf vermögensrechtlicher Grundlage) auf eine vermögenswerte Leistung gerichtet
sind. 5220 Juristische Personen sind Vermögensmassen mit fiktiver eigener Persönlichkeit
und daher per se „vermögensrechtlicher Natur". Wollte man die Differenzierung nach
Walser vornehmen, müsste man sie auch bei rein schuldrechtlichen Rechtsgeschäften
argumentieren, je nachdem, ob Gewinnabsicht besteht oder nicht, was, soweit ersicht-
lich, nicht vertreten wird. Rsp zu dieser Frage gibt es keine.
30.12 Verantwortlichkeitsansprüche oder sonstige Streitigkeiten nach Art 114 PGR sind
5221
schiedsfahig. Das gilt bspw auch für Streitigkeiten zwischen einem Gründerrechts-
inhaber oder den Begünstigten einer Anstalt mit der Anstalt oder unter sich, gleich-
gültig, ob die Beteiligten die Statuten unterzeichnet haben oder nicht. 5222 Art I 14 PGR
statuiert nur einen örtlichen Zwangsgerichtsstand, der aber auch für Schiedsgerichte
5223
gilt. Welche Konsequenz ein Verstoß hat, ist unklar. Ein Aufhebungsgrund kann
es zumindest in Liechtenstein nicht sein, weil ein ausländischer Schiedsspruch hier
5224
nicht angefochten werden kann. Ob ein solcher Schiedsspruch im Inland anerkannt
5225
wird, ist unklar. Zudem stellt sich die Frage, ob überhaupt eine anerkennungsfähige
Form der Schiedsklausel vorliegt. 5226
30.13 Für Treuhänderschaften nach ausländischem Recht, die in Liechtenstein errichtet wer-
den, sieht Art 93 I PGR ein obligatorisches Schiedsgericht für Streitigkeiten zwischen
Treugeber, Treuhänder und Begünstigten vor. Aus dieser Bestimmung ergibt sich, dass
ein Schiedsgericht für Treuhänderschaften nach inländischem Recht ebenfalls zulässig
5227
ist. Veröffentlichte Judikatur zur Schiedsfähigkeit aufsichtsrechtlicher Maßnahmen
bei Treuhänderschaften ist nicht vorhanden, aber der gesellschaftsrechtliche Unter-
schied zur Stiftung sollte nicht vergessen werden. Eine Treuhänderschaft ist letztlich
ein schuld- und sachenrechtliches Netz von Rechtsbeziehungen zwischen den Beteilig-
ten, keine eigenständige juristische Person. So ist eine Abberufung eines Treuhänders
und ein Leistungsbegehren, der alte Treuhänder habe das Treugut an den neuen he-
rauszugeben, im Ergebnis das gleiche. Wie die Gerichte das einordnen, muss man ab-
warten.
5221 OG I CG.2011.190 LES 2012, 122; OGH 05HG.2011.28 GE 2011, 187 (Erw 6.2); LGVK G 30/
80 LES 1982, 166 (19); Gasser in Heiss, Rechtsreform 73.
5222 OGH 03 C 214/79-56 LES 1987, 14.
5223 Schumacher, LJZ 2011, 105; Walser, Schiedsfähigkeit 184ff mwN; Czernich, LJZ 2012, 61; Rsp
wie in FN 13.
5224 Ebenso Gasser in Heiss, Rechtsreform 74.
5225 Für die Anerkennung Czernich, LJZ 2012, 60f. Es ist auch unklar, ob ein solches Schiedsver-
fahren im Ausland im Inland Sperrwirkung nach § 501 ZPO entfaltet.
5226 Zweifel an einer reinen, nicht separat unterzeichneten Schiedsklausel in Statuten als gültige
Form nach dem NYÜ äußert Czernich, LJZ 2012, 62 mwN.
5227 Ebenso Walser, Schiedsfähigkeit 220ff.
5228 OGH 5 HG.2015.123 GE 2017, 92 = LES 2016, 66; 10 HG.2008.18 LES 2009, 253; 05
HG.2011.28 GE 2011, 187 (Erw 6.2); 10 HG.2008.5 LES 2010, 31 l; StGH 2011/181 GE 2013,
168. Zu erwähnen ist jedoch, dass die früheren Entscheidungen (eher) von einer zwingenden
subsidiären Zuständigkeit des Gerichts sprechen und erst OGH 5 HG.2015.123 GE 2017, 92 =
LES 2016, 66 (nur) von mangelnder Schiedsfähigkeit spricht, ohne auf den Unterschied einzu-
gehen. Der Unterschied käme bei einem abgeschlossenen Schiedsverfahren im Bereich des Auf-
sichtsrechts zum Tragen. Bei zwingender subsidiärer Zuständigkeit des Gerichts, aber schieds-
fähiger Materie kann sich ein Schiedsgericht für zuständig erachten. Es würde keine Aufhebung
nach § 628 Abs 2 lit 7 ZPO erfolgen können und der Schiedsspruch wäre bindend. Die vom
OGH vertretene Ansicht der Bindung des Aufsichtsgerichts an die Entscheidung eines Schieds-
ehe sind jedoch durchaus schiedsfähig. 5229 Zu letzteren gehören stiftungsrechtliche An-
sprüche des streitigen Verfahrens 5230 , aber auch Materien des Außerstreitverfahrens 5231 ,
5232
wie Informationsrechte von Begünstigten oder Organen der Stiftung5233 • Objektiv
schiedsfähig ist auch ein Feststellungsbegehren, dass eine bestimmte Person Organ der
Stiftung ist, unabhängig davon, ob die Stiftung der öffentlich-rechtlichen Stiftungsauf-
sicht untersteht oder nicht. 5234
gerichts passt nicht wirklich ins System und könnte eine Einzelfallentscheidung bleiben
(OGH 10 HG.2008.5 LES 2010, 311). Siehe zu all dem auch die Kritik von Reithner/Blasy,
LJZ l /2012, 24; Gasser, PSR 3/2012, 112 f, und demselben in Heiss, Rechtsreform 70 ff, der sich
auf die Gesetzesmaterialien stützen kann.
5229 Ausf Walser, Schiedsfähigkeit 228 ff.
5230 OG SO.2017.1 LES 2017, 216 (218).
5231 OGH 5 HG.2015.123 GE 2017, 92 = LES 2016, 66/1: ,.Damit ist die Zulässigkeit von Schieds-
vereinbarungen für Ausserstreitmaterien nicht strittig, soweit sie nicht unter jene fallen, die in
§ 599 Abs 2 ZPO angeführt sind." (Erw 14 mwN).
5232 OGH 5 HG.2015.123 GE 2017, 92 = LES 2016, 66/1 (Erw 16.6); StGH 2012/94 GE 2013, 285 =
LES 2013, 68.
5233 OG SO.2017.1 LES 2017, 216 (218).
5234 OG SO.2017.1 LES 2017, 216 (218).
5235 BuA 2010/53, 11, zu§ 599 Abs 2 und Abs 3.
5236 Art 167 Abs 1 PGR.
5237 Walser, Schiedsfähigkeit 163 ff.
D. Konsumenten
30.18 Die Konsumentenschutzbestimmung des § 634 ZPO ist eine liechtensteinische Besonder-
heit und unterscheidet sich sowohl von § 617 öZPO als auch von der schweizerischen
Rechtslage, die gar keine konsumentenrechtlichen Sonderbestimmungen kennt. § 634
Abs I ZPO beseitigt mit dem Abstellen auf natürliche Personen die Diskussion, ob be-
stimmte juristische Personen auch Konsumenten sein können, wie das in Österreich teil-
weise so gesehen wird.
30.19 Steht ein Unternehmer einer natürlichen Person als Nicht-Unternehmer gegenüber, so
können diese für bereits bestehende Differenzen unter den Formvorschriften des § 598
ZPO ohne weiteres eine Schiedsvereinbarung abschließen. Für zukünftige Streitigkeiten,
was der typische Fall ist, gelten hingegen die Formvorschriften des § 634 Abs I Z 2 ZPO.
Es braucht also ein eigenständiges Dokument, das nur die Schiedsvereinbarung und die
Bestimmungen enthält, die sich auf das Schiedsverfahren beziehen, und die Beratung
oder Vertretung durch einen Rechtsanwalt beim Abschluss der Schiedsvereinbarung, wo-
bei dieser die Beratung schriftlich zu bestätigen hat.
30.20 Der Gesetzgeber hat auch die Unsicherheit in Bezug auf Gesellschaftsverträge und ähn-
liche Urkunden in § 634 Abs 2 ZPO beseitigt, die unabhängig von dieser Schutzbe-
stimmung immer gültig sind. Das war nötig, um Einheitlichkeit und damit Rechtssi-
cherheit bei mehreren Gesellschaftern mit unterschiedlichem Unternehmerstatus zu
schaffen.
30.21 Für die typischen liechtensteinischen Sachverhalte bezüglich Stiftungen ist zunächst zu
prüfen, ob überhaupt ein Rechtsgeschäft zwischen einem Unternehmer und einer natür-
lichen Person vorliegt. Das ist bei Stiftungsgründung nicht der Fall, denn dabei handelt es
sich um ein einseitiges, nicht empfangsbedürftiges Rechtsgeschäft. Ebenso ist die Bestel-
lung zum Begünstigten (meist im Reglement) ein stiftungsinterner Vorgang, der weder
empfangs- noch zustimmungsbedürftig ist. Die einzelnen Ausschüttungen sind zwar an-
nahmebedürftig, aber immer noch einseitige Rechtsgeschäfte wie die Schenkung. Die
Bindung des Begünstigten an die Schiedsklausel, ähnlich einer Auflage bei der Sehen-
kung, die der Beschenkte nur mit Auflage annehmen oder insgesamt ablehnen kann, ist
anerkannt. 5239
Für Konsumenten gelten darüber hinaus die erweiterten Anfechtungstatbestände des 30.22
§ 634 Abs 3 und 4 ZPO.
Zu beachten ist auch, dass sich die Rechtslage in Liechtenstein zur Unternehmereigen- 30.23
schaft bei juristischen Personen von der österr leicht unterscheidet. In Liechtenstein gibt
es zwar anders als in Österreich keine Unternehmer kraft Rechtsform; dafür kennt das
liechtensteinische Recht (wie früher auch das österr Recht 5240 ) den Formkaufmann.
Gern§ 33 Abs 2 iVm Abs 1 SchlT PGR sind alle Gesellschaften mit Rechtspersönlichkeit
Kaufleute kraft ihrer Rechtsform. Zu den Gesellschaften mit Rechtspersönlichkeit zählen
insb die AG, die GmbH, die Stiftung, die Anstalt und das registrierte Treuunterneh-
men.5241 Der (älteren) österr Lit folgend, sind diese Formkaufleute auch Unternehmer
iS des KSchG. 5242 Diese Rechtslage führt zum Ergebnis, dass in Liechtenstein alle juristi-
schen Personen des Privatrechts als Unternehmer iS des KSchG zu kategorisieren
sind. 5243 Sie können also ohne die Formgebote des § 634 ZPO Schiedsvereinbarungen
mit anderen Unternehmern abschließen, müssen aber in Verträgen mit natürlichen Per-
sonen diese Bestimmung beachten.
Erwähnenswert ist, dass § 634 ZPO nicht zum ordre public gehört und daher auch kein 30.24
Grund zur Versagung der Vollstreckung eines ausländischen Schiedsspruchs nach Art V
Abs 2 lit b NYÜ (öffentliche Ordnung) ist. 5244
E. lntertemporales Recht
Die Übergangsbestimmung der Reform 2017 zu den neuen§§ 634 und 635 ZPO (LGBI 30.25
20 l 7/170) regelt, dass Schiedsvereinbarungen, welche vor dem Inkrafttreten abgeschlos-
sen wurden, unabhängig vom neuen Recht gültig sind, wenn die natürliche Person sich
auf die Schiedsvereinbarung beruft. Das ist prinzipiell einleuchtend, denn nach dem
neuen Recht kann für bereits entstandene Streitigkeiten - und eine solche muss es geben,
damit sich jemand auf die Schiedsklausel „berufen" kann - die natürliche Person ohne
Weiteres eine Schiedsvereinbarung treffen (§ 634 Abs 1 ZPO). Beruft sich der Unterneh-
mer auf die Schiedsklausel, gilt e contrario, dass alte Schiedsvereinbarungen „abhängig
vom neuen Recht" gültig sind. Es kommt also neues Recht zur Anwendung.
Die Übergangsbestimmungen bei der Schiedsrechtsreform 2010 bestimmten, dass sich 30.26
die Wirksamkeit von Schiedsvereinbarungen, die vor dem Inkrafttreten abgeschlossen
5239 Reithner!Ehlich, A YIA 2016, 25 mwN, insb StGH 25. 10. 2010 GE 2014, 295 (Erw 4.3); Blasy/
Reithner in Schurr, Generationenwechsel 137; zust Czernich, LJZ 2012, 63 f.
5240 Vor Inkrafttreten des UGB.
5241 § 33 Abs 2 iVm Abs I Sch!T PGR bleibt in der Arbeit von Gstöhl, Schiedsvereinbarung 142,
unberücksichtigt.
5242 Krejci in Rummel, ABGB ll/i3 § l KSchG Rz 7, 13; Apathy in Schwimann, ABGB IV/i1 § l
KSchG Rz 2.
5243 Blasy!Reithner in Schurr, Generationenwechsel 140ff; zust Gasser in Heiss, Rechtsreform 76
mwN.
5244 Blasy/Reithner in Schurr, Generationenwechsel 151 mwN, insb öOGH 3 Ob 144/09m JBI
2010, 255.
worden waren, nach den bisher geltenden Bestimmungen richte. 5245 Das ist in der Praxis
eine Bestimmung, die leicht übersehen wird. Walser meint dazu, dass das Auswirkungen
auf die objektive Schiedsfähigkeit habe, also diese bei altrechtlichen Schiedsklauseln, va in
alten Statuten, nach altem Recht zu beurteilen ist (arg „ Wirksamkeit"). 5246 Das führte
dazu, dass für alte Klauseln nur auf die Vergleichsfähigkeit abzustellen sei (§ 594 Abs 1
ZPO aF). ME ist die Frage der objektiven Schiedsfähigkeit, also welche Materien ein
Schiedsgericht entscheiden darf und welche nicht, eine Frage des Prozessrechts und keine
der Wirksamkeit der Schiedsklausel selbst. Somit ist bei der Beurteilung der objektiven
Schiedsfähigkeit die jeweils geltende Fassung des Gesetzes anzuwenden. Davon zu unter-
scheiden ist die Frage, ob sich eine Person gültig einer Schiedsklausel unterwerfen konn-
te, also Aspekte der Vertretung, Vertragsform etc. Nur diesbezüglich ist auf das alte Recht
abzustellen.
B. Mittellose Parteien
Wird einer Partei im staatlichen Verfahren über einen von einer Schiedsvereinbarung 30.31
erfassten Streitgegenstand die Verfahrenshilfe gewährt, dann ist davon auszugehen, dass
sie zur Tragung der Kosten dieses Schiedsverfahrens nicht in der Lage ist. Eine Prognose
über den Umfang und die Dauer des Schiedsverfahrens ist unnötig. In einem Schiedsver-
fahren sind grundsätzlich die Kosten der Schiedsrichter in Form von Kostenvorschüssen
von den Parteien zu erlegen. Abgesehen davon ist regelmäßig eine Vertretung durch
einen Rechtsanwalt erforderlich. Wer freilich iS des § 63 Abs 1 ZPO schon nicht in der
Lage ist, die »Kosten der Führung des Verfahrens ohne Beeinträchtigung des notwen-
digen Unterhalts zu bestreiten", der ist auch nicht in der Lage, die Kosten eines Schieds-
verfahrens zu bestreiten. Der Gegner der mittellosen Partei kann den Einwand der Mit-
tellosigkeit dadurch entkräften, dass er sich ausdrücklich bereit erklärt, die Kosten des
Schiedsverfahrens für den Gegner vorzustrecken. Wählt die mittellose Partei direkt den
Weg vor das staatliche Gericht und gibt der Prozessgegner die notwendige Erklärung
nicht ab, gilt das verfahrensrechtlich als ein Abgehen von der Zuständigkeit des Schieds-
gerichts für das entsprechende Verfahren. 5253 Die Schiedsvereinbarung an sich bleibt also
unberührt und kann in anderen Verfahren weiter eingewandt werden.
30.33 Die Anfechtungsgründe des § 628 ZPO (und, falls anwendbar, des § 634 Abs 3 und 4
ZPO) sind identisch mit jenen der öZPO. Es gibt nicht viele inländische Entscheidungen
und keine zum neuen Recht. Es wurde aber bereits zur alten Rechtslage l<largestellt, dass
• es gerade nicht Zweck der Aufhebungsl<lage ist, einen Schiedsspruch dahingehend zu
prüfen, ob und wie weit das Schiedsgericht die Tat- und Rechtsfragen richtig gelöst
hat,s2s1
• eine bloß lückenhafte Sachverhaltsfeststellung oder mangelhafte Erörterung rechtser-
heblicher Tatsachen keinen Aufhebungsgrund bildet und der Schiedsspruch auch dann
wirksam ist, wenn das Schiedsgericht Beweisanträge überging oder zurückwies bzw den
5258
Sachverhalt unvollständig ermittelte.
30.34 Wie Gasser richtig ausführt, sind behauptete oder tatsächliche Fehler bei der Auslegung
von Stiftungsstatuten oder des Stifterwillens kein Verstoß gegen den ordre public und
sohin kein tauglicher Aufhebungsgrund. 5259
30.35 Batliner/Gasser vertreten die Ansicht, dass zu Gunsten von Personen, die von einer sta-
tutarischen Schiedsl<lausel erfasst sind, diese aber nicht unterzeichneten ( non-signatory),
eine tiefere Aufhebungsschwelle bestehe. 5260 Das ist mE nicht richtig. Zudem fußt die
Theorie auf dem Gedanken, dass ein non-signatory dem Schiedsgericht nicht zustimmte,
5261
was sich aus den zitierten Beispielen für gebundene non-signatories nicht ergibt.
30.36 Ein Schiedsurteil ist kein Akt der öffentlichen Gewalt und kann als solches nicht selbst-
ständig beim StGH angefochten werden. 5262 Die beschwerte Partei muss eine Klage auf
Aufhebung des Schiedsspruchs beim OG einbringen. Nur dieses Urteil des OG kann
beim StGH angefochten werden (s dazu Rz 30.42).
30.37 In Österreich ist die Besetzung des Schiedsgerichts mit einem Richter nur eine dienst-
rechtliche Ordnungsvorschrift, die keine Mangelhaftigkeit des Schiedsverfahrens nach
sich zieht. Nueber meint, dass in Liechtenstein die Besetzung mit einem vollamtlichen
5263
Richter ein Aufhebungsgrund sei, weil die Frage in § 605 ZPO geregelt sei. Das ist
mE nur dann richtig, wenn der Anfechtungswerber von der Tatsache erst nachträglich
erfahrt, denn die Norm richtet sich an den Richter (,,Vollamtliche Richter dürfen [... ]
eine Bestellung als Schiedsrichter nicht annehmen." [Hervorhebung hinzugefügt)) und es
5257 OGH 4 CG.2008.14 LES 2010, 239; 8 EX.2008.332 LES 2009, 48; vgl auch Schumacher, LJZ
2011, 105.
5258 OGH 4 CG.2008.14 LES 2010, 239.
5259 Gasser, PSR 3/2012, 119 mit Verweis auf OGH 5.2.2010 CG.2008.14 (25).
5260 Batliner/Gasser in FS Baudenbacher 705ff; im Ergebnis gleich Gasser, PSR 3/2012, 119.
5261 Die Autoren unterstellen, dass sich die Begünstigten nicht freiwillig der Schiedsklausel unter-
worfen hätten. Gleichzeitig konzediert Gasser im zitierten PSR-Beitrag (FN 52), dass die Be-
günstigten einer Stiftung durch (freiwillige) Annahme der Begünstigung an die Statuten und
damit an die Schiedsklausel gebunden sind, will aber auf die Schriftlichkeil der Annahme
abstellen. Rein auf die Unterzeichnung eines Dokuments bei der Freiwilligkeit abzustellen,
ist kein überzeugender Ansatz. Die Ansicht hebelt im übrigen den Sinn der Schiedsklausel
aus. da sie zu einer umfassenden revision au fond führt. Generell zur Bindung von Destinatä-
ren zB Czernich, LJZ 2012, 62f mwN.
5262 StGH 2008/046 GE 2010, 472.
5263 Nueber in Czernich/Deixler-Hübner/Schauer, Schiedsrecht Rz 18.10.
ist kein Grund ersichtlich, zwischen diesem Ablehnungsgrund und einem anderen zu
differenzieren, schon gar nicht, wenn man den Zweck der Norm bedenkt.
Sachverhaltsfeststellungen sind nicht bekämptbar und das Gegenteil lässt sich nur bei 30.38
extremen Fällen argumentieren. Zur alten Rechtslage schloss der OGH eine derartige
Bekämpfung kategorisch aus, obwohl nach der alten Rechtslage die Anfechtung leichter
als heute war. 5264 Klar ist jedenfalls, dass unrichtige Sachverhaltsfeststellungen nur im
Rahmen des Verstoßes gesen den ordre public geltend gemacht werden könnten, was
kaum je der Fall sein wird.~ 265 Bei Erhebung der Aufhebungsklage ist daher vom festge-
stellten Sachverhalt auszugehen.
§ 628 Abs 4 ZPO normiert, dass eine Klage auf Aufhebung innerhalb von vier Wochen 30.39
zu erheben ist. Diese Frist beginnt mit jenem Tag, an dem der Kläger den Schiedsspruch
oder den ergänzenden Schiedsspruch empfangen hat. Sie ist im Vergleich zum österr
Recht kurz; hier beträgt die Frist drei Monate. Der liechtensteinische Gesetzgeber wollte
ein rascheres Verfahren. 5266
Eine Anfechtungsklage hindert nicht die Vollstreckbarkeit des Schiedsspruchs, Jedoch 30.40
kann die Exekution auf Antrag aufgeschoben werden (Art 24 Abs l lit a E0). 526 Dazu
muss Aussicht auf Erfol~ bestehen und müssen die strengen Voraussetzungen des Art 26
Abs l EO gegeben sein. 268
5264 Nach§ 612 Z 6 ZPO aF war der Schiedsspruch schon anfechtbar, wenn er gegen zwingendes
Recht verstieß.
5265 Für die Beurteilung der ordre public-Widrigkeit ist auf das Ergebnis, nicht auf die Begründung
abzustellen (öOGH 2 Ob 22/14w ecolex 2015/243, 586 {Wol/mann!Hlina]), womit eine An-
fechtung mE zumindest nicht völlig ausgeschlossen ist. Die Anfechtung der Beweiswürdigung
muss in extremen Fällen möglich sein, wie etwa dann, wenn Schiedsrichter die Beweiswürdi-
gung auf rassistischer oder sonst mit der liechtensteinischen Werteordnung unvereinbarer
Basis vornehmen würden. Dies ist zugegebenermaßen aber ein eher theoretisches Szenario.
Nur eine falsche oder kaum nachvollziehbare Beweiswürdigung ist noch kein Verstoß gegen
den ordre public.
5266 BuA 2010/53, 17 zu§ 628 Abs 4 ZPO.
5267 Walser, Schiedsfähigkeit 482 ff.
5268 OGH 8 EX.2008.332 LES 2009, 48; 4 CG.2008.14 LES 2010, 239 (I b).
5269 BuA 2010/53, 17 zu§§ 632 und 633 Abs l ZPO.
5270 Walser, Schiedsfähigkeit 473 ff.
Um einen Schiedsspruch vollstrecken zu können, muss sich eine Partei daher heute auf 30.49
eines der drei eiwähnten Abkommen stützen können, wovon sicher das NYÜ das Wich-
tigste ist.
5275 Dasser/Reithner, Liechtensteinische Schiedsordnung 10; Abkommen mit der Schweiz LGBI
1970/14 und mit Österreich LGBI 1975/20.
5276 Czernich. Jus & News 1/2012, 17.
5277 Abrufbar unter wwv,.newyorkconvention.org (abgerufen am 18.4.2019). Authentische Texte
und Übersetzungen sind in den Sprachen Englisch, Französisch, Russisch, Spanisch und Chi-
nesisch verfügbar. Eine deutsche Übersetzung ist zwar verfügbar, aber nicht amtlich.
5278 Dasser/Reithner, Liechtensteinische Schiedsordnung 10.
5279 Abrufbar unter www.newyorkconvention.org (abgerufen am 18. 4. 2019) unter der Rubrik
,.List of Contracting States".
5280 BuA 2011/47; Vorbehalt in LGBI 2011/325 (nach Art XVI NYÜ).
30.52 Mit einem Handelssachenvorbehalt (Art I Abs 3 Satz 2 NYÜ) kann ein Vertragsstaat er-
klären, dass er das übereinkommen nur auf Streitigkeiten aus solchen vertraglichen oder
nichtvertraglichen Rechtsverhältnissen anwenden wird, die nach seinem innerstaatlichen
Recht als Handelssachen angesehen werden. Einen Handelssachenvorbehalt hat Liechten-
stein nicht erklärt.
nicht der Fall ist, ist die unterbliebene Vorlage ein (verbesserungsfähiger) Mangel und
kann diese, allenfalls nach Aufforderung des Gerichts, nachgeholt werden. 5286
• Die Vorlage des Originals oder einer beglaubigten Kopie der Schiedsvereinbarung nach
Art IV Abs l lit b NYÜ ist nur über Aufforderung des Gerichts nötig (§ 631 Abs 2
ZPO). Zu beachten ist, dass die Formvorschriften im Fall von vom Begünstigten nicht
unterzeichneten Statuten oder Reglementen nach inländischem Recht erfüllt sind, so-
hin auch die Erleichterung nach § 631 ZPO greift. 5287
• Der bloße Umstand, dass gegen den Schiedsspruch eine Autbebungsklage im Ur-
sprungsstaat anhängig ist, ist kein Anerkenntnishindernis nach Art V Abs 1 lit e
NYÜ. Ebenso braucht es keine staatliche Vollstreckbarkeitserklärung im Ursprungs-
staat (Exequatur), selbst wenn das dort vorgesehen sein sollte. 5288
Vertraulichkeit der Materie oder nur minimale (und damit günstige) Administrierung
durch eine Institution.
30.57 Obwohl die Schiedsordnung der LIHK für Verfahren aller Art ausgelegt ist, könnte sie
sich als besonders tauglich erweisen für Verfahren mit persönlichem Charakter, zB im
Gesellschafts-, Stiftungs- und Trust-Bereich, im Treuhandsektor, bei Familienunterneh-
men oder generell bei KMU. Die Schiedsordnung der LIHK ist abgestimmt auf das liech-
tensteinische Schiedsrecht und damit insb dann geeignet, wenn Parteien das Fürstentum
Liechtenstein als (neutralen) Ort für ihre Streiterledigung wählen wollen.
30.58 Die Schiedsordnung der LIHK beruht auf den UNCITRAL Arbitration Rules und den
Swiss Ru/es. Die wesentlichen Merkmale und Unterschiede sind:
C. Effizienz
30.60 Ziel der Schiedsordnung der LJHK sind möglichst kurze, effiziente Verfahren mit ent-
sprechend geringem zeitlichem und finanziellem Aufwand der Beteiligten. Dazu dienen
verschiedene Vorkehrungen, ua:
• Verzicht auf ein besonderes Einleitungsverfahren: Das Verfahren wird durch Einrei-
chung einer umfassenden Klageschrift (Artikel 4) eröffnet, sodass sich allenfalls bereits
ein zweiter Schriftenwechsel oder zumindest der sonst übliche dritte Schriftenwechsel
erübrigt. Bereits die Einleitung erfolgt durch direkte Zustellung an die Gegenpartei,
also nicht auf dem Umweg über eine Institution.
• Keine besonderen Prüfungen bzw Bestätigungen durch eine Schiedsinstitution, außer
auf besonderen Antrag einer Partei (an den Kommissär).
• Relativ kurze Fristen zur Ernennung.
• Minimale Infrastruktur: Bemerkenswert an der Schiedsordnung der LJHK ist das Feh-
len einer eigentlichen Administration, wie sie in der institutionellen Schiedsgerichts-
barkeit typisch ist. Die LIHK ernennt bloß einen Sekretär für das Schiedswesen (Arti-
kel 3 l ). Dieser Sekretär hat nur marginale Aufgaben. Insb hat er über Antrag einer
Partei - und damit nur bei wirklichem Bedarf - einen Kommissär zu ernennen, der
dann seinerseits die für den Ablauf des Verfahrens notwendigen Entscheidungen trifft.
Dieser Kommissär ist eine der auffallendsten Besonderheiten der Schiedsordnung der
LIHK. Seine Funktion entspricht derjenigen der Schiedskommissionen oder Generals-
ekretäre bei typischen institutionellen Schiedsgerichten. Er entscheidet insb, wenn eine
ersatzweise Schiedsrichterernennung erforderlich ist, ein Schiedsrichter abberufen wer-
den soll oder eine Partei die Kosten des Schiedsgerichts überprüft haben will. Damit
vereinigt das Schiedsverfahren der LIHK einen großen Vorteil der institutionellen
Schiedsgerichtsbarkeit - Unterstützung des Verfahrens bei Problemen ohne Rückgriff
auf staatliche Gerichte - mit der Flexibilität, Kosteneffizienz und Vertraulichkeit von
ad-hoc-Verfahren. In den meisten Fällen wird die LIHK von den Schiedsverfahren
nichts erfahren. Nur wenn eine Partei oder ein Schiedsrichter einen Kommissär ver-
langt, wird das Sekretariat von der Existenz eines Verfahrens offiziell informiert. Selbst
dann sind aber nur wenige Informationen über den Fall selbst zu übermitteln und
werden damit über den engen Kreis der Parteien und Schiedsrichter hinaus bekannt.
Es entfallen damit auch die sonst üblichen pauschalen Einschreibegebühren und Ver-
waltungsgebühren.
• Gebühren: Von den Kosten für das Schiedsgericht abgesehen fallen Gebühren nur an,
wenn eine Partei entsprechende Dienstleistungen durch das Sekretariat und den Kom-
missär tatsächlich in Anspruch nimmt.
D. Vertraulichkeit
Verschiedene Regeln sollen sicherstellen, dass das Verfahren selbst und erst recht die in 30.61
das Verfahren eingeführten Dokumente und Informationen vertraulich bleiben. Allge-
mein unterstehen alle Verfahrensbeteiligten strengen Vertraulichkeitsverpflichtungen
(Art 29). Diese Verpflichtung wird sogar durch eine Konventionalstrafe abgesichert, da
eine Verletzung in der Praxis wegen schwierigem Schadensnachweis sonst oft nicht sank-
tioniert werden kann. Soweit ersichtlich ist diese sehr strikte Regelung in keiner anderen
Schiedsordnung zu finden. Daneben bestehen besondere Vorschriften, die zumindest
auch dem Schutz der Vertraulichkeit dienen. Der Schutz beginnt bereits bei den Wähl-
barkeitsvoraussetzungen für Schiedsrichter. Nach Artikel 6.1 sind (ohne anderweitige
Parteivereinbarung) nur Schiedsrichter wählbar, die einer gesetzlichen Verschwiegen-
heitspflicht unterstehen. Ferner wird auf die Möglichkeit einer Vereinigung von Verfah-
ren oder den Einbezug von Drittparteien durch die Institution, wie sie zB die Swiss Rufes
oder - eingeschränkt - die Schiedsordnung der Internationalen Handelskammer vorse-
hen, verzichtet, um zu verhindern, dass Dritte Einblick in das Verhältnis zwischen den
ursprünglichen Verfahrensparteien erhalten. Natürlich bleibt es den Parteien überlassen,
im Einzelfall eine maßgeschneiderte Lösung zu vereinbaren, welche den Einbezug Dritter
betrifft, bzw in Absprache mit den Schiedsgerichten parallele Verfahren zumindest fak-
tisch zu konsolidieren. Zu guter Letzt ist die Edition von Dokumenten gegenüber dem
zunehmend üblichen, angelsächsisch inspirierten Maß deutlich eingeschränkt. Eine „do-
cument discovery" gibt es praktisch nicht. Zusätzlich kann eine Partei, die ein besonderes
Vertraulichkeitsinteresse glaubhaft machen kann, verlangen, dass ihre Beweisdokumente
der Gegenpartei nur am Sitz des Schiedsgerichts oder einem anderen geeigneten Ort zur
Einsicht vorgelegt, aber nicht übergeben werden (Art 18.2).
die Ressourcen der Parteien deutlich weniger belasten, als typische Handelsschiedsver-
fahren. Zusätzlich kann das Schiedsgericht mittellose Parteien von Kostenvorschüssen
befreien. Trotzdem muss jede Partei das beitragen, was sie beitragen kann, und wird
daher uU nur teilweise befreit (Art 28.6). Bei Stiftungen und Trusts sieht die Muster-
schiedsklausel unter Berücksichtigung der erwähnten gerichtlichen Rsp vor, dass die Stif-
tung bzw der Trustee als Verfahrenspartei bei Bedürftigkeit einer anderen Partei nicht
nur deren Kostenvorschuss übernehmen kann, sondern auch die Kosten einer angemes-
senen Prozessvertretung. Dies ist insb auch für den Fall gedacht, bei dem eine bedürftige
Person gegen die Stiftung bzw den Trust auf Ausrichtung einer Begünstigung klagt bzw
klagen will. Die beklagte Stiftung bzw der beklagte Trustee kann in einem solchen Fall
nach eigenem Ermessen entscheiden, die Kosten einstweilen, dh bis zum Vorliegen eines
Schiedsspruchs, zu übernehmen, zB um die Vertraulichkeit der Auseinandersetzung zu
wahren, oder aber in Kauf zu nehmen, dass der Kläger stattdessen ein staatliches Ver-
fahren einleitet, weil er sich das Schiedsverfahren nicht leisten kann.
- Kosten 16.63f M
Klagsinhalt 16.1 ff Mahnverfahren 1.35, 1.75, 1.77
- notwendiger 16.1 ff Mandatsverfahren 1.75, 29.57ff
Klagsprüfung 16.23 ff - Antragsinhalt 29.62 f
- Vorprüfungsverfahren 16.23 f - Einwendungen 29.64ff, 29.67
- Zurückweisungsbeschluss a limine 16.24, - Eventualmaxime 29.65
16.29 - Ferialsache 29.70
Klags(zu)rücknahme 16.65ff, 16.71. 23.85, - urkundlicher Nachweis 29.63, 29.69, 29.71
25.114, 27.41 - Wechselstreitigkeiten 29.69ff
- im Rechtsmittelverfahren 27.41 - Zahlungsauftrag s Zahlungsauftrag
- - Vereinbarung „ewiges Ruhen" 27.41 Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens
- Kosten 16.69f 26.13ff
- unter Anspruchsverzicht 16.65, 16.68 - Abweisung von Beweisanträgen 26.24
Klagszurückziehung s Klags(zu)rücknahme - Ausführung der Verfahrensrüge 26.19
Klein, Franz 1.3, 1.50, 1.52/, 1.55, 1.62 - Begründung des Berufungsurteils 26.18
- Klein'sche Entwürfe s Entwürfe - Bekämpfung von Feststellungen 26.29
Kompetenzkonflikt der Gerichte 15.64 - Beweiswürdigung 26.15, 26.22
Konfliktlösung, Stiftung 16.77 ff - Stoffsammlungsmängel 26.14f
- Beschluss, § 22a JN 16.79 - Unbestimmtheit des Klagebegehrens 26.30
Konformatsperre 2.5 - Unmittelbarkeitsprinzip 26.26
Konformentscheidung 23.169 - Wesentlichkeit des Verfahrensmangels 26.19
Kostenersatz 10.23 ff Materialien 1.59, 1.61
- Anspruchsberechtigte 10.42 ff Medien 19.46 ff
- Grundsätze 10.24, 10.27, 10.28, 10.30 - Umgang mit 19.48
- nach Kopfteilen 10.35 Mehrwertsteuer 12.34
- solidarisch 10.35 Mündlichkeit 1.30, 1.53, 1.62, 1.89, 2.2Bff,
- Verpflichtete 10.42 ff 16.83
Kostenrechtliche Bestimmungen 10.6 Mutwilligkeit 12.12, 12.56, 12.66
- Gegenüberstellung 10.8 ff
Kostenrisiko 12.38 N
Kostenseparation 10.27, 10.37 Nachtragsgesetze I.34ff
Kostentragung 10.23 ff Nebenintervenient 18.17
Kostenverzeichnis 10.16 ff, 10.46ff - Disposition über Streitgegenstand 7.29,
- Mehrwertsteuer 10.53 7.42ff
- Rechtsmittel 10.52 - einfacher 7.25 ff
Kostenvorschuss 21.51 - Eintritt als Hauptpartei 7.5, 7.25
- Augenschein 21.56 - Einvernahme als Zeuge 7.27
- Sachverständigengebühren 21.51 - (Prozess-)Handlungen des 7.26, 7.29ff,
Kundmachung 23.34 ff, 23.158 ff 7.42ff
- Beschluss 23.lSBff - Rechtsmittelfrist 24.22
- Urteil 23.34ff - Rechtsmittellegitimation 7.35, 7.43, 24.13,
Kurator 4.104 24.89
- Seitenwechsel 7.19
L - ,,Stellung als Streitgenosse" 7.39, 7.42ff
Leistungsfrist 23.12 nach FL-OGH 7.44
Leistungsklage 16.37 - - nach ölehre 7.42
lex causae 4.58ff - - nach öRsp 7.43
- Beweislast 4.65 f - streitgenössischer 7.39 ff
- Beweismittel 4.71 f - und Prozesskostensicherheitsleistung 7.34
lex fori 4.58 ff - und Ruhen 7.33
Liechtenstein Rules 30.55 - und Säumnisfolgen 7.26, 7.32
LugO 11.1, 11.41 - Verfahrenshilfe 7.28