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von
Wilfried Küper
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1987
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Copyright 1987 by Walter de Gruyter & Co., 1000 Berlin 30.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der
Ubersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotoko-
pie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages
reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt
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Printed in Germany
Satz und Druck: Saladruck, 1000 Berlin 36
Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Buchgewerbe GmbH, 1000 Berlin 61
KARL LACKNER
zum 18. Februar 1987
dargebracht von
EBERHARD SCHMIDHÄUSER, D r . j u r . , e m . o . P r o f e s s o r an d e r U n i v e r s i t ä t
Hamburg:
Zum Begriff der Rechtfertigung im Strafrecht 77
A R T H U R KAUFMANN, D r . j u r . , D r . h . c . , o . P r o f e s s o r an d e r U n i v e r s i t ä t
München:
Einige Anmerkungen zu Irrtümern über den Irrtum 185
Vili Inhalt
CLAUS ROXIN, Dr. jur., Dr. h. c., o. Professor an der Universität Mün-
chen:
Bemerkungen zur actio libera in causa 307
if.
HANS JOACHIM H I R S C H , D r . j u r . , o . P r o f e s s o r a n d e r U n i v e r s i t ä t z u K ö l n :
F R I E D R I C H - C H R I S T I A N SCHROEDER, D r . j u r . , o . P r o f e s s o r an d e r U n i v e r s i -
tät Regensburg:
Die Bedrohung mit Verbrechen 665
K A R L PETERS, D r . j u r . , D r . h . c . , e m . o . P r o f e s s o r an d e r Universität
Tübingen:
Gedanken zur „Normalität des Verbrechens". - Ein Beitrag zur Ethik
des Strafverfahrens 951
H E I N Z LEFERENZ, D r . j u r . , D r . m e d . , e m . o . P r o f e s s o r an d e r U n i v e r s i t ä t
Heidelberg:
Die neuere Kriminalpolitik auf kriminologischer Grundlage. - Eine
kritische Betrachtung 1009
G Ü N T E R BEMMANN, D r . j u r . , D r . h. c., o . P r o f e s s o r a n d e r F e r n u n i v e r s i t ä t
Hagen:
Über den Angleichungsgrundsatz des § 3 Abs. 1 StVollzG 1047
B i b l i o g r a p h i e K A R L LACKNER 1081
Karl Lackner zum 70. Geburtstag
EDUARD D R E H E R
Noch war eine Aura von Jugendlichkeit um ihn, als ich den Mann,
den es jetzt zur Vollendung seines 70. Lebensjahres zu feiern gilt,
kennenlernte. Das war genau am 1.10.1951, als ich meinen Dienst im
Bundesjustizministerium in Bonn antrat. Karl Lackner und Hermann
Maassen, die beide schon dort tätig waren, jener schon fast ein Jahr,
nahmen mich mit kollegialer Herzlichkeit in Empfang. In der Folgezeit
haben wir in der strafrechtlichen Abteilung des Ministeriums, wo wir
damals nur eine Handvoll Leute waren, vortrefflich zusammengear-
beitet.
Trotz seiner jugendlichen Ausstrahlung hatte Lackner damals schon
ein ereignisreiches Stück seines Lebensweges hinter sich. Geboren ist er
in Maikammer, wo Pfälzer Wein wächst, am 18.2.1917. Vom ersten
Weltkrieg wurde er danach nur gestreift. Sein Vater war zuletzt Ober-
amtsanwalt. Der Sohn stand also schon im Zeichen des Strafrechts. Der
junge Lackner besuchte Schulen in Bochum und Bonn und begann nach
gut bestandenem Abitur 1936 mit dem Studium der Rechtswissenschaft.
Sechs Semester studierte er in Bonn und München und es gelang ihm, die
erste Staatsprüfung noch am Anfang des zweiten Weltkrieges mit
„lobenswert" unter Dach und Fach zu bringen. Das war am 13.12.1939.
Dann erfaßte ihn der Wehrdienst. Vom 10.1.1940 an war Lackner
Soldat, seit 1942 als Leutnant. In Frankreich, aber vor allem in Rußland
und zuletzt noch in Dänemark, tat er Dienst bei der Flakartillerie. Im
Juli 1945 wurde er aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Nach diesen
bitteren Jahren, in denen Lackner formell Gerichtsreferendar und sogen.
Assessor (K) wurde, begann er sofort mit dem Vorbereitungsdienst, den
er am 12.2.1948 mit der zweiten Staatsprüfung abschloß. Die Note war
„gut". Schon wesentlich früher, nämlich am 1.8.1946, also bereits nach
einem Jahr seit seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft, promo-
vierte Lackner in Bonn, und das „magna cum laude", eine erstaunliche
Leistung. Mit seiner Dissertation über „Vermögen und Vermögensbe-
schädigung in der Betrugstheorie des Reichsgerichts" nahm der Dokto-
rand schon ein Thema vorweg, das ihn später noch sehr intensiv
beschäftigen sollte. Sein Doktorvater war der unvergessene Hellmuth
von Weber, bei dem Lackner bis Mai 1948 zur besonderen Zufriedenheit
seines Lehrers assistierte. Dann wurde er Gerichtsassessor und arbeitete
2 Eduard Dreher
„Ich war mit einer Komilitonin im Foyer der sog. .neuen Uni' verabredet und traf sie in
einem angeregten Gespräch mit einem, aus meiner damaligen Perspektive, älteren
Herrn. Der stellte sich dann als Prof. Lackner heraus, der gerade . . . sein neues
Lehramt angetreten hatte. Es ging um die Situation der heutigen Jurastudenten,
insbesondere die Schwierigkeiten und Nöte der Examenskandidaten. Ich schaltete mich
unbefangen in das Gespräch ein. Herr Lackner verglich die heutige Situation mit seiner
eigenen Studentenzeit und meinte, daß wir es in vieler Hinsicht schwerer hätten. Er
berichtete aus seinen Erfahrungen als Prüfer, insbesondere im mündlichen Examen.
Vor allen Dingen aber wollte er von uns, unseren Schwierigkeiten bei der Stoffbewälti-
gung und unserer psychologischen Situation vor und im Examen hören. Es klingelte
zur nächsten Vorlesungsstunde; als es dann zur nächsten Pause klingelte, standen wir
drei immer noch am gleichen Platz. Prof. Lackner hatte sich eine volle Stunde mit den
beiden Studentinnen unterhalten."
So hat der Jubilar auch als Lehrer schöne Erfolge aufzuweisen. Davon
zeugen die zwei Habilitationen (Ingeborg Puppe und Jörg Tenckboff)
und die zehn Promotionen zwischen 1968 und 1983, die unter seiner
Leitung zustande gekommen sind.
Ein hervorragender Lehrer, aber ein nicht minder erfolgreicher Mann
der Wissenschaft. Was Lackner mit seinen schon erwähnten Arbeiten
begonnen hatte, setzte er in Heidelberg fruchtbar und unermüdlich fort,
so daß er im Jahre seines großen Geburtstages auf eine reiche Ernte an
6 Eduard Dreher
sich nie für reine Dogmatik interessiert. Bloßes Abstrahieren ist ihm
fremd. Doch ist er ein hervorragender Dogmatiker, und das nicht
zuletzt deshalb, weil er immer die Praxis im Blick hat. Was ihn fesselt,
ist, wie das Recht die Wirklichkeit bewältigt. Er ist ein hervorragender
Praktiker, aber gerade deshalb, weil er seine Praxis mit einer in die Tiefe
gehenden Dogmatik untermauert. Das zeigen alle seine Arbeiten, in
denen sich mit dem Sinn für das Konkrete auch ein starkes kriminalpoli-
tisches Engagement verbindet, etwa im Jugendstrafrecht oder bei der
Abtreibungsproblematik.
Der zweite Aspekt ist der folgende: Für Lackner ist es charakteri-
stisch, das Pro und Contra einer Zweifelsfrage mit Gelassenheit und
einem Höchstmaß an Objektivität und Gründlichkeit abzuwägen und
schließlich zu entscheiden. Er ist kein leidenschaftlicher Dränger, der die
Argumente seiner Gegner vom Tisch wischt. Mir sagte einmal ein
prominenter Strafrechtslehrer von einem anderen prominenten, dieser
halte seine Gegner nicht etwa nur für dumm, sondern für bösartig. Ganz
anders Lackner. Er nimmt die Argumente Andersdenkender, auch wenn
sie abwegig zu sein scheinen, stets ernst, sucht sich in die Position des
anderen hineinzudenken und setzt sich sorgfältig mit ihm auseinander.
Gerade diese Eigenschaft gibt seinem Votum dann am Ende besonderes
Gewicht. Auch dabei geht Lackner vorsichtig und behutsam vor. Ein
Beispiel ist bezeichnend für seine Arbeitsweise. Als das S.Strafrechtsre-
formgesetz die Neufassung des § 113 StGB mit ihrer komplizierten und
ungewöhnlichen Regelung des Irrtums über die Rechtmäßigkeit einer
Amts- oder Diensthandlung brachte, wollte sich Lackner in der schon
allein von ihm bearbeiteten 6. Auflage seines Kommentars hinsichtlich
der dogmatischen Deutung der neuen Regelung nicht festlegen, sondern
beschränkte sich auf den Satz: Die „dogmatische Einordnung in den
Verbrechensaufbau ist der Wissenschaft als neue, bisher noch nicht in
Angriff genommene Aufgabe gestellt." Erst allmählich tastete sich der
Autor in den folgenden Auflagen an diese Aufgabe heran. Heute kann
man in der jüngsten Auflage eine ausführliche und kritische Darstellung
aller bisher vertretenen Meinungen lesen sowie Lackners eigenen Stand-
punkt, wobei er aber betont, daß die Regelung des Gesetzes Friktionen
mit allgemeinen strafrechtlichen Prinzipien bringe, jedoch nach den
Zielsetzungen des Gesetzes zu akzeptieren sei. Der Praktiker stellt die
Bedenken des Dogmatikers zurück.
So rundet sich das Bild eines Mannes, der zu den führenden Köpfen
der deutschen Strafrechtswissenschaft gehört, und man darf von ihm
sagen: Er hat sich um das Recht verdient gemacht. Lackners wissen-
schaftliche Leistung verbindet sich mit einem glücklichen Naturell. Das
eine ist ohne das andere nichit denkbar. Der Ausgeglichenheit seines
Arbeitens entspricht die Harmonie seines Charakters. Er hält sich immer
Karl Lackner zum 70. Geburtstag 9
MICHAEL KÖHLER
I. Problemstellung
Die hegelscbe Theorie formuliert eine ausgeprägt diesseitig-imma-
nente Straf-(Zweck-)begrifflichkeit. Die Abfolge von Verbrechen (Ver-
letzung des Rechts als Recht) und Strafe wird dem Grunde nach entwik-
kelt als Prozeß der Restitution wirklicher Freiheit, der Wiederfreiset-
zung von Allgemeinheit und Täter auf die Negation des Rechts im
Verbrechen hin - ebensowohl Verlust an wirklicher rechtlicher Gel-
tungsallgemeinheit wie Selbstverlust des Täters als Rechtssubjekt - per
negationem der Strafe: Strafe also als bestimmte (inhaltserfüllte) Nega-
tion des Verbrechens, sowohl in der Objektivität allgemeiner Rechtsgel-
12 Michael Köhler
4 S. bes. E.A. Wolff, ZStW 97, 1985, S. 786 ff; s. auch Verf. Der Begriff der Strafe,
Heidelberg 1986.
5 Z.B. die Kritik am materiellen Talion, Hegel, a . a . O . §101 Anm..; s. Oberer, in:
Rechtsphilosophie der Aufklärung, Berlin, New York 1982, S.399, 414 ff.
Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis 13
6 Vgl. Flechtheim, Hegels Strafrechtstheorie, 2. Auflage Berlin 1975, S. 91 ff, 113 ff.
7 So Ottmann in seiner Flechtheim-Rezension, Hegel-Studien 13, 1978, S. 302 ff.
14 Michael Köhler
' S. kritisch besonders H. Mayer, Strafrechtsreform für heute und morgen, Berlin
1962. - Zum jüngeren internationalen Umschwung in dieser Richtung daher mit Recht
bedenklich Jescheck, ZStW 91, 1979, S. 1037, 1050 ff.
' BVerfGE 45, 187 ff. Zsf. etwa Stratenwerth, Zukunft des strafrechtlichen Schuld-
prinzips, Karlsruhe 1977, S.40ff. Oers. SchwZStrR 101, 1984, S.225ff.
Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis 15
10 Die Streichung der unmäßigen Rückfallschärfung nach dem bisherigen §48 StGB
(23. StrÄndG v. 13.4.1986 BGBl. I, 393) ändert nichts an der Nichtbewältigung des
allgemeinen Problems.
11 Von Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 2, Berlin 1905, S.25, 63 ff,
230 ff; s. auch, freilich auf sein Lebensführungsschuldkonzept reduziert, Mezger, Krimi-
nalpolitik auf kriminologischer Grundlage, 2. Auflage, Stuttgart 1942, bes. S. 241 ff.
12 Vgl. Mayer, a. a. O. (Fn. 8), S. 122. Leitend für die Vorschläge des Alternativent-
wurfs Noll, Die ethische Begründung der Strafe, Tübingen 1962, bes. S. 14 ff. S. etwa auch
Naegeli, in: St. Galler Festgabe zum Schweizerischen Juristentag, 1965, S. 263 ff, 305;
Hassemer, in: Recht und Gesellschaft, 1971, S. 17ff; Stratenwerth, Schuldprinzip, S.41;
ders. in: Festschrift für Bockelmann, 1979, S.901, 916 ff; Liiderssen, in: Hassemer/
Lüderssen/Naucke, Fortschritte im Strafrecht durch die Sozialwissenschaften? Heidelberg
1983, S. 75 ff. Eher abweisend Arthur Kaufmann, in: Festschrift für Lange, 1976, S. 27, 36.
" S. Noll, a . a . O . S. 17ff; s. auch Stratenwerth, Tatschuld und Strafzumessung,
Tübingen 1972, bes. S.28ff.
16 Michael Köhler
II. Problemlösung
Eine hinreichende Problemlösung muß resultieren aus einer Strafbe-
gründungstheorie 14 , die vorpositiv-kritisch
unschädlich zu machen sei, oder in den Zwecken der Abschreckung und Besserung".
17 §101 A n m . : „Der Begriff selbst muß überhaupt das Grundprinzip auch für das
Besondere enthalten". Die offengelassene Modalität der Strafe (§ 99 Anm.) bezieht sich auf
Strafpragmatik, nicht das Maß der Strafe; zu dieser methodologischen Einheit, Verf.,
Strafbegründung und Strafzumessung, Heidelberg 1983, m. w. N .
Strafbegriindung im konkreten Rechtsverhältnis 17
gung besonders Henrich, in: Festschrift für Werner Marx, 1976, S. 208 ff (entscheidende
Hinweise zur logischen Struktur verdankt Verf. Herrn Uwe Andreß, Hamburg).
22 Rechtsphilosophie § 99.
23 §§97 ff, zusf. § 101 Anm.: „Zusammenhang der Notwendigkeit, daß das Verbrechen
als der an sich nichtige Wille, somit seine Vernichtung, - die als Strafe erscheint, - in sich
selbst enthält". S. auch Randbemerkung S.366: „Wille der ein Nichtiges will".
24 Zu §§98-100.
Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis 19
S. 199 ff; dem Übergang vom Verbrechen zur Moralität in der Rechtsphilosophie ent-
spricht der Ubergang zum logischen Reflexionsstandpunkt des Subjekts (s. Logik a. a. O.).
29 Rechtsphilosophie §139 mit Anm.: „Im Gegensatz sein".
32 §§132, 139.
33 §140 Anm.
22 Michael Köhler
soll sie nicht ein bloß äußeres Verhältnis bleiben, in bestimmter Weise
angewiesen. Die strafrechtlichen Zurechnungsbegriffe (Vorsatz - Tatbe-
wußtsein, Unrechtsbewußtsein) sind darin unverfügbar letztbe-
gründet34.
Das moralische Recht der Einsicht, namentlich in Gut und Böse
(Gewissen), ist so zwar ein notwendiges Moment der Begründung. Aber
es ist insofern unzureichend, als es durch den nur individuell-subjekti-
ven Standpunkt begrenzt ist und einer intersubjektiv konkret-substan-
tiell entwickelten Norminhaltsbegründung noch ermangelt. „Der sub-
jektive Wille unmittelbar für sich ist abstrakt, beschränkt und formell"35,
das heißt eben nicht: konkret, entschränkt und substantiell. Formelle
Subjektivität wird hier pejorativ gebraucht, formell nicht im Sinne von
formal-formend-formgebend, inhaltsstrukturierend wie es richtig aufge-
faßt die Formalität des kategorischen Imperativs ist, sondern formelle
Verstandes- und Willkürsubjektivität und ein entsprechender Stand von
gegenständlicher Wahlfreiheit. Das moralische Recht der Einsicht ist
insofern nicht zureichend, als es reduziert ist um eine konkrete, entwik-
kelte, substantielle Norminhaltsbegründung. Insofern selbst begrün-
dungsbedürftig, läuft es absolut gesetzt darauf hinaus, daß das formell
subjektive Gewissen sich auf den eigenen begrenzten Standpunkt kapri-
zieren kann, die Vernunfterweiterung durch andere, ihre intersubjektive
Erweiterung ausschlagend. Hegel verdoppelt deshalb in der Konsequenz
der allgemeinen Unterscheidung zwischen formell-subjektivem und sub-
stantiellem Willen den Gewissensbegriff, unterscheidet kritisch das for-
mell-subjektive Gewissen (der Staat könne es nicht anerkennen) vom
wahrhaften, auf das an und für sich Gute bezogenen Gewissen36. Alle
Bestimmungen des subjektiv-moralischen Standpunktes sind von der
Formalität erfaßt. Es kommt deshalb sehr darauf an, hier auch die
Normbegründung ab. Das Vorrecht des Staates als idealen Begriffs setzt also eine vermit-
telte Identifikation mit Subjektivität, ihrem wahrhaften Gewissen voraus, das zugleich
dessen subjektives Kriterium ist und den bloß formellen Gewissensstandpunkt kritisch
erkennt; vgl. ebenso zum Recht der Einsicht „im Staate", § 132 A n m .
Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis 23
37
Vgl. die Entwicklung des Bösen aus der formellen Subjektivität, dem Willkürmo-
ment in § 139.
" V g l . Engisch, ZStW 61, 1942, S. 166, 172ff; ZStW 66, 1954, S.339, 359ff;
MSchrKrim 50, 1967, S. 108ff, 117ff; Heinitz, ZStW 63, 1951, S.57, 73ff; Dohna, ZStW
66, 1954, S. 505, 508 f; Eh. Schmidt, ZStW 69, 1957, S. 359, 385 ff; zuletzt Figueiredo Dias,
ZStW 95, 1983, S.220, 239 ff. Kritisch Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, 2. Aufl. Heidel-
berg 1976, S. 149 f; Stratenwerth, Tatschuld und Strafzumessung, S. 5 f.
24 Michael Köhler
" E.A. Wolff, Der Handlungsbegriff in der Lehre vom Verbrechen, Heidelberg 1964,
S.24ff; s. auch Verf., a.a.O. (Fn.28), S.405ff m.w.N.
40 S. zunächst Aristoteles, Nikomachische Ethik III, 2 1110 b, der Nichterkenntnis des
Guten und Bösen als besondere Form von Schlechtigkeit auszeichnet, freilich einen
Begründungszusammenhang von Handlung und Haltung voraussetzt. Hegel, Rechtsphi-
losophie § 140 Anm. a) bezieht sich in zumindest zweideutiger Weise, wohl eher affirmativ
i. S. des „Rechts der Objektivität" und gegen das zuvor betonte formelle Recht der
Einsicht auf die zitierte Stelle: Schuld des vollständigen, gewissenlosen Sünders (Pascal). Es
ist fraglich, ob die aristotelische Begründung bzw. das Erfordernis moderner kritischer
Rekonstruktion aufgenommen wird.
41 S. bereits Erik Wolf, Vom Wesen des Täters, Tübingen 1932, bes. S. 14 ff und
insbesondere Mezger, ZStW 57, 1938, S. 675 ff; ders., Deutsches Strafrecht, 3. Auflage
Berlin 1943, S. 84 ff, dessen kritische Seite, die Freiheitsvoraussetzung in der Selbstbegrün-
dung der Person, „Täterschuld" herauszustellen, sich in einer den Prozeß bloß beschrei-
benden, auf das Subjekt reduzierten Betrachtungsweise verliert, so daß im Ausgang von
naturhaft-normaler Subjektkonstitution alles Weitere zur Lebensführungsschuld zu wer-
den droht; s. etwa Lange, ZStW 62, 1944, S. 175, 192 ff, 198 ff. Welzeis Theorie der
Persönlichkeitsschuld (s. ZStW 60, 1941, S.429f, ders., Das deutsche Strafrecht, 11. Auf-
lage Berlin 1969, S. 150 ff), die normativ auf einen Mangel an Haltungsbildung abstellt, ist
im Ansatz noch weniger kritisch. Dagegen ist Bockelmann, Studien zum Täterstrafrecht,
Teil 2, Berlin 1940, bes. S. 145 ff in der Folge des Mezgerschen Grundansatzes konzentriert
auf den wirklichen Prozeß der „Lebensentscheidungsschuld"; aber weder der genauere
Zusammenhang der Hangkonstitution noch das Intersubjektivitätsmoment sind zurei-
chend erfaßt. Mayer (Fn. 8) bringt den Begriff der Lebensführungsschuld ohne weitere
Ableitung in Zusammenhang mit kritischen Maßunterscheidungen, neigt aber in wesentli-
chen Fragen doch auch wieder zu bloßen Gefährlichkeitsunterscheidungen (a.a.O.,
S. 153 ff).
Strafbegriindung im konkreten Rechtsverhältnis 25
etwa Mezger, Das Typenproblem in der Kriminologie, München 1955, bes. S. 13 ff; ders.,
Kriminologie, München und Berlin 1951, S. 150 ff.
43 Das Folgende beschränkt sich auf den allgemeinen Begriff der Hegeischen Sittlichkeit
(§§ 142-155 Rechtsphilosophie) und blendet die institutionelle Entfaltung aus; Detailinter-
pretation bei Peperzak, in : Hegel-Studien 17, 1982, S. 113 ff. Zur intersubjektivitätstheore-
tischen Rekonstruktion von der Logik her vgl. Theunissen, Sein und Schein, Frankfun
1980, S.433ff; ders., in: Hegels Philosophie des Rechts, Stuttgart 1982, S.317, 324ff;
Angehrn (Fn. 19), S.217ff; Fink-Eitel, Dialektik und Sozialethik, Meisenheim 1978,
S. 193 ff; von Hegels Fichte-Rezeption her erhellend Siep, Anerkennung als Prinzip der
praktischen Philosophie, Freiburg, München 1979. Wildt, Autonomie und Anerkennung,
Stuttgart 1982, - letzterer mit einem der Rechtsproblematik nicht angemessenen Rekurs
auf bloße Unmittelbarkeit; zutreffend Roth, in: Hegel-Studien 19, 1984, S. 368 ff.
44 Rechtsphilosophie §147 Anm.; dazu Rameil, in: Hegel-Studien 16, 1981, S.123,
139 ff.
45 Zu diesem Hegeischen Systemgrundsatz bes. Henrich, Hegels Logik der Reflexion,
in: Hegel-Studien Beiheft 18, 1978, S. 204 ff.
26 Michael Köhler
44 Rechtsphilosophie § 142: „In dem Selbstbewußtsein sein Wissen, Wollen und durch
dessen Handeln seine Wirklichkeit, sowie dieses am sittlichen Sein seine an und für sich
seiende Grundlage und bewegenden Zweck hat" - Resultat: „der zur vorhandenen Welt
und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit".
47 S. §§141 a.E. 143, 155.
§§ 145, 146 einseitig gelesen; vorzüglich Marquard, in: Philosophisches Jahrbuch 72,
1964/1965, S. 103 ff. S. zur Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit auch Siep, in: Hegel-
Studien 17, 1982, S. 75, 94 ff; Peperzak, ebda. S. 113 ff.
49 §144; weitere Explikationen §§147ff.
gation im zweiten natürlichen Gesetz bei Hobbes, Leviathan 114. Kants freiheitsbegründe-
ter Ubergang vom kategorischen Imperativ der Verallgemeinerungsform zur Materie der
An-sich-Zweckhaftigkeit aller Vernunftsubjekte ist der das Rechtsverhältnis vorantrei-
Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis 27
bende Ansatz; s. GMS, Akademie-Ausgabe IV, S. 420 ff, 427 ff; aufgenommen in der MdS.
Zur Entfaltung des rechtsbegründenden Anerkennungsverhältnisses bei Fichte und Hegel
s. Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre J. G. Fichtes, Berlin 1981 bzw. Step, a.a.O.
(Fn. 43).
" Vgl. §§153-155: „Der Mensch hat durch das Sittliche insofern Rechte, als er
Pflichten, und Pflichten, insofern er Rechte hat"; aufgenommen im institutionellen
Zusammenhang s. bes. § 261 (zur Stärke des Staates aus der Freiheit der Individuen, ihrer
Rechts-Pflicht-Identität). Pflichtenlehre ist definiert als Entwicklung „sittlicher" Verhält-
nisse dieser Einheit; s. § 148, als anderes Moment von Freisetzung, § 149, unterschieden
vom abstrakt-rechtlichen Pflichtbegriff unmittelbar gegenüber der anderen Person (s.
§§ 36, 38) und dem moralischen Pflichtbegriff aus dem einseitigen Recht des Subjekts (s.
§§132 Anm., 134, 135); dazu auch Peperzak, a.a.O. (Fn.43).
54 Vgl. Rechtsphilosophie §142 a. E. und, in Überleitung von der (antiken) Tugend-
lehre, § 151 : „Gewohnheit als eine zweite Natur« der Individuen, ebenso wie das Rechts-
system das Reich der verwirklichten Freiheit, „als eine zweite Natur" ist (§ 4).
28 Michael Köhler
Rousseau hat neuzeitlich die gesellschaftliche Verderbnis des Individuums betont und
57
analysiert; vgl. etwa den Anfang des „Emile" und dazu Cassirer, Das Problem J . J .
Rousseau, Neudruck Darmstadt 1975, S. 29 ff. - Eindringlicher Uberblick über den
Gedanken der Identitätskonstitution in intersubjektiver Vermittlung und seine Wendun-
gen von der Philosophie des deutschen Idealismus bis in die moderne Sozialpsychologie bei
Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, S. 151 ff, aufge-
nommen 212 ff, Abstraktion dann aber beim Schuld- und Strafproblem, S. 258 ff, 278 ff.
Lau, Interaktion und Institution, Berlin 1978, versucht sozialpsychologische und soziolo-
gische Ansätze in einer Theorie von Handlung, Habitualität und Institution zusammenzu-
führen, hat aber an deren Mangel einer zu formalen, die normative Relevanz offenlassen-
den Fassung teil (bes. S. 164 ff; zur Verantwortung institutioneller Strukturen 200 ff).
Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis 29
58 Siep (Fn.43), S. 278 ff; s. §155 und die besonders wichtige Aufnahme in §261
m. Anm.
59 Selbst wenn wir uns den Menschen, wie Kant, Metaphysik der Sitten § 44 sagt, so
gutartig und rechtliebend wie möglich denken.
60 Von Hegel, Rechtsphilosophie §137 als absolut berechtigt, „ein Heiligtum" ausge-
sagt; zutreffend Siep, a . a . O . (Fn.48).
61 Impliziert in §§142 ff, 144.
30 Michael Köhler
a In der kantischen Formel des kategorischen Imperativs der Anerkennung der Selbst-
zweckhaftigkeit eines jeden Vernunftwesens ist die Prozeßqualität wechselseitig freisetzen-
der und einschränkender Verhältnisbildung grundlegend formuliert; s. o. Fn. 52.
63 Hegel, Rechtsphilosophie, §95 Anm.
44 Möglicherweise gegen die objektivistische Wendung in §140 Anm. a.
Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis 31
65 Die straftheoretische Bestimmung der Milderung infolge der Macht der Gesellschaft,
§218, ist nicht einseitig, sondern im Kontext der zitierten Stellen §§ 155, 261 zu verstehen
(s. o. bei Fn. 58).
66 Hegel, Rechtsphilosophie §93.
32 Michael Köhler
68
Insofern bleibt der moralische Begründungszusammenhang erhalten; vgl. zum
Schuldgefühl selbst des „verruchten Menschen" Kant, Metaphysik der Sitten, Tugend-
lehre, Einleitung I, Akademieausgabe Bd. VI, S. 380; Hegel, Rechtsphilosophie §140
Anm. a; Arthur Kaufmann, a. a. O . (Fn. 12). Eine Auffassung, welche das Individuum nur
als Durchgangsstelle einer Systemverantwortlichkeit ansetzte, ist also unberechtigt; über-
einstimmend Kargl, Kritik des Schuldprinzips, Frankfurt/M. 1982, S. 375 ff, der mit seiner
Kritik nur einen dogmatischen Schuldbegriff, nicht aber das Prinzip in seiner freiheitsge-
setzlich entwickelten und freiheitswahrenden Bedeutung meinen kann.
Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis 35
c) Für die Strafe folgt daraus, daß die In-sich-Nichtigkeit, die Selbstne-
gation des Verbrechens sich auch auf die institutionelle Deformation zu
richten hat. Strafe verwirklicht sich daher als wechselseitig bestimmte
Negation des Unrechts, also eine zweiseitige Selbstnegation des Subjekts
und der deformierten Intersubjektivität70.
Einesteils, gegenüber dem Delinquenten, besteht Strafe nach Grund
und Ausmaß seines Verbrechens, seiner (abstrakteren) Schuld zu Recht.
Nur die abstrakt-moralisch gefaßte ausschließliche Bestimmung der
„Lebensführungsschuld" - und ihre übermäßige Folge - erweist sich als
verfehlt. Anderenteils, auf seiten des deformierten Verhältnisses, bedarf
es, seiner Präponderanz gemäß, eines entsprechend hohen Maßes an
Selbsteinschränkung der Allgemeinheit bzw. Freisetzungstätigkeit im
Verhältnis zum Täter. Das ist keine ethische Wohltat, auch keine
sozialstaatliche Hilfe gegenüber einer ursprünglicheren oder zufälligen
Schwäche des Subjekts gleichsam neben dem Strafrecht - für moralische
und pragmatische Handlungsintentionen bleibt ohnehin noch genug zu
tun - , ist auch verschieden von der Bildungstätigkeit gegenüber noch
unentwickelten Individuen. Es ist vielmehr eine strikt strafrechtliche
Bestimmung gegenüber der Formation, ihr entsprechend ein Recht des
Behandlungstypologien gefaßt und danach Phänomenologie und Struktur ordnend (s. den
Uberblick bei Göppinger, Kriminologie, 4. Auflage, München 1980, S. 438 ff; charakteri-
stisch Mezger, Typenproblem; Kriminologie, S. 158 f; Kriminalpolitik auf kriminologi-
scher Grundlage S. 160 ff), müssen im freiheitsgesetzlichen Verbrechens- und Strafbegrün-
dungszusammenhang aufgenommen werden; Ansätze bei H. Mayer, a. a. O. (Fn. 8); H eli-
mer, Verdirbt die Gesellschaft?, Zürich 1981, bes. S. 44 ff. - Zur normativ besonderen
Relevanz der Primärgruppe s. etwa Eisenberg, Kriminologie, Köln usf. 1979, S. 531 ff;
Liiderssen, Kriminologie, Baden-Baden 1984, S. 9/ff.
70 Die besondere Verwirklichungsweise des Strafrechts in der bürgerlichen Gesell-
schaft, s. Rechtsphilosophie §§218 ff, ist die reflexiv schlüssige Auseinandersetzung aller
Momente, hat freilich die Verhältniskonstitution und ihre Unterscheidungen im Gesamten
der Sittlichkeit zur (kritischen) Voraussetzung.
36 Michael Köhler
71
S. Rechtsphilosophie §§155, 261.
Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis 37
JOACHIM SCHULZ
Mit den folgenden Bemerkungen wird nicht das Ziel verfolgt, die
Umrisse einer neuen Kausalitätstheorie vorzustellen. Vielmehr soll die
gegenwärtige Fassung der Theorie von der gesetzmäßigen Bedingung in
einigen Punkten verbessert werden. In dieser Absicht sind sie dem Ethos
des Jubilars verpflichtet, wonach dem Fortschritt in Wissenschaft und
Praxis oft besser gedient ist, wenn man vorhandene Ansätze weiterdenkt
und präzisiert, statt radikale Umorientierungen anzubieten.
I.
Nach der Theorie von der gesetzmäßigen Bedingung ist ein Ereignis
(Bedingung) für ein anderes zeitlich unterscheidbares und nicht logisch
impliziertes Ereignis (Wirkung) dann kausal, wenn die beiden Ereignisse
in ihrer Aufeinanderfolge (natur-)gesetzmäßig verknüpft sind1. Die
Frage, wann eine solche Verknüpfung vorliegt, wird heute vorzugsweise
mit einem Rückgriff auf die aus der Wissenschaftstheorie stammende
Theorie der kausalen Erklärung beantwortet2. Deren übliche Formulie-
rung lautet:
Eine Gruppe von Einzelereignissen Aj, B,, C|,.. .N, erklärt dann ein Ereignis Ε,, wenn
aufgrund allgemeiner Gesetze Ereignisse der Typen A, B, C , . . .N regelmäßig von
einem Ereignis des Typs E begleitet werden3.
1 Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, S. 21.
2 So explizit oder durch Verweisung Bernsmann, ARSPh. 1982, S. 536 ff; Jescheck,
AT, 3.Aufl. 1978, S.227 und in LK, Rdn.51 vor §13; Kindhäuser, GA 1982, S.477ff,
479ff; Jakobs, Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1972, S.20ff und AT, S. 157;
Lackner, StGB, 16. Aufl. 1985, Anm.3 I c vor §13; Puppe, ZStW 1980, S. 863 ff, 874 ff;
Rudolphi in SK, Rdn. 41 ff vor § 1 ; Samson, Hypothetische Kausalverläufe im Strafrecht,
1972, S. 30 ff; Schönke/Schröder/Lenckner, 22.Aufl„ 1985, Rdn. 76 vor §13; Walder,
SchwZStr. 1977, S. 113ff, 136ff; Wessels, AT, 15. Aufl. 1985, S . 4 6 f ; E.A. Wolff, Kausali-
tät von Tun und Unterlassen, 1965, S. 13.
5 Hempel, Aspects of scientific explanation and other Essays in the Philosophy of
Science, 1965, S.231 ff und 245 ff; Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschafts-
theorie und Analytischen Philosophie, Bd. 1, 1974, S. 86 f. In der juristischen Literatur
finden sich Darstellungen bei Kindhäuser, Puppe, Walder (jew. Fn. 2) und Maiwald,
Kausalität und Strafrecht, 1980, S. 64 ff, der allerdings den Erklärungscharakter des
Modells bestreitet (S.66ff).
40 Joachim Schulz
Aufgeschlüsselt:
a. Gegeben ist die Beschreibung einer Gruppe von Einzelereignissen A], B,, Q , . . .N,
(Antecedensbedingungen).
b. Gegeben sind L 1 ; L 2 ) .. ,Ln (allgemeine empirische Gesetze)
c. Aus diesen Sätzen folgt logisch die Beschreibung eines Ereignisses des Typs E.
Ist ein Ereignis vom Typ E bereits eingetreten, so wird es durch die Sätze unter a.
und b. erklärt, wenn nicht, so kann es aufgrund derselben Sätze vorhergesagt werden.
Logisch besteht kein Unterschied zwischen einer kausalen Erklärung und der Struktur
einer Vorhersage4.
Auf dieser Basis läßt sich nun der genaue Inhalt der Theorie von der
gesetzmäßigen Bedingung formulieren. Dann, genauer: nur dann, wenn
der Täter eine (Antecedens-)Bedingung gesetzt hat, die Bestandteil eines
so aufgefaßten Schemas der kausalen Erklärung ist, kann er kausal für
einen Erfolg gewesen sein. Das schwache „kann" ist deshalb gewählt
worden, weil nicht notwendig mit der Realisierung einer gesetzmäßigen
Bedingung schon die Kausalität feststeht5.
II.
Bereits diese Rohfassung läßt die entscheidenden Punkte hervortre-
ten, die für eine Analyse der Theorie von der gesetzmäßigen Bedingung
von Bedeutung sind. Ihr hervorstechendes Merkmal besteht darin, daß
die Lösung eines Zurechnungsproblems von einer Theorie der kausalen
Erklärung abhängig gemacht wird, die ihrerseits mit einer Prognosefor-
mel strukturgleich ist beziehungsweise die - in juristisch geläufigen
Kategorien formuliert - nichts weiter darstellt als eine objektiv-nach-
trägliche Prognose. Plausibel ist diese Verknüpfung nicht. Zwar geht es
jeweils um Kausalitätsfragen. Doch stellen sie sich dem Juristen anders
als dem Wissenschaftstheoretiker oder Naturwissenschaftler, ja selbst
anders als dem Historiker. Den Juristen interessiert vorrangig nicht, wie
ein Erfolg zu erklären ist, sondern, ob er zugerechnet werden kann. Das
hat schon Engisch6 betont, freilich im Zusammenhang mit der Verteidi-
gung der Adäquanztheorie als Kausalitätstheorie. Bei der Behandlung
der Theorie von der gesetzmäßigen Bedingung7 dagegen formuliert er
der Sache nach nichts anderes als das, was später von Wissenschaftstheo-
retikern das Hempel/Oppenheim-Schema genannt werden sollte8.
4Vgl. Hempel, Aspects (Fn. 3); Stegmüller, Probleme (Fn. 3), S. 153ff.
5Vgl. unten IV.
6 Kausalität (Fn.l), S.48.
7 Ebenda, S. 32 f.
s Vgl. Stegmüller, Probleme (Fn.3), S. 75, 86; aber auch Bernsmann, ARSPh. 1982,
S. 536 ff, 540.
Gesetzmäßige Bedingung und kausale Erklärung 41
III.
Daß diese Verknüpfung von Zurechnungs-, Erklärungs- und Progno-
sefragen unplausibel genannt wurde, bedeutet freilich nicht, daß die
erzielten Ergebnisse nicht zuträfen. In ausgeführter Form, die - jeden-
falls, was die Begehungsdelikte angeht - weitestgehend mit dem von
Puppe' erreichten Standard übereinstimmen dürfte, wird Kausalität kor-
rekt festgestellt. Doch stellt die Theorie so hohe Ansprüche, daß sie -
beim Wort genommen - auch dann einen empirischen Zusammenhang
zwischen Handlung und Erfolg verneinen müßte, wenn er wie selbstver-
ständlich vorliegt. Im folgenden soll daher untersucht werden, ob diese
Selbstverständlichkeit nur ein Trugbild darstellt oder ob auch dann,
wenn man die Verknüpfung aufbricht, gesetzmäßige Bedingungen für
den Erfolg festgestellt werden können, die mehr als eine rein temporale
Beziehung beschreiben.
Wendet man das Schema von der kausalen Erklärung strikt an, so war
A für den Erfolg des §304 StGB nicht kausal. Statt eines allgemeinen
Naturgesetzes, das eine sichere Prognose des Erfolges gestatten würde,
läßt sich aus der Handlungssituation nur eine - geringe - Wahrschein-
lichkeit des Erfolgseintritts dartun. Es fehlt, und insofern ist der Fall
durchaus typisch, nahezu alles, was die Anwendung allgemeiner Sätze
ermöglichen würde. Weder ist die genaue Ausrichtung des Laufs
bekannt noch etwa die genaue Windrichtung und Windstärke, von
feineren Einflüssen auf die Geschoßbahn, die durchaus über den Erfolg-
seintritt entscheiden können, ganz zu schweigen10. Andererseits - so
ließe sich einwenden - verläuft die Geschoßbahn spätestens mit Verlas-
sen des Laufs im determinierten Bereich. Die Abgabe des Schusses muß
somit sicher ein Teil der kausalen Erklärung der Sachbeschädigung sein.
Mehr als das verlangt die Theorie von der gesetzmäßigen Bedingung
nicht.
Aber diese Sicherheit ist nicht Folge der Theorie. Von dem prinzipiel-
len Einwand, daß streng genommen von der Determiniertheit eines
aus in der Zeit rückwärtsgehend entwickelt" wird, hat eine durchaus andere Funktion. Sie
dient allein der Kontrolle der nach dem prognostischen Schema erzielten Ergebnisse
daraufhin, ob Ersatzursachen wirksam geworden sind.
16 Vgl. Uckner, StGB, 16. Aufl. 1985, Anm. III 1 c vor § 13 StGB; Walder, SchwZStr.
1977, S. 113 ff, 138 ff.
Gesetzmäßige Bedingung und kausale Erklärung 43
schaffenheit usw.) zerspringen nur (auf diese Weise), wenn kurz zuvor
der Auslösemechanismus einer Schußwaffe betätigt wurde." Ein weite-
rer: „Schußwaffen für Projektile dieser Art entfalten nur bei einer
Entfernung unter 100 m die erforderliche Aufschlagwucht." Außerdem
taucht noch (mindestens) eine Einzelbehauptung des Musters auf: „Im
Umkreis von 100 m von der Statue hat nur A eine Schußwaffe betätigt."
Diese Beispielssätze sind natürlich nicht vollständig. Für eine tatsäch-
lich erforderliche Begründung der Kausalität ließen sie sich sicherlich
auch geschickter formulieren. Aber sie zeigen genau die allgemeinen
Strukturelemente, die eine nicht quasi-prognostisch arbeitende Kausali-
tätsbegründung enthalten muß. Zunächst bedarf es allgemeiner Sätze,
wonach Ereignisse einer bestimmten Art (Wirkungen) nur auftreten,
wenn andere Ereignisse (Bedingungen) zuvor aufgetreten sind. Außer-
dem werden Sätze benötigt, die die Tathandlung unter eine der Bedin-
gungen subsumieren. Im übrigen ist der Typus der sonst verwendeten
Sätze beliebig. Es können also auch allgemeine prognostisch orientierte
Erfahrungssätze verwendet werden, wie der über die Reichweite von
Schußwaffen. Es muß nur gewährleistet sein, daß insgesamt der Schluß
von den Wirkungen auf die Bedingungen trägt.
Grundsätzlich bewältigt diese Vorgehensweise auch die Konstella-
tion, daß außer der untersuchten Handlung noch andere Handlungen
oder Naturereignisse eine Bedingung des retrospektiven Erfahrungssat-
zes erfüllen. Das ist dann problematisch, wenn nach der Art der
Wirkung nicht alle Bedingungen kumulativ gewirkt haben können.
Worum es geht, wird deutlich, wenn man den Ausgangsfall dahingehend
ergänzt, daß außer A noch B, allerdings mit einem Gewehr, geschossen,
aber nur ein Geschoß getroffen hat. Nach den Erfahrungssätzen, wie sie
oben beispielhaft formuliert worden sind, hätten A wie Β eine Bedin-
gung für die Beschädigung der Statue gesetzt. Nach der Wirkungsbe-
schreibung, die ihrerseits nur das Ergebnis der Anwendung von Erfah-
rungssätzen formuliert (Splitter dieser Art treten nicht auf, wenn zwei
Geschosse einschlagen.) dagegen ist ausgeschlossen, daß hier ein Fall
kumulativer Kausalität vorliegt. Abhilfe schafft z.B. eine genauere
Beschreibung der Wirkung und, darauf aufbauend, der retrospektiven
Erfahrungssätze. Im Beispielsfall etwa mag der Sachverständige bekun-
den, daß Splitter dieser Art nur auftreten, wenn ein Gewehrgeschoß
einschlägt. Ein anderer Weg, der freilich im Beispielsfall mangels ent-
sprechender Informationen wohl kaum zum Ziel führen würde,
bestünde darin, möglichst ausreichend viele Zwischenwirkungen auf
dem Weg vom Erfolg zur Bedingung in die Analyse einzubeziehen 17 .
17
Es handelt sich hierbei um nichts anderes als die - wegen der Retrospektive
notwendigen - Umkehrung des von Puppe, ZStW 1980, S. 863 ff, 888 ff geschilderten
Verfahrens.
44 Joachim Schulz
Vgl. Stegmüller,
18 Probleme (Fn.3), S. 178 m.Nachw.
" Vgl. auch das Beispiel von Maiwald, Kausalität (Fn. 3), S. 92. Das in diesem
Zusammenhang vorgetragene Argument besagt freilich nur, daß bei unsicherer Prognose
Kausalität nicht ausgeschlossen ist.
20 Ebenda, S. 179.
Gesetzmäßige Bedingung und kausale Erklärung 45
Betreffende im Frack war. Das mag so sein. Aber gerade, wenn dies so
ist, erweist sich die Notwendigkeit, die Theorie von der gesetzmäßigen
Bedingung aus ihrer Verknüpfung mit der kausalen Erklärung zu lösen.
Denn der empirische Zusammenhang zwischen dem Erfolg und der
Frackkleidung, der sich durch retrospektive Erfahrungssätze belegen
läßt, genügt dem Juristen. Wandelt man den Fall dahingehend ab, daß
die Bank durch betrügerische Manipulationen gesprengt wurde und daß
X den Frack dem Täter in Kenntnis des Vorhabens zur Verfügung
gestellt hatte, so hat X auch nach der Ansicht eine Beihilfe zum Betrug
begangen, die hierfür Kausalität für den Erfolg verlangt 21 .
3. Solange man daran festhält, daß die Kausalität einer Bedingung nur
im Rahmen einer Theorie der Erfolgserklärung festgestellt werden kann,
läßt sich ein Problem nicht lösen: das der psychischen Kausalität. Die
Schwierigkeiten treten dann auf, wenn das Herbeiführen eines bestimm-
ten psychischen Zustandes oder einer menschlichen Handlung zu den
tatbestandlich erfaßten (Zwischen-)Erfolgen gehört, wie etwa bei der
Anstiftung, der Rathilfe oder dem Betrug 22 . Konsequenterweise müßte
nämlich die Handlung der anderen Person durch die Bedingung erklärt
werden. Unter der Voraussetzung, daß menschliches Handeln nicht
vollständig determiniert 23 ist, scheidet für eine dem Erklärungsmodell
verpflichtete Theorie der gesetzmäßigen Bedingung schon die Möglich-
keit einer Kausalitätsfeststellung aus24. Andererseits besagt die indeter-
ministische Hypothese nicht, daß menschliche Handlungen von Außen-
phänomenen unbeeinflußt vorgenommen werden und auch nicht, daß
das O b solcher Einflußnahmen prinzipiell nicht feststellbar sei. Verlangt
A in einem Geschäft 50 Schrauben einer bestimmten Größe und händigt
der Verkäufer 50 Schrauben dieser Größe aus, so besteht intuitiv kein
Zweifel, daß ein empirischer Zusammenhang zwischen dem Verlangen
und der Aushändigung der Ware besteht. Gelingt es, das intuitiv gewon-
nene Ergebnis methodisch gesichert zu erzielen und diese Methode
allgemein zu beschreiben, so sind auf theoretischer Ebene die Probleme
der psychisch vermittelten Kausalität gelöst. Denn auch insoweit genügt
nicht die eines Auslösers. Ohne konkrete Anhaltspunkte für das Vorlie-
gen dieser Bedingung, darf sie aber weder festgestellt, noch zugunsten
des Β unterstellt werden.
Bedenken gegen diese prozessuale Lösung der theoretischen Schwie-
rigkeiten sind letztlich unberechtigt. Denn die Notwendigkeit, das
NichtVorliegen einer Bedingung feststellen zu müssen, ergibt sich ganz
allgemein für jede F o r m der Kausalitätsprüfung und bei jeder „Art" der
Kausalität. Immer muß der Sache nach eine Ausschlußdiagnose hinsicht-
lich der Bedingungen gestellt werden, die, wenn sie vorlägen, unter den
herangezogenen Erfahrungssatz subsumiert werden könnten 26 . Die
Theorie von der gesetzmäßigen Bedingung stützt auf diesen Befund
sogar ihre Begründung eines einheitlichen Kausalbegriffs für Begehungs-
und Unterlassungsdelikte 27 . Aber auch wenn man diesen Rahmen ver-
läßt, so ist jedenfalls der (meist stillschweigende) Ausschluß überholen-
der Kausalität erforderlich.
Eine weitere Schwierigkeit, daß nämlich - ceteris paribus - die
Feststellung des NichtVorliegens eines Sachverhalts im allgemeinen 28
wesentlich problematischer ist als die Feststellung seines Vorliegens,
trifft dementsprechend alle Kausalitätsfeststellungsverfahren, ist aber bei
allen auch „nur" ein Problem des Beweiswürdigungsrechts.
anderen aber nicht. Betraut man zwei Personen damit, je einen Heuhaufen daraufhin zu
untersuchen, so wird in aller Regel diejenige eher zum Ziel gelangen, in deren Heuhaufen
sich die Nadel verbirgt.
29 Kindhäuser, G A 1982, S. 4 7 7 ff; Bernsmann, ARSPh. 1982, S. 536 ff.
30 Kindhäuser, ebenda, S. 4 9 8 kumuliert handlungstheoretische und kausale Erklärung.
48 Joachim Schulz
IV.
1. So plausibel die Verwendung retrospektiver Erfahrungssätze auch
scheinen mag, so ist doch ihre Brauchbarkeit zur Kausalitätsfeststellung
in den bisherigen Ausführungen eher vorausgesetzt als theoretisch abge-
sichert worden. Auch wer zugesteht, daß von der rechtlichen Problem-
lage her eine Verknüpfung der Theorie von der gesetzmäßigen Bedin-
gung mit einer Theorie der kausalen Erklärung nicht notwendig sei,
könnte darauf beharren, daß sie sich empirisch gesehen nicht vermeiden
lasse, wolle man halbwegs sicher sein, Kausalität und nicht irgendetwas
anderes, etwa ein regelmäßiges ante hoc, festzustellen.
" So Bernsmann und letztlich auch Kindhäuser, der die dogmatischen Konsequenzen
seiner Konzeption offen läßt.
'2 Bernsmann, ebenda, S. 554.
" Bernsmann, ebenda, S. 550.
Gesetzmäßige Bedingung und kausale Erklärung 49
3< Popper, Logik der Forschung, 7.Aufl. 1982, S.431, 433. Dagegen Keuth, Realität
S. 18, Fn.24; Jakobs, AT, S. 162 u. 653, und Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1972,
S. 21 f.
50 Joachim Schulz
V.
I.
1. Jeder Schadensverlauf, den man nicht als quantité negligable abtun
kann, desorientiert, solange er nicht erklärt5 ist. Die Erklärung, die das
* Ein Risiko ist ein Komplex von Erfolgsbedingungen, die zu einem Erklärungszusam-
menhang gehören; die Grenze des Begriffs zieht also der Zweck: Erklärung von Schadens-
verläufen (siehe Fn. 3). Es fehlt nicht an Versuchen, das Risiko von den wirkenden
Bedingungen zu lösen und stärker an einer Ex-ante-Betrachtung auszurichten. Der
bekannteste Versuch ist die Risikoerhöhungslehre, zu der sich Verf. an anderer Stelle
geäußert hat, zuletzt: Strafrecht AT, 1983, 7/98 ff mit Nachweisen. Die seit Anfang 1983
erschienene Spezialliteratur dafür wie dagegen ( B i n d o k a t , JuS 1985, S. 32 ff ; Arthur
Kaufmann, Jescheck-Festschrift, 1985, S. 273 ff; Ranft, NJW 1984, S. 1425 ff; Scblüchter,
Risikokonkurrenz - Schadensverlauf u. Verlaufshypothese im Strafrecht 55
J A 1984, S. 673 ff; Schünemann, StV 1985, S. 229 ff; ders., GA 1985, S. 341 ff; zu Krümpel-
mann sogleich in dieser Fn. ; zu Puppe siehe Fn. 17; siehe auch die Nachweise in Fn. 25) hat
zahlreiche Detailpräzisierungen, aber nichts prinzipiell Neues gebracht. Der bislang letzte
und subtilste Versuch stammt von Krümpelmann (Jescheck-Festschrift, 1985, S. 313 ff);
ders., G A 1984, S. 491 ff, 503 f; schon ders., Bockelmann-Festschrift, 1979, S. 443 ff,
447ff). Sehr stark vergröbernd: Nach Krümpelmann sollen die „Pflicht" des Täters und ein
ihr korrespondierender „Anspruch" des Opfers ex ante zu bestimmen sein (Jescheck-
Festschrift, S. 318). Die Tatsachenbasis der Prognose der „Gefährlichkeit" (das vom Täter
zu verantwortende Risiko) und „Gefährdetheit" (die - wie bestimmte? - Nachrangigkeit
der vom Opfer selbst eingebrachten Risiken) sollen im Prozeß bewiesen werden müssen
(S.322). Zur „Gefährdetheit" heißt dies, daß der „Status" des Patienten (etwa ob der
Patient bei insgesamt dubioser Verlaufsprognose zur Gruppe der Risikopatienten oder
derjenigen mit guten Chancen gehört) zu beweisen ist (S.322ff). Steht fest, daß die
„Pflicht" und ein ihr korrespondierender „Anspruch" bestehen, soll es weder auf die Höhe
einer Rettungschance („eine meßbare Chance muß ausreichen", S.333) noch auf die
Verlaufshypothese nicht verwirklichter Verhaltensalternativen ankommen (S.326f, 329).
Für die von Krümpelmann hauptsächlich behandelten Fälle unterlassener ärztlicher Hilfe
heißt das: Bestehen „Pflicht" und „Anspruch" (ist der Status also nicht so sehr desolat, daß
keine Hoffnung bleibt), so zählen nur Komplikationen, zu denen es auch gekommen ist
(keine Berücksichtigung von Verlaufshypothesen), aber es zählen die Fehler, die gemacht
wurden. Krümpelmann behandelt also den Schadensverlauf, der ohne fehlerhaftes Verhal-
ten stattfände, unter der bezeichneten Voraussetzung als ein nicht verwirklichtes Aliud zu
dem wirklichen Verlauf mit fehlerhaftem Verhalten. Daß der Verlauf ohne Verhaltensfeh-
ler auch zum Schaden geführt hätte, ist bei diesem Ansatz irrelevant: Hypothesen erklären
nicht die Wirklichkeit. - Krümpelmanns Methode garantiert freilich nicht, daß der
Verhaltensfehler das sich verwirklichende Risiko (mehr als in bloßen Begleitbedingungen)
beeinflußt, daß also mit dem Fehler ein anderes Risiko wirkt als ohne den Fehler wirken
würde. Gelingt es nicht, im Prozeß einen „Status" zu beweisen, der die Schadensvermei-
dung oder aber den Schadenseintritt gewiß macht, so handelt es sich um einen Pauschal-
status, bei dem man über Details nichts weiß. Schon deshalb (man weiß nichts!) läßt sich
nicht garantieren, daß das fehlerhafte Verhalten mehr als Begleitbedingungen variiert.
Zudem kann nicht ohne Willkür bestimmt werden, auf welchem Level dieser Status fixiert
werden soll (etwa vor einer Operation: Robustheit insgesamt oder getrennt nach Herzsta-
tus, Lungenstatus etc.). - Nun mag freilich eingewendet werden, es sei nicht notwendig,
die Identität von Risiken naturalistisch nach dem wirkenden Bedingungskomplex zu
bestimmen; auch eine bestimmte Pflichtenlage könne zum Identitätskennzeichen erklärt
werden, wenn dies zweckmäßig sei. Dieser Einwand paßt trotz seiner Plausibilität nicht zu
einem Strafrecht, das auf Erfolgsdelikte ausgerichtet ist: Diese zwingen per Definition des
Erfolgs zu einem Mindestnaturalismus. Krümpelmann verkennt das auch nicht, was die
Erfolgsprognose, wohl aber, was die Zurechnung des eingetretenen Erfolgs angeht: Die
Suche nach der Beziehung zwischen Pflichtwidrigkeit und eingetretenem Erfolg soll eine
„Kategorienverwischung" sein, S. 319; dazu auch Puppe, ZStW 95, S. 287ff, 290. Aber die
Feststellung, daß ein Normbruch Folgen gezeitigt hat, verwischt nichts. Es geht bei
Krümpelmann um etwas anderes (sonst müßte Krümpelmann auch die Beziehung zwi-
schen Normbruch und Erfolgsprognose für eine Kategorienverwischung halten): Versuch
wird gegen Vollendung ausgespielt. Die Logik des Unrechts eines Erfolgsdelikts verträgt
aber keinerlei Beschneidungen der Ex-post-Betrachtung; sie ist mit der Logik des Hand-
lungsunrechts nur bedingt verträglich. Beispielhaft gesprochen: Wer das wenig Wahr-
scheinliche bis zur Sicherheit steigert, haftet praktisch nicht für den Erfolg, solange nicht
die Verwirklichung der spezifischen Steigerungsgefahr ausgemacht ist, aber wer ein Risiko
durch ein kleines, in seiner Verwirklichung jedoch erkennbar anderes Risiko ersetzt, haftet
- wegen der Erkennbarkeit der Verwirklichung - praktisch immer für den Erfolg: Der
Naturalismus des Erfolgsdelikts konterkariert die Bewertungen der Pflichtenlage.
56 Günther Jakobs
II.
1. Die Anwendung des bislang simplen Modells für die Erklärung von
Schadensverläufen wird bereichsweise verzwickt, wenn mehrere Erklä-
Nach Samson, Hypothetische Kausalverläufe, 1972, S. 88 f.
5
Die Eigenschaft als Begleitbedingung besteht nicht absolut, sondern immer nur in
6
einem bestimmten Risikokontext. Wenn im Beispiel das Drehen des Möbelstücks Begleit-
bedingung bei der Sachbeschädigung ist, so kann es doch etwa beim Versuch, die
Feuerwehr zu hindern, Personen zu retten, wesentlicher Verlaufsschritt sein.
Risikokonkurrenz - Schadensverlauf u. Verlaufshypothese im Strafrech: 57
7
Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, S. 16;
ders., V o m Weltbild des Juristen, 2. Auflage, 1965, S. 130 mit F n . 2 8 8 ; ders., v. Weber-
Festschrift, 1963, S . 2 4 7 f f , 261; Lackner (Fn. 1), Anm. III l c a a vor § 1 3 mit weiteren
Nachweisen.
58 Günther Jakobs
würden, sondern was sie bewirkt haben8. Weiß man nicht, was sie
bewirkt haben, läßt sich auch die Frage nicht beantworten, was ohne sie
wäre; weiß man, was sie bewirkt haben, braucht man die Frage nicht zu
stellen. Selbst wenn man die Frage nach dem hypothetischen Verlauf
richtig beantwortet, trägt sie zur Lösung nichts bei; denn die Wirklich-
keit ist nicht davon abhängig, was wäre, wenn einiges an ihr anders
aussähe. Freilich kann man aus dem Wissen, wie eine hypothetische
Welt aussieht, und zudem dem Wissen, durch welche Variationen des
Wirklichen die Hypothese gewonnen wurde, darauf zurückschließen,
wie die Wirklichkeit gestaltet ist - aber es sind keine Vorteile dieses
komplizierten und fehleranfälligen Verfahrens ersichtlich.
Die Hypothesenformel produziert nicht stets, sondern nur in Fällen
bereitstehender Reserverisiken fehlerhafte Ergebnisse; die Lösung der
anderen Fälle ist freilich trivial. Die breite Verwendung der Hypothe-
senformel läßt die Vermutung zu, daß sie noch eine andere Funktion
hat, als Selbstverständliches bei unkomplizierten Sachverhalten wieder-
zugeben. Zur Bestätigung dieser Vermutung soll kurz dargestellt wer-
den, was die Formel überhaupt zu leisten vermag. Kann man an einem
System alle Eingangsfaktoren (also auch eventuelle Ersatzbedingungen)
und alle Ausgangsfaktoren kontrollieren, so läßt sich durch kontrollierte
Variation der Eingangsfaktoren und Kontrolle der Ausgangsfaktoren
ermitteln, welcher Input Bedingung für welchen Output ist. Das Ergeb-
nis lautet etwa (in der einfachen Gestalt einer sowohl notwendigen wie
hinreichenden Bedingung): Immer dann und nur dann, wenn im System
S der Input i erfolgte, ereignete sich der Output o. Unter hier nicht
weiter interessierenden Kautelen läßt sich daraus ein Zusammenhang
ableiten, der praktisch nicht mehr angefochten werden kann: Im System
S bedingt i notwendig und hinreichend o. Der Experimentator muß eine
Hypothese im Sinn einer Vermutung aufstellen, um überhaupt beginnen
zu können (etwa: Beim System S könnte der Input i einen bestimmbaren
Output bedingen). Den Realitätsgehalt der Vermutung prüft der Experi-
mentator freilich dadurch, daß er die Wirklichkeit das eine Mal mit dem
' So neuestens insbesondere auch Ranft, N J W 1984, S. 1425 ff, 1427 ff; Krümpelmann,
Jescheck-Festschrift, 1985, S. 326 f, 329 f. - Daß einem Gut nicht durch Hypothesenbe-
riicksichtigung die normative Garantie genommen werden darf, wird durchwegs jedenfalls
für hypothetisches Unrecht (nicht aber auch stets gleichermaßen für eine hypothetische
Obliegenheitsverletzung) anerkannt: B G H 30, S. 228 ff, 231; Kahn, Das Vermeidbarkeits-
prinzip und die conditio-sine-qua-non-Formel im Strafrecht, 1968, S. 75 ff, 283; Niewen-
huis, Gefahr und Gefahrverwirklichung im Verkehrsstrafrecht, 1984, S. 94 ff; Otto, Mau-
rach-Festschrift, 1972, S. 91 ff, 103; Roxin, ZStW 74, S.411, 435; Samson (Fn.5), S. 125 f,
141; Puppe, JuS 1982, S. 660 ff, 664; Leipziger Kommentar-]escheck, 10. Auflage, Bd. 1,
1985, Rdn.63 vor § 1 3 ; Systematischer Kommentar-Rudolphi, 3. Auflage, Bd. 1, 1984,
Rdn. 60 vor § 1 ; Stratenwerth, Strafrecht AT, 3. Auflage, 1981, Rdn. 227; in der Lösung
wohl offen Arthur Kaufmann (Fn. 4), S. 274.
Risikokonkurrenz - Schadensverlauf u. Verlaufshypothese im Strafrecht 59
Faktor i gestaltet und das andere Mal ohne i und so weiter wechselnd.
Der Experimentator lernt also durch die Gegenüberstellung von Alter-
nativen, und nur um diesen Umstand darf es bei juristischen Hypothe-
sen gehen, die zu Bedingungskonkurrenzen gebildet werden. Um zu
verdeutlichen, wie man die Verwirklichung bestimmter Bedingungen
oder eines bestimmten Risikos erfahren kann, formuliert man eine
Alternative zum wirklich geschehenen Fall; diese Alternative kommt
natürlich - im Gegensatz zu den Varianten, die ein Experimentator
anbringt - nie zur Verwirklichung und wird deshalb im casus irrealis
formuliert. Der Satz: „Ein Risiko hat sich verwirklicht, wenn der Erfolg
bei einer Lage ohne die Risikofaktoren ausgeblieben wäre", darf dem-
nach9 nur wie folgt verstanden werden: „Die benannten Risikofaktoren
haben den Erfolg bedingt; soll diese Erfahrungstatsache demonstriert
werden, so muß der insgesamt kontrollierte Input des identischen
Systems um die bestimmten Faktoren verkleinert werden..." etc. Es
geht um die Erfahrbarkeit von wirklichen Zusammenhängen zwischen
bestimmten Bedingungen und einem bestimmten Erfolg.
Der Schwerpunkt der Information, die durch den Gebrauch der
Hypothesenformel geleistet werden kann, muß nicht und dürfte auch
meist nicht bei der Mitteilung der Erfahrbarkeit des behaupteten Zusam-
menhangs liegen, sondern bei der Bestimmung der Faktoren, die das
Risiko ausmachen, und bei der Bestimmung des Systems, um dessen
Output es geht. Inbesondere wenn Faktoren quantifiziert werden sollen
(50 Stundenkilometer statt 70 Stundenkilometer), läßt sich die Bestim-
mung leichter durch Gegenüberstellung von Sachverhaltsvarianten tref-
fen als durch eine isolierte Beschreibung der Differenz zwischen diesen
Varianten. Jedenfalls geht es nicht um die Ermittlung einer Risiko Ver-
wirklichung, sondern um die Benennung einer schon ermittelten Wir-
kung.
Die - auch von Lacknerw verwendete - übliche Formulierung, es
handle sich bei der Risikoverwirklichung nicht um ein Problem der
Kausalität, ist nur in dem Sinn richtig, daß bei Verneinung einer
Risikoverwirklichung nicht auch schon die Kausalität einer Handlung
für den Erfolg verneint werden muß, so wie bei Verneinung der Kausali-
tät einer Handlung nicht schon - etwa - die Kausalität eines Krampfan-
falls oder der Befindlichkeit eines menschlichen Körpers an einer
bestimmten Stelle verneint werden muß. Aber wie die Kausalität einer
Handlung eine Spezifizierung des Umstands ist, daß ein Mensch irgend-
wie für einen Erfolg kausal wurde, so ist auch die Risikoverwirklichung
' N a c h Ausschaltung der auf einen Saldo, also auf eine Geschehensdifferenz abstellen-
den Lehre; dazu unten II 2.
10 (Fn. 1) § 15 A n m . III 2 b aa und bb.
60 Günther Jakobs
11 Diese Lehre ist häufiger inoffizielles denn offizielles Programm. Bei der Lösung von
Risikokonkurrenzen beruht jede Operation mit der Hypothesenformel, bei der die F o r m e l
nicht nur heuristisches Mittel zur Darstellung des wirklichen Verlaufs ist, auf dieser Lehre.
Ausdrücklich folgt ihr Arthur Kaufmann, Eb. Schmidt-Festschrift, 1961, S. 2 0 0 ff, 229
(siehe aber auch ders., F n . 4 , S. 273 ff); sie gibt auch den Grundgedanken bei Samson ab
(Fn. 5), der auf die (Rechtsguts-),.Verkürzung" abstellt, S. 97 (das „Verkürzungsprinzip"
wird freilich durch Sicherungen zur Erhaltung der normativen Garantien für ein Gut
modifiziert, S. 125 ff, 141 ; ders., Peters-Festschrift, 1974, S. 121 ff, 132 ff). Soll es auf einen
naturalistisch verstandenen Rechtsgüterschutz ankommen, so ist der Ansatz konsequent
(Jakobs, Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1972, S. 24 ff: „Erfolgsrelevanz"). Aber
dieser Ansatz liest die Bedeutung eines Verhaltens zu einseitig aus dem Saldo der Effekte
und vernachlässigt die Handlungsgestalt. - Z u m folgenden T e x t siehe zudem Rödig, Die
Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, 1969, S. 110 ff; E.A. Wolff, Kausalität von
Tun und Unterlassen, 1965, S. 19 ff.
Risikokonkurrenz - Schadensverlauf u. Verlaufshypothese im Strafrecht 61
12 Wenn das spätere Verhalten vollzogen wird, um den Schaden der primären Gefahr
gering zu halten, verwirklicht sich die primäre Gefahr. Beispiel: Erschießt ein Landwirt
sein Vieh, weil er es bei einem Brand nicht retten kann und ihm Qualen ersparen will, so ist
dies eine Verwirklichung der Brandgefahr, also, sofern der Täter den Tod des Viehs durch
Feuer wenigstens für möglich gehalten hatte, vorsätzliche Sachbeschädigung.
13 Gewiß tragen auch diese Delikte ihren Sinn nicht in sich selbst. Aber ein Sinn läßt
sich nicht nur im aktuellen Güterschutz finden, sondern auch in der Tabuierung von
Handlungen mit bestimmten Folgen für ein Gut. Daß die zuletzt genannte Sicht das
Erfolgsdelikt in die Nähe abstrakter Gefährdungsdelikte rücken kann (oder, wenn der
Täter das hypothetische Risiko nicht kennt, in die Nähe des Versuchs), wird eingeräumt
und muß Konsequenzen für die Strafzumessung zeitigen; dazu eingehender Jakobs (Fn. 4),
7/92 ff.
Risikokonkurrenz - Schadensverlauf u. Verlaufshypothese im Strafrecht 63
einem tauschbaren Gut mag das durchgehen, aber bei einem höchstper-
sönlichen Gut dürfte das Ansehen des Guts leiden, wenn man es ohne
vernünftigen Grund vernichten kann, nur weil es sowieso nicht mehr zu
retten ist. Beispiel: Geht ein Schiff mit seiner Besatzung unrettbar unter,
so mag zweifelhaft sein, ob die Löcher, die jemand aus dürftigem Anlaß
in die Bordwand schießt, noch Sachbeschädigungen sind; - die sich
Quantifizierungen entziehende Höchstpersönlichkeit des Lebens dürfte
entsprechende Zweifel am Totschlag bei Schüssen in die Köpfe der
Besatzungsmitglieder nicht aufkommen lassen14. Schließlich schleppt
diese Lehre die Bindung an ein identisches Gut wie einen Atavismus mit
sich herum. Wenn man schon danach fragt, welche Chancen ein Gut
seinem Inhaber noch bietet, so gehört zu einer vollständigen Antwort
eine Verrechnung im gesamten Gutsbestand eines Inhabers (und es ist
nicht einmal ausgemacht, daß es dabei bleibt; es läßt sich auch eine
Berechnung des überpersönlichen Gesamtschadens oder Gesamtnutzens
ausmachen). Beispielhaft gesprochen: Wenn man eine Sache zerstören
darf, die sowieso verloren ist, müßte auch die Zerstörung einer gesicher-
ten Sache tatbestandslos sein, falls ansonsten eine wertvollere Sache
desselben Inhabers (zudem: wieso nur desselben Inhabers?) oder gar
dessen Leib und Leben verloren wären. Daß das geltende Recht solche
Konflikte erst auf der Rechtfertigungsebene verrechnet (mutmaßliche
Einwilligung als Unterfall des rechtfertigenden Notstands), zeigt erneut,
daß die Lehre nicht paßt.
III.
1. Mehrere Risiken können sich nicht gemeinsam verwirklichen, da ein
Erfolg nicht mehr als einmal bedingt werden kann 15 . Freilich können für
ein Risiko mehrere Personen zuständig sein, und wenn dies in Gestalt
der Nebentäterschaft geschieht, mag der Eindruck erweckt werden, es
gehe um mehrere Risiken. Aber dieser Eindruck trügt. Beispielhaft
gesprochen": Wenn ein Automobil beim Uberholen eines Radfahrers
Anregung oder sonstigen Beeinflussung (S. 294 f). Hierbei kommt es aber nicht darauf an,
ob der Täter sich „determiniert" auf den Vorschlag einläßt; vielmehr genügt, daß eine
eventuell erfolgende Einlassung jedenfalls auch durch den Vorschlag bedingt ist (ähnlich
auch Puppe, S. 295). Damit sind freilich nicht die Fälle zu erledigen, in denen der Täter
fremdpsychische Vorgänge nicht-ermöglicht (etwa durch Vorenthalten einer Information)
oder hindert (etwa durch Verstopfen einer Informationsquelle). Was hierbei die Fälle
angeht, in denen eine Rechtspflicht des Informationsempfängers bestand, die Information
zu nutzen, ist, um dem Opfer die normative Garantie zu erhalten, von der rechtmäßigen
Motivation des Empfängers auszugehen (so auch Puppe, S. 296), oder, wenn es sich beim
zu Informierenden um das Opfer selbst handelt, etwa beim Betrug, von seiner Motivation
zur Erfüllung seiner Obliegenheiten zum Selbstschutz (anders Puppe, S. 296). Es bleiben
die Fälle, in denen der zu Informierende weder durch Pflichten (auch nicht solche gemäß
§ 3 2 3 c S t G B ) noch durch Obliegenheiten gebunden ist. E r mag aber durch sonstige
Vernunftgründe beeinflußbar sein (ein Defizit an nachweisbarer Determination im natur-
wissenschaftlichen Verständnis heißt nicht zwingend, der Ablauf geschehe regellos); auf
dem kognitiven Venrauen in solche Bindungen beruht die Besorgung alltäglicher· Angele-
genheiten. Ist die Beeinflußbarkeit aber zweifelhaft, so ist bislang kein Grund dargetan
worden, dem Täter mehr anzulasten als einen Versuch, wenn man überhaupt an der
Trennung zwischen Versuch und Vollendung festhalten will.
66 Günther Jakobs
sein: Der Erfolg bleibt dann aus, also müßten sich beide Risiken
zusammen verwirklicht haben. Diese Lösung wäre aber falsch; denn es
handelt sich nicht um zwei Risiken, sondern nur um eines: Ein Fahrzeug
und ein Fußgänger treffen so zusammen, daß Ausweichreaktionen nicht
mehr möglich sind. Die Berechtigung zur Zusammenfassung der beiden
Risiken „Geschwindigkeitsüberschreitung" und „unvorsichtiges Betre-
ten der Straße" in einem allgemeinen Risiko ist freilich erläuterungsbe-
dürftig: Die Einzelrisiken sind nicht in jedem Kontext zutreffend
beschrieben; vielmehr paßt die Beschreibung nur, wenn die Zustände
ansonsten nicht vom Sollzustand abweichen. Im Beispiel: Für sowieso
unrettbar schnell und unvorsichtig auf die Straße eilende Fußgänger
bringt die Geschwindigkeitsüberschreitung eines Automobils kein
Risiko, sondern allenfalls eine Variation der Begleitumstände, und für
sowieso unbeherrschbar schnell fahrende Automobile gilt entsprechen-
des bei Fußgängern, die schnell und unvorsichtig die Straße betreten.
Eine Situation, in der ein Zusammentreffen von Fahrzeug und Fußgän-
ger ohne Ausweichchance sowieso unvermeidbar ist, degradiert alterna-
tiv jedes der beiden genannten Einzelrisiken zum bloßen Auslöser
variierter Begleitbedingungen. Im Kontext des jeweils anderen Einzelri-
sikos verlieren also beide ihre Erklärungskraft. Als erklärungskräftiges
Risiko bleibt das von beiden Einzelrisiken spezifizierte allgemeinere
Risiko: Zusammentreffen ohne Chance eines Ausweichens. Aber wer ist
dafür zuständig?
Bevor eine Antwort versucht wird, soll an einem weiteren Beispiel
gezeigt werden, daß die Problematik auch ohne Zeitgleichheit der
risikoschaffenden Verhaltensweisen und auch bei unvermeidbarem Ver-
halten entstehen kann: Das Seil eines Aufzugs bricht, als eine Last in den
Korb geworfen wird; der Korb stürzt ab und verletzt einen Menschen.
Einige Drähte des Seils waren beschädigt; deshalb trug es nur noch
erheblich weniger als die zugelassene Höchstlast. Die eingeworfene Last
war freilich erheblich schwerer als diese Höchstlast. Für beide Defekt-
gründe mögen zu unterschiedlichen Zeiten verantwortliche Personen
unsorgfältig gehandelt haben (das Seil bei Wartungsarbeiten beschädigt;
das Bedienungspersonal mißverständlich beraten), oder für einen oder
für beide mag die Schadensneigung nicht erkennbar gewesen sein. Es
können also zwei vermeidbare Verläufe konkurrieren oder aber zwei
unvermeidbar unglückliche Verläufe, oder es trifft ein vermeidbarer
Verlauf mit einem Unglück zusammen. Nun scheint bei der Schadens-
realisierung die Uberlast auf den ersten Blick keine Rolle zu spielen; der
eventuell für die Last Zuständige könnte vorbringen, als die in den Korb
geworfene Last gemäß den Regeln der Schwerkraft das Seil belastete, sei
dies nur bis zu einem Gewicht geschehen, das geringer war als die
zugelassene Höchstlast (denn sodann brach das Seil). Die Uberlast sei
Risikokonkurrenz - Schadensverlauf u. Verlaufshypothese im Strafrecht 67
" Anders verhält es sich bei der Leistung vori Substanzen (Gift etc.); es kann dann zwar
zu Vermischungen und dadurch zu einer gemeinsamen Verwirklichung kommen, aber die
Anteile der einzelnen Leistungen am Schadensverlauf bleiben - zumindest in der Theorie -
immer trennbar. Beispielhaft gesprochen: Wird das Wasser eines Brunnens von mehreren
68 Günther Jakobs
Personen unabhängig voneinander in gleicher Art verschmutzt, mag bei einer Erkrankung
derjenigen, die das Wasser getrunken haben, praktisch nicht zu ermitteln sein, welcher
Täter für die aktuell wirkenden Krankheitserreger zuständig ist; in der Theorie ist die
Zuordnung freilich immer eindeutig. Es wird nicht behauptet, diese an eine Substanz oder
an eine Substanzart gebundene Betrachtung sei notwendig; sie ist aber üblich, wenn auch
nicht unstreitig: für Kausalität aller Leistenden Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Auf-
lage, 1969, § 9 II d; Tarnowski, Die systematische Bedeutung der adäquaten Kausalitäts-
theorie für den Aufbau des Verbrechensbegriffs, 1927, S. 45 ff. Ob sie überwunden werden
könnte (etwa durch eine Konzeption, die auf die Richtung des Schadensverlaufs abstellt),
wird hier nicht mehr untersucht.
" Für den Rücktritt heißt das: Wer die Gesamtquantität an Bedingungen um das von
ihm geleistete Maß reduziert, hat den eigenen Tatbeitrag paralysiert, auch wenn die
Restmenge hinreichend bleibt.
Risikokonkurrenz - Schadensverlauf u. Verlaufshypothese im Strafrecht 69
Notarzt nicht finden kann, schafft ein Risiko, das sich zwar nicht verwirklicht, wenn der
Notarzt der Verletzung sowieso nicht gewachsen war (der Verlauf zur Tatzeit war nicht
mehr rettend), wohl aber dann, wenn der Notarzt nach dem Verbergen von einer dritten
Person rechtswidrig festgehalten wird (die dritte Person handelt, wenn der Verlauf schon
nicht mehr rettend ist, der Verlust der Rettungsmöglichkeit wird also nur „überbedingt").
- Rettende Verläufe, die von Menschen betrieben werden müssen, die nicht Garanten
(sondern allenfalls nach §§323 c, 138 StGB verpflichtet) sind, stehen natürlichen Verläufen
gleich: Wird die Rettung nicht durchgehalten werden, so ist der Verlauf auch zu keinem
Zeitpunkt vor dem Abbruch rettend. Beispiel: Wer eine hilfswillige, aber nicht hilfspflich-
tige Person festhält, die freilich im nächsten Gasthaus ihre Hilfspläne sowieso vergessen
hätte, bricht keinen rettenden Verlauf ab (anders bei Garanten, bevor diese den Rettungs-
abbruch perfekt gemacht haben). - Der perfekte Abbruch erklärt den Schadensverlauf nur,
wenn er nicht Reserverisiko bleibt, wenn also das Ereignis, das als Blockade einer
Rettungsbahn o. ä. definiert wird, (a) aufgrund der Abbruchbedingungen auch (b) eintritt
und (c) zu diesem Zeitpunkt der rettende Verlauf zum Gutserhalt noch nötig ist (mag er
auch, bei a bis c, schon realiter anderweitig aufgehalten worden sein), (a) Wenn in Engischs
(Kausalität, Fn. 7, S. 15) „spitzem" Beispiel ein Täter uno actu den Scharfrichter wegsto-
ßend, das Fallbeil ausklinkt und so den rettenden Blutkreislauf (!) des Opfers unterbricht,
mag zwar die Unterbrechung schon durch den Scharfrichter perfekt bedingt gewesen sein
(wenn nämlich dieser seinen Bewegungsablauf nicht mehr anhalten konnte), aber diesem
Bedingungskomplex wird durch das nachfolgende Wegstoßen die Eigenschaft genommen,
einen rettenden Verlauf abbrechen zu können (nicht weil der Täter realiter unterbricht,
sondern weil der Impuls des Scharfrichters danebengeht!). - Ist ein Mensch so vergiftet
worden, daß ein baldiges Versagen der Nieren (Nierenfunktion als rettender Verlauf!)
bedingt ist, wird er aber alsbald erschlagen, verwirklicht sich das Risiko des Abbruchs der
Nierenfunktion nicht, und zwar weil entweder (b) das Gift nach dem Erschlagen nicht in
die Niere transportiert wird oder jedenfalls (c) die Nierenfunktion zur Zeit der Zerstörung
des Organs keine Rettung eines Guts mehr leisten kann. Würde man beim Abbruch
rettender Verläufe nicht prüfen, ob sich das Abbruchsrisiko verwirklicht, so wäre in den
meisten praktisch relevanten Fällen die Rechtsgutschancensaldierung durch die Hintertür
eingeführt: Insbesondere Veränderungen an Organismen lassen sich stets auch als Abbru-
che rettender Verläufe (Blutkreislauf, Stoffwechsel) formulieren. Jede durch irgendein
Risiko bedrohte organische Funktion könnte ohne Zurechnung durch jedes andere Risiko
ausgeschaltet werden: Die Funktion wäre bei sowieso bedingtem Abbruch nicht mehr
rettend.
11 Zu den Rücktrittsvoraussetzungen bei „überbedingten" Erfolgen siehe oben Fn. 19.
Risikokonkurrenz - Schadensverlauf u. Verlaufshypothese im Strafrecht 71
IV.
1. Es soll noch etwas detailliert werden, nach welchen Grundsätzen der
erfahrbare Zusammenhang einer Risikoverwirklichung ausgewählt wird,
zu dessen Konkretisierung die Hypothese dienen soll. Bei der Prüfung,
ob eine Körperbewegung einen Erfolg bedingt, wird in der Hypothese
(also im angebotenen Experiment zur Demonstration eines wirklichen
Zusammenhangs, oben II 1) die Körperbewegung durch Körperruhe
ersetzt. Bei der Prüfung einer Risikoverwirklichung muß differenzierter
verfahren werden. Würde in der Hypothese statt Körperbewegung
Körperruhe eingesetzt - oder beim Unterlassungsdelikt statt Körperruhe
eine bestimmte Bewegung - , so würde überspielt, daß regelmäßig eine
Menge anderer Verhaltensweisen denkbar sind, die gleichfalls das Recht
nicht brechen, wobei häufig Körperbewegung und unterlassene Beherr-
schung der Organisation, also Begehung und Unterlassung, aufs engste
ineinander verschachtelt vorliegen. Rechtmäßige Alternative zu einem
zu schnellen Autofahren am Ortseingang mit der Folge eines Unfalls ist
jedenfalls das Unterlassen dieses Verhaltens; ins Positive gewendet kann
dies freilich Verschiedenes heißen": rechtzeitig vorher Bremsen; recht-
zeitig vorher Aufhören, das Fahrzeug zu beschleunigen; Anhalten;
Stehenbleiben etc.; ja selbst vorher trotz Verbots Abbiegen ist zwar
Unrecht, aber eben nicht dasjenige des Uberschreitens der Geschwindig-
keit innerhalb von Ortschaften. Es ließe sich nun - zumindest theore-
tisch - ermitteln, was bei dominanter Motivation zur Normbefolgung,
also hypothetisch, als Verhalten vollzogen worden wäre und ob in der
Hypothese der Schadensverlauf vermieden worden wäre. Im genannten
Beispiel hätte sich vielleicht ein eiliger Fahrer dazu entschlossen, kurz
vor dem Ortsschild in eine Umgehungsstraße abzubiegen; der Unfall
wäre dann ausgeblieben. Ein solches Verfahren kann brauchbare Ergeb-
nisse zeitigen, verfehlt aber den Zweck der gerade übertretenen Norm:
Umgehungsstraßen dienen zwar manchmal dem zügigen Vorankom-
men, und ihre Einrichtung hat dann auch den Zweck, Unfälle in der
Ortschaft durch eilige Autofahrer zu vermeiden, aber Geschwindig-
keitsbeschränkungen in einer Ortschaft dienen - solange man sie nicht
mißbraucht - nur dazu, die Gefahr schnellen Fahrens auf die Gefahr
mäßigen Fahrens zu reduzieren, nicht aber auch dazu, die Gefahr des
Fahrens überhaupt auszuschalten. Deshalb ist bei der Bildung der
Hypothese ohne Blick auf die dem Täter naheliegenden Verhaltensalter-
nativen dasjenige Verhalten einzusetzen, das einzig die normzweckwi-
drige Gefahr ausschaltet. Das Verhalten des Täters wird also in der
» Dazu Puppe (Fn. 8), S . 6 6 0 f f , 662f; dies. (Fn.17), S . 2 9 0 f ; Niewenhuis (Fn. 8),
S. 57 ff und passim.
72 Günther Jakobs
H y p o t h e s e n u r b e s c h r ä n k t u m g e b i l d e t . W a s g e n a u z u ä n d e r n ist, läßt
sich n i c h t allgemein b e s c h r e i b e n , s o n d e r n folgt aus d e m Z w e c k der
betreffenden N o r m . Beispiele: Soll d u r c h eine N o r m n i c h t die B e f i n d -
lichkeit an e i n e m bestimmten Ort verhindert werden, sondern die
Richtung einer B e w e g u n g an diesem Ort (auf E i n b a h n s t r a ß e n , auf
r e c h t e n o d e r linken F a h r b a h n s e i t e n e t c . ) , so ist in d e r H y p o t h e s e der
T ä t e r n i c h t als a b w e s e n d z u d e n k e n , s o n d e r n als u n b e w e g t o d e r als sich
in a n d e r e r R i c h t u n g f o r t b e w e g e n d 2 4 ; g e h t es u m die Q u a n t i t ä t eines
M e r k m a l s , so ist dieses in d e r H y p o t h e s e bis z u m s c h o n E r l a u b t e n z u
v e r g r ö ß e r n (7 kg D r u c k auf ein B r e m s p e d a l statt 4 kg, d u r c h Z u t r e t e n -
U n t e r l a s s u n g s d e l i k t - o d e r d u r c h N i c h t - U n t e r b r e c h e n einer a u t o m a t i -
s c h e n B r e m s a n l a g e - B e g e h u n g s d e l i k t ) o d e r z u verkleinern ( 5 0 S t u n d e n -
k i l o m e t e r statt 7 0 S t u n d e n k i l o m e t e r , d u r c h s c h w ä c h e r e s G a s g e b e n -
B e g e h u n g s d e l i k t - o d e r d u r c h A b b r e m s e n - U n t e r l a s s u n g s d e l i k t ) etc.
Die Rechtsprechung kann mit ihrer Formel Zufallslösungen nicht ausschalten: „Die
25
Frage, welches Verhalten... verkehrsgerecht gewesen wäre, ist . . . im Hinblick auf die
Verkehrswidrigkeit zu beantworten, die als unmittelbare (?) Unfallursache in Betracht
kommt, während im übrigen von dem tatsächlichen Geschehensablauf auszugehen ist";
BGH 24, S.32ff, 34; 33, S.61 ff, 63. Im „tatsächlichen Geschehensablauf" können sich die
sonderbarsten Schadens- und Rettungsverläufe verbergen, die durch den Wandel des
verkehrswidrigen Verhaltens in verkehrsgerechtes Verhalten freigesetzt werden, wie es
etwa beim Sachverhalt zu B G H 33, S. 61 ff der Fall war: Wäre der Fahrer eines Autos nicht
zu schnell gefahren, hätte zwar der Bremsweg auch nicht ausgereicht, aber die Bremsver-
zögerung hätte intensiver eingesetzt, und das Opfer hätte den Unfallort deshalb schon -
zufällig, nicht unter Nutzung einer planbaren Rettungschance - verlassen gehabt, wenn
der Täter es erreicht hätte; ebensogut (bei geringfügig anderem Eigentempo oder Aus-
gangsort) hätte das Opfer bei überhöhtem Tempo nur gestreift, aber bei ordnungsgemä-
ßem Tempo voll erfaßt werden können. Zutreffend kritisch zu der Entscheidung Puppe, JZ
1985, S. 295 ff; Ebert, J R 1985, S. 356 ff; Streng, NJW 1985, S. 2808 ff. Natürlich kann die
Rechtsprechung ihre Formel vom „im übrigen . . . tatsächlichen Geschehensablauf" bei
konkurrierendem Fehlverhalten dritter Personen nicht durchhalten, weil sonst die norma-
tive Garantie verlorenginge; B G H 30, S. 228 ff; dazu oben Fn. 8. Daß freilich ein konkur-
rierendes Fehlverhalten des Opfers anders zu behandeln sein soll (a.a.O., S.231), wird
nicht begründet und ist auch - selbst von der Zurechnungslehre des BGH aus - nicht
begründbar. Zutreffend kritisch Ranft (Fn. 4), S. 1425 ff, 1426. - Zur Unbrauchbarkeit des
Grundsatzes der Rechtsprechung, es sei für die Hypothese zeitlich auf den „Eintritt der
konkreten kritischen Verkehrslage" abzustellen (a. a. O.), siehe Puppe (Fn. 8), S. 662 f;
Niewenhuis (Fn. 8), S. 80 ff.
Risikokonkurrenz - Schadensverlauf u. Verlaufshypothese im Strafrecht 73
men: Wenn eine Straße so schmal ist, daß ein breiter Lastwagen in
ordnungsgemäßem Abstand nicht überholen könnte (freilich wiederum
nicht so schmal, daß mit Lastwagen überhaupt nicht mehr gerechnet
werden muß), wird bei der Prüfung, ob sich das Risiko eines Überholens
mit zu geringem Seitenabstand verwirklicht hat, in der Hypothese doch
ein in ordnungsgemäßem Abstand überholender Lastwagen eingesetzt.
Das Opfer wird aber auch von Unglück entlastet: Daß bei ordnungsge-
mäßem Abstand, wäre er wirklich eingehalten worden, etwa ein Ast
eines Chausseebaums ein Stück der Ladung des Lastwagens herunterge-
rissen hätte und die Ladung auf das Opfer gestürzt wäre etc., wird auch
nicht berücksichtigt 26 .
Sollen Zufallsergebnisse vermieden werden, so muß auch das Verhal-
ten des Opfers in der Hypothese standardisiert werden. Ein Verhalten,
das vom Opfer vollzogen worden wäre und das Rettung gebracht hätte,
wird nur berücksichtigt, wenn es planvoll zur Rettung geführt hätte27.
Zum Ausgleich dafür wird ein zufällig schadenbringendes Verhalten
gleichfalls nicht eingesetzt. Beispiel: Ein Fahrzeug gerät in einer Kurve
auf einer Ölspur bei überhöhtem Tempo ins Schleudern und verletzt
einen Radfahrer; bei der Hypothese eines ordnungsgemäßen Tempos
ergibt sich ein gleichfalls, aber langsamer (oder in eine andere Richtung)
schleuderndes Fahrzeug; bei dieser Lage kommt es nur dann darauf an,
daß die Kollision wegen des geringen Schleudertempos (oder wegen der
anderen Schleuderrichtung etc.) ausgeblieben wäre, wenn die gewon-
nene Zeit (oder die geänderte Richtung) generell planvoll nutzbare
Rettungschancen eröffnet hätte. Im Gegenzug wird das Opfer von dem
Risiko entlastet, daß die Kollision bei ordnungsgemäßem Tempo zufäl-
lig schlimmere Folgen hätte haben können.
Vorhandene Sonderfähigkeiten oder - gewichtiger - Sonderunfähig-
keiten des Opfers spielen wegen der Notwendigkeit einer Standardisie-
rung zur Vermeidung von Zufallsentscheidungen nur dann eine Rolle,
wenn es - bei Fähigkeiten - Obliegenheit des Opfers ist, besondere
Leistungen zu erbringen (professionelle Hochgeschwindigkeitsrennen;
sorgloses Uberqueren der Straße im Vertrauen auf die eigene Spurtkraft,
falls ein Auto kommen sollte), oder - bei Unfähigkeiten - Obliegenheit
des Täters, sich darauf einzustellen (vor Schulen, Altersheimen), mit
24 Beim Abbruch rettender Verläufe (dazu oben Fn. 21) ist zu beachten, daß der
Abbrechende nur über die Beeinträchtigung des rettenden Verlaufs mit dem Schadensver-
lauf verbunden ist. Wäre der Verlauf zufällig doch nicht rettend gewesen, so fehlt eine
Erfolgsverursachung. Dies darf nicht durch Standardisierungen übersprungen werden.
Beispiel: Wer ein Rettungsfahrzeug aufhält, das aufgrund absonderlich unglücklicher
Verwicklungen nicht am Rettungsort angekommen wäre, bricht keinen rettenden Verlauf
ab.
27 Anders B G H 33, S. 61 ff; dazu F n . 2 5 .
74 Günther Jakobs
anderen Worten, wenn sie das erlaubte Risiko mitbestimmen. Muß etwa
vor dem Eingang eines Altersheims besonders langsam gefahren werden,
weil den alten Menschen Ubersicht und Behendigkeit abgeht, ist dem
Opfer eines Verkehrsunfalls (auch wenn es kein alter Mensch ist) bei der
Hypothese eines korrekten Verhaltens des Autofahrers (also bei der
Hypothese besonders langsamen Fahrens) auch nur eine reduzierte
Fähigkeit gutzubringen, sich zu retten28. - Im Normalfall sind normale
Fähigkeiten anzusetzen: Wenn sich ein Opfer beim hypothetisch ord-
nungsgemäßen Verhalten eines Kraftfahrers nur wegen einer zufällig
vorhandenen Sonderfähigkeit (professioneller Sprinter) hätte retten kön-
nen, begründet das keine Risikoverwirklichung, wie es in der Umkeh-
rung keine Verwirklichung hindert, wenn ein üblicherweise gelingendes
Ausweichen wegen eines akuten Wadenkrampfs undurchführbar gewe-
sen wäre.
Daß bei Sonderfähigkeiten des Täters, die ihm ein ansonsten normwi-
driges Verhalten erlauben, in der Hypothese vom Gebrauch der Fähig-
keiten auszugehen ist, dürfte evident sein. - Sonder«wfähigkeiten wer-
den nur berücksichtigt, wenn es eine Möglichkeit gibt, sich mit dem
Gebrechen erlaubt riskant zu verhalten29. Hauptbeispiel: Kein Autofah-
rer kann sich darauf berufen, auch bei ordnungsgemäßem Tempo wegen
Trunkenheit nicht in der Lage gewesen zu sein, einen Unfall zu ver-
meiden.
Bei Sonderfähigkeiten des Täters, die sich auf das erlaubte Risiko
nicht auswirken, also bei an sich überobligationsmäßigen Fähigkeiten
(etwa eine besondere, bremswegverkürzende Anlage in einem Automo-
bil), ist zu unterscheiden: Ist das Opfer vor dem Täter oder gleichrangig
mit ihm für den Schadensverlauf zuständig, wird die Sonderfähigkeit in
der Hypothese nicht berücksichtigt; denn wer sich einem Risiko selbst
aussetzt, darf zwar eine den Regeln entsprechende Beherrschbarkeit des
Risikos erwarten, aber für alles darüber hinaus muß er selbst sorgen.
Beispiel: Torkelt ein Betrunkener auf eine Autobahn und wird dort von
21 Weil sich der Normzweck ändert, ändert sich auch die Entscheidung dann, wenn ein
allgemeines Vertrauen auf eine „Verkehrsberuhigung" berechtigt ist, etwa weil ein speziel-
ler Zweck einer Geschwindigkeitsbeschränkung weder mitgeteilt wird noch offenkundig
ist.
29 Das ist immer dann der Fall, wenn das allgemeine Lebensrisiko nicht überschritten
wird. Wer beispielsweise im Schrittempo auf abgelegener Straße ein Auto mit abgefahrenen
Reifen führt, erhöht nicht das allgemeine Lebensrisiko, solange es nicht verboten ist, einen
entsprechend bereiften Karren entsprechenden Gewichts zu schieben. Wer freilich stark
betrunken im Schrittempo mit dem Auto fährt, hält sich dann nicht im allgemeinen
Lebensrisiko, wenn die Gefahr besteht, daß durch eine Fehlreaktion etwa das besondere
Beschleunigungsvermögen eines Automobils realisiert wird. Siehe Jakobs, Beiheft ZStW
1974, S. 6 ff, 14 f; ders. (Fn.4), 7/42 ff.
R i s i k o k o n k u r r e n z - S c h a d e n s v e r l a u f u. V e r l a u f s h y p o t h e s e im Strafrecht 75
einem zu schnell fahrenden Auto erfaßt, so wird bei der Prüfung, ob der
Unfall auf dem überhöhten Tempo beruht, ein vorhandenes bremsweg-
verkürzendes Hilfssystem nicht in die Hypothese eingesetzt30 (während
Sonderfähigkeiten des Opfers hier einzusetzen sind). Ist aber der Täter
vor dem Opfer zuständig, wird also das Risiko dem Opfer aufgedrängt,
so ist es Angelegenheit des Täters, Rettungsmittel zu besorgen; in die
Hypothese ist demnach einzusetzen, was dem Täter erreichbar ist.
Beispiel: Gerät ein Autofahrer auf den Bürgersteig und verletzt einen
Passanten, so ist bei der Prüfung, ob dies auf seiner Unaufmerksamkeit
oder auf zu hohem Tempo etc. beruht, die Hypothese unter Berücksich-
tigung aller Sonderfähigkeiten zu bilden (während Sonderfähigkeiten des
Opfers hier wegzulassen sind).
Der Argumentationsgang entspricht nicht zufällig demjenigen bei der
Begründung einer Ingerenzhaftung (und auch dem Gang bei der Lösung
einiger Konstellationen der Pflichtenkollision): Wer einem anderen Son-
derrisiken aufdrängt, muß schädliche Folgen auf eigene Kosten verhüten
oder revozieren, so wie dritte Personen die Verhütung oder Revokation
auf seine Kosten betreiben dürfen (seil, im aggressiven Notstand oder in
Notwehr) 31 . Mit welchem Verhalten Täter wie Opfer und auch dritte
Personen in die Hypothese einzusetzen sind, läßt sich also knapp
beantworten: mit dem Verhalten, für das sie Garant sind oder das - bei
Selbstverletzung - ihnen obliegt32. Geht es freilich darum, ob eine
Person auf ein falsches Verhalten einer anderen Person hin ihrerseits
falsch reagiert hat, so darf natürlich das falsche Verhalten der anderen
Person nicht per Hypothese beseitigt werden. Beispiel: Unternimmt ein
Vater für seinen Sohn während eines länger dauernden rechtswidrigen
Angriffs von dritter Seite nur einen dubiosen Rettungsversuch, so ist bei
der Prüfung, ob ein anderes Verhalten den Sohn besser geschützt hätte,
der Angriff so in die Hypothese einzubringen, wie er stattfand.
30 Wird in Wirklichkeit in einer Situation ohne vorrangige Zuständigkeit des Täters der
Einsatz einer Sonderfähigkeit unterlassen, richtet sich die Haftung nach § 323 c StGB.
51 Siehe Jakobs (Fn.4), 15/12, 29/14, 29 ff.
52 Zur - bei Obliegenheitsverletzungen - abweichenden Entscheidung der Rechtspre-
chung siehe oben Fn. 25; zu den unterschiedlichen Lösungen in der Literatur oben Fn. 8.
Zum Begriff der Rechtfertigung im Strafrecht
EBERHARD SCHMIDHÄUSER
I. Der Ausgangspunkt
Rechtfertigung ist immer Rechtfertigung menschlichen Verhaltens.
Sie setzt voraus, daß an diesem Verhalten - ganz allgemein gesagt: -
etwas Anstößiges ist. In der Rechtfertigung wird dargetan, daß man sich
trotz dieses Anstößigen so verhalten darf (oder durfte).
Die Umgangssprache ist eindeutig. „Sich rechtfertigen" heißt: aufzei-
gen, daß man sich trotz des Anstoß erregenden Moments richtig verhält
(oder verhalten hat). Das gilt schon für im übrigen ganz harmlose
Handlungen: Wer in seinem Garten nicht Tulpen-, sondern Narzissen-
zwiebeln steckt, rechtfertigt gegenüber der Familie sein Abweichen von
dem gemeinsam besprochenen Gartenplan damit, daß auf dem Markt
nur Tulpenzwiebeln minderer Qualität angeboten worden seien. - Wer
als Dirigent an einer bestimmten Stelle der Symphonie von der Tempo-
bezeichnung des Komponisten abweicht, rechtfertigt sich gegenüber
dem Orchester mit dem Hinweis auf ein bestimmtes Verständnis des
Musikwerkes. - U n d wenn Schiller zu Goethes Idylle „Alexis und
D o r a " Anstoß daran nimmt, daß so dicht auf ein Erlebnis erster Liebe
die Eifersucht folge, dann beendet Goethe die Erklärung seines dichteri-
schen Vorgehens (im Brief vom 22.6.1796) mit dem Satz: „So viel zur
Rechtfertigung des unerklärlichen Instinktes, durch welchen solche
Dinge hervorgebracht werden."
Die Rechtfertigung bedeutet demnach immer die Bewertung eines
Verhaltens in zwei Stufen (mag es dabei um eine moralische, ästhetische
oder sonstige Bewertung gehen) : zunächst wird dieses Verhalten in einer
bestimmten Wertwidrigkeit gesehen, dann in seinem Zusammentreffen
mit einer Wertverwirklichung, wobei sich ergibt, daß diese Wertver-
wirklichung die zunächst festgestellte Wertwidrigkeit in der Gesamtbe-
wertung zurücktreten läßt.
Es ist also nicht von ungefähr, wenn man auch im Strafrecht von
„Rechtfertigung" spricht. Auch hier geht es um ein Zusammentreffen
von Werten in einer konkreten Situation: ein Wert wird zurückgesetzt,
einem anderen wird entsprochen. O f t ist es schon rein äußerlich erkenn-
bar: ein Objekt wird verletzt, weil nur so ein anderes, meist ein höher
bewertetes, gerettet werden kann.
78 Eberhard Schmidhäuser
Diese Struktur ist es, auf die uns das Wort „Rechtfertigung" hinführt.
Allerdings geht es im Strafrecht nie darum, daß „sich" der Betroffene
(gemeint ist dann der „Täter") „rechtfertigt"; vielmehr ist in der Straf-
rechtsanwendung lediglich festzustellen, daß sein Verhalten gerechtfer-
tigt ist, d. h. daß er sich so verhalten durfte. Ob der Betroffene „sich" in
Rede und Gegenrede „rechtfertigt", ist immer unerheblich.
Wenn auch der strafrechtliche Begriff von Rechtfertigung mit der
Kollision von Werten zu tun hat, dann läßt sich auch diese Kollision nur
in zwei Stufen erfassen, falls sie vorliegt. Auf der ersten Stufe wäre die
Wertverletzung festzustellen. Nur wenn sie gegeben ist, kann es auf
Rechtfertigung ankommen; ihre Feststellung bleibt der zweiten Stufe
vorbehalten. Rechtfertigung wäre dann gegeben, wenn auf dieser Stufe
ein wertbejahendes Geschehen festzustellen wäre, das den Unwert der
Wertverletzung, die auf der ersten Stufe festgestellt ist, „verdrängt"
(oder: relativiert).
Machen wir den ganzen Schritt in die strafrechtliche Terminologie
und bezeichnen wir den Wertverstoß als „Rechtsgutsverletzung" und
sehen wir in ihr das „Unrecht" begründet, dann hat die Frage nach
Rechtfertigung mit Vorläufigkeit und Endgültigkeit des Urteils über das
Unrecht zu tun. Auf der ersten Stufe ist dieses Unrechtsurteil nur
vorläufig; zu einem endgültigen Urteil kommt es erst, wenn auf der
zweiten Stufe nach weiteren Momenten des Tatgeschehens gefragt wor-
den ist. Und zwar wird das vorläufige Unrechtsurteil auf der zweiten
Stufe endgültig bejaht, wenn sich keine Rechtfertigung ergibt, und es
wird endgültig verneint, wenn sich Rechtfertigung ergibt ( - wobei auf
Fragen des Beweiszweifels zunächst nicht einzugehen ist).
1
Baumann/Weber, Strafrecht, Allg. Teil, 9. Aufl., 1985, S.256.
2 Wie zuvor, S. 256, 258.
80 Eberhard Schmidhäuser
3
Wie zuvor, S.279. - Vgl. dagegen Hirsch, LK, 10. Aufl., 1985, vor §32, R d n . l 2 f f ,
der die Unterscheidung von formeller und materieller Rechtswidrigkeit ablehnt.
4
Baumann/Weber, wie zuvor, S.289; zum folgenden S.344.
5
Vgl. Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl., 1969, S.81.
' Welzel, wie zuvor, S. 80 (anders in der Uberschrift ebenda).
Zum Begriff der Rechtfertigung im Strafrecht 81
Sachverhalts, und für die Vielzahl von Fällen im Hinblick auf eine
statistische Wahrscheinlichkeit. Den Einzelfall illustriert folgendes Bei-
spiel: Wird in einem Wohnhaus geschossen und findet man hernach zwei
Männer schwer verletzt im Zimmer am Boden liegen, nämlich den
Wohnungsinhaber und einen Fremden, der eine Augenmaske trägt, und
ist das Fenster im Erdgeschoß bei eingeschlagener Scheibe geöffnet,
dann sprechen viele oder gar alle Indizien dafür, daß der Maskierte
rechtswidrig in das Haus eingedrungen ist und den Wohnungsinhaber
rechtswidrig verletzt hat, und daß der Wohnungsinhaber seinerseits den
Maskierten in Notwehr und damit gerechtfertigt verletzt hat. - Und was
die Vielzahl von Fällen betrifft, so sehe man folgende Beispiele: Wenn
über einen gewissen Zeitraum mehrere Prostituierte bei Ausübung ihres
Berufes getötet werden, dann ist die Rechtswidrigkeit dieser Tötungen
indiziert, d.h. es spricht alle Wahrscheinlichkeit dafür, daß in kaum
einem dieser Fälle die Frau den Mann angegriffen hat und von ihm in
Notwehr getötet worden ist. Es spricht vielmehr statistisch alles dafür,
daß der Mann die Frau rechtswidrig getötet hat; für den einzelnen Fall
hat dieses „Indiz" jedoch keinerlei Bedeutung. - Wenn dagegen im
Laufe der Jahre zehn Leute nach unüblichem Zutritt in ein Haus von
einem Bewohner erschossen worden sind, dann ist die Rechtmäßigkeit,
also die Rechtfertigung dieser Tötungen indiziert; es spricht hier stati-
stisch alles dafür, daß jeweils Notwehr vorlag. Aber auch dieses „Indiz"
ist für den einzelnen Fall als solchen ohne jede Bedeutung.
Indiz ist - wie schon gesagt - immer etwas Partikulares: der Teil eines
Geschehens, von dem auf weiteres Geschehen und schließlich auf das
Ganze eines Vorgangs geschlossen wird, soweit er als Ganzes interes-
siert. In der Rechtsanwendung ist Indiz partikular im Hinblick auf den
Sachverhalt, auf den es für die Rechtsanwendung ankommt. Für die
Bestrafung wegen Totschlags ist insoweit vorausgesetzt, daß der Ange-
klagte das Opfer getötet hat. Was den Ausschluß des damit begründeten
Unrechts durch Rechtfertigung - etwa durch Notwehr - betrifft, so
genügt es, wenn keinerlei Indizien dafür vorliegen, es könnte eine
Notwehr in Betracht kommen. Da es dabei aber um einen weiteren
Ausschnitt aus dem Gesamtgeschehen mit eigener rechtlicher Bedeutung
geht, kann die Bejahung der dem (Unrechts-)Tatbestand entsprechenden
Tötung kein Indiz dafür sein, daß dieser weitere, dem Rechtfertigungs-
grund der Notwehr entsprechende Sachverhalt nicht vorliegt. Vielmehr
kann sich aus dem weiteren Geschehen sowohl ergeben, daß keine
Rechtfertigung gegeben ist, als auch, daß Rechtfertigung vorliegt oder
wenigstens in Betracht kommt. In der Praxis des Strafverfahrens bedeu-
tet dies letztere, daß man (in dubio pro reo) insoweit im konkreten Fall
freizusprechen hat; das rechtfertigende Geschehen braucht nicht darge-
tan zu sein, es genügt, daß es möglich bleibt. Die Formel, die Tatbe-
Zum Begriff der Rechtfertigung im Strafrecht 83
10 Welzel, wie Anm. 5, S. 80. Ferner u. a. Jescheck, wie Anm. 7, S. 258 ff; Hirsch, wie
Anm.3, Rdn. 6; Stratenwerth, wie Anm. 8, Rdn. 175 f, 183; Wessels, Strafrecht, Allg.
Teil, 15. Aufl., 1985, S.77.
u Stratenwerth, wie Anm. 8, Rdn. 175, 183.
Zum Begriff der Rechtfertigung im Strafrecht 85
den Erfahrungen des gesellschaftlichen Lebens weit entfernt ist und nur
uns gelernten Juristen naheliegen mag. Wer in der Bevölkerung kennt
etwa den „Erlaubnis-Tatbestand", der nach §1271 StPO die vorläufige
Festnahme eines auf frischer Tat betroffenen Täters gestattet?
So führt die Rede vom Erlaubnissatz oder gar Erlaubnistatbestand
zwar über die statistischen Betrachtungen hinaus, aber ermöglicht doch
nicht, den Begriff der Rechtfertigung zu bestimmen. Dazu wird es
vielmehr nötig sein, das Formale der Betrachtung noch deutlicher zu
überwinden. Daß man sich zur Frage der Rechtsnatur der Indikationen
bei Schwangerschaftsabbruch überhaupt wissenschaftlich auseinander-
setzen kann, beweist zwingend, daß die bloße gesetzliche Regelung noch
keinen Begriff von Rechtfertigung ergibt. Dazu bedarf es einer Erfas-
sung des sachlichen Gehalts, also einer Materialisierung, die von den
besprochenen Formulierungen nicht geleistet wird.
" In diesem Sinne „monistisch" in neuerer Zeit: Noll, ZStW 1965, S. 1 ff, der „die
Wertabwägung als Prinzip der Rechtfertigung" dartut. Ferner Seelmann, Das Verhältnis
von §34 StGB zu anderen Rechtfertigungsgründen, 1978, S.32 (allerdings mit unbeant-
worteter Frage zur Einwilligung). - Andeutungen zu einem einheitlichen Begriff der
Zum Begriff der Rechtfertigung im Strafrecht 89
D.h. er ist auf eine einheitliche Definition gebracht, wie es die Logik
fordert. „Pluralistisch" sind allenfalls die Rechtfertigungsgr«We; und sie
mögen innerhalb des Begriffs der Rechtfertigung im einzelnen auch
durchaus unterschiedliche Strukturen haben. Einheitlich aber ist der
Begriff der Rechtfertigung selbst. Er ist, wenn auch nicht so ausführlich
wie hier, schon vor längerem entwickelt und bestimmt worden20.
Es hat sich nun aber in den vorangehenden Abschnitten nachweisen
lassen, daß ein derartiger einheitlicher Begriff der Rechtfertigung weit-
hin abgelehnt wird, ja, daß man sich um den Begriff selbst gar nicht
bemühen zu sollen glaubt. Was sind die Gründe oder auch die Begrün-
dungen und die Ursachen dieser Ablehnung? Hierauf ist noch kurz zu
antworten.
offenbar so sein muß, dann ist eben die Theorie falsch, die erst auf der
zweiten Stufe der Straftatanalyse zur Tatbestandsmäßigkeit den Unwert
der Rechtswidrigkeit hinzutreten läßt. Vielmehr muß auch für die
Theorie gelten: dieser Unwert kann nicht dadurch begründet werden,
daß Rechtfertigung nicht gegeben ist, sonderen er muß schon begründet
sein, bevor nach Rechtfertigung gefragt wird23. Es gilt nur, die materiale
Rechtsgutsverletzung in ihrem tatbestandlichen Geschildertsein als
Unrechtsbegründung anzuerkennen; dies allein entspricht auch der
rechtsgutsbezogen-teleologischen Auslegung, die hinsichtlich der ein-
zelnen Tatbestände des Besonderen Teils überall als selbstverständlich
angesehen wird.
Dies bedeutet aber: an die Stelle der stark formal ausgerichteten Folge
„Tatbestandsmäßigkeit - Rechtswidrigkeit" hat die materiale Analyse zu
treten mit der Folge „Unrechtsbegründung im Unrechtstatbestand -
Unrechtsausschluß durch Rechtfertigung". Dies ist an anderem O r t
schon ausführlich dargetan; hierauf darf verwiesen werden 24 .
b) Die Einwilligung als Rechtfertigungsgrund. Es wird gesagt, die
„Reduzierung" der Rechtfertigung „auf einen einheitlichen Gedanken
mit materiellem Kern" gelinge nur deshalb, weil „zuvor die Fälle der
Einwilligung" „der Rechtfertigungsebene entzogen und dem Tatbestand
zugeordnet" würden 25 . Es wird damit sozusagen als unabdingbar vor-
ausgesetzt, daß die Einwilligung Rechtfertigungsgrund sei. Dies aber
wäre denn doch zuvor zu beweisen. Die bloße Tradition dieses Ver-
ständnisses ist kein Beweis. Im Gegenteil: schon die alte Formulierung,
daß es dabei um „mangelndes Interesse" gehe26, hätte weiterführen
müssen zu der Erkenntnis, daß es hier um den materialen Gehalt der
Unrechtsbegründung geht und daß mit dem Wegfall des Interesses auch
die Interessenverletzung und damit wieder die Rechtsgutsverletzung und
schließlich eben die Unrechtsbegründung entfällt. Willigt der Berech-
tigte beachtlich ein, dann ist die Objektsverletzung eben nur eine
„scheinbare Rechtsgutsverletzung" 27 .
23
Ganz in diesem Sinne neuerdings Jakobs, wie Anm. 18, 6/59: man möge bezüglich
der Rechtfertigung „von einer Stufe der Deliktsermittlung sprechen, aber eine Stufe des
Delikts selbst ist das Fehlen von Rechtfertigung nicht; vielmehr ist der verwirklichte
Tatbestand im Fall des Fehlens von Rechtfertigungsgründen das Unrecht". - Auch schon
Schmidhäuser, Engisch-Festschrift, 1969, S.454, und zuletzt Studienbuch AT, 2. Aufl.,
1984, Rdn.6/10.
2<
Schmidhäuser, wie Anm. 23.
25
Samson in SK, StGB, vor §32, Rdn.22.
26
Vgl. Mezger, wie Anm. 16, S.207f.
27
Zum Begriff der scheinbaren Rechtsgutsverletzung: Schmidhäuser, StB AT, wie
Anm. 23, Rdn. 5/95, 106 ff.; ferner jetzt: Margret Kruse, Die scheinbare Rechtsgutsverlet-
zung bei den auf Enteignung gerichteten Eigentumsdelikten, 1985.
Zum Begriff der Rechtfertigung im Strafrecht 91
28
Ganz in diesem Sinne u.a. Maurach/Zipf, wie Anm. 7, S.215 (mit Hinweis auf
gleiche Einordnung bei Armin Kaufmann, Horn, Eser, Kientzy, Roxin, Kühne).
29
Vgl. vor allem Welzel, wie Anm. 5, S.50, 80 ff.
J0
In diese Richtung geht z.B. die Darstellung bei Baumann/Weber, wie Anm. 1,
S. 265.
92 Eberhard Schmidhäuser
gute Gründe des Handelns" seien31; offenbar verlangt man, daß konkre-
tere Inhalte aufgezeigt werden, wenn von Rechtfertigung die Rede ist.
Aber dieser Einwand ist nicht stichhaltig. Einmal ist doch etwas mehr
über den Begriff gesagt worden, als durch die Formel „vom guten
Grund" ausgedrückt werden kann. Und sodann müssen auch die
anschaulicheren Konkretionen einem einzigen Begriff der Rechtferti-
gung unterfallen, wenn sie alle als Rechtfertigungsgründe verstanden
werden sollen. Ein Begriff kann nicht wegen seiner Weite abgelehnt
werden, wenn man ihn zugleich so gebraucht, daß er nur in dieser Weite
überhaupt definiert werden kann.
stand", über den z. B. Rudolphi in SK StGB vor § 1, Rdn. 37, sagt: „Zweite Voraussetzung
für das Vorliegen tatbestandlichen Unrechts ist das Nichteingreifen eines Rechtfertigungs-
grundes." Die Folgerungen für die Irrtumslehre werden denn auch sogleich a . a . O .
angedeutet, wobei dann allerdings zu § 1 6 , Rdn. 10, doch auch von einem „Rechtferti-
gungstatbestand" gesprochen wird. Jedenfalls erweckt auch diese Lehre den unrichtigen
Eindruck, der U n w e r t des Unrechts entstehe erst aus dem Fehlen der Rechtfertigung.
Zum Begriff der Rechtfertigung im Strafrecht 93
erscheinen, daß im Verzicht auf Strafe Rücksicht genommen wird auf ein
persönliches Betroffensein des Täters, sei es auf die persönliche Nähe zu
einem zu rettenden Menschen, sei es auf die Singularität einer
Gewissensentscheidung in schwer lösbarem Konflikt.
Da unter allen diesen Aspekten die gesetzliche Regelung nicht in
unserer Rechtsordnung unterzubringen ist, bleibt nur noch nach der
Rechtfertigung zu fragen, - und sie ist aus der Wertung des Gesetzgebers
heraus zu bejahen: offenbar hat er der Freiheit der Schwangeren, über
das Aushalten der Schwangerschaft selbst entscheiden zu können (inso-
weit ist ja immer ihre „Einwilligung" vorausgesetzt), unter gewissen
Voraussetzungen den Vorrang vor dem Weiterleben des in ihrem Leib
heranwachsenden Menschen eingeräumt. Er hat die aus den kollidieren-
den Rechtsgütern erwachsenden Achtungsansprüche in ihrer Dringlich-
keit gegeneinander abgewogen und hat einen begrenzten Vorrang des
einen vor dem anderen akzeptiert. Man wird nicht sagen können, daß
diese gesetzgeberische Entscheidung nicht vertretbar wäre.
So kann zum Schluß Karl Lackner zu diesem Punkt nur zugestimmt
werden, wenn er sagt: „Bei Verneinung der Rechtmäßigkeit des indizier-
ten Schwangerschaftsabbruchs wäre die Gesamtregelung der §§218-219
in hohem Maße innerlich widersprüchlich." „Solche Widersprüche sind
für ein Normensystem, das dem Rechtsstaat verpflichtet ist, nicht
akzeptabel. Es gibt deshalb nur die Alternative: Entweder sind die
Indikationen im Rahmen des geltenden Systems Rechtfertigungsgründe
oder sie sind (ganz oder teilweise) verfassungswidrig34."
Sehen wir das Problem vom Begriff der Rechtfertigung her, so handelt
es sich um Rechtfertigungsgründe.
Das Merkmal der „Nicht-anders-Abwendbarkeit"
der Gefahr in den §§ 34, 35 StGB
T H E O D O R LENCKNER
I.
1 Zum Meinungsstand vgl. Hirsch, in: Leipziger Kommentar, 10. Aufl. 1985, §34
Rdn.21.
; Hirsch, in: LK a . a . O . (Fn.l).
den) Notstand RGSt. 61, 242 (254); vgl. ferner z . B . BGHSt. 3, 8 (9), B G H N J W 1951,
769 (770), GA 1956, 382 (383), BayObLG J R 1965, 65 (66) und zu § 3 4 auch heute noch
Maurach/Zipf, AT S. 359.
„Nicht-anders-Abwendbarkeit" der Gefahr in §§ 34, 35 StGB 97
des Notstands. Bei §34 ist dies einerseits die Erwägung, daß für das
Recht nur dann Anlaß bestehen kann, den Eingriff in eine fremde
Rechtssphäre zuzulassen, wenn dem Betroffenen dadurch kein sinnloses
Opfer auferlegt wird, oder positiv formuliert: wenn der verfolgte Zweck
- Abwendung der drohenden Gefahr - damit möglichst auch erreicht
wird. Ebenso selbstverständlich ist es andererseits, daß die Erhaltung des
bedrohten Guts nur mit dem geringstmöglichen Verlust auf der „Ein-
griffsseite" erkauft werden darf. Daraus ergibt sich eine zweifache
Begrenzung, die in ihrer Kombination die Erforderlichkeit der Not-
standshandlung ausmacht: Erforderlich ist diese, wenn sie unter den
gegebenen Umständen so geeignet und so schonend wie möglich ist
(Grundsatz der Geeignetheit und Grundsatz des relativ mildesten Mit-
tels). Dasselbe gilt, wenngleich dort unter anderen Vorzeichen, für den
entschuldigenden Notstand. Auch bei diesem besteht, gleichgültig wie
man § 35 im übrigen erklären mag, kein Grund zur Nachsicht gegenüber
dem Täter, wenn nicht wenigstens die Minimalvoraussetzung erfüllt ist,
daß die Tat zur Abwendung der Gefahr in dem genannten Sinn erforder-
lich war. Mit Recht hat deshalb die h. M. auch nie gezögert, das vom
Gesetz der Gefahr zugeschriebene Merkmal der „Nicht-anders-
Abwendbarkeit" in beiden Notstandsvorschriften in den Grundsatz der
Erforderlichkeit der Notstandshandlung umzudeuten 8 . Dabei bezieht
sich die Erforderlichkeit sowohl auf die richtige Auswahl als auch auf die
sachgemäße Anwendung des Mittels. Schon die Erforderlichkeit der
Notstandstat ist daher zu verneinen, wenn diese zwar ihrer Art nach das
geeignetste und relativ mildeste Mittel darstellt, ihre konkrete Ausfüh-
rung aber in einer Weise erfolgt, daß sie ihren Zweck, die Gefahr mit der
größtmöglichen Aussicht auf Erfolg und unter den geringstmöglichen
Opfern abzuwenden, deshalb verfehlt 9 . Im folgenden geht es, weil hier
die eigentlichen Probleme liegen, nur um die Bestimmung des erforderli-
chen Mittels.
II.
Bei beiden Notstandsbestimmungen weithin unproblematisch ist der
Erforderlichkeitsgrundsatz, wenn die Tat das einzige Mittel zur Rettung
des bedrohten Guts ist und damit die Situation vorliegt, die auch das
8
Vgl. ζ. B. Grebins, GA 1979, 85; Hirsch, in: LK § 34 Rdn. 50; Jakobs, Strafrecht, AT,
1983, S.344; Jescheck, AT S. 290; Küper, J Z 1976, 516; Lackner, StGB, 16. Aufl. 1985, §34
A n m . 2 b ; Stree a . a . O . (Fn.5); dazu, daß auch die von Bockelmann, JZ 1959, 498 und
Jescheck a . a . O . als zusätzliche Einschränkung verstandene „spezifische Kollisionsbezie-
hung" zwischen den beteiligten Gütern ausschließlich durch das Erforderlichkeitsprinzip
bestimmt wird, vgl. z. B. Grebing a. a. O . ; Küper a. a. O .
' Vgl. näher Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 79 ff.
98 Theodor Lenckner
Gesetz mit dem Begriff der „nicht anders abwendbaren" Gefahr zutref-
fend kennzeichnet. Da sich die Frage eines milderen Mittels hier nicht
stellt, ist die Tat in diesem Fall zur Abwendung der Gefahr schon dann
erforderlich, wenn sie hierzu geeignet ist. Allerdings ist dies nur ein
Aspekt der Geeignetheit des Mittels. Denkbar ist nämlich auch, daß die
Tat zwar geeignet ist, die den Notstand begründende Gefahr abzuwen-
den, daß sie aber für das bedrohte Gut neue Gefahren schafft. Sinn einer
Konfliktslösung, wie sie beim Notstand erfolgt, kann es jedoch nicht
sein, die eine Gefahr lediglich durch eine andere zu ersetzen, da auch in
diesem Fall das Opfer auf der „Eingriffsseite" von vornherein unnütz
wäre. Daß das Mittel insgesamt geeignet und die Tat damit erforderlich
ist, setzt daher nicht nur deren Eignung zur Abwendung der drohenden
Gefahr, sondern auch ihre Ungefährlichkeit in dem Sinn voraus, daß sie
nicht zu einer anderen, ebenso schweren oder gar noch schwerwiegende-
ren Gefahr für das „Erhaltungsgut" führen darf10.
Im übrigen geht es bei der Geeignetheit der Notstandshandlung um
Fragen, die in entsprechender Form bereits an früherer Stelle auftreten
und deren Entscheidung dort z . T . auch schon vorprogrammiert ist.
Dies gilt für die Methode und den Beurteilungsmaßstab, nach denen die
Geeignetheit festzustellen ist, weil hier dieselben Regeln anzuwenden
sind, nach denen auch über das Vorliegen einer Gefahr zu befinden ist:
So wie dort eine Prognose im Hinblick auf einen in der Zukunft
möglichen Schadenseintritt zu stellen ist, geschieht dies hier unter dem
Gesichtspunkt der Schadensabwendung (bzw. der Schadensverursa-
chung, wenn die Abwendungshandlung ihrerseits mit Risiken für das
„Erhaltungsgut" verbunden ist). Dabei kehren an dieser Stelle alle die
Fragen wieder, die schon beim Gefahrenbegriff vielfach umstritten sind
und auf die hier nicht näher eingegangen werden kann: O b durchgehend
auf eine ex-ante-Beurteilung abzustellen ist oder ob der dem Progno-
seurteil über die künftige Entwicklung als gegenwärtig gegeben
zugrunde gelegte Sachverhalt tatsächlich vorliegen muß, ferner welcher
Beurteilungsmaßstab anzuwenden ist, ob derjenige eines zugleich mit
dem Sonderwissen des Täters ausgestatteten Durchschnittsbeobachters,
eines verständigen Beobachters aus dem Verkehrskreis des Handelnden,
eines besonders sachverständigen oder gar über alle Gegenwartserkennt-
nisse verfügenden Betrachters, schließlich ob hier bei den §§ 34 und 35
10 Von Bedeutung ist dies z. B., sofern man hier Notstandsregeln anwendet (vgl. dazu
III.
11 Vgl. eingehend zum Stand der Meinungen zuletzt Hirsch, in: LK §34 Rdn.27ff, §35
Rdn. 17.
" Zur Gefahr vgl. Hirsch, in: LK §34 Rdn. 32; Lenckner, in: Schönke-Schröder,
22. Aufl. 1985, §34 Rdn. 15.
13 Auch insoweit kann nichts anderes gelten als für die Gefahr selbst: Spielt es ζ. B. bei
der Interessenabwägung nach § 34 eine Rolle, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, daß die
Gefahr in den drohenden Schaden umschlägt (vgl. z.B. S/S-Lenckner [Fn. 12] §34
Rdn. 15), so muß ein Abwägungsfaktor selbstverständlich auch der Grad der Wahrschein-
lichkeit sein, daß die Rettungshandlung gelingt.
100 Theodor Lenckner
Gebrauchsrecht an den dort genannten Fahrzeugen nur als Ausfluß des Eigentums schützt
(vgl. dazu Eser, in: Schönke-Schröder [Fn. 12] § 2 4 8 b Rdn. 1 m. w. N . ) , so daß in solchen
Fällen dann schon § 904 B G B unmittelbar zur Anwendung käme.
„Nicht-anders-Abwendbarkeit" der Gefahr in §§ 34, 35 StGB 101
1. Es versteht sich von selbst, daß beim Notstand - anders als bei der
Notwehr - die Möglichkeit, der Gefahr auszuweichen, ohne dabei
eigene oder fremde Güter opfern zu müssen, immer das mildeste Mittel
ist: Wer, um sich seinem Angreifer zu entziehen, in ein fremdes Haus
eindringt (§123), kann sich nicht auf §34 berufen, wenn ihm auch
andere Fluchtwege offengestanden hätten. Die Frage, auf die noch
zurückzukommen sein wird, kann hier nur sein, wie zu entscheiden ist,
wenn auch die Möglichkeit des Ausweichens, ohne deshalb schon ein
ungeeignetes Mittel zu sein, mit gewissen Risiken verbunden ist. Davon
abgesehen aber kann die Bestimmung des relativ mildesten Mittels nur
dann zum Problem werden, wenn ein Ausweichen vor der Gefahr nicht
möglich ist oder - auch dann wäre das Ausweichen ein ungeeignetes
Mittel - das bedrohte Gut dadurch lediglich in eine neue, zumindest
ebenso schwere Gefahr gebracht würde, wenn m. a. W. also zum Schutz
des „Erhaltungsguts" andere Rechtsgüter in Anspruch genommen wer-
den müssen. Dabei kann es sich je nach Sachlage ausschließlich um
Rechtsgüter Dritter handeln; möglich ist aber auch, daß daneben Güter
des Täters oder im Fall der Notstandshilfe solche des von der Gefahr
Betroffenen zur Verfügung stehen.
Württ. v. 21.10.1975, GBl. S.654. Vgl. dazu auch schon Henkel a.a.O. (Fn.6) S. 115f.
21 Wird von dem Angegriffenen, obwohl ihm dies möglich wäre, nicht verlangt, daß er
zur Schonung des Angreifers fremde private Hilfe herbeiholt (vgl. Spendel, in: LK [Fn. 1]
§32 Rdn.233, S/S-Lenckner [Fn. 12] §32 Rdn. 41 m. w. N.), so kann ihm auch nicht
entgegengehalten werden, daß er sich auf Kosten Dritter ein milderes Verteidigungsmittel
hätte beschaffen können.
22 Dazu, daß vor Tierangriffen, für die nach ganz h.M. nicht §32, sondern §228 BGB
gilt (and. im wesentlichen wohl nur noch Spendel, in: LK §32 Rdn. 38ff.), nach Möglich-
keit ausgewichen werden muß, vgl. z.B. von Feldmann, in: Münchener Kommentar zum
BGB, 2. Aufl. 1984, §228 Rdn. 3 m . w . N .
„Nicht-anders-Abwendbarkeit" der Gefahr in §§ 34, 35 StGB 105
eines bereits aus anderen Gründen rechtmäßigen Mittels ist nur dort ausgeschlossen, w o
der Feststellung der Rechtmäßigkeit dieselbe Erforderlichkeitsprüfung wie bei § 34 voraus-
geht. Dies ist der Fall, wenn eines der möglichen Eingriffsgüter nach § 2 2 8 B G B verletzt
werden darf. O b die Einwirkung auf die Sache erforderlich ist, hängt hier, ebenso wie bei
§ 3 4 , davon ab, o b nicht andere, geeignetere und mildere Mittel zur Verfügung stehen; ist
dies zu verneinen und eine Sachwehr damit erforderlich, so bedeutet dies umgekehrt, daß
die Inanspruchnahme eines der anderen Güter nach § 34 nicht erforderlich ist.
106 Theodor Lenckner
24 So RGSt. 66, 222, 227; zum entschuldigenden Notstand beim Meineid vgl. ferner
fremden Pkw das mildere Mittel wäre, die Benutzung des Pkw eines Schwerkranken zum
Zweck seiner Rettung nicht nach § 34 gerechtfertigt, wenn dies gegen dessen ausdrückli-
chen Willen geschähe, weil er sich in voller Verantwortung dafür entschieden hat, sein
Schicksal auf sich zu nehmen.
29 Entreißt z . B . der Täter bei einem Schiffsunglück einem anderen Passagier die
Schwimmweste, um einen Angehörigen zu retten, so ist § 35 nicht deshalb zu verneinen,
weil er dem Angehörigen auch die eigene Schwimmweste hätte geben können, dann aber
selbst ertrunken wäre.
108 Theodor Lenckner
jedenfalls dann das mildere Mittel sein, wenn für dessen Inhaber eine
solche Pflicht besteht. Eine derartige Betrachtungsweise würde dann
freilich auch bedeuten, daß der Grundsatz, daß bei der Bestimmung des
relativ mildesten Mittels die „Erhaltungsseite" außer Betracht zu bleiben
hat31, hier nicht mehr durchgehalten werden kann: Denn ob die Hilfs-
pflicht nach § 323 c zugleich die Pflicht umfaßt, eigene Güter einzuset-
zen und notfalls zu opfern, bestimmt sich nicht nur nach deren Schutz-
würdigkeit, sondern auch danach, was für den von dem Unglücksfall
Betroffenen auf dem Spiel steht.
2. Erst wenn das relativ mildeste Mittel feststeht, kann unter Berück-
sichtigung seiner Geeignetheit auch die erforderliche Notstandshand-
lung bestimmt werden, und zwar nach dem Grundsatz, daß diese
einerseits so effektiv, andererseits so wenig belastend wie möglich sein
muß. Deshalb ist es selbstverständlich, daß das mildeste und zugleich
aussichtsreichste Mittel immer auch das allein erforderliche ist. Eine
klare Präferenz ergibt sich ferner, wenn unter mehreren gleich geeigne-
ten Mitteln eines das mildeste oder unter mehreren gleich schweren eines
das geeignetste ist: Hier ist das mildeste bzw. das geeignetste auch das
erforderliche Mittel. Ebenso eindeutig ist die Entscheidung schließlich,
wenn die vorhandenen Rettungsalternativen alle gleich schwer und
gleich wirksam sind. Verlangt man für den Notstand nicht eine „spezifi-
sche Kollisionsbeziehung" 32 , was z. B. die Benutzung eines von mehre-
ren am Straßenrand abgestellten Fahrzeugen (§ 248 b) für einen dringen-
den Krankentransport von vornherein ausschließen würde, so ist hier
mit der Folge einer Wahlfreiheit die Erforderlichkeit für jede der gegebe-
nen Möglichkeiten zu bejahen.
Während sich hier die Lösung mehr oder weniger zwingend aus der
Natur der Sache ergibt, ist sie um einiges problematischer, wenn die zur
Verfügung stehenden Mittel sowohl unterschiedlich schwer als auch
unterschiedlich geeignet sind und die größere Geeignetheit nicht der
geringeren Schwere entspricht. Um dies an einem Beispiel zu verdeutli-
chen: Ist es möglich, zur Beschaffung eines dringend benötigten Medi-
kaments für einen lebensgefährlich Erkrankten 1. das fragliche Medika-
ment einem im selben Haus wohnenden Patienten wegzunehmen, der
jedoch gleichfalls auf dieses angewiesen ist, 2. in eine Privatwohnung
einzubrechen, um von dort aus die in der nächsten Stadt gelegene
Apotheke zu beauftragen, das Medikament per Taxi zu schicken,
3. eigenmächtig einen fremden Pkw zu benutzen, um das Medikament
aus der Apotheke zu holen, so ist die erste Alternative die schwerwie-
31
Vgl. o. S. 101 f.
J2
Vgl. o. Fn. 8.
110 Theodor Lenckner
sich als Fazit vor allem zweierlei auf: 1. Der vielfach anzutreffende Satz,
daß sich die Erforderlichkeit der Notstandshandlung in den §§34, 35
nach den selben Regeln bestimmt, ist nur mit Einschränkung richtig und
bedarf der Korrektur; 2. ein Ort für die z . T . äußerst komplexen
Abwägungen, die der Notstand erforderlich macht, ist nicht erst die
Interessenabwägungs- bzw. die Zumutbarkeitsklausel der §§34, 35,
sondern schon das gesetzliche Merkmal der „Nicht-anders-Abwendbar-
keit" der Gefahr.
Grund- und Grenzprobleme des sog. subjektiven
Rechtfertigungselements
WOLFGANG FRISCH
„Im einzelnen sind Inhalt und Grenzen des sog. subjektiven Rechtfer-
tigungselements noch nicht abschließend geklärt", sagt der verehrte
Jubilar resümierend in der jüngsten Auflage seines Kommentars'. Man
muß ihm in dieser zurückhaltenden Würdigung zustimmen; die jüngsten
Beiträge zum Thema 2 unterstreichen die Richtigkeit seiner Feststellung
nur noch. In der Lehre vom sog. subjektiven Rechtfertigungselement ist
derzeit fast alles kontrovers, worüber man streiten kann - und zwar auch
abgesehen von der im Rahmen dieses Beitrags nicht näher erörterten
Sonderfrage, ob es bei manchen Rechtfertigungsgründen einer pflichtge-
mäßen Prüfung der Rechtfertigungsvoraussetzungen seitens des Täters
bedarf 3 . Der Streit beginnt bei der Frage, ob ein sog. subjektives
Rechtfertigungselement überhaupt berechtigt ist: Im Bereich der Fahr-
lässigkeitsdelikte seit je umstritten 4 , ist das subjektive Rechtfertigungs-
element durch Spendet jüngst sogar im Bereich der Vorsatzdelikte
wieder lebhaft bekämpft worden. N o c h wesentlich kontroverser sind die
Auffassungen über den Inhalt dieses Elements': Hier wird bekanntlich
seit längerem darüber diskutiert, ob es ausreicht, daß der Täter das
Vorhandensein der Rechtfertigungslage nur gekannt hat, oder ob er -
auch - mit einer bestimmten Absicht oder einem bestimmten Willen
( z . B . dem Verteidigungs- oder Rettungswillen) gehandelt haben muß;
neuerdings sind - etwa unter dem Stichwort „zweiaktige Rechtferti-
gungskonstellationen" 7 - weitere Differenzierungen hinzugekommen.
Nicht weniger unterschiedlich sind die Auffassungen über die Folgen des
1
Lackner, StGB, 16. Aufl. 1985, Vorbem. II vor §32.
2 S. die Aufsätze von Spendei, Triffterer und Loos in der Festschrift f. Oehler, 1985,
S. 197 ff, 209 ff, 227 ff sowie Herzberg, J A 1986, 190 ff.
3 Vgl. dazu statt vieler - m. w. N . - näher Scbönke/Schröder/Lenckner, S t G B , 22. Aufl.
1985, vor §32 R d n . l 7 f f .
* S. dazu unten II. 1.
s Vgl. Spendet, D R i Z 1978, 3 2 7 f f ; dens., Festschrift f. Bockelmann, 1979, S. 245 ff;
dens., in: Leipziger Kommentar (LK), 10.Aufl. 1985, §32 Rdn. 138ff, 2 1 9 f f ; dem.,
Festschrift f. Oehler, S. 197 ff.
6 Vgl. im einzelnen unten II. 2.
8
Z.B. analoge oder direkte Anwendung, näher dazu unten II.3.
' Vgl. im einzelnen anschließend 1.1.-4.
10
Freilich gibt es Ausnahmen, vgl. etwa Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt im
Strafrecht, 1974, S. 175 ff und Stratenwerth, Strafrecht - AT, 3. Aufl. 1981, Rdn.484ff.
Grund- u. Grenzprobleme des sog. subjektiven Rechtfertigungselements 115
11 Vgl. etwa - in der Diskussion um den Inhalt des sog. subjektiven Rechtfertigungsele-
dung fehlt es so gut wie völlig; an ihre Stelle tritt als Basis der weiteren
Überlegungen ein aus disparaten Quellen gespeister Konsens - wobei
freilich selbst dieser nur einen Teil der Rechtfertigungsgründe umfaßt14.
1. Nach wie vor verbreitet ist das Argument, schon das Gesetz selbst
deute in den Formulierungen verschiedener Rechtfertigungsgründe auf
das Erfordernis eines subjektiven Rechtfertigungselements hin15. Als
Beleg hierfür pflegen in erster Linie die gesetzlichen Umschreibungen
des Notstands- und des Notwehrrechts angeführt zu werden: der Täter
müsse danach handeln, „um einen Angriff abzuwehren", „um eine
drohende Gefahr abzuwenden" - was Handeln zum Zweck der Verteidi-
gung oder Rettung mit einem hierauf gerichteten Willen oder doch
zumindest Kenntnis der Notwehr- oder Notstandslage voraussetze.
Aber auch andere Rechtfertigungsgründe ließen schon nach der Art ihrer
gesetzlichen Fassung relativ deutlich die Erforderlichkeit eines subjekti-
ven Rechtfertigungselements erkennen - etwa wenn bei der Selbsthilfe
Handeln „zum Zwecke der Selbsthilfe" oder bei der Wahrnehmung
berechtigter Interessen Handeln „zur Ausführung von Rechten" usw.
gefordert wird.
Das Gewicht solcher positivistischer Argumentationen ist gering16.
Als Beleg eines durchgehenden allgemeinen Rechtfertigungselements
taugen sie schon deshalb wenig, weil es für manche Rechtfertigungs-
gründe an einschlägigen gesetzlichen Umschreibungen fehlt - etwa für
die Einwilligung oder die mutmaßliche Einwilligung. Aber auch mit
Bezug auf die Rechtfertigungsgründe, in deren Kontext solche Formu-
lierungen auftauchen, sind diese weit weniger ergiebig, als es die auf sie
rekurrierenden Verfechter eines allgemeinen subjektiven Rechtferti-
gungselements wahrhaben wollen.
2. Genau das behaupten all jene, die das Erfordernis des subjektiven
Rechtfertigungselements aus der finalen Grundstruktur des menschli-
chen Verhaltens glauben ableiten zu können: An derart final struktu-
rierte Verhaltensweisen knüpften nicht nur die strafrechtlichen Verbote,
sondern ebenso die Erlaubnisse an - nur finale Handlungen könnten
Gegenstand des Unrechtsausschlusses sein20.
Sehr überzeugend klingen solche - auch durch das semantiscbe Ver-
ständnis der einschlägigen Gesetzesbegriffe abgestützte21 - Berufungen
auf vorrechtliche ontologische Strukturen nicht. Das gilt insbesondere
für die Vorstellung, daß subjektive Befindlichkeiten im Rahmen
bestimmter Rechtfertigungsgründe schon deshalb unverzichtbar seien,
weil man - z. B. - als „Verteidigungs"-Handeln der Notwehr ontolo-
gisch nur Handeln mit Verteidigungswillen, als Notstandshandeln nur
Handeln mit Rettungswillen begreifen könne - so daß diese subjektiven
Elemente dann eben auch als im Rechtfertigungsgrund der Notwehr
oder des Notstands vorausgesetzt angesehen werden müßten. Denn
ganz abgesehen davon, daß für das in manchen Rechtfertigungsgründen
(etwa der Einwilligung) erfaßte Verhalten vergleichbare finale Vorstruk-
turierungen fehlen: Der bloße Umstand, daß Handlungen eine
bestimmte ontologische Struktur aufweisen und bestimmte Handlungs-
typen nach unserem vorrechtlichen Vorverständnis sich durch
bestimmte subjektive Befindlichkeiten auszeichnen, besagt noch lange
nicht, daß solche subjektiven Befindlichkeiten auch für die Auslösung
bestimmter Rechtsfolgen normativ unverzichtbar sind. Es gelten an
dieser Stelle dieselben methodologischen Bedenken, die in der Straf-
rechtsdoktrin seit langem gegen eine einseitig ontologisch argumentie-
rende Betrachtungsweise erhoben werden: So wie trotz der finalen
Struktur der menschlichen Handlung noch nichts darüber ausgesagt ist,
20 Vgl. H i r s c h , in: LK, vor §32 Rdn.53; N i e s e (Fn. 15), S. 17ff; W e l z e ! , Das Deutsche
Abs. 1 (zu dessen Verständnis vgl. insbes. Nowakowski, in: Wiener Kommentar, § 3
Rdn.22 m . w . N . ) .
120 Wolfgang Frisch
25 S. zu dieser Frage insbes. Hirsch, in: LK, vor §32 Rdn.47 und Stratenwerth, ZStW
68 (1956), 41 ff.
26 Vgl. insbes. Gallas, Festschrift f. Bockelmann, S. 174.
27
Gallas, Festschrift f. Bockelmann, S. 177; ähnlich Geilen, Jura 1981, 398; s. auch
schon Waider (Fn. 15), S. 102 f.
G r u n d - u. Grenzprobleme des sog. subjektiven Rechtfertigungselements 121
2 ' Auch nicht die, die darin liegt, daß fremdem Unrecht Einhalt geboten wird.
2 ' S. zu diesem Aspekt im folgenden 4.
30 Vgl. nochmals die obige Wiedergabe der Argumentation von Gallas.
" Vgl. Gallas, Festschrift f. Bockelmann, S. 177 f.
32 Aus diesem G r u n d vermag es auch nicht zu überzeugen, wenn Nowakowski, OJZ
1977, 577 es in das Ermessen des Gesetzgebers stellen will, ob die Rechtfertigung erst bei
Vorliegen bestimmter subjektiver Befindlichkeiten „greift". Wenn der Tat objektiv die
Sozialschädlichkeit fehlt, verfällt auch die Legitimation des Gesetzgebers, auf die objektive
Dimension Strafeinsatz zu stützen. Denkbar wäre allein, daß ein Fortfall der objektiven
Sozialschädlichkeit schon durch das Vorhandensein subjektiver Befindlichkeiten bedingt
ist; s. dazu den nächsten Absatz.
33 S. dazu im folgenden 4. - Jede andere Regelung (also das negative Totalurteil über die
Handlung nur wegen der negativen Gesinnung) wäre eine unangemessene Hintansetzung
des Erhaltungsinteresses derer, die bei einer bestimmten Interessenkonstellation die Frei-
gabe des ihren Gütern zugute kommenden Verhaltens verlangen können.
122 Wolfgang Frisch
Rdn. 51, und die offensichtlich von der objektiven Unrechtslehre geprägten Stellungnah-
men Spendeis (Fn. 5).
37 I. d. S. etwa R.Schmitt, JuS 1963, 67; ähnlich Hirsch, in: LK, vor § 32 Rdn. 51 f.
31 I.d.S. wohl auch Herzberg, JA 1986, 192.
Grund- u. Grenzprobleme des sog. subjektiven Rechtfertigungselements 123
davon ausgeht, daß das begründende - und das heißt: eine bestimmte
Rechtsfolge fundierende - Unrecht (genauer: der entsprechende
Unrechtstypus) aus objektiven und subjektiven Elementen zusammen-
gesetzt ist, beides zusammenkommen muß, damit Unrecht bzw. ein
bestimmter Unrechtstypus gegeben ist, ist damit doch zugleich gesagt:
dieses Unrecht verfällt, wenn nur eine der beiden notwendigen Kompo-
nenten wegfällt.
Die Verkennung dieser im Grunde trivialen Zusammenhänge hat ihren Grund nicht
zuletzt in der traditionellen Fragestellung: man fragt danach, ob das „an sich gegebene"
Unrecht überhaupt ausgeschlossen, ob das „an sich" Unrechte Verhalten gerechtfertigt
sei. Diese Fragestellung mag üblich sein - für ein Strafrecht, das als Rechtsfolgen
auslösendes Unrecht ein ganz bestimmte Strukturelemente aufweisendes Unrecht vor-
sieht (bzw. mit mehreren solcher Unrechtsformen arbeitet), ist sie zu grob und
unspezifisch: Hier lautet die richtige Frage, ob infolge bestimmter Gegebenheiten ein
notwendiges Strukturelement „des" Unrechts bzw. genauer: der jeweiligen mit einer
bestimmten Rechtsfolge verknüpften Form des Unrechts entfällt 3 '. Freilich kommt zu
dieser Inadäquität der Fragestellung noch ein Zweites: Wenn man subjektive Elemente
als Einschränkung der strafrechtlichen Relevanz objektiver Elemente begreift - und
anders ist die Behauptung vom notwendigen Zusammentreffen objektiver und subjekti-
ver Elemente ja wohl schwerlich zu verstehen - , dann muß es zu einer Aufhebung
dieses Unrechts und damit einer so verstandenen Rechtfertigung schon aus rein
logischen Gründen bereits bei Fortfall des eingeschränkten, nicht erst des einschrän-
kenden Elements kommen!
" Treffend insoweit Herzberg, J A 1986, 192; s. auch noch unten II. 4.
40 Auch Nowakowski, O J Z 1977, 577 behauptet dies nicht. Zu seiner These vom
gesetzgeberischen Ermessen vgl. oben Fn. 32.
41 Zutreffend Gallas, Festschrift f. Bockelmann, S. 174.
124 Wolfgang Frisch
die Handlung objektiv das höhere Interesse und kann daher wegen ihrer
objektiven Dimension unmöglich als verboten ausgezeichnet werden -
jede andere Lösung würde den Erhaltungsanspruch des höheren Interes-
ses mißachten. Dieser Anspruch ist keine Funktion der zufälligen Psy-
che des in der Situation Handelnden, sondern einzig und allein vom
Verhältnis der kollidierenden Güter abhängig.
Eine überzeugende Begründung des subjektiven Rechtfertigungsele-
ments kann nach allem nur jenseits eines Unrechtskonzepts gelingen, das
objektive Unrechtselemente voraussetzt (oder mit-voraussetzt). Und das
heißt: Wenn sich ein sog. subjektives Rechtfertigungselement überhaupt
postulieren läßt, dann allein aus der Perspektive eines subjektiven
Unrechtskonzepts, für das Unrecht schon in der Betätigung einer
bestimmten Intention, bestimmter Entschlüsse, liegt.
b) An eben dieser Stelle setzt denn auch die letzte hier zu würdigende
Gruppe von Begründungsversuchen eines sog. subjektiven Rechtferti-
gungselements an. Subjektive Rechtfertigungselemente bilden danach
eine notwendige Konsequenz der personalen Unrechtslehre, für die
Unrecht maßgeblich Handlungsunrecht ist, das seinerseits wieder ent-
scheidend von der Willensrichtung des Täters abhängt: Auf der Basis
eines solchen Unrechtsverständnisses verwirklicht Handlungsunrecht,
wer auf einen rechtlich mißbilligten Erfolg hin handelt. Eben das tue
auch der, der bei objektiver Rechtfertigungslage, aber ohne Kenntnis
von dieser handle. Nur wenn der Täter die Situation kenne bzw. bei
seinem Handeln zugleich ein sozial billigenswertes Ziel anstrebe, werde
der Handlungsunwert der Tat aufgehoben oder kompensiert42. Beson-
ders naheliegend ist eine solche Begründung für all die, für die derartiges
Intentionsunrecht das Unrecht schlechthin verkörpert43.
Auf den ersten Blick scheint damit eine wirklich tragfähige Begrün-
dung gewonnen - jedenfalls, wenn man an die Stelle der z. T. verwende-
ten etwas unspezifischen Redeweise vom Handlungsunrecht dezidiert
subjektives Handlungsunrecht setzt. Das subjektive Rechtfertigungsele-
ment ist offenbar notwendig zur Kompensation subjektiven Handlungs-
unrechts. Indessen - so plausibel das klingt, in der etwas eingehenderen
Analyse tauchen auch gegenüber dieser Art der Einführung des subjekti-
ven Rechtfertigungselements alsbald Bedenken auf.
42 I. d. S. etwa Burgstaller (Fn. 10), S. 175; ders., JBl. 1980, 495-Jescheck, Lehrbuch des
Strafrechts, AT, 3. Aufl. 1978, S. 164; Maurach/Zipf, Strafrecht - AT Bd. 1, 6. Aufl. 1983,
S.331 f; Rudolphi, Festschrift f. Maurach, 1972, S. 58; Samson, in: SK, vor §32 Rdn.24;
Schänke/Schröder/Lenckner, vor §32 Rdn. 13; Stratenwerth, AT, Rdn.486; Wolter,
Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem
funktionalen Straftatsystem, 1981, S. 134 f.
« Wie z.B. für Zielinski (Fn.20), S.233f, 264f.
Grund- u. Grenzprobleme des sog. subjektiven Rechtfertigungselements 125
44 I.d.S. etwa Zielinski (Fn. 20), S.233, 235, 255 und mehrfach; s. auch Jescheck, AT,
S. 264.
,s S. schon oben 3. a. E.
126 Wolfgang Frisch
auf sie bezogenen Interessen. Daß eine Handlung, die auf Güterbeein-
trächtigung zielt oder im Bewußtsein der Möglichkeit einer solchen
vorgenommen wird, bei Vorhandensein bestimmter subjektiver Befind-
lichkeiten in bezug auf die kompensierende Lage nicht als unwertig
angesehen wird, hat seinen Grund nicht in der Kompensation eines „an
sich"-Intentionsunwerts durch einen Intentionswert. Es liegt vielmehr
darin begründet, daß eine solche Handlung dem entspricht, was die
Rechtsordnung im Blick auf das Verhältnis der beteiligten Interessen als
rechtens ausweist: Vorstellung und (betätigte) Gesinnung des Täters
stehen im Einklang mit der Rechtsordnung. Die Betätigung des Ent-
schlusses stellt damit schon keinen Intentionsunwert dar - weil der Täter
nur das tut, was die Rechtsordnung auf der Basis entsprechender Kom-
pensationsüberlegungen als rechtens ausweist46.
Mit diesen Überlegungen, die letztlich die ganze Redeweise vom
subjektiven Rechtfertigungselement in Frage stellen47, wird der eigentli-
che Grund einer subjektiven Befindlichkeit im Bereich der Rechtferti-
gungsgründe sichtbar. Solche Befindlichkeiten sind nicht etwa erforder-
lich, damit ein Intentionsunwert durch einen Intentionswert kompen-
siert werde. Sie sind vielmehr notwendig, weil das mit dem Bewußtsein
möglicher Rechtsgüterbeeinträchtigungen erfolgende Handeln des
Täters ohne ihr Gegebensein als Betätigung eines dem Recht zuwiderlau-
fenden Entschlusses und in diesem Sinn als Intentionsunwert anzusehen
ist: N u r der, der die für die Qualifikation seines Handelns als im Blick
auf die Güterwelt rechtmäßig maßgebenden Umstände kennt, tut - auch
- subjektiv etwas, was mit der Rechtsordnung in Einklang steht, von
dieser nicht als Unwert ausgewiesen wird. Wer in dieser Hinsicht
ahnungslos ist, entscheidet sich subjektiv für eine Güterbeeinträchti-
gung, die die Rechtsordnung bei der vom Täter vorausgesetzten Sachlage
nicht zuläßt - und: verwirklicht damit auf der Basis seiner Intention
Unrecht 48 .
bb) Freilich: Auch nach dieser Korrektur bleiben noch Bedenken gegen
die hier in Rede stehende Begründung des sog. subjektiven Rechtferti-
gungselements. Sie betreffen das Fundament dieser Begründung. Die
verbreiteten Berufungen auf Konsequenzen einer personalen Unrechts-
lehre oder der Lehre vom Intentionsunwert erscheinen in doppelter
Hinsicht unbefriedigend. Erstens, weil belastende Rechtsfolgen 49 nicht
46
Treffend Rudolphi, Festschrift f. Maurach, S. 57 f.
47
Vgl. unten II. 4.
48
Übereinstimmend insbes. Burgstaller (Fn. 10), S. 175; Rudolphi, Festschrift f. Mau-
rach, S. 57f; Samson, in: SK, vor §32 R d n . 2 3 f ; Stratenwerth, AT, Rdn. 486.
49
U m solche geht es auch, wenn wegen des Fehlens eines subjektiven Rechtfertigungs-
elements (nur) Versuchsstrafe folgen soll.
Grand- u. Grenzprobleme des sog. subjektiven Rechtfertigungselements 127
50
Man vgl. nur - beispielhaft - die Diskussion zwischen Burgstaller (Fn. 10), S. 175 und
Kienapfel, OJZ 1975, 430, sowie die von einem anderen Unrechtskonzept ausgehenden
Überlegungen Spendeis, Festschrift f. Bockelmann, S.251. S. ferner K.Schmitt, JuS 1963,
68 und Waider (Fn. 15), S. 101 ff.
51
Vgl. nur - m. w. N . - Schänke/Schröder/Lenckner, vor § 13 Rdn. 59.
52
S. dazu auch Frisch (Fn. 22), S. 88 ff m. w. N.
53
Zum Unterschied vgl. auch Jakobs, Strafrecht - AT, 1983, 11/23.
128 Wolfgang Frisch
54
Vgl. dazu etwa Rudolphi, in: SK, vor § 22 Rdn. 12 ff m. w. N .
55
Wegen dieses „Mehr" im Vergleich zum (untauglichen) Versuch wird denn auch von
manchen Autoren für eine Sonderregelung plädiert, vgl. etwa Jakobs, AT, 11/23.
56
S. dazu ansatzweise auch schon Frisch (Fn. 22), S. 453 ff.
Grund- u. Grenzprobleme des sog. subjektiven Rechtfertigungselements 129
Diese Betonung der Relevanz der gesetzlichen Entscheidung für subjektives Unrecht
steht auch nicht etwa im Gegensatz zur einleitenden Ablehnung der Begründungsversu-
che des subjektiven Rechtfertigungselements aus der Formulierung bestimmter Recht-
fertigungsgründe". Es ging früher allein darum, darzutun, daß der Gesetzgeber bei der
Formulierung der Rechtfertigungsvoraussetzungen nicht einfach frei dekretieren und
gewissermaßen auf subjektive Rechtfertigungselemente ebenso verzichten wie diese
postulieren könne, daß er vielmehr gewisse Vorgaben zu beachten habe. Die Anerken-
nung der strafrechtlichen Relevanz subjektiven Unrechts ist eine solche Vorgabe - über
sie kann sich der Gesetzgeber nicht hinwegsetzen 60 .
vertretene Auffassungen" (Burgstaller [Fn. 10], S. 175), auf den „allgemein (?) anerkannten
Aufbau des tatbestandsmäßigen Unrechts" {Burgstaller, JB1. 1980, 495), die „personale
Unrechts lehre (!)" (Samson, in: S K , vor § 3 2 R d n . 2 3 ) usw.
" O b e n 1.
60 Er könnte höchstens diese Vor-Entscheidung selbst beseitigen!
130 Wolfgang Frisch
der Gutsträger!
" So die h. M., vgl. etwa Jescheck, A T , S. 4 6 7 ff m . w . N .
" Vgl. insbes. Zielinski ( F n . 2 0 ) , S. 168, 171 ff, 173 f und anschließend.
70 Nicht überzeugend Burgstaller (Fn. 10), S. 180, der hier objektives Handlungsun-
recht bejahen will, obwohl es doch auch nach ihm am Erfolgsunrecht fehlen soll.
71 Eingehende Nachweise jener Autoren, die auch beim Fahrlässigkeitsdelikt ein sub-
" S. dazu ζ. B. Armin Kaufmann, Strafrechtsdogmatik zwischen Sein und Wert, 1982,
S. 131, 148 f.
77
S. dazu schon Frisch (Fn. 22), S. 457ff; eingehende Nachweise bei Loos, Festschrift f.
Oehler, S. 227 ff; Schänke/Schröder/Lenckner, vor §32 Rdn. 14. Abweichend - und zwar
nicht nur i. S. der Postulierung eines Willensmoments, sondern auch i. S. eines Verzichts
auf vollständige Kenntnis - insbes. Hirsch, in: LK, vor §32 Rdn. 55.
78
Zutreffend hervorgehoben von Loos, Festschrift f. Oehler, S. 233 ff.
n
Nicht überzeugend daher der Verzicht Hirschs, in: LK, vor §32 Rdn. 55 auf das
Erfordernis der Kenntnis (als solches).
134 Wolfgang Frisch
a) Die Antwort auf die erste Frage soll bewußt knapp gehalten werden,
da ich dazu schon an anderer Stelle eingehend Stellung genommen
habe80. Wegweisend ist auch hier unser Grundansatz, diesmal freilich in
Verbindung mit gewissen Interpretamenten der Lehre vom intentionalen
Unrecht: Wenn es für die Annahme intentionalen Unrechts ausreicht,
daß der Täter solche Dimensionen seiner Handlung „ernsthaft für
möglich hält", die das Unrecht begründen, so ist es angesichts der
Gleichwertigkeit unrechtsbegründender und (des Fehlens) unrechtsaus-
schließender Umstände für das Vorliegen von Unrecht im Prinzip
konsequent, bei ernsthaftem Für-Möglich-Halten des Fehlens rechtferti-
gender Umstände ebenfalls die Verwirklichung intentionalen Unrechts
zu bejahen. Das sog. subjektive Rechtfertigungselement muß dement-
sprechend so beschaffen sein, daß das verbleibende Für-Möglich-Halten
des Nichtgegebenseins rechtfertigender Umstände für die Begründung
ideellen Unrechts nicht ausreicht81. Und dies wiederum ist - je nach
dem, was man für die Vorsatzbegründung als ausreichend ansieht - der
Fall, wenn der Handelnde auf das Vorliegen der rechtfertigenden
Umstände vertraut, dieses - und nicht das Fehlen dieser Umstände - für
wahrscheinlich hält, wenn ihm das Fehlen der Umstände nicht gleichgül-
tig ist usw.
Freilich ist diese Leitlinie genau besehen zu grob. Tatsächlich genügt nämlich in bezug
auf die Merkmale bestimmter Rechtfertigungsgründe das (blinde) Vertrauen auf deren
Gegebensein für das sog. subjektive Rechtfertigungselement ebensowenig wie auf der
anderen Seite die bloß schwache Annahme des Eintritts bestimmter positiver Effekte
dieses Element ausschließt82. Die obige Leitlinie bildet daher nur eine meist treffende
Aussage. Präzisere Aussagen setzen voraus, daß man das zwar einfache, in seiner
holzschnittartigen Einfachheit aber zu grobe Modell einer in den Erlaubnissätzen
geforderten feststehenden Wirklichkeit, auf die sich ein einheitlich formulierbares
subjektives Rechtfertigungselement bezieht, zugunsten eines differenzierteren Modells
aufgibt und anerkennt, daß (nicht nur die Handlungsverbote, sondern auch) weite
Teilbereiche der Erlaubnisnormen über mehr oder weniger große Möglichkeiten formu-
liert sind83. Für den subjektiven Bereich ist dann zu fordern, daß der Täter jeweils die -
durchaus unterschiedlichen - Möglichkeiten (oder auch praktischen Gewißheiten)
kennt, über die die Handlungsbefugnisse (oder die Handlungsverbote) definiert sind.
Geht der Täter von insoweit nicht ausreichenden Möglichkeiten aus, so verwirklicht er
(jedenfalls auch) intentionales Unrecht84.
b) Weit mehr diskutiert als dieses erste ist das zweite Problem: ob es im
subjektiven Bereich (zur Vermeidung von Straffolgen) neben der Kennt-
nis auch noch eines besonderen Zweckmoments oder Motivs bedarf. Die
Auffassungen sind insoweit geteilt85: Die wohl überwiegende Ansicht
verlangt eine Absicht oder einen bestimmten Willen (z.B. der Verteidi-
gung oder Rettung) bzw. eine Motivation gerade durch die Rechtferti-
gungslage - wobei allerdings ausreichen soll, daß der Rechtfertigungs-
zweck neben anderen Zwecken verfolgt wird, die Rechtfertigungslage
jedenfalls ein Motiv ist8'. In der Literatur gewinnt demgegenüber - von
der speziellen Problematik der sog. zweiaktigen Rechtfertigungsgründe
einmal abgesehen87 - zunehmend eine Auffassung an Boden, die die
Notwendigkeit einer solchen Absicht oder Motivation bestreitet und
schlichte Kenntnis der Rechtfertigungslage genügen läßt88.
Zur Abklärung der Reichweite des damit angesprochenen Dissenses
erscheint es sinnvoll, zunächst auf eines hinzuweisen: Zwischen dem
Postulat bloßer Kenntnis und dem eines sog. Verteidigungswillens
besteht zumindest solange kein Gegensatz, solange man das postulierte
Willensmoment nur in dem Sinne versteht, in dem es auch in der
Vorsatzlehre gebraucht wird. Tatsächlich fordern die Befürworter eines
voluntativen Vorsatzelements ja auch im Tatbestandsbereich nicht etwa,
daß es dem Täter auf die Herbeiführung des Erfolgs oder die Vornahme
der Handlung unter tatbestandsverwirklichenden Umständen nachge-
rade ankommen müsse. Die voluntative Komponente gilt als erfüllt
auch, wenn der Täter - unter Einschluß des Für-Möglich-Haltens -
weiß, daß sein Verhalten den Tatbestand verwirklicht und - gleichwohl
- willentlich handelt. Die Erfordernisse eines solchen Willensbegriffs
erfüllt aber nun ersichtlich auch der Täter, der in Kenntnis aller die
Rechtfertigung tragenden Umstände handelt 8 ': er weiß - unter Einschluß
des Für-Möglich-Haltens - daß mit seinem Handeln der Effekt der
Verteidigung oder Rettung eines anderen verbunden ist und will das so
erfaßte Handeln. Ein wirklicher Gegensatz besteht so gesehen nur,
wenn man mehr als solches Wollen verlangt: etwa fordert, daß es dem
Täter geradezu auf Verteidigung oder Rettung (mit-)ankommt oder daß
er durch die Rechtfertigungslage motiviert ist.
!5
Eingehende Nachweise zum Streitstand bei Loos, Festschrift f. Oehler, S. 227 f und -
zum österr. Recht - Triffterer, Festschrift f. Oehler, S. 212 f.
86
Aus der Rspr. vgl. z.B. BGHSt. 3, 194, 198; B G H NStZ 1983, 117 u. 500; aus der
Literatur z.B. Dreher/Tröndle, StGB, 42.Aufl. 1985, §32 Rdn. 14; Lackner, II vor §32
und 2f zu §32; Hirsch, in: LK, vor §32 Rdn. 53 ff.
17
Vgl. dazu noch unten II. 5.
»8 I.d.S. z.B. Burgstaller (Fn.10), S.175f; Jakobs, AT, 11/20f; Loos, Festschrift f.
Oehler, S.235f; Schänke/Schröder/Lenckner, vor §32 Rdn. 14; Stratenwerth, AT,
Rdn. 488 ff; auch der österr. O G H steht auf diesem Standpunkt, vgl. O G H JB1. 1980, 494.
" Übereinstimmend Schünemann, G A 1985, 333.
136 Wolfgang Frisch
Für solche subjektive Befindlichkeiten läßt sich nun freilich aus der
induzierend hinter dem sog. subjektiven Rechtfertigungselement stehen-
den Ratio, der Vermeidung des Verdikts subjektiver Unrechtsverwirkli-
chung, ersichtlich nicht plädieren - zumindest wenn man die Antwort
auf der Grundlage jener Lehren sucht, die auch sonst als maßgebliche
dogmatische Ausformung des Gedankens subjektiv begründeten
Unrechts fungieren. Im Subjektiven, als sog. Tatentschluß, ist danach
der Vorsatz des entsprechenden Delikts90, genauer: Vorsatz in bezug auf
jene Momente gefordert, welche das Geschehen zu (tatbestandlich ver-
typtem) Unrecht machen. Dementsprechend muß das sog. subjektive
Rechtfertigungselement konsequenterweise nur das aufweisen, was zum
Ausschluß solchen Vorsatzes notwendig ist. Hierfür genügt aber nun
allemal die Kenntnis der rechtfertigenden Umstände - denn bereits mit
dieser Kenntnis nimmt der Täter seine Tat nicht mehr als Unrechte Tat
wahr". Das gilt ganz unabhängig davon, ob man für den Vorsatz nur
Kenntnis verlangt oder zusätzlich ein voluntatives Moment fordert'2.
Läßt sich damit für ein Absichts- oder Motivmoment bei Zugrundele-
gung des den Gedanken subjektiven Unrechts ausformenden Instrumen-
tariums kein Beleg finden, so könnte allenfalls noch eines in Betracht
kommen: der Aufweis der Notwendigkeit eines solchen Elements im
Blick auf den Grundgedanken des subjektiven Unrechts. Auf den ersten
Blick scheint dieser Rekurs in der Tat ein Zweck- oder Absichtsmerkmal
nahezulegen: Denn handelt in rechtsfeindlicher oder unrechtlicher
Gesinnung nicht auch der, der zwar die Rechtfertigungslage kennt, aber
nicht helfen, retten, züchtigen oder dem Willen des Einwilligenden
Rechnung tragen, sondern nachgerade schaden oder einfach nur auffal-
len will? - Die etwas eingehendere Betrachtung zeigt indessen, daß so
nicht argumentiert werden kann. Die Schädigungsabsicht bei Handeln in
Kenntnis der Rechtfertigungslage kann als Bekundung einer rechtsfeind-
lichen Gesinnung höchstens dem ausreichen, der die rechtsfeindliche
90 Vgl. z.B. RGSt. 61, 160; BGHSt. 22, 332f; 32, 378; Schönke/Schröder/Eser, §22
Rdn. 12 ff, 17 ff m. w. N. (auch abweichender Auffassungen).
91 Anders kann die Dinge allenfalls der sehen, der den Vorsatz von vornherein nur auf
die tatbestandlich vertypten Unrechtselemente bezieht: dieser Vorsatz wäre durch die
Kenntnis der Rechtfertigungslage nicht betroffen. Indessen wäre ein solcher Vorsatz nicht
nur unzureichend, um eine unrechtliche Gesinnung zu begründen und damit strafrechtli-
che Folgen nach sich zu ziehen (hierzu bedürfte es vielmehr noch der Unkenntnis der
Rechtfertigungslage; s. den folgenden Text!). Mit dem Hinweis auf sein Gegebensein läßt
sich vor allem kein Absichtsmerkmal o.a. begründen. Denn das hierfür allenfalls zu
erwägende Kompensationsmodell im Subjektiven ist - abgesehen von der Willkürlichkeit
des Schlusses gerade auf die Absicht - schon im Ansatz verfehlt (s. oben I.4.b), aa).
92 Eingehende Nachweise dazu bei Frisch (Fn.22), passim; aus der jüngsten Zeit vgl.
noch Schmidhäuser, Festschrift f. Oehler, S. 135 f und Herzberg, JuS 1986, 249 ff.
Grand- u. Grenzprobleme des sog. subjektiven Rechtfertigungselements 137
" Übereinstimmend insbes. Roxin, ZStW 75 (1963), 561 ff, 563; s. auch Rudolphi,
Festschrift f. Maurach, S. 57 f; Stratenwerth, AT, Rdn.489.
M Ein „Weil"-Motiv fordert bei der Notwehr insbes. Alwart, GA 1983, 433, 446 ff,
452 ff (wobei dort allerdings praktisch ausschließlich aus dem Wesen der Notwehr als
Reaktion argumentiert wird); zu Alwart insbes. Loos, Festschrift f. Oehler, S. 233 f.
, s Treffend Roxin, ZStW 75 (1963), 563; Welzel, Strafrecht, S. 187.
138 Wolfgang Frisch
Kenntnis der Situation verfällt diese Belegfunktion der Tat jedoch: stets
bleibt der prinzipielle Einwand, die konkrete Tat sei möglicherweise
eben doch entscheidend auf das dem Täter bekannte Vorhandensein
einer Rechtfertigungslage zurückzuführen. Selbst im Extremfall gegen-
teiliger Bekundung des Täters gilt nichts anderes: auch hier fehlt es an
einem die unrechtliche Gesinnung eindeutig ausdrückenden, nämlich
nur über sie erklärbaren Handeln. Was bleibt, sind mehr oder weniger
starke Anhaltspunkte, daß der Täter auch ohne Rechtfertigungslage
gehandelt hätte - und das ist für eine strafrechtliche Ahndung zu wenig.
96 Einen umfassenden Überblick über die insoweit vertretenen Auffassungen bietet die
Kommentierung von Hirsch, in : L K , vor § 32 Rdn. 59 ff in Verb, mit dem jüngsten Beitrag
von Herzberg, J A 1986, 190 ff; zur Diskussion in Österreich vgl. Triffterer, Festschrift f.
Oehler, S . 2 1 3 f .
" Ebenso im Ergebnis z . B . Burgstaller (Fn.10), S . 1 7 7 f f ; Eser, Strafrecht I, 3 . A u f l .
1980, S. 112; Jescheck, A T , S . 2 6 4 ; Lackner, 2 d zu § 2 2 ; Lenckner, Der rechtfertigende
Notstand, 1965, S. 192 ff; Rudolphi, Festschrift f. Maurach, S. 58; Samson, in: S K , vor § 3 2
R d n . 2 4 ; Wolter (Fn.42), S. 135; aus der Rspr. z . B . K G G A 1975, 213; für Vollendung
demgegenüber z . B . B G H S t . 2, 111, 114 (im Zusammenhang mit der „pflichtgemäßen
P r ü f u n g " ) ; Hirsch, in: L K , vor § 3 2 Rdn. 5 9 f f ; Schmidhausen Strafrecht Allg. Teil,
2. Aufl. 1975, 9/17; Zielinski (Fn. 20), S. 263; z. T. auch Gallas, Festschrift f. Bockelmann,
S. 175.
" Also einschließlich des adäquaten Schuldspruchs!
99 S. oben I . 4 . a ) ; voll übereinstimmend Herzberg, J A 1986, 192.
100 Meist wird nur das Fehlen des Erfolgsunwertes betont; es fehlt jedoch schon am
1967, S. 63 ff.
Grund- u. Grenzprobleme des sog. subjektiven Rechtfertigungselements 141
Besondere Bedeutung hat dies in jenen Fällen, in denen der Versuch nach der Einschät-
zung des Gesetzes nicht strafwürdig ist. Diese Fälle sind nicht etwa, wie manche
Anhänger der Vollendungslösung meinen, ein Argument gegen die Versuchslösung,
weil diese Strafbarkeit hier nicht begründen kann 1 ". Sie sind vielmehr ein Argument
gegen die Vollendungslösung. Denn diese kommt hier aufgrund eines vordergründigen
Realitätsdenkens zur Strafbarkeit, ohne daß jener komplexe Unwert gegeben ist, der
108 So insbes. bei Zugrundelegung der h. A . von der Möglichkeit sog. Erfolgsunrechts,
allein nach Auffassung des Gesetzes die Strafbarkeit zu rechtfertigen vermag. Pointiert:
Die Vollendungslösung ignoriert in diesen Fällen in naturalistischer Verkennung des
Gesetzesprogramms und der hinter diesem stehenden Legitimationserwägungen die
gesetzlichen Vor-Wertungen durch Ausdehnung der Strafbarkeit in einen nach der
Wertung des Gesetzes straffreien Raum112!
112 Übereinstimmend Herzberg, J A 1986, 193 (mit weit. Einwänden gegen die Argu-
mentation der Vollendungslösung).
113 Eingehend dazu demnächst Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und objektive
Zurechnung.
114 Vgl. statt vieler Jescheck, in: LK, vor § 13 Rdn. 59 ff und Rudolpbi, in: SK, vor § 1
Rdn. 57 ff.
115 Es liegt - m. a. W. - nicht nur kein Erfolgsunwert, sondern bei richtiger teleologi-
scher Interpretation schon überhaupt kein tatbestandlich gemeinter Erfolg vor - weshalb
richtig allein die direkte Anwendung der Versuchsvorschriften ist (zutreffend Nowa-
kowski, Ö J Z 1977, 577, 580).
116 Bedenken gegen die traditionelle Fragestellung auch bei Herzberg, J A 1986, 192,
193.
Grund- u. Grenzprobleme des sog. subjektiven Rechtfertigungselements 143
117
Z u r Vermeidung von MißVerständnissen: Die obigen Bemerkungen wollen nicht als
Plädoyer f ü r eine umfassende Ersetzung der Rechtfertigungsfrage durch die Frage nach
dem Ausschluß strafrechtlich relevanten Unrechts (vgl. dazu etwa Günther, Strafrechts-
widrigkeit und Strafunrechtsausschluß, 1983) verstanden werden. Es geht nur darum, die
gesetzlichen Vor-Entscheidungen über die f ü r bestimmte Rechtsfolgen erforderlichen
Komponenten des Unrechts bei der Frage nach dem Ausfall solchen Unrechts zu berück-
sichtigen.
144 Wolfgang Frisch
127
Vgl. insbes. Lampe, G A 1978, 7 ff; Schönke/Schröder/Lenckner, vor §32 Rdn. 16,
98; Wolter (Fn.42), S. 157ff.
,2S
Vgl. etwa Loos, Festschrift f. Oehler, S.238f.
125
Ablehnend in jüngster Zeit insbes. Herzberg, JA 1986,199 f; s. auch Jakobs, AT, 11/
21 und (modifizierend) Prittwitz, G A 1980, 386 ff.
I.d. S. ausdrücklich auch Schönke/Schröder/Lenckner, vor §32 Rdn. 16, 98; Loos,
Festschrift f. Oehler, S. 237 ff und Stratenwerth, AT, Rdn. 491.
151
Insoweit zutreffend Schönke/Schröder/Lenckner, vor §32 Rdn. 16 und Wolter
(Fn.42), S. 135.
Grund- u. Grenzprobleme des sog. subjektiven Rechtfertigungselements 147
Nicht ausgeschlossen ist bei dieser Sachlage natürlich die Möglichkeit intentionalen
Unrechts: Wenn der Täter selbst nicht die Verwirklichung des rechtfertigenden Wertes
angestrebt hat bzw. anstrebt, wird er zumeist1" auch nicht davon ausgehen, daß sein
Verhalten ganz bestimmten Werten zugute kommt und für deren Erhaltung notwendig
ist - womit er im Angesicht einer Sachlage handelt, bei der er nicht handeln darf und
damit intentionales Unrecht verwirklicht134. Dabei ist freilich selbst insoweit noch zu
bedenken, daß dem Täter, der zunächst nicht mit der Absicht der Verwirklichung
bestimmter Werte (ζ. B. Uberstellung an die Strafverfolgung) gehandelt hat, in gewis-
sen Grenzen die Möglichkeit bleibt, dies nachzuholen: Solange der Täter bei seinem
Handeln in den Grenzen geblieben ist, die im Blick auf die Erhaltung des wertvollen
Gutes zu rechtfertigen sind, kann er von dem bis dahin begangenen Versuch zurück-
treten135.
132 Richtig betont von Herzberg, JA 1986, 199; es handelt sich deshalb auch nicht etwa
um eine Ausnahme vom Grundsatz, daß bei Fehlen des subjektiven Rechtfertigungsele-
ments nur wegen Versuchs bestraft werden kann.
133 Wegen gewisser Ausnahmen vgl. den folgenden Absatz!
134 Der Zusammenhang zwischen (dem Fehlen der) Überstellungsabsicht und der auf
Verwirklichung eines nicht mehr tolerierten Risikos gerichteten Intention ist zutreffend
gesehen von Herzberg, JA 1986, 199.
135 Zur Relevanz solcher nachträglichen Entschließungen vgl. auch Herzberg, JA 1986,
198; Loos, Festschrift f. Oehler, S.239.
148 Wolfgang Frisch
Aber selbst im Rahmen jener Phase, innerhalb deren der Absicht des
Täters an sich eine gewisse praktische Bedeutung bei der Feststellung des
normativ relevanten Kriteriums zukommt, ist diese Bedeutung nochmals
relativiert. Die Zwecksetzung des Täters stellt insoweit nur einen von
mehreren Beurteilungsfaktoren dar. So ist es z . B . denkbar, daß der
Täter selbst ohne die entsprechende Zwecksetzung handelt, aber andere
Faktoren bereits ex ante den werterhaltenden Charakter der Handlung
gewährleisten (z. B. Mithandeln Dritter, die ersichtlich für den werter-
haltenden Charakter des Handelns, also etwa die rechtzeitige Ubergabe
an die Polizei, sorgen; unmittelbares Bevorstehen eines polizeilichen
Eingreifens usw.136). Bei entsprechendem Wissen des Täters kommt hier
noch nicht einmal eine Versuchsstrafbarkeit in Betracht - fehlt es an
diesem Wissen, bleibt nicht mehr als die Möglichkeit einer Bestrafung
wegen Versuchs.
Kurzum, selbst in den neuerdings z . T . als letztes Refugium finaler
Elemente im Rahmen der Rechtfertigung angeführten Fällen sog. zwei-
aktiger Rechtfertigungsgründe bleibt es bei den gefundenen Ergebnis-
sen: Finale Zweckelemente als eigenständige dogmatische Voraussetzun-
gen zur Rechtfertigung bestimmter Verhaltensweisen gibt es ebensowe-
nig wie subjektive Rechtfertigungselemente als eigenständige dogmati-
sche Voraussetzung überhaupt. Das einzige, was sich als eigenständige
subjektive Voraussetzung im Zusammenhang mit Rechtfertigungsgrün-
den postulieren läßt, ist - auch hier - die Kenntnis der die Rechtferti-
gung tragenden Umstände - und das ist nicht eigentlich ein subjektives
Rechtfertigungselement, sondern die Kehrseite dessen, was zur Begrün-
dung vergeistigten Unrechts in Fällen objektiv gegebener Rechtferti-
gungslage zu postulieren ist: das Fehlen der Kenntnis der rechtfertigen-
den Umstände. Das sog. subjektive Rechtfertigungselement ist nichts
weiter als die Kehrseite eines negativen subjektiven Unrechtselements,
das bereits zur Begründung subjektiven Unrechts erforderlich ist.
136 Zu Recht beton: von Jakobs, AT, 11/21 und Loos, Festschrift f. Oehler, S.237f.
Gedanken zu einem sozialen Schuldbegriff
MANFRED MAIWALD
I.
1 Vgl. nur Jescheck, Lehrbuch AT, 3. Aufl. 1978, S. 330; Stratenwerth, Strafrecht A T I,
3. Aufl. 1981, S. 1 7 f ; S K - R u d o l p h i , vor § 19 Rdn. 1 ff; Schänke,/Schröder,/Lenckner, StGB
22. Aufl. 1985, Vorbem. §§ 13 ff Rdn. 109.
2
Lackner, S t G B , 16. Aufl. 1985, vor §13, III 4 a; eingehend zur neueren Diskussion
Lackner, Kleinknecht-Festschrift, 1985, S. 250 ff.
3
Roxin, Strafrechtliche Grundlagenprobleme, 1973, S.20.
4 Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2. Aufl. 1975, S.263.
s
Ellscheid/Hassemer, in: Die gesellschaftliche Reaktion auf Kriminalität (Hg. Lüder-
sen u. Sack), S. 266.
' Dazu eingehend Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen der straf-
rechtssystematischen Schuldlehre, 1974, S. 19 ff.
150 Manfred Maiwald
Aber das Sachproblem der Schuld ist schon so alt wie die Menschheit
selbst. Als Sachproblem ist etwa die Überlegung zu nennen, ob die mit
der Schuld gemeinte persönliche Vorwerfbarkeit ein individuelles
Andershandelnkönnen zur Voraussetzung habe, was gleichzeitig tief in
den Streit um Determinismus und Indeterminismus hineinführt; ob der
personale Bezug der Schuld im Sinne von Tatschuld oder Täterschuld
und Charakterschuld besteht; was denn nun eigentlich genau den
Gegenstand des Schuldvorwurfs bilde. Hervorzuheben ist, daß ungeach-
tet der damit verbundenen Kontroversen innerhalb dieser Diskussion
doch die Ebene der Betrachtung dieselbe ist: Sofern man sich einmal auf
den Gedanken der „Vorwerfbarkeit" eingelassen hat, verläuft die Argu-
mentation - so oder so - in den Bahnen geistigen Verstehens und mit
Blick auf die Sphäre des Sollens. Der Mensch wird nicht als bloßes
Naturwesen betrachtet. Schon der Begriff eines „Vorwurfs" oder eines
„Dafürkönnens" schließt es aus, den Menschen wie ein Tier oder eine
Pflanze nur unter dem Blickwinkel kausaler Erklärung ins Auge zu
fassen.
Unter dem hier interessierenden Aspekt stehen aber auch jene Auto-
ren in der Tradition dieser Überlegungen, die - wie ζ. B. Dannef - sich
zum Determinismus bekennen. Sie können natürlich an der Vorstellung
eines persönlichen Vorwurfs nicht festhalten, aber sie haben doch mit
ihren Gegnern den Blickwinkel gemeinsam, unter dem sie an das Pro-
blem herangehen: Sie nehmen den Täter der Straftat selbst zum Aus-
gangspunkt ihrer Überlegungen und versuchen von den so ermittelten
Befunden Schlüsse zu ziehen auf die Frage der Möglichkeit der Schuld.
Gegenüber diesem traditionellen Streit um den Schuldbegriff ist aber
seit einigen Jahren ein neuer Argumentationsstrang hinzugekommen, in
dem zugleich ein systematischer und ein soziologisch-psychologischer
Ansatz erkennbar ist. In systematischer Hinsicht bemühen sich diese
Ansichten nachzuweisen, daß die Schuld in keiner der traditionell
erörterten Spielarten im Strafrechtssystem eine eigene Funktion erfülle.
Vielmehr sei die Schuld nur eine andere Bezeichnung für Zweckerwä-
gungen, die mit der Strafe verbunden werden, und zwar vor allem für
den Strafzweck der Generalprävention8. Die herkömmliche Trias: Tat-
bestandsmäßigkeit - Rechtswidrigkeit - Schuld ist nach dieser Auffas-
sung also verfehlt. In Wahrheit müsse an ihre Stelle die Trias: Tatbe-
' Vgl. etwa Jakobs, Strafrech: AT, 1983, 17/22: „Der Schuldbegriff ist deshalb funktio-
nal zu bilden, d. h. als Begriff, der eine Regelungsleistung nach einer bestimmten Rege-
lungsmaxime (nach den Erfordernissen des Strafzwecks) für eine Gesellschaft bestimmter
Verfassung e r b r i n g t . . . " Von einer anderen Grundlage aus argumentiert Roxin, Henkel-
Festschrift, 1974, S.182: „Es kommt nicht entscheidend auf das Andershandelnkönnen,
sondern darauf an, ob der Gesetzgeber den einzelnen für sein Tun unter strafrechtlichen
Gesichtspunkten zur Verantwortung ziehen will." (Hervorhebung von mir.) Dazu dann
auch Roxin, Bockelmann-Festschrift, 1979, S. 282 ff.
10
Nach Jakobs, a . a . O . , 17/21 geht es bei der Schuld darum „auszuhandeln, wie viele
soziale Zwänge dem von der Schuldzuweisung betroffenen Täter aufgebürdet werden
können und wie viele störende Eigenheiten des Täters vom Staat und von der Gesellschaft
akzeptiert... werden müssen". Von einem tiefenpsychologischen Ansatz aus sieht Streng
den Begriff der Schuld als eine „soziale Funktion", die die Strafbedürfnisse der Allgemein-
heit zum Ausdruck bringe (ZStW 92, 1980, S. 637 ff). Die Verschiebung des Blickwinkels
von der Schuld als Sachproblem zur Psychologie des oder der Strafenden ist prinzipiell
auch immer dort angelegt, wo von der „Zuschreibung von Verantwortlichkeit" die Rede
ist; dazu etwa Albrecht, GA 1983, S. 193; Haffke, in: Sozialwissenschaften im Studium des
Rechts III, 1978, S.156.
152 Manfred Maiwald
II.
Wird durch die erwähnte Hinwendung zur psychologischen und
soziologischen „Funktion" des Schuldbegriffs in der Strafrechtspflege
einerseits jegliche Metaphysik aus dem Begriff eliminiert und wird
13
So Hafße, in: Sozialwissenschaften im Studium des Rechts III, 1978, S. 156 f.
14
Zu diesem Begriff vgl. etwa Witter, Grundriß der gerichtlichen Psychologie und
Psychiatrie, 1970, S. 140; Krümpelmann, ZStW 88, 1976, S. 32, 33; den., GA 1983,
S. 337ff; Streng, Strafzumessung und relative Gerechtigkeit, 1984, S.205.
15
Hafße, a . a . O . , S. 156.
" B G H 2, 194 (200).
154 Manfred Maiwald
Diese Sätze des B G H sind bekannt und oft zitiert worden. Welch ein
Pathos! Vergleichen wir damit einmal eine Äußerung der psychoanalyti-
schen Richtung: „Die Schuld des Täters stellt lediglich das auf ihn
projizierte Korrelat der an seine Tat geknüpften zeit- und kulturspezifi-
schen Vergeltungsbedürfnisse der Allgemeinheit dar." Die so angespro-
chene Vergeltung „bedeutet jedoch keinen metaphysischen oder mecha-
nistischen Selbstzweck, sie ist vielmehr funktional in dem Sinne, daß
durch sie der als Folge eines Rechtsbruchs entstehende kollektive Affekt
und darüber hinaus auch sonstige, die Gemeinschaft gefährdende
Antriebe abreagiert werden können. Bei der Vergeltung mittels Strafe
handelt es sich also mitnichten um ,zweckgelöste Majestät', sondern um
eine den Gesetzen des Unbewußten folgende Funktionalisierung des
Straftäters" 17 . U n d weiter: „Die Schuld des Täters erweist sich so als
bloße Spiegelung emotionaler Bedürfnisse der Urteilenden... 1 8 " O d e r :
„Die festgestellten kollektiven Bedürfnisse und Ängste determinieren
auch den Schuldvorwurf 19 ."
Nach diesen letzteren Formulierungen ist strafrechtssystematisch
gesehen die Schuld keine Kategorie der „persönlichen Vorwerfbarkeit",
und sie ist vor allem nicht eine geistige Sollensverfehlung des Täters
selbst, sondern nur ein anderer Ausdruck für den - aus bestimmten
Affekten resultierenden - Wunsch der anderen, ihm ein Übel zuzu-
fügen.
Würde man diese Sicht der Dinge akzeptieren, so wäre der Text des
Strafgesetzbuches einer grundlegenden Änderung zu unterziehen. In
§46 StGB, wo es heißt „Die Schuld des Täters ist Grundlage f ü r die
Zumessung der Strafe" wäre statt dessen zu lesen: „Die Vergeltungsbe-
dürfnisse (oder: die emotionalen Bedürfnisse) der Allgemeinheit sind
Grundlage für die Zumessung der Strafe." Freilich zeigt diese U m f o r -
mulierung zugleich ein Problem, auf das unten noch näher einzugehen
sein wird. Denn der Gehalt des jetzigen §46 StGB ist normativ zu
verstehen: Die Schuld soll Grundlage für die Strafzumessung sein; es
handelt sich insoweit um eine Anweisung an den Richter, der dem
Gesetzesbefehl Folge zu leisten hat. Demgegenüber ist jedenfalls nicht
sicher, ob jene Autoren, die oben zu Wort gekommen sind, die Ansicht
vertreten, daß die Vergeltungsbedürfnisse der Allgemeinheit Grundlage
für die Strafzumessung sein sollen. Vermutlich würden sie einen solchen
Sollenssatz ablehnen, da es immerhin problematisch ist, die Gestaltung
des Soziallebens von derartigen Triebreaktionen abhängig zu machen.
Vielmehr zielen ihre Ansichten wohl eher dahin aufzudecken, daß die
17
Streng, ZStW 92, 1980, S.679.
" Streng, a . a . O . , S.656.
19
Haffke, in: Sozialwissenschaften im Studium des Rechts III, 1978, S. 168.
Gedanken zu einem sozialen Schuldbegriff 155
Ansicht der Richter, unter der Geltung des § 46 StGB einem positivier-
ten Sollenssatz nachzukommen, fromme Selbsttäuschung sei - in Wahr-
heit seien die Richter selbst Teil eines gesamtgesellschaftlichen Triebpo-
tentials, das seine Vergeltungsbediirfnisse unter dem Schein sittlicher
Forderungen durchsetze.
Diese Auffassung fordert freilich ihrerseits die Frage heraus, wie der
Soll-Zustand der Gesellschaft nach Ansicht dieser Autoren auszusehen
hat und wie dieses Sollen dann zu begründen ist, wenn es seinerseits
nicht auch wieder nur als verschleierte Triebreaktion derjenigen anzuse-
hen ist, die die Sollensforderung erheben. Darauf wird - wie schon
angedeutet - noch zurückzukommen sein.
III.
Wenden wir uns nach dieser Verdeutlichung der Verschiedenheit der
Sprache dem Sachproblem zu. Angesichts der unlösbaren Frage der
Willensfreiheit und angesichts der bis zum Überdruß diskutierten weite-
ren Frage, ob die Schuld im strafrechtlichen Sinne überhaupt das Beste-
hen der Willensfreiheit voraussetzt 20 , ist der Versuch in der Tat verlok-
kend, die Fragestellung überhaupt über Bord zu werfen und eine
„kopernikanische Wendung" zu unternehmen: das Phänomen der
Schuld nicht mehr im Täter selbst zu suchen, sondern in den „Bedürfnis-
sen" der anderen, die die Strafe aussprechen. Im Hinblick auf die
praktische Rechtsanwendung wird diese Tendenz dadurch begünstigt,
daß der Richter die Schuld nicht mit mathematischer Gewißheit ermit-
teln kann, w o f ü r die „Spielraumtheorie" des B G H bekanntlich ein
Ausdruck ist21. Es kommt hinzu, daß in den Urteilen der Tatrichter
kaum jemals die Strafzumessungserwägungen erkennen lassen, welche
Gesichtspunkte nun eigentlich die H ö h e der Schuld bezeichnen, und
welche die general- und spezialpräventiven Zweckerwägungen tragen.
Darauf hat insbesondere Lackner hingewiesen 22 . All dies kann in der Tat
zu der Annahme verführen, daß dann eben alles, was der Richter in
diesem Strafzumessungsvorgang tut, nur eine Konkretisierung präventi-
ver oder Triebbedürfnisse sei23.
20
Vgl. dazu etwa Lenckner, in: Handbuch der forensischen Psychiatrie I (Hg. Göppin-
ger u. Witter), 1972, S. 93 ff.
21
BGH 3, 179; 7, 28; 20, 264, 266; dazu Lackner, Über neue Entwicklungen in der
Strafzumessungslehre und ihre Bedeutung für die richterliche Praxis, 1978, S. 12 ff.
22
Lackner, a.a.O., S. 14.
2)
Es ist daher kein Zufall, daß gerade von der Strafzumessungslehre her die Verbin-
dungslinie zu einem sozialen Schuldbegriff in Form des „Strafbedürfnisses" gezogen wird,
vgl. etwa Streng, Strafzumessung und relative Gerechtigkeit, 1984, S. 24, und vom Boden
einer systemtheoretischen Argumentation aus Jakobs, Strafrecht AT, 1983, 17/30.
156 Manfred Maiwald
29 Dazu Arzt, Der Ruf nach Recht und Ordnung, 1976, S. 137ff.
30 Zur Sündenbocktheorie und ihrem Anspruch auf Verallgemeinerung vgl. Maiwald,
in: Rechtswissenschaft und Rechtsentwicklung (Hg. Jmmenga), 1980, S. 300ff.
31 Sten. Berichte der Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes,
I.Legislaturperiode, Session 1870 Bd. I, 1870, S. 95-117.
158 Manfred Maiwald
IV.
Die entscheidenden Punkte, die eine solche mit Absolutheitsanspruch
auftretende Auffassung unannehmbar machen, sind aber ihr determini-
stischer Ansatz und die mit diesem einhergehende kopernikanische
Wendung hin zur strafenden Gesellschaft als dem „eigentlichen" Bestim-
mungsprinzip der Schuld. In ihrer Ängstlichkeit, Metaphysik um jeden
Preis zu vermeiden, schneidet sich diese Auffassung, immer vorausge-
setzt, sie tritt mit jenem Ausschließlichkeitsanspruch auf, selbst die
Möglichkeit ab, mit dem Anspruch auf Wahrheit aufzutreten 35 .
Würde man der Ansicht folgen, der Mensch - sei es der Straftäter oder
der urteilende Richter - sei in seinen Handlungen nur das Produkt von
Mechanismen, so ist seine Willensfreiheit ausgeschlossen, aber es ist
damit zugleich sicher, daß die die Handlungen bestimmenden Impulse
und Denkakte blind sind. Sie sind mit kausaler Notwendigkeit durch
vorangehende Bedingungen veranlaßt, so und nicht anders abzulaufen.
Solche Impulse und Denkakte können folgerichtig im Hinblick auf ihren
Inhalt nicht mit dem Maßstab von richtig und falsch, wahr und unwahr
gemessen werden, ebensowenig wie sonstige kausal determinierte
Naturereignisse in diesen Kategorien beurteilt werden können 36 . Wer
behauptet, alle Denkakte seien Mechanismen, behauptet dies auch von
diesem in ihm ablaufenden Denkakt, und er kann es folglich nicht mit
dem Anspruch auf Wahrheit tun. Umgekehrt erklärt derjenige, der mit
dem Anspruch auf Wahrheit über Denkakte anderer urteilt, daß
Erkenntnis möglich ist - und er gibt damit zugleich zu, daß Denkakte
nicht schlechthin Mechanismen sind, und daß Freiheit des Willens
möglich ist.
Auf diesen Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Willensfreiheit
hat in der juristischen Literatur vor allem Welzel hingewiesen: „Da . . .
die Möglichkeit von Erkenntnis nicht prinzipiell bestritten werden kann
- denn das Bestreiten selbst würde eine Erkenntnis voraussetzen - , so
können auch die Bedingungen, unter denen Erkenntnis allein möglich
ist, sinnvoll nicht bestritten werden: Hierin liegt die bleibende Bedeu-
tung des Erkenntnisarguments für das Problem der Willensfreiheit 37 ."
35
Immerhin erklärt G. Wagner, Das absurde System, 1984, der S. 4 ff die Strafzumes-
sung als empirischen Vorgang im Sinne einer „Projektion des Strafwunsches" deutet, daß
es das Phänomen der Schuld doch gebe „als eine dem Menschen charakterisierende
Erscheinung, wenn man so will eine anthropologische Radikale" (S. 47).
36
Zur Interpretation der Sprache der Moral, die z.B. die oben erwähnten Begriffe
richtig und falsch verwendet, vgl. Burkbardt, GA 1976, S. 326 ff; zum Verhältnis zwischen
naturalistischer und moralischer Betrachtungsweise in der Beurteilung menschlicher
Handlungen Hruschka, Strukturen der Zurechnung, 1976, S. 14 ff, vor allem S. 38 f.
37
Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 5. Aufl. 1956, S. 120. In neuerer Zeit vgl. insbes.
Schild, Der Strafrichter in der Hauptverhandlung, S. 21 ff, insbes. S. 29: „Nur wenn
160 Manfred Maiwald
Kehren wir hier einen Augenblick zu der Ansicht zurück, die die
Schuld als bloße Spiegelung emotionaler Bedürfnisse oder als Ausdruck
für Vergeltungsmechanismen in der Bevölkerung bezeichnet: Für eine
solche Ansicht könnte beispielsweise die Forderung, nationalsozialisti-
sche Gewaltverbrechen zu bestrafen, nicht als eine berechtigte Forde-
rung verstanden werden, denn die Einordnung als „berechtigt" für einen
bloßen Mechanismus kann selbstverständlich nicht in Frage kommen.
Die Einordnung transzendiert als Sollensurteil das rein empirische
Datum, daß diese Forderung geäußert worden ist. Dasselbe gilt für die
Forderung, Umweltsünder, Betrüger, Steuerhinterzieher zu bestrafen.
Kriminalpolitik kann dann nicht mehr mit dem Anliegen betrieben
werden, eine „richtige" Lösung zu gewinnen: Eine jede denkbare
Lösung wäre ja nur die Resultante aus einem Mechanismus, die aufgrund
bestimmter Antecedens-Daten so zustandegekommen ist, wie sie eben
nun einmal ist; keine könnte man als richtig oder falsch bezeichnen 38 .
Wie wenig ein solcher Mechanismus-Ansatz selbst von solchen Auto-
ren durchgehalten werden kann, die ihn in ihrer Person vertreten, ist an
deren eigenen Äußerungen zu erkennen. Denn selbstverständlich gehen
sie davon aus, daß ihre eigenen Aussagen nicht nur das Ergebnis von
Mechanismen sind, und sie selbst treten mit dem Anspruch auf, richtig
und falsch, gut und böse erkennen zu können. Allerdings wird dieser
Anspruch gelegentlich nur in chiffrierter Form zum Ausdruck gebracht.
So etwa, wenn davon gesprochen wird, erstrebenswert sei ein „gesell-
schaftlich reifer Umgang mit abweichendem Verhalten" 39 oder eine
Anwendung der Strafe nach Maßgabe „gesellschaftlicher Aufgeklärt-
heit"40. Mit den Vokabeln „reif" und „aufgeklärt" ist zwar äußerlich eine
Bezugnahme auf moralische Kategorien wie gut und böse vermieden.
Doch drängt sich die Annahme auf, daß mit diesen Vokabeln eben doch
nichts anderes als ein „besserer" gesellschaftlicher Zustand gemeint ist,
der nicht nur aufgrund eines Mechanismus so bezeichnet wird, sondern
jedenfalls prinzipiell an einem Sollensmaßstab als solcher erkannt wer-
den kann.
Deutlich wird dies dort, wo auch terminologisch in die Sprache der
Moral hinübergewechselt wird. Es wird dann z.B. von Humanität und
Humanisierung gesprochen, von Hinterfragung der Strafbedürfnisse 41 ,
Freiheit und Rationalität wirklich sind, kann auch die auf ihnen beruhende Theorie
wirklich (ihre Sätze wahr) sein. Auf diese Voraussetzung zu verzichten, bedeutet den Ast
abzusägen, auf dem man notwendig sitzt."
" Zur Vorstellung einer solchen „deterministischen Kriminalpolitik" und zu ihrer
Unhaltbarkeit Bockelmann, ZStW 75, 1963, S. 386 ff.
39 H a f ß e , in: Sozialwissenschaften im Studium des Rechts III, 1978, S. 179.
40
Streng, ZStW 92, 1980, 679.
41
Streng, a.a.O., S.661, 679; H a f ß e , a.a.O., S. 164.
Gedanken zu einem sozialen Schuldbegriff 161
V.
Die erwähnte kopernikanische Wendung, die den Schuldbegriff nur
als verschleiernde Bezeichnung für die Strafbedürfnisse der Allgemein-
heit ansieht, ist freilich auch für sich genommen in ihren Sachaussagen
nicht befriedigend. Es wird so die „Strafmentalität", ein psychisches
Faktum, mit dem Schuldbegriff gleichgesetzt und der Anspruch erho-
ben, auf diese Weise den „Realitätsgehalt" des Schuldbegriffs zu er-
fassen".
Das Problem, das diese Sichtweise mit sich bringt, liegt darin, daß die
„Realität" des Schuldbegriffs so in einem Reflex auf etwas gesehen wird,
was seinerseits aber entweder als „eigentlich" gar nicht vorhanden
betrachtet oder doch nicht näher untersucht wird. Das gilt zunächst für
die systemtheoretische Variante des sozialen Schuldbegriffs. Sie geht
42
Naucke, Tendenzen in der Strafrechtsentwicklung, 1975, S.38 Fn. 53.
43 Streng, a . a . O . , S.642.
162 Manfred Maiwald
44 Jakobs, Schuld und Prävention, 1976, passim, das Zitat auf S. 17 f; den. - mit
gewissen Modifikationen-, Strafrecht AT, 1983, 1/15, 17/18ff.
45 Dazu Hruschka, Strukturen der Zurechnung, 1976, S. 36ff, insbes. S. 39; Schild, Der
die nicht aus dem Kausalgefüge der Welt stammt" (so Arthur Kaufmann, Das Schuldprin-
zip, 2. Aufl. 1976, S. 280 f), vielmehr in der Person des Handelnden ihren letzten Grund
hat; dazu auch Ernst A. Wolff, Kausalität von Tun und Unterlassen, 1965, S. 62 ff.
47
Streng, ZStW 92, 1980, S.660.
Gedanken zu einem sozialen Schuldbegriff 163
mentalität der Allgemeinheit eigentlich richtig oder ist sie falsch? Wel-
chen Grund hat das Ausbleiben der kriminellen Ansteckungsgefahr?
Man mag diese Frage als naiv bezeichnen, da zur Zeit offenbar niemand
•so weise ist, daß er sie mit Sicherheit beantworten könnte. Aber hier
geht es nur darum, deutlich zu machen, daß der Gegenstand, auf den
sich die Strafmentalität bezieht, und der es allererst erlaubt, diese
Mentalität als ihrem Objekt korrespondierend oder eben nicht korre-
spondierend einzustufen, bei dieser Betrachtung nicht in den Blick
kommt.
Es gibt noch weitere Gründe, die es wenig plausibel erscheinen lassen,
den Begriff der Schuld nur in der Strafmentalität der Allgemeinheit
enthalten zu sehen. Da ist einmal das Phänomen der Schuld auch in
jenen Bereichen, in denen ein Bedürfnis nach Strafe nicht besteht. Der
fragmentarische Charakter des Strafrechts beruht gerade auf der
Erkenntnis, daß Strafbedürfnis und Schuld sich nicht decken müssen48.
Wer lügt, mag Schuld auf sich laden, bestraft wird er nur ausnahms-
weise, etwa wenn die weiteren Voraussetzungen eines Betruges vor-
liegen.
Umgekehrt ist keineswegs sicher, daß präventive Wirksamkeit nicht
entfaltet werden könnte, wenn man jene „bestraft", die als schuldlos
handelnd bezeichnet werden. Hierauf hat insbesondere Burkhardt hin-
gewiesen49. Spezialpräventiv gesehen kann eine Ubelszufügung als
„Denkzettel" wirken, der auch das spätere Verhalten eines Geisteskran-
ken oder eines Kindes beeinflussen mag, und generalpräventiv gesehen
sind ebenfalls verhaltensstabilisierende Wirkungen auf andere denkbar 50 .
Strafe und Präventionsbedürfnis sind also wohl nicht dasselbe.
Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, daß die Identifikation von
Schuld mit den Mechanismen eines Strafbedürfnisses auch Auswirkun-
gen haben müßte auf jenen anderen Bereich des Soziallebens, in dem es
um die Anerkennung positiver Leistungen geht. Wir pflegen es einem
Künstler, Wissenschaftler oder Politiker als sein Verdienst anzurechnen,
wenn er eine hervorragende Leistung vollbracht hat, so wie wir ganz
allgemein eine „gute Tat" als Verdienst dessen ansehen, der sie in seiner
Person verwirklicht hat. Die Leugnung der Schuld als des Substrats für
einen Vorwurf würde es nun nahelegen, ebenso das Verdienst als ein
Substrat für ein Lob abzulehnen, dann nämlich, wenn man erklärt, das
angebliche Verdienst des Handelnden bestehe in Wahrheit nur in
Mechanismen, die aus der Triebstruktur der Beurteiler resultieren. Auch
48
Dazu ausführlicher Maiwald, Maurach-Festschrift, 1972, S. 9 ff.
" Burkhardt, GA 1976, S. 336 f.
50
Zu diesem Zusammenhang zwischen Generalprävention und Schuldbegriff Maiwald,
GA 1983, S. 62.
164 Manfred Maiwald
das würde aber auf eine Verneinung der Subjektqualität der am Sozialle-
ben Beteiligten hinauslaufen und implizit die Möglichkeit von Erkennt-
nis negieren.
Ist demgemäß die Subjektstellung der Mitmenschen eine Grundan-
nahme des menschlichen Lebens überhaupt, von der der Sache nach auch
diejenigen ausgehen, die von „Schuld" nicht sprechen möchten, so kann
die letztere nicht bloß als „Zuschreibung" oder „Strafbedürfnis" in den
Köpfen der anderen erfaßt werden.
VI.
Dennoch sind derartige Konzeptionen nicht ohne Wert. Sie machen
bewußt, daß die Notwendigkeit der Feststellung von Schuld plötzlich
das metaphysische Phänomen in die „irdische" Sphäre transponiert, und
daß im Strafprozeß unversehens verlangt wird, etwas zu beweisen, was
empirisch nicht erfaßbar ist, nämlich dann, wenn es um die konkrete
Schuld des konkreten Angeklagten geht. Hier gilt es, den Angeklagten
hinsichtlich des „persönlichen Dafürkönnens" am Maßstab seiner selbst
zu messen. Der Vorgang des Messens kann aber offenbar nur so
vonstatten gehen, daß man versucht, diejenigen äußeren Bestimmungs-
gründe für die Tat aufzuhellen, die erfahrungsgemäß Motive für oder
gegen die Tat schaffen - und da die Erfahrung andere Menschen als den
Täter selbst betrifft, kann man dem Täter selbst nur gerecht werden,
insofern er einem solchen „Erfahrungsmenschen" entspricht. Schuld/<?5£-
stellung kann also nur im Wege einer Analogie erfolgen51. Wieviel bei
diesem Angeklagten freier Wille ist, und wieviel Naturkausalität beige-
mengt ist, ist der genauen Feststellung stets entzogen.
Das ist der richtige Kern einer „pragmatischen" Schuldauffassung, die
auf die „Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnismöglichkeiten speziell
über psychische Abläufe" hinweist und darlegt, daß auf die Schuldfähig-
keit „nur mittelbar aus psychopathologischen, psychodynamischen und
soziobiographischen Feststellungen und Interpretation mit einer mehr
oder minder breiten Unsicherheitszone geschlossen werden" könne52.
Das erklärt schließlich auch die Tendenz mancher Autoren, die
Schuld schlechthin zur „gesellschaftlichen Ubereinkunft" zu erklären53
oder lieber von „Zuschreibung"54 zu sprechen. Die „Ubereinkunft" ist in
der Tat vorhanden. Aber nicht in dem Sinne, daß sie das Phänomen der
51 So mit Recht Arthur Kaufmann, Strafrecht zwischen Gestern und Morgen, 1983,
S. 71 ff.
52 Venzlaff, ZStW 88, 1976, S.64.
53 So etwa Hafße, in: Sozialwissenschaften im Studium des Rechts III, 1978, S. 172;
Jakobs, Strafrecht AT, 1983, 17/21 („ist auszuhandeln").
54 Von „zuschreiben" spricht etwa Albrecht, GA 1983, S. 193.
Gedanken zu einem sozialen Schuldbegriff 165
55
Näher hierzu Schreiber, Der Nervenarzt 1977, S. 242 ff. Daß im übrigen auch dieses
„normale Funktionieren" der Psyche nicht durch Vergleich mit empirisch existierenden
Menschen ermittelt werden kann, sondern seinerseits nur auf einen Vergleich mit einem
„aus unserem Erfahrungswissen gebildeten Konstrukt" beruht, betont mit Recht Arthur
Kaufmann, Strafrecht zwischen Gestern und Morgen, 1983, S. 71.
166 Manfred Maiwald
56
Arthur Kaufmann, a. a. O., S. 71 f.
57
Schreiber, Der Nervenarzt 1977, S.245.
Zum Begriff des Vorsatzes
G Ü N T E R SPENDEL
Ein wichtiges Problem des Strafrechts ist die richtige Bestimmung des
Vorsatzbegriffs. Nachdem die dabei auftauchenden Fragen und Ge-
sichtspunkte nach allen Seiten hin gründlich erörtert worden sind1, ist
die wissenschaftliche Diskussion zu einem gewissen Abschluß gelangt,
auch wenn sie immer wieder aufflammt2. Als allgemeines Ergebnis hat
sich herausgeschält, daß für den Vorsatz zwei Elemente, ein intellektuel-
les und ein voluntatives, wesentlich sind, daß er eine Wissens- und eine
Wollensseite hat. Für Schänke war schon 1942 und bis zu der von ihm
selbst noch bearbeiteten sechsten Auflage seines Kommentars (1952) der
früher viel behandelte Gegensatz von Vorstellungs- und Willenstheorie
hauptsächlich „formeller Art" 3 ; für seinen Nachfolger Schröder hatte der
Theorienstreit wie bis heute für Lackner „nur noch dogmengeschichtli-
che Bedeutung"4; für die dritte Generation der Bearbeiter des Kommen-
tars scheint er nicht mehr zu existieren, da ihn Cramer überhaupt nicht
erwähnt5. Die heute herrschende Auffassung ist in neuerer Zeit vor allem
von Schmidhäuser und Frisch kritisiert und erst unlängst wieder von dem
ersteren die These verfochten worden, zum Vorsatz des Täters gehöre
lediglich sein (mehr oder minder sicheres) Bewußtsein von der Tat, sein
Wille zur Tat dagegen nicht zum Vorsatz-, sondern zum Handlungsbe-
griff'.
1 So vor allem in der breit angelegten Abhandlung von Engisch, Untersuchungen über
Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, 1930, Neudr. 1964, und vorher z . B . Rob. ν.
Hippel, Die Grenze von Vorsatz und Fahrlässigkeit, 1903; ders., Vorsatz, Fahrlässigkeit,
Irrtum, in: V D A , III. Bd. 1908, S.373, 486 ff.
2 Vgl. vor allem die umfangreiche Monographie von Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983,
Wir dürften heute so viel Abstand von dem Problem- und Streitstand
gewonnen haben, daß ihm gegenüber eine unbefangene, von dem Ballast
vorgefaßter Meinungen unbelastete Stellungnahme möglich ist. Hier soll
in einer etymologischen Betrachtung schlicht von dem Wort „Vorsatz"
ausgegangen werden. Auch für diese Definitions- und Interpretations-
frage gilt es, als Richtschnur den Satz zu beherzigen: „Im Anfang war
das Wort" ! Wie sich dabei zeigen dürfte, ist die Sprache oft weiser als
mancher Sprechende und Schreibende und gibt uns bedeutsame Finger-
zeige für eine brauchbare Begriffsbestimmung7. Ein solches Vorgehen ist
aus zwei Gründen angezeigt: einmal zieht ein Kritiker der herrschenden
Meinung, und zwar Scbmidbäuser, zur Stützung seiner Ansicht, aller-
dings zu Unrecht, den Alltagssprachgebrauch heran8; zum andern ent-
täuschen die sich mit den Begriffen „Vorstellung" und „Wille" beschäfti-
genden Nachbarwissenschaften, insbesondere Philosophie und Psycho-
logie, von denen die Jurisprudenz am ehesten nähere Aufklärung erwar-
ten kann, weitgehend9. Denn entweder werden überhaupt keine10 oder
unzureichende Vorsatzdefinitionen gegeben" oder aber die der Straf-
rechtsdogmatik unvollständig übernommen12. Auch von medizinischer
Seite findet der Jurist nur begrenzt Unterstützung13.
7 In diesem Sinne hat der Verf. zum ersten Male den Vorsatzbegriff kurz für die
a) Das Substantiv „Vor-satz" als das Vor-gesetzte leitet sich von dem
Verbum „vor-setzen" her. Dieses Wort beschreibt ursprünglich eine
äußere Tätigkeit, die auch durch zwei andere Ausdrücke wiedergegeben
werden kann, durch die Verben „vor-stellen" und „vor-nehmen"^.
Damit sind bereits die beiden Seiten angegeben, die im übertragenen
Sinne für den Vorsatzbegriff wesentlich sind. In der eine äußerliche
Handlungsweise beschreibenden Bedeutung sagt man etwa, daß jemand
einen Stuhl vorsetzt, d.h. nach vorn setzt, vorrückt oder z;or(wärts)
stellt; oder: Die Hausfrau setzt dem Gast eine Erfrischung vor, d. h. sie
stellt sie vor ihn (hin). Wer beim Schachspiel einen Stein vorsetzt,
schiebt eine Figur vor oder stellt sie schützend vor eine andere. Der
„Vor-gesetzte" ist oft, etwa bei einer militärischen Formation, derjenige,
welcher sichtbar vor seine Untergebenen gestellt wird und steht.
Vor-setzen umfaßt aber nicht nur die Bedeutung von „vor-stellen",
sondern auch die von „vor-nehmen". Im militärischen Sprachgebrauch
heißt es ζ. B.: Bei der Aufstellung in Reih und Glied hat ein Soldat seine
Füße etwas vorzusetzen oder vorzunehmen; oder: Die Geschütze einer
Batterie sind einige hundert Meter vorzunehmen, d.h. nach vorn zu
bringen oder vorzusetzen. Man sagt weiter: Der Schriftsteller setzt die
Schreibmaschine vor sich (hin), das bedeutet: er nimmt sie sich vor, um
einen Artikel darauf zu schreiben; das Kind setzt oder nimmt sich seinen
120ff; ders., Reflexbewegung, Handlung, Vorsatz, 1972, S. 78ff, 85ff, der u.a. darauf
hinweist (S. 86), daß ein Mediziner den Vorsatzbegriff „abzuschaffen" empfehle (!).
" Zum Stichwort „Vorsatz" s. Heyse, Handwörterbuch der deutschen Sprache,
III.Bd. 1849, Nachdr. 1968, S. 1734 zu N r . 3 ; Grimms Deutsches Wörterb., 12.Bd. II.
Abt. 1951, Sp. 1440 zu Nr. 1; Trübners Deutsches Wörterb., 7. Bd. 1956, S.756.
15 Sanders, Wörterbuch der Deutschen Sprache, II. Bd. 2 . H . 1865, S. 864 r. Sp.
(„Vorsatz" zu „Satz"); Grimms Dtsch. Wörterb. a . a . O . Sp. 1444 zu N r . 4 und 9;
Trübners Dtsch. Wörterb. a. a. O.
" Zum Stichwort „vorsetzen" s. Heyse, Handwörterb. der dtsch. Sprache, a . a . O .
S. 1734 zu Nr. 2 u. 3; Grimms Dtsch. Wörterb. 12. Bd. II. Abt. 1951, Sp.1557 zu N r . 2 ,
1562 zu Nr. 15, 16; Trübners Dtsch. Wörterb., 7. Bd. 1956, S. 760 r. Sp., 761 1. Sp.;
Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, 6. Bd. 1981, S.2820 1. Sp.
170 Günter Spendei
Baukasten vor, um mit den Klötzen zu spielen; der Künstler setzt oder
nimmt sich ein Holzstück vor, um eine Figur daraus zu schnitzen17.
b) Was das Verb „vorsetzen" für die äußeren Vorgänge aussagt, gilt im
übertragenen Sinne auch für die geistige Tätigkeit. Hier umfaßt es
ebenfalls sowohl ein inneres „Vorstellen" wie „Vor-nehmen". In der
ersten Bedeutung heißt das: Wer sich innerlich etwas (einen Gegenstand,
ein Ziel, eine Handlung) vorsetzt, also vor sein geistiges Auge setzt, der
macht sich in seinem Bewußtsein ein Bild von der Sache, der Folge usw.,
der malt sie sich in Gedanken aus, der stellt sie sich im Geiste vor™.
„Setze (dir geistig) den Fall (vor)!" besagt: „Stell dir vor, vergegenwär-
tige dir gedanklich!" In seinem Drama „Wallenstein" läßt Schiller die
Gräfin Terzky zu ihrer Nichte Thekla sagen: „Wohl magst du dir, wenn
du allein bist, große Dinge vorsetzen, schöne Rednerblumen flech-
ten . . . " („Die Piccolomini", III. Aufz., 8. Auftr. geg. E.). Hier bedeu-
tet „vor-setzen", für sich genommen, zunächst einmal, daß sich die
Angesprochene etwas vorstellt, konkret gesprochen: von einem offenen
Wort (ihrem Vater, Wallenstein, gegenüber), von einem mutigen Schritt
usw. „träumt", kurz: sich über etwas Gedanken macht. Wer sich so
etwas innerlich vor-setzt oder vor-stellt, übt eine geistige, und zwar
intellektuelle Tätigkeit aus. Insoweit ist das gedankliche „Vor-setzen" in
unserem heutigen Sprachgebrauch weitgehend durch das geistige „Vor-
stellen" (die Vorstellung) verdrängt19.
Das Schillersche „Vorsetzen" nimmt aber in dem Zusammenhang, in
dem es steht, schon eine andere Färbung an und weist auf eine weitere
Bedeutung hin, und zwar auf ein inneres „Vornehmen"20. Wer sich
„große Dinge" (z. B. eine kühne Tat, ein großes Werk) vor sein geistiges
Auge setzt, stellt sie sich nicht nur vor, sondern nimmt sie sich oft auch
vor, d.h. plant, beschließt, beabsichtigt, kurz: will sie (ausführen). In
diesem Sinne heißt es etwa in der Bibelübersetzung von Luther: „Ich will
euch aber nicht verhalten, liebe Brüder, daß ich mir oft habe vorgesetzt,
zu euch zu kommen" (Rom. 1,13). Grimm führt Goethe an: „Wer sich
nicht vorsetzt, das Höchste zu erstreben . . . , wird mittelmäßig blei-
ben"21. Hier hat das Wort „vorsetzen" ganz deutlich den Sinn von
17 Der Handelnde setz: oder nimmt sich hier eine Sache als Gegenstand der Beschäfti-
gung vor, an den er Hand anlegt, s. Hey se, Handwörterb. der dtsch. Sprache, II. Bd. 1849,
Nachdr. 1968, S. 1723 zu Nr. 2 („vornehmen").
'· Grimms Dtsch. Wörterb., 12.Bd. II. Abt. 1951, Sp. 1557ff, 1562 zu Nr. 15, 1563 zu
Nr. 17 a) („vorsetzen").
" Vgl. auch Grimms Dtsch. Wörterb. a. a. O. Sp. 1562 zu Nr. 15.
20 Grimms Dtsch. Wörterb. a.a.O. Sp. 1562 zu Nr. 16, Sp. 1563/1564 zu Nr. 17b);
Halten, zum sicheren Wissen26. Gewißheit ist dabei nicht im Sinne der
auf subjektives Meinen und Bekennen beruhenden, sondern der durch
objektives Schließen und Erkennen begründeten Sicherheit des Urteils
zu verstehen. Der Tor, der sich auf Grund seiner verbohrten Ansicht
einer Sache lediglich persönlich „gewiß" ist, d. h. in Wahrheit gewiß zu
sein glaubt, handelt nur im Wahn, nicht mit Wissen. Auch das spricht
gegen die subjektive Versuchstheorie, nach der beim absolut untaugli-
chen Versuch nicht allein das verbrecherische Verhalten von der objekti-
ven Rechtsgutsgefährdung zur bloßen „Manifestation eines bösen Wil-
lens" verkümmert ist, sondern sogar der deliktische Vorsatz auf dieses
böse Wollen reduziert und das Wissenselement zum bloßen Wahn, d. h.
zu einer irrigen Vorstellung, denaturiert ist27.
Hat sich der Täter sein Verbrechen fest vorgenommen, so kann man
auch sagen, daß er es auf die Verwirklichung des objektiven Tatbestan-
des „ab-gesehen", daß er sie be-absichtigt hat. Sein Vornehmen stellt ein
zielgerichtetes, bestimmtes Wollen oder, gleichbedeutend damit, eine
Absicht dar. Der Terrorist, der sich darüber im klaren ist, daß die von
ihm in ein Café zu werfende Bombe eine Reihe von Gästen zerreißen
muß, und der auf diese Schreckenswirkung abzielt, erfüllt den Mordtat-
bestand wissentlich und willentlich, d. h. direkt-vorsätzlich.
Für die Strafrechtsdogmatik bleibt es somit bei der beruhigenden
Feststellung, daß die herrschende Auffassung von der Grundform des
Vorsatzes, die allgemein als Wissen und Wollen hinsichtlich der Ver-
wirklichung des objektiven Tatbestandes definiert wird28, durch die
Entwicklungsgeschichte des Wortes und den Sprachgebrauch voll und
ganz bestätigt wird. Mit den Thesen, zum Vorsatzbegriff gehöre kein
Wollen, die gegenteilige überwiegende Ansicht sei vielmehr „monströs"
(Frisch), „die Kombination von Wissen und Wollen widersinnig"
(Schmidhäuserf, wird also kein Hinweg zu neuen Horizonten wissen-
Platzgummer, Die Bewußtseinsform des Vorsatzes, 1964, S. 55 ff; Frisch, Vorsatz und
Risiko, 1983, S. 162 ff, 192 ff.
27 So schon Spendel, Zur Neubegründung der objektiven Versuchstheorie, in: Stock-
30
So prägnant Lackner, StGB, 16. Aufl. 1985, §15 A n m . 3 a ) aa) u. bb); s. ferner
Dreher/Tröndle, StGB, 42. Aufl. 1985, § 15 Rdn. 6 u. 7; Schönke/Schröder/Cramer, StGB,
22.Aufl. 1985, §15 R d n . 6 4 f f ; Schroeder, in LeipzKomm., lO.Aufl., 21.Lfg. 1980, §16
Rdn. 76, 81.
31
Spendel, Zur Dogmatik der unechten Unterlassungsdelikte, in JZ 1973, S. 137, 142/
143; ders. in LeipzKomm., 10. Aufl., 28.Lfg. 1982, §336 Rdn. 77 und Fn. 102; 40.Lfg.
1985, § 323 b Rdn. 30.
3!
Dazu Binding, Die Normen und ihre Übertretung, 2. Aufl., II. Bd. 2 . H . 1916,
S. 851 ff; Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit..., 1930, Neudr.
1964, S. 170 ff.
174 Günter Spendei
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Zum Begriff des Vorsatzes 175
terte Sachlage, daß (um ihr eine moderne Version zu geben) sich der
Täter als gewiß vorstellt, d. h. sicher weiß, seine Absendung der Luft-
fracht mit der darin enthaltenen Bombe nebst Zeitzünder werde das
Postflugzeug zum Absturz bringen und „todsicher" auch zur Vernich-
tung von Menschenleben führen, daß es ihm aber nur auf die Erlangung
der Versicherungssumme für das hochversicherte Frachtgut und nicht
auf den ihm gleichgültigen oder sogar unerwünschten Tod des Piloten
und eines Begleiters ankommt. Hier hat sich der Verbrecher die Tötung
des Flugzeugführers nicht fest vor-genommen, sie jedoch hin-genom-
men. Denn er hat sie innerlich „an-genommen" oder akzeptiert, d.h.
sich die Folgen seines Tuns zu eigen gemacht und mit ihnen abgefun-
den". Das Willensmoment im Hinnehmen kann sich auch in einem
passiven Verhalten ausdrücken. Wer gegen eine Beleidigung nichts
unternimmt, also sie unwidersprochen „hinnimmt", will sie für seine
Person - aus Nachsicht, Friedfertigkeit, Feigheit oder aus welchen
Gründen auch immer - dulden*, da er unter verschiedenen Reaktions-
möglichkeiten eine Wahl- und Willensentscheidung getroffen hat.
Wollen ist mit wählen verwandt35 und erfordert eine Stellung-»d¿me,
die uneingeschränkt zum Vor-nehmen, abgeschwächt zum Hin-nehmen
wird". Das Stammwort „nehmen", auf das die anderen Zusammenset-
zungen zurückzuführen sind und das ursprünglich - als Gegenstück zu
„geben" - „niederlassen, Besitz ergreifen" bedeutet, erlangt bezeichnen-
derweise den Neben- oder Hintersinn von „wählen", sich für etwas
„entscheiden"37 und schließlich den von „verlangen", „wollen", berührt
also auch eine willensmäßige Tätigkeit. Wer einen Knecht in seinen
Dienst nimmt, wird unter Bewerbern einen ihm geeignet erscheinenden
Mann „heraus-nehmen", d. h. für seine Zwecke aussuchen oder (aus-)
wählen. So nimmt, d. h. wählt etwa eine Frau nach längerem Prüfen und
Vergleichen unter verschiedenen Angeboten einen schönen Stoff38.
Wollens anzusehen, so Keller, Psychologie und Philosophie des Wollens, 1954, S. 189.
" Sanders, Wörterb. der Deutschen Sprache, II.Bd., l . H . 1863, S.409 zu N r . l , 5a,
S.410 zu Nr. 6 a ; Grimms Dtsch. Wörterb., 7. Bd. 1889, Sp.521, 534/535 zu Nr.2i), 3;
Trübners Dtsch. Wörterb., 4. Bd. 1943, S. 772, 774 1. Sp.; Brockhaus/Wahrig, Dtsch.
Wörterb., 4. Bd. 1982, S. 817 zu Nr. 18.
58
Duden, Das große Wörterb. d. dtsch. Sprache, 4. Bd. 1978, S. 1870 zu Nr. 7.
176 Günter Spendei
Bereits im Nibelungenlied heißt es, daß aus den vielen tausend Recken
„tausend der Besten da genommen", d.h. gewählt worden sind". Man
sagt etwa heute: Du hättest besser den längeren, aber ungefährlichen
Weg nehmen, d. h. wählen sollen. Wie bei „nehmen" die Bedeutung von
„wählen" anklingt, so endlich auch die von „verlangen", „wollen". Statt
„Was nehmen Sie für diese Arbeit oder Sache?" kann man sagen: „Was
verlangen Sie dafür, was wollen Sie dafür haben?"40
Man muß sich von der einseitigen und unvollkommenen Blickweise
frei machen, daß das Wollen nur Beabsichtigen oder Erstreben bedeutet.
Natürlich hat der Versicherungsbetrüger in dem vorstehend (S. 175) an-
geführten Fall es nicht auf die Tötung des Piloten „ab-geseben", sie nicht
bt-absichtigt, wohl aber sie in seinem verbrecherischen Plan „vor-
gesehen", d.h. in Rechnung gestellt, einkalkuliert. „Vor-sehen" hat ja
auch die Bedeutung, etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt oder für
einen bestimmten Fall oder Zweck „dulden, einsetzen oder durchführen
wollen"". Man sagt etwa: Die Gesellschaft hat die Eröffnung des
Geschäftes für den nächsten Monat vorgesehen, d.h. sie will das
Geschäft zu diesem Termin eröffnen; oder: Der Patient sieht in dem
Behandlungsplan auch den dafür unumgänglichen, ihm aber höchst
unerwünschten Klinikaufenthalt vor, will ihn also für die erstrebte
Heilung dulden, nimmt ihn dafür hin. Man kann eben nicht nur willig
streben, sondern auch widerstrebend wollen42. Das bringt schon eine
Wendung wie „nolens volens" zum Ausdruck. Der wider-willig Tätige
handelt zwar gegen seine Wünsche und Strebungen, aber doch „willig",
d.h. mit einem abgeschwächten Willen. Der Täter „bejaht", d.h.
„akzeptiert" den tatbestandlichen Erfolg nicht explizit und aktiv, jedoch
implizit und passiv43. Wie sich das äußere verursachende Verhalten als
Tun oder Unterlassen darstellen kann, so das innere Willensverhalten als
ein mehr aktives „Auf-geben" (Aufstellen) von Zielen einer Handlung
oder Unterlassung oder als ein mehr passives „Aui-nehmen" (An- oder
Hinnehmen) dieser Folgen. Im ersten Falle setzt oder nimmt sich der
Täter z. B. die Tötung eines Menschen vor, indem er sich den Tod als zu
zweiten Falle von einem „Wollen im limitativen Sinn" spricht; zustimmend z.B. von
juristischer Seite Platzgummer, Die Bewußtseinsform des Vorsatzes, 1964, S.94, von
medizinischer Janzarik, in: Göppinger/Witter (Hrsg.), Handbuch der forensischen Psy-
chiatrie, 1972, I.Bd., S. 646/647.
Zum Begriff des Vorsatzes 177
auf Grund der (geringen) Möglichkeit einer Tötung durch Handeln („Hinabwerfen" der
Kinder in die Arme der Passanten) geleugnet werden, wie umgekehrt die Kausalität der
Handlung für einen Fenstersturztod unter Hinweis auf den sonst drohenden Flammentod
durch Nicht-fallen-Lassen zu leugnen wäre, falls der Vater gehandelt und die Kleinen
unglücklicherweise zu Tode gestürzt hätte (Spendel, in JZ 1973, S. 140 1. Sp.). Aus dieser
Feststellung folgt selbstverständlich nicht als „Konsequenz" ein Nonsens, wie ihn Geilen
in JZ 1973, S.320, 321/322 dem Verf. zu Unrecht anlastet - daß danach auch bei
auswegloser Lage (entweder sicherer Flammentod in oder sicherer Fenstersturztod aus
einem Wolkenkratzer) ein Vater seine Kinder aus dem brennenden Hochhaus stürzen
müßte, damit sie nicht verbrennen!
51 Vgl. auch das kritische Urteil über die kurze Begründung der BGH-Entscheidung
von Ulsenheimer, in JuS 1972, S.255 r. Sp. unt. Nr. II, S.256 r. Sp. unt. Nr. III; Blei, in
JA 1973, StR, S. 77 (S.325).
52 Zu diesem Begriff allgemeiner Spendel, Notwehr und „Verteidigungswille", objekti-
ver Zweck und subjektive Absicht, in: Oehler-Festschr., 1985, S. 197, 206ff; speziell
Oehler, Neue strafrechtliche Probleme des Absichtsbegriffes, in NJW 1966, S. 1633.
Zum Begriff des Vorsatzes 179
53
Vgl. z.B. Mezger, Strafr., Lehrb., 3.Aufl. 1949, S.339 (keine), v. Liszt/Schmidt,
Lehrb. des Dtsch. Strafr., I.Bd., 26. Aufl. 1932, S. 260/261 (nur kurze Erwähnung).
54
Einerseits Schänke, StGB, 6. Aufl. 1952, §59 a.F. A n m . I I I (S.226); Dreher/Maa-
ßen, StGB, 1.Aufl. 1954, §59 a.F. A n m . I . 1 und 4.b); andererseits Schänke/Schröder,
StGB, 8.Aufl. 1957, §59 a.F. Anm.IV. l . a ) ; Lackner/Maaßen, StGB, 4. Aufl. 1967, §59
a.F. Anm.II. 3.a) aa).
" Engisch, Untersuchungen über Vorsatz . . . (Fn. 45), S. 104, 139 Anm. 55, 141 f, 150.
* Germann, Vorsatzprobleme, in SchwZStr. 77.Jg. (1961), S.345, 355; gegen ihn
schon Schönke/Schröder/Cramer, StGB, 22. Aufl. 1985, §15 Rdn.64a, 65; Oehler, in
NJW 1966, S. 1633 r. Sp.
57
Vgl. z.B. Rudolphi, SK, 3.Aufl. 1984, §16 R d n . 3 6 f f ; gegen diese Einteilung z.B.
auch Schroeder, in LeipzKomm., 10. Aufl., 21. Lfg. 1980, §16 Rdn.81.
180 Günter Spendei
58Lackner, StGB, 16. Aufl. 1985, § 15 A n m . II. 3. a) aa) und bb) (S. 84).
59Mit Recht bemängelt Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 162 ff, 192 ff, daß Begriffe
wie „Vorstellung, Kenntnis, Bewußtsein, Wissen" nicht einfach gleichgesetzt werden
können.
60 So z. B. RGSt. 61, S. 202, 2 0 6 ; 66, S. 163, 164; 75, S. 372, 3 7 4 ; B G H S t . 11, S. 1, 4 (mit
62
Schönke/Schröder/Eser, StGB, 22. Aufl. 1985, §242 Rdn.46.
" Die nicht ganz einheitliche Rechtsprechung hat eine solche „Einwilligungstheorie"
vertreten (s. z.B. RGSt.31, S.211, 217; 33, S.4, 5/6; 55, S.204, 205; 61, S.159, 160; 65,
S. 67, 69; BGHSt.7, S.363, 369; 17, S. 259/260, 262), bei der sie den Ausdruck „Einwilli-
gung" oder „Billigung" bald als ein Mehr gegenüber dem „In-Kauf-Nehmen" (RGSt. 72,
S.36, 43/44; 76, S. 115, 116), bald als diesem „gleichbedeutend" angesehen hat (RGSt. 59,
S.2, 3/4; 67, S.424, 425; 77, S.228, 229; RG in DR 1944, S. 155 Nr.9; OLG Kiel in
HESt. 2, S. 206).
182 Günter Spendei
64
„Einwilligen" bedeutet, sich zu etwas „willig erklären", s. Heyse, Handwörterb. der
deutschen Sprache, I.Bd. 1833, Nachdr. 1968, S.334.
a
Zu den Einwänden aus sprachlichen Gründen, daß man die Fremdheit der Sache oder
das Alter eines Mädchens nicht „wollen" bzw. nicht darin „einwilligen" könne, scharf
ablehnend Rob. ν. Hippel, Dtsch. Strafr., II.Bd. 1930, S.307 A n m . l .
Zum Begriff des Vorsatzes 183
gegeben, bei der letzteren nicht mehr. Der für möglich gehaltene Erfolg
wird vom Fahrlässigkeitstäter innerlich nicht akzeptiert, sondern abge-
lehnt. Seine Einstellung ist: „Es wird schon nichts passieren". Dieser
sträfliche Leichtsinn ist etwas anderes als das verbrecherische Sinnen und
Trachten.
Das Fazit der vorliegenden Betrachtung zum Vorsatzbegriff ist /ur
Ubersicht in der auf S. 174 abgedruckten Tafel zusammengefaßt. Sie
zeigt, wie sich die Bedeutung des Ausdrucks aus seinen beiden Elemen-
ten, dem Vorstellen und dem Vornehmen, herleiten läßt und abstuft.
Die Bestimmung des Begriffs, der Formen und Formeln des Vorsatzes
aus der Wortentwicklung und dem Sprachgebrauch hat die Ergebnisse
der herrschenden Lehre bestätigt. Diese besonders prägnant dargestellt
zu haben, gehört zu einem der großen Vorzüge des Kommentars von
Lackner. Deshalb dürfte die vorliegende Studie seiner besonderen Auf-
merksamkeit sicher sein.
Einige Anmerkungen zu Irrtümern über den Irrtum
ARTHUR KAUFMANN
I.
Vor siebzig Jahren hat Karl Binding einmal bemerkt: „Schwer werden
alte Irrtümer überwunden, fast am schwersten, scheint es, Irrtümer über
den Irrtum." 1 Die Richtigkeit dieser Feststellung gilt bis heute. Zwar
hatte es eine Zeitlang den Anschein, daß durch die Plenarentscheidung
des Bundesgerichtshofs vom 18. März 1952 die wichtigsten Streitfragen
geklärt seien. Daß dies eine trügerische Hoffnung war, stellte sich jedoch
alsbald heraus. Vor allem das neueste Schrifttum belegt überdeutlich,
daß nicht nur Randfragen ungeklärt sind, sondern daß gerade die
Grundlagen der Irrtumslehre nach wie vor heftig umstritten sind2. Ja,
sogar für die alte Rechtsprechung des Reichsgerichts mit ihrer Unter-
scheidung von Tatirrtum, außerstrafrechtlichem Rechtsirrtum und straf-
rechtlichem Rechtsirrtum wird wieder geworben3. Darüber kann sich
nur der wundern, der diese Rechtsprechung als reine Willkür, bar jedes
sachlichen Gehalts erachtet. Ich habe mich dieser Bewertung nie ange-
schlossen. In der klassischen Imputationslehre hat der Grundsatz, daß
jeder verantwortliche Bürger die Strafrechtsordnung kennen muß, nicht
dagegen das, was außerhalb des Strafrechts geregelt ist, ein festes Funda-
ment4. Der entscheidende Einwand gegen die Irrtums-Rechtsprechung
des Reichsgerichts ist der, daß diese Voraussetzung, Strafvorschriften
seien jedermann bekannt, nicht mehr so allgemein stimmt. Jedoch ist
deswegen nicht alles falsch, was das Reichsgericht grundgelegt hat. Und
so ist gar nicht erstaunlich, daß man das Richtige an dieser Judikatur
jetzt wiederentdeckt. Echte Sachfragen lassen sich auf Dauer nicht
unterdrücken.
' Binding, Die N o r m e n und ihre Übertretung, Bd. I, 3. Aufl. 1916, S. 96.
2 Ich werde in diesem kleinen Beitrag im wesentlichen nur auf das neueste Schrifttum
eingehen. Die einschlägige Literatur und Judikatur bis 1982 und meine Auseinanderset-
zung mit ihr wolle man meinen folgenden Abhandlungen entnehmen: Das Unrechtsbe-
wußtsein in der Schuldlehre des Strafrechts (1949), Neudruck 1985; Das Schuldprinzip
(1961), 2. Aufl. 1976; Die Parallelwertung in der Laiensphäre, 1982; Schuld und Strafe,
2. Aufl. 1983.
J So vor allem Werner Georg Tischler, Verbotsirrtum und Irrtum über normative
Tatbestandsmerkmale, 1983, S. 349 ff u . ö . Zu Tendenzen in dieser Richtung vgl. auch
Ellen Schlüchter, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht, 1983, z . B .
S. 48, 50, 58 ff, 64, 150, 152 f.
4 Siehe Arthur Kaufmann, Parallelwertung (Fn.2), S. 4 ff, 13 ff.
186 Arthur Kaufmann
Ein weiterer wunder Punkt, der sich im Laufe der letzten Zeit
herauskristallisiert hat, ist die Verbotsirrtumsregel des § 17 StGB. Zwar
hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 17. Dezember
1975 diese Bestimmung für verfassungskonform erklärt5, aber es blieb
etwas hängen. Viele rühmen die Geschmeidigkeit des § 17 StGB, doch
gerade dies ist sein rechtsstaatlicher Mangel'. Da sich nämlich die Frage
der Vermeidbarkeit und NichtVermeidbarkeit des Verbotsirrtums einer
rationalen Entscheidung weitestgehend entzieht7 und da zudem dem
Richter die ganze Breite von voller Schuldstrafe bis zum Freispruch zur
Verfügung steht, hätte man in das Gesetz eigentlich auch schreiben
können: „Im Falle eines Verbotsirrtums entscheidet der Richter nach
seinem pflichtgemäßen Ermessen"; denn mehr gibt die Fassung des § 17
StGB auch nicht her. Aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit sollte §17
StGB daher möglichst restriktiv gehandhabt werden, damit er nicht -
zuungunsten des Täters - ins Uferlose ausgedehnt wird. Aber gerade
diese Gefahr besteht heute. Es ist deutlich eine Tendenz auszumachen,
in angeblichen Grenzfragen - vor allem beim Irrtum über normative
Tatbestandsmerkmale - den Anwendungsbereich des § 17 StGB auf
Kosten desjenigen von § 16 StGB zu erweitern. Dieser Tendenz entge-
genzutreten, ist das Hauptanliegen der folgenden Überlegungen.
II.
Es wird behauptet, durch die Regelung der §§16, 17 StGB sei die
Schuldtheorie Gesetzesrecht geworden8. Das ist nicht richtig. Uber dem
Streit der schon gar nicht mehr überschaubaren Varianten von Vorsatz-
und Schuldtheorie hat man völlig aus dem Auge verloren, daß die
Unterscheidung der beiden Theorien nur die Frage betrifft, welche
Rechtsfolge der Verbotsirrtum hat: Vorsatzausschluß oder nicht. Die
5
BVerfGE 41, 121.
6
Vgl. nur Günter Warda, Zur gesetzlichen Regelung des vermeidbaren Verbotsirr-
tums ; Zugleich einige verfassungsrechtliche Bemerkungen zum richterlichen Ermessen als
Gesetzgebungsproblem, in: ZStW 71 (1959), 252ff, 280.
7
Die Maßstäbe der Fahrlässigkeit sollen hier nicht gelten. Das hat der B G H mehrfach
betont; es seien strengere Anforderungen zu stellen (vgl. ζ. B. BGHSt. 4, 236 und 21, 18).
Jürgen Wolter, Schuldhafte Verletzung einer Erkundigungspflicht, Typisierung beim
Vermeidbarkeitsurteil und qualifizierte Fahrlässigkeit beim Verbotsirrtum, in: JuS 1979,
482 ff, spricht von „qualifizierter individueller Fahrlässigkeit als Vermeidbarkeit" (S. 487).
Vgl. auch Timpe, Normatives und Psychisches im Begriff der Vermeidbarkeit eines
Verbotsirrtums, in: GA 1984, 51 ff; Dieter Meyer, Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums und
Erkundigungspflicht, in: JuS 1979, 250ff; Andreas Donatsch, Unrechtsbewußtsein und
Verbotsirrtum, in: GA 1976, 16ff, bes. S. 24ff. Im übrigen siehe die Kommentar- und
Lehrbuchliteratur.
8
Vgl. z.B. Gunther Arzt, Zum Verbotsirrtum bei Fahrlässigkeitsdelikt, in: ZStW 91
(1979), 857.
Einige Anmerkungen zu Irrtümern über den Irrtum 187
Frage, was Verbotsirrtum und was Tatbestandsirrtum ist, hat damit gar
nichts zu tun. Diese Frage kann sich allein danach richten, wie Tatbe-
stand und Rechtswidrigkeit voneinander abzugrenzen sind; darüber hat
das Gesetz nicht entschieden und hat es auch nicht zu entscheiden.
Wenn man auf diesen Ursprung des Theorienstreits zurückgeht, wird
auch deutlich, daß die Vorsatztheorie strengere Anforderungen an die
Schuld stellt als die Schuldtheorie, weshalb vom Schuldprinzip aus
betrachtet eher gegen die letztere Bedenken bestehen 9 .
Indessen liegt diesem Streit zwischen Vorsatz- und Schuldtheorie
weitgehend ein Scheinproblem zugrunde. Die Frage, was unter §16
StGB und was unter § 17 StGB fällt, kann sich, wie gesagt, allein danach
richten, was die Begriffe „Tatbestand" und „Rechtswidrigkeit" jeweils
umfassen. Ich will hier nicht erneut ein Plädoyer für die „Lehre von den
negativen Tatbestandsmerkmalen" halten. Ich erachte sie nach wie vor
für richtig, zumal niemand den Nachweis erbringen konnte, daß die
Prämissen, von denen ich ausgehe, falsch und die Schlüsse, die ich
daraus ziehe, fehlerhaft sind10. Aber wie auch immer, ich will hier
unterstellen, daß es neben dem „gesetzlichen Tatbestand" des § 16 StGB
noch einen eigenen „Erlaubnistatbestand" gibt, über dessen systemati-
sche Einordnung in einen dreigliedrigen Verbrechensaufbau ich freilich
nirgends eine widerspruchsfreie Lösung finden kann (er gehört nicht
zum „gesetzlichen Tatbestand", aber zweifellos gehört er auch nicht zur
„Rechtswidrigkeit"). Doch auch dies möge dahinstehen.
Für die Abgrenzung von Rechtswidrigkeit und tatbestandlichem
Unrecht ist immer noch die Formulierung Hans Welzeis beispielhaft:
„Während die Rechtswidrigkeit als reines Mißverhältnis zwischen der
Tatbestandsverwirklichung und den Anforderungen des Rechts für alle
Rechtsgebiete ein und dieselbe ist, gibt es in den verschiedenartigen
Rechtsgebieten verschiedenartige Tatbestände... Rechtswidrigkeit ist
eine reine Relation (ein Mißverhältnis zwischen zwei Beziehungsglie-
dern), Unrecht dagegen ist etwas Substantielles: das rechtswidrige Ver-
halten selbst. Rechtswidrigkeit ist ein Prädikat, Unrecht ein Substan-
tium. Unrecht ist die rechtswidrige Verhaltensweise selbst..., Rechts-
widrigkeit ist eine Eigenschaft an diesen Verhaltensweisen..." 11 .
Rechtswidrigkeit ist also Unwert«rîez7, Relation, und als solche kann sie
keine „Merkmale", keine „Umstände", nicht die „Relata" enthalten,
deren Relation sie ist.
' Zutreffend Eberhard Schmidhäuser, Der Verbotsirrtum und das Strafgesetz, in: JZ
1979, 361 ff; ders., Unrechtsbewußtsein und Schuldgrundsatz, in: N J W 1975, 1807ff.
10
Die etwas polemische Kritik („konstruktive Krücke") von Harro Otto, Grundkurs
Strafrecht, Allg. T., 2. Aufl. 1982, S.44f, 185 f, berührt mich um so weniger, als Otto
meine Argumente nicht aufgegriffen hat.
" Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S.52.
188 Arthur Kaufmann
Welzel weist an der zitierten Stelle mit Recht darauf hin, daß der
unterschiedslose Gebrauch der Begriffe „Rechtswidrigkeit" und
„Unrecht" zu Mißverständnissen führen kann. Ganz besonders in der
Irrtumslehre rächt sich eine solche Konfusion. Es wird nämlich nicht
klar festgehalten, daß der Verbotsirrtum im Sinne von §17 StGB der
Irrtum über die Rechtswidrigkeit der Tat ist - nur dies und nichts
anderes, also nicht der Irrtum über das Tatunrecht. In der Plenarent-
scheidung des Bundesgerichtshofs heißt es ausdrücklich (Sperrdruck):
„Der Irrtum über die Rechtswidrigkeit ist Verbotsirrtum", und mit
Recht wird als Komplementärbegriff zum Verbotsirrtum das „Bewußt-
sein der Rechtswidrigkeit" und nicht das „Unrechtsbewußtsein" ange-
sehen12.
Wie man das materielle Tatunrecht am treffendsten charakterisiert, ist
streitig. Ich habe früher von „Sozialschädlichkeit" gesprochen. Vielfach
hat man diese Redeweise utilitaristisch mißverstanden; ich dachte mehr
an den sozialethischen Unwert der Tat. Für die vorliegenden Zwecke
genügt es, wenn ich das materielle Unrecht als die Verletzung oder
Gefährdung eines Rechtsguts bezeichne.
Worauf es nun ankommt ist dies, daß das Bewußtsein des Täters,
durch seine Tat ein bestimmtes13 Rechtsgut eines anderen zu verletzen
oder zu gefährden (bzw. mehrere Rechtsgüter einer oder mehrerer
Personen), zum Vorsatz gehört. Daß dies die fast durchgängige (freilich
oft nicht konsequent durchgehaltene) Meinung des strafrechtlichen
Schrifttums ist, könnte vielfach belegt werden14. Hier muß ein Gewährs-
mann genügen, und zwar noch einmal Welzel, den viele ja als den
Protagonisten der Schuldtheorie ansehen. Er schreibt: „Ist sich der Täter
des sozialen Bedeutungsgehalts nicht bewußt, so fehlt ihm der Tatbe-
standsvorsatz."15 Damit ist expressis verbis eingeräumt, daß dem Vor-
satz das Bewußtsein des im Tatbestand beschriebenen Unrechts imma-
nent ist (notabene: Kenntnis des Unrechts, Wissen um das Unrecht, nicht
Bewertung als Unrecht). Anders formuliert: Das Unrechtsbewußtsein
gehört zum Vorsatz, das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit nicht. Und das
heißt, daß die Vorsatztheorie im Hinblick auf das Unrechtsbewußtsein,
12 BGHSt. 2, 194 ff, 197, 202, 204, 208. Zutreffend daher auch Schänke!Schröder!
Lenckner, Strafgesetzbuch, 22. Aufl. 1985, Vorbem. 53 vor §§ 13 ff: „Die Begriffe ,Rechts-
widrigkeit' und ,Unrecht' werden . . . meist synonym gebraucht, haben jedoch in Wahrheit
einen verschiedenen Sinn."
" Im Gegensatz zum Bewußtsein der Rechtswidrigkeit ist das Unrechtsbewußtsein
„tatbestandsbezogen", also „teilbar". Das hat der BGH anfangs verkannt (BGHSt. 3, 342),
später aber richtiggestellt (BGHSt. 10, 35).
14 Ich weise auf die in Fn. 2 bezeichneten Schriften hin.
15
Welzel, Der Parteiverrat und die Irrtumsprobleme (Tatbestands-, Verbots- und
Subsumtionsirrtum), in: JZ 1954, 276ff, 279.
Einige Anmerkungen zu Irrtümern über den Irrtum 189
16
Naka, Die Appellfunktion des Tatbestandsvorsatzes, in: JZ 1961, 210ff.
17 Ich habe das (mit zahlreichen Belegen) näher in meinem Buch „Das Schuldprinzip"
(Fn.2) ausgeführt, bes. S. 130 ff. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Entschei-
dung BGHSt. 15, 377, 383: „Es genügt, wenn der Täter die vom Straftatbestand umfaßte
spezifische Rechtsgutsverletzung als Unrecht erkennt." Das trifft sich ganz mit dem im
Text Gesagten. Bedenklich erscheint mir aber der nachfolgende Satz, wonach sich bei
speziellen Delikten die Unrechtskenntnis nur auf den Grundtatbestand zu beziehen
brauche.
190 Arthur Kaufmann
III.
Wenn man korrekte Unterscheidungen und richtige Ergebnisse erzie-
len will, muß man vor allem dreierlei beachten. 1. Jeder Tatbestandsirr-
tum hat zwangsläufig einen Verbotsirrtum zur Folge; denn wer über ein
Tatbestandsmerkmal irrt, kann nicht wissen, daß er etwas im Hinblick
auf den betreffenden Tatbestand Verbotenes tut. 2. Aus dem ersten Satz
ergibt sich, daß Verbotsirrtum im spezifischen Sinne von §17 StGB
einzig der Verbotsirrtum ist, dem nicht ein Irrtum über einen Umstand
des gesetzlichen Tatbestands zugrunde liegt, mithin nur der reine Ver-
bots· bzw. Rechtswidrigkeitsirrtum. 3. Tatbestandsirrtum ist danach
jeder Irrtum, der einen die Tatbestandstypisierung - das Tatunrecht -
kennzeichnenden Umstand betrifft, gleichviel ob dieser deskriptiver
oder normativer Art ist.
Die Hauptschwierigkeit liegt beim Irrtum über normative Tatbe-
standsmerkmale. Den Ausdruck „Subsumtionsirrtum" sollte man ver-
meiden, denn er wird unterschiedlich gebraucht (manche verstehen
darunter den Irrtum über Rechtsbegriffe, der unerheblich ist20), und er
ist auch völlig überflüssig. Der Irrtum über normative Elemente des
gesetzlichen Tatbestands ist allemal Tatbestandsirrtum (Entsprechendes
gilt für den Irrtum über normative Elemente des Erlaubnistatbestands).
Doch hier setzen die Meinungsverschiedenheiten ein. Während der
Bundesgerichtshof fast durchgängig in dem hier vertretenen Sinne (der
Irrtum über normative Tatumstände ist stets Tatbestandsirrtum) ent-
schieden hat21, wollen neuerdings einige Autoren Teilbereiche dieses
22
Baumann, Grenzfälle im Bereich des Verbotsirrtums, in: Festschr. f. Hans Welzel,
1974, S. 533 ff.
23
Schlüchter, Irrtum (Fn. 3), bes. S. 173 ff; dies., Grundfälle des Bewertungsirrtums des
Täters im Grenzbereich zwischen §§16 und 17 StGB, in: JuS 1985, 373 f, 527ff, 617ff.
2<
Hierüber informiert ausführlich Tischler, Verbotsirrtum (Fn.3); er selbst hält die
Abgrenzungskriterien von Ellen Schlüchter für zweifelhaft (S. 367 ff). Außer dem bei
Tischler genannten Schrifttum siehe etwa noch: Nierwetherg, Der strafrechtliche Subsum-
tionsirrtum - Tatbestands- oder Verbotsirrtum, Wahndelikt oder untauglicher Versuch?,
in: Jura 1985, 238 ff; Joachim Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode,
1983, S. 240 ff.
25
Vgl. Lackner, a. a. O . (Fn. 20).
26
Schlüchter, Irrtum (Fn.3), S.44ff, 62ff, 67ff, 117ff.
27
In meiner Schrift über die „Parallelwertung" (Fn. 2) habe ich diese Aspekte nicht
verkannt; vgl. etwa S.40.
192 Arthur Kaufmann
sie auf die zwei sprachlichen Ebenen, die hier eine Rolle spielen,
hinweist.
Zum zweiten sei hervorgehoben, daß zum Vorsatz bei normativen
Merkmalen - und damit zum Unrechtsbewußtsein - nicht genügt, wenn
der Täter nur die das Merkmal konstituierenden äußeren Umstände, die
„Tatsachengrundlage", kennt28. Erforderlich ist vielmehr - noch einmal
Welzel - „die der gesetzlichen Beurteilung parallelgehende Beurteilung
des sozialen Bedeutungsgehaltes dieser Tatumstände durch den Täter" 2 '.
Zum Vorsatz ist also, nimmt man alles in allem, das Unrechtsbewußtsein
erforderlich - nicht aber - es sei nochmals betont - das Bewußtsein der
Rechtswidrigkeit (wenn auch, wie beispielsweise beim Uberzeugungstä-
ter, das vorhandene Bewußtsein der Rechtswidrigkeit das fehlende
Unrechtsbewußtsein ersetzen kann).
IV.
Das Feld mit den größten Unklarheiten und Unsicherheiten ist nach
wie vor der Irrtum über einen Rechtfertigungsgrund bzw. über Merk-
male eines Rechtfertigungsgrundes. Hier kann man so etwas wie einen
Trend oder gar eine „herrschende Meinung" derzeit nicht erkennen30.
Da gibt es, abgesehen von der Vorsatztheorie, zunächst die beiden
klaren Positionen: die sogenannte „strenge Schuldtheoriedie alle Arten
des Irrtums über einen Rechtfertigungsgrund als Verbotsirrtum auf-
faßt31, und die sogenannte „eingeschränkte Schuldtheorie" (ein höchst
unpassender Ausdruck, da sie ja doch an die Schuld strengere Anforde-
rungen stellt, als die „strenge" Schuldtheorie32), die auf den Irrtum über
Merkmale eines „Erlaubnistatbestandes" den § 16 Abs. 1 StGB wenn
nicht direkt, dann doch analog anwendet und deshalb Vorsatzausschluß
annimmt33. In der neueren Literatur verschwimmen diese klaren Kontu-
kung): „Wo das Gesetz es auf einen (nur) geistig verstehbaren Tatumstand abstellt, ist es
für den Verletzungsvorsatz des Täters wesentlich, daß dieser den Bedeutungssinn jenes
Tatumstandes im sozialen Leben erfaßt hat." Ebenso BGHSt. 15, 332, 338.
30 Es ist eine recht kühne Behauptung, wenn Johannes Wessels, Strafrecht, Allg. T.,
16. Aufl. 1986, S. 132, die von ihm vertretene Meinung als die „herrschende" bezeichnet.
Gerade das neueste Schrifttum weist nicht in diese Richtung.
51 Heute vor allem Paul Bockelmann, Strafrecht, Allg. T., 3. Aufl. 1979, S. 123 f, und
Hans Joachim Hirsch, Der Streit um Handlungs- und Unrechtslehre, insbesondere im
Spiegel der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, in: ZStW 93 (1981), 831 ff;
94 (1982), 239 ff.
32 Vgl. Lackner (Fn. 20), Anm. 5 a zu § 1 7 : „ungenau".
33 So u. a. Schönke/Schröder/Cramer (Fn. 12), Rdn. 14 zu § 16; Günter Stratenwerth,
Strafrecht, Allg. T. I, 3. Aufl. 1981, S. 153; Baumann/Weher, Strafrecht, Allg. T., 9. Aufl.
Einige Anmerkungen zu Irrtümern über den Irrtum 193
ren des Problems jedoch völlig. Die Schuldtheorie soll in der mannigfal-
tigsten Weise modifiziert werden. Eine „rechtsfolgenverweisende einge-
eschränkte Schuldtheorie" will nicht den Vorsatz entfallen lassen, son-
dern nur die Vorsatzstrafe, wobei es unter den Vertretern dieser Theorie
aber höchst streitig ist, ob der Vorsatz schlechthin bestehen bleibt oder
nur der „Vorsatz" im Sinne des Handlungswillens, während der
„Schuldvorsatz" und damit der „Vorsatzschuldvorwurf" entfällt34. Aber
damit hat es nicht sein Bewenden. Nach einer als „unselbständige
Schuldtheorie" benannten Auffassung ist in den hier fraglichen Irrtums-
fällen wegen vorsätzlicher Tat zu verurteilen, doch nur wenn eine
Fahrlässigkeitsstrafdrohung besteht; dabei ist der Vorsatzstrafrahmen
auf den Rahmen des Fahrlässigkeitsdelikts zu reduzieren35. Ein anderer
Vorschlag geht dahin, bei Vermeidbarkeit des Irrtums solle wegen
vorsätzlicher Tat bestraft, die Strafe jedoch nach §49 Abs. 2 StGB
gemildert werden36. Um die Palette noch bunter zu machen, wird die
Meinung vertreten, bei einem vermeidbaren Irrtum über rechtfertigende
Umstände sei weder die Rechtsfolge des §16 noch die des §17 StGB
angemessen, es müsse vielmehr eine Fahrlässigkeitsstrafe auch dort
verhängt werden, wo das Gesetz eine solche nicht vorsieht37. Und
schließlich schränkt man die schon reichlich eingeschränkte Schuldtheo-
rie noch in der Weise ein, daß man sie auf Fahrlässigkeitsdelikte für nicht
anwendbar erklärt38.
Das alles ist ein Kurieren an den Symptomen, das deutlich die
dogmatischen Schwächen dieser Versuche offenbart. Die Begründung
insbesondere der „rechtsfolgendverweisenden eingeschränkten Schuld-
theorie" hält einer kritischen Uberprüfung auch nicht stand. Die
39
Jescheck (Fn. 18), S. 375.
40 Zutreffend Rudolphi (Fn. 32), Rdn. 12 zu § 16 mit Hinweis auf Karl Engisch und
Friedrich Schaffstein.
41 BGHSt. 3, 7.
42
Lackner (Fn. 20), Anm. 5 b zu § 17.
Einige Anmerkungen zu Irrtümern über den Irrtum 195
von großer Bedeutung, wieweit diese Analogie reicht. Lackner hat dazu
Richtungweisendes gesagt: Der Irrtum über einen Erlaubnistatbestand
weist „auffallende strukturelle Gemeinsamkeiten mit dem Tatbestands-
irrtum" auf; er ist „dadurch gekennzeichnet, daß er sich auf das Objekt
der Wertung bezieht und nicht - wie der Verbotsirrtum - eine falsche
Wertung des Objekts bedeutet"; insofern „ist er nach seinem Gegen-
stand dem Tatbestandsirrtum eng verwandt; denn er bezieht sich ebenso
wie dieser auf Umstände, die einen Tatbestand ausfüllen, allerdings nicht
einen Unrechtstatbestand, sondern umgekehrt einen ,Erlaubnistatbe-
stand'"; im Hinblick „auf sein Gesamtverhalten weiß der Irrende regel-
mäßig ebensowenig, was er tut, wie der im Tatbestandsirrtum Han-
delnde; denn in der sozialen Wirklichkeit sind die Umstände des
Unrechts- und Erlaubnistatbestandes häufig zu einer inneren Einheit
verbunden" 43 . Stratenwerth unterstreicht diese Überlegungen noch:
Wesentlich dürfte sein, „daß es zwischen einer durch Sozialadäquanz
bewirkten Einschränkung der Rechtswidrigkeit und dem auf besonderen
Rechtfertigungsgründen beruhenden Unrechtsausschluß keine scharfe
Grenze gibt; die - im Blick auf die Irrtumsfragen unternommenen -
Versuche, das Gegenteil darzutun, sind gescheitert"; die „irrige
Annahme von Umständen aber, die das Tatbestandskorrektiv der Sozial-
adäquanz eingreifen ließen, kann nichts anderes sein als ein Tatbestands-
irrtum"; es „wäre ungerecht, sachlich gleichliegende Fälle des Rechtfer-
tigungsirrtums nach den sehr viel strengeren Regeln zu behandeln, die
beim Verbotsirrtum gelten" 44 . U n d auch Jescheck sieht es nicht viel
anders: Beim Irrtum über die Voraussetzungen eines anerkannten
Rechtfertigungsgrundes ist „der Schuldgehalt der Tat deutlich herabge-
setzt: die Motivation, die zur Bildung des Tatvorsatzes geführt hat,
beruht nicht auf mangelnder Rechtsgesinnung, sondern auf unsorgfälti-
ger Prüfung der Situation" ; irrt der Täter über solche Voraussetzungen,
so „fehlt es an dem für Vorsatzdelikte sonst typischen Abfall von den
Wertvorstellungen der Rechtsgemeinschaft"; die „Bestrafung aufgrund
des Vorsatztatbestandes erscheint nicht gerechtfertigt, weil der Vorsatz
in charakteristischer Weise anders gebildet worden ist als in den N o r -
malfällen der Vorsatzschuld" 4 5 .
Wenn dem so ist, daß zwischen dem „eigentlichen Tatbestandsirr-
tum" und dem „Irrtum über rechtfertigende Umstände" eine so große
43
Lackner wie Fn. 42. Wer meine einschlägigen Schriften kennt, wird verstehen, daß
ich diesen Ausführungen Lackners lebhaft zustimme.
44
Stratenwerth (Fn.33), S.153.
45
Jescheck (Fn.18), S.375. Ebenso Schänke ISchröder I Cramer (Fn. 12), Rdn.14 zu
§16: „kein qualitativer Unterschied", und Rudolphi (Fn.33), Rdn. 12 zu §16: der Wille
des Täters ist auch hier „gerade nicht auf die Herbeiführung tatbestandlichen Unrechts
gerichtet".
196 Arthur Kaufmann
Ähnlichkeit besteht, daß man kaum noch eine ins Gewicht fallende
Verschiedenheit erkennen kann, dann m u ß daraus fast zwingend gefol-
gert werden, daß beiden dieselbe Rechtsfolge zuzuordnen ist: Vorsatz-
schluß. Auch wenn man dogmatisch zwei Vorsatzarten unterscheiden
will (was m. E. unglücklich ist, weil man für verschiedene Begriffe nicht
dieselbe Bezeichnung wählen sollte46), so geht es doch keinesfalls an, bei
der Irrtumsfrage je nach Utilität zwischen dem einem und dem anderen
„Vorsatz" hin- und herzupendeln. Die Vorsatzlehre ist keine Trambahn,
bei der man ein- und aussteigen kann, wann und w o immer man will.
Der Vorwurf der Widersprüchlichkeit, den Scbmidbäuser gegen die
Einschränkungen der eingeschränkten Schuldtheorie erhoben hat,
besteht völlig zu Recht 47 .
Wie aber steht es mit den Konsequenzen für Fahrlässigkeit und
Teilnahme, wenn man dem Erlaubnistatbestandsirrtum vorsatzaus-
schließende Kraft beimißt? Was zunächst das Bedenken angeht, vor-
werfbare Taten blieben mangels Fahrlässigkeitsstrafdrohung straflos, so
ist darauf schlicht zu antworten, daß dieses Bedenken unbegründet ist -
es sei denn, man huldigt einem Strafrechtsperfektionismus, der vom
fragmentarischen Charakter des Strafrechts nichts wissen will. Jescheck
hat völlig recht, wenn er betont, daß man sich in diesen Fällen mit der
zivilrechtlichen Schadensersatzfolge begnügen kann 48 .
Bleibt noch das Bedenken wegen der Teilnahme. Dazu ist zunächst zu
sagen, daß das Bedenkliche nicht die hier vertretene Irrtumslehre ist,
sondern dies, daß sich der Gesetzgeber durch die Dekretierung einer
vorsätzlichen Haupttat in den §§ 26, 27 StGB hat „dazu verleiten lassen,
.Theorie zu treiben', d. h. eine nicht ausdiskutierte dogmatische Streit-
frage durch legislatorischen Machtspruch zu entscheiden" 4 '. Vor allem
aber m u ß bedacht werden, daß dann, wenn beim Tatmittler ein Erlaub-
nistatbestandsirrtum vorliegt, in aller Regel beim Hintermann mittelbare
46
Vgl. Gerald Grünwald, Zu den Varianten der eingeschränkten Schuldtheorie, in:
Gedächtnisschr. f. Peter Noll, 1984, S. 183 ff.
47
Schmidhausen Unrechtsbewußtsein (Fn.9), S. 1809; vgl. auch dens., Strafrecht
(Fn. 33), S.221: „Manipulation". Die Replik Jeschecks (Fn. 18), S. 375, der Vorwurf sei
unberechtigt, da Vorsatz unrecht und Vorsatz schuld nicht dasselbe seien, schlägt nicht
durch, denn bei der fraglichen Irrtumsart fehlt es ja gerade auch an einem Unrechts-
Vorsatz. - N u r angemerkt werden kann hier, daß die „rechtsfolgenverweisende einge-
schränkte Schuldtheorie" in den Fällen des „umgekehrten Irrtums" (Versuch oder Wahn-
delikt) zu ungereimten Ergebnissen führt.
48
Jescheck (Fn.18), S.375f.
49
Winrich Langer, Vorsatztheorie und strafgesetzliche Irrtumsregelung; Zur Kompe-
tenzabgrenzung von Strafgesetzgebung, Verfassungsgerichtsbarkeit und Strafrechtswissen-
schaft, in: SchwZfStrR 1985, 193 ff, 217. Langer entscheidet sich für die Vorsatztheorie
mit Argumenten, die noch lange nicht als abgetan gelten können.
Einige Anmerkungen zu Irrtümern über den Irrtum 197
Täterschaft gegeben sein wird50. Die Restfälle, die in dieser Weise nicht
erfaßt werden können, sind so unbedeutend, daß Straflosigkeit in Kauf
genommen werden kann; jedenfalls rechtfertigen sie nicht eine eigens für
diese Fälle zurechtgeschneiderte Dogmatik.
Das Ergebnis ist, daß der Irrtum über Merkmale eines anerkannten
Rechtfertigungsgrundes den Vorsatz ausschließt, während die irrtümliche
Annahme eines rechtlich nicht anerkannten Rechtfertigungsgrundes als
Verbotsirrtum („Erlaubnisirrtum") dem §17 StGB unterfällt. Diese
Unterscheidung ist vollkommen ausreichend. Solcher Termini wie Irr-
tum über den „Umfang", die „Reichweite" oder die „Grenzen" eines
Rechtfertigungsgrundes bedarf es nicht; sie verwirren nur. Wenn das,
was sich der Täter vorstellt, einem anerkannten Rechtfertigungsgrund
entspricht, ist es immer ein Erlaubnistatbestandsirrtum. Nimmt er aber
an, eine „Prügelpädagogik" sei erlaubt51 oder Judenverschleppungen
seien Rechtens gewesen" oder ein rechtswidriger Befehl sei verbindlich53,
so irrt er nicht über die „Grenzen" eines Rechtfertigungsgrundes, viel-
mehr nimmt er einen Rechtfertigungsgrund für sich in Anspruch, den
die Rechtsordnung nicht kennt.
50
Siehe Schänke/Schröder/Cramer (Fn. 12), Vorbem. 35 vor §§25 ff.
51
BGHSt. 3, 105.
52
BGHSt. 3, 357.
" BGHSt. 22, 223.
Die logische Tragweite des sog. Umkehrschlusses
INGEBORG PUPPE
I. Einleitung
Im Verhältnis der Rechtswissenschaft zur Logik lassen sich in den
letzten Jahrzehnten zwei gegenläufige Tendenzen beobachten. Einerseits
ist das Interesse der Rechtswissenschaft an der Logik ständig gewachsen.
Wir verfügen inzwischen über eine Reihe von Lehrdarstellungen der
elementaren Logik, die speziell für Juristen geschrieben sind1, und über
zahlreiche metatheoretische Untersuchungen über die Bedeutung und
Leistungsfähigkeit der Logik in der Jurisprudenz 2 . Andererseits finden
sich in der Denkpraxis der Rechtswissenschaft, also in den Diskussionen
der Einzelprobleme, immer weniger logische Deduktionen, und wenn
sie sich finden, wird ihre Uberzeugungskraft offensichtlich als gering
eingeschätzt.
Eine anerkannte Theorie ist durch den Nachweis eines logischen
Fehlers kaum zu erschüttern 3 ; umgekehrt hindert der Nachweis, daß ein
1
Z . B . : Klug, Juristische Logik, 4. Aufl., 1982; Weinberger, Rechtslogik, 1970; Tam-
melo/Scbreiner, Grundzüge und Grundverfahren der Rechtslogik, Bd. 1: 1974, Bd. 2:
1977; Bund, Juristische Logik und Argumentation, 1983; Herberger/Simon, Wissen-
schaftstheorie f ü r Juristen, 1980.
!
Z . B . : Engisch, Formale Logik, Begriff und Konstruktion in ihrer Bedeutung und
Tragweite f ü r die Rechtswissenschaft, FS-Klug, Bd.I, 1983, S. 33 ff; Fiedler, Die Rechts-
findung aus dem Gesetz im Lichte der neueren Logik und Methodenlehre, FS-Klug, Bd. I,
S . 5 5 f f ; Lampe, „Juristische" Logik, „logische" Jurisprudenz?, FS-Klug, Bd.I, S. 113ff.
3
Als Beispiel mag die Formel von der conditio-sine-qua-non in der Lehre von der
Kausalität dienen. Sie hat ihren logischen Bankrott schon mehr als ein halbes Jahrhundert,
nämlich seit Engischs Abhandlung von 1931 über die „Kausalität als Merkmal der straf-
rechtlichen Tatbestände", S. 13 ff, überlebt (vgl. etwa: Baumann/Weber, AT, 9. Aufl.,
1985, S.217ff; Welzel, 11.Aufl. 1969, S . 4 3 f f ; Dreher/Tröndle, 42.Aufl., 1985, Vor §1,
200 Ingeborg Puppe
Rdn. 17 ff; Ebert, Jura 1979, 561 [563]). Dabei ist dieser Bankrott ein totaler. Er besteht
nicht nur darin, daß die Formel ihren ursprünglichen Anspruch nicht einlösen konnte, eine
Methode zur Feststellung des Bedingungszusammenhangs anzugeben, den man im Recht
Kausalität nennt; das ist durch Zurücknahme dieses Anspruchs leicht zu korrigieren. Der
logische Bankrott besteht vielmehr darin, daß die Formel diesen Bedingungszusammen-
hang selbst, d.h. seine logische Struktur, falsch beschreibt (Engisch, Kausalität, S. 17f;
Jescbeck, AT, 3. Aufl., 1978, S.226f; Sch/Sch/Lenckner, 21. Aufl., 1982, Vor §13f,
Rdn. 74ff; Rudolphi, SK, Stand: 1984, Vor § 1, Rdn. 40). Der juristischen Praxis und zum
großen Teil auch der Theorie fällt es offenbar leicht, mit diesem logischen Fehler zu leben,
obwohl er inzwischen allgemein bekannt ist. Engischs Formel von der gesetzmäßigen
Bedingung hat sich trotz ihrer fast allgemein anerkannten methodischen Überlegenheit
(Wessels, AT, 15. Aufl., 1985, S.47; Maurach/Zipf, AT I, 6. Aufl., 1983, S. 241 ff) wegen
der größeren Unbequemlichkeit ihrer Handhabung weder in der Rspr. noch in der
Lehrpraxis durchsetzen können.
4 So wirft z. B. die herrschende Lehre von der aberratio ictus der Gegenmeinung seit
eh und je vor, mit der Fiktion eines auf das getroffene Objekt konkretisierten oder eines
insoweit unbestimmten Gattungsvorsatzes zu arbeiten, während es gerade die These dieser
Gegenmeinung ist, daß eine solche Konkretisierung überflüssig sei (Köstlin, Neue Revision
der Grundbegriffe des Criminalrechts, 1845, S.268f; Finger, Lehrbuch des Deutschen
Strafrechts, l.Bd., 1904, S.254; ders., Der Versuch und der Vorentwurf zu einem
Deutschen Strafgesetzbuch, FS-Binding, Bd. I, 1914, S. 257 [268 ff]; Coenders, Strafrecht-
liche Grundbegriffe, insbesondere Täterschaft und Teilnahme, 1909, S. 118 f; Köhler,
Leitfaden des deutschen Strafrechts, 1912, S. 63 ff; Beling, Lehre vom Verbrechen, 1906,
S. 324 f; ders., Unschuld, Schuld und Schuldstufen im Vorentwurf zu einem deutschen
StGB, 1910, S.49f; ders., Grundzüge des Strafrechts, 11. Aufl., 1930, S.47; M. E. Mayer,
AT, Bd. 2, 1915, S.331; Sauer, Allgem. Strafrechtslehre, 3. Aufl., 1955, S.168; Welzel,
S. 71 f; Noll, ZStW 1965 [77. Bd.], S. 1 ff [5]; Loewenheim, JuS 1966, 310 [313 f]). Trotz-
dem findet sich der Vorwurf der Vorsatzfiktion nach wie vor in fast allen Lehrbüchern und
Kommentaren und auch in den neuesten Spezialuntersuchungen zu diesem Thema in
unverändertem Wortlaut (Wessels, AT, S. 71; Jescheck, AT, S.251; Schmidhäuser, AT,
2. Aufl., 1970, 10/45; Rudolphi, SK, §16 Rdn.33; Bemmann, MDR 1958, 817ff; Wolter,
in: Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 103 ff (125); vgl. auch: Bau-
mann/Weber, AT, S. 410 f u. Hillenkamp, Die Bedeutung von Vorsatzkonkretisierungen
bei abweichendem Tatverlauf, 1971, S. 92 ff).
Die logische Tragweite des sog. Umkehrschlusses 201
5 Fiedler, Fn.2, S. 59 ff; Lampe, Fn.2, S. 113 ff; Sax, J Z 1964, 241.
202 Ingeborg Puppe
der (falschen) Vorstellung, sondern nur die Negation der falschen Vor-
stellung selbst. Der Ausdruck „Umkehrung" erweist sich also als minde-
stens irreführend.
Auf diese Weise erhalten wir aber noch keine „umgekehrten" Irrtü-
mer, denn ein Irrtum ist eine Abweichung zwischen Vorstellung und
Wirklichkeit. Wir haben bisher nur entweder eine fehlende Vorstellung
des Täters von der Wirklichkeit hinzugedacht oder eine falsche wegge-
dacht, die Vorstellungen des Täters also der Wirklichkeit angepaßt. Um
einen „umgekehrten Irrtum" zu erhalten, ist es üblich, die Wirklichkeit
nun fiktiv den ursprünglichen Vorstellungen des Täters anzupassen,
wenn also der Ausgangsirrtum im Fehlen einer Vorstellung besteht, sich
nun die entsprechenden Tatsachen wegzudenken, wenn der Ausgangs-
irrtum in einer positiven unrichtigen Vorstellung besteht, sich die ihr
entsprechenden Tatsachen hinzuzudenken. Es werden also, um wieder
Irrtümer zu erhalten, zwischen Vorstellung und Wirklichkeit die Wahr-
heitswerte ausgetauscht.
Das ist aber methodisch unkorrekt, mindestens solange man die
beiden Umkehrschritte nicht bewußt macht und voneinander trennt7. Es
läuft nämlich darauf hinaus, immer zwei durchaus verschiedene Sachver-
haltselemente zugleich auf ihre Relevanz für die Strafbarkeit zu untersu-
chen, ein objektives und ein subjektives. Jedem Studenten würde man
ein solches Vorgehen bei einer Fallprüfung streng verwehren. Daß dies
nicht zu heilloser Verwirrung führt, liegt daran, daß das an sich nicht
interessierende objektive Element sich entweder als nicht strafbarkeits-
entscheidend herausstellt, so bei den Tatsachenirrtümern, oder daß es im
entgegengesetzten Sinne relevant ist wie das mit ihm gemeinsam unter-
suchte subjektive Element, so bei den Rechtsirrtümern. Aber dies ist
reine Glückssache; hätten wir ζ. B. keine Versuchsstrafbarkeit, so würde
der Umkehrschluß so, wie er praktiziert wird, die Irrelevanz des Tatbe-
standsirrtums ergeben.
Wir werden deshalb im folgenden zunächst auf eine Umkehrung der
dem Irrtum korrespondierenden objektiven Tatsachen verzichten und
deshalb von umgekehrten Vorstellungen statt von umgekehrten Irrtü-
mern sprechen. Es wird sich allerdings bei einer bestimmten Art der
Anwendung des Umkehrschlusses als vorteilhaft erweisen, auch die
korrespondierenden objektiven Bedingungen „umzukehren". Dann
7 Auf diese doppelte Umkehrung und auf die Schwierigkeit ihrer Handhabung sowie
auf die daraus resultierende Gefahr der Irreführung durch falsche Anwendung eines
vermeintlichen Umkehrschlusses hat Herzberg, JuS 1980, 469 (479), bereits hingewiesen.
Vgl. dazu auch Spendet, ZStW 1957 (69. Bd.), 441 (458), der hierin bereits einen irrepara-
blen Fehler des Umkehrprinzips sieht.
Die logische Tragweite des sog. Umkehrschlusses 205
werden wir dies aber in einem besonderen Schritt tun und uns über
dessen Gründe und Auswirkungen Rechenschaft geben.
Was bedeuten nun die Ausdrücke „belasten" und „entlasten" in
unseren vier Umkehrsätzen? Beide beziehen sich zunächst auf die Straf-
barkeit eines Täters wegen eines bestimmten Sachverhalts (Tat) nach
einem bestimmten Straftatbestand. Daß ein Irrtum, genauer eine
bestimmte Vorstellung oder das Fehlen einer bestimmten Vorstellung,
den Täter entlastet, bedeutet also, daß dieser subjektive Tatumstand
seiner Strafbarkeit wegen einer bestimmten Tat nach einem bestimmten
Tatbestand entgegensteht. Er ist also hinreichende Bedingung für die
Negation dieser Strafbarkeit. Nehmen wir für die Strafbarkeit eines
Täters nach einem bestimmten Tatbestand die Abkürzung St$, für eine
Vorstellung des Täters oder das Fehlen einer solchen die Abkürzung S U
(subjektiver Umstand) und für den auf Strafbarkeit geprüften Sachver-
halt die Abkürzung t (Tat), so können wir den Satz, „ein Irrtum entlastet
den Täter" wie folgt schematisch darstellen:
A ( t ) (SU [ t ] - > - S t $ [ t ] ) .
Für alle Taten gilt: Immer wenn der subjektive Umstand gegeben ist,
ist die Tat nicht strafbar nach § . . .
Die Schemata würden optisch deutlicher, wenn wir uns darauf festle-
gen könnten, daß „ S U " eine positive Vorstellung ist und das Fehlen
einer solchen immer als „— S U " ausdrücken würden. Aber darauf dürfen
wir uns gerade nicht festlegen, wenn unsere Formeln allgemeingültig
bleiben sollen. Denn wir haben gesehen, daß als entlastend mal das
Fehlen einer Vorstellung, so beim Tatbestandsirrtum, und mal eine
positive Vorstellung, so beim Erlaubnistatbestandsirrtum, erscheint.
„ S U " kann also auch für das Fehlen einer Vorstellung stehen und
demgemäß „ — S U " für die Verneinung des Fehlens einer Vorstellung,
also für eine positive Vorstellung. Logisch macht es keinen Unterschied,
ob wir für eine Variable in einer Formel einen Ausdruck mit einer
Negation einsetzen oder ohne Negation, wir müssen nur darauf achten,
für die gleiche Variable immer denselben Ausdruck einzusetzen.
Was bedeutet es nun, daß ein subjektiver Tatumstand den Täter
belastet? Daß dieser Umstand hinreichende Bedingung der Strafbarkeit
sein soll, wäre zuviel verlangt, denn wir befassen uns immer nur mit
einer von vielen Voraussetzungen der Strafbarkeit nach einem bestimm-
ten Tatbestand. Also kann nur eine notwendige Bedingung der Strafbar-
keit gemeint sein. Wir können also den Satz „ein subjektiver Umstand
belastet den Täter" wie folgt schematsich darstellen:
206 Ingeborg Puppe
Für alle Taten gilt: Nur wenn der subjektive Umstand gegeben ist, ist
die Tat strafbar nach § . . .
8 Vgl. z.B.: Carnap, Abriß der Logistik mit besonderer Berücksichtigung der Rela-
- ( S U [t]-> -St$[t])
Der subjektive Umstand ist nicht gegeben und die Tat ist nicht strafbar.
Der Ausdruck „der Umstand entlastet nicht" soll aber weder das eine
noch das andere besagen, er negiert lediglich, daß diese Möglichkeit
ausgeschlossen sei. Für eine Negation einer bestimmten Abhängigkeit
von Aussagen kennt aber der aussagenlogische Kalkül kein Zeichen und
auch nicht für die Negation jeder Abhängigkeit zweier Aussagen, also
für das, was in der juristischen Sprache als Unbeachtlichkeit oder
Unerheblichkeit bezeichnet wird. Es besteht im logischen Kalkül kein
Bedürfnis nach einem solchen Wahrheitsfunktor, weil aus einer Satzver-
knüpfung, in der er verwendet würde, nichts abzuleiten ist. Entdeckt ein
Logiker, daß eine logische Verknüpfung von Aussagen, vielleicht wider
Erwarten, nicht gilt, so wird er sie aus seinen weiteren Überlegungen
streichen ohne ein Bedürfnis zu haben, sie zuvor noch in logischen
Zeichen auszudrücken.
Wir wollen dies trotzdem versuchen, weil wir uns der logischen
Zeichensprache nicht in erster Linie dazu bedienen, Operationen in ihr
durchzuführen, sondern zunächst, den Sinn unserer alltagssprachlichen
Ausdrucksweise möglichst genau zu ermitteln. Die Aussagenlogik hilft
uns, wie wir gesehen haben, dabei nicht weiter, wohl aber die Prädika-
tenlogik. Deswegen haben wir uns ihrer schon bei der Übersetzung der
beiden ersten Ausdrücke bedient. Deren Negation im Prädikatenkalkül
sieht so aus:
Nicht für alle Taten gilt: N u r wenn der subjektive Umstand gegeben ist,
ist die Tat strafbar nach § . . .
Nicht für alle Taten gilt: Immer wenn der subjektive Umstand gegeben
ist, ist die Tat nicht strafbar nach § . . .
Umkehrsatz III: Wenn ein Irrtum den Täter nicht entlastet, bela-
stet ihn der umgekehrte nicht
- Λ (t) (SU [t] - » - Stj [t]) - > - λ (t) ( - SU [t] - Stj[t]).
Gilt nicht für alle Taten, daß der subjektive Umstand hinreichende
Bedingung der Straffreiheit ist (der Umstand ist nicht strafbarkeitsaus-
schließend), so gilt nicht für alle Taten, daß die Negation des Umstandes
notwendige Bedingung der Strafbarkeit ist (die Negation des Umstandes
ist nicht strafbarkeitsbegründend).
Umkehrsatz IV: Wenn ein Irrtum den Täter nicht belastet, entla-
stet ihn der umgekehrte nicht
- Λ (t) (SU [t] St § [t]) - > - a (t) ( - SU [t] - Stj [t]).
Gilt nicht für alle Taten, daß ein subjektiver Umstand notwendige
Bedingung der Strafbarkeit ist (der Umstand ist nicht strafbarkeitsbe-
gründend), so gilt nicht für alle Taten, daß die Negation des Umstandes
hinreichende Bedingung der Straffreiheit ist (die Negation des Umstan-
des ist nicht strafbarkeitsausschließend).
als logisch gültigem Verfahren läßt sich also niemals ableiten, daß ein
Verhalten strafbar ist. Andererseits läßt sich der Umkehrschluß als
logisches Verfahren nicht dadurch diskreditieren, daß man eine inakzep-
table Strafbarkeit aus ihm abzuleiten versucht. Nach dem Umkehrschluß
folgt also ζ. B. nicht die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs aus § 16
und aus der eingeschränkten Schuldtheorie nicht die Strafbarkeit der
objektiv rechtmäßigen Tat bei umgekehrtem Erlaubnistatbestands-
irrtum.
Trotzdem hat man immer wieder solche Folgerungen aus dem
„Umkehrschluß" gezogen 11 . Dabei mag ein Mangel an Unterscheidung
zwischen notwendigen und hinreichenden Bedingungen eine Rolle
gespielt haben, aber diese Erscheinung ist kaum allein mit diesem
eigentlich simplen logischen Fehler zu erklären. Es scheint vielmehr, daß
ihr noch ein anderer Gedanke zugrundeliegt. Wie gesagt, beschränkt
man sich bei der Anwendung des „Umkehrschlusses" nicht auf die
Richtigstellung oder Ergänzung der Tätervorstellung, man paßt viel-
mehr gleichzeitig die Wirklichkeit der ursprünglichen Vorstellung des
Täters fiktiv an. Dabei macht man sich auch keine genauen Vorstellun-
gen davon, ob der relevante Irrtum in einer positiven Vorstellung oder
nur in einer ignorantia (facti oder juris) besteht, sondern transponiert
einfach eine positive falsche Vorstellung des Täters ins Objektive. Bei
diesem Verfahren, wir nennen es im Gegensatz zu der bisher untersuch-
ten einfachen die doppelte Umkehrung, tritt nun eine auffällige Symme-
trie zutage: Ist ein Inhalt im subjektiven Bereich notwendige Bedingung
der Strafbarkeit, d. h. ist die Vorstellung dieses Inhalts strafbarkeitsbe-
gründend, so ist der entsprechende objektive Inhalt, also die Wahrheit
jener Vorstellung, nicht notwendig. Ist eine Bedingung objektiv not-
wendig, so ist es die Vorstellung von ihr nicht. Das Erstere wird für
tatsächliche, das Letztere für rechtliche Inhalte angenommen. Folgende
Tabelle verdeutlicht die Symmetrie:
damit nur negative Ergebnisse, indem er zeigt, daß sich bestimmte aus dem Umkehrschluß
von Rechtsprechung und Lehre abgeleitete Ergebnisse nicht auf diesen „trivialen Kern"
zurückführen lassen. Dabei schießt Herzberg schon deshalb über das Ziel einer Zuriick-
führung des Umkehrprinzips auf seinen logischen Gehalt hinaus, als er es nur auf den
Vorsatz, nicht aber auf andere Strafbarkeitsvoraussetzungen und nicht auf die Ablehnung
einer Strafbarkeitsvoraussetzung ( z . B . Subsumtionsirrtum, Unrechtsbewußtsein) für
anwendbar zu halten scheint (S. 4 8 0 ) ; vgl. dazu auch Fn. 36.
" RGSt. 42, 92 (94); 72, 109 (112); Wegner, Strafrecht A T , 1951, S . 2 2 0 f ; Bruns, Der
untaugliche Täter im Strafrecht, 1955, S. 10 ff (14 f).
212 Ingeborg Puppe
objektiv subjektiv
Wertung als
rechtswidrig notwendig nicht notwendig
Wertung normativer
TB-Merkmale nicht notwendig notwendig
Wertung allgemeiner
Verbrechensmerkmale notwendig nicht notwendig
12 Im Inhalt, wenn auch nicht in der Darstellungsweise ähnliche Tabellen stellt Haft,
JuS 1980, 430 (434 f), auf. Auch er sagt zunächst von solch einer Tabelle „sie beweist
nichts", fährt dann aber fort „sie bietet eine systematisierte, abgekürzte Erklärung, die ihre
Richtigkeit unter Beweis stellt, indem sie jeden vorkommenden Fall berücksichtigt und die
den gesetzlichen Regelungen zugrundeliegenden inneren Gesetzmäßigkeiten aufdeckt"
(S.435, Hervorhebung nicht original). Also beweist die Tabelle doch etwas und zwar
zunächst durch ihre Vollständigkeit? Welcher Art sind die inneren Gesetzmäßigkeiten, die
sie aufdeckt und wie lassen sie sich als Gesetzmäßigkeiten formulieren? Warum liegen sie
den gesetzlichen Regelungen zugrunde, aus irgendeiner „inneren" Notwendigkeit, oder
nur dank des zufälligen Zusammentreffens voneinander unabhängiger Problementschei-
dungen des Gesetzgebers oder der Rechtsprechung? Nur im ersteren Fall könnte man mit
Recht von „inneren Gesetzmäßigkeiten" sprechen, aber da auch Haft ihre logische
Ableitung ablehnt, bleibt ihre Begründung bei ihm völlig unklar.
Die logische Tragweite des sog. Umkehrschlusses 213
§16 mit einer objektiven Versuchslehre oder die Straffreiheit bei Erlaub-
nistatbestandsirrtum mit einer rein objektiven Rechtfertigung zu kombi-
nieren.
Mit logischen Mitteln läßt sich das eben dargestellte Symmetriepostu-
lat auch nicht beweisen, denn es beruht auf einer inhaltlichen, nicht
logischen Verknüpfung objektiver und subjektiver Verbrechensele-
mente. Es ist vielleicht ein Postulat der Gerechtigkeit. Aber bis auf
weiteres können wir ihm nur einen ästhetischen Reiz und der durch
dieses Prinzip darstellbaren h. L. nur eine didaktische Qualität zuerken-
nen. Wer dieses Symmetriepostulat vom oben analysierten Umkehr-
schluß nicht trennt, läuft Gefahr, einen von zwei Fehlern zu begehen:
das Symmetriepostulat und die h. L. für aus dem Gesetz logisch ableit-
bar zu halten oder den Umkehrschluß als bloße schöne Merkregel
mißzuverstehen.
Nachdem wir jene Symmetrie aber in der h. L. vorfinden und diese
h. L. als im Ergebnis richtig anerkennen oder sie auch nur für bestimmte
Zwecke probeweise als richtig unterstellen können, hindert uns nichts,
uns diese Symmetrie zunutze zu machen, um im Zweifelsfall die Klassi-
fikation eines Irrtums als Irrtum über Tatsachen, als Subsumtionsirrtum
oder als Verbotsirrtum zu überprüfen. Eben dazu wird auch der
Umkehrschluß in der Praxis meistens gebraucht. Haben wir im Aus-
gangsfall einen Irrtum klassifiziert, so zeigt uns der Umkehrschluß, wie
wir einen anderen Fall notwendig entscheiden müssen, wenn unsere
Klassifikation richtig ist. Wir nennen dies eine Umkehrprobe. Jene
Symmetrie verhilft uns nun, wenn wir sie als auch nur zufälligerweise
richtig unterstellen, zu einem zweiten, vom Ausgangsfall weiter entfern-
ten Hilfsfall. Wir nennen das die doppelte Umkehrprobe. Sie ist, da
nicht auf rein logischer Basis funktionierend, weniger zuverlässig als die
einfache. Bei den einzelnen Anwendungen werden wir sehen, wegen
welcher Vorteile sie trotzdem neben der einfachen zur Uberprüfung der
Klassifikation eines Irrtums nützlich ist.
Nachdem wir uns aber mit der doppelten Umkehrprobe vom reinen
Umkehrschluß entfernen, gilt es, sorgfältig zwischen zwei Anwendun-
gen des Umkehrschlusses zu unterscheiden, die bisher oft nicht klar
genug getrennt werden: der einfachen und doppelten Umkehrprobe zur
Uberprüfung der Einordnung eines einzelnen Irrtums in die vorgegebe-
nen Kategorien der Irrtumslehre einerseits und der Ableitung allgemei-
ner Sätze aus allgemeinen Sätzen in der Irrtumslehre anhand des
Umkehrschlusses. Bei letzterer muß der Umkehrschluß rein angewandt
werden, wenn die Ableitung den Anspruch erheben soll, logisch zwin-
gend zu sein. Deshalb hat hier der Symmetriegedanke nichts zu suchen.
Wir wenden uns zunächst der zweiten Anwendung des Umkehr-
schlusses zu und versuchen, eine Tafel allgemeiner Anwendungen unse-
Ingeborg Puppe
Tabelle
Umkehrsatz I Umkehrsatz II
(1) W
Schließt das Fehlen einer Vorstellung über Ist die Vorstellung von Tatsachen, die ein
Tatsachen, die ein Tatbestandsmerkmal er- Tatbestandsmerkmal erfüllen, notwendige
füllen, die Strafbarkeit aus, so ist die Vor- Bedingung der Strafbarkeit, so schließt ihr
stellung notwendige Bedingung der Straf- Fehlen Strafbarkeit aus.
barkeit (ermöglicht, begründet Strafbar-
keit).
(2)
Schließt das Fehlen einer Parallelwertung Ist eine Parallelwertung notwendige Bedin-
die Strafbarkeit aus, so ist die Wertung gung der Strafbarkeit, so schließt ihr Feh-
notwendige Bedingung der Strafbarkeit (er- len Strafbarkeit aus.
möglicht, begründet Strafbarkeit).
(3)
Schließt die Vorstellung von rechtfertigen- Ist das Fehlen einer Vorstellung über recht-
den Tatsachen die Strafbarkeit aus, so ist fertigende Tatsachen notwendige Bedin-
ihr Fehlen notwendige Bedingung der gung der Strafbarkeit, so schließt die Vor-
Strafbarkeit (ermöglicht, begründet Straf- stellung Strafbarkeit aus.
barkeit).
(4) (4)
Schließt das Fehlen des Unrechtsbewußt- Ist das Unrechtsbewußtsein notwendige
seins die Strafbarkeit aus, so ist das Un- Bedingung der Strafbarkeit, so schließt sein
rechtsbewußtsein notwendige Bedingung Fehlen Strafbarkeit aus.
der Strafbarkeit (ermöglicht, begründet
Strafbarkeit).
Die logische Tragweite des sog. Umkehrschlusses 215
W (1)
Schließt das Fehlen der Subsumtion einer Ist die Subsumtion einer Tatsache unter ein
Tatsache unter ein Tatbestandsmerkmal die Tatbestandsmerkmal nicht notwendige Be-
Strafbarkeit nicht aus, so ist die Subsum- dingung der Strafbarkeit, so schließt ihr
tion nicht notwendige Bedingung der Straf- Fehlen Strafbarkeit nicht aus.
barkeit.
Schließt das Fehlen einer Parallelwertung Ist eine Parallelwertung nicht notwendige
Strafbarkeit nicht aus, so ist die Wertung Bedingung der Strafbarkeit, so schließt ihr
nicht notwendige Bedingung der Strafbar- Fehlen Strafbarkeit nicht aus.
keit.
<3) (3)
Ist das Fehlen einer Vorstellung über recht-
Schließt die Vorstellung von rechtfertigen-
fertigende Tatsachen nicht notwendige Be-
den Tatsachen die Strafbarkeit nicht aus, so
dingung der Strafbarkeit, so schließt die
ist ihr Fehlen nicht notwendige Bedingung
Vorstellung Strafbarkeit nicht aus.
der Strafbarkeit.
(4)
Schließt das Fehlen des Unrechtsbewußt-
<4)
Ist das Unrechtsbewußtsein nicht notwen-
seins die Strafbarkeit nicht aus, so ist das
dige Bedingung der Strafbarkeit, so schließt
Unrechtsbewußtsein nicht notwendige Be-
sein Fehlen Strafbarkeit nicht aus.
dingung der Strafbarkeit.
" Vgl. zunächst Fn. 11, sowie: BGHSt. 14, 345 (350); 15, 210 (213); 16, 155 (159f).
216 Ingeborg Puppe
14 Vgl.: Welzel, J Z 1952, 19f u. 208f; Armin Kaufmann, Lebendiges und Totes in
Bindings Normentheorie, 1954, S.257f, 286; ders., Rechtspflichtbegründung und Tatbe-
standseinschränkung, FS-Klug, Bd. II, 1983, S. 277 ff; Jakobs, AT, 1983, 25/43 ff; im
Ergebnis auch Foth, J R 1965, 366 (371).
15
Schmidthäuser, AT, 15/25.
Die logische Tragweite des sog. Umkehrschlusses 217
14
Vgl. o. S. 10, Fn. 13.
17
Vgl. o. S. 3 f.
218 Ingeborg Puppe
Wir müssen aber die Prämissen dieser zweiten Umkehrprobe noch auf
ihre Allgemeingültigkeit hin überprüfen. Eine Prämisse ist, wie schon
gesagt, die, daß ein Tatbestandsirrtum stets ein objektives Tatbestands-
merkmal betrifft. Diese Prämisse ist nicht allgemeingültig, sie gilt nicht
für sog. überschießende Innentendenzen und nicht für Unternehmens-
delikte. Diese Fehlerquelle ist zwar leicht zu kontrollieren, weil es nicht
schwer ist, diese Arten von Delikten zu erkennen. Bei ihnen ergibt
jedoch die doppelte Umkehrprobe wie die einfache die Strafbarkeit
wegen Vollendung. Daß es auch bei diesen Tatbeständen sinnvoll ist, sie
anzuwenden, wird die Analyse der Gegenprobe nach Anwendung 1 von
Umkehrsatz III zeigen.
Die Überzeugungskraft der zweiten Umkehrprobe beruht aber noch
auf einer zweiten Annahme: Bei fiktiver Anpassung der Wirklichkeit an
die ursprüngliche Tätervorstellung wird eine Strafbarkeit (mindestens)
wegen Versuchs nicht nur als möglich, sondern als notwendig erwartet.
Hier liegt, wie schon gezeigt, ein Fehler, der sich bei Tatbeständen
auswirkt, deren Versuch nicht strafbar ist, sowie bei Anerkennung der
Lehre von den Rechtspflichtmerkmalen oder eines durch objektive
Gefährlichkeitserfordernisse eingeschränkten Versuchsbegriffs. Auch
durch doppelte Umkehrung kann die Möglichkeit von Strafbarkeit, die
sich aus Anwendung 1 von Umkehrsatz I ergibt, nicht zur Notwendig-
keit verstärkt werden. Wer dies vernachlässigt, kann bei der Anwendung
der Umkehrprobe irregeführt werden, weil er aus dem - wie auch immer
begründeten - Ergebnis der Straflosigkeit des umgekehrten Falles fol-
gern würde, daß im Ausgangsfall kein strafbarkeitsausschließender Irr-
tum, insbesondere also kein Tatbestandsirrtum vorgelegen haben könne.
Man kann allerdings durch weitere Prämissen erreichen, daß der nach
der doppelten Umkehrung vorhandene Sachverhalt eine zureichende
Bedingung des Versuchs und der Strafbarkeit wegen Versuchs darstellt.
Dazu muß man zunächst die Strafbarkeit des Versuchs bei allen Tatbe-
ständen fingieren oder aber als Implikat der beiden Bedingungssätze in
Anwendung 1 von Umkehrsatz I statt der Rechtsfolge Strafbarkeit die
Erfüllung der begrifflichen Voraussetzungen des Versuchs einsetzen.
Weiter muß man die subjektive Versuchsbestimmung voraussetzen
(deren einziges objektives Element, die Ausführungshandlung, bleibt ja
erhalten). Die Lehre von den Rechtspflichtmerkmalen muß abgelehnt
oder für die Rechtspflichtdelikte eine Ausnahme von der Umkehrregel
gemacht werden, schließlich muß noch angenommen werden, daß der
Täter, was er im „umgekehrten Fall" weiß, auch i. S. des Vorsatzes will.
Nun ist der umgekehrte Fall eine nicht nur notwendige, sondern auch
hinreichende Bedingung des Versuchs bzw. der Versuchsstrafbarkeit,
wenn im Ausgangsfall abgesehen von dem geprüften Vorstellungsinhalt
kein Strafbarkeitserfordernis gefehlt hat.
Die logische Tragweite des sog. Umkehrschlusses 219
Es zeigt sich also, daß auf dem Boden der herrschenden Versuchslehre
jene Symmetrie zwischen Tatbestandsirrtum und Versuch tatsächlich
entsteht, die die doppelte Umkehrprobe so eindrucksvoll macht. Aber
sie ist mehr ein Produkt des zufälligen Zusammenpassens der Prämissen
der h. L. über die Relevanz des Inhalts eines Tatbestandsirrtums als das
Resultat eines Schlusses aus § 16. Das braucht uns allerdings nicht zu
hindern, uns auch diese Symmetrie bei der Überprüfung der Klassifika-
tion eines Irrtums als Tatbestandsirrtum zunutze zu machen, indem wir
dieser Prüfung die h. L. zum Versuchsbegriff zugrundelegen und nun
die doppelte Umkehrprobe anwenden. Der Vorteil besteht darin, daß
die doppelte Umkehrung eines Tatbestandsirrtums eine Rechtsfolge
definitiv ergibt, die nur möglich ist, wenn es sich im Ausgangsfall um
einen Tatbestandsirrtum gehandelt hat: Die Strafbarkeit wegen Versuchs
nach h. L. in unmittelbarer Anwendung der §§ 22 f.
Anhand der Anwendung 1 von Umkehrsatz III kann man die Klassifi-
kation eines Vorstellungsmangels als unbeachtlicher Subsumtionsirrtum
dadurch überprüfen, daß man die fehlende Vorstellung hinzudenkt und
fragt, ob man sie zur Begründung der Strafbarkeit benötigt, ob also der
Richter diese Vorstellung in den Urteilsgründen feststellen und ob er im
Zweifelsfall Beweis über sie erheben müßte. Wird diese Frage verneint,
so ist damit die Klassifikation auch des Vorstellungsmankos als unbe-
achtlicher Subsumtionsirrtum bestätigt.
Nun ist auch diese einfache Umkehrprobe nicht sehr aussagekräftig,
denn mit der Klassifikation eines Vorstellungsmankos als unbeachtlich
ist schon offensichtlich, daß die Vorstellung zur Begründung der Straf-
barkeit nicht benötigt würde, wenn sie gegeben wäre.
Ähnlich wie bei Umkehrsatz I macht man die Probe dadurch ein-
drucksvoller, daß man sie mit einer zweiten Umkehrung im objektiven
Bereich kombiniert. Gleichzeitig mit der Fiktion der fehlenden Subsum-
tionsvorstellung paßt man die objektive Lage der ursprünglichen Vor-
stellung des Täters an. Handelt es sich wirklich um einen Subsumtionsirr-
tum, so läuft das auf die Fiktion eines anderen und zwar engeren Um-
fangs der Strafnorm hinaus, unter den das Täterverhalten nicht mehr fällt.
Daraus ergibt sich dann die Straflosigkeit des Täters aus objektiven, näm-
lich rechtlichen Gründen unabhängig von seiner Subsumtionsvorstellung.
Dabei wird ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen dem Subsum-
tionsirrtum und den objektiven Voraussetzungen der Strafbarkeit ausge-
nutzt: Der Irrtum betrifft eine objektiv notwendige Bedingung der
Strafbarkeit, nämlich die Geltung einer Strafandrohungsnorm, deren
Tatbestand der Täter erfüllt hat. Da diese notwendige Bedingung der
Strafbarkeit in jeder Rechtsordnung gilt (übrigens auch dann, wenn sie
ungeschriebene Strafnormen anerkennt), schadet es nichts, daß wir bei
der zweiten Umkehrprobe die Strafbarkeit des Täters nach einer fiktiven
Rechtsordnung prüfen. Voraussetzen müssen wir allerdings, daß auch in
dieser fiktiven Rechtsordnung das Rückwirkungsverbot für Straftatbe-
stände gilt, sich also maßgebliche Norminhalte zwischen Tat (Zeit der zu
prüfenden Tätervorstellung) und Feststellung der Strafbarkeit nicht
ändern können.
Jetzt stellt sich allerdings noch die Frage, welchen Inhalt die fingierte
Strafnorm eigentlich haben soll. Der Subsumtionsirrtum ist ja nicht eine
positive Vorstellung, sondern maßgeblich nur das Manko der richtigen
Subsumtionsvorstellung. Aber wir wollen uns ja erst vergewissern, daß
es sich überhaupt um einen Subsumtionsirrtum handelt, daß also die
Tätervorstellung gerade dieses Manko aufweist. Liegt es offen zutage,
weil der Täter sich überhaupt keine Gedanken über die strafrechtliche
Bedeutung seines Verhaltens macht oder sich seine Vorstellung in der
unbegründeten Ablehnung der Subsumtion erschöpft, so liegt ein so
224 Ingeborg Puppe
Hier nun zeigt sich ein weiterer und entscheidender Vorteil der
doppelten Umkehrprobe gegenüber der einfachen bei Anwendung der
Umkehrsätze I und III: Bei der einfachen Umkehrprobe ist die Rechts-
folge nach Satz I und III immer die Strafbarkeit; der Unterschied
zwischen Tatbestands- und Subsumtionsirrtum zeigt sich nur darin, daß
beim ersteren die umgekehrte Vorstellung zur Begründung dieser Straf-
barkeit benötigt wird, beim letzteren nicht. Die doppelte Umkehrprobe
dagegen führt nur beim Tatbestandsirrtum zur Strafbarkeit, beim Sub-
sumtionsirrtum zu deren Ausschluß. Entsprechendes gilt für die
Anwendungen von Umkehrsatz I und III auf andere Irrtumspaare. Dies
dürfte letztlich der Grund dafür sein, daß die Umkehrprobe in Praxis
und Wissenschaft ausschließlich in der doppelten Form angewandt wird.
Man muß sich aber darüber klar sein, daß man diesen Vorteil mit der
Allgemeingültigkeit und dogmatischen Reinheit der Umkehrprobe als
logisches Derivat der Irrtumslehre bezahlen muß und daß man sie
deshalb niemals zur Ableitung oder Begründung allgemeiner Rechts-
sätze allein aus Prämissen der Irrtumslehre verwenden darf.
schon aus anderen Gründen fest, weil das Verhalten des Täters i. V. mit
seinen unverändert gebliebenen Vorstellungen eben nicht unter den
Straftatbestand fällt. Schon bei der einfachen Umkehrprobe nach Satz II
und IV tritt also ein Unterschied zwischen umgekehrtem Tatbestandsirr-
tum und umgekehrtem Subsumtionsirrtum zutage, aber der ist nicht
besonders eindrucksvoll.
Bei der doppelten Umkehrprobe wird die Wirklichkeit der ursprüng-
lichen Vorstellung des Täters angeglichen, was bei Richtigkeit der
Irrtumsklassifikation als umgekehrter Subsumtionsirrtum auf die Fik-
tion eines Straftatbestandes hinausläuft, den das Verhalten des Täters
erfüllt. Auch hierbei ist die Eigenschaft des umgekehrten Subsumtions-
irrtums entscheidend, eine objektiv notwendige Voraussetzung der
Strafbarkeit zum Inhalt zu haben. Diese wird durch die fiktive Anglei-
chung der Wirklichkeit an die Tätervorstellung sichergestellt. Sollte es
sich im Ausgangsfall um einen umgekehrten Tatbestandsirrtum gehan-
delt haben, so ist das zwar nicht nötig, weil die Strafbarkeitserforder-
nisse schon im Ausgangsfall gegeben waren, die zweite Umkehrprobe
ändert aber für diesen Fall auch nichts daran, sondern bewirkt nur
Vollendung statt Versuch.
Jetzt, nachdem zwischen beiden Möglichkeiten durch die zweite
Umkehrung insofern Gleichheit hergestellt ist, als bis auf die problema-
tische Vorstellung alle Voraussetzungen der Strafbarkeit erfüllt sind,
kann sich der Unterschied zwischen dem fiktiven Tatbestandsirrtum und
dem fiktiven Subsumtionsirrtum auf die Rechtsfolge auswirken. Kommt
man nun immer noch zur Straflosigkeit, so muß es sich ursprünglich um
einen umgekehrten Tatbestandsirrtum gehandelt haben. War es dagegen
wirklich ein umgekehrter Subsumtionsirrtum, dann kann seine Umkeh-
rung zum Subsumtionsirrtum an der Strafbarkeit nichts ändern, die dann
durch die fiktive Anpassung der Wirklichkeit an die ursprüngliche
Tätervorstellung begründet worden ist.
Die Kreuzprobe würde allerdings irreführen, wenn die Strafbarkeit im
ursprünglichen wie im fiktiven Fall am Fehlen anderer Verbrechensele-
mente wie Ausführungshandlung, Rechtswidrigkeit oder Schuld schei-
tern müßte. Dann ergäbe die Probe scheinbar einen umgekehrten Tatbe-
standsirrtum. Diese Fehlerquelle läßt sich aber dadurch kontrollieren,
daß man nun die Strafbarkeit unter der Prämisse eines umgekehrten
Tatbestandsirrtums nochmals überprüft. Dann werden sich die wirkli-
chen, außerhalb der bisher untersuchten Tätervorstellung liegenden
Entlastungsgründe herausstellen. Zu diesen würden auch etwa aufge-
stellte objektive Versuchserfordernisse gehören, wie Gefährlichkeitser-
fordernisse oder Rechtspflichtmerkmale.
Es zeigt sich also, daß wir bei der Kreuzprobe zwischen Umkehrsatz
II und IV auf die doppelte Umkehrung zwar verzichten können, daß sie
Die logische Tragweite des sog. Umkehrschlusses III
aber auch hier wesentlich signifikanter ist als die einfache. Das liegt
daran, daß bei der einfachen Umkehrprobe nach Satz II und IV die
gleiche Rechtsfolge nur mit verschiedener Begründung herauskommt.
Es empfiehlt sich also, in allen Irrtumsfällen auch die doppelte Umkehr-
probe anzuwenden. Erfordert die einfache Probe durch die Frage nach
der Notwendigkeit der fiktiven Bedingung immer schon eine Analyse
des Hilfsfalles, so kann bei der doppelten das spontane Urteil eingesetzt
werden, um die im Ausgangsfall noch zweifelhafte Irrtumsklassifikation
unmittelbar am Ergebnis des Hilfsfalles zu überprüfen.
delt hat, denn ein solcher betrifft nicht den Inhalt irgendeiner Strafnorm,
sondern gerade den derjenigen, die der Täter übertreten zu haben glaubt.
Stellen wir uns also die Frage, ob wir den Täter in unserem fiktiven
Hilfsfall wegen untauglichen Versuchs bestrafen würden. Im Hilfsfall
wollte der Täter durch seine Falschaussage den Freund einer drohenden
Strafe entziehen. Wenn das der Inhalt des Vorsatzes nach §258 ist, so
liegt damit ein untauglicher Versuch vor. Anderes gilt dann, wenn das
durch §258 geschützte Rechtsgut auch mitbestimmt wird von der Art
der Vortat und der Schutzrichtung des durch sie verletzten Tatbestan-
des. Dann würde dieser Tatbestand selbst jeweils Inhalt der vom Begün-
stiger verletzten Norm. Die Begünstigung wird jedoch als Verletzung
des Strafanspruchs des Staats schlechthin aufgefaßt. Es macht also für
den Unrechtsgehalt dieser Norm, im Gegensatz etwa zu dem der
Beihilfe, keinen Unterschied, ob der Begünstiger den Vortäter einer
Strafverfolgung wegen Betruges, Diebstahls oder Fahrerflucht entzieht.
Es ergibt sich also, daß der Grund der Strafverfolgung, die vereitelt
werden soll, nicht Bestandteil des Vorsatzes der Strafvereitelung ist. Zur
weiteren Illustration sei noch ein argumentum a maiore ad minus
angeführt: Wäre der Irrtum des Täters noch weiter gegangen, weil es
sich in Wirklichkeit nicht einmal um ein Ordnungswidrigkeitsverfahren,
sondern um ein kriminologisches Forschungsprojekt des promovieren-
den Polizisten gehandelt hätte, so hätten wir auch keine Bedenken, den
Täter wegen einer versuchten Begünstigung zur Verantwortung zu
ziehen21.
Die doppelte Umkehrprobe ergibt also, daß wir nicht Satz III,
sondern Satz I anwenden müssen. Da wir beim umgekehrten Irrtum zur
Strafbarkeit wegen Versuchs gekommen sind, handelt es sich beim
Ausgangsirrtum um einen Tatbestandsirrtum. Der Täter, der eine Straf-
tat des Vortäters irrtümlich für eine Ordnungswidrigkeit hielt, ist also
mangels Vorsatzes freizusprechen. Die Umkehrprobe hat uns gelehrt,
daß es Irrtümer gibt, die allein den Inhalt eines Strafgesetzes betreffen
und trotzdem Tatbestandsirrtümer und nicht Subsumtionsirrtümer im
technischen Sinne sind.
Als Beispiel zur praktischen Anwendung der Kreuzprobe nach
Umkehrsatz II und IV wählen wir ebenfalls einen Fall, der in der
Rechtsprechung verschieden behandelt worden ist22: die Fälschung von
Formularen, die ohne Ausfüllung zur Täuschung im Rechtsverkehr
verwendet werden sollen. Der B G H hatte zu entscheiden, ob ein Täter,
der ohne offiziellen Auftrag Formulare für sog. „ration-cards" gedruckt
21 Vgl. BGHSt. 15, 210 (212 f). Im Ergebnis anders neuerdings BayObLG, J Z 1981,
715 mit sehr knapper Begründung; dem zustimmend: Burkhardt, JZ 1981, 681.
22 Einerseits: BGHSt. 13, 235 (239ff); andererseits: BGHSt. 7, 53 (57f).
Die logische Tragweite des sog. Umkehrschlusses 229
23 Z . B . : Sch/Sch/Eser, §240 Rdn. 16; Hirsch, LK, 9. Aufl., 1974, Vor §51, Rdn. 15.
Die logische Tragweite des sog. Umkehrschlusses 231
(372); Stöger, Versuch des untauglichen Täters, 1961, S. 24 ff; mit Einschränkungen auch
Schlüchter, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht, 1983, S. 154 f.
232 Ingeborg Puppe
26 Jakobs, AT, 25/42; wohl auch Burkhardt, Wistra 1982, 178 (181) und Weber, MDR
1961, 426 f; vgl. auch BGHSt. 1, 13 (16 f).
27 So ausdrücklich z . B . : Wessels, BT I, 9. Aufl., 1985, S. 83f; Lackner, §240,
Anm. 6 b); Schäfer, LK, 9. Aufl., 1974, §240, Rdn.57. In diesem Sinne wird auch die
Entscheidung des Großen Senats, BGHSt. 2, 194ff interpretiert, vgl. Lackner, a . a . O .
2» Z . B . : Jescheck, AT, S.375; Wessels, AT, S . 1 2 6 Í ; jew. m . w . N .
2 ' Z . B . : Jescheck, S.373 m . w . N . in Fn.34.
Die logische Tragweite des sog. Umkehrschlusses 233
30
Binding, Strafrecht BT I, 2. Aufl., 1902, S.272.
234 Ingeborg Puppe
deshalb unerheblich sein, weil auch eine solche die Rechtswidrigkeit der
beabsichtigten Zueignung nicht ausschließt". Dann bleibt der Irrtum
über die Rechtswidrigkeit als solche. Der könnte deshalb keine entla-
stende Wirkung haben, weil dies ein allgemeines Verbrechensmerkmal
ist. Wir hätten es also mit der Anwendung 2 von Umkehrsatz III zu tun.
Wir gehen also davon aus, daß der Täter die Vorstellung von der
Rechtwidrigkeit seiner Wegnahme hatte und prüfen, ob sie ihn insofern
belastet, als wir seine Strafbarkeit (wegen Vollendung oder Versuch)
u.a. mit dieser Vorstellung begründen. Wie bei Anwendung 1 von
Umkehrsatz III vorgeführt, können wir die Umkehrprobe dadurch
eindrucksvoller machen, daß wir annehmen, die Wegnahme sei objektiv
nicht rechtswidrig gewesen. Kommt dann eine Strafbarkeit nach §242
aufgrund der Vorstellung des Täters, seine Zueignung sei rechtswidrig
gewesen, nicht in Betracht, so ist die Annahme der Irrelevanz auch des
Fehlens der Vorstellung bestätigt.
Nicht bestätigt ist damit aber ihre Begründung. Denn man könnte sie
etwa auch damit begründen, daß es sich um einen reinen Subsumtions-
irrtum handele. Dann brauchten wir die Anwendung 1 von Umkehrsatz
III, müßten aber wieder die Vorstellung von der Rechtswidrigkeit einer
objektiv rechtmäßigen Zueignung als Umkehrung einsetzen.
Dennoch vermag die Umkehrprobe zur Erhärtung auch der Begrün-
dung einer Entscheidung über die Relevanz einer Vorstellung etwas zu
leisten, wenn auch nicht durch ein logisches Verfahren. Indem sie uns zu
weiteren Fällen verhilft, die konsequenterweise anhand der gleichen
Klassifikationen und Begründungen zu entscheiden wären, verstärkt sie
deren induktive Basis.
33
Hirsch, JZ 1963, 149 (150ff, 152); Welzel, S.325.
236 Ingeborg Puppe
(wegen Versuchs oder Vollendung) ist. Versteht man die Lehre von den
subjektiven Rechtfertigungselementen i. S. dieser These, so folgt aus ihr
allerdings die Beachtlichkeit des Erlaubnistatbestandsirrtums und inso-
fern die eingeschränkte Schuldtheorie. Es ist also nicht damit getan,
zunächst von der strengen Schuldtheorie auszugehen und dann subjek-
tive Elemente als notwendige Voraussetzungen der Rechtfertigung ein-
zuführen. Man muß darüber hinaus vielmehr sicherstellen, daß gleich-
wohl ihr Fehlen nicht notwendige Bedingung der Strafbarkeit i. S. der
Prämisse unserer Anwendung 3 des Umkehrsatzes II ist. Das kann man
dadurch erreichen, daß man die notwendige Bedingung der Strafbarkeit
als Disjunktion formuliert. Sie lautet dann: Die rechtfertigenden Tatsa-
chen sind entweder objektiv oder nach der Vorstellung des Täters nicht
gegeben. Wendet man unseren Umkehrsatz II auf diese Prämisse an, so
ergibt sich, daß die Strafbarkeit nur dann ausgeschlossen ist, wenn die
Rechtfertigungstatsachen sowohl objektiv als auch in der Vorstellung
des Täters gegeben sind. Genau das ist der Inhalt der strengen Schuld-
theorie.
Es hat sich also gezeigt, daß es eine Uberschätzung der Leistungsfä-
higkeit des Umkehrschlusses ist, mit ihm die Unvereinbarkeit der Lehre
von den subjektiven Rechtfertigungselementen mit der strengen Schuld-
theorie ein für alle mal logisch zwingend dartun zu wollen. Man kann
aber mit Hilfe des Umkehrschlusses zeigen, daß diese Theorien nur mit
Hilfe der vorgeführten disjunktiven Strafbarkeitsbedingung miteinander
zu vereinbaren sind. Damit ist aber auch die eigentliche Schwäche dieser
Kombination von Thesen zur Rechtfertigung offengelegt: Eine disjunk-
tive Bedingung der Strafbarkeit, in der ein subjektives Moment durch ein
objektives ersetzt werden kann oder umgekehrt. Daß eine notwendige
Bedingung der Strafbarkeit dergestalt zwischen objektiver und subjekti-
ver Tatseite alterniert, würde unsere sonst übliche Trennung zwischen
subjektiven und objektiven Verbrechenselementen durchbrechen. Auch
ist nicht ersichtlich, wie ein materieller Begriff von Tatbestandsmäßig-
keit, Rechtswidrigkeit oder Schuld aussehen könnte, der ein solches
zwischen subjektiv und objektiv changierendes Zwittermerkmal aufneh-
men könnte. In der üblichen Ausdrucksweise, in der die Voraussetzun-
gen der Rechtfertigung und nicht die der Strafbarkeit dargestellt werden,
wird aus der Disjunktion eine Konjunktion, und da Konjunktionen von
subjektiven und objektiven Elementen im Verbrechensaufbau normal
sind, tritt das Ungewöhnliche und inhaltlich Befremdliche dieser Bedin-
gungskombination nicht zu Tage.
Die logische Struktur, die die Analyse der Meinung Welzels anhand
des Umkehrschlusses aufgedeckt hat, ist genau die gleiche wie die des
Vorschlags von Engisch'7, das Umkehrprinzip bei seiner Anwendung auf
"S.o.S. 13 f.
238 Ingeborg Puppe
ten Schuldtheorie kann sie durchgeführt werden und zwar anhand der
Anwendungen Ziffer 3 der Umkehrsätze I und II für den Erlaubnisttat-
bestandsirrtum und der Anwendungen Kennziffer 4 der Umkehrsätze
III und IV auf den Erlaubnisirrtum. Daraus ergibt sich kein Argument
für die eingeschränkte Schuldtheorie. Das Umkehrprinzip wird zwar
vielfach dazu angewandt, um die schwierige Klassifikation eines Irrtums
als Irrtum über Tatsachen oder Irrtum über strafrechtliche Norminhalte
zu überprüfen und zu sichern; dabei hat es sich als nützlich erwiesen,
daß diese beiden Arten von Irrtümern nach der h. L. meistens gegensätz-
lich behandelt werden. Das ist aber zunächst nichts als ein Zufall, der
uns bei der Anwendung der Umkehrprobe zugute gekommen ist, es läßt
sich aber nicht umgekehrt aus der Umkehrprobe die Forderung ableiten,
Tatsachenirrtümer und Normirrtümer immer gegensätzlich zu behan-
deln.
Eine ganz andere Frage ist, ob sich nicht aus unserer Ubersicht der
Irrtümer insgesamt ein Argument für die eingeschränkte Schuldtheorie
ergibt, nämlich das, daß der Erlaubnistatbestandsirrtum als Irrtum über
Tatsachen Ähnlichkeit mit dem Tatbestandsirrtum und der Verbotsirr-
tum als Irrtum über den Norminhalt Ähnlichkeit mit dem Subsumtions-
irrtum hat.
zwar die Möglichkeit erkannt, sich mit den bloßen Fäusten oder mit
einem weniger gefährlichen Einsatz seiner Schlagwaffe zur Wehr zu
setzen, sich aber trotzdem zu dem gefährlichen Einsatz entschlossen, um
mit Sicherheit zu verhindern, daß der erste Schlag des Angreifers ihn
trifft. Nehmen wir weiter an, der Täter hätte, obwohl er den Angriff
nicht provoziert hatte, eine solche geringe Gefahr leichter Körperverlet-
zungen in Kauf nehmen müssen, um die Lebensgefährdung des Angrei-
fers zu vermeiden. Er hat sich dann in einem Irrtum über die Erforder-
lichkeit seiner Verteidigung befunden. Klassifizieren wir diesen Irrtum
zunächst als einen Erlaubnisgrenzirrtum über den Umfang des Not-
wehrrechts, so haben wir es mit Anwendung Ziffer 4 von Umkehrsatz
III zu tun. Bei der einfachen Umkehrprobe gehen wir aus vom Fehlen
des oben beschriebenen Irrtums, daß der Schlag mit dem schweren
Gegenstand auf den Kopf die erforderliche Verteidigung gewesen sei,
daß also dem Täter eine weniger gefährliche nicht zugemutet werde. Wir
müssen uns also fragen, ob wir das Fehlen einer solchen Vorstellung zur
Begründung der Strafbarkeit wegen gefährlicher Körperverletzung brau-
chen. Ist dies nicht der Fall, so ist unsere ursprüngliche Klassifikation
des Irrtums als irrelevanter Erlaubnisgrenzirrtum bestätigt.
Wir können die Probe dadurch eindrucksvoller machen, daß wir die
objektive Seite entsprechend der ursprünglichen Vorstellung des Täters
verändern und uns dann fragen, ob eine Strafbarkeit wegen Versuchs in
Betracht kommt. Wir müssen also fingieren, daß der Täter auf eine
weniger gefährliche Abwehrmaßnahme nicht verwiesen werden kann,
weil die aus ihr resultierende Gefahr für den eigenen Körper ihm nicht
zugemutet wird. Dann können wir uns fragen, ob die Vorstellung des
Täters, daß er die weniger gefährliche Verteidigung hätte wählen müs-
sen, eine Strafbarkeit wegen Versuchs begründen könnte. Die Richtig-
keit der ursprünglichen Klassifikation wird dadurch bestätigt, daß man
in solch einem Fall ein Wahndelikt annehmen würde.
Würden wir auf einen Irrtum der beschriebenen Art die Regeln von
der Parallelwertung in der Tätersphäre anwenden, so würden wir ihn für
relevant erklären, weil er eine andere Wertung eines einzelnen Merkmals
eines Rechtfertigungstatbestandes betrifft, nämlich des Merkmals der
Erforderlichkeit der Verteidigung. Wir würden diesen Irrtum dann als
Erlaubnistatbestandsirrtum klassifizieren, hätten es also mit der Anwen-
dung Ziffer 3 von Umkehrsatz I zu tun. Daraus, daß die Parallelwertung
der Verteidigung als i. S. des §32 erforderlich die Strafbarkeit aus-
schließt, folgt nach Anwendung 3 von Satz I, daß das Fehlen der
Würdigung einer Verteidigungsmaßnahme als zur Abwehr des Angriffs
im Sinne des §32 erforderlich Strafbarkeit wegen Vollendung oder
Versuch mitbegründen könnte. Die Lehre von der Parallelwertung in
der Tätersphäre wird auf normative Elemente des Rechtfertigungstatbe-
Die logische Tragweite des sog. Umkehrschlusses 243
XIII. Ergebnis
Es hat sich gezeigt, daß dem Umkehrschluß ein logisch gültiges
Schlußschema zugrundeliegt, nämlich die Kontraposition. Der Umkehr-
schluß läßt sich also nicht „teleologisch" statt „formal-logisch" anwen-
den, ihn „aufzulockern" 4 0 wäre ein Denkfehler. Trotzdem läßt sich aus
ihm nicht die logische Unvereinbarkeit von Irrtumslehren ohne weiteres
ableiten, z . B . die Unvereinbarkeit der Unbeachtlichkeit des Subsum-
tionsirrtums mit der Strafbarkeit von Wahndelikten oder die Unverein-
barkeit der strengen Schuldtheorie mit dem Erfordernis subjektiver
Rechtfertigungselemente. Man kann die Prämissen dieser Theorien
jeweils so formulieren, daß sie miteinander vereinbar sind. Dann erhal-
ten sie jedoch eine Form, in der ihre inhaltliche Bedenklichkeit deutli-
cher zum Ausdruck kommt, als wenn sie für sich oder auch gemeinsam,
aber in anderer Ausdrucksweise betrachtet werden. Aber eine Theorie
muß in jeder möglichen Formulierung überzeugen. Dies und nicht mehr
vermag die Logik bei der Aufstellung oder Überprüfung abstrakter
Rechtssätze zu leisten: Sie zeigt ihren Inhalt, den sie in jeder Form schon
haben durch Umformulierung in seinen verschiedenen Implikationen
deutlicher auf. Die Entscheidung, ob der Jurist die dadurch in ihrer
vollen Tragweite erkennbar gemachten Ausgangsthesen akzeptiert, kann
sie ihm niemals abnehmen.
Mit Hilfe des Umkehrschlusses läßt sich niemals ein Satz über die
zureichenden Bedingungen von Strafbarkeit ableiten, z. B. nicht die
Strafbarkeit des untauglichen Versuchs aus § 16. Einer solchen Ableitung
liegt eine Verwechslung von notwendiger und zureichender Bedingung
zugrunde. Solange der Umkehrschluß nur auf ein einzelnes Ver-
brechenselement angewandt wird, kann er nur die Möglichkeit von
Strafbarkeit oder deren Ausschluß ergeben.
Von der Anwendung des Umkehrschlusses zur Ableitung allgemeiner
Sätze der Irrtumslehre ist seine Anwendung im Einzelfall grundsätzlich
zu unterscheiden. Hier ermöglicht er das Aufzeigen der Konsequenzen
einer Irrtumsklassifikation für einen zweiten, fiktiven Fall. Dabei kann
i. V. mit den weiteren Prämissen eine Strafbarkeit als Ergebnis abgeleitet
werden. Auch hier ist die Klassifikation selbst nicht durch logische
Operationen zu ersetzen.
" Sehl Sehl Cramer, § 16, Rdn. 16; Rudolphi, SK, § 16, Rdn. 13 b.
« Engisch, FS-Heinitz, S. 185 (205); zust.: Haft, JuS 1980, 430 (434f).
244 Ingeborg Puppe
Großen und Ganzen intuitiv richtig handhabt, wenn sie sich auch dieser
Prämissen und ihrer jeweiligen Rolle beim Umkehrschluß nicht vollstän-
dig und klar bewußt ist.
W i r haben die Erprobung der Leistungsfähigkeit der Logik in der
Jurisprudenz an einem besonders aussichtsreichen Gegenstand unter-
nommen; nämlich an einem der seltenen Argumentationsmuster, die
heute noch den, wenn auch angefochtenen, Anspruch erheben, logisch
zu sein. Dennoch mag das Ergebnis angesichts des getriebenen Aufwan-
des mager erscheinen. Schließlich hat den Umkehrschluß die Rechtspre-
chung intuitiv entwickelt, ohne sich dabei mit logischen Formeln,
Umkehrsätzen, Anwendungstafeln und Analysen von einfachen und
doppelten Umkehrproben abzugeben. Die logische Intuition, die ja auch
sonst weitgehend dafür sorgt, daß wir folgerichtig denken und reden,
hat sich also auch hier bewährt. Sollte sie einmal nicht genügen, Fehler
im Gedankengang aufzudecken und zu vermeiden, bleibt immer noch
die Prüfung der Ergebnisse nach den Maßstäben der Sachgerechtigkeit.
Sie wird den Juristen gerade dann wirksam warnen, wenn er der
logischen Stimmigkeit keinen allzu hohen Stellenwert beimißt.
Für den juristischen Praktiker ist dies sicher ein legitimer Standpunkt,
schon um seinen Aufwand zu begrenzen. Der Theoretiker aber hat ihm
den Dienst zu leisten, Rechenschaft darüber abzulegen, nicht nur, ob
seine Begründungen überzeugen, sondern auch, warum und mit wel-
chem Grad von Gewißheit. Er hat dabei keinen Aufwand zu scheuen,
wenn es auch nur darum geht, diesen Grad an Gewißheit zu erhöhen.
Dabei ist es sicher heilsam, den Anteil der Logik an der eigenen
Argumentation und damit deren Geltungsanspruch nicht zu überschät-
zen. Aber unabhängig davon, ob dieser Anteil groß oder klein ist,
unterliegt jeder juristische Gedankengang dem Maßstab logischer Kor-
rektheit.
Eine theoretische Jurisprudenz, die sich diesem Maßstab nicht unein-
geschränkt unterwirft, verwirkt nicht nur ihren ohnehin umstrittenen
Titel Wissenschaft, sondern den Anspruch überhaupt, Denken, d . h .
korrektes Denken, zu sein. Sie wird nichts anderes zustandebringen als
mehr oder weniger gut gemachten Meinungsjournalismus.
Überlegungen
zum sog. Pflichtwidrigkeitszusammenhang
beim Fahrlässigkeitsdelikt
WILFRIED KÜPER
I.
„Bei den Erfolgsdelikten" - so heißt es in Karl Lackners bündigen
Erläuterungen zur Struktur der Fahrlässigkeitstat 1 - „genügt es nicht,
daß die sorgfaltswidrige Handlung den tatbestandsmäßigen Erfolg ledig-
lich verursacht hat (Kausalzusammenhang). Der Erfolg muß vielmehr
seinen Grund gerade in der Sorgfaltspflichtverletzung haben; daran fehlt
es, wenn er auch bei Beachtung gehöriger Sorgfalt eingetreten wäre."
Diese Sätze enthalten nicht nur eine Distanzierung von der „Kausalbe-
trachtung", die unter dem Stichwort des „rechtlichen Ursachenzusam-
menhanges" die Rechtsprechung zum „normgemäßen Aiternatiwerhal-
ten" immer noch (zumindest verbal) beherrscht; insofern verweist Lack-
ner auf heute wohl endgültig Geklärtes 2 . Jene Aussage läßt auch erken-
nen, daß der Autor bei der Beantwortung der Frage, ob der Erfolg
seinen „Grund gerade in der Sorgfaltswidrigkeit" hat, auf eine Hypo-
these zurückgreift, die durch die „Beachtung gehöriger Sorgfalt" und
den unter dieser Annahme ermittelten - fiktiven - Erfolg bestimmt wird.
Dabei will Lackner die Verletzung der Sorgfaltspflicht als „Grund" des
Erfolges jedenfalls dann prinzipiell nicht gelten lassen, wenn die Ver-
laufshypothese eindeutig den gleichen Erfolg produziert, weil dieser
„auch bei Beachtung gehöriger Sorgfalt eingetreten wäre" 3 .
' Vgl. Lackner, StGB, 16. Aufl. 1985, §15 Anm. III 2 b.
1 Vgl. dazu aus letzter Zeit etwa Arthur Kaufmann, Jescheck-Festschrift, 1985, 273 ff,
278; Kindhäuser, J R 1985, 481; Krümpelmann, GA 1984, 491; Kühl, J R 1983, 32 f;
Niewenhuis, Gefahr und Gefahrverwirklichung im Verkehrsstrafrecht, 1984, 15 f (der
Sache nach); Otto, N J W 1980, 420 f; Puppe, JuS 1982, 660ff, ZStW 95 (1983), 285 ff, 290;
Ranft, N J W 1984, 1425 f; Samson, SK I, 3. Aufl. 1985, Anh. zu §16 Rdn.23, 25;
Schlächter, J A 1984, 673 ff, 674; Schänke/Schröder, 22. Aufl. 1985, Vorbem. §§13 ff
Rdn. 81, 99 (Lenckner), § 15 Rdn. 161 (Cramer); Wolter, Objektive und personale Zurech-
nung von Verhalten, Gefahr und Verletzung (usw.), 1981, 334 ff. - Vgl. aber auch
Bindokat, JuS 1985, 32; Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht, Allg. Teil II, 6. Aufl. 1984, 99f
(mit dem unglücklichen Begriff der „Vermeidbarkeitskausalität"). - Immer noch grundle-
gend: Arthur Kaufmann, Eb.-Schmidt-Festschrift, 1961, 201 ff, 207 ff; Spendel, ebendort,
183 ff, JuS 1964, 14 ff.
5 Die Bemerkung richtet sich u. a. gegen Spendel und Ranft (wie Fn. 2).
248 Wilfried Küper
widrigkeitszusammenhangs neuerdings Jakobs, Strafrecht, Allg. Teil, 1983, 185 ff; Krüm-
pelmann, GA 1984, 491 ff, 503f, Jescheck-Festschrift, 1985, 321 f; Ranft, NJW 1984,
1425 ff, 1429 (der aber teilweise doch wieder Hypothesen zuläßt). Vgl. demgegenüber -
mit der herrschenden Auffassung - zuletzt etwa Puppe, JuS 1982, 660 ff, 664; Schlächter,
JA 1984, 676 ff, sowie die Hinw. bei Jakobs, Allg. Teil, 185, Fn. 123.
7 Lackner, § 15 Anm. III 2 b cc, unter Hinw. u. a. auf Roxin, ZStW 74 (1962), 411 ff;
Stratenwerth, Gallas-Festschrift, 1973, 227ff; Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt im
Strafrecht, 1974, 129ff; Otto, JuS 1974, 702 ff, 708; Schünemann, JA 1975, 647ff; Wolter,
Objektive und personale Zurechnung, 334 ff. - Zur „Risikoerhöhungstheorie" und ihren
Wandlungen vgl. den Uberblick bei Samson, SK, Anh. zu § 16 Rdn. 27 f, mit weit. Hinw. ;
aus letzter Zeit: Arthur Kaufmann, Jescheck-Festschrift, 1985, 273 ff; Krümpelmann, GA
1984, 491 ff, Jescheck-Festschrift, 313 ff; Niewenhuis, Gefahr und Gefahrverwirklichung,
43 ff; Schlächter, JA 1984, 676 f. - Vgl. auch unten VII.
P f l i c h t w i d r i g k e i t s z u s a m m e n h a n g beim Fahrlässigkeitsdelikt 249
IL
1. Der Satz, daß beim Fahrlässigkeitsdelikt der tatsächlich eingetretene
und verursachte Erfolg seinen Grund „gerade"10 in dem sorgfaltswidri-
gen Verhalten des Täters haben, also ein „spezifischer Zusammenhang"
zwischen fahrlässiger Handlung und Erfolgseintritt bestehen müsse, ist
heute, jenseits aller Kontroversen um den genaueren Inhalt, der Sache
nach so weitgehend anerkannt, daß eine einleuchtende Begründung
dieses Axioms eigentlich ohne besondere Schwierigkeiten möglich sein
sollte. Doch wer sich mit der insistierenden Frage nach dem „Warum" in
der schon unübersichtlich gewordenen Literatur umschaut, erfährt zwar
!
Lackner, §15 Anm.III 2bcc.
' Den Begriff selbst verwendet Lackner nicht; er ist jedoch inzwischen eingebürgert
und eignet sich als Kurzformel wohl am besten.
10 Das bekräftigende Wort kommt in der Literatur verdächtig oft vor!
250 Wilfried Küper
11
Reiches Fallmaterial z.B. bei Krümpelmann, Bockelmann-Festschrift, 1979, 453ff,
Jescheck-Festschrift, 1985, 323 ff; Niewenhuis, Gefahr und Gefahrverwirklichung, passim;
Ranft, N J W 1984, 1425 ff; Roxin, ZStW 74 (1962), 411 ff, 432 ff; Schlächter, JA 1984,
673 ff; Ulsenheimer, Das Verhältnis von Pflichtwidrigkeit und Erfolg bei den Fahrlässig-
keitsdelikten, 1965, 25 ff; Wessels, Allg. Teil, 195 ff. - In der Diskussion nimmt die - bis
heute nicht abgeschlossene - Auseinandersetzung um den „Lastzug-Fall" (BGHSt. 11, 1)
breiten Raum ein. Vgl. dazu zuletzt: Bindokat, JuS 1985, 33 f; Jakobs, Allg. Teil, 189 f;
Krümpelmann, Jescheck-Festschrift, 1985, 331 f; Ranft, N J W 1984, 1428 ff.
12
Zu den verschiedenen Arten von „Gründen" und Grund-Folge-Abhängigkeiten, die
für die Rechtswissenschaft relevant sind, vgl. etwa Gössel, Uber die Bedeutung des Irrtums
im Strafrecht, Bd. 1, 1974, 45 ff; Spendel, Zur Lehre vom Strafmaß, 1954,191 ff. Allgemein
zum „Satz vom Grunde" ζ. B. Bendszeit, Art. „Grund", i n : ] . Ritter (Hrsg.), Historisches
Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, 1974, 902 ff.
13
Blei, Strafrecht, Allg. Teil, 18. Aufl. 1983, 302, spricht treffend von „Sorgfaltsverstö-
ße(n), die nur als zeitlich oder örtlich wirksame Faktoren zu der Konstellation beitragen,
in der es zu einem schädigenden Ereignis kommt".
14
Wolter, Objektive und personale Zurechnung, 333, 341 ff, bezeichnet im Anschluß
an Roxin, Gallas-Festschrift, 1973, 242 f, die hier gemeinten Konstellationen als „unechte
Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim Fahrlässigkeitsdelikt 251
dafür sind bekannt15: Wenn etwa ein Kraftfahrer mit überhöhtem Tempo
leichtsinnig bei „Rot" über eine Kreuzung fährt, ohne daß im dichten
Kreuzungsverkehr etwas passiert, er dann aber einen Kilometer weiter
trotz inzwischen korrekter Fahrweise ein Kind verletzt, das ihm überra-
schend vor den Wagen läuft, so sind zwar das sorgfaltswidrig-gefährli-
che Überfahren der Verkehrsampel und die riskante Überschreitung der
Geschwindigkeit kausal für den späteren Erfolgseintritt; doch haben sich
in diesem Erfolg nicht die den Normverletzungen immanenten Risiken
verwirklicht. Denn die mit der Mißachtung des Rotlichts verletzte
Sorgfaltsnorm „dient dem Schutz des Kreuzungsverkehrs, nicht der
Verhinderung späterer Folgen"16 außerhalb dieses räumlichen Schutzbe-
reichs, und das Verbot der Geschwindigkeitsüberschreitung hat nicht
den Sinn, das Eintreffen des Fahrzeugs an einem bestimmten Ort zeitlich
zu verzögern und dadurch auch die ihrerseits erlaubt begründeten
Gefahren zu unterbinden, die (lediglich) aus dem früheren Ankunftsda-
tum des Kraftfahrers an der Unfallstelle resultieren17.
Wenngleich Fälle dieser Art gewiß deutlich machen, daß eine Erfolgs-
zurechnung zur Normverletzung nicht über eine gleichsam „horizon-
tale" (zeitlich-räumliche) Erstreckung der verbotenen Gefahrbegrün-
dung in den Bereich erlaubter „Anschlußrisiken" konstituiert werden
darf, weil diese nur-kausale „Risikoverbindung" dem begrenzten
Gefahrvermeidungszweck der verletzten Sorgfaltsnorm(en) zuwiderlau-
fen würde18, so bezeichnen solche Fallgestaltungen doch nur einen
Teilaspekt des Problems, das mit dem Stichwort vom „spezifischen
Zusammenhang" zwischen Sorgfaltswidrigkeit und Erfolg angesprochen
ist. Aus der einleuchtenden Bewertung dieser Fälle im Sinne einer
Verneinung des Zurechnungskonnexes läßt sich offenbar noch keine
" Zur Funktion dieses von der Rechtsprechung viel verwendeten - sehr problemati-
schen - Begriffs vgl. jetzt Niewenhuis, Gefahr und Gefahrverwirklichung, 80 ff, 94, mit
weit. Hinw.
20 Eine erschöpfende Auflistung der Begründungsversuche bis zur Mitte der 60er Jahre
findet sich in der Arbeit von Ulsenheimer, Pflichtwidrigkeit und Erfolg (oben Fn. 11); vgl.
auch Roxin, ZStW 74 (1962), 419 ff. Viele Vorschläge haben sich in der Diskussion nicht
behaupten können und dürfen heute als überholt vernachlässigt werden.
21 Verstanden in dem Sinn, wie ζ. B. Lackner (oben bei Fn. 7) beide Theorien einander
gegenübergestellt hat. Vgl. auch unten IV, V.
22 So früher namentlich Exner, Frank-Festgabe, Bd. 1, 1930, 569 ff, 584; heute insbes.
Baumann/Weber, Strafrecht, Allg. Teil, 9. Aufl. 1985, 270 ff. Vgl. auch Maurach/Gössel/
Zipf, Allg. Teil II, 99 ff; Wessels, Allg. Teil, 194 f.
Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim Fahrlässigkeitsdelikt 253
F a h r l ä s s i g k e i t s b e g r ü n d u n g n a c h d e m historisch ü b e r w u n d e n e n P r i n z i p
des b l o ß e n „versari in re illicita" p r a k t i z i e r t w e r d e n dürfe 2 4 . D e n n eine
schlichte Z u f a l l s - E r f o l g s h a f t u n g , ohne Voraussehbarkeit und Schuld,
wie sie jenes P r i n z i p zuließe 2 5 , steht ja b e i m V e r z i c h t auf einen spezifi-
schen „ P f l i c h t w i d r i g k e i t s k o n n e x " o h n e h i n nicht z u r D e b a t t e , u n d die
( b e r e c h t i g t e ) A b l e h n u n g des v e r s a r i - G r u n d s a t z e s läßt gänzlich offen,
wie die B e z i e h u n g z w i s c h e n unsorgfältiger H a n d l u n g u n d E r f o l g s e i n t r i t t
d e n n positiv beschaffen sein m u ß 2 6 . W e n i g ergiebig, weil wiederum
bloße „ R e f o r m u l i e r u n g e n " des P r o b l e m s , sind schließlich K u r z f o r m e l n
wie diejenige, daß beim Fahrlässigkeitsdelikt Pflichtwidrigkeit und
E r f o l g einander n i c h t „beziehungslos g e g e n ü b e r s t e h e n " 2 7 , d a ß „fahrläs-
sige V e r u r s a c h u n g " sich nicht in einer „ A d d i t i o n " v o n „ V e r u r s a c h u n g "
u n d „ F a h r l ä s s i g k e i t " erschöpfe 2 8 o d e r daß der n u r „bei Gelegenheit"
eines fahrlässigen V e r h a l t e n s b e w i r k t e E r f o l g n i c h t ausreiche 2 9 .
23 Vgl. dazu schon Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt, 137 f; Arthur Kaufmann, Eb.-
Schmidt-Festschrift, 1961, 223; Roxin, ZStW 74 (1962), 421; Spendel, JuS 1964, 17;
Ulsenheimer, Pflichtwidrigkeit und Erfolg, 122ff, 125ff, mit weit. Hinw.; E.A. Wolff,
Kausalität von Tun und Unterlassen, 1965, 27, Fn. 47. - Am tautologischen Charakter der
Vermeidbarkeitsformel ändert sich nichts, wenn man Attribute wie „planvoll" oder
„zwecktätig" zur Vermeidbarkeit hinzufügt (vgl. etwa Scbünemann, JA 1975, 648, mit
weit. Hinw.). Gleiches gilt für die Konstruktion einer „Vermeidbarkeit im Rechtssinne",
die das „Vermeidenkönnen" mit dem „Vermeidensollen" zur Einheit zusammenzieht,
dadurch aber die normativen Fragen nur scheinbar beantwortet; vgl. Hardwig, JZ 1968,
291 ; Kahrs, Das Vermeidbarkeitsprinzip und die condicio-sine-qua-non-Formel im Straf-
recht, 1968, 36 ff und passim. Kritisch zu diesem Ansatz bereits Burgstaller, Das Fahrläs-
sigkeitsdelikt, 138; Samson, Hypothetische Kausalverläufe im Strafrecht, 1972, 37ff. Die
Einzelheiten dürfen hier außer Betracht bleiben.
2< Vgl. etwa Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit, 1931, 362;
allerdings falschem Zitat des versari-Satzes); Schünemann, JA 1975, 647; Spendel, JuS
1964, 19. Vgl. auch Bindokat, JZ 1977, 551.
27 Vgl. z.B. Ulsenheimer, Pflichtwidrigkeit und Erfolg, 144, JZ 1969, 367.
2 ! So ein häufig zitiertes Wort von G. Baumann, DAR 1955, 211. Vgl. z.B. Ehert,
Strafrecht, Allg. Teil, 1985, 45; Wessels, Allg. Teil, 194.
29 Vgl. Jakobs, Allg. Teil, 186 (Gutsbeeinträchtigung „nicht wegen der unerlaubten
Beziehungen, sondern gelegentlich der unerlaubten Beziehungen"); Niewenhuis, Gefahr
und Gefahrverwirklichung, 4, 8. Die Wendung entstammt ursprünglich der Rechtspre-
chung; vgl. die Hinw. bei Niewenhuis, 8, Fn.23.
254 Wilfried Küper
Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, 67 ff, und ist dann von
Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, 136, wieder aufgenommen worden. - Zu
den „modernen" Varianten dieser Theorie vgl. insbes. Baumann/Weber, Allg. Teil, 271 f;
Blei, Allg. Teil, 301 f; Jescheck, LK, 10. Aufl. 1978, vor §13 Rdn.63; Otto, Grundkurs
Strafrecht, Allg. Strafrechtslehre, 2. Aufl. 1982,152; Rudolphi, JuS 1969, 552; Samson, SK,
Anh. zu § 16 Rdn. 24, 26 (wo der Gesichtspunkt der „Gefahrverwirklichung" sogar zum
umfassenden Generalthema des „Pflichtwidrigkeits-", „Risiko-" und „Schutzzweckzu-
sammenhanges" avanciert); Schänke /Schröder/Cramer, §15 Rdn. 160 f; Stratenwerth,
Strafrecht, Allg. Teil I, 3. Aufl. 1981, 297; Ulsenheimer, Pflichtwidrigkeit und Erfolg, 147;
Volk, GA 1976, 168 ff, 170; wohl auch Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II, 104 (im
Gewand der „Vermeidbarkeitskausalität"); Wessels, Allg. Teil, 195. Vgl. auch Schmidhau-
sen Strafrecht, Allg. Teil (Studienbuch), 2. Aufl. 1984, 179.
51 Wolter, Objektive und personale Zurechnung, 334. - Wolter könnte freilich auch in
dem unten VI 3 bei Fn. 96 erläuterten Sinn verstanden werden. Dann würde er nicht in
diesen Zusammenhang gehören.
Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim Fahrlässigkeitsdelikt 255
abspalten, daß man die „Verwirklichung im Erfolg" nur auf diesen Teil
des Risikos, nicht aber auf die wirkliche („ganze") Gefahr selbst
bezieht32. Die Bewertung einer anderen, im Vergleich hypothetisch
unterstellten Gefahrsetzung als „erlaubt" beseitigt nicht die Wirklichkeit
und „Realisierung" der tatsächlich unerlaubt geschaffenen Gefahr. So
führt kein Weg an der Feststellung vorbei, daß sich auf solche Weise der
geforderte Pflichtwidrigkeitskonnex schwerlich begründen läßt: „Tat-
sächlich hat in diesen Fällen eine pflichtwidrige Handlung den Erfolg
verursacht, und ebenso war es auch die pflichtwidrig geschaffene
Gefahr, die tatsächlich in den Erfolg umgeschlagen ist."33
" So interessanterweise — in anderem Kontext — auch Rudolphi selbst, JuS 1969, 554,
SK, vor §1 Rdn.68. Vgl. ferner Puppe, ZStW 95 (1983), 314; Stratenwerth, Gallas-
Festschrift, 1973, 238. Beachtlich dazu auch Niewenhuis, Gefahr und Gefahrverwirkli-
chung, 45 ff, 48.
55 So treffend Lenckner, Schönke/Schröder, Vorbem. §§13 ff Rdn. 99. Kritisch auch
Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt, 137; Jakobs, Allg. Teil, 185. Vgl. aber Volk, GA
1976, 170: Die Realisierung dürfe nicht „realwissenschaftlich" verstanden werden; es
handle sich um „normative Dezision". Dann muß man aber mit anderen Begriffen
arbeiten!
34 Bei ihr dürfte es sich im Grunde um eine terminologisch verkleidete Theorie von der
„Kausalität der Pflichtverletzung" (für Erfolg oder Gefahr) handeln. Vgl. aber auch die
Überlegungen unten V2, 3, VI 3, die der „Realisierungstheorie" eine andere Wendung
geben könnten.
" Vgl. hierzu und zum folgenden Roxin, ZStW 74 (1962), 431 f; außerdem Roxm,
ZStW 78 (1966), 217ff (in der Kritik der Untersuchung Ulsenheimers).
34
Roxin, ZStW 74 (1962), 432; ebenso Lenckner, Schönke/Schröder, Vorbem. §§13 ff
Rdn. 99. Vgl. auch Bindokat, JuS 1985, 33. - Der Roxinsche Gedanke findet sich im
Ansatz schon bei Engisch, Die Kausalität, 67. Vgl. auch Lampe, ZStW 71 (1959), 594, und
die Hinw. bei Ulsenheimer, Pflichtwidrigkeit und Erfolg, 133.
256 Wilfried Küper
recht, 1974, 115 f, aufgefallen: daß Roxin zwischen zwei Überlegungen schwankt,
nämlich, ob das Problem im Bereich der Sorgfaltspflicht durch Ausscheidung von .tatbe-
standsirrelevanten Pflichtverletzungen' oder ob es mehr im Bereich des Erfolgs durch
Verneinung der Zurechnung dieses Erfolgs und damit durch Trennung bestimmter Erfolge
von der tatbestandsmäßigen Handlung zu lösen ist."
41 Vgl. auch die Kritik bei Lampe, Das personale Unrecht, 1967, 222; Münzberg,
Verhalten und Erfolg als Grundlagen der Rechtswidrigkeit und Haftung, 1966, 136; E.A.
Wolff, Kausalität von Tun und Unterlassen, 27, Fn. 47.
42
Roxin, ZStW 74 (1962), 432.
43 Vgl. zum folgenden Ulsenheimer, Pflichtwidrigkeit und Erfolg, 143 ff, J Z 1969,
367 f.
Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim Fahrlässigkeitsdelikt 257
44
Bei Ulsenheimer finden sich u. a. auch der Hinweis auf das „versari in re illicita", die
Zurückweisung des „Additionsarguments", der Gedanke der „zweckhaften Vermeidbar-
keit" und der „Realisierung der Pflichtverletzung im Erfolg".
45
Ulsenheimer, Pflichtwidrigkeit und Erfolg, 146, JZ 1969, 368.
46
Ulsenheimer, JZ 1969, 368.
47
Ulsenheimer, Pflichtwidrigkeit und Erfolg, 145.
41
Ulsenheimer, JZ 1969, 368.
258 Wilfried Küper
d) Auf die in concreto fehlende „Schutzwirkung" der Sorgfaltspflicht für die Integrität
des verletzten Gutes stützt der Sache nach auch Schünemann seine Auffassung, daß
zwischen Pflichtverletzung und Erfolgseintritt ein „spezifischer Relevanzzusammen-
hang" bestehen müsse50. Er argumentiert dabei in erster Linie gleichsam indirekt: von
den Konsequenzen her, die sich beim Verzicht auf diesen Zusammenhang ergeben
müßten. Dann sei nämlich Fahrlässigkeitsbestrafung auch geboten, wenn „die generell
sorgfaltswidrige Erfolgsverursachung das Erfolgsrisiko im Vergleich zu einer generell
sorgfaltsgemäßen Handlung aufgrund der ex ante unerkennbaren Umstände nicht nur
nicht erhöht, sondern sogar vermindert" habe51. Die „kriminalpolitische Ungereimt-
49 Diese Antwort wird auch nicht mit folgender - zusätzlicher - Erwägung gegeben:
„Wenn nämlich die Beobachtung der Sorgfaltspflichten bezüglich des schädlichen Erfolges
gleichgültig ist, müßte der Gesetzgeber entweder die betreffende Tätigkeit ganz verbieten,
oder aber er würde, falls er dies nicht tut, lediglich die Übertretung der Sorgfaltsnorm
bestrafen" (Ulsenheimer, Pflichtwidrigkeit und Erfolg, 145). Der erste Gesichtspunkt
spielt offenbar darauf an, daß gefährliche Handlungen nicht „ganz" verboten, sondern im
Rahmen des sog. erlaubten Risikos zulässig sind; doch hat der Täter sich bei sorgfaltswid-
rigem Handeln gerade nicht an die Regeln des erlaubten Risikos gehalten. Was der
Gesetzgeber „verbieten müßte", steht übrigens nicht zur Debatte, weil unsorgfältiges
Verhalten ja verboten ist. Der zweite Gesichtspunkt, den Ulsenheimer anspricht, setzt
schon voraus, daß der verursachte Erfolg nicht zugerechnet werden darf und daher
Grundlage der Bestrafung lediglich die „Übertretung der Sorgfaltsnorm" als solche wäre.
50 Vgl. Schünemann, JA 1975, 582 ff, 647 f, in Auseinandersetzung mit Spendel, Eb.-
Schmidt-Festschrift, 1961, 194 ff, JuS 1964, 14 ff.
51 Schünemann, JA 1975, 648. - Schünemann demonstriert dies an einer Abwandlung
des berühmten „Kokain-Falles" (vgl. die bei Exner, Frank-Festgabe, Bd. 1, 1930, 583,
mitgeteilte Entscheidung des RG): Der versehentlich mit Kokain behandelte Patient hätte
wegen seiner außergewöhnlichen Konstitution, die jedoch erst bei der Sektion erkennbar
war, das übliche Novakain „noch schlechter vertragen" und wäre daran mit Sicherheit
gestorben, während er an dem „in abstracto kunstwidrigen Kokain" zwar auch starb,
immerhin insoweit aber eine Überlebenschance bestand.
Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim Fahrlässigkeitsdelikt 259
heit" eines solchen Ergebnisses liege aber auf der Hand: „Wenn die Beachtung der
Sorgfaltsregel die Situation des Rechtsgutes sogar verschlechtert, wird die Erbringung
dieser Sorgfalt sinnwidrig, und die Vernachlässigung von sinnwidrigen Anforderungen
als ein fahrlässiges Erfolgsdelikt zu bestrafen, wäre ohne Zweifel ebenfalls sinnlos."
Gleiches müsse konsequenterweise jedoch gelten, wenn das hypothetische Verhalten
die Rettungschancen nicht verringert, sondern „gänzlich unberührt gelassen" hätte.
Eine Nichtberücksichtigung des hypothetischen Kausalverlaufs bei rechtmäßigem
Alternatiwerhalten bedeute damit „die Bereitschaft, entweder die Bestrafung auf die
Verletzung einer in concreto sinnlosen oder aber einer ex ante nicht erkennbaren Norm
zu gründen und damit ein kriminalpolitisch zweckloses Exempel zu statuieren"". -
Schünemann bringt anschließend noch den Gesichtspunkt der „Vermeidbarkeit" ins
Spiel: Die Verbotsnormen der Erfolgsdelikte seien ihrer generellen Struktur nach auf
Rechtsgutserhaltung gerichtet und könnten diesen Zweck durch ihre spezifische Wir-
kungsweise nur erreichen, sofern die Rechtsgutsverletzung „planvoll vermeidbar" sei.
Davon könne aber keine Rede sein, „wenn gerade die ex ante sorgfaltsgemäße Hand-
lung für das Rechtsgut in gleicher oder sogar noch stärkerer Weise verderblich wäre wie
die ex ante sorgfaltswidrige Handlung" 53 .
Man wird nicht sagen können, daß diese Argumentation - von dem ohnehin
unergiebigen Hinweis auf das Erfordernis „planvoller Vermeidbarkeit" einmal ganz
abgesehen - wesentlich über den unbefriedigenden Gedankengang Ulsenheimers hin-
ausführt. Die wiederholt beschworene „Sinnlosigkeit" (Ineffektivität) der verletzten
Sorgfaltspflicht für den Schutz des betroffenen Rechtsgutes wird zwar besonders
deutlich, wenn Pflichtbeachtung die Lage des Gutes im konkreten Fall sogar ver-
schlechtert hätte, und eine ex ante „unerkennbare" Sorgfaltsmaßnahme wäre als Basis
der Fahrlässigkeitsstrafe sicherlich nicht geeignet. Aber mehr als die Forderung nach
einer Art Strafausschließungsgrund kraft „kriminalpolitischer Fragwürdigkeit" der
Sanktion - zur Vermeidung möglicherweise „sinnloser Exempel" - ergibt sich in
solcher Zweckbetrachtung offenbar nicht, sofern man nicht aus der „Sinnlosigkeit" der
Pflichterfüllung wiederum die normative Unverbindlichkeit der Pflicht selbst ableiten
will: Warum auf der Ebene der Unrechtsbegründung ein „spezifischer Relevanzzusam-
menhang" zwischen der (gegebenen) PflichtVerletzung und dem pflichtwidrig verur-
sachten Erfolg bestehen muß, um diesen Erfolg zurechnen zu können - und dies ist ja
das eigentliche Beweisthema - , bleibt letztlich ebenso im Zwielicht wie bei Ulsen-
heimer5*.
52 Schünemann, J A 1975, 648. Vgl. auch 583: Bestrafung als „nutzlose Demonstration".
53 Schünemann, J A 1975, 648.
54 Dies gilt auch für die Überlegungen Burgstaliers, Das Fahrlässigkeitsdelikt, 138, der
die NichtZurechenbarkeit ebenfalls mit der „konkreten Zweckverfehlung", dem „Versa-
gen" der Sorgfaltsnorm, in Verbindung bringt, ohne die Notwendigkeit einer weiteren
Begründung zu sehen: „Auszugehen ist davon, daß alle Sorgfaltsnormen, die fahrlässigen
Erfolgsdelikten zugrunde liegen, evidentermaßen das Ziel verfolgen, den Eintritt des im
jeweiligen Tatbestand umschriebenen Erfolges zu verhindern. Konfrontiert man nun diese
Zielsetzung mit der Konstellation des rechtmäßigen Alternatiwerhaltens, so zeigt sich, daß
sie (seil.: jene Zielsetzung) in einem bestimmten Bereich ins Leere geht. Wenn man
angesichts der Tatsache, daß der vom Täter objektiv sorgfaltswidrig herbeigeführte Erfolg
genauso auch bei sorgfaltsgemäßem Verhalten eingetreten wäre, mit Fug und Recht sagen
kann, die in Rede stehende Sorgfaltsnorm habe kraft der besonderen Umstände des
Einzelfalles ihren Verhütungszweck in concreto verfehlt und in diesem Sinne ,versagt',
dann . . . ist es in der Tat geboten, den Verstoß gegen diese Norm als für den Eintritt des
Erfolges irrelevant zu erklären." - Ähnlich z . B .Jakobs, Beiheft zur ZStW 86 (1974), 29:
„Funktionsverlust" der Norm; Münzberg, Verhalten und Erfolg, 137: „Versagen" des
260 Wilfried Küper
für ihren Ansatz u.a. auf Roxin, ZStW 74 (1962), 431 ff, Honig-Festschrift, 1970, 138;
Ulsenheimer, Pflichtwidrigkeit und Erfolg, 144f, JZ 1969, 367f; Rudolphi, SK, vor §1
Rdn. 65 ff, JuS 1969, 552. Vgl. auch Preuß, Untersuchungen zum erlaubten Risiko, 29 f.
« Puppe, JuS 1982, 661; vgl. auch ZStW 85 (1983), 288 f.
57 Puppe, JZ 1985, 295. Von hier aus sieht Puppe die Differenz von „Vermeidbarkeits-"
3. Der hier unternommene kritische Streifzug durch das buntscheckige Gebiet der
wichtigsten „Zusammenhangstheorien", die sich in der neueren Diskussion behauptet
haben, hinterläßt zunächst ein Gefühl der Ernüchterung und auch gewisser Ratlosig-
keit: Schon im Vorfeld der lebhaft ausgetragenen und hochkomplizierten Kontroversen
um „Vermeidbarkeits-" oder „Risikoerhöhungstheorie", in der Frage nämlich, weshalb
ein „spezifischer Zusammenhang" zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg (Gefahr)
überhaupt gefordert werden darf oder muß, scheint das Maß an begrifflicher Präzision
und axiologischer Sicherheit, das für eine verläßliche Entscheidung und Einordnung
dieses Grundproblems unabdingbar ist, bisher nicht erreicht worden zu sein. Die
Auseinandersetzung hat sich offenbar, wohl bedingt durch den wissenschaftlichen Reiz
der „Risikoerhöhungslehre", zu stark auf die Folgeprobleme verlagert. Handelt es sich
bei allen „Zusammenhangstheorien" am Ende doch nur um terminologisch aufwendig
ausgestattete Fassaden eines in Wahrheit „ziemlich unreflektierten Evidenzerlebnisses":
„Man empfindet es als ungerecht, wenn jemand für eine Sorgfaltswidrigkeit bestraft
wird, obwohl der Erfolg auch bei sachgemäßem Verhalten eingetreten wäre" 5 ' (oder
sich die Gefahr dann nicht verringert hätte)?
Käme die Strafrechtstheorie letztlich über solche Einsichten nicht hinaus, so würde
dies das Eingeständnis bedeuten, daß es kein „wissenschaftliches" Kriterium gibt,
welches die Richtigkeit dieses „Gerechtigkeitserlebnisses" verbürgt, geschweige denn
seine deliktssystematische „Verortung" im Unrecht sichert60. Der - heute nahezu
allgemeine - Konsens der „billig und gerecht Denkenden" müßte es ersetzen. Hier
haben anscheinend die Zweifel derjenigen ihre Wurzel, die sich an diesem Konsens
nicht beteiligen". Sie könnten Lackners auf das geschlossene Ensemble von Erfolg,
Kausalität und Pflichtwidrigkeit gestützte Votum für die Risikoerhöhungstheorie'2
abwandeln und radikal zuspitzen: „Da in diesem Bereich die Ursächlichkeit des
sorgfaltswidrigen Verhaltens für den Erfolg feststeht, dürfen an den Risikozusammen-
hang keine weiteren Anforderungen gestellt werden!" Wer andererseits jenes „Evidenz-
erlebnis" grundsätzlich teilt, müßte auch die Frage aufwerfen, ob der sog. Pflichtwid-
rigkeitszusammenhang nicht doch nur ein Problem der (un)gerechten Bestrafung
darstellt und damit eher in den Bereich der kriminalpolitischen Billigkeit oder Zweck-
mäßigkeit als in den dogmatischen Bezirk der Unrechtsbegründung gehört; in der
Literatur klingt dieser Gedanke verschiedentlich an63, und mit ihm wären wir wieder am
Anfang der Diskussion.
63 Vgl. etwa Engisch, Die Kausalität, 18, Fn. 1; Arthur Kaufmann, Eb.-Schmidt-
Festschrift, 1961, 228, 230; Spendel, ebendort, 198, JuS 1964, 20, Engisch-Festschrift,
1969, 511. Kriminalpolitisch argumentiert auch Niewenhuis, Gefahr und Gefahrverwirkli-
chung, 11 : „Der Strafrichter würde auf Unverständnis beim Bürger stoßen, wenn er . . .
wegen fahrlässiger Tötung verurteilen würde, obwohl er gleichzeitig feststellen muß, daß
der Unfall . . . auch bei verkehrsgerechtem Verhalten des Angeklagten unvermeidbar
gewesen wäre." Vgl. ferner Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, 68 mit Fn.61.
Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim Fahrlässigkeitsdelikt 263
III.
1. Wie kann man bei dieser Situation weiterkommen und zu größerer
begrifflicher, aber auch axiologischer Klarheit vordringen? Betrachtet
man die Frage des sog. Pflichtwidrigkeitszusammenhanges - probeweise
- nicht lediglich als Problem „kriminalpolitischer Billigkeit" (Strafwür-
digkeit oder -bedürftigkeit), das dazu auffordert, dem Fahrlässigkeitstä-
ter die hypothetische Gleichartigkeit von Erfolg oder Gefahr eines
normgemäßen „Alternatiwerhaltens" erst jenseits von Unrecht und
Schuld bei der Bestrafung irgendwie „zugutezuhalten", sieht man im
Pflichtwidrigkeitskonnex mit dem Ausgangspunkt der herrschenden
Auffassung vielmehr ein spezifisches Element des - tatbestandlichen -
Fahrlässigkeits«nrec/?is, so besteht die Aufgabe der Strafrechtsdogmatik
darin, eben dieses Unrechtsmoment zu benennen, das bei fehlendem
Relevanzzusammenhang „ausfällt", und seine konstitutive Bedeutung
für das Unrecht des Fahrlässigkeitsdelikts darzutun. Vor dieser Grund-
aufgabe stehen alle unrechtsorientierten „Zusammenhangstheorien",
wie immer sie den geforderten Konnex zwischen Verhalten und Erfolg
im einzelnen definieren und ausdifferenzieren. Es handelt sich, wie
schon betont, um eine Aufgabe, die den vielerörterten Kontroversen
zwischen „Vermeidbarkeits-" und „Risikoerhöhungstheorie" voraus-
liegt, weil sie ganz allgemein den „Grund" des Satzes betrifft, daß der
Erfolgseintritt „gerade" auf der Pflichtwidrigkeit des Handelns „beru-
hen" müsse. Daß dieses Unternehmen bereits prinzipiell bewältigt wäre
und man nur noch über Einzelfragen streiten könnte, läßt sich nach der
vorangegangenen kritischen Bestandsaufnahme wohl nicht mehr
behaupten. Eher drängt sich der Eindruck auf, daß jene Aufgabe auf
breiterer Front - mit dem heute zur Verfügung stehenden dogmatischen
Instrumentarium - nicht einmal wirklich in Angriff genommen worden
ist. Versucht man dies - was freilich in den folgenden Bemerkungen nur
skizzenhaft möglich sein wird - , so empfiehlt sich zunächst eine
genauere Analyse des (potentiellen) „Unrechtsdefekts", der bei fehlen-
dem Pflichtwidrigkeitszusammenhang eintritt und üblicherweise als
Mangel der „Zurechenbarkeit" eingeordnet wird.
Hierbei sollte - trotz z.T. anders klingender Äußerungen - von
vornherein klar sein, daß ein solcher „Defekt" im Fahrlässigkeitsunrecht
die Pflichtwidrigkeit des Verhaltens selbst unberührt läßt, also die
Sorgfaltspflichtverletzung" als solche nicht beseitigt'5. Dies ist nicht nur
" Zu den Begriffen „Sorgfaltspflichtverletzung" und „Sorgfaltswidrigkeit", wie sie hier
gemeint sind, vgl. Küper, Der „verschuldete" rechtfertigende Notstand, 1983, 50, Fn. 151,
mit weit. Hinw.
45 Vgl. z.B. Binavince, Die vier Momente, 218; Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt,
138; Arthur Kaufmann, Eb.-Schmidt-Festschrift, 1961, 229; Lampe, Das personale
Unrecht, 221; Münzberg, Verhalten und Erfolg, 134 f; Spendel, JuS 1964, 16.
264 Wilfried Küper
" Daß Sorgfaltspflichten freilich nicht auf Maßnahmen gerichtet sein können, die ex
ante generell sinnlos sind, ist eine andere Frage, um die es hier nicht geht.
67 Vgl. oben II 2 c, d und in Fn. 54.
68 Vgl. oben II 2 b.
P f l i c h t w i d r i g k e i t s z u s a m m e n h a n g beim F a h r l ä s s i g k e i t s d e l i k t 265
pelmann, Die Bagatelldelikte, 1966, 96 ff, Bockelmann-Festschrift, 1979, 443 ff, Jescheck-
Festschrift, 1985, 313 f; Paeffgen, Der Verrat in irriger Annahme (usw.), 1979, 110 ff;
Wolter, Objektive und personale Zurechnung, 28, 47ff; ders., in: Schünemann (Hrsg.),
Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, 107 f. Vgl. auch Küper, GA 1980,
204 f, 215 f, Der „verschuldete" Notstand, 45.
Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim Fahrlässigkeitsdelikt 267
IV.
1. Gehen wir zunächst vom ersten Ansatz aus und versuchen wir, seine
Grundlagen und Folgen näher zu explizieren. Wer zur Begründung
eines Pflichtwidrigkeitszusammenhanges von dem Ausgangspunkt her
argumentiert, daß die Sorgfaltspflicht ihre „Schutzwirkung" für den
Bestand des jeweiligen Rechtsgutes verliert und damit im konkreten Fall
ihren „Schutzzweck" nicht erreicht, wenn der gleiche Erfolg auch bei
pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre, macht die dem betroffenen
Objekt gewährte normative Unversehrtheitsgarantie abhängig von den
faktischen Wirkungsmöglichkeiten der Sorgfaltspflicht76: Das Rechtsgut
genießt den Schutz der Gewährleistungsnorm, die seine Beeinträchti-
gung mißbilligt, dann nur noch in dem Umfang, in dem die Sorgfalts-
pflicht, als befolgt gedacht, solchen Schutz auch tatsächlich garantieren
kann. Der an sich bezweckte, von der Pflicht als Verhaltensnorm
intendierte „Schutz" wird unter dem Aspekt der Garantienorm
(Gewährleistungsnorm) in die engeren Grenzen der „faktischen Schutz-
wirkung" zurückgenommen. Jenseits der „Gewährleistungsschranke",
die durch diese Diskrepanz zwischen Schutzzweck und Schutzwirkung
entsteht, im Bezirk des auch durch Pflichtbefolgung nicht mehr erreich-
baren Schutzes, trifft das pflichtwidrige Verhalten demgemäß - ebenso
wie das pflichtgerechte - auf ein normativ ungeschütztes Objekt, das
zwar realiter beschädigt wird und im abstrakten Sinn auch noch
„Rechtsgut" ist, aber an der Bestandsgarantie der Schutz- und Gewähr-
leistungsnorm nicht mehr teilhat, so daß seine Verletzung keinen
„Erfolgsunwert" repräsentiert.
Man kann diesen ungeschützten Bereich, in dem die Rechtsordnung
eine Beeinträchtigung ihrer sonst geschützten Güter aus Gründen feh-
lender „Schutzwirkung" der Sorgfaltsnorm akzeptiert, als den Bereich
V.
1. Während nach dem Grundkonzept der „Vermeidbarkeitstheorie" aus
der Diskrepanz zwischen genereller Schutzintention und konkreter
Schutzwirkung der Sorgfaltspflicht ein Bereich des „tolerierten Risikos"
- der „tolerierten Rechtsgutsverletzung" - entsteht, in dessen Grenzen
die tatbestandliche Garantienorm infolge der „praktischen Sinnverfeh-
lung" pflichtgemäßer Sorgfalt nicht mehr „gilt", stellen sich die Dinge
schon im Prinzipiellen anders dar, wenn man den zweiten Ansatz in den
Blick nimmt und weiterverfolgt. Er beruht, wie bereits gesagt, auf der
Vorstellung, daß auch der den Sorgfaltsnormen zuwiderhandelnde Täter
in bestimmter Hinsicht Anspruch auf das „Benefiz" eines erlaubten
Risikos habe, welches in seiner Handlung „stecken" könne. Dieser
Gedanke bedarf freilich in mehrfacher Beziehung der Präzisierung und
Verdeutlichung. So wie er in der Literatur bisher vorgetragen worden
ist, etwa in der „Gleichstellungsüberlegung" RoxinsSi oder in den knap-
pen Formulierungen Puppes82, trägt er mehr zur Verdunkelung als zur
Klärung der Zusammenhänge bei.
Das „erlaubte Risiko" ist im Fahrlässigkeitsbereich nach verbreitetem
Verständnis83 die verletzungsträchtige Gefahr, die übrig bleibt, wenn
sich der Täter an einen bestimmten Standard gefahrbegrenzender Sorg-
faltsregeln hält, etwa an die Regeln des Straßenverkehrs oder der ärztli-
chen „lex artis". So taucht denn der Gedanke des erlaubten Risikos meist
in engem Zusammenhang mit der Negation sorgfaltswidrigen Verhaltens
auf, erscheint als Pendant pflichtgemäßer Sorgfalt, bei deren Beachtung
man sich trotz Gefährdung oder Schädigung anderer im „erlaubten
Risiko" bewegt: Die Herbeiführung von Gefahren und Verletzungen
belastet den Täter insoweit nicht, als er die maßgeblichen Sorgfaltsnor-
men befolgt, weil sich die Rechtsordnung um unterschiedlichster
„sozialnützlicher" Interessen willen damit abfindet, daß sorgfältiges
Handeln einen Schaden verursacht, und „absolute Ungefährlichkeit"
menschlichen Verhaltens im sozialen Kontakt nicht verlangt werden
kann. In diesem Sinn spricht ζ. B. Jescheck vom „erlaubten Risiko" in
81 Vgl. oben II 2 b.
82 Vgl. oben II 2e.
85 Vgl. dazu schon die Hinw. oben Fn.58.
Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim Fahrlässigkeitsdelikt 271
2. Sieht man näher zu, so gibt es in der Tat einen Weg, eine nicht (im
dargelegten Sinn) „verhaltensgebundene", sondern primär „erfolgs-
orientierte" Struktur des sog. erlaubten Risikos auszumachen. Sie klingt
im üblichen Begriffsverständnis zwar kaum mehr an, liegt ihm aber -
unausgesprochen - wahrscheinlich sogar zugrunde und könnte in der
Lehre vom Pflichtwidrigkeitszusammenhang ihre eigentliche Bedeutung
gewinnen. Wenn nämlich auch bei Beachtung der Sorgfaltsanforderun-
gen ein „Restrisiko" verbleibt, das die Rechtsordnung als „erlaubt"
toleriert, so geht dieser Befund auf eine objektive Interessenabwägung
zurück, nach deren Ergebnis die Gefährdung oder Verletzung von
Gütern zur Wahrung kollidierender Interessen („sozialer Nutzen",
„Handlungsfreiheit" usw.) in gewissem Umfang allgemein in Kauf
genommen wird". So werden auf der Passivseite (Gefahrenseite) der
Interessenbilanz etwa die - beträchtlichen - Risiken qua Abwägung
3. Aus dieser Perpektive läßt sich vom „erlaubten Risiko" als toleriert-
riskantem Verhalten eine spezifische Erfolgskomponente („erlaubter
Risikoerfolg") begrifflich derart isolieren und verallgemeinern, daß die
„Erlaubtheit" der Gefährdung - analytisch betrachtet - nicht notwendig
an einen sorgfältigen Handlungsvollzug gebunden ist. Der „erlaubte
Risikoerfolg" wird dann durch diejenigen Gefahrenlagen repräsentiert,
die in der für die Pflichtenregulierung konstitutiven, vorgängigen Basis-
abwägung als „akzeptierte Gefahrenzustände" hingenommen werden
und zu einer entsprechenden Bestimmung (Begrenzung) der Sorgfalts-
pflichten führen. Andererseits kann man, eben wegen dieses Zusammen-
hanges, aus Inhalt und Grenzen der jeweiligen Sorgfaltsnorm auf Art
und Maß der generell tolerierten Risiken zurückschließen, ohne daß
274 Wilfried Küper
VI.
1. Zunächst ist deutlich, daß der Risikoansatz sich im Zweckverständnis
der Sorgfaltspflicht und ferner auch in seinen Konsequenzen für den
Inhalt der Gewährleistungsnorm wesentlich von dem früher entwickel-
ten Konzept der „(Erfolgs-)Vermeidbarkeitstheorie" unterscheidet.
Sorgfaltsanforderungen, die auf „erlaubte Risiken" abgestimmt sind,
kann man folgerichtig nicht mehr den primären Zweck zuschreiben,
Rechtsgutsfer/eiz««gew zu verhindern und den Eintritt schädlicher
Erfolge durch sorgfältiges Handeln auszuschließen''2. Vielmehr bezweckt
die Sorgfaltspflicht lediglich eine Begrenzung von Gefahren auf das in
der Interessenabwägung ausgewiesene tolerierte Risiko, eine Reduzie-
rung auf dessen „erlaubtes Maß". Die Pflichtbefolgung soll zwar dazu
beitragen, daß das Gesamtkontingent der aus gefährlicher Tätigkeit
erwachsenden Verletzungen relativ vermindert und in per saldo sozial
erträglichen Grenzen gehalten wird. Doch ist die Vermeidung von
Schäden nur das - so verstandene - Motiv der Sorgfaltsnorm, nicht ihr
etwa Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt, 139; Rudolphi, JuS 1969, 554, SK, vor §1
Rdn. 66; Schünemann, JA 1975, 651 f; Wolter, Objektive und personale Zurechnung, 29 ff.
Vgl. auch Krümpelmann, Bockelmann-Festschrift, 1979, 450; Roxin, ZStW 78 (1966),
218 f.
Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim Fahrlässigkeitsdelikt 275
" Der Gedanke einer „Zweckverfehlung" kommt hier allenfalls ins Spiel, wenn die
Befolgung der Sorgfaltspflicht ihrerseits ein höheres Risiko schaffen würde als die sorg-
faltswidrige Handlung (vgl. oben II 2 d mit Fn.51). Doch wird man die Risiken sorgfalts-
gemäßen Handelns stets als „toleriert" ansehen müssen. Unter diesem Aspekt gibt es dann
streng genommen keine „Zweckverfehlung" der Sorgfaltspflicht.
276 Wilfried Küper
% Vgl. Stratenwerth, Gallas-Festschrift, 1973, 238: „Die Haftung für die Rechtsguts-
verletzung . . . ist immer vermittelt durch die Haftung für die Gefahr, auf der sie beruht" ;
eingehend Wolter, Objektive und personale Zurechnung, 29, 100, 118, 139 mit weit.
Hinw. 118, Fn.226, 139, Fn.311.
278 Wilfried Küper
weite voll kongruent, es bliebe kein Raum mehr für die Anerkennung
eines bloßen (tatbestandslosen) „fahrlässigen Versuchs", und das
„erlaubte Risiko" wäre mit dem „erlaubten Verhaltensrisiko" identisch,
das bei sorgfaltswidrigem Handeln immer überschritten wird.
D a s alles wird besser verständlich, wenn man Gallas' weitere Überlegungen zum Sinn
des subjektiven Rechtfertigungselements bei Notstand und Notwehr hinzunimmt: Die
Rechtsordnung wolle mit der Notstandsregelung Aktionen „zur Rettung" des wert-
volleren Gutes erlauben, nicht aber dessen Erhaltung als solche prämieren. „Daraus
folgt, daß der Täter zur Rettung des wertvolleren G u t s gehandelt haben muß, und
weiterhin, daß auch dem Betroffenen eine solidarische Hinnahme der Erhaltung des
höherwertigen G u t s nur zugemutet werden kann, wenn er sein O p f e r einer bewußten
98 Vgl. Gallas, Bockelmann-Festschrift, 1979, 168, 173ff, 176ff; dazu Küper, G A 1980,
204 f, 216 f.
99 Gallas, Bockelmann-Festschrift, 1979, 168; dort auch die folgenden Zitate.
280 Wilfried Küper
Rettungsaktion erbringt, nicht aber auch dann, wenn der Eingriff des Täters nur
zufällig zur Erhaltung des höherwertigen Guts führt."100 Und zur Notwehr heißt es,
daß allein derjenige das Recht gegenüber dem Unrecht „wahre", der auch mit der
Intention zur Abwehr des rechtswidrigen Angriffs handele. Nur unter dieser Bedin-
gung besitze der angegriffene Täter die „überlegene rechtsethische Position", der sich
der Angreifer ohne Rücksicht auf das Wertverhältnis der kollidierenden Güter beugen
müsse. Deshalb sei der Verteidigungswille „notwendige Voraussetzung für den Aus-
schluß sowohl des Handlungs- als auch des Erfolgsunwerts der deliktischen Tat" 101 .
Diese Konzeption102 läßt sich, wenn sie zutrifft, zwar nicht in der
Weise verallgemeinern, daß sie für das Verhältnis von Erfolgs- und
Handlungsunwert ganz allgemein, unabhängig von der Struktur des
jeweiligen Erlaubnissatzes, gelten müßte. Das behauptet auch Gallas
nicht103. Vielmehr ist, wie seine Darlegungen zu Notstand und Notwehr
verdeutlichen, stets danach zu fragen, ob und wann der fehlende „Hand-
lungsunwert" zugleich den Bedingungen angehört, unter denen die
Gewährleistungsnorm ihre Unversehrtheitsgarantie „freigibt" und damit
zur (vollen) „Erlaubnisnorm" wird. Hat jene Konzeption jedoch im
Bezirk der auf Interessenabwägung beruhenden Erlaubnistatbestände
ihre Berechtigung, so läßt sie sich möglicherweise auf die „Risikoerlaub-
nis" des Fahrlässigkeitstäters übertragen und berührt dann auch die
Problematik des sog. Pflichtwidrigkeitszusammenhanges.
Freilich begründet das „erlaubte Risiko", das hier in Frage steht, kein
echtes „Eingriffsrecht" wie der rechtfertigende Notstand104. Auch ist der
Ausschluß des „Verhaltensunwerts" im Bereich des erlaubten Risikos
(bei Fahrlässigkeit) nicht an ein besonderes „subjektives Rechtferti-
gungselement" gebunden, sondern gleichbedeutend mit der Anwendung
pflichtgemäßer Sorgfalt. Von solchen Differenzen abgesehen treten
jedoch parallele Problemstrukturen hervor. Der „tolerierte Risikoer-
folg", der ebenfalls aus einer Interessenabwägung resultiert und isoliert
betrachtet den Erfolgsunwert auf das „erlaubte Risiko" reduziert, ent-
spricht dem „gebilligten Erfolg", der sich z.B. beim Notstand aus dem
objektiv überwiegenden Erhaltungsinteresse ergibt, und die Einhaltung
der Sorgfaltsregeln hat andererseits eine der „Handlungserlaubnis", die
100 Gallas, Bockelmann-Festschrift, 1979, 178. Vgl. auch bereits Gallas, ZStW 80
(1968), 26.
101 Gallas, Bockelmann-Festschrift, 1979, 177.
102 Sie ist bisher in der Literatur noch kaum diskutiert worden. Auch in der neuesten
174 f.
104 Vgl. statt vieler Maiwald, Jescheck-Festschrift, 1985, 423 f; Schönke/Schröder/
Lenckner, Vorbem. §§32 ff Rdn. 11.
Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim Fahrlässigkeitsdelikt 281
105 Dies schließt freilich - und das 'ist eine ganz andere Frage - Möglichkeiten der
VII.
1. Wenden wir uns nach diesen Überlegungen zum Abschluß noch -
wenigstens kursorisch - weiteren dogmatischen Fragen des „Risikoan-
satzes" zu, die in der Folge zur Problematik der „Risikoerhöhungstheo-
rie" führen. Erzeugt der sorgfaltswidrig handelnde Täter im Ergebnis
(nur) ein „erlaubtes Risiko", wie es sich im Vergleich mit dem hypothe-
tisch pflichtgemäßen Verhalten zeigt, so entfällt nach dem Risikoansatz
der „Erfolgsunwert", den die Gewährleistungsnorm mißbilligt. Die
Methode zur Ermittlung des jeweils „tolerierten Risikoerfolges" muß
konsequenterweise ein Risikovergleich sein, für dessen Struktur es auf
die „Vermeidbarkeit" oder „Unvermeidbarkeit" des schließlichen Ver-
letzungserfolges (bei normgemäßem Handeln) prinzipiell nicht mehr
107 Vgl. statt vieler Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. §§32 ff Rdn. 15; Wessels,
Allg. Teil, 75 f, mit weit. Hinw. - Zum Diskussionsstand zuletzt eingehend Herzberg, J A
1986, 190 ff; Hirsch, LK, vor §32 Rdn. 59 ff.
108 Vgl. nur Küper, N J W 1971, 1684 f, J Z 1980, 636 ff, mit weit. Hinw. in Fn.42. Vgl.
neuerdings wieder Amelung, JuS 1986, 331. - Zur Beziehung zwischen Erfolgsunwert und
„pflichtgemäßer Prüfung" beim rechtfertigenden Notstand vgl. Küper, Der „verschuldete"
rechtfertigende Notstand, 115 ff, mit weit. Hinw.
Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim Fahrlässigkeitsdelikt 283
109 Vgl. Burptaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt, 143; Roxin, ZStW 74 (1962), 433 f.
1,0 Vgl. auch Otto, Grundkurs, Allg. Strafrechtslehre, 152; Rudolphi, SK, vor §1
Rdn.67; vorsichtiger Roxin, ZStW 74 (1962), 441.
111 Das hat vor allem Stratenwerth, Gallas-Festschrift, 1973, 235 f, klargestellt. Vgl.
ferner Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt, 143; Ulsenheimer, JZ 1969, 367; Rudolphi,
SK, vor § 1 Rdn. 69; Schünemann, JA 1975, 650f; undeutlich Roxin, ZStW 74 (1962), 434,
ZStW 78 (1966), 219 f mit Fn. 7.
284 Wilfried Küper
Die Frage läßt sich zugunsten der Risikoerhöhungstheorie noch nicht zureichend mit
der Erwägung entscheiden, daß die Gegenposition: der auf dem Gedanken der „Zweck-
verfehlung" beruhende Vermeidbarkeitsansatz, nicht zur Anwendung des Prinzips „in
dubio pro reo" zwingt (ganz abgesehen von den normtheoretischen Bedenken gegen
diesen Ansatz). Vielmehr muß - positiv - vom „Risikoansatz" her eine schlüssige
Begründung der Erfolgszurechnung möglich sein. Und sie ist wiederum nicht schon
mit der Überlegung geleistet, daß bei Nic/jtüberschreitung des erlaubten Risikos
(Schaffung einer „tolerierten Gefahr") auch die Schadenszurechnung entfällt: Es geht
um die Berechtigung der Umkehrung.
gehe dann von einem schlichten „Risikodelikt" aus, zu dem der Erfolgs-
eintritt - der als verursachtes Faktum ja feststeht - als eine Art „objekti-
ver Strafbarkeitsbedingung" hinzukomme. Die notwendige Einzeldis-
kussion des Für und Wider, mit der die stagnierende Auseinanderset-
zung in Bewegung gebracht werden könnte, kann in diesem Beitrag
nicht aufgenommen werden; das würde eine besondere Untersuchung
erfordern. An dieser Stelle müssen einige Bemerkungen zum Grundsätz-
lichen genügen. Dabei ist im Auge zu behalten, daß in den problemati-
schen Fällen eine Rechtsgutsverletzung festgestellt ist, die auf sorgfalts-
widriges Handeln adäquat-kausal zurückgeführt werden kann und der
darüber hinaus eine vom Recht nicht mehr akzeptierte Gefahr zugrunde
liegt; der Risikoerhöhungsgedanke steht damit nicht als mögliches Sur-
rogat adäquater Kausalität zur Debatte 114 . Insofern sind zumindest
wesentliche Elemente eines „Verletzungsdelikts" gegeben, wenn man
den Erfolg unter dem Aspekt der Risikoerhöhung zurechnet.
Wird trotzdem der Einwand unzulässiger Umdeutung in ein „Gefähr-
dungsdelikt" erhoben, so muß er anders gemeint sein und in seinem
eigentlichen Sinn präzisiert werden. Man könnte ihn so verstehen, daß
bei ungewisser Vermeidbarkeit des Verletzungserfolges einerseits und
sicherer Vermeidbarkeit des unerlaubten Risikos andererseits nur die im
Ergebnis unzulässige Gefährdung des Rechtsgutsobjekts zur Gewißheit
feststehe, nicht aber auch deren „Realisierung" im Verletzungserfolg 115 .
Doch träfe dieser Einwand nicht zu. Wenn sich eine unerlaubte Gefahr
trotz anschließender Rechtsgutsverletzung nicht in diesem Erfolg „reali-
siert", so kann dies seinen Grund nur darin haben, daß das spezifische
Gefährdungspotential des rechtswidrigen Risikos nicht mehr „weiter-
wirkt", weil seine möglichen Auswirkungen durch den (realen) Effekt
einer konkurrierenden Gefahrenquelle gänzlich verdrängt („überholt")
werden 1 ". Derartige Fälle fehlender „Gefahrrealisierung" gibt es zwar
auch bei Begründung unerlaubter Risiken durch fahrlässiges Verhalten;
denn solche Risiken müssen sich nicht notwendig im tatsächlichen
(kausal veranlaßten) Enderfolg verwirklichen. Das ist jedoch kein Pro-
§16 Rdn. 27a; Schaffstein, Honig-Festschrift, 1970, 173. Weit. Nachw. bei Woher,
Objektive und personale Zurechnung, 35, Fn.65. - Volk, GA 1976, 170 f, will in diesem
Bereich auf die Unterscheidung von Gefährdungs- und Verletzungsdelikten offenbar ganz
verzichten; ebenso wohl Krümpelmann, Bockelmann-Festschrift, 1979, 450.
114 Es geht also nur um die Berechtigung einer „kausalitätsergänzenden", nicht einer
117
Stratenwerth, Gallas-Festschrift, 1973, 238 (der den Einwand allerdings nicht für
berechtigt hält).
11!
Stratenwerth, Gallas-Festschrift, 1973, 238; Puppe, ZStW 95 (1983), 314.
1,9 Vgl. schon oben II 2 a Fn. 32.
Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim Fahrlässigkeitsdelikt 287
VIII.
120
Dazu gehört ζ. B. auch die Frage, welches rechtmäßige Alternatiwerhalten bei
mehreren Möglichkeiten maßgebend ist. Vgl. dazu Krümpelmann, Bockelmann-Fest-
schrift, 1979, 458 ff; Niewenhuis, Gefahr und Gefahrverwirklichung, 57 ff, 78 ff; Puppe,
JuS 1982, 664.
121
Die „neuen Wege", die in der Literatur vorgeschlagen werden, sind vorläufig noch
wenig erprobt und bereiten ζ. T. schon dem gedanklichen Nachvollzug erhebliche Schwie-
rigkeiten. Jakobs, Allg. Teil, 184 ff, entwickelt eine hochkomplizierte Lehre vom „Norm-
zweckzusammenhang", nach der es darauf ankommt, ob das Rechtsgut „wegen" oder nur
„gelegentlich" einer „unerlaubten Beziehung" beeinträchtigt wird. „Hypothesen" sollen
dabei entbehrlich sein, eine Maxime, an die sich Jakobs aber nicht stets zu halten scheint.
Krümpelmann, der ursprünglich der Risikoerhöhungstheorie nahestand (Bockelmann-
Festschrift, 1979, 443 ff) und an ihr im wesentlichen nur kritisierte, daß der Risikovergleich
288 Wilfried Küper
die Zurechnung des Erfolges über bloße „Reflexwirkungen" der Sorgfalt nicht ausschließe
(vgl. aber Rudolpbi, SK, vor § 1 Rdn. 70), will nunmehr nach einer „normativen Korre-
spondenz" zwischen Verhalten und Erfolg entscheiden. Ihre Grundlage ist eine „Gefähr-
detheit" des Verletzten, die auf einer „vom Handlungseffekt noch nicht berührten"
Tatsachenbasis prognostiziert werden soll und so den Rückgriff auf „Hypothesen" ent-
behrlich macht (GA 1984, 491 ff, Jescheck-Festschrift, 1985, 313 ff). Ranft, NJW 1984,
1429 ff, will grundsätzlich (aber offenbar nicht immer) das pflichtwidrige Verhalten „im
Ansatz stehen lassen" und ζ. B. die „Defektlage" des Opfers eliminieren, wobei dann unter
dem Aspekt der Typizität von Gefahren Elemente der Risikoerhöhungslehre übernommen
werden sollen. Auf alle diese Vorstellungen kann hier nicht näher eingegangen werden.
12¡ Lackner, §15 Anm. III 2 b c c (vgl. oben I bei Fn. 8). - Abschluß des Manuskripts:
15.4.1986.
Die Verwirkung des Vertrauensgrundsatzes
bei pflichtwidrigem Verhalten
in der kritischen Verkehrssituation
JUSTUS KRÜMPELMANN
1
Neben wichtigen Arbeiten zum Verkehrsordnungswidrigkeitenrecht und seiner
prozessualen Behandlung vgl. besonders: Lackner, Das konkrete Gefährdungsdelikt im
Verkehrsstrafrecht, 1967.
2
Vgl. etwa Verhaltensgebote in §§3 Abs. 2 a, 7 Abs. 4, 9 Abs. 5, 10 StVO, bei denen
ein Ausschluß der Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer abverlangt wird. Dazu unten
Abschnitt V.
' Urteil des 1. Senats vom 3.12.1979 - RReg. 1 St. 456/79; BayObLG VRS 58, 221. -
Es wird im folgenden durchgehend als „Ortstafelurteil" bezeichnet.
290 Justus Krümpelmann
I.
Die Entscheidung betrifft den folgenden Sachverhalt:
Die angeklagte Autofahrerin wollte eine Ortschaft verlassen und erblickte, 15 m vor der
Ortsendetafel, also noch im örtlichen Bereich, einen Fußgänger, der 80 m hinter der
Ortstafel rechts an einer Parkplatzausfahrt stand und zu einem gegenüber in die Straße
einmündenden Feldweg hinübersah. Blickkontakt zum sich nähernden Fahrzeug hatte
er nicht. Die Angeklagte erkannte ihn als „alten Mann" (tatsächlich war der Fußgänger
80 Jahre alt). Sie hatte die innerhalb der geschlossenen Ortschaft gebotene Geschwin-
digkeitsgrenze von 50 km/h überschritten: Als sie den Fußgänger sah, fuhr sie minde-
stens 85 km/h. Als sie die Ortstafel passierte, steigerte sie die Geschwindigkeit; 30 m
hinter der Ortstafel hatte sie eine Geschwindigkeit von 96 km/h erreicht, als der
Fußgänger zwei bis drei Schritte in die Fahrbahn trat. Trotz sofort eingeleiteter Warn-,
Brems- und Ausweichmanöver konnte sie den Unfall nicht mehr vermeiden; der
Fußgänger wurde getötet. Hätte die Angeklagte, als sie den Fußgänger in die Bahn
treten sah, nicht mehr als 80 km/h gefahren, wäre der Wagen noch rechtzeitig zum
Stehen gekommen.
taube Fußgängerin, doch waren das hohe Alter und die Gebrechlichkeit möglicherweise
nicht erkennbar.
11 Der Umstand, daß der Fußgänger nicht zur Angeklagten hinblickte, läßt den
Vertrauensgrundsatz nicht entfallen, denn das Vertrauen umfaßt die rechtzeitige Vergewis-
serung des anderen über die Verkehrslage.
12 Der unveröffentlichte Teil des Urteils setzt sich mit der Frage jedoch auseinander.
Die Prozeßrüge der mangelnden Aufklärung der erkennbaren Altershöhe wird mit der
Begründung der mangelnden Beweiseig««?¡g des Nachspielens der Szene mit einem
292 Justus Krümpelmann
sich nur berufen, wer sich selbst verkehrsgerecht verhält. Daher wird
„der Umstand, daß die Angeklagte innerhalb der geschlossenen Ort-
schaft wesentlich zu schnell gefahren war, von entscheidender rechtli-
cher Bedeutung" 13 : Eben deswegen gilt der Vertrauensgrundsatz nicht.
Man hat eine solche Argumentation treffend als „Verwirkung des Ver-
trauensgrundsatzes" bezeichnet14.
Allerdings muß sich die eigene Verkehrswidrigkeit in der kritischen
Situation ereignet haben, die hier mit dem „ersten Alarmpunkt" bezeich-
net wird. Der Normzweck des innerörtlichen Geschwindigkeitsgebots
spielt dabei offensichtlich keine Rolle mehr. Anders aber als in früher
entschiedenen, sonst vergleichbaren Ortstafelfällen15 bezeichnet der
Senat die Vermeidbarkeit des Unfalls nicht kausalhypothetisch über den
Rückgriff auf die Einhaltung der 50-km/h-Grenze, sondern er entwik-
kelt die Pflicht zum Abbremsen bis zur Anhaltegeschwindigkeit
selbständig aus der Entstehung der kritischen Situation. Diese aber
mußte durch die Verwirkung des Vertrauens gleichsam erst hergestellt
werden16.
II.
Der Ausgangspunkt des Urteils, auf den Vertrauensgrundsatz könne
sich nicht berufen, wer sich selbst verkehrswidrig verhält, scheint einhel-
liger Rechtsansicht zu entsprechen17. Betrachtet man die Rechtsprechung
und Literatur näher, so stellt man fest, daß der Verwirkungssatz keine
ergebnisbegründende Funktion hat18. Er findet sich zwar oft in den
Ersatzmann, für sich betrachtet wohl zu Recht, zurückgewiesen. Die Ablehnung der
Beweisbedürftigkett machte weitere Begründungsschritte erforderlich, denn sonst hätte in
dubio pro reo freigesprochen werden müssen.
13 BayObLG VRS 58, 221 (222).
O L G Hamm VRS 61, 353, das nur auf Umwegen einen Vorlagebeschluß vermeidet.
" Vgl. unten III.
17 Nach Schänke/Schröder/Cramer, 22. Aufl. 1985, Rdn. 212 a zu § 15, besteht darüber
Einigkeit. Doch schränkt Cramer diese Aussage kritisch bis zur Uberflüssigkeit ein. Vgl.
auch Mühlhaus/Janiszewski, StVO, 10. Aufl. 1984, Anm. 4 b zu § 1 : Der Vertrauende darf
keinen für das Unfallgeschehen erheblichen Verstoß begehen. Krumme, ZVerkS 1961, 2
behandelt die hier sich eröffnenden Fragen mit der „Teilbarkeit des Vertrauensschutzes";
kritisch Kirschbaum, a. a. O. (Fn. 14), S. 122 ff.
18 Im übrigen ließe sich bei einem umfassenden Verwirkungsprinzip nahezu die gesamte
auf die linke Spur ausgewichen; ein entgegenkommendes Fahrzeug war dadurch verunsi-
chert worden und, obwohl der Raum zur Vorbeifahrt zur Verfügung gestanden hätte, in
den Graben gefahren.
2* Vgl. B G H VRS 14, 2 9 4 : Der Angeklagte schnitt beim Einbiegen den Gegenverkehr;
III.
Nun zeigt gerade das Ortstafelurteil, wie bedenklich es mit dem in der
Rechtsprechung so wichtig gewordenen Begriff der „kritischen Ver-
kehrssituation" bestellt ist. Im Urteil dient er dazu, eine Pflicht zu
begründen, die die Angeklagte noch erfüllen konnte. Ursprünglich
wurde der Begriff eingeführt, um einen kausalmechanischen Zurech-
nungszusammenhang einzuschränken: Die Pflichtverletzung bringt
zufällige, d.h. prinzipiell unbeherrschbare Zeit- und Ortsverschiebun-
gen ins Spiel; bei sorgfältigem Verhalten wäre der Unfall vermieden
worden, aber nur aus Gründen einer anderen zeitlichen und örtlichen
Konstellation. Bei den früheren Zitaten der kritischen Situation ging
diese auf Enthaftung für Zufall zielende Rechnung auf; durch den
Grenzpunkt der kritischen Situation wurde die Differenz der zeitlich-
örtlichen Veränderung vermindert und blieb für die kausale bzw. hypo-
thetisch-kausale Verursachung des Unfalls irrelevant27. In einem neueren
26 Andernfalls läge in einem solchen Gedankengang eine m. E. durchaus diskutable
Begründung der Zurechnung, vgl. Verf., Festschrift für Bockelmann, 1979, S.455Í. Sie
wäre auch die einzige, bei der das Ortsschild und die Überschreitung der Ortsgeschwin-
digkeit Bedeutung erlangen könnten.
27 O L G Stuttgart N J W 1959, 351; B G H VRS 23, 369; in den Urteilen B G H VRS 20,
129; 26, 203 wird diese Funktion der „kritischen Situation" hingegen mit Normzweckar-
Die Verwirkung des Vertrauensgrundsatzes 295
Urteil lag das anders: Hier wirkte sich die räumlich-zeitliche Zufallsdif-
ferenz noch innerhalb der kritischen Situation aus28. Eine zufallsbegren-
zende Funktion des Begriffes ist also nicht zuverlässig. Er ist einfach der
Initialpunkt der Zurechnungsvorgänge.
Uber die Methode seiner Bestimmung hat die Rechtsprechung bisher
nichts preisgegeben. Sie behandelt die kritische Situation als eine Evi-
denzlage, als eine Naturtatsache. Das versetzt sie auch in den Stand,
neuerdings Normzweckerwägungen zu überspringen. Sie gewinnt darin
gewissermaßen einen archimedischen Punkt im Fluß der Kausalpro-
zesse, um von ihm aus die Relevanz etwa gegebener Pflichten und
Pflichtverletzungen überprüfen zu können. Dieser Punkt müßte sich
daher aus sachlogischen, normativ nicht beeinflußten objektiven Daten
generell bestimmen lassen.
Nun ist jedem Unfall naturnotwendig ein kritisches Stadium zeitlich
vorgelagert; seine Grenzen sind aber nicht scharf. Die von der Recht-
sprechung angeführte „Unmittelbarkeit" zum Schaden 2 ' verbessert daran
ebensowenig wie bei anderen Verwendungen dieses ungenauen Kürzels
für verschiedene Haftungslagen. Mehr als der Hinweis auf eine Konkre-
tisierung läßt sich nicht entnehmen, die zu bestimmen gerade die Auf-
gabe bildet.
Betrachtet man die Rechtsprechung zur kritischen Situation, zeigt sich
aber, daß es sich nicht um einen einheitlichen Begriff handelt. Meistens
wird zwar die Erkennbarkeit des sich abzeichnenden Fehlverhaltens und
die dadurch sich vorzeichnende Gefahrenlage in den Blick genommen,
wenn das spätere Opfer also schon gefährdet ist und der Täter das
erkennen kann: Nach dem Grundlagenurteil des O L G Stuttgart 30 war
die kritische Situation eingetreten, als der Täter „das Kind sehen und
dessen Absicht, die Fahrbahn zu überqueren, erkennen konnte". Auch
B G H S t . 33, 61 fixiert nicht die Erkennbarkeit des nahenden Autos,
letzung eines die Hauptstraße überkreuzenden Autofahrers. Er hätte die Straße schon
wieder verlassen gehabt, wenn der Angeklagte pflichtmäßig langsamer gefahren wäre.
Obwohl der Angeklagte auch dann nicht mehr hätte genügend abbremsen können, hat der
BGH unter Aufgabe seiner in VRS 20, 129; 26, 203 niedergelegten Auffassung zugerech-
net; kritisch Puppe, JZ 1985, 297; Eben, JR 1985, 357ff.
29 O L G Stuttgart NJW 1959, 351; vgl. etwa noch BGH VRS 24, 124 (126).
31 Vgl. oben F n . 2 8 ; ähnlich wird die kritische Situation in B G H VRS 20, 129; 23, 3 6 9 ;
bekannten Zahnarztentscheidung (BGHSt. 21, 59) mit der kritischen Situation, die im
Beginn des ~Na.rkoseeingriffs liegen soll: Die pflichtmäßige, aber unterlassene Untersu-
chung der Nirkosetauglichkeit, die den Tod zeitlich verschoben hätte, wäre noch nicht auf
eine konkrete Gefahrenlage getroffen und blieb daher für die Zurechnung außer Betracht.
Aber die Pflicht, die Untersuchung der Narkosetauglichkeit zu veranlassen, dauerte doch
unmittelbar bis zum Narkoseeingriff selbst an und läßt sich über vergleichbare Ausweitun-
gen des Krisenbegriffs auch einbeziehen. - Auch im medizinischen Sachzusammenhang ist
die Flucht auf den archimedischen Punkt der sachlichen Vorgegebenheit nicht möglich; die
richtige Lösung läßt sich erst über den normativen Aspekt des Zwecks der Tauglichkeits-
untersuchung finden, die auf die Ermittlung des undiagnostizierbaren Leidens nicht
gerichtet ist, näher Verf., Festschrift für Jescheck, 1985, Bd. 1, S. 332.
Die V e r w i r k u n g des Vertrauensgrundsatzes 297
Gefahrperspektive vom Täter zum Opfer und dem Wechsel des Inhalts.
Er ist nahezu beliebig manipulierbar und als dogmatisches Instrument
der Zurechnung daher nicht tauglich. Dahinter steckt nichts anderes als
der Hinweis auf Basistatsachen, die für den Täter eine Verhaltensände-
rung erforderlich machen, mit anderen Worten: eine Pflicht begründen
(Pflichtlage), oder der Hinweis auf Basistatsachen, die einen erfüllbaren
oder unerfüllbaren Schutzbedarf des späteren Opfers anmelden, und die
nach der Erfüllbarkeit auf korrespondierende Pflichten zu überprüfen
sind35.
Eine so verstandene „kritische Situation" - der Begriff sollte besser
ganz vermieden werden - läßt sich jedoch nicht ohne Rückgriff auf die
Teleologie der Verhaltenserwartung gewinnen und läßt sich nicht gegen
Normzweckerwägungen ausspielen. Die Beliebigkeit der „kritischen
Situation", aber auch ihre Abhängigkeit vom normativen Moment, zeigt
die Entscheidung im Ortstafelfall mit aller Deutlichkeit. Folgt man dem
Gedanken des Senats, dann wäre offenbar die Verkehrssituation nicht
kritisch und der erste Blickpunkt kein Alarmpunkt gewesen, wenn die
Angeklagte die 15 Meter bis zur Ortstafel pflichtmäßig 50 km/h gefahren
wäre, um anschließend unter Verwendung eines stärkeren Wagens zur
vermeideuntauglichen Geschwindigkeit emporzujagen. Erst der zweite
Alarmpunkt, als der alte Mann auf die Straße trat, wäre dann zur
kritischen Verkehrssituation erstarkt und hätte den Schnittpunkt für die
Zurechnung gesetzt. So wird dieser „erste" Alarmpunkt durch eine
Pflicht erst geschaffen, deren Schutzbereich der Senat selbst auf die
Verkehrsteilnehmer in der Ortschaft beschränkt. Nirgendwo sonst ist
die kritische Situation so scharf gegen den Normzweck ausgespielt
worden. Außerdem kann sie, da sie selbst erst aus dem übertretenen
Gebot gebildet wird, die Reichweite des mit der Verwirkung eröffneten
Zurechnungszusammenhangs entgegen der Meinung des Senats auch
nicht wirksam begrenzen. Der Zirkelschluß wird offensichtlich.
IV.
Auch ohne den Gesichtspunkt der Geschwindigkeitsverletzung vor
der Ortstafel erscheint die Pflicht, nach dem ersten Blickpunkt die
Geschwindigkeit nicht noch zu erhöhen, sondern sie zu mindern und
auf ein künftig sich abzeichnendes Fehlverhalten des alten Mannes
einzustellen, einleuchtend und vermittelt dem Ergebnis der Verurteilung
nach §222 StGB seinen Uberzeugungsgehalt. Die Begründung erweist
sich jedoch bisher nicht als haltbar. Mit dem Vertrauensgrundsatz in der
35
Also nach der typischen oder atypischen Gefährdetheit, vgl. Verf., Festschrift f ü r
Bockelmann, S. 452; näher Festschrift f ü r Jescheck, Bd. 1, S. 326 ff (dort als Anspruchslage
bezeichnet).
298 Justus Krümpelmann
40 BGHSt. 7, 118; die Entscheidung weist mit Recht darauf hin (S. 124 f), daß hinter der
Verkehrsflüssigkeit auch Interessen der Abwehr durch den stockenden Verkehr drohender
Gefahren stecken; näher dazu Lackner, Das konkrete Gefährdungsdelikt, S.4, 8f. Über
extensivere und seit BGHSt. 16, 145 (Sichtfahrgebot auf Autobahnen) restriktivere Ent-
wicklungen des Vertrauenssatzes Kirschbaum, a.a.O. (Fn. 14), S. 72ff.
41 Mit Recht skeptisch gegenüber einer „wachsenden Verkehrserfahrung" und der
„laufenden Belehrung durch Presse und Rundfunk, die auf die Dauer erzieherisch wirkt"
{Krumme, ZVerkSich 1961, 1) auch Kirschbaum, a.a.O. (Fn. 14), S.94.
42 Vgl. Lackner, Kommentar, Anm. III 3 a zu §15; Cramer, Straßenverkehrsrecht,
Bd. 1, 2.Aufl. 1977, Rdn.37 zu §1 StVO; Kirschbaum, a . a . O . (Fn. 14), S. 124 m . w . N .
Unklar hier etwa BGH VRS 6, 200 (202), eine im übrigen wichtige frühe (1954) Entschei-
dung zum Schutzzweckprinzip.
45 Nach BGHSt. 3, 62 (64) entfällt die Vorhersehbarkeit erst wegen einer mehrfachen
Verkettung von für sich betrachtet schon sehr groben Verkehrsverstößen und besonderen
Situationsbedingungen; schon an dieser „Unvorhersehbarkeit" drängen sich Zweifel auf.
44 Treffend Martin, DAR 1953, 166; ähnlich auch Kirschbaum, a. a. O. (Fn. 14), S. 124.
300 Justus Krümpelmann
Ereignisse setzt, und die Gefährdetheit, in der sich das (spätere) Opfer
aufgrund seiner Befindlichkeit und Verhaltensweise im Hinblick auf
mögliche Handlungen anderer befindet45. Gefährdung und Gefährdet-
heit werden gegeneinander abgewogen, wenn es um die Maßstäbe der
Risikoerlaubnis geht. Die daraus resultierende Regel wird nicht allein
und wohl nicht einmal primär vom handelnden Verkehrsteilnehmer her
entwickelt. Die Frage, welches Risiko des anderen Verkehrsteilnehmers
unbewehrt gelassen wird, hat mindestens das gleiche Gewicht. Gefähr-
dung und Gefährdetheit stehen zwar relational zueinander, sind aber
verschieden und haben unabhängig voneinander Bestand. Die Gefähr-
dung wird bei ihrer Erlaubnis mit einem Gitter von Regeln umgeben, die
der Minimierung verschiedener möglicher Gefährdetheiten dienen. Auf
eine von ihnen trifft die jeweilige Gefährdetheit im konkreten Sachver-
halt, und war für den Eintritt gerade dieser Sachlage eine Gefahrverhü-
tungsregel im Kreis der Vorschriften um das erlaubte Risiko nicht
vorgesehen, so macht die Übertretung einer anderen Regel das Verhalten
zwar rechtswidrig, doch fehlt es am Zurechnungszusammenhang des
Verstoßes im Hinblick auf die unbewehrte Gefährdetheit: Handelt der
Täter pflichtwidrig, so ist das Risiko seiner Verhaltensweise nicht mehr
erlaubt, und zwar generell, denn es gibt kein nur teilweise erlaubtes
riskantes Verhalten46. Damit ist aber nicht automatisch die atypische
Gefährdetheit nun schutzbewehrt; sie ist es nur dann, wenn die Risiko-
minderungsvorschrift, die verletzt wurde, den Ausgleich gerade dieser
Gefährdetheit zum Gegenstand hatte (die damit typisch würde). Die
Zweckbezüge der jeweils übertretenen Pflicht und Regel behalten daher
nach wie vor ihre Bedeutung. Daran scheitert der generelle Verwir-
kungssatz. Für das Ortstafelurteil bedeutet das: Da der Schutzzweck des
örtlichen Geschwindigkeitsgebots fehlt, kann die Zurechnung auch im
Falle der vor der Ortstafel überhöhten Geschwindigkeit auf die vom
Bayerischen Obersten Landesgericht herangezogene Verwirkung des
Vertrauenssatzes nicht gestützt werden.
In der Abwägung gegenübergestellter Gefahrenkreise hat der Vertrau-
enssatz als solcher nur Leitlinienfunktion. Zur Rechtsregel entwickeln
von Gefährdung und Gefährdetheit (Pflicht- und Anspruchslage) und der Umkehr der
Verhaltens- und Erwartungsprognosen in Pflicht und Schutzanspruch vgl. Verf., Fest-
schrift für Jescheck, Bd. 1, S. 317 ff. Bei den Anwendungsfällen des Vertrauensgrundsatzes
sind die Basisdaten begriffsnotwendig getrennt, da bei erkennbarer Gefährdetheit der
Vertrauensschutz ohnehin entfällt, vgl. oben Fn. 20. Zur Tatsachenbasis und Entwick-
lungsprognostik des Gefahrurteils treffend Lackner, Das konkrete Gefährdungsdelikt,
S. 16 ff.
44 Anders wohl Puppe, JuS 1982, 661: Im verbotenen Verhalten sei ein „Benefiz des
V.
Mit dem Verwirkungssatz durfte die Pflicht der Angeklagten im
Ortstafelurteil nicht begründet werden. Trotzdem ist ein Verhaltensge-
bot, schon im ersten Blickpunkt die Geschwindigkeit zu mindern und
die Anhaltemöglichkeit einzuberechnen, statt im Gegenteil das Tempo
noch zu steigern, kein unbilliges Verlangen. Die Pflicht mußte allerdings
ohne Berücksichtigung des Verkehrsschilds entwickelt werden, denn die
Ortstafel, so haben die bisherigen Überlegungen ergeben, ist ohne
Bedeutung. Nun war der 80jährige Fußgänger zwar „hochbetagt"; er
war also nicht mehr dem vom Vertrauensgrundsatz anerkannten unbe-
wehrten Risiko ausgesetzt. Das höchste Lebensalter war jedoch nicht
erkennbar - jedenfalls ließ sich die Unerkennbarkeit nicht ausschließen,
wie das Urteil trotz des verschleiernden Verwirkungskunstgriffs eben
doch enthüllt.
Durch die neuere Verkehrsgesetzgebung ist zweifelhaft geworden, ob
sich die Einschränkung des Vertrauens nur noch gegenüber hochbetag-
47 B G H S t . 7, 118.
48 B G H S t . 13, 169: N u r der einige Schritte hinter der Sichtkante Hervortretende wird
geschützt, der sich alsdann erst über die Verkehrslage vergewissert.
49 So wird z . B . bei der Vorbeifahrt an haltenden Omnibussen nicht etwa für den
ten und gebrechlichen alten Leuten, wie sie B G H VRS 17, 204 vor-
nimmt, aufrechterhalten läßt. Nach §3 Abs. 2 a StVO muß sich der
Fahrer gegenüber Kindern, hilfsbedürftigen und älteren Menschen -
offenbar eben nicht nur hochbetagten - so verhalten, daß eine Gefähr-
dung dieser Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist, und zwar insbeson-
dere durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und Bremsbereit-
schaft. An diese Vorschrift 50 knüpfen sich seitdem so viele Zweifel, daß
man fragen kann, ob der Verordnungsgeber mit seiner Regelungstechnik
gut beraten war. Es ist fraglich geworden, ob es sich um eine wirkliche
Neuregelung oder nur eine Klarstellung handele, aber auch, ob sich am
Umfang des Vertrauensgrundsatzes etwas geändert habe51.
Nimmt man den Text wörtlich, kann man daran eigentlich keine
Zweifel haben. „Ausgeschlossen" ist eine Gefährdung allenfalls, wenn
man sich jederzeit auf die Haltebereitschaft einstellt, was dann auch
einem plötzlichen Fehlverhalten zugute kommt. Nur nehmen Kinder
(bis zu 14 Jahren) und ältere Menschen (ab 50, 60 oder 70 Jahren?) zu
gewissen Zeiten und an gewissen Orten so häufig am Straßenverkehr
teil, daß die Neuregelung geradezu ein partielles Gebot genereller
Anhaltegeschwindigkeit bedeutet hätte. Die Verkehrserfordernisse las-
sen das wohl kaum zu, und die Verkehrswirklichkeit sieht folglich auch
anders aus. Das richtige Ziel eines verstärkten Schutzes schwächerer
Verkehrsteilnehmer52 ist trotz oder wahrscheinlich wegen der plakathaft
überzogenen Textur praktisch nicht erreicht worden53. Im Gegensatz zu
einer einsamen Amtsgerichtsentscheidung54 äußerten sich mehrere ober-
landesgerichtliche Urteile, am bisher geltenden Stand der Rechtspre-
chung zum Vertrauensgrundsatz habe sich nichts geändert55; ein neueres
Urteil des 4. Zivilsenats des B G H spricht sich im Ergebnis für die nur
50 Eingeführt durch die Verordnung zur Änderung der StVO vom 2 1 . 7 . 1 9 8 0 ; in Kraft
seit 1.8.1980. Sie galt mithin zur Zeit des Ortstafelurteils (7.12.1979) noch nicht.
51 Nach Rüth, Nachtrag 1981 zu Full/MöhlfRüth, Straßenverkehrsrecht, Rdn.3 zu § 3
StVO, entfällt durch § 3 Abs. 2 a StVO „gegenüber Kindern, Hilfsbedürftigen und älteren
Menschen jeder Vertrauensgrundsatz auf verkehrsgerechtes Verhalten". Kinder seien
Schulkinder „mindestens" bis zu 14 Jahren. In der Kommentierung von Jagusch/Hent-
schel, Straßenverkehrsrecht, 28. Aufl. 1985, R d n . 2 9 a zu § 3 StVO, wird hingegen der
Personenkreis einschränkend etwa im Sinne der überkommenen Rechtsprechung ausge-
legt; vgl. aber Fn. 62.
52 Vgl. die amtliche Begründung zur Verordnung v. 2 1 . 7 . 1 9 8 0 , abgedruckt bei
Jagusch/Hentschel, a . a . O . (Fn.51), Rdn.lOa zu § 3 StVO.
53 Dagegen nannte noch Freier, Abteilungsleiter im BVM, die Einführung des § 3
Abs. 2 a die „wohl umfangreichste und folgenschwerste Neuregelung" der Verkehrsnovelle
(Verkehrswachtpraxis 1980, H . 6 - Beilage Verkehrswacht aktiv, S.4).
54 AG Köln VRS 67, 198.
55 BayObLG VRS 62, 59; 65, 461; im Ergebnis ebenso O L G Köln VRS 65, 463.
Differenzierend und präzise hingegen O L G Stuttgart VRS 66, 470, das bezeichnender-
weise ohne den Hinweis auf § 3 Abs. 2 a StVO auskommt.
Die Verwirkung des Vertrauensgrundsatzes 303
klarstellende Funktion des § 3 Abs. 2 a StVO aus, denn der Sache nach
habe das Gebot erhöhter Rücksichtnahme auf den bezeichneten Perso-
nenkreis schon vor dem Inkrafttreten der Verkehrsnovelle gegolten56.
Wie im einzelnen dieses Gebot allerdings zu konkretisieren ist und wie
es sich zu den bestehenden Konkretisierungen des Vertrauensgrundsat-
zes verhält, ist bisher noch nicht deutlich geworden. Schon früher hatte
die strafrechtliche Rechtsprechung die fragwürdige Formel vom Aus-
schluß der Gefährdung, die auch in einer Reihe anderer Vorschriften
wiederkehrt", auf die Maßstäbe eines strafrechtlich greifbaren Fahrläs-
sigkeitsverschuldens zurückgestutzt58. Angesichts der Undurchführbar-
keit der wörtlich genommenen Vorschrift ist die Stellungnahme der
Rechtsprechung auch billigenswert. Es besteht jedoch die Gefahr, daß
das richtige Ziel des verstärkten Schutzes schwächerer Verkehrsteilneh-
mer, eine „maßvolle Vorverlegung der strafrichterlichen Verteidigungs-
linie"5', darüber zu kurz kommt. Dafür ist neben der überzogenen
Rhetorik des Gesetzes eine zu pauschale Handhabung des Vertrauens-
grundsatzes durch die Rechtsprechung verantwortlich zu machen.
Uber die Ausdehnung des Vertrauensgrundsatzes, der nur Hochbe-
tagte und kleinere Kinder nicht umfassen soll und das unbewehrte
Risiko entsprechend ausdehnt, soll hier indessen nicht gestritten wer-
den. Der Grund liegt in der Erfahrung häufiger Verkehrsungewandtheit
der bezeichneten Personengruppe, die eben bei älteren Kindern und
jüngeren Alten so nicht besteht. Bedenklich ist es jedoch, wenn BGH
VRS 17, 204 und neuerdings wieder BayObLG VRS 65, 461 die kon-
krete und unmittelbare Erkennbarkeit des höchsten Lebensalters verlan-
gen. Die unmittelbare Erkundung des höchsten Lebensalters ist bei der
raschen Bewegung des Straßenverkehrs eine fragwürdige Möglichkeit.
Ebenso ist sie beim nicht eben hochbetagten, aber tauben oder sehbehin-
derten, also gebrechlichen älteren Verkehrsteilnehmer nur im Ausnah-
" In den gewiß bedauerlichen Fällen, in denen ein an sich verkehrsgewandtes Kind
oder ein rüstiger älterer Mensch durch ein spontanes Fehlverhalten in den Unfall verstrickt
wird, ist dagegen eine Zurechnung nicht möglich, auch wenn der Fahrer nicht die im Text
entwickelte Rücksicht genommen hat. Die Indizienlage bleibt zweckgerichtet auf die
Erkenntnis der spezifisch bestimmten Gefahr. Auch hier zeigt sich die Selbständigkeit des
unbewehrten Risikos als Zurechnungsbegriff.
306 Justus Krümpelmann
B G H VRS 17, 204 erforderlich gemacht. Der Senat verfolgt die hier angegriffene Recht-
sprechung aber in BayObLG VRS 65, 461 ; immerhin gab es das „positive Indiz" eines -
wohl zu flüchtigen - Verständigungskontaktes.
64 Lackner, in: Folgenlose Verkehrsgefährdung als Massenerscheinung, hrsg. vom
Kuratorium „Wir und die Straße", 1961, S.34.
Bemerkungen zur actio libera in causa
CLAUS ROXIN
I.
Die actio libera in causa (a. 1. i. c.), eine früher vernachlässigte Rechts-
figur, ist in den letzten 25 Jahren in das Kreuzfeuer einer lebhaften
wissenschaftlichen Auseinandersetzung geraten1. Die Sachverhalte, die
man mit diesem Begriff bezeichnet, sind im wesentlichen unumstritten:
Der Täter ist bei Begehung der Tat schuldunfähig, hat aber in einem
früheren Zeitpunkt, als er sich noch nicht im Zustand des § 20 befand,
die Schuldunfähigkeit schuldhaft herbeigeführt. Je nachdem, ob er dabei
im Hinblick auf den späteren Erfolg vorsätzlich oder fahrlässig gehan-
delt hat, wird er dann wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger Tat bestraft.
Uber dieses Ergebnis besteht ebenso weitgehender Konsens2 wie dar-
über, daß in den schuldausschließenden Fällen der Trunkenheit, des
sonstigen Rauschgiftmißbrauchs und extremer Affektzustände der
a. 1. i. c. eine steigende Bedeutung zukommt. Wie aber die Strafbarkeit
der a. 1. i. c. juristisch begründet werden soll, ist heute umstrittener
denn je.
In der Diskussion streiten zwei entgegengesetzte Lösungen miteinan-
der: das Tatbestandsmodell und das Ausnahmemodell 3 . Das Tatbe-
standsmodell knüpft die Strafbarkeit des Täters an sein den Schuldaus-
schluß herbeiführendes Verhalten an, das als vorsätzliche oder fahrläs-
sige Verursachung des Erfolges gedeutet wird. Wer sich z. B. in schuld-
ausschließender Weise betrinkt, um in der durch die Trunkenheit her-
1 Zu nennen sind vor allem: Maurach, Fragen der a. l.i.c., JuS 1961, S. 373 f f ; Fr. W .
Krause, Betrachtungen zur a. 1. i. c., insbes. in der Form vorsätzlicher Begehung, Mayer-
Festschrift, 1966, S . 3 0 5 f f ; Hruschka, Der Begriff der a.l.i.c. und die Begründung ihrer
Strafbarkeit, JuS 1968, S. 554 f f ; Cramer, Anm. zu BGHSt. 21, 381; JZ 1968, S. 273 ff;
Horn, A . 1. i. c. - eine notwendige, eine zulässige Rechtsfigur?, G A 1969, S. 289 ff; Oehler,
Anm. zu BGHSt. 23, 133, J Z 1970, S. 380 ff; Hruschka, Methodenprobleme bei der
Tatzurechnung trotz Schuldunfähigkeit des Täters, SchwZStr., Bd. 90, 1974, S. 48 ff;
Fr. W . Krause, Probleme der a. 1. i. c., Jura 1980, S. 169 ff; Puppe, Grundzüge der a. 1. i. c.,
JuS 1980, S . 3 4 6 f f ; Küper, Aspekte der „a.l.i.c.", Festschr. f. Leferenz, 1983, S . 5 7 3 f f ;
Neumann, Zurechnung und „Vorverschulden", 1985, S . 2 4 f f ; P a e f f g e n , A . l . i . c . und
§ 3 2 3 a StGB, ZStW, Bd.97, 1985, S . 5 1 3 f f .
2 Eine Ausnahme macht nur P a e f f g e n , wie Anm. 1, der die a.l.i.c. gänzlich ablehnt
II.
Die Vertreter des Ausnahmemodells sind noch immer in der Minder-
zahl, haben aber in den letzten Jahren an Boden gewonnen. In der Tat
bereitet das Tatbestandsmodell manche konstruktive Schwierigkeiten
und läßt, wie noch zu zeigen sein wird, eine Bestrafung keineswegs in
allen Fällen zu, die mancher Autor gern durch die a. 1. i. c. erfaßt sähe.
Das Ausnahmemodell löst diese Schwierigkeiten mit einem Handstreich
- aber um den Preis, daß es gegen das geschriebene Gesetz und gegen das
Schuldprinzip verstößt 7 .
§ 20 StGB sagt mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit, daß die
Schuldfähigkeit „bei Begehung der Tat" vorliegen muß. Sieht man nun
als die „Tat" bei der a. 1. i. c. die im Zustand der Schuldunfähigkeit
vorgenommene Handlung an, so ist nicht daran vorbeizukommen, daß
in diesem Zeitpunkt keine Schuldfähigkeit vorliegt. Das Ausnahmemo-
dell setzt sich also einfach über das Gesetz hinweg. Wenn z. H.Jescheck*
sagt, die von ihm befürwortete „Einschränkung des §20" lasse „sich
zwar mit seinem Wortlaut schwer vereinbaren", sei aber „sachlich
gerechtfertigt", so ist dem entgegenzuhalten, daß eine solche Deutung
sich mit dem Wortlaut nicht „schwer", sondern überhaupt nicht verein-
baren läßt und daß ein Verstoß gegen den eindeutigen Wortlaut des
Gesetzes niemals sachlich zu rechtfertigen ist, weil Art. 103 Abs. 2 G G
dem entgegensteht; die sachliche Rechtfertigung könnte höchstens eine
Argumentation de lege ferenda stützen. Auch eine gewohnheitsrechtli-
che Ausnahme von der Regel des § 20, wie sie Hruschka9 angenommen
hat, würde gegen Art. 103 Abs. 2 G G verstoßen, der eine gewohnheits-
rechtliche Strafbegründung gerade verbietet. Abgesehen davon kann von
einer gewohnheitsrechtlichen Geltung des Ausnahmemodells nicht die
Rede sein; das von der Rechtsprechung bevorzugte Tatbestandsmodell
aber beruht auf dem Gedanken der Vereinbarkeit mit dem Gesetz und
darf nicht zur Begründung seiner Durchbrechung herangezogen wer-
den. U n d wenn Lenckner10 meint, die Frage könne nur sein, ob es sich
beim Ausnahmemodell „um eine durch den Wortlaut der §§20, 21
7
So unter den jüngsten Stellungnahmen vor allem auch Puppe, wie Anm. 1, S. 347, und
Paeffgen, wie Anm. 1, S. 523.
!
Wie Anm. 6, §40, VI, 2.
' Wie Anm. 1, 1968, S. 559, zum früheren §51 StGB; vgl. aber jetzt ders., Strafrecht
nach logisch-analytischer Methode, 1983, S. 295 ff, wo eine Gesetzesänderung vorgeschla-
gen wird.
,0 Sch./Schröder/Lenckner, StGB, §20, Rdn.35.
310 Claus Roxin
III.
Da also das Ausnahmemodell wegen Verstoßes gegen Art. 103 II G G
und das Schuldprinzip schlechthin undurchführbar ist, bleibt, wenn man
die a. 1. i. c. retten will, nur das überlieferte Tatbestandsmodell. Gegen
dessen Haltbarkeit werden aber auch immer mehr Argumente vorge-
bracht14. Hier soll der Versuch gemacht werden, das Tatbestandsmodell
gegen diese Angriffe zu verteidigen15.
1. Zunächst muß man sich klarmachen, daß der weitaus häufigere Fall
nicht die vorsätzliche, sondern die fahrlässige a. l.i. c. ist. Mit Recht
betont der B G H , Fälle vorsätzlicher a. 1.i.e. seien „nicht allzu häufig".
Öfter ereigneten sich Fälle, „in denen sich der Täter in einen Rausch
versetzt, obschon er nach ungünstigen früheren Erfahrungen hätte vor-
14
Den gründlichsten und scharfsinnigsten Angriff gegen das Tatbestandsmodell führt
Neumann, wie Anm. 1, S. 25—41.
ls
Ich stelle mich damit an die Seite von Puppe, wie Anm. 1, und Jakobs, AT, 1983, 17/
64 ff.
312 Claus Roxin
" Für eine Bejahung der Kausalität auch Puppe, wie Anm. 1, S. 348.
Bemerkungen zur actio libera in causa 313
b) Die massiveren Angriffe richten sich denn auch gegen die Annahme,
daß man das Sichversetzen in den Defektzustand als Tatbestandshand-,
lung eines vorsätzlichen Delikts ansehen könnte. Die Ursächlichkeit und
Vorsätzlichkeit des Vorverhaltens genüge dafür nicht. Vielmehr müsse
zu Kausal- und Finalzusammenhang „noch ein weiteres Moment hinzu-
kommen, das die Handlung erst zu einer so und so konturierten, etwa
zu einer spezifischen Tötungshandlung macht" 22 . Daran ist unbestreitbar
richtig, daß man in der Ausschaltung der eigenen Schuldfähigkeit schon
einen Versuch der Tötung, der Körperverletzung usw. sehen muß, wenn
das Tatbestandsmodell durchführbar sein soll; denn die Verursachung
durch eine Vorbereitungshandlung begründet keine Tatschuld (vgl. II).
20
Mit Recht sagt Puppe, wie Anm. 19, man müsse sich die Tat eines Schuldunfähigen
als „anderen Gesetzen gehorchend" vorstellen.
21
Wie Anm. 1, S. 27.
22
Hruschka, wie Anm. 1, 1968, S.557.
314 Claus Roxin
23 Dazu Roxin, Der Anfang des beendeten Versuchs, Festschrift f. Maurach, 1972,
S. 213 ff; ders., LK, 10. Aufl., §25, Rdn.l04ff; ders., JuS 1979, S. 11; alle Fundstellen
enthalten weitere Nachweise zum Streitstand. Der hier vertretenen Auffassung hat sich
auch BGHSt. 30, 363 angeschlossen.
24 Wie Anm. 1, S. 590. Küper legt diese Argumentation in seinem „Dialog" freilich nur
4. Aufl. 1984, S. 127 ff. Dort wird auch die Struktur der mittelbaren Täterschaft in solchen
Fällen im einzelnen entwickelt.
Bemerkungen zur actio libera in causa 315
eines schuld- oder vorsatzlos Handelnden zum Erfolge führen soll. Der
Täter hat in solchen Fällen die „Feuerprobe der kritischen Situation"
(Bockelmann) bestanden und alles getan, was von seiner Seite aus zur
Erfolgsherbeiführung getan werden konnte. Das Gesetz stellt nicht auf
die unmittelbare Gefährdung des Opfers und nicht auf das Handeln des
Tatmittlers, sondern allein auf das „Ansetzen" des Täters ab; dieser aber
kann nicht erst dann ansetzen, wenn das Geschehen seiner Einfluß-
nahme längst entglitten ist. Auch Vorsatz und Schuld, die beim Ver-
suchseintritt vorliegen müssen, können nur auf den Zeitpunkt bezogen
werden, da der Täter selbst noch handelt. Wenn er nach dem „Losschik-
ken" des schuldunfähigen oder vorsatzlosen Tatmittlers einschläft,
ändert das, wenn alles planmäßig abläuft, nichts an seiner Bestrafung
wegen vorsätzlicher Tat. Wie aber sollte vom Standpunkt der Gegenmei-
nung aus ein Schlafender vorsätzlich (!) zur Tatausführung ansetzen?
Immer wieder wird gegen die Lehre, bei der mittelbaren Täterschaft
sei der Versuch mit der Entlassung des Kausalverlaufs aus dem eigenen
Herrschaftsbereich beendet, der Einwand erhoben, daß der Tatmittler
nicht einem „blind-mechanischen" Werkzeug gleichstehe und nicht etwa
mit einem H u n d verglichen werden dürfe, den jemand zum Beißen eines
anderen ausschickt. Wenn mit der Entsendung des Hundes ein Versuch
vorliege, sei dies beim Tatmittler, der die Ausführung trotz seines
Defektzustandes unterlassen könne, noch lange nicht der Fall. Daß hier
tatsächliche Unterschiede bestehen, ist klar, so wie auch beim schuld-
und vorsatzlosen Tatmittler die psychologische Situation keineswegs
dieselbe ist. Aber das ändert nichts daran, daß alle drei Fälle nach den für
den Versuchsbeginn maßgeblichen normativen Kriterien gleich zu
behandeln sind. Wenn man, wie es unstrittig ist, beim Einsatz eines
„mechanischen" Werkzeuges wie eines schuld- oder vorsatzlosen Tat-
mittlers eine Tatherrschaft bejaht, „muß die einmal anerkannte norma-
tive Gleichwertigkeit der Tatherrschaftsformen auch bei der Festschrei-
bung des Versuchsbeginns gegenüber rein faktischen Unterschieden
durchschlagen" 29 . Dies gilt um so mehr, als auch im übrigen die normati-
ven Leitentscheidungen des Gesetzgebers eindeutig in diese Richtung
weisen. Wenn bei der Anstiftung (§ 30 Abs. 1 StGB) der Versuch mit der
Aufforderung des Täters beginnt und spätestens mit dessen Entschluß
beendet ist, so daß also das Ingangsetzen des für den Anstifter nun nicht
mehr beherrschbaren Kausalverlaufs für die Überschreitung der Straf-
barkeitsgrenze genügt, kann es beim Versuch der mittelbaren Täter-
schaft nicht anders sein. Es wäre ein untragbarer Wertungswiderspruch,
wenn derjenige, der einen zurechnungsfähigen Täter zu einem Morde
losschickt, strafbar wäre, derjenige, der zu dem selben Zweck einen
29
Schlehofer, Einwilligung und Einverständnis, 1985, S. 71.
Bemerkungen zur actio libera in causa 317
Geisteskranken auf den Weg bringt, dagegen straflos bliebe, solange der
Tatmittler nicht die Hand gegen das Opfer erhoben hat.
c) Es ist auch nicht richtig, daß die Konstruktion des Tatbestandsmo-
dells bei Vorsatztaten nur auf reine Erfolgsdelikte paßt30. Diese bieten
freilich (wie in den §§212, 223, 303 StGB) besonders wichtige Anwen-
dungsfälle, so daß auch bei einer Beschränkung auf sie die a. 1. i. c. eine
nützliche Konstruktion bliebe. Aber zu einer solchen Beschränkung
besteht kein Anlaß. Auch beim Diebstahl mit seinen Qualifikationen
(§§242 ff StGB), bei der gefährlichen Körperverletzung (§223 a StGB),
der Vergewaltigung (§ 177 StGB) und entsprechenden Delikten, die eine
bestimmte Art des Angriffs voraussetzen, ist es ohne weiteres möglich,
in der Herbeiführung des Defektzustandes den Anfang des Delikts zu
sehen. Denn das Verhalten im Versuchsstadium braucht noch nicht den
Handlungstyp des vollendeten Delikts aufzuweisen. Auch ist es keines-
wegs nötig, daß die tatbestandsspezifische Angriffsart in schuldfähigem
Zustand verwirklicht wird. Beispielsweise will der Gesetzgeber das
Opfer gegen Körperverletzungen oder Diebstähle mit Waffen (§§ 223 a,
244 StGB) wegen der Gefährlichkeit solcher Angriffe besonders nach-
haltig schützen; ob der Täter in diesem Zeitpunkt noch schuldfähig ist
oder nicht, ist im Hinblick auf diesen Zweck irrelevant31.
Etwas anderes gilt nur für eigenhändige Delikte32, unter denen in
unserem Zusammenhang besonders die von mir sog. unechten eigenhän-
digen Delikte eine Rolle spielen, bei denen eine „täterschaftsbegrün-
dende Pflicht von der Art ist, daß sie nur durch eine unmittelbar
persönliche Vornahme der Tatbestandshandlung verletzt werden
kann" 33 . In dem Fall, daß jemand ein schuldausschließendes Psycho-
pharmakon einnimmt, um unter dessen Einfluß später vor Gericht eine
Falschaussage zu beschwören 34 , liegt tatsächlich kein strafbarer Meineid
vor, denn die Eidespflicht erwächst erst aus der gerichtlichen Aussage,
so daß die Zuführung des Mittels noch nicht als Versuch des § 154 StGB
gedeutet werden kann. Dadurch wird das Tatbestandsmodell aber nicht
widerlegt, sondern bestätigt. Denn es beruht darauf, daß die für die
mittelbare Täterschaft geltenden Regeln auf den Fall übertragen werden,
daß jemand sich seiner selbst als eines schuldlosen Tatmittlers bedient.
Dann ist es nur folgerichtig, daß auch eine a. 1. i. c. dort ausscheidet, wo
eine mittelbare Täterschaft nicht möglich ist. Entsprechendes gilt, wenn
man die Pflicht, Kraftfahrzeuge nur in fahrtüchtigem Zustand zu führen,
30
In diesem Sinne Hruschka, wie Anm. 1, 1974, S.69.
31
Treffend Puppe, wie Anm. 1, S.347.
32
Dazu Jakobs, AT, 1983, 17/67.
33
Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 4. Aufl. 1984, S.393.
M
Hruschka, wie Anm. 1, S. 556.
318 Claus Roxin
auf den Vorgang des Fahrens beschränkt, wie es der Wortlaut der
§§315c, 316 StGB nahelegt. Das Sich-Berauschen ist dann noch kein
Ansetzen zum Führen eines Fahrzeuges, so daß keine Bestrafung nach
§§ 315 c, 316 StGB möglich ist, wenn jemand sich sinnlos betrinkt und
dabei den Vorsatz hat, in diesem Zustand Auto zu fahren. Kriminalpoli-
tisch unbefriedigend ist das nicht, weil derartige Fälle durch § 323 a StGB
erfaßt werden.
absehen kann, folgt aus dem Ausnahmemodell noch nicht; denn bei der
Inkulpation setzt die Ausnahme vom Schuldprinzip immerhin eine
frühere Schuld voraus, während hier von einem früheren Rücktritts ent-
schluß nicht die Rede ist. Auch die Vertreter des Ausnahmemodells
können daher in solchen Fällen die Straflosigkeit nur begründen, wenn
sie auf die Strafzweckargumente zurückgreifen, die oben vom Stand-
punkt des Tatbestandsmodells aus geltend gemacht wurden.
IV.
Wenn sich sonach das Tatbestandsmodell in den meisten Fällen als
konstruktiv durchführbar erweist, bleiben doch - neben den erwähnten
eigenhändigen Delikten - zwei Fallgruppen, in denen es nicht anwend-
bar ist.
1. Der erste Fall ist der, daß eine Vorsatzbestrafung ausscheidet, wenn
der Täter beim Eintritt der Schuldunfähigkeit zwar den Tatbestandsvor-
satz gehabt hat, in den Zustand des § 20 StGB aber unvorsätzlich geraten
ist. Die vorsätzliche a. 1. i. c. setzt also einen „Doppelvorsatz" voraus:
Der Täter muß mit mindestens bedingtem Vorsatz sowohl hinsichtlich
der späteren Tatbestandserfüllung wie auch der Herbeiführung des
Defektzustandes handeln42. Das ist nach dem Tatbestandsmodell zwin-
gend: So, wie bei der mittelbaren Täterschaft der Vorsatz nicht nur die
Tatbestandserfüllung, sondern auch die tatherrschaftsbegründenden
Faktoren umfassen muß43, kann der Täter bei der vorsätzlichen a. 1. i. c.
sich selbst nur als schuldloses Werkzeug gebrauchen wollen, wenn sein
Vorsatz die Herbeiführung der eigenen Schuldunfähigkeit umfaßt. Erst
dadurch, daß der Täter sich vorsätzlich in den Zustand der Schuldunfä-
higkeit begibt, setzt er zur Tat an und tritt ins Versuchsstadium ein. Wer
bei der Vorbereitung einer Tat, die er in schuldfähigem Zustand begehen
will, aus Langeweile zur Flasche greift und durch den genossenen
Alkohol unversehens schuldunfähig wird, hat noch nicht zur Ausfüh-
rung angesetzt. Denn nach seinem Vorstellungsbild, das die Benutzung
der eigenen Person als eines schuldlosen Werkzeuges nicht umfaßt,
würde ein Versuchsbeginn erst mit dem späteren unmittelbaren Anset-
zen zur verantwortlichen Tatbestandsverwirklichung vorliegen.
42
So mit Recht die h . M . : z.B. Sch./Schröder/Lenckner, StGB, 22.Aufl. 1985, §20,
Rdn.36; SK-Rudolphi, 3. Aufl., §20, Rdn.30; Jescheck, AT, 3. Aufl. 1978, §40, VI, 2;
Jakobs, AT, 1983, 17/65, Anm. 118; Oehler, wie Anm. 1, S. 386ff; Puppe, wie Anm. 1,
S. 348 f, die zu Recht darauf hinweist, daß sonst schon der Vorsatz der Ursächlichkeit des
Sichbetrinkens für den Erfolg fehlt. Wie hier auch RGSt. 73, 177ff (182); BGHSt. 2, 17;
17, 334; B G H , VRS 23, 213. Undeutlich BGHSt. 21, 381. Ähnlich wie hier auch Krause,
wie Anm. 1, S. 174.
« Näher Roxin, LK, 10. Aufl., §25, Rdn.96ff.
Bemerkungen zur actio libera in causa 321
44
Maurach, wie Anm. 1, S.375; Maurach/Zipf, AT/I, 6.Aufl. 1983, §36, Rdn.57;
Hruschka, wie Anm. 1, 1968, S. 558; Neumann, wie Anm. 1, S. 28 ff.
45
Cramer, Der Vollrauschtatbestand als abstraktes Gefährdungsdelikt, 1962, S. 132;
ders., wie Anm. 1, S.273f.
46
AT, 3. Aufl. 1978, §40, VI, 2.
47
Sch./Schröder/Lenckner, StGB, 22. Aufl. 1985, §20, Rdn.36; gegen die Begründung
Lenckners vom Standpunkt des Ausnahmemodells aus denn auch Neumann, wie Anm. 1,
S. 28, bei Anm. 22.
322 Claus Roxin
quenz bedarf man nicht der a. 1. i. c. Vielmehr wird man von der
fakultativen Strafmilderungsmöglichkeit des § 2 1 keinen Gebrauch
machen (vgl. dazu schon III, d, am Ende). Zwar ist die Vereinbarkeit der
nur fakultativen Milderung des §21 mit dem Schuldprinzip umstritten
und in den meisten Fällen zu verneinen. Aber gerade bei dieser Konstel-
lation ist die Versagung der Strafrahmenreduzierung vollauf berechtigt.
Denn da § 46 Abs. 2 S t G B das Vortatverhalten des Täters als strafzumes-
sungsrelevant ansieht, muß bei der vorgeschriebenen Abwägung der
„Umstände, die für und gegen den Täter sprechen", die vorsätzliche
Herbeiführung der Situation des § 21 gegen den Täter ins Gewicht fallen.
Die Strafzumessungsschuld ist etwas anderes als die Strafbegründungs-
schuld. Was für § 2 0 StGB gilt, kann auf § 4 6 StGB, der das gesamte
„Vorleben des Täters" einbezieht, nicht übertragen werden.
V.
1
Lackner, StGB, 16. Aufl. (1985), §24 A n m . 1.
2
A n m . 3 b bb; die zahlreichen Belege sind ausgespart.
326 Rolf Dietrich Herzberg
3 ESJ Strafrecht, AT, 2. Aufl. (1984), S. 185. Gemeint sind die Bücher von Ulsenhei-
mer, Grundfragen des Rücktritts vom Versuch in Theorie und Praxis, 1976; Bottke,
Strafrechtswissenschaftliche Methodik und Systematik bei der Lehre vom strafbefreienden
und strafmildernden Täterverhalten, 1979; Walter, Der Rücktritt vom Versuch als Aus-
druck des Bewährungsgedankens im zurechnenden Strafrecht, 1980. Als weitere Vertreter
der gemeinten Lehre könnte man - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - benennen : Berz,
Formelle Tatbestandsverwirklichung und materialer Rechtsgüterschutz, 1986, S.47f, 51 f;
Gores, Der Rücktritt des Tatbeteiligten, 1982, S. 139, 149ff; Ebert, AT, 1985, S. 110, 115;
Eser, in: Schönke/Schröder, 22. Aufl. (1985), §24 Rdn.2; Haft, AT, 2. Aufl. (1984),
S.217; Otto, AT, 2.Aufl. (1982), § 1 9 1 1 ; Rudolpbi, in: Rudolphi/Horn/Samson, Syste-
matischer Kommentar (SK) zum StGB, 4. Aufl. (1983), §24 Rdn.4, 25; Streng, NStZ
1985, 359f; Küper, JZ 1979, 779f (vgl. aber unten Fn. 19); in der Sache auch Muñoz-
Conde, ZStW 84 (1972), 761 ff, obwohl er auf S. 759 f eine von ihm etwas anders gedeutete
„Strafzweck-" oder „Indiztheorie" kritisiert. Höchstrichterlich bestätigt sieht die Straf-
zwecklehre sich vor allem durch BGHSt. 9, 48 und 14, 80. Einschränkend ist anzumerken,
daß einige der genannten Autoren die behauptete ratio nicht durchwirken lassen auf die
Deutung des Merkmals „freiwillig", sondern sich (wie Lackner) mit theoretisch-unver-
bindlicher Bestätigung begnügen.
4 Unter dem Aspekt ihrer vorwiegend kriminalpolitischen Begründung steht sie der
früher dominanten Theorie von der „goldenen Brücke" (neuestens bestätigend aufgegriffen
von Puppe, NStZ 1984, 490) zugleich nahe wie schroff entgegen. Deren Hauptgebrechen
scheint mir darin zu liegen, daß sie exakt dort, wo der angeblich vom Gesetz erhoffte
„Anreiz" sich noch am ehesten psychisch realisieren kann, versagt. Wer z. B. zu einer
gefährlichen Körperverletzung ansetzt und nun einen Polizisten nahen sieht, mag durchaus
an Strafe und Strafbefreiung denken und glauben, daß ein Verzicht ihn vor Strafe bewahren
und eine etwa schon gegebene Strafbarkeit tilgen würde, und es mag weiter dieser Glaube
den Ausschlag geben, daß der Täter die ihm immer noch „lohnend" scheinende Tat läßt.
Trotzdem, die Rücktrittsvoraussetzungen erfüllt er nicht. Der Gedanke der „goldenen
Brücke" zeigt sich prinzipiell untauglich, auch nur im Groben den Weg zu weisen, welche
Verzichte von Strafe befreien und welche nicht. Weder positiv noch negativ spielt die
Frage, ob der Täter sich von einem Gesetzesversprechen zur Umkehr gereizt gefühlt hat,
eine Rolle.
Grund und Grenzen der Strafbefreiung beim Rücktritt vom Versuch 327
' Vgl. Bottke selbst, der sich an anderer Stelle (Rücktritt vom Versuch der Beteiligung,
S. 32), wo ihm der Wortlaut genehm ist, kritisch auf ihn und den nulla-poena-Satz beruft.
Mal gilt das Analogieverbot, mal gilt es nicht; wie man es gerade gebrauchen kann.
328 Rolf Dietrich Herzberg
' Vom Nutzen und Nachteil der Sozialwissenschaften für das Strafrecht, hrsg. von
Lüderssen und Sack, 1980, S.238.
10 Vgl. auch Küper, GA 1982, 232, der Walter diese Konstellation vorhält (s.u.,
Fn. 19).
11 A . a . O . (Fn.3), S.341 f.
12 AT, 16.Aufl. (1986), § 1 4 IV 4: „Nach dem Sinn und Zweck des § 2 4 keine
Strafbefreiung", wenn der Täter „vom Betrugsversuch zur Beraubung des . . . Opfers
übergeht, . . . somit nur das Mittel der Täuschung durch das brutalere Mittel der gewaltsa-
men Wegnahme ersetzt...".
Grund und Grenzen der Strafbefreiung beim Rücktritt vom Versuch 329
Gemeinsam ist allen vier Autoren, daß sie sich gar nicht erst bemühen,
ihre Lösung als mit dem Gesetzeswortlaut vereinbar hinzustellen.
Bottke etwa findet es als Begründung im Brandstifterfall hinreichend,
daß der Täter durch den Verzicht „nur seine größere Gefährlichkeit"
demonstriere und daß sein Rücktrittsmotiv „tadelnswert" sei. Skepti-
scher ist Roxin". Er bringt das Beispiel der „Wegelagerer", die einen
ersten Raubversuch abbrechen, um sich einem überraschend auftauchen-
den zweiten Opfer zuzuwenden, das ihnen lohnender scheint. Seine
Lösung differenziert: Ein freiwilliger, also strafbefreiender Rücktritt sei
anzunehmen, wenn den Tätern die Beraubung beider Opfer offengestan-
den hätte16, ein unfreiwilliger, wenn nach Lage der Dinge nur eine Tat
möglich war. Diesen Fall bemüht sich Roxin schon im Faktischen so zu
schildern, daß die Verneinung von Freiwilligkeit auch vom Umgangs-
sprachsinn her einleuchten möge: Die Täter „müssen" vom ersten
Spaziergänger „zu ihrem Arger" ablassen, „weil der reiche X des Weges
kommt, dessen Ausplünderung nach ihren Zunftgrundsätzen den Vor-
rang besitzt". Den Tätern legt er entsprechende Worte in den Mund:
„Wir mußten wohl oder übel den kleinen Fisch davonschwimmen
lassen, um den größeren zu erreichen."
Das ganze ist eine Kompromißlösung, mit der Roxin deutlich Gefahr
läuft, zwischen die Stühle zu geraten. Er selbst sieht „das entscheidende
Bewertungskriterium . . . darin, ob der Rücktritt Ausdruck eines . . .
Willens zur Rückkehr in die Legalität . . . ist"17. Dann kann es zur
Strafbefreiung nicht reichen, daß die Wegelagerer das erste Opfer groß-
mütig und unnötigerweise ziehen lassen. Vielmehr müßten sie ihre
Raubentschlossenheit beenden oder doch unterbrechen. Wird ihr Ver-
zicht überhaupt erst dadurch ausgelöst, daß sich größere Beute anbietet,
dann verharren sie mit Wille und Tat im Unrecht und verändern nur die
Stoßrichtung. Andererseits erreicht Roxin mit diesem Abstrich vom
„Rückkehr"-Erfordernis, obwohl er an dessen Substanz geht, bei wei-
tem noch nicht die Vereinbarkeit seiner Konzeption mit dem Gesetzes-
wortlaut. Die Wegelagerer verzichten beim zuerst Überfallenen nicht
deshalb „unfreiwillig" auf die Vollendung, weil sie vor einem Entweder-
Oder stehen. Das indiziert schon die Überlegung, daß die mit dem
Verzicht beschlossene Tat, der zweite Überfall, den Tätern ja als ein
Werk ihrer Freiheit zur Schuld zugerechnet wird. Doch bedarf dieser
Kernpunkt des Problems einer weiter ausholenden Betrachtung.
*« So in der Tat Jakobs, AT, 1983, 26/34, 35, 41 (strafbefreiender Verzicht auf den
Versuch zu § 315 d, auch wenn der Täter nur zum Zweck der Vergewaltigung seiner
Beifahrerin zurücktritt). Mit dieser Lösung verwirft Jakobs aber die Lehre, der er zu folgen
glaubt; näher dazu Herzberg, in: Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, 1986, S. 717f.
332 Rolf Dietrich Herzberg
a) Die Eindruckstheorie
Man muß darum den Autoren, deren konkrete Fallentscheidungen
hier - zunächst nur vom Gesetzeswortlaut her - kritisiert wurden,
dankbar sein, daß sie sich zu harten Konsequenzen bekennen und so
eine Richtigkeitsprüfung möglich machen. Schon insoweit fragwürdig
scheint mir dagegen eine beliebte, u. a. von Gores vertretene Spielart der
Strafzwecktheorie, die von den Strafzweckaspekten den „rechtserschüt-
ternden Eindruck" gewissermaßen verabsolutiert und mit ihm als dem
„Grund der Strafbarkeit des Versuchs" erklären will, warum umgekehrt
„im Falle des freiwilligen Rücktritts . . . ein Strafbedürfnis nicht notwen-
digerweise" bestehe, auch wenn spezialpräventiv Strafe geboten erschei-
nen möge. Wo nämlich „der Täter . . . freiwillig auf den Boden des
Gesetzes zurückgekehrt" ist, hat sich „sein ursprünglich vorhandener
verbrecherischer Wille . . . letztlich nicht durchgesetzt. Zu einer Verlet-
zung des geschützten Rechtsgutes ist es nicht gekommen. Von daher
wird der negative, rechtserschütternde Eindruck zumindest teilweise
wieder aufgehoben, bzw. er erscheint . . . insgesamt nicht so nachhaltig,
daß eine Bestrafung dringend erforderlich wäre"181.
Der aufmerksame Leser wird sich zunächst daran stoßen, daß das
Wort „freiwillig" nicht in seinen Kontext paßt. Der Einbrecher, der
nach Öffnung des Kellerfensters aufgibt, weil er sich aus einem Nach-
barhaus beobachtet fühlt, hebt, an Gores' Begründung gemessen, den
rechtserschütternden Eindruck teilweise wieder auf, denn „sein
ursprünglich vorhandener verbrecherischer Wille hat sich letztlich nicht
durchgesetzt", und „zu einer Verletzung des geschützten Rechtsgutes ist
es nicht gekommen". Nähme Gores aufgrund seiner Eindruckstheorie
tatsächlich Strafbefreiung an, so wäre das auch nicht ohne eine gewisse
Logik. Denn wäre der Einbrecher wegen des Beobachters im Nachbar-
haus etwas früher, z.B. schon am Gartentor, umgekehrt, dann hätte er
trotz Unfreiwilligkeit den bösen Eindruck eines Versuches bereits ver-
mieden. Also hebt er ihn wieder auf, wenn er aus demselben Grund nach
Versuchsbeginn aufgibt. Da freiwilliges und unfreiwilliges Unterlassen
des Versuches rechtlich gleichstehen, ist für die Unterscheidung kein
Platz in einer Rücktrittslehre, die den Rücktritt gleichsam als Spiegelbild
des Versuchs betrachtet. Gores' Ratio-Erklärung gerät darum ungewollt,
aber deutlich und zwangsläufig, in Widerspruch zum Freiwilligkeits-
merkmal, auch wenn dessen Geltung natürlich nicht geleugnet wird.
Seine Eindruckstheorie legitimiert es nicht und ist schon gar nicht in der
Lage, es inhaltlich zu erklären. Da Gores es ihr gewissermaßen als
Fremdkörper einfügt, kann er auch nur sagen, der rechtserschütternde
A . a . O . (Fn. 3), S. 155 f. Ganz ähnlich v.Scheurl, Rücktritt vom Versuch und
Tatbeteiligung mehrerer, 1972, S. 27 f.
Grund und Grenzen der Strafbefreiung beim Rücktritt vom Versuch 333
,8b A . a . O . ( F n . 3 ) , S.156.
1,c Schmidhäuser, Studienbuch AT, 2. Aufl. (1984), 11/69.
334 Rolf Dietrich Herzberg
1. Sachwidrige Bestrafungen
Die Strafzwecktheorie hat es bisher versäumt, sich selbst den nächst-
liegenden Einwand zu machen. Wenn der Täter, von außen unbedrängt,
auf die Vollendung seines Versuches verzichtet, ohne sich dadurch dem
Recht wieder zuzuwenden (Fallgruppe 112) oder sogar nur zu dem
Zweck, anderes und vielleicht schwereres Unrecht zu tun (Fallgruppe
II 1), warum soll es dann nicht genügen, ihn je nach der Realisierung des
von ihm weiterhin zu erwartenden bzw. sogar schon beschlossenen
Unrechts zu bestrafen? Warum soll er außerdem auch noch für den
Versuch belangt werden, den er doch aus sich heraus, in autonomer
Entscheidung, preisgegeben hat? Diese Fragen werden von der Straf-
zwecktheorie gar nicht gestellt, geschweige denn beantwortet. Sie tut,
als sei die Notwendigkeit der Versuchsbestrafung so selbstverständlich,
daß sie keiner Begründung bedürfe.
" A . a . O . (Fn. 1), Anm. 3b, bb. - Ganz ebenso steht Küper, GA 1982, 232, speziell
Walters Fassung der Strafzwecklehre in ablehnender Zustimmung gegenüber: „Eine ganz
andere Frage ist freilich, inwieweit sie sich mit dem Gesetz noch vereinbaren läßt und ob
sie nicht weithin mehr .gesetzeskritische' als .interpretative' Bedeutung beanspruchen
kann. Dieses Problem, dem der Verf. m. E. zu wenig Aufmerksamkeit schenkt, stellt sich
insbesondere bei der .Freiwilligkeit' überhaupt und der .freiwilligen' Aufgabe einer
konkreten Tat zugunsten eines neuen, für den Täter reizvolleren Vorhabens: Der sprachli-
che Sinngehalt der gesetzlichen Regelung kann hier, wie in manchen anderen Fällen (§ 24 II
StGB!), wohl schwerlich mit den wünschenswerten oder plausiblen kriminalpolitischen
Entscheidungen zur Deckung gebracht werden. Diese positivrechtliche Bewährungs-
probe' hat das ,Bewährungsmodell' noch zu bestehen."
20 Beispiele: Er, aber noch nicht das Mädchen, sieht Spaziergänger näherkommen, so
daß ihm gerade noch für die räuberische Erpressung Zeit bleibt.
Grund und Grenzen der Strafbefreiung beim Rücktritt vom Versuch 337
Doch es drohen noch schlimmere Fehler. Man stelle sich vor, der
Täter des Beispiels würde nach dem Umstieg auf die Erpressung aus
Scham dann doch noch auch diese sein lassen. Wer mit JJlsenheimers
Begründung die Strafbarkeit nach §§ 177, 22 StGB festgehalten hat, kann
sie nun nicht mehr beseitigen. Denn des Täters Verzicht auf das Vermö-
gensdelikt betrifft nicht den bereits erledigten Vergewaltigungsversuch;
einen nicht mehr existenten Entschluß kann man nicht aufgeben. Der
Extremfall sähe so aus: Ein fest zur Vergewaltigung entschlossener
Mann läßt sich viermal nacheinander vom Flehen der Opfer bewegen,
seine Versuche abzubrechen und auf die nächste Frau zu warten. Bei der
fünften ist er dann endlich so weit, mit der Tat auch den Deliktsent-
schluß überhaupt aufzugeben. Richtig kann hier nur die Entscheidung
sein, alle fünf Vergewaltigungsversuche nach § 2 4 StGB straffrei zu
stellen. Die h. A. könnte das nur für den letzten tun. Die ersten vier
müßte sie in Realkonkurrenz bestrafen - obwohl doch der Täter aus
Mitleid seine Opfer immer wieder verschont und auf die geschlechtliche
Befriedigung schließlich ganz verzichtet hat.
21 Vgl. Küper, JZ 1979, 779 f, der, obwohl selbst Anhänger einer „kriminalpolitisch-
strafzweckorientierten Deutung des Rücktrittsprivilegs" (Fn.44), hier die direkte Ablei-
tung aus der ratio legis scheut und die dogmatische Verneinung der Tataufgabe bevorzugt.
22 A . a . O . (Fn. 12), 26/10.
338 Rolf Dietrich Herzberg
2. Sachwidrige Strafbefreiungen
Wir haben bis jetzt nur herausgefunden, daß die Strafzwecktheorie
von ihrem Ansatz her in manchen Fällen den wirksamen Rücktritt
verneint oder verneinen muß, obwohl dies gleichermaßen dem Gesetzes-
wortlaut wie der Sachgerechtigkeit widerspricht. Die Frage, ob sie auch
Fehlbeurteilungen zugunsten des Täters hervorbringt, ist weniger dring-
lich, weil insoweit das Analogieverbot nicht gilt, für die Gesamtbewer-
tung aber natürlich doch von Interesse. Bei flüchtigem Hinsehen scheint
es, als lägen hier die Trümpfe der h. A. Denn sie scheint immer zurecht-
zukommen, wenn sich der Täter von außen bedrängt sieht, die (noch
mögliche) Vollendung der begonnenen Tat zu vermeiden, insbesondere
wegen erhöhter Bestrafungsgefahr. Ein so motiviertes Vermeiden, lehrt
sie eindrucksvoll, ist „geschmeidige Anpassung" an die Gegebenheiten,
aber nicht anerkennbar als Rückkehr zur Legalität oder Bewährung in
einer Konfliktsituation, mag auch der Täter sich keineswegs übermäch-
tig zum Verzicht gezwungen gefühlt haben und seine Entscheidung
deshalb in psychologisierender Sicht eine freie zu nennen sein.
23
Eingehend zum „Rücktritt mit Deliktsvorbehalt" Herzberg, a. a. O . (Fn. 18), S. 709.
Grund und Grenzen der Strafbefreiung beim Rücktritt vom Versuch 339
hatte, führt nicht zum Ziel". Wer sich unbeobachtet anschickt, einen
Ziegelstein in eine Schaufensterscheibe zu werfen, dann aber einen
Polizisten um die Ecke biegen sieht, mag schwanken und sich seiner
Freiheit freuen, es dennoch und „jetzt erst recht" zu tun. Wirft er, macht
er sich in schuldhaft-freier Entscheidung wegen vollendeter Sachbeschä-
digung strafbar. Wirft er aber nicht, weil er die Vermeidung der Fest-
nahme wählt, dann wählt er, wertend beurteilt, nicht „freiwillig" i. S.
von §24 StGB.
Auch die originelle Konzeption eines psychologischen Freiwilligkeits-
begriffs, die Jan Schrödervorgelegt hat, verbürgt nicht die richtigen
Entscheidungen. Nach Schröder ist der Rücktritt „psychologisch frei-
willig, wenn der Delinquent das Delikt nicht (mehr) wünscht". Daß sich
die Vollendung dank veränderter Umstände verbietet, wird dem nur
zaghaft Entschlossenen oft willkommen und erwünscht sein. Im Beispiel
etwa, wenn der Versuchstäter mit dem Wurf vor seinen Gefährten eine
Mutprobe ablegen sollte und diese sich mit dem Erscheinen des Polizi-
sten nach allgemeiner Einsicht erledigt. Schröder will dann konsequent
Freiwilligkeit und Strafbefreiung bejahen (vgl. S.62). Das scheint mir
ebenso unrichtig wie die Annahme, daß ein Verdurstender sich in
Freiheit zum Trinken entschließe, weil ihm der Trunk ein Labsal ist,
oder daß ein Notstandstäter frei und strafbar handle, wenn er das ihm
mit vorgehaltener Pistole Abgenötigte gerne tut (ζ. B. weil er das Opfer,
das er verprügeln soll, nicht leiden mag). Auch wer sich dem Zwang mit
Freuden beugt, bleibt ein Gezwungener. Jan Schröders Kriterium hat
zudem die unangenehme Nebenwirkung, dem Zurückgetretenen eine
billige und schwer widerlegliche Verteidigung zu öffnen.
24 Darum muß man der Strafzwecktheorie folgen, soweit sie eine normativ ansetzende
Interpretation fordert. Ihr für diese aber ein Monopol zuzuerkennen (vgl. etwa Gores,
a . a . O . , Fn. 3, S. 153), besteht kein Anlaß. Wer ihre Unvereinbarkeit mit dem Gesetzes-
wortlaut feststellt, ist deshalb keineswegs, wie Lackner bedauernd anzunehmen scheint, zu
einer psychologisierenden Deutung verurteilt.
25 Der bedingte Tatentschluß, 1969, S. 6 1 - 6 7 . Ergänzend fügt Schröder einen „sittlichen
Freiwilligkeitsbegriff" hinzu, der sich mit dem psychologischen überschneidet und dafür
sorgt, daß auch Fälle des autonom, aber widerwillig beschlossenen Verzichtes der Rück-
trittsbestimmung unterfallen.
340 Rolf Dietrich Herzberg
zu einem Rücktritt die „Rückkehr unter die Herrschaft des Rechts", die
„hinreichende Normbefolgungsbereitschaft" oder die Indizierung künf-
tiger Ungefährlichkeit 2 6 hinzukommen, damit der Rücktritt von Strafe
befreit, dann müssen umgekehrt diese positiven Werte auch fehlen,
damit man den Versuch trotz Rücktritts noch bestrafen darf. Man
umgeht den Erprobungsfall, wenn man beim Anpassungsrücktritt
immer unterstellt, der Täter verbinde mit seiner „vernünftigen" Ent-
scheidung für die Deliktsvermeidung natürlich nichts als den Willen, bei
nächster Gelegenheit wieder das Recht zu mißachten. Unser Ziegelstein-
werfer kann sich doch ebensogut sagen, dies solle ihm eine Warnung fürs
Leben sein, niemals mehr wolle er fremdes Eigentum angreifen und bei
Versuchungen immer an den Polizisten denken, der um die Ecke kam.
D a s wäre ein inneres „Bekenntnis zur Rechtsordnung", wie man es sich
schöner nicht wünschen kann, und bei einem solchen Damaskuserlebnis
und Durchbruch der Normbefolgungsbereitschaft lassen sich zweifellos
gute Gründe finden, auf Speziai- und Generalprävention zu verzichten.
Wenn also diese Kriterien das Merkmal „freiwillig" ausfüllen oder,
ehrlicher gesprochen, an seine Stelle treten sollen, dann muß man nun
auch z u m Schutz des Täters vor sachlich unberechtigter Strafe die
Konsequenz ziehen. Aber das geht offenbar nicht. Man kann einem
Richter nicht zumuten, im Geist der kritisierten Ansicht auch den
umständehalber zurückgetretenen Täter zu befragen, ob er sich sein
Scheitern denn habe zur Lehre dienen lassen, und ihm zu eröffnen, daß
er ihn gegebenenfalls wegen Rücktritts freisprechen werde.
IV. Z u s a m m e n f a s s u n g u n d Kritik
27
Die kriminellen Karrieren von Sexualverbrechern lehren das Gegenteil! Die Progno-
severfälschung ist aber notwendig, weil für die Strafzwecktheorie andernfalls eine Ver-
suchsbestrafung fällig wäre, die dem Gesetz zuwiderliefe.
28
Roxin, ZStW 77, 97.
29
BGHSt. 9, 51 f.
30
A . a . O . (Fn.3), S. 501.
31
Roxin, a . a . O . (Fn. 7), S.255.
342 Rolf Dietrich Herzberg
schreitet. Sie kann nach allem nicht ebenso schön und zeitgeistgemäß
sein, wird manchem wohl auch zu simpel erscheinen, mag aber diese
Mängel ein wenig durch größere Konsistenz, Schlüssigkeit und vor allem
Ergiebigkeit bei der Ausdeutung der Einzelmerkmale ausgleichen.
32
Puppe, N S t Z 1984, 491 : „Die Rücktrittsregeln . . . sind ein Fremdkörper im System
und stehen . . . quer zur Strafbarkeit des Versuchs und den sie tragenden P r i n z i p i e n . . . "
35 Hauptvertreter: Baumann/Weber, A T , 9. Aufl. (1985), § 3 4 1 1 ; Bockelmann, NJW
1955, 1420; Dreher/Tröndle, S t G B , 42. Aufl. (1985), § 2 4 R d n . l ; Geilen, A T , 5. Aufl.
(1980), S. 171; Heinitz, J R 1956, 248; Jescheck, A T , 3. Aufl. (1978), § 5 1 1 3 (mit weiteren,
freilich nicht ausnahmslos zutr. Nachw. in Fn. 11); Kienapfel, A T , 1985, S. 85; Wessels,
A T (Fn. 12), § 1 4 I V I .
34 Vgl. Bloy, Die dogmatische Bedeutung der Strafausschließungs- und Strafaufhe-
bungsgründe, 1976, S. 157: Man macht „das - von der Rechtsordnung aus gesehen -
Selbstverständliche zum besonders Anerkennenswerten. Als solches kann es nur von dem
bewertet werden, der die Erfüllung seiner Pflichten als besondere Leistung ansieht".
344 Rolf Dietrich Herzberg
Recht nicht fremd, wenn es dem Finder einen „Lohn" schon dafür
zubillige, daß er die Fundunterschlagung unterlasse (§971 B G B ; vgl.
besonders Abs. 2). Man wird das gelten lassen müssen und der Prämien-
theorie vielleicht sogar einräumen, daß sie einen Aspekt betont, der für
die Entscheidung des Gesetzgebers eine gewisse Rolle gespielt hat. Den
eigentlichen Grund hat sie damit aber bestimmt nicht gefunden. Erstens
ist die Leistung des ohnehin Geschuldeten denn doch ein zu geringes
Verdienst, als daß die Prämie der Totalbefreiung von der verwirkten
Versuchsbestrafung, d.h. der Erlaß von vielleicht vielen Jahren Frei-
heitsstrafe, adäquat erschiene. Und zweitens stellt das Gesetz auf den
verdienstlichen Rücktritt nun einmal nicht ab. Selbst wenn man insoweit
nur ganz bescheidene Ansprüche stellt, versagt der Gedanke der prämie-
rungswürdigen Abkehr in den Fällen des kaltschnäuzig-freiwilligen
Aufhörens zum alleinigen Zwecke eines noch schlimmeren Tuns
(Abbruch der Brandstiftung mit dem Ziel späterer Erntevernichtung,
Ubergang vom Betrugsversuch zum kurzen Prozeß der Beraubung des
Opfers).
Die Prämientheorie ist sich der Schwäche des Verdienstlichkeitsaspek-
tes bewußt und versucht, die hier ansetzende Kritik aufzufangen, indem
sie, wie es ihr Zweitname ausdrückt, die Strafbefreiung auch als
Gnadenerweis hinstellt. Ohne Ansehung des Delinquenten und der
näheren Umstände des Falles Gnade zu gewähren kann aber dem
Strafgesetzbuch schwerlich gestattet sein. Man gäbe ihm sonst einen
Freibrief auch für ganz irrationale Strafverzichte. Nach der ratio legis
befragt, erklärt die Gnadentheorie weniger diese als die eigene Ratlosig-
keit. Da sie keinen rechtlichen Grund für das Gesetz findet, sagt sie, daß
es Gnade vor Recht gehen lasse.
35 Denn vom Versuch wird der Täter oft anders als durch Selbstanzeige zurücktreten
(ζ. B. durch Nachreichen von Unterlagen beim Steuerberater kurz vor dessen Erklärungs-
abgabe beim Finanzamt). Zur Konkurrenz von §371 AO und §24 StGB vgl. Kohlmann,
Steuerstrafrecht, 3. Aufl. (1980), Rdn. 196-199.
36 Der §§158,163 II StGB, die genau wie die §§ 310 StGB, 371 AO das Freiwilligkeits-
merkmal nicht enthalten, wird sich die Strafzwecktheorie wohl in der Weise bemächtigen,
daß sie das richterliche Ermessen an die Rückkehr des Täters in die Legalität bindet (was
freilich völlig unpraktikabel wäre).
Grand und Grenzen der Strafbefreiung beim Rücktritt vom Versuch 349
Obwohl der Name das Gemeinte gut andeuten würde, zögere ich,
von einer „Erledigungstheorie" zu sprechen. Sie hätte wohl den Vorwurf
zu fürchten, daß sie Altes und Überholtes nur neu verpacke. Zwar hat
sie in Wahrheit mit dem Gedanken einer „Annullierung" (Zachariä),
einer „Paralysierung" (Binding) oder einer „rückwirkenden Beseiti-
gung" (Luden) des Versuches selbst nichts gemein, aber daß eine Kritik
oberflächlich wäre, bewahrt sie selten davor, geäußert zu werden. Die
Bezeichnung als „Schulderfüllungstheorie" mag darum zweckmäßiger
sein: Der freiwillig Zurücktretende befreit sich von staatlicher Zwangs-
androhung, weil er seine Schuld durch eine ihm zurechenbare Leistung
erfüllt38.
Aus diesem Blickwinkel gewinnt die Bezeichnung, die eine starke
Mindermeinung dem wirksamen Rücktritt gibt, einen eigentümlichen
Reiz. Denn ihn als „Entschuldigungs-" oder „Schuldtilgungsgrund"3'
anzusehen wäre ja richtig, wenn man hier unter „Schuld" statt der
strafrechtlichen Vorwerfbarkeit die Pflicht des Schuldners, die sich
gegen ihn richtende Forderung zu erfüllen, verstünde: Der Zurücktre-
tende macht sich insofern von Schuld frei, als er die durch den Versuch
begründete Wiedergutmachungsschuld abträgt. So, wie die Minderan-
sicht ihre Begriffe versteht, zieht sie den kaum zu entkräftenden Ein-
wand auf sich, daß unbestreitbar auch der freiwillig zurückgetretene
Versuchstäter schuldhaft ein Delikt begangen habe und sein Rücktritt
dies nicht aus der Welt schaffe40. In unserem Sinne umgedeutet, entginge
sie ihm, und sie könnte sich überdies zugute halten, daß sie eine
Erklärung biete, wo die herrschende Klassifizierung des Rücktritts als
Strafaufhebungsgrund eigentlich nur nachspricht, was das Gesetz schon
gesagt hat.
Die Erprobung der Schulderfüllungstheorie in mündlicher Diskussion
hat mir gezeigt, daß sie an Kritik vor allem den Hinweis auf Uberein-
stimmungsmängel zu erwarten hat. Man könnte vorbringen, die Selbst-
befreiung vom Strafanspruch durch Rücktritt sei mit der Zwangsandro-
hungserledigung in anderen Rechtsgebieten nicht vergleichbar, weil jene
Gedankengang hat gezeigt, daß §24 StGB sachlich eng mit den §§153, 153a StPO
zusammenhängt. Die Vorschrift bildet gewissermaßen einen Brückenkopf des prozeß-
rechtlichen Opportunitätsprinzips im materiellen Strafrecht. Indes liegt ein Nachteil in der
Blässe des Namens. Inopportun kann Strafe aus den verschiedensten Gründen sein. Die
Bezeichnung höbe den ganz spezifischen Gesichtspunkt nicht hervor, daß hier wegen
erledigender Pflichterfüllung Strafe nicht angezeigt ist.
39 Vgl. Haft, JA 1979, 312; Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 1970, S. 35 f;
Rudolphi, a.a.O. (Fn.3), §24 Rdn.6; Ulsenbeimer, a.a.O. (Fn.3), S. 102f; Schänke/
Schröder, 17. Aufl. (1974), §24 Rdn.2, 38.
40 Ebenso, wie die Rückzahlung eines Darlehens nicht ungeschehen macht, daß der nun
41
Vgl. Roxin, a . a . O . (Fn. 7), S.264; Bottke, a . a . O . (Fn.3), S.514; Walter, a . a . O .
(Fn. 3), S. 93.
4,1
A . a . O . (Fn.3), S.399.
Grund und Grenzen der Strafbefreiung beim Rücktritt vom Versuch 353
punkt will das wenig passen. Der Rücktritt sei ein „objektivierter Widerruf" des Versuchs,
der dem Täter ebenso wie zuvor der Versuch zurechenbar sein müsse, „in dem Sinn . . . , in
dem gute Werke zurechenbar sein können" (26/1). Der Herzanfall oder das Zittern beim
Zielen als zurechenbares gutes Werk?
Grund und Grenzen der Strafbefreiung beim Rücktritt vom Versuch 357
lösen? So befragt offenbart uns das Zivilrecht eine Fülle von rechtlichen
Regeln und Begriffen, bei denen es um eben diese Unterscheidung und
um die Anerkennung des unfreiwilligen Sichlösens geht. Solche Aner-
kennung begegnet uns etwa, wenn eine tieferdringende Auslegung
ergibt, daß eine Partei, die sich gegen die Klage aus buchstäblich
Vereinbartem wehrt, im Recht ist. Sie begegnet uns weiter in gesetzespo-
sitiven Regelungen wie denen über Leistungsstörungen ( z . B . § § 4 5 9 f f
B G B ) oder Motivirrtümer ( z . B . § 119 II B G B ) und allgemein im Auf-
fanginstitut des Fehlens oder Wegfalls der „Geschäftsgrundlage". Daß
wir diesen Begriff hier zugleich - abweichend vom zivilrechtlichen
Sprachgebrauch - in einem umfassenden Sinn gebrauchen (vgl. die
Uberschrift), dient nur der sprachlichen Vereinfachung. Ein Recht, sich
wegen Fehlens oder Wegfalls der Geschäftsgrundlage zu lösen („zurück-
zutreten"), besteht also ζ. B., wenn jemand einen Mangel der von ihm
gekauften Sache entdeckt oder nach § 326 B G B fruchtlos die Nachfrist
gesetzt oder einen massiv goldenen Ring irrig als Dublee und viel zu
billig verkauft hat oder wenn ein Anstreicher mit dem Verlobten seiner
Tochter noch vor Auflösung des Verlöbnisses einen Vorzugspreis für die
Renovierung der Wohnung vereinbart hat oder wenn einen Bauunter-
nehmer die Einhaltung des Vertrages wegen der unerwarteten Bodenbe-
schaffenheit ruinieren würde. Pacta sunt servanda, aber in solchen Fällen
sieht das Zivilrecht die von der Gegenseite Enttäuschten oder von den
Umständen Überraschten so unter Druck, daß es ihnen das Konsequent-
bleiben nicht zumutet und ihre Abstandnahme nicht als willkürlich-
freie, sondern als umständebedingt erzwungene und ihnen in diesem
Sinne nicht zurechenbare (nicht anlastbare) Entscheidung bewertet 47 .
Bei einem vergleichbaren Rücktritt vom strafbaren Versuch kehren
sich natürlich die Vorzeichen um: Das Urteil, die Umstände hätten die
Abstandnahme angezeigt erscheinen lassen, ist für den Zurückgetretenen
nachteilig, günstig hingegen ist die Bewertung, sie sei grundlos gewesen
und freiem Belieben entsprungen. So gewendet lassen sich die zivilisti-
schen Wertungen aber ins Strafrecht übertragen. Das zeigt sich am
47 Aufschlußreich und ein Zeichen für die Stimmigkeit unseres Vergleichs ist, daß ihn
ganz beiläufig auch Eser, a . a . O . (Fn.3), §24, Rdn.47 empfohlen hat - sozusagen
instinktiv, denn es fehlt noch der Nachweis, inwiefern auch im Zivilrecht der vom Wegfall
der Geschäftsgrundlage Betroffene unfreiwillig zurücktritt, sowie die wirkliche Auswer-
tung der zivilistischen Regeln. Weitgehende Überschneidungen ergeben sich natürlich,
trotz der stark abweichenden Sicht des Grundgedankens, mit Roxins Kriterium der
„Verbrechervernunft". Die Schwäche dieser Lehre, die sich in der vielgerügten Beliebigkeit
ihrer Ableitungen zeigt, sehe ich vor allem darin, daß sie normative Maßstäbe anzuwenden
behauptet, ohne sie vorweisen zu können. Jedenfalls benennt sie keine rechtlichen Regeln,
die gerade die von egoistischer Vernunft gebotenen Entscheidungen als unfrei anerkennen
und Orientierungspunkte vorgeben.
Grund und Grenzen der Strafbefreiung beim Rücktritt vom Versuch 359
48 Unmöglichkeit der Ausführung (F ist nicht da) bedeutet, daß es schon am „Aufge-
gerer seine Vaterschaft anerkennt und für das Kind zu sorgen gelobt;
Verzicht auf die Vergewaltigung, weil die Überfallene Frau selbst Lust zu
haben vorgibt und nur um etwas Zeit zum Ausruhen bittet50.
Das Lager der Strafzwecktheorie ist gespalten. Ulsenheimer (der sich
nur zu den beiden ersten Fällen äußert) bejaht - im Anschluß an die
Gerichte - die Freiwilligkeit. Die Begründung wirkt etwas dürftig. Sie
besteht hauptsächlich in der Hervorkehrung des Umstandes, daß die
Täter ja exakt die gewollte Tat auch hätten begehen können - was freilich
für jeden Rücktritt vorauszusetzen ist und den fraglichen Punkt nicht
trifft. Insoweit beachtlich ist allenfalls der beiläufige Hinweis auf die
„zweifellos positiv zu bewertenden Beweggründe der Tataufgabe"51.
Andere entscheiden entgegengesetzt52. Das zwingt ihnen die Last des
Beweises auf, daß ganz generell gegenüber Versuchstätern, die infolge
Motivwegfalls aufgeben, Strafe angezeigt bleibe. Bottke führt mit Blick
auf das dritte Beispiel an: „Ein Vergewaltiger, der so handelt, . . . gibt
durch seinen ,situationsadäquaten' Rücktritt kein gutes, sondern ein
schlechtes Beispiel und unterstreicht durch die ,objektiv vernünftige'
Wahl der lustversprechenderen Handlungsalternative nur seine Gefähr-
lichkeit"53. Will der Autor hier den Leser auf den Arm nehmen? Wer auf
die Notzucht verzichtet und sich auf den Vorschlag eines späteren,
beiderseits lustvollen Geschlechtsverkehrs einläßt, gibt „ein schlechtes
Beispiel" und „unterstreicht seine Gefährlichkeit" ? Da täte er zur Ver-
meidung des belastend schlechten Eindrucks wohl gut daran, die Not-
zucht weiter zu versuchen? Ein Scherz also, aber in ihm steckt ein
verschwiegenes Eingeständnis: daß die Strafzwecktheorie diese Fälle
nicht bewältigt und mit ihrer Ratioerklärung zu hoch greift.
Die richtige Begründung ist schlichter. Fällt die Sinngrundlage eines
Deliktsvorhabens weg, dann gerät der Täter unter den Druck, das
Vorhaben aufzugeben. Die Investition, das Risiko der Strafe für ein
vollendetes Delikt auf sich zu nehmen, wäre eine Fehlinvestition. Die
Entscheidung aufzuhören ist unter diesen Umständen nicht als frei zu
bewerten und nicht als eigene Leistung zurechenbar. Sie wurde dem
Täter von den Umständen „abgenommen". O b Strafe von ihren Prä-
ventionszwecken her geboten scheint, ist für die materielle Strafbarkeit
hier sowenig Voraussetzung wie in anderen Fällen. Tatsächlich wird es
daran auch häufig fehlen. Der Versuch kann, wie im zweiten Beispiel,
einer einmaligen Konfliktlage entsprungen sein, und nach Auflösung des
Konflikts, die das Motiv entfallen ließ, kann aller Anlaß bestehen, in
Anwendung prozeßrechtlicher Vorschriften oder des §59 StGB die
Bestrafung des sozial integrierten Täters möglichst zu vermeiden. Die
Strafzwecktheorie gerät dann in die paradoxe Lage, das Strafbedürfnis
trotzdem zwecks sachrichtiger Verneinung des Rücktritts zunächst ein-
mal behaupten zu müssen. Da ist natürlich kaum noch zu verbergen,
was diese Lehre auch sonst nicht selten tut. Sie leitet das Strafbedürfnis
heimlich aus einer gefühlsmäßig erfaßten Unfreiwilligkeit ab, um es
dann mit Aplomb als deren i. c. gegebene Voraussetzung hinzustellen.
Der Wegfall von Tatmotiv und Sinngrundlage schafft eine extreme
Situation, in der die Umstände den Täter so stark zum Aufhören
drängen, daß das Werturteil „unfreiwillig" deutlich zutrifft. Die Mehr-
heit, die damit im Ergebnis übereinstimmt, argumentiert hier der Sache
nach mit dem Aspekt der Unzumutbarkeit, dessen Relevanz sich gleich-
sam umkehrt: Zu unterlassen, was billigerweise nicht (mehr) erwartet
werden kann, ist keine Leistung und deshalb nicht anrechenbar als frei
gefällte Entscheidung, im Guten sowenig wie im Bösen. Daß in derarti-
gen Fällen manche gleichwohl die Freiwilligkeit bejahen, beruht auf dem
psychologisierenden Mißverständnis des Begriffs.
Viel schwankender ist die normativ ansetzende Beurteilung in den
benachbarten Fällen, in denen die unerwarteten äußeren Umstände das
Motiv an sich unberührt lassen, ihm aber entgegenwirken. Zweifel
entstehen hier, wenn solche Umstände den Tatverzicht nicht dringend
geboten erscheinen lassen (wie etwa das Auftauchen von Polizisten),
sondern ihn nur bedenkenswert machen. Ist es z.B. schon unfreiwillig,
wenn der Täter sich wieder zurückzieht, weil der Keller, aus dem er
stehlen wollte, knöchelhoch unter Wasser steht, der Fußgängerverkehr
draußen doch etwas lebhafter ist als erwartet oder das verwahrloste
Mädchen, an dem er sexuelle Handlungen vornehmen wollte, unange-
nehm riecht? Daß jede rücktrittskausale Erschwerung, Gefahrvermeh-
rung oder Begehrensminderung, wenn sie nur unerwartet und von außen
kommt, schon genügen soll, den Verzicht als unfreiwillig oder als die
Konsequenz eines Fehlschlags zu betrachten (die Gesichtspunkte sind
hier weitgehend austauschbar), ginge wohl zu weit. Der Anteil, den die
362 Rolf Dietrich Herzberg
54
Das Problem dieser Fälle wird besonders deutlich gesehen von Stratenwerth, AT,
3. Aufl. (1980), Rdn. 721, der - sachlich übereinstimmend - darauf abstellt, ob „die
Nachteile . . . in der Sicht des Täters . . . unverhältnismäßig schwer ins Gewicht fielen, so
daß es offenbar unvernünftig wäre, sie in Kauf zu nehmen". - Vgl. zur „Empfindlichkeit"
als allgemeinem Zurechnungsmaßstab und zu dessen Reichweite Schlehofer, Einwilligung
und Einverständnis, 1985, S. 72 ff, 82 f.
Grund und Grenzen der Strafbefreiung beim Rücktritt vom Versuch 363
VII. Schlußbetrachtungen
Einen Rücktritt vom Versuch, dessen befreiende Wirkung feststeht,
kann man unter recht verschiedenen Aspekten betrachten. Man kann
z. B. fragen, ob der Täter seinen Versuch vielleicht deshalb preisgegeben
hat, weil ihn das gute Geschäft voller oder weitgehender Strafbefreiung
dazu verlockte. Oder es mag der Betrachter den Rücktritt als überra-
schendes gutes Werk empfinden, das Belohnung verdient oder gnädig
stimmt. Man kann weiter den Rücktritt als Indiz dafür zu nehmen
versuchen, daß der Täter trotz begangener Straftat seinen Standort im
Grunde doch in der Legalität habe und solche Taten künftig nicht mehr
begehen werde, oder durch den Rücktritt die Rechtsordnung so bewährt
sehen, daß sich ihre Bekräftigung durch Strafe erübrige. Unsere Analy-
sen haben ergeben, daß diese Überlegungen hochspekulativ sind und
keinesfalls weit genug reichen, in allen Fällen die gesetzlich gewährte
Strafbefreiung einleuchtend zu erklären. Man sucht einen allgemeinen
Grund in etwas, was beim wirksamen Rücktritt nur manchmal und eher
ausnahmsweise vorliegt.
StGB dem für gefährlich erklärten Täter u. U . bescheinigen zu müssen, daß er „künftig
auch ohne Verurteilung zu Strafe keine Straftaten mehr begehen w i r d . . . und die Verteidi-
gung der Rechtsordnung die Verurteilung zu Strafe nicht gebietet". Man kann sich
manchmal nur wundern, mit welchen logischen Gebrechen juristische Theorien doch
strahlend weiterleben.
364 Rolf Dietrich Herzberg
pothese, die plausibel klingt, aber nicht zutrifft, erkennt die behaupteten
Entsprechungen als reines Wunschdenken. Ohnehin auf unsicherstes
Vermuten angewiesen, könnte man sie mit gleichem, ja wohl sogar
besserem Recht umkehren. Denn wer in Freiheit aufgehört hat, bleibt
auch besorgniserregend frei, sich neu zu entschließen, und daß beim
nächsten Mal wieder die Glocken läuten oder die Scham siegt, ist äußerst
ungewiß. Den ertappten Versuchstäter dagegen machen auch ohne Strafe
soziale Sanktions- und Kontrollmechanismen oft unschädlich; auch wird
bei späterer Versuchung das beschämende Erlebnis nicht selten tiefer
sitzen, ja es könnte vielleicht sogar allgemein die Regel gelten, daß
scheiternmachende oder zu unfreiwilligem Aufgeben zwingende
Umstände nachhaltiger wirken als andere, die der Täter aus sich heraus
zum Anlaß genommen hat. Wer wäre für die Zukunft wohl harmloser
als das Opfer andauernder Erpressung, das aus Verzweiflung seinen
Peiniger zu töten sich anschickt, ihn aber am Herzinfarkt verstorben
vorfindet!
Einwand fürchten, wegen der und der Unterschiede seien hier und dort
„die Dinge einfach nicht vergleichbar". Solche Kritik macht es sich zu
leicht. Mit gleichem Recht könnte man erwidern, wegen dieser und jener
Ubereinstimmung seien die Dinge sehr wohl vergleichbar. Behauptung
stünde gegen Behauptung. Uber die Berechtigung unserer Vergleiche
kann darum letztlich allein entscheiden, daß sie zur Lösung von Proble-
men fruchtbar sind. Dies glaube ich gezeigt zu haben: durch die Erklä-
rung der ratio legis ebenso wie durch die Auswertung für umstrittene
Einzelfragen.
3. Natürlich kann man ein zivilistisches Prinzip, wenn es auch für das
Strafrecht Bedeutung hat, in strafrechtliche Kategorien „übersetzen";
was strafrechtlich gilt, hat auch strafrechtlichen Sinn. Wer ihn sucht,
muß allerdings den Fehler vermeiden, sich auf die Negation des Strafsin-
nes zu versteifen, d. h. den Sinn eines Strafverzichtes immer nur negativ
darin erblicken zu wollen, daß Strafe durch ihre Zwecke nicht legitimiert
sei. Berz hat diese die gegenwärtige Debatte prägende Uberzeugung
jüngst so ausgedrückt: „Die Begründung, die die Strafzwecklehre in
ihren unterschiedlichen Variationen für die Strafbefreiung . . . gibt, . . .
i s t . . . schon deshalb zwingend, weil oben als letzter Zweck strafrechtli-
cher Sanktionen der Schutz von Rechtsgütern festgestellt wurde. Dann
kann folgerichtig die Straffreiheit... beim freiwilligen Rücktritt letztlich
nur auf dem fehlenden oder dem stark reduzierten Bedürfnis nach
Rechtsgüterschutz beruhen"56. Auch bei Gössel findet sich dieser
Gedanke des umgekehrten Vorzeichens: „Soll Straflosigkeit wegen
Rücktritts vom zunächst strafbaren Versuch eintreten, so muß der
zunächst gegebene Grund der Versuchsbestrafung nachträglich . . . weg-
fallen oder . . . in seinem Gewicht erheblich vermindert worden sein:
Wäre das nicht so, wäre bei unverändert fortbestehenden Gründen für
die Strafbarkeit des Versuchs nicht ersichtlich, warum er denn nun doch
straflos sein sollte"57. Aber das ist nicht logisch. Auch das Essen recht-
fertigt sich ja nicht nur aus dem Fehlen oder Wegfall von Gründen,
Hunger zu leiden. Diese mögen nach ärztlichem Rat bei einem Überge-
wichtigen „unverändert fortbestehen"; aber wenn er nun bei guten
Freunden zum liebevoll bereiteten Mahle geladen wird und seltene
Delikatessen locken? Genauso kann die Wohltat der Strafbefreiung aus
anderen Gründen als dem Fehlen des Strafinteresses angezeigt sein.
Selbst wo dieses unzweifelhaft weiter besteht, ist denkbar, daß das
Gesetz uns mit Rücksicht auf starke Gegengründe die Freistellung
abverlangt. Es ist banal, aber man muß es anscheinend betonen: Wenn
eine Waagschale, die sich gesenkt hat, in die alte Stellung zurückkehrt,
4. Der Rücktritt als Schulderfüllung, die dem Täter als eigene Leistung
zurechenbar ist; ein ebenso nüchterner wie gewichtiger Gesichtspunkt,
der es uns ersparen könnte, durch kriminalpolitische Spekulationen den
Rücktritt aufwerten zu müssen, damit auch Sinn hat, was aus dem
Gesetz folgt. Sähe man so die ratio legis, so würde man auf sicherem
Grunde bauen. Karl Lackners Abwehr von Lehren, die das Gesetz
überspielen, müßte nicht länger mit dem Ruf nach Gesetzesänderung
verbunden werden, denn §24 StGB wäre ein Sinn gegeben, dem sein
Wortlaut entspräche.
Die Regeln der Technik im Strafrecht
BERND SCHÜNEMANN
1 Denn § 3 1 0 b Abs.4 StGB setzt eine Explosion voraus, d.h. die Freisetzung von
5 Denn bei § 315 c genügt jede Gefährdung von Leib oder Leben oder fremden Sachen
von bedeutendem Wert, während § 330 a selbst vorsätzliches Handeln nur bei der Gefahr
des Todes oder schwerer Körperverletzungen pönalisiert, ähnlich wie sich auch die übrigen
Tatbestände durch komplizierte Einschränkungen gegenseitig überbieten.
4 Vgl. Nickusch, Die Normativfunktion technischer Ausschüsse und Verbände als
Problem der staatlichen Rechtsquellenlehre, jur. Diss. München 1964; Schäfer, Das Recht
der Regeln der Technik, jur. Diss. Köln 1965; Hammer, MDR 1966, 977ff; Ossenbühl,
DVB1. 1967, 401 ff; Nickusch, N J W 1967, 811 ff; Schröcker, N J W 1967, 2285 ff; Karpen,
Die Verweisung als Mittel der Gesetzgebungstechnik, 1970; Herschel, Rechtsfragen der
technischen Überwachung, 2. Aufl. 1972, S. 116 ff; Zemlin, Die überbetrieblichen techni-
schen Normen - ihre Wesensmerkmale und ihre Bedeutung im rechtlichen Bereich, 1973,
S. 168 ff; Fuß, in: FS f. Paulick, 1973, S. 293 ff; Karpen, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer
Theorie der Gesetzgebung, 1976, S. 221 ff; Staats, ibid., S. 244 ff; Hanning, Umweltschutz
und überbetriebliche technische Normung, 1976, S. 64 ff; Breuer, AöR 101 (1976), S. 46 ff;
Staats, ZRP 1978, 59 ff; Backherms, ZRP 1978, 261 ff; ders., Das D I N Deutsche Institut
für Normung e.V. als Beliehener, 1978, S.68ff; ders., JuS 1980, 9ff; Baden, N J W 1979,
β2ίί{·, Jansen, D Ö V 1979, 323 ff; G. Arndt, JuS 1979, 784 ff; Homing, DVBl. 1979, 307 ff;
DIN (Hrsg.), Technische Normung und Recht, 1979; ders,, Verweisung auf technische
Die Regeln der Technik im Strafrecht 369
10 Vgl. bereits Oetker, GS 64 (1904), S. 154 ff; Rotring, Archiv für Kriminal-Anthropo-
logie und Kriminalistik 46 (1912), S. 71 ff; Neumann, Das Blanko-Strafgesetz, 1908; ferner
grundlegend schon Binding, Handbuch des Strafrechts, Band 1, 1885, S. 179 f.
11 Der Grund ist nach Schenke (FS f. Fröhler, S. 91) in der lange Zeit überwiegenden
Verneinung einer Verfassungsbindung des Gesetzgebers und in der rechtsformalen
Betrachtungsweise des Rechtspositivismus zu sehen; vgl. allerdings bereits Otto Mayer,
Deutsches Verwaltungsrecht, l.Aufl. 1895, Bd. 1, S.306ff.
370 Bernd Schünemann
Tatbestandsmerkmalen findet sich bereits bei Oetker, a. a. O . (Fn. 10), S. 160, am Beispiel
der Verweisung auf Polizeiverfügungen und in ganz ähnlicher Weise etwa auch bei
Tiedemann, a . a . O . (Fn. 7), S . 2 7 2 ; vgl. ferner Karpen, a . a . O . ( F n . 4 ) , S . 9 7 ; Staats, in:
Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung (Fn. 4), S. 2 4 6 ; Warda, a. a. O . (Fn. 15), S. 6.
18 B z B I G vom 5 . 8 . 1 9 7 1 ( B G B l . I, S . 1 2 3 4 ) ; BzAngabV i . d . F . v. 1 . 8 . 1 9 8 4 ( B G B l . I,
S. 1069).
" M D R 1979, 604 f.
20Vgl. dazu nur Schünemann, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen
Strafrechtssystems, 1984, S . 2 5 m. w. N .
372 Bernd Schiinemann
24 Vgl. etwa die ziemlich gekünstelten Überlegungen bei Oetker, a . a . O . (Fn. 10),
S. 160ff; Neumann, a . a . O . (Fn. 10), S.25ff, 45ff; Warda, a . a . O . (Fn.15), S. 15ff;
Karpen, a . a . O . (Fn.4), S.99f, wo die gesetzliche Anknüpfung an behördliche Verbote
teils als Blankettgesetz, teils als Normierung eines bloßen Tatbestandsmerkmals qualifi-
ziert und die besondere Kategorie der „gesetzes vertretenden Verfügungen" gebildet wird.
Die Regeln der Technik im Strafrecht 373
faktische Existenz des individuellen Befehls oder auch dessen Rechtsverbindlichkeit vor-
aussetzt, die bemerkenswerterweise im öffentlichen Recht liberaler beantwortet wird als
im Strafrecht (vgl. einerseits Schenke, J R 1970, 449; Gerhards, NJW 1978, 86 ff; Arnhold,
Die Strafbewehrung rechtswidriger Verwaltungsakte, 1978; Berg, WiVerw. 1982, 169ff;
andererseits BGHSt. 23, 86 ff und den mit gleicher Tendenz konzipierten sog. „strafrecht-
lichen Rechtmäßigkeitsbegriff" bei § 113 StGB - vgl. dazu Lackner, a. a. O. [Fn. 11 ], § 113
Anm. 5 und 6 m. w. N. sowie zur Kritik nur Schiinemann, a. a. O. - Fn. 20 - , S. 15 ff).
26 Vgl. zu diesem Subsumtionsmodell Schünemann, in: FS f. Klug, 1983, S. 169ff.
27 Vgl. nur aus rechtstheoretischer Sicht Schünemann, a . a . O . (Fn.26), S. 184f, sowie
aus verfassungsrechtlicher Sicht die vom BVerfG unter bestimmten Voraussetzungen
ausgesprochene Anerkennung einer richterlichen Rechtsschöpfungskompetenz contra
legem (BVerfGE 34, 269, 286 ff - sog. „Soraya-Urteil" - und BVerfGE 65, 182ff); die
richterliche Kompetenz zur gesetzeskonkretisierenden Rechtsschöpfung intra legem geht
hieraus a fortiori hervor und ist auch noch niemals bestritten worden.
374 Bernd Schiinemann
ergibt sich auf den ersten Blick eine solche Alternativenvielfalt, daß man
geradezu von einem chamäleonhaften Wesen sprechen könnte.
a) Die Inbezugnahme der technischen Regeln könnte zum ersten einen
dynamischen Blankettstraftatbestand schaffen, dergestalt daß der jewei-
lige (zeitlichen Änderungen unterworfene) Inhalt der in den einschlägi-
gen Fachkreisen anerkannten technischen Normen das Strafgesetz kom-
plettiert; ein Beispiel scheint §323 StGB zu bieten, der den bei der
Bauausführung unterlaufenden Verstoß „gegen die allgemein anerkann-
ten Regeln der Technik" pönalisiert. Die Verweisung auf technische
Regeln kann aber auch zweitens einen statischen Blankettstraftatbestand
ergeben, wenn sich das Gesetz nämlich auf ein ganz bestimmtes techni-
sches Regelwerk mit seinem zum Verweisungszeitpunkt geltenden Inhalt
bezieht; so verweist etwa § 7 Abs. 1 Nr. 2 a des Benzinbleigesetzes, der
die unzulängliche Kennzeichnung der Mindestqualität des dem Verbrau-
cher angebotenen Ottokraftstoffes als Ordnungswidrigkeit mit Bußgeld
bedroht, über §2 a Abs. 1 und 3 Benzinbleigesetz, § 1 Benzinqualitätsan-
gabeverordnung28 auf die für Super- oder Normal-Ottokraftstoff „in
D I N 51600 Ausgabe Januar 1976 aufgestellten Mindestanforderungen
hinsichtlich Klopffestigkeit, Dichte, Siedeverlauf und Siedeendpunkt",
wobei die genannte DIN-Norm vollständig als Anlage 1 zur Benzinqua-
litätsangabeverordnung im Bundesgesetzblatt abgedruckt worden ist.
28
Vgl. dazu die Fundstellen in Fn. 18.
Die Regeln der Technik im Strafrecht 375
§ 5 Abs. 1 Atomgesetz 2 ' als einen Hinweis auf nach dem Stand der
Kernphysik mögliche Schadensverläufe und die zu deren Verhütung
tauglichen und deshalb erforderlichen Maßnahmen zu verstehen.
c) Schließlich kommt auch noch eine prozeßrechtliche Ausdeutung der
gesetzlichen Verweisung auf technische Regeln in Betracht, die ihrerseits
verschiedene Alternativen aufweist. Man könnte nämlich sechstens an
technische Beweisregeln denken; das O L G Hamburg hat sich etwa in
seinem Beschluß vom 20.10.1978 30 mit der Frage befaßt, ob die in D I N
51600 in Form einer Weiterverweisung in Bezug genommenen D I N -
Normen 51751, 51756 und 51757, die die Methoden der Probenziehung
und Prüfung für die Einhaltung der D I N 51600 im einzelnen regeln, den
Richter bei der Beweiswürdigung zu binden vermögen. Und als schwä-
chere Form käme insoweit auch siebentens die Qualifikation der techni-
schen Regel als „antizipiertes Sachverständigengutachten" in Betracht,
auf das der Richter wegen seiner Offenkundigkeit ohne weiteres zugrei-
fen kann und an das er sich deshalb auch halten muß, solange es nicht
durch ein überzeugendes Gegengutachten widerlegt oder zumindest
erschüttert worden ist.
31 Vgl. Lackner, a. a. O. (Fn. 1), § 323 Anm. 2 a; ferner auch Horn, in: SK-StGB, § 323 ,
Rdn. 7.
32 Dazu näher Wolff im LK, 10. Aufl., § 3 2 3 Rdn. 11, unter Hinweis auf RGSt. 27, 388;
scheidungsmacht über das erlaubte Maß der von ihm gesetzten Risiken
zuzuerkennen. Das Verständnis der allgemein anerkannten Regeln der
Technik als einer Art Observanz verkennt deshalb, daß das Recht
außerhalb staatlicher Setzung nur durch Akzeptanz bei allen davon
Betroffenen39 und nicht durch einseitige Usurpation der Definitions-
macht durch den potentiellen Störer selbst geschaffen werden kann, und
läßt deshalb das eingangs apostrophierte Defizit der Strafrechtsdogmatik
zu einem fundamentalen Fehlverständnis anwachsen.
Juristen, 1981, S. 417 ff, der aber die „Beteiligten" zu Unrecht mit den Protagonisten der
Technik identifiziert und dadurch außer acht läßt, daß auch die potentiellen Opfer der
Technik dazugehören.
« A. a. O. (Fn. 4), S. 395 ff, 404, 406; zust. Krey, E W R 1981, 156 ff. Auf das damit von
Marburger in logisch etwas unpräziser Form verknüpfte Verständnis der technischen
Normen als Beweislastregeln wird noch unten VII. 2. eingegangen.
Die Regeln der Technik im Strafrecht 379
stück der technischen Regel zu46 und läuft bei ihrer Anwendung auf die
gesamte Norm auf eine semantisch fehlerhafte ad-hoc-Hypothese zur
juristischen Apotheose des „technischen Sachverstandes" - zuletzt vor
allem am Beispiel des Kernkraftwerkbetriebes - hinaus. Die von Scholz
aufgestellte Behauptung, daß „technische Beurteilungs-, Verhaltens-
oder Kontrollmaßstäbe überall dort anwendungsmäßig berufen" seien,
wo es um die „Gestaltung oder um die Beurteilung technologisch
regulierter oder technisch funktionierender Sachverhalte geht, (die) aus
normativ-juristischer Sicht auf der Ebene der Tatsächlichkeit ressortie-
ren", weshalb eine „technische Norm wesensgemäß keinen juristisch-
normativen Sollensmaßstab, sondern zunächst und lediglich eine kausa-
litätsorientierte Wenn-Dann-Relation" aufstelle47, ist wegen der Ver-
mengung technischer Verhaltensmaßstäbe, also präskriptiver Sätze, mit
den dadurch geregelten Sachverhalten semantisch unklar und im übrigen
bezüglich der den technischen Regeln vorausliegenden naturwissen-
schaftlichen Erkenntnisse nicht nur trivial, sondern auch für unser
Problem irrelevant, weil es bei der gesetzlichen Verweisung auf die
Regeln der Technik ja nicht um Kausalitätsfragen, sondern ausschließ-
lich darum geht, welche aus technischem Handeln für die Allgemeinheit
erwachsenden Risiken von Rechts wegen hinzunehmen sind und welche
nicht. Zu dieser entscheidenden Frage äußert sich sodann Scholz an einer
anderen Stelle mit ähnlicher semantischer Unklarheit, aber eindeutigem
Ergebnis : Die angebliche „Vermutungswirkung hinsichtlich der tatsäch-
lichen Inhalte (?) technischer Normen" soll eine „inhaltlich beschränkte
verwaltungsgerichtliche Kontrolle technischer Rechtsentscheidungen"
auslösen48, so daß also letzten Endes aus einer Verwirrung der begriffli-
chen Kategorien eine verfassungswidrige Kompetenzverschiebung destil-
liert wird - zu Lasten der für die Normsetzung und -konkretisierung
zuständigen Legislative und Judikative und zugunsten der normunter-
worfenen Exekutive und der privaten Technikbenutzer, letztlich also der
Industrie.
Demgegenüber kann kein Zweifel daran bestehen, daß die wichtigste,
im Strafrecht sogar die ausschließliche Funktion der technischen Regeln
für das Recht darin besteht, Sorgfaltsanforderungen bei der Auslösung
und Steuerung technischer Prozesse zu formulieren, daß sie gerade
durch ihren präskriptiven Charakter über naturwissenschaftliche Sätze
hinausgehen und auch erst deshalb als Verweisungsobjekt in Betracht
kommen, daß es aus diesem Grunde bei ihnen inhaltlich um die Abgren-
44 Nämlich für die deskriptive oder „phrastische" Seite, vgl. dazu näher unten VII., 3.
45 A . a . O . ( F n . 4 5 ) , S . 7 0 5 - 7 0 7 .
382 Bernd Schiinemann
49
So auch sehr klar und treffend Marburger, Atomrechtliche Schadensvorsorge, 1983,
S. 122; den., WiVerw. 1981, 249 f; Ossenbühl, in: Blümel/Wagner (Hrsg.), Technische
Risiken und Recht, 1981, S. 46 f; Feldhaus, DVB1. 1981, 169 ff.
50
Vgl. nur Marburger, a . a . O . (Fn.49), S.94ff m . w . N .
51
Nachweise bei Marburger, a . a . O . (Fn.4), S.401.
52
Vgl. Horn, Blutalkoholgehalt und Fahruntüchtigkeit, 1970, S. 18 ff; Hafße, Blutal-
kohol 1972, 34 ff. Etwas anderes könnte allerdings für den „Sicherheitszuschlag" gelten
(erkannt von Tröndle, FS f. Dreher, 1977, S. 119).
Die Regeln der Technik im Strafrecht 383
" Zur Unterscheidung von klassifikatorischen und komparativen Begriffen vgl. allge-
mein v. Kutschern, Wissenschaftstheorie I, 1972, S. 16 ff ; Kuhlen, Typuskonzeptionen in
der Rechtstheorie, 1977, S. 34 ff.
54 So BGHSt. 21, 160.
55 Vgl. nur Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie 1, 3. Aufl. 1978, S. 190 ff;
Birkhof er, Rechtliche Ordnung der Technik als Aufgabe der Industriegesellschaft, 1980,
S. 91.
58 Vgl. nur Roxin, a. a. O. (Fn. 56), S. 81 f.
5 ' Vgl. Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 13. Aufl. 1981, S.689; Leipold, Beweis-
lastregeln und gesetzliche Vermutungen, 1966, S. 58 ff.
60 SCHÄFER, a . a . O . (Fn.4), S. 121; Breuer, AöR 101, 83.
" Vgl. vor allem das BVerwG im Voerde-Urteil, BVerwGE 55, 2 5 0 , 2 5 6 ff; zahlr. weit.
Nachw. bei Marburger, Atomrechtliche Schadensvorsorge, 1983, S. 157 f; Breuer u.
Die Regeln der Technik im Strafrecht 385
falls für einen kleinen Teil der technischen Regeln, und zwar aus den
gleichen Gründen, die schon zur Verwerfung von Scholzens These der
„Non-Präskriptivität" der technischen Normen geführt haben. Denn
weil der Sachverständige dem Richter nicht die Findung des rechtlichen
Werturteils abzunehmen, sondern ihm nur die dabei zu beachtenden
empirischen Zusammenhänge nahezubringen hat", kommt eine techni-
sche Regel schon nach ihrer logischen Struktur nur unter der Vorausset-
zung als Sachverständigengutachten in Betracht, daß die Befolgung der
in ihr enthaltenen Handlungsmaxime zu einer völligen Gefahrlosigkeit
des danach gesteuerten technischen Prozesses führt, denn hier bleibt
nach Eliminierung des imperativen Teils (der „Neustik" im Sinne von
Hare") der als sachverständige Aussage qualifizierbare empirische
Gehalt (die „Phrastik"63) übrig, daß bei Anwendung der konkret aufge-
führten Vorsichtsmaßregel eine Gefährdung anderer ausgeschlossen ist.
In den weitaus zahlreicheren Fällen, daß die technischen Regeln nicht
die vollständige Beseitigung, sondern nur die Reduzierung der von den
technischen Prozessen ausgehenden Gefahren auf ein gesellschaftlich
erträgliches Ausmaß zum Ziele haben, kann infolgedessen nur die in der
Regel implizit enthaltene Bejahung der Tauglichkeit der darin geforder-
ten Vorsichtsmaßregeln zur Gefahrreduzierung als sachkundige empiri-
sche Aussage aufgefaßt werden, während die hinzukommende Bewer-
tung Teil des ausschließlich vom Gesetzgeber bzw. subsidiär vom
Richter zu formulierenden rechtlichen Imperativs ist.
Eine besonders gute Demonstration liefert hierfür die im Atomrecht
eingebürgerte Unterscheidung zwischen (seil, unerlaubter) Gefährdung
und (seil, tolerablem) Restrisiko". Was die Bevölkerung als Restrisiko in
einem bestimmten technischen Bereich hinzunehmen hat, kann weder
durch eine abstrakte statistische Größe festgelegt noch der Entscheidung
der Technikbenutzer selbst überantwortet werden, sondern ist vom
Staat durch Gesetz (d. h. durch den Gesetzgeber oder durch den geset-
zeskonkretisierenden Richter) für jeden einzelnen technischen Sektor
aufgrund einer umfassenden Abwägung konkret festzulegen, wobei
Nickliscb, in: Börner (Hrsg.), Umwelt - Verfassung - Verwaltung, 1982, S. 50, 179;
Nicklisch, N J W 1983, 841 ff; zweifelnd Sendler, U P R 1981, 13 f; abl. Papier u. Lukes, in:
Ges. f . Rechtspolitik Trier (Hrsg.), Bitburger Gespräche Jahrbuch 1981, S.91, 128.
62 Vgl. vor allem Sarstedt, N J W 1968, 180ff; Rudolphi, in: SK-StGB, § 2 0 , R d n . 2 3 ;
Lange im L K , § § 2 0 / 2 1 , Rdn. 108; BGHSt. 7, 2 3 8 ; 8, 118, alle am Beispiel der Beurteilung
der Schuldfähigkeit gem. § 20 StGB.
63 Zur Terminologie vgl. R. M. Hare, Die Sprache der Moral, 1972 (aus dem Engli-
schen), S. 38; ders., Freiheit und Vernunft, 1973 (aus dem Englischen), S . 4 2 ; Stegmüller,
Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie I, 6. Aufl. 1976, S.520.
64 Vgl. dazu aus dem reichhaltigen Schrifttum Marburger, WiVerw. 1981, 248 f; ders.,
in: Gesellschaft für Rechtspolitik Trier (Hrsg.), Bitburger Gespräche - Jahrbuch 1981,
S.41, jeweils m . w . z . N . ; Ossenbühl, a . a . O . (Fn.49), S . 4 6 f ; Wagner, N J W 1980, 668ff.
386 Bernd Schiinemann
65 Vgl. dazu bereits Lenckner, FS f. Engisch, S. 500 f; Schünemann, J A 1975, S. 575 ff;
Marburger, WiVerw. 1981, 248 ff.
66 Vgl. dazu vor allem Brinkmann, Die Verbraucherorganisationen in der Bundesrepu-
blik Deutschland und ihre Tätigkeit bei der überbetrieblichen technischen Normung,
1976, passim; Sonnenberger, BB 1985, 4 f ; Wolfensberger, Die anerkannten Regeln der
Technik („Baukunst") als Rechtsbegriff im öffentlichen Recht, 1978, S.99. Dabei ist der
Richter auch - anders als bei einer echten Umkehr der Beweislast - in Zweifelsfällen
durchaus zu einer eigenen Entscheidung berufen!
Die Regeln der Technik im Strafrecht 387
5. Auch ohne daß man die begrifflichen Kategorien oder die verfas-
sungsrechtlichen Kompetenzen zu verwirren braucht, bleibt deshalb die
prozessuale Bedeutung der Regeln der Technik immer noch groß genug.
Als wesentlicher Unterschied zu den hier abgelehnten Konzeptionen
bleibt aber festzuhalten, daß der Gesetzgeber und in seiner Vertretung
der Richter über der in der Aufstellung von technischen Normenwerken
zu findenden sozialen Gestaltungsmacht von segmentaren Institutionen
stehen und nicht etwa umgekehrt!
67 Exemplarisch für die D I N 18168 und 4109 Weber, ZfBR 1983, 151, 154 f.
68 Grundlegend Schröder, ZStW 81 (1969), S.15ff; vgl. ferner Schönke/Schröder/
Cramer, a . a . O . (Fn. 8), Rdn.3a, 4 vor § 3 0 6 ; Horn, in: SK-StGB, Rdn. 17 vor § 3 0 6 ;
Arzt-Weber, Strafrecht Bes. Teil, L H 2, 1983, S. 17; Schünemann, J A 1975, 798; offen-
gelassen in BGHSt. 26, 121.
" Vgl. nur Lenckner, FS f. Engisch, S. 497 f; für das Zivilrecht Marburger, VersR 1983,
603 f; ferner auch Nicklisch, BB 1982, 833 ff.
70 Vom 2 4 . 6 . 1 9 6 8 (BGBl. I, S.717), zuletzt geändert durch Gesetz v. 13.8.1980
(BGBl. I, S. 1310, 1357).
Die Regeln der Technik im Strafrecht 389
nik für den Fall gestattet wird, daß „die gleiche Sicherheit auf andere
Weise gewährleistet ist". Wenn man weiter berücksichtigt, daß die
publizierten technischen Normen häufig durch die technische Entwick-
lung längst überholt sind71, und wenn man schließlich auch bedenkt, daß
wegen der schon erwähnten ökonomischen Komponente und der Unter-
repräsentation des Verbrauchers bei der Aufstellung technischer Regel-
werke durchaus Normanforderungen existieren dürften, die im ökono-
mischen Interesse des Produzenten die Ausstattungsanforderungen an
bestimmte Produkte überspannen72, so bleibt als Fazit wohl nur übrig,
daß der Verstoß gegen eine abstrakte technische Norm für die Feststel-
lung der konkreten Sorgfaltswidrigkeit bei einem Verletzungsdelikt
wenig mehr als „gedankliches Spielmaterial" liefert. Eine größere prakti-
sche Bedeutung dürfte nur bei der Feststellung des subjektiven Tatbe-
standes und der Vorwerfbarkeit anzutreffen sein, falls es sich um eine
normtypische Ausgangssituation gehandelt hat und der Technikbenut-
zer deshalb in seinem Vertrauen auf die Richtigkeit der Norm zu
schützen ist.
Kausalität für einen Unglücksfall (vgl. dazu Lenckner, FS f. Engisch, S. 504 ff) oder die
Reichweite der von Tiedemann (FS f. Schaffstein, 1975, S. 195 ff) entdeckten Nonnambi-
valenz kann deshalb im vorliegenden Rahmen nicht mehr eingegangen werden.
74 N J W 1982, 2637ff, 2 6 3 8 f ; ders., BB 1981, 505ff, 511; ¿en., N J W 1983, 841 ff; ders.,
fugenlos auf jenes Resultat hinausläuft, das der Gesetzgeber mit dem
gesetzestechnischen Mittel der dynamischen Verweisung nach einhelli-
ger Auffassung gerade nicht anstreben durfte, weil darin eine unzulässige
Delegation von legislativer Kompetenz auf private Verbände gelegen
hätte. Von Nicklischs Standpunkt aus müßte man sich hingegen vergeb-
lich fragen, warum der Gesetzgeber mit Hilfe von dynamischen Verwei-
sungen nicht das anordnen können sollte, was laut Nicklisch ohnehin
schon gölte, nämlich die Bindung des Richters an den Willen der vor
allem von der Industrie beschickten Techniker-Organisationen. Die
dogmatische Fehlsamkeit von Nicklischs These resultiert aus der begriff-
lich unsauberen Vermischung von Empirie und Wertung, durch die sich
Nicklisch den Blick auf den an sich ziemlich einfachen Sachverhalt
verstellt, daß die naturwissenschaftliche Risikoeinschätzung von der
Frage, ob den potentiell Betroffenen die Hinnahme dieses Risikos auch
zugemutet werden kann, ob also die Interessen des Technikbenutzers
und der durch ihn versorgten Allgemeinheit den Vorrang vor den
Interessen der durch ihn möglicherweise nachteilig betroffenen Allge-
meinheit genießen sollen, ohne weiteres getrennt werden kann und muß.
Und gesellschaftstheoretisch ist Nicklischs Standpunkt deshalb reaktio-
när, weil er zu einem Neo-Korporatismusn hinführt, der nicht nur die
Souveränität des Staates zerstört, sondern vor allem auch deshalb höchst
einseitig ist, weil er ja nicht auf eine Selbstregelung der Probleme durch
alle Involvierten, sondern auf die Kompetenzüberantwortung an die
Technikbenutzer unter entsprechender Entmachtung des Technikbe-
troffenen hinausläuft. Wenn sich das ganze Konzept dann noch zu der
radikalen Konsequenz versteigt, bei umstrittenen Fragen jede noch nicht
eindeutig widerlegte Auffassung für vertretbar und deshalb für rechtlich
tolerierbar zu erklären77, so hat man den Staat aus seiner in der Theorie
des Gesellschaftsvertrages konzipierten und in den Grundrechten fixier-
ten Pflicht zum Schutz seiner Bürger78 verabschiedet und letztlich einen
schaftliche Tagesfragen 1984, 216; OVG Lüneburg, DVB1. 1982, 34 f. Der gedankliche
Fehler liegt hierbei in der unbekümmerten Übertragung des juristischen Vertretbarkeitsbe-
griffs auf die exakten Naturwissenschaften, wo von rivalisierenden Theorien nur eine
richtig sein kann, so daß die Verantwortung für die Auswahl bei gegenwärtiger Unkennt-
nis nicht von dem Techniker, sondern nur von dem zuständigen Staatsorgan getragen und
nach Rechtskriterien (z. B. Vorsorge- oder Verhältnismäßigkeitsprinzip) wahrgenommen
werden muß.
71 Vgl. nur BVerfGE 53, 30, 57ff (Mühlheim-Kärlich); Benda, Energiewirtschaftliche
Tagesfragen 1981, 869f; Grawert, in: FS f. Broermann, 1982, S.457, 477ff; Marburger,
Gutachten C z. 56.DJT, 1986, S.9f m.w. N.; Breuer, in: v. Münch (Hrsg.), Besonderes
Verwaltungsrecht, 7. Aufl. 1985, S.549f.
392 Bernd Schiinemann
b) Weniger kühn und deshalb dogmatisch auch besser vertretbar ist die
Annahme einer Einschränkung der richterlichen Kognitionskompetenz
kraft eines der Exekutive zustehenden Beurteilungsspielraumes, wie es
das Bundesverfassungsgericht in der Kalkar-Entscheidung angedeutet,
letztlich aber offengelassen hat79. Denn es ist einhellig anerkannt, daß
behördliche Beurteilungsspielräume durch Art. 19 Abs. 4 G G nicht aus-
nahmslos verboten sind80, und eine vorsichtige Ausweitung der insoweit
bisher schon anerkannten Kategorien81 wäre nicht a limine unzulässig.
Dennoch hat auch der Gedanke eines neuartigen Beurteilungsspielrau-
mes der „technischen Kompliziertheit" keine Zukunft.
Als erstes fehlt es schon an einem „inneren Grund": Technische
Fragen sind im Prinzip nicht schwieriger, sondern leichter zu beurteilen
als zahllose andere der vollen gerichtlichen Kognitionskompetenz unter-
stehende Fragen, weil die hier einschlägigen „harten empirischen Natur-
wissenschaften" der Physik und Chemie weitaus zuverlässigere Antwor-
ten bereithalten als etwa die Ökonomie oder die Psychologie bei der
Beurteilung einer Wettbewerbsbeschränkung oder der Entziehung einer
Fahrerlaubnis. Ein diesbezüglicher Beurteilungsspielraum der Exekutive
ist deshalb in der Vergangenheit auch niemals in Anspruch genommen
worden, obwohl die Rechtsprobleme der Technik ja nicht erst neueren
Datums sind, so daß sich die ganze Überlegung, wie ihr stereotyper
praktischer Anlaß82 zeigt, als eine dogmatisch unhaltbare ad-hoc-Kon-
struktion zur Einschränkung der politisch für unerwünscht erachteten
lückenlosen gerichtlichen Kontrolle von Kernkraftwerksgenehmigungen
erweist. Gerade in diesem Bereich ist aber die volle gerichtliche Nach-
prüfóarkeit gänzlich unverzichtbar, weil eine neutrale Kontrolle durch
die Exekutive angesichts der in der Literatur dokumentierten engen
Verbindung zwischen Betreiber- und Behördenorganisationen gefährdet
ist83, weil das hier schlummernde Gefahrenpotential alle übrigen bisher
zu entscheidenden Rechtsprobleme der Technik als marginal erscheinen
Anlaß wird besonders deutlich bei Scholz, a . a . O . (Fn.45), S.693, 707, 710, 711 f, 713f,
herausgestellt. S. auch Ronellenfitsch, in: Börner (Hrsg.), Umwelt - Verfassung - Verwal-
tung, 1982, S. 14 ff.
" Vgl. etwa Keck, in: Janshen/Keck/Webler (Hrsg.), Technischer und Sozialer Wandel,
1981, S. 217 ff.
Die Regeln der Technik im Strafrecht 393
2. Die Gerichte sind deshalb darauf verwiesen, die Regeln der Technik
ebenso wie die allgemeinen Sorgfaltsregeln bei jedem Fahrlässigkeitsde-
likt fallbezogen zu konkretisieren. Die Entwicklung allgemeiner Abwä-
gungskriterien, die über eine bloße Aneinanderreihung der schon oben
beispielhaft angeführten Leitgesichtspunkte87 hinausgeht, bildet eines
der wichtigsten dogmatischen Desiderate auf diesem Gebiet, kann aber
jedenfalls erst nach einer umfassenden typologischen Strukturierung des
Fallmaterials in Angriff genommen werden, über die wir bis heute nicht
verfügen. Der vielbeachtete, von Breuer inspirierte Versuch des Bundes-
verfassungsgerichts, das bisher verfügbare dogmatische Instrumenta-
rium durch eine „Dreistufentheorie" weiter auszudifferenzieren88, muß
leider als gescheitert angesehen werden. Denn daß die „allgemein aner-
kannten Regeln der Technik" (verwendet etwa in § 323 StGB) als erste
Stufe schlicht auf „die herrschende Auffassung unter den technischen
Praktikern" verwiesen, dafür aber mit dem Nachteil behaftet wären,
„stets hinter einer weiterstrebenden technischen Entwicklung" herzu-
hinken, während „der rechtliche Maßstab für das Erlaubte oder Gebo-
tene" durch den „Stand der Technik" (etwa verwendet in § 5 Nr. 2
BImSchG) „an die Front der technischen Entwicklung verlagert wird",
wobei sich allerdings „die Feststellung und Beurteilung der maßgebli-
chen Tatsachen für Behörden und Gerichte schwieriger gestaltet, (weil)
sie in die meisten Streitigkeiten der Techniker eintreten müssen", wäh-
rend schließlich bei dem in § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG verwendeten „Stand
von Wissenschaft und Technik" diejenige „Vorsorge gegen Schäden
getroffen werden muß, die nach den neuesten wissenschaftlichen
Erkenntnissen für erforderlich gehalten wird, (weshalb) die erforderliche
Vorsorge (hier) nicht durch das technisch gegenwärtig Machbare
begrenzt wird" 89 , führt angesichts der unsystematischen Verwendung
dieser Begriffe durch den Gesetzgeber zu fast schon grotesken Differen-
zierungen, läßt die verfassungsrechtlichen Grundsätze zur Unzulässig-
keit einer dynamischen Verweisung auf private Normen außer acht und
führt auch im Ergebnis nicht zu der vom Bundesverfassungsgericht
hervorgehobenen „Dynamisierung", sondern umgekehrt zu einer weit-
J. Die „Regeln der Technik", der „Stand der Technik" oder auch der
„Stand von Wissenschaft und Technik" sind deshalb lediglich sprachliche
Variationen des gleichen Grundgedankens, den ich, wie schon oben
unter VI. 1. bemerkt, in der „Einhaltung der im Umgang mit der
Technik erforderlichen Sorgfalt" erblicke. Im Anschluß an diese dogma-
tische Einebnung der bloß durch terminologische Zufälligkeiten entstan-
denen Formulierungsunterschiede kann sodann wieder eine sachlogisch
fundierte Abstufung in Angriff genommen werden, die nicht (entspre-
chend der Dreistufentheorie des BVerfG) zwischen obsoleter „Ladenhü-
90
BB 1983, 261, 264 ff m. z . w . B s p . Vgl. auch Lukes, in: Ges. f . Umweltrecht (Hrsg.),
Technik als Rechtsquelle, 1980, S. 36 ff.
" S. ο. V.
92
N a c h w . zu dieser Terminologie o. in Fn. 64. Ein typisches Beispiel für eine termino-
logische Unterdrückung der Sachprobleme bietet die Behauptung von Scholz (in: FS f. Jur.
Ges. Berlin, S. 693), daß das v o m Bürger und der Gesellschaft zu tragende Restrisiko als
„naturgegeben (!) vorauszusetzen (!)" sei. Die strafrechtliche Relevanz endet vielmehr erst
dort, w o es bei der „Vorsorge" nicht um präventive Gefahrenabwehr, sondern ausschließ-
lich um die Verteilung von Freiräumen geht (vgl. dazu Feldbaus, in: Ges. f. Umweltrecht
[Hrsg.], Technik als Rechtsquelle, 1980, S . 2 2 f f ; Marburger, a . a . O . [Fn. 78], S. 58 ff
m. w. N . ) .
396 Bernd Schünemann
XI. Schlußbemerkung
An dieser Stelle muß meine strafrechtsdogmatische Analyse der
Regeln der Technik abbrechen, weil ihre weitere Fortsetzung die Form
des Aufsatzes sprengen würde und statt dessen jene von Karl Lackner so
meisterhaft beherrschte Kommentarform erfordert - sei es nach Art der
dem Jubilar so einzigartig gelungenen, enzyklopädische Breite mit
monographischer Dichte verbindenden Kommentierung des § 263 StGB
im Leipziger Kommentar, sei es nach Art seines in der konzisen, alle
neuen Entdeckungen sogleich integrierenden Problembehandlung
unübertrefflichen „Strafgesetzbuches mit Erläuterungen". Weil die darin
zu findende Kommentierung des Umweltstrafrechts über die gewohnte
zuverlässige Orientierung und mustergültige Komprimierung hinaus
auch durch mutige, wohlfeile Gemeinplätze verschmähende Kritik
besticht94, glaube ich mich mit dem verehrten Jubilar einig zu wissen in
dem Grundbestreben dieser ihm verehrungsvoll gewidmeten Abhand-
lung, den strafrechtsdogmatischen Problemen der „Regeln der Technik"
ohne eine von außerwissenschaftlichen Erwägungen diktierte Rücksicht-
" Z f B R 1980, 162 f. Diese Ausdeutung darf weder mit dem deutschen Begriff der
Leichtfertigkeit noch mit dem amerikanischen Begriff der recklessness verwechselt wer-
den, wo jeweils auch ein gesteigerter Schuldvorwurf vorausgesetzt wird (vgl. Maiwald,
G A 1974, 257, 2 5 9 ; Maurach/Gössel/Zipf Strafrecht Allgemeiner Teil 2, 6. Aufl. 1984,
S. 7 2 ; Arzt, Gedächtnisschrift f. Schröder, 1978, S. 119 ff; Weigend, Z S t W 93 (1981,
S. 6 5 7 ff; Duff, C r i m . L . R . 1980, 282 ff.
94 Vgl. etwa Lackner, a. a. O . (Fn. 1), Anm. 1 b bb vor § 324 zur Gefahr von „Verfilzun-
gen oder sachfremden Rücksichtnahmen" bei der Festlegung der verwaltungsrechtlichen
Pflichten.
Die Regeln der Technik im Strafrecht 39 7
nähme auf etablierte Sichtweisen auf den Grund zu kommen. Dabei sei
abschließend noch betont, daß die vorstehenden, wegen der vorgefunde-
nen Unzulänglichkeiten der überkommenen Auffassung notwendig kri-
tischen Überlegungen nicht etwa einer „Technikfeindschaft" oder auch
nur einer „Technikskepsis" ihren motivationalen Stimulus verdanken.
Denn es gehört nur geringe Verstandeskraft zu der Erkenntnis, daß die
Lösung der vor unserer Gesellschaft und der Menschheit überhaupt
stehenden Probleme, die zweifellos durch „Segen und Fluch der Tech-
nik" in ihrer jetzigen Form entscheidend geprägt worden sind, nicht
durch einen Verzicht auf Technik, sondern nur durch die richtige
Technik gelingen kann. Und weil die Auswahl der richtigen Technik ein
Wertungsproblem ist, zu dessen Lösung allein die gesamte Gesellschaft
und damit der Staat kompetent und zu dessen Analyse mithin die
Rechtswissenschaft berufen ist, geht es letztlich nicht (nur) um die
Bezähmung der Technik durch das Recht, sondern um ihre Einfügung in
das Recht, und zur Festschreibung dieses Zieles beizutragen ist das Ziel
dieses Festschrift-Beitrages.
Talion und Spiegelung im Strafrecht
U D O EBERT
I.
1. a) „Wie du mir, so ich dir"; „Mit gleicher Münze heimzahlen"; „Auf
einen groben Klotz gehört ein grober Keil". In diesen Sprichwörtern 1
drückt sich ein Grundsatz aus, der im Recht seit alters „Talion" oder
„lex talionis" genannt wird und der bedeutet: Gleiches mit Gleichem
vergelten. Nach dem ebenfalls sprichwörtlichen Muster „Auge um
Auge, Zahn um Zahn" (5. Mose 19, 21) wird dem Täter zur Strafe
dasselbe Übel zugefügt, das er selbst anderen getan hat. Es handelt sich
um die vollkommene Anpassung der Strafe an die Tat: Die Art der Strafe
wird der Art des Verbrechens angeglichen. Diese qualitative Gleichheit
zwischen Tat und Strafe, die das Talionsprinzip ausmacht, kommt in der
Ableitung des Wortes „Talion" von lat. „talis" (so beschaffen) 2 zum
Ausdruck. In der geschichtlichen Wirklichkeit begegnet diese reine
Form der Talion vor allem bei Tötungs- und bei Körperverletzungsde-
likten.
b) „Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein". Auch dieses
Sprichwort handelt von einer der Ersttat angepaßten, ihr qualitativ
entsprechenden Reaktion. Doch liegt die Betonung hier nicht so sehr auf
der Gleichheit der Erfolge wie auf der Gleichheit der Mittel. Das Mittel
oder Werkzeug, das der Täter zur Tat benutzte, schlägt auf ihn zurück 3 .
„Bestrafung durch das Tatmittel" in diesem Sinne ist es etwa, wenn nach
mittelalterlichem Recht der Brandstifter zur Strafe verbrannt wird oder
der Falschmünzer in siedender Flüssigkeit mit seinem Leben büßt 4 .
Anders als bei der reinen Talion, bei der die Gleichheit zwischen Tat und
' Weitere, teils heute nicht mehr gebräuchliche Sprichwörter gleichen Sinnes bei
Günther, Die Idee der Wiedervergeltung in der Geschichte und Philosophie des Strafrechts
I (1889; Neudruck 1966), 213 ff.
2
Zu dieser und zu anderen etymologischen Herleitungen s. Herdlitczka, s.v. „Talio",
in Pauly/Wissowa, Realencyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft, Neue
Bearb., 2. Reihe, 8.Halbbd. (1932), Sp.2069; Helfer, Vox latina 18 (1982), 298; Günther,
Wiedervergeltung I (o. Fn. 1), 8 Anm. 12.
' So auch das heute nicht mehr gebräuchliche Sprichwort „Wodurch man sündigt,
dadurch wird man gebüßt"; s. His, Das Strafrecht des deutschen Mittelalters I (1920),
356 f; Günther, Wiedervergeltung I (o. Fn. 1), 216.
« Dazu Günther, Wiedervergeltung I (o. Fn. 1), 240 ff, 243 ff.
400 Udo Ebert
Strafe eine totale ist (vor allem durch die Gleichheit der Erfolge: „Auge
um A u g e . . . " ) , ist die Gleichheit hier nur partiell, nur in einem
bestimmten Merkmal verwirklicht. Es handelt sich nicht um strenge
Gleichheit, sondern lediglich um eine gewisse Entsprechung, eine Ana-
logie zwischen Tat und Strafe. Der „reinen", „strengen" oder „identi-
schen" Talion tritt so die „analoge" - als eine Art „unechter" - Talion
gegenüber5.
Je nach dem, an welchem besonderen Merkmal der Tat die Strafe
orientiert wird, ergeben sich verschiedene Unterarten analoger Talion 6 .
Neben dem Tatmittel (s. o.) kommt als Anknüpfungspunkt der Körper-
teil in Betracht, mit dem die Tat ausgeführt wurde. Der schuldige
Körperteil wird gewissermaßen unmittelbar bestraft. Beispiele für solche
„Bestrafung am sündigen Glied" sind, wiederum im Mittelalter, das
Abhacken der diebischen Hand bei Diebstahl und der Schwurhand bei
Meineid, das Abschneiden der Zunge bei Gotteslästerung und bei Ver-
leumdung. Schließlich kann, wie gegen den verantwortlichen Teil des
Körpers, die Strafe auch gegen das verantwortliche Motiv der Tat
gerichtet werden. Gezüchtigt wird die schädliche Leidenschaft, die den
Täter zum Verbrechen bewogen, die Triebfeder, welche die Tat hervor-
gebracht hat. Solche „Bestrafung am Tatmotiv" sind etwa die Auferle-
gung einer Vermögenseinbuße bei Taten aus Gewinnsucht oder die
Einweisung in ein Arbeitshaus bei Delikten aus Arbeitsscheu, wie sie
insbesondere im Recht der Aufklärungszeit gebräuchlich sind. Zusam-
menfassend gesagt: Bei der analogen Talion büßt der Täter jeweils dort
oder damit, womit er gesündigt hat7.
Wegen ihrer universalgeschichtlichen Verbreitung8 verdient noch eine
eigenartige Form der Talion Erwähnung, die zwischen der reinen und
der analogen Talion steht9: die talionsartige Sanktionierung von Hand-
lungen, welche auf unrechtmäßige Bestrafung oder - umgekehrt - auf
unrechtmäßige Verhinderung der Bestrafung eines anderen gerichtet
sind. Hier schlägt die Strafe des anderen auf den Täter zurück. Wer z. B.
jemanden fälschlich eines Verbrechens beschuldigt, erhält die gleiche
Strafe, die der Beschuldigte im Falle seiner Verurteilung unschuldiger-
z.B., wenn Baumfrevel durch Abhauen der rechten Hand (schuldiges Glied) mit der zur
Tat verwendeten Axt (Tatmittel) geahndet wird; vgl. Günther, Die Idee der Wiedervergel-
tung in der Geschichte und Philosophie des Strafrechts II (1891; Neudruck 1970), 51.
' Vgl. Günther, Wiedervergeltung I (o. Fn. 1), 28.
' Hermesdorf, Poena talionis (o.J.; 1965?), 4; His, Strafrecht d. dt. MA I (o. Fn.3),
373 f; Günther, Wiedervergeltung I (o. Fn. 1), 28 Anm.21.
Talion und Spiegelung im Strafrecht 401
weise erlitten haben würde 10 ; und wer die Bestrafung eines Schuldigen
vereitelt oder einen Strafgefangenen befreit, erleidet die Strafe, die diesen
jeweils zugekommen wäre.
c) Nicht allein durch materiellen (identischen oder analogen) Nachvoll-
zug der Tat, sondern auch auf ideelle Weise, nämlich symbolisch, läßt
das Verbrechen sich in der Strafe darstellen. Als Gegenstück zur „mate-
riellen" Talion tritt damit die „ideelle" oder „symbolische" Talion
hervor - neben der analogen die zweite Art unechter Talion. Die
Möglichkeiten symbolischer Talion sind, wie gerade die deutsche
Rechtsgeschichte zeigt, vielfältig. So kann die Versinnbildlichung der
Tat eine mehr unmittelbar der Anschauung zugängliche oder eine mehr
geistig übertragene sein. Für das erstere steht etwa das Brandmarken des
Täters mit einem wörtlichen oder bildlichen Symbol des begangenen
Delikts oder das Anhängen der Tatwerkzeuge beim Strafvollzug. Für
das letztere die Vierteilung des Verräters: wie dieser seine verräterische
Gesinnung nach verschiedenen Seiten gewendet hat, so soll durch diese
Strafe auch sein Körper nach verschiedenen Seiten hin gerissen werden".
2. Gemeinsam ist allen Formen der Talion, daß „die Physiognomie des
Verbrechens sich in der Strafe selbst ausprägt" 12 . Wie in einem Spiegel
erscheint die Tat in der Strafe wieder. Die im rechtshistorischen Schrift-
tum deshalb gebräuchliche Bezeichnung „spiegelnde Strafen" soll hier
allerdings, einer verbreiteten Terminologie folgend, auf die analoge und
die symbolische, also auf die Fälle der unechten Talion beschränkt, der
(echten) Talion somit die Spiegelung gegenübergestellt werden". In der
Sache aber bildet der Gleichheitsgedanke die Klammer, die alle oben
genannten Formen zusammenhält. Deren begriffliche Zusammenfassung
als Talion ( i . w . S.) ist auch genetisch und historisch begründet 14 . Alle
Spielarten der Talion entstammen wohl letztlich demselben Gleichheits-
streben 15 , und es tut dieser gemeinsamen Verwurzelung keinen
Abbruch, daß die unechte Talion vermutlich eine sekundäre Abspaltung
aus dem strengen Gleichheitsprinzip ist16. Als Indiz für die ursprüngli-
17
Günther, Wiedervergeltung I (o. Fn. 1), passim; Wundt, Völkerpsychologie IX
(1918), 448.
18 Beispiel: Verbrennen des Brandstifters; es enthält Elemente der analogen (Tatmittel)
und der echten Talion („Asche für Asche"); vgl. Günther, Wiedervergeltung II (o. Fn. 7),
39. Ausschließlich echte (reine materielle) Talion ist dagegen die Todesstrafe durch das
Feuer für den Mordbrenner; vgl. Rehfeldt, Todesstrafen und Bekehrungsgeschichte
(1942), 131.
" Z. B. wird bei der falschen Anschuldigung die unechte Talion zur echten, wenn der
Angeschuldigte tatsächlich bestraft worden ist. Vgl. Preuß. Allg. Landrecht von 1794,
II 20, §§1431-1432.
20 Möglicherweise im Unterschied zur Freiheitsstrafe früherer Zeiten; s. Günther, Die
Idee der Wiedervergeltung in der Geschichte und Philosophie des Strafrechts III (1895;
Neudruck 1970), 373 ff.
21 Vgl. Günther, Wiedervergeltung III (o. Fn.20), 41 Anm.57, m . w . N .
Talion und Spiegelung im Strafrecht 403
II.
1. Das Talionsprinzip ist ubiquitär25 und zeitlos26. Mit Unterschieden im
einzelnen, vielfach jedoch in frappierenden Ubereinstimmungen, findet
sich Talion in den oben beschriebenen Formen bei allen Völkern der
Erde27. Und mit großer Beständigkeit, wenn auch vor allem frühe
Phasen beherrschend, durchzieht sie die Entwicklung der einzelnen
Gesellschaften.
22 Siehe jedoch auch Günther, Wiedervergeltung III (o. Fn. 20), 548 ff. - Z u m Sonder-
fall des § 4 1 StGB s . u . I V l a .
23 O f t wird diese Annahme dann durch die Formulierung oder Ausgestaltung oder
durch die amtliche Begründung der betr. Strafvorschrift bestätigt. Vgl. Günther, Wieder-
vergeltung III (o. Fn. 20), 79 ff.
24 Darüber, welcher dieser Fälle vorliegt, gibt die Fassung der Strafvorschrift oder die
nähere Ausgestaltung der Strafe häufig Aufschluß; vgl. Günther, Wiedervergeltung I (o.
Fn. 1), 2 5 ff, 2 1 6 f; Osenhrüggen, Zeitschr. f. deutsches Recht u. deutsche Rechtswiss. 18
(1858), 175 ff.
25 Günther, Wiedervergeltung I (o. Fn. 1), 12 und passim; Rehfeldt, Todesstrafen (o.
Fn. 18), 106 und A n m . 5 ; jeweils m. w. N .
26Helfer, V o x latina 18 (1982), 298, 301.
27Die am meisten verbreiteten Anwendungsfälle des Talionsprinzips sind die echte
Talion bei Tötung und Körperverletzung, die analoge Talion in Gestalt der Bestrafung am
schuldigen Glied und die eigenartige Talion bei falscher Anschuldigung. Vgl. Günther,
Wiedervergeltung I (o. Fn. 1), 2 5 f, 28 f und passim.
404 Udo Ebert
römische Recht Müller, Die Gesetze Hammurabis und ihr Verhältnis zur mosaischen
Gesetzgebung sowie zu den XII Tafeln (1903), 54 ff, 146 ff; Günther, Wiedervergeltung I
(o. Fn. 1), 22 ff, 76 ff, 109 ff, 130 ff.
30 Vor allem im Codex Hammurabi; dazu Müller, Gesetze Hammurabis (o. Fn.29),
54 ff, 146 ff; Boecker, Recht und Gesetz im Alten Testament und im Alten Orient, 2. Aufl.
(1984), 69f, 106f, 109ff, 114f.
31 Tacitus, Germania, cap. 12; dazu unten V4.
32 2. Mose 21, 23-25; 3. Mose 24, 17-21; 5. Mose 19, 16-21. Vgl. Preiser in Festschr. f.
Eb. Schmidt (1961), 27ff; Weismann in Festschr. f. A. Wach I (1913; Neudr. 1970), 24ff;
Drapkin in Festschr. f. G.Blau (1985), 613f, 626.
33 Dazu unten III 3.
37 Im Rahmen des § 10 J G G .
sich inhaltlich an der Tat orientiert 40 , indem sie auf Elemente der Tat wie
Taterfolg, Begehungsweise oder Tatmotiv 41 Bezug nimmt. Handelt es
sich nur um äußerlich-formale Anklänge an Vergangenes, oder weht hier
ein archaischer Geist - ausgerechnet im Jugendstrafrecht, dessen Fort-
schrittlichkeit notorisch und sonst über jeden Zweifel erhaben ist? Was
bedeutet es, daß der Spiegelungsgedanke, während er aus dem übrigen
Strafrecht längst verschwunden ist 42 , im heutigen Jugendstrafrecht so
augenfällig hervortritt? Es wäre doch in höchstem Maße befremdlich,
sollte das Jugendstrafrecht, sonst Schrittmacher und Vorreiter des allge-
meinen Strafrechts in die Zukunft 43 , hier die Rolle eines Vorreiters
zurück in die Vergangenheit übernommen haben.
D e r um die Auslegung und Fortentwicklung des Jugendstrafrechts so
verdiente Jubilar hat auch zum Sinn und Wert der spiegelnden Weisun-
gen Stellung genommen 44 . Die folgenden Ausführungen werden sein
kritisches Urteil bekräftigen. Sie werden dabei zeigen, daß historische
und genetische Betrachtung die Sicht auf gegenwärtige Rechtserschei-
nungen zu schärfen vermag. Denn der Uberblick über die Geschichte
der Talion führt auf historische Vorläufer (unten III), die Erkundung
ihrer geistigen Ursprünge auf psychische Strukturen (unten V), deren
Erkenntnis einer genaueren Analyse und einer differenzierteren Kritik
der spiegelnden Weisungen im Jugendstrafrecht förderlich ist (unten IV,
VI).
III.
1. Die früheste Form der Reaktion auf Unrecht bildet, bei den Germa-
nen wie bei allen Völkern, die Privatrache. Das Recht der Privatrache ist
nicht personen-, sondern gruppenbezogen; es ist intergentiles Recht.
40 So für die jugendstrafrechtlichen spiegelnden Weisungen Lackner in Daliinger/
Lackner, J G G , 2. Aufl. (1965), § 10 Rdn. 34.
41 Siehe bzgl. des Tatmotivs auch die offensichtliche Anspielung auf die alte analoge
Wurde einem Mitglied der einen Gruppe ein Schaden zugefügt, so ist
damit die Kraft dieser Gruppe geschwächt. Das Kräftegleichgewicht
wird durch gleiche Schädigung der anderen Gruppe wieder hergestellt.
Intergentiler Kräfteausgleich, um das Uberleben der zuerst betroffenen
Gruppe zu ermöglichen, ist also die soziale Funktion der Vergeltung,
insbesondere der Vergeltung mit Gleichem (Talion) 45 , auf dieser Stufe
der Entwicklung 46 .
45 Zur Frage, ob es erlaubt ist, in bezug auf Privatrache von Talion zu sprechen, s.
Entwickelung der Moralbegriffe I, 2. Aufl. (1913), 401 f; Boecker, Recht und Gesetz (o.
Fn. 30), 152; Nass, Ursprung und Wandlungen des Schuldbegriffs (1963), 24, 29.
47 Exemplarisch der Satz in den römischen 12-Tafeln (um 450 v.Chr.): „si membrum
rupit, ni cum eo pacit, talio esto". Dazu und zu weiteren Beispielen Günther, Wiederver-
geltung I (o. Fn. 1), 113ff, 121 ff, 72f, 194, 210f. Vgl. auch Preiser in Festschr. f.
Eb. Schmidt (1961), 27 ff.
48 Vgl. zum Vorstehenden Westermarck, Moralbegriffe I (o. Fn. 46), 152 ff; Rehfeldt,
Die Wurzeln des Rechtes (1951), 52; Osenbrüggen, Zeitschr. (o. Fn.24), 180, 182, 198f;
His, Strafrecht d. dt. MA I (o. Fn.3), 371; Günther, Wiedervergeltung I (o. Fn. 1), 6 ff,
212, 272f; Boecker, Recht und Gesetz (o. Fn.30), 152f; Drapkin in Festschr. f. G.Blau
(1985), 626; Baradie, Gottes-Recht (o. Fn.34), 139, 226f.
49 Von ihnen sind einheimischen Ursprungs die spiegelnden Strafen sowie die Talion bei
falscher Anschuldigung u. dgl., während das Vorkommen echter Talion eher Einflüssen
Talion und Spiegelung im Strafrecht 407
des mosaischen und des römischen Rechts zuzuschreiben ist. Vgl. Osenbrüggen, Das
Alamannische Strafrecht im deutschen Mittelalter (1860), 84 ff; ders., Zeitschr. (o. Fn.24),
173 ff, 180 ff, 184 ff, 198 f; His, Strafrecht d. dt. MA I (o. Fn.3), 371; Weismann in
Festschr. f. A.Wach I (1913; Neudr. 1970), 12; Günther, Wiedervergeltung I (o. Fn. 1),
43, 181 f, 186 ff, 189, 217, 223.
so Neben der Talion bei falscher Anschuldigung u. dgl.; hierzu Osenbrüggen, Zeitschr.
(o. Fn.24), 184f; Günther, Wiedervergeltung I (o. Fn. 1), 189ff.
51
Günther, Wiedervergeltung I (o. Fn. 1), 193 f; Rehfeldt, Todesstrafen (o. Fn. 18),
131. Siehe Tacitus, Germania, cap. 12.
52
His, Geschichte des deutschen Strafrechts bis zur Karolina (1928), 73 f, 85; Günther,
Wiedervergeltung I (o. Fn. 1), 182, 195 ff.
53 Insbes. bei Tötung und Körperverletzung; s. Osenbrüggen, Zeitschr. (o. Fn. 24),
176ff, 181 ff; ders., Alam. Strafrecht (o. Fn.49), 84ff; His, Strafrecht d. dt. MA (o. Fn.3),
371 ff; Günther, Wiedervergeltung I (o. Fn. 1), 216 ff, 223 ff.
" Dazu Hermesdorf, Poena talionis (o.J.; 1965?), passim; Osenbrüggen, Zeitschr. (o.
Fn.24), 185ff; ders., Alam. Strafrecht (o. Fn. 49), 266ff; Günther, Wiedervergeltung I (o.
Fn. 1), 226 ff, 234 ff.
55
His, Strafrecht d. dt. MA I (o. Fn.3), 356f; ders., Geschichte (o. Fn.52), 86;
v. Künßberg, Schwurgebärde und Schwurfingerdeutung (1941), 25 ff; Günther, Wiederver-
geltung I (o. Fn. 1), 251 ff.
54
His, Strafrecht d. dt. MA I (o. Fn. 3), 356; ders., Geschichte (o. Fn. 52), 74; Günther,
Wiedervergeltung I (o. Fn. 1), 240 ff.
57 Zum Symbolgehalt dieser Strafe s. Günther, Wiedervergeltung I (o. Fn. 1), 262,
m.w. N.
58 Zum Sinn dieser Strafen s. Rehfeldt, Todesstrafen (o. Fn. 18), 157 f, 162 f; His,
Strafrecht d. dt. MA I (o. Fn. 3), 373; Günther, Wiedervergeltung I (o. Fn. 1), 246 ff.
5
' Günther, Wiedervergeltung I (o. Fn. 1), 250 f, 262 (auch zu weiteren Beispielen).
408 Udo Ebert
Günther, Wiedervergeltung II (o. Fn. 7), 37ff, 55 ff, 73 f; talionsähnliche Strafe bei falscher
Anschuldigung u. dgl.: Günther, a . a . O . , 24ff; symbolisch spiegelnde Strafen: Günther,
a . a . O . , 47ff, 68ff; ders., Wiedervergeltung III (o. Fn.20), 3 9 f Anm.54.
11 Eb. Schmidt, Einführung (o. Fn.61), 17f.
77
Günther, Wiedervergeltung III (o. Fn.20), 39 f Anm.54, 511 ff.
78
Günther, Wiedervergeltung III (o. Fn.20), 34, 63ff, 84ff, 92ff.
79
Günther, Wiedervergeltung III (o. Fn.20), 34ff.
80
Vgl. auch Helfer, Vox latina 18 (1982), 304.
" Eh. Schmidt, Einführung (o. Fn. 61), 225 ff; Günther, Wiedervergeltung III (o.
Fn.20), 79ff, 87.
82
Günther, Wiedervergeltung II (o. Fn.7), 73, 203ff; III (o. Fn.20), 79, 95f.
83
Siehe z.B. Preuß. ALR II 20, §§4, 224, 251, 252, 331-332, 1005, 1259-1260,
1391-1392, 1405.
Talion und Spiegelung im Strafrecht 411
IV.
1. Damit liegen Ausgangspunkt und Rahmen für die Verwirklichung
des Talionsprinzips im modernen Strafrecht fest.
a) Mit der Beseitigung der Verstümmelungs- und der qualifizierten
Todes- sowie der beschimpfenden Ehrenstrafen waren die Möglichkei-
ten für Talion im allgemeinen Strafrecht aufs äußerste begrenzt 85 . Das
Reichsstrafgesetzbuch von 1871 enthielt daher - abgesehen von der
Todesstrafe für Mord, in der nach wie vor ein Fall echter Talion gesehen
werden mochte 86 - Talion nur noch in geringfügigen Relikten und fernen
Anklängen 87 . Auch in der heute geltenden Fassung des Strafgesetzbuchs
(von 1975) findet sich, nachdem die Todesstrafe bereits durch das
Grundgesetz (Art. 102) abgeschafft ist, Talion höchstens noch in rudi-
mentären oder subtilen Formen. So mag man Elemente echter Talion in
den Vorschriften über Retorsion und Kompensation (§§ 199, 233
StGB)88, einen Fall talionsähnlicher Bestrafung an der Triebfeder der Tat
in der Geldstrafenvorschrift des §41 StGB erblicken. Daß es jedenfalls
nicht angeht, der modernen Geldstrafe im ganzen oder gar der moder-
nen Freiheitsstrafe den Charakter echter oder analoger Talion zuzu-
schreiben, wurde oben (13) gezeigt.
Auf einem anderen Blatt steht das Strafdenken der Bevölkerung. Wie
es scheint, ist dieses noch vielfach vom Talionsprinzip bestimmt. So
dürfte die immer wieder aufkommende Forderung nach Wiedereinfüh-
rung der Todesstrafe für Tötungsverbrechen nicht nur dem Wunsch
nach größerer Strenge oder nach Unschädlichmachung, sondern auch
der Vorstellung echter Talion („Leben um Leben") entspringen 8 '; der
Ruf nach Entmannung von Sexualtätern durch das Bedürfnis nicht nur
nach maßregelartiger Sicherung, sondern auch nach Bestrafung am
schuldigen Glied motiviert sein.
84
Siehe etwa Bemer, Strafrecht (o. Fn. 12), 29 f, 30 Anm. 1; Günther, Wiedervergel-
tung II (o. Fn. 7), S . X I I f ; III (o. Fn.20), 509 ff, 548 ff, m . w . N .
85
Günther, Wiedervergeltung III (o. Fn.20), 367ff.
84
Günther, Wiedervergeltung III (o. Fn.20), 327ff.
17
Dazu (auch in bezug auf die vorhergegangenen Partikulargesetzbücher) eingehend
Günther, Wiedervergeltung III (o. Fn.20), 367ff, 382ff, 501 ff, 51 I f f , 548ff, 595ff.
18
Vgl. dazu Günther, Wiedervergeltung I (o. Fn. 1), 116 f Anm. 9, 214 ff; II (o. Fn.7),
21 ff, 82.
89
Vgl. auch Westermarck, Moralbegriffe I (o. Fn. 46), 411; Helfer in Mergen (Hrsg.),
Kriminologische Aktualität (1966), 67.
412 Udo Ebert
b) Hat nach allem die erste der beiden oben (III 3 b) genannten Entwick-
lungen zum weitgehenden Absterben der Talion im allgemeinen Straf-
recht geführt, so ist der zweiten durch die Betonung des Besserungs-
und Erziehungsgedankens in manchen Bereichen des modernen Straf-
rechts neuer Auftrieb gegeben. Was heute im Jugendstrafrecht unter der
Bezeichnung „spiegelnde Weisungen" praktiziert wird, setzt die in der
Aufklärung des 18. Jahrhunderts begründete Tradition fort. Der Grund-
gedanke ist der gleiche wie damals. Als Untergruppe der Erziehungs-
maßregeln (§§ 9 , 1 0 J G G ) stehen die Weisungen ganz im Dienste spezial-
präventiv-erzieherischer Zwecke. In ihrer spiegelnden Version sollen
sie, an den Triebkräften der Tat ansetzend, beim Täter positive Gegen-
kräfte aufbauen. Hierzu wird dem Delinquenten gleichsam ein actus
contrarius zur Tat abverlangt'0. Einem Jugendlichen etwa, der im Park
aus Zerstörungswut Blumen zertrampelt hat, wird die Weisung erteilt,
eine Zeitlang für eine Gärtnerei Blumen zu pflanzen und zu pflegen,
damit er durch diese Beschäftigung lernt, die Eigenart pflanzlichen
Lebens zu verstehen, den Wert von Blumen zu achten und ihre Schön-
heit zu schätzen"· 92 .
V.
1. Die Wurzel des Talionsprinzips kann in den Präventionszwecken des
öffentlichen Strafrechts jedenfalls nicht gesehen werden. So gut sich
Talions- und Spiegelungsstrafen zur Abschreckung, Unschädlichma-
chung und Besserung eignen mochten (s. o. III 3 a), ihr Einsatz für diese
Ziele war eine sekundäre Instrumentalisierung, ihre Begründung mit
general- und spezialpräventiven Funktionen die späte Rationalisierung
einer aus anderen Gründen längst vorhandenen Einrichtung. Die Talion
war da, bevor der Staat sich ihrer für seine kriminalpolitischen Zwecke
bediente.
Auch der Zweck, die Rache zu begrenzen, scheidet damit als Erklä-
rung der Talion aus. Denn auch ihm, dem auf der Ubergangsstufe
zwischen Privatrache und öffentlichem Strafrecht der Einsatz der Talion
diente (s.o. III2), war diese Institution bereits vorgegeben.
2. Die Ubiquität der Talion, ihre Existenz auch in vorstaatlichen Gesell-
schaften, ihre Herkunft aus offenbar vorgeschichtlicher Zeit", all dies
läßt die Annahme zu, daß wir mit dem Talionsprinzip ein Urprinzip des
menschlichen Geistes vor uns haben. Wenn die Entwicklung des Straf-
rechts der Völker, wie Jbering sagt, „ein Stück der Psychologie der
Menschheit" darstellt94, dann repräsentiert die Talion offensichtlich
einen der frühesten Zustände der menschlichen Psyche. Welches
Moment in der geistigen Verfassung der frühen Menschheit aber ist es,
auf dem das Talionsprinzip beruht?
3. Man hat die Talion auf das Vergeltungsprinzip zurückführen wol-
len95. N u n ist in der Tat der Vergeltungsgrundsatz ein Urprinzip
menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns 96 . Im sozialen Bereich
bildet er einen Anwendungsfall des allgemeinen Gegenseitigkeitsprin-
zips, jenes Prinzips der Reziprozität, das als sozialpsychologische
Grundlage allen Rechts nicht nur die Reaktion auf Unrecht, sondern
auch den gesamten Rechtsverkehr im Austausch von Leistung und
Gegenleistung bestimmt 97 . Als mit der Menschennatur verwachsener
Trieb, Böses mit Bösem zu erwidern, liegt der Vergeltungsgrundsatz
dem Strafrecht zugrunde, bildet er den Ausgangspunkt aller Strafrechts-
93
Die frühesten geschichtlichen Zeugnisse vieler Kulturen - von den altorientalischen
über die römische bis zu unserer eigenen - zeigen Talion bereits in ausgebildeten Formen.
9<
Jhering, Das Schuldmoment im römischen Privatrecht (1867), 3.
9S
Thurnwald, Menschl. Gesellschaft V (o. Fn. 28), 5; Wundt, Völkerpsychologie IX
(1918), 447; Rehfeldt, Todesstrafen (o. Fn. 18), 131 f; Günther, Wiedervergeltung I (o.
Fn. 1), passim.
%
Kelsen, Aufsätze zur Ideologiekritik (1964), 63 ff; Rehfeldt, Wurzeln (o. Fn.48), 15.
97
Rehfeldt, Wurzeln (o. Fn.48), 15ff, 17ff, 21; Thumwald, Menschl. Gesellschaft V
(o. Fn. 28), 5 f.
414 Udo Ebert
98
Rehfeldt, Wurzeln (o. Fn.48), 15 ff, 20.
" Ebenso Lévy-Brubl, Le surnaturel (o. Fn.28), 502 f.
100 Zutr. Rehfeldt, Wurzeln (o. Fn.48), 51 f; Osenbrüggen, Zeitschr. (o. Fn.24), 173f.
So auch bereits Aristoteles, Nikomachische Ethik V 8.
101 Beispiel: eine angemessene Freiheits- oder Geldstrafe für eine Körperverletzung.
102 Ζ. B. einerseits das Abhacken der Hand für einen kleinen Diebstahl; andererseits die
b) Die Talion ist „völlig eindeutig, klar und schon darum suggestiv" 107 ;
sie ist einfach und jedermann verständlich. Deshalb bietet sie sich, wo
eine Rechtsordnung entsteht, als deren strafrechtliches Grundgesetz
an108. „ D e m natürlichen Bewußtsein der Völker" muß die lex talionis, die
Vergeltung mit Gleichem, in der Tat als „das natürliche Strafgesetz"
erscheinen 10 '.
104
Tadtus, Germania, cap. 12.
105
Rehfeldt, Todesstrafen (o. Fn.18), 131 f; Günther, Wiedervergeltung I (o. Fn. 1),
182, 212.
106 Hierzu Rehfeldt, Todesstrafen (o. Fn. 18), 131 f; vgl. auch Wundt, Völkerpsycholo-
gie IX (1918), 447 f.
107
Rehfeldt, Wurzeln (o. Fn.48), 52.
108
Helfer, Vox latina 18 (1982), 302f; den., in Kriminolog. Aktual. (o. Fn. 89), 65f.
m
Wundt, Völkerpsychologie IX (1918), 447.
416 Udo Ebert
110
Vgl. zum folgenden Lévy-Bruhl, Le surnaturel (o. Fn. 28), 438 ff, 500 ff (bes. 502 ff);
Thurnwald, Menschl. Gesellschaft V (o. Fn.28), 134, 141; Achter, Geburt der Strafe
(1951), 13 ff, 16 ff; Rehfeldt, Todesstrafen (o. Fn. 18), 132; Helfer, Vox latina 18 (1982),
303; ders., in Kriminolog. Aktual. (o. Fn. 89), 62 ff, 66.
111
So Lindauer in ders. (Hrsg.), Tacitus Germania (1979), 108. Zurückhaltend Reh-
feldt, Todesstrafen (o. Fn. 18), 131 f.
112
Helfer, Vox latina 18 (1982), 304.
1,3
Vgl. die Zurückführung der Strafe allgemein auf Rachegefühl und religiöse Vorstel-
lungen bei Gerland, Die Entstehung der Strafe (1925), 13 ff (19).
Talion und Spiegelung im Strafrecht 417
VI.
1. Daß eine Gesellschaft, auch nachdem sie die Epoche magischen
Denkens hinter sich gelassen und auf dem Wege von der Strafe als
Triebhandlung zur Zweckstrafe (v. Liszt)"* ein gutes Stück zurückgelegt
hat, an der Talion mit Zähigkeit festhält, läßt sich nicht nur an der
deutschen Rechtsgeschichte, aber gerade auch an ihr beobachten. Diese
Beständigkeit der Talion durch die Zeiten bedarf der Erklärung.
a) Gelegentlich liegt die Erklärung in der konservierenden Kraft gehei-
ligter Traditionen. Wo religiös gegründete Talionsvorschriften in die
weltlich-staatliche Rechtsordnung rezipiert worden sind oder faktisch in
sie hineinwirken - wie seinerzeit in Deutschland die betreffenden Straf-
normen des Alten Testaments115 und neuerdings wieder in manchen
islamischen Staaten die Vorschriften des islamischen Strafrechts116 - , ist
ihr Bestand als weltliches Recht durch die religiöse Legitimation garan-
tiert, macht ihr Offenbarungscharakter ihre Wirkungsmacht im profa-
nen Bereich gegen verändernde gesellschaftliche Kräfte immun.
1,4
Siehe v. Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge I (1905; Nachdr. 1970), 126ff.
115
Günther, Wiedervergeltung I (o. Fn. 1), 43, 217, 223; II (o. Fn. 7), 12, 20, 80ff; III
(o. Fn. 20), 4 8 f ; Weismann in Festschr. f. A.Wach I (1913; Neudr. 1970), 12.
116
Jescheck in Festschr. f. D . O e h l e r (1985), 544 ff; Baradie, Gottes-Recht (o. Fn. 34),
87 ff, 108, 116, 129 ff.
"7 Rehfeldt, Wurzeln (o. Fn.48), 8.
11!
Nass, Schuldbegriff (o. Fn.46), 22.
Vgl. Bierhoff, Hilfreiches Verhalten (1980), 230.
418 Udo Ebert
126 Vgl. Lackner in Dallinger/Lackner, JGG, 2. Aufl. (1965), § 10 Rdn. 34; Holzschuh
in Neue Wege (o. Fn. 123), 170; ders., Jugendwohl 1952, 160.
Talion und Spiegelung im Strafrecht 419
127
Lackner in Dallinger/Lackner, JGG, 2. Aufl. (1965), §10 Rdn.34; Holzschuh in
Neue Wege (o. Fn. 123), 169; ders., Jugendwohl 1952, 162.
12
" Lackner und Holzschuh, a. a. O. (o. Fn. 127).
129
Nass, Schuldbegriff (o. Fn.46), 22; Kohlberg, The Philosophy of Moral Develop-
ment (1981), 244.
1)0 Vgl. zur Stufe des Talionsdenkens in der Entwicklung des Kindes Kohlberg in
Laslett u.a. (Hrsg.), Philosophy, Politics and Society, 5.Ser. (1979), 265f; allgemein zu
den Stufen der kognitiven Entwicklung beim Kind Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung
des Kindes (1974), passim.
420 U d o Ebert
151
Holzschuh in Neue Wege (o. Fn. 123), 170f; ders., Jugendwohl 1952, 157.
132
Sie werden denn auch allgemein nicht auseinandergehalten. Siehe etwa Holzschuh,
Jugendwohl 1952, 157ff; ders. in Neue Wege (o. Fn. 123), 168ff; Riedel, Auflagen (o.
Fn. 90), 54, 64 f, 69.
Talion und Spiegelung im Strafrecht 421
kaum als solche zu erkennen. Hält man sich allerdings ihre relativ klar
voneinander geschiedenen historischen Vorläufer vor Augen - die ana-
loge Talion am Tatmotiv insbesondere im Recht der Aufklärung, die
symbolische Talion insbesondere im mittelalterlichen und älteren gemei-
nen Recht - , so kann dies ihre Unterscheidung auch in der heutigen
Rechts Wirklichkeit erleichtern.
c) Es war besonders der Jubilar, der schon früh einerseits die pädagogi-
schen Vorzüge spiegelnder Weisungen anerkannt, andererseits aber auch
warnend auf ihre Schwächen und Gefahren hingewiesen hat133. Es sei zu
prüfen, „ob nicht gewisse Weisungen gerade wegen ihres inneren
Zusammenhangs mit der Tat das Ehrgefühl des Betroffenen verletzen
und dadurch das Gegenteil der angestrebten erzieherischen Wirkung
erreichen"; auch müsse man sich im Einzelfall fragen, „ob eine an der
Verfehlung orientierte Weisung nicht zu einer Fixierung in der Vorstel-
lungswelt des Täters führt, die Ursache eines späteren Rückfalls werden
kann" 134 ; jedenfalls dürfe die Weisung den Jugendlichen nicht „in erzie-
herisch abträglicher Weise ständig an (seine Tat) erinnern"135.
Die oben vorgenommene Differenzierung ist geeignet, diese berech-
tigte Skepsis zu konkretisieren. Pädagogisch fragwürdig in dem genann-
ten Sinne sind nämlich gerade jene spiegelnden Weisungen, deren Spie-
gelungscharakter wesentlich keine andere Funktion hat als die, das
Tatgeschehen bildlich-symbolisch darzustellen und dem Jugendlichen
vor Augen zu halten. Gerade solche die Tat nur „wieder-holenden"
Weisungen bergen die Gefahr, daß der Jugendliche in schädlicher Weise
auf die Tat fixiert, daß er durch ständige Erinnerung an sie in eine
Trotzhaltung gedrängt und daran gehindert wird, sich von seiner Ver-
fehlung innerlich zu lösen. Der Vorzug, daß sie dem Jugendlichen
einleuchten, rechtfertigt derartige Weisungen nicht. Als Erziehungs-
maßregeln sind die Weisungen generell von Gesetzes wegen dem Ziel
verpflichtet, die Erziehung des Jugendlichen zu fördern und zu
sichern'36. Bei ihrer Gestaltung darf es deshalb nicht allein um leichte
Verständlichkeit für den Betroffenen und daher auch nicht lediglich um
einen der Verständlichkeit dienenden Tatbezug, vielmehr muß es darum
gehen, auf die Psyche des Jugendlichen, insbesondere auf die seiner Tat
zugrunde liegenden Motivkräfte, bessernd einzuwirken und die für die
153
Lackner, J Z 1954, 134; Lackner in Dallinger/Lackner, JGG, 2. Aufl. (1965), §10
Rdn.34.
Lackner, JZ 1954, 134.
135
Lackner in Dallinger/Lackner, JGG, 2. Aufl. (1965), §10 Rdn.34.
1,6 § 1 0 I 1 JGG. Dazu Lackner in Dallinger/Lackner, JGG, 2. Aufl. (1965), §10
Rdn. 1.
422 Udo Ebert
VII.
Der Jubilar hat in anderem Zusammenhang138 betont, daß die Rechts-
geschichte nicht dazu tauge, ein bestimmtes Verständnis heutiger
Rechtsinstitute - zumal auf einem so fortschrittlichen Gebiet wie dem
Jugendstrafrecht - zu legitimieren139. Dem ist für den Zusammenhang, in
dem es gesagt ist140, zuzustimmen. Die vorstehenden Ausführungen
dürften andererseits gezeigt haben, daß zur Analyse und Kritik einer
gegenwärtigen Institution die Rechtsgeschichte sehr wohl beizutragen
vermag. Als heuristisches Mittel half sie, miteinander verschmolzene
und teils verborgene Faktoren in der jugendstrafrechtlichen Praxis spie-
gelnder Weisungen, die in historischen Vorläufern getrennt und offen
zutage liegen, als heterogene Elemente zu identifizieren. Erst einmal als
solche erkannt, unterlagen diese Spiegelungselemente durchaus unter-
schiedlicher Beurteilung. Hierbei wiederum erwies es sich als erhellend,
über die geschichtlichen hinaus auch die genetischen und psychologisch-
anthropologischen Aspekte zu berücksichtigen. Denn ungeachtet aller
Vielfalt ihrer äußeren Gestalt und über allen Wandel ihrer gesellschaftli-
chen Funktionen hinweg wurzelt die Talion in psychischen Strukturen
des Menschen, die auch in den gegenwärtigen Manifestationen dieses
Urinstituts der Menschheit ihre Wirksamkeit entfalten.
"* Nämlich in bezug auf die Frage, ob die Reaktionsmittel des J G G - entsprechend der
historischen Strafe - wesentlich an der objektiven Tatschwere und am Vergeltungssinn
orientiert sind.
139 Lackner in Dallinger/Lackner, J G G , 2. Aufl. (1965), § 5 Rdn.10.
140 Siehe oben Fn. 138.
Zur Indizwirkung der Regelbeispiele
für besonders schwere Fälle einer Straftat
JOHANNES WESSELS
Reform des §243 StGB Arzt, JuS 72, 385ff und Anm. Strafverteidiger 85, 104; Blei,
Festschrift für E.Heinitz, 1972, S.419; Calliess, J Z 75, 112; Corves, J Z 70, 156; Fabry,
N J W 86, 15; Maiwald, Festschrift für W. Gallas, 1973, S. 137 und NStZ 84, 433.
4 Im Gegensatz zu § 2431 enthält § 244 eine zwingende und abschließende Regelung der
Erschwerungsgründe. Infolgedessen ist § 2441 Nr. 1 auch auf Berufswaffenträger, d. h. auf
Polizeibeamte und Bundeswehrsoldaten anzuwenden, die während ihres Streifendienstes
oder Wachganges Sachen von lediglich geringem Wert stehlen und dabei die zu ihrer
Ausrüstung gehörende Schußwaffe tragen (näher zu dieser umstrittenen Frage BGHSt. 30,
44; Wessels, BT-2, S.59 m . w . N . ) .
5 Vgl. §§9411, 95III, 981 S.2, 99II, 100II, 100aIV, 113II, 121 III, 125a, 176III,
218II, 235II, 2431, 264II, 283a, 2 8 3 d I I I , 302aII, 3 1 0 b I I I , 311 III, 311aIII, 311 e l l l ,
330IV StGB sowie §29111 BtMG.
' Die Methode der kasuistischen Tatbestandsabwandlung kann wegen ihrer Starrheit zu
schwer einsehbaren Grenzziehungen und zu Ergebnissen führen, die dem Rechtsgefühl
widersprechen. Deutlich wurde das u.a. bei der früheren Fassung des §243: Wer aus
einem Kraftwagen durch Aufbrechen des Seitenfensters eine Handtasche entwendete,
beging einen schweren Diebstahl (§ 2431 Nr. 2 a. F.). Stahl der Täter auf die gleiche Weise
den ganzen Kraftwagen nebst Inhalt, lag nur ein einfacher Diebstahl (§242) vor.
424 Johannes Wessels
7
Beispiele: §§21211, 263 III, 266 II, 267III.
8
Zur Konkretisierung solcher Generalklauseln durch die Rechtsprechung siehe
BGHSt. 5, 124 (130); 29, 319 (322); näher dazu Maiwald, NStZ 84, 433 m . w . N .
9
Betäubungsmittelgesetz vom 28. 7.1981 (BGBl. I 681, 1187).
10
Siehe § § 3 1 0 b i l l S.2, 311 III, 311 a l l í S.2, 311 e l l l S.2.
11
So u.a. gemäß §§176IV, 177III, 178III, 239aII, 251, 316cII StGB, §301 N r . 3
BtMG.
12
BGHSt. GrS 26, 167 (173); BGHSt. 29, 359 (368); zurückhaltender hinsichtlich der
formalen Bedeutung der Gesetzestechnik B G H MDR 86, 250.
13
Das räumt BGHSt. 29, 359 (368) ausdrücklich ein.
14
Sexueller Mißbrauch von Kindern (§ 1761) bleibt daher gemäß § 12 III auch dann ein
Vergehen, wenn der Täter zugleich ein Regelbeispiel i.S. des §176111 S.2 Nr. 1, 2
Zur Indizwirkung der Regelbeispiele für besonders schwere Fälle 425
verwirklicht hat und die Tat infolgedessen mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn
Jahren bedroht ist.
15
Sexueller Mißbrauch i.S. des §1761 wird somit gemäß §176IV in Verbindung mit
§121 zum Verbrechen, wenn der Täter durch die Tat leichtfertig den Tod des Kindes
verursacht.
16
Zutreffend Hirsch, ZStW 84, 380 (386); ähnlich, wenngleich im Ergebnis großzügiger
Fabry, N J W 86, 15.
" Deutlich wird diese Tendenz bei einem Vergleich zwischen dem Regelbeispiel in
§29111 S. 2 N r . 1 BtMG und dem Qualifikationstatbestand des §301 N r . 2 BtMG, wo es
jeweils um die Erfassung des gewerbsmäßigen Handelns geht, die Mindeststrafe im
letztgenannten Fall aber weiter verschärft worden ist.
" Mit diesem Begriff argumentiert Maurach, Deutsches Strafrecht, Besonderer Teil,
5. Aufl. 1969, Nachtrag 1970, S. 17; siehe dazu ferner Baumann/Weber, Strafrecht,
Allgemeiner Teil, 9.Aufl. 1985, S. 137; Dreher-Tröndle, StGB, 42.Aufl. 1985, §243
Rdn.3; Maurach-Sc/jnWer, Strafrecht, Besonderer Teil, Teilband 1, 6. Aufl. 1977, S.295;
Wessels, Maurach-Festschr. S. 295 (297).
426 Johannes Wessels
c) Einen Versuch des § 2431 als solchen gibt es dagegen ebensowenig wie
den Versuch sonstiger Regelbeispiele schlechthin, weil das Gesetz in § 22
den Versuch begrifflich davon abhängig macht, daß der Täter nach seiner
Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung „des Tatbestandes" unmit-
telbar ansetzt. Daraus folgt aber zugleich, daß ein versuchter Diebstahl
(§§242, 22) bei voller Erfüllung eines Regelbeispiels durchaus ein
„besonders schwerer Fall" im Sinne des § 2431 S. 2 Nr. 1-6 sein kann25,
" Näher BGHSt. 23, 254 (257); 29, 359 (368); BGH MDR 86, 250; O L G Düsseldorf
NStZ 84, 571 ; Hirsch, ZStW 84, 386; Lackner, a.a.O., §46 Anm.2b; LK-Vogler, StGB,
10.Aufl. 1983, Rdn.102 vor § 2 2 ; Sch.-Sch.-Ejer, StGB, 22.Aufl. 1985, §243 Rdn.2;
Wessels, Maurach-Festschr. S.295 (299) und BT-2, S.45; Zipf, Festschr. für E.Dreher,
1977, S. 389 (391); abweichend Calliess, J Z 75, 1 1 2 - J a k o b s , Strafrecht, Allgemeiner Teil,
1983, 6/99.
20 Das ist vor allem an §243 zu erkennen, dessen Regelbeispiele überwiegend dem
23 Vgl. Maiwald, NStZ 84, 433 (436); Wessels, Maurach-Festschr. S.295 (300).
" BGHSt. 26, 176 und 244; Lackner, a.a.O., §46 Anm.2b, aa; Maurach-Sc¿roe¿er,
a.a.O., S.303; Sch.-Sch.-£ser, a.a.O., §243 Rdn.43.
25 Das wird in Rechtsprechung und Rechtslehre fast einhellig anerkannt. Bedenken
gegen die Kombination von Deliktsversuch und Regelbeispiel äußert lediglich Arzt, JuS TL,
515 (517) sowie Anm. Strafverteidiger 85, 104.
Zur Indizwirkung der Regelbeispiele für besonders schwere Fälle 427
da § 243 sich nicht nur auf § 2421, sondern auch auf § 242 II bezieht, den
Diebstahlsversuch also mit einschließt.
d) Soweit es um die Abgrenzung zwischen Vorbereitung und Versuch,
also um die Frage geht, wann der Versuch des einschlägigen Delikts
beginnt, wirkt das Ansetzen mit Erschwerungsgründen bei Regelbei-
spielen wie bei Qualifikationstatbeständen nicht zwangsläufig versuchs-
begründend. Hier muß vielmehr in jedem Einzelfall geprüft werden, ob
in der betreffenden Handlung ein unmittelbares Ansetzen zur Verwirkli-
chung des Grundtatbestandes liegt26. Im Bereich der §§ 242, 243 bedeu-
tet das nicht, daß der Täter schon mit der „Wegnahme" selbst begonnen
haben müsse, da § 22 für den Versuch auch Handlungen genügen läßt,
die im unmittelbaren Vorfeld der Tatbestandsverwirklichung anzusie-
deln sind. Das Ansetzen zum Einbrechen oder Einsteigen ( § 2 4 3 1 S. 2
Nr. 1) reicht daher für den Eintritt der geplanten Tat in das Stadium des
mit Strafe bedrohten Versuchs aus, wenn es nach dem konkreten Tatent-
schluß unmittelbar anschließend in die eigentliche Wegnahmehandlung
einmünden sollte.
" Näher LK-Vogler, a.a.O., §22 Rdn.80ff; Wessels, Maurach-Festschr. S.295 (305)
sowie Strafrech:, Allgemeiner Teil, 15. Aufl. 1985, S. 167.
27 BGHSt. 29, 239 (244); BGH NStZ 83, 217; Lackner, a.a.O., §46 Anm.2b, ee;
Sch.-Sch.-£jer, a.a.O., §243 Rdn.47; Sch.-Sch.-Stree, a.a.O., §38 Vorbemerkung
Rdn.44d.
2» BGH NJW 80, 714 (zum gewerbsmäßigen Handeln).
428 Johannes Wessels
h) Geklärt ist jetzt ferner, daß das Berufungsgericht bei einer wirksamen
Beschränkung der Berufung auf den Strafausspruch an die Feststellungen
gebunden bleibt, aus denen sich das Vorliegen der Voraussetzungen
eines Regelbeispiels (wie etwa des § 2 4 3 1 S. 2 Nr. 1, 2 oder 4) ergibt,
wenn diese Feststellungen im Einzelfall sog. doppelrelevante Tatsachen
betreffen, die auch dem Schuldspruch zugrunde liegen33.
Grundsatz der Gesamtbewertung von Tat und Täter beruht 35 , hat der
Richter bei eingetretener Indizwirkung zu prüfen, ob nicht Umstände
außergewöhnlicher Art in der Tat oder in der Person des Täters den
Unrechts- oder den Schuldgehalt der Rechtsverletzung so sehr mindern,
daß die indizielle Bedeutung des Regelbeispiels entkräftet ist. Zu bejahen
ist dies, wenn die Tat ihrem Gesamtbild wie ihrem Schweregrad nach
nicht mehr wesentlich vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß vorkom-
menden Fälle der betreffenden Straftat abweicht, so daß der normale, im
Grundtatbestand vorgesehene Strafrahmen zur Ahndung ausreicht 36 . In
Frage kommt das beispielsweise, wenn die Rechtsgutsverletzung nur
einen geringen Schaden angerichtet hat, wenn der Täter als an sich
rechtstreuer Bürger durch einen Lockspitzel förmlich zur Tat gedrängt
worden ist37 oder wenn im abzuurteilenden Fall gerade die Gründe nicht
zutreffen, denen das Regelbeispiel seine Typisierung verdankt. Die
Entscheidung darüber ist Sache der tatrichterlichen Würdigung 38 ; sie
bedarf im Urteil der Erörterung und der Begründung, wenn das Vorlie-
gen solcher Umstände nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung evi-
dent ist oder offenbar naheliegt 39 .
Fehlt es an den Voraussetzungen eines Regelbeispiels, wie etwa im
Rahmen des § 2 4 3 1 S. 2 N r . 1 deshalb, weil das Verhalten des Täters
weder als Einbrechen noch als Einsteigen anzusehen ist oder weil der
Täter beim Eindringen in den umschlossenen Raum nicht einen falschen,
sondern in mißbräuchlicher Weise den richtigen Schlüssel benutzt hat40,
so scheidet kraft Gegenschlußwirkung 41 ein besonders schwerer Fall in
der Regel aus, ohne daß dies im Urteil näherer Begründung bedürfte.
Der Tatrichter ist hier aber nicht gehindert, das Vorliegen eines atypi-
schen besonders schweren Falles anzunehmen, wenn in sonstiger Hin-
sicht erschwerende Umstände hinzutreten, die (dem Leitbild der Regel-
beispiele entsprechend) 42 den Unrechts- und Schuldgehalt derart stei-
gern, daß die Anwendung des normalen Strafrahmens nicht angemessen
wäre 43 .
35 BGHSt. 28, 318; 29, 319.
36 Näher Dreher-Tröndle, a.a.O., §46 Rdn.44; Lackner, a.a.O., §46 Anm.2b, bb;
Sch.-Sch.-Stm>, a.a.O., Rdn.44 ff vor §38; SK-Horn, StGB, Allgemeiner Teil, 3. Aufl.
1981, §46 Rdn.57; Wessels, Maurach-Festschr. S.295 (301).
37 Siehe dazu BGHSt. 32, 345 (355); Lackner, a.a.O., §46 Anm.2b, bb; Wessels,
Maurach-Festschr. S.295 (301).
3» BGHSt. 29, 319; O L G Karlsruhe NJW 78, 1697 (1699).
40 Vgl. dazu O L G Hamm NJW 82, 777; Kadel, Anm. J R 85, 386 (387).
, 2 Extensiver Maiwald, NStZ 84, 433 (438); Sch.-Sch.-ftree, a.a.O., Rdn.44c vor
§38.
43 Näher BGHSt. 29, 319; BGH GA 1978, 242; Dreher-Tröndle, a.a.O., §46
Rdn.45-47; Lackner, a.a.O., §46 Anm.2b, c; Wessels, Maurach-Festschr. S.295 (302).
430 Johannes Wessels
Nach einhelliger Ansicht ist bei dieser Sachlage der Eintritt der
Regelwirkung und demzufolge ein besonders schwerer Fall des Dieb-
stahls (§§242, 2431 S.2 Nr. 1) zu bejahen, sofern nicht außergewöhnli-
che Umstände die Indizwirkung des vorliegenden Regelbeispiels ent-
kräften und kompensieren.
2. Bei einem erfolglos gebliebenen Versuch des Grunddelikts sind die
Merkmale eines Regelbeispiels bereits vollständig verwirklicht worden.
Beispiel: A ist mit Hilfe eines Nachschlüssels zu Diebstahlszwecken in das Haus des Β
eingedrungen, dort aber entdeckt und festgenommen worden, bevor er etwas hat
wegnehmen können.
Gegen den Eintritt der Regelwirkung bestehen auch hier keine durch-
greifenden Bedenken44, so daß eine Bestrafung wegen versuchten Dieb-
stahls in einem besonders schweren Fall (§§242, 22 in Verbindung mit
§2431 S.2 Nr. 1) erfolgen, die Strafe indessen gemäß §§2311, 491
gemildert werden kann45.
3. Bei einer vollendeten Straftat ist die Verwirklichung von Umständen,
die ein daran anknüpfendes Regelbeispiel voraussetzt, nur versucht
worden.
Beispiel: Bei dem Versuch, die Kellertür am Haus des Β mit einem Nachschlüssel zu
öffnen, stellt A zu seiner Überraschung fest, daß die Tür gar nicht abgeschlossen ist. So
gelangt er mühelos in das Gebäude, aus dessen Diele er eine kostbare Orientbrücke
entwendet. Bei einer Verkehrskontrolle, in die er auf dem Heimweg gerät, wird er als
Dieb entlarvt.
44 Vgl. B G H NStZ 85, 217; O L G Köln MDR 73, 779; Bedenken dagegen bei Arzt, JuS
1985, S. 51.
53 Kritisch zu dieser Formel Maiwald, NStZ 84, 433 (435).
222; Bockelmann, Strafrecht, Besonderer Teil/1, 2. Aufl. 1982, S.29; Blei, Strafrecht II,
Besonderer Teil, 12.Aufl. 1983, S. 194; Kadel, Anm. J R 85, 386; Krey, Strafrecht,
Besonderer Teil/2, 6. Aufl. 1984, S. 42; Lackner, a. a. O., § 46 Anm. 2 b, dd; Lieben, NStZ
84, 538; v. Lübbecke, M D R 73, 375; Miurzch-Schroeder, a. a. O., S. 304; Otto, Grundkurs
Strafrecht, Die einzelnen Delikte, 2.Aufl. 1984, S.164; Sch.-Sch.-£ser, a . a . O . , §243
Rdn.44; Wessels, BT-2, S. 46.
Zur Indizwirkung der Regelbeispiele für besonders schwere Fälle 433
4. Möglich ist schließlich, daß weder die geplante Straftat noch das vom
Tatentschluß umfaßte Regelbeispiel über das Versuchsstadium hinausge-
langt sind.
Beispiel: Bei dem Versuch, zu Diebstahlszwecken die Fenster einer Gastwirtschaft
aufzubrechen, ist A überrascht und festgenommen worden, bevor ihm das gewaltsame
Offnen der Fenster gelungen war.
Mit einem Fall dieser Art war unlängst der 3. Strafsenat des B G H
befaßt. Auf Vorlage der Sache durch das O L G Düsseldorf hat er
entgegen der h. M. entschieden 55 , die Annahme des Regelbeispiels „Ein-
brechen" in § 2 4 3 1 S. 2 N r . 1 und der damit verbundenen Indizwirkung
setze beim versuchten Diebstahl nicht voraus, daß der begonnene Ein-
bruch gelungen sei. Diesen Standpunkt begründet der B G H im wesentli-
chen wie folgt:
Welche Bedeutung die Umwandlung des § 2 4 3 a. F. von einem selb-
ständigen Tatbestand in eine Strafzumessungsvorschrift mit Regelbei-
spielen für die Beantwortung der Vorlegungsfrage habe, sei dem Gesetz
mangels ausdrücklicher Regelung nicht unmittelbar zu entnehmen. Es
sei daher notwendig, bei der Lösung des Problems auf allgemeine
Grundsätze des Strafrechts zurückzugreifen und das Ergebnis auf dessen
Vereinbarkeit mit ihnen zu überprüfen. Der bloße Hinweis auf § 23 II
biete keine ausreichende Stütze, da diese Vorschrift, ebenso wie § 22 und
§ 231, nur auf Handlungen zugeschnitten sei, die darauf abzielten,
Merkmale von Tatbeständen zu erfüllen. Immerhin lasse sich dem § 2 3 II
der Wille des Gesetzgebers entnehmen, die versuchte Tat, sofern sie
strafbar sei, grundsätzlich derselben Strafdrohung zu unterwerfen wie
die vollendete Tat. D e r Strafrahmen bestimme sich insoweit nach dem
Tatentschluß. Es liege auch nahe, die Regelbeispiele der besonders
schweren Diebstahlsfälle im Ergebnis wie Tatbestandsmerkmale zu
behandeln, da sie jedenfalls tatbestandsähnlich seien und sich im Wesen
nicht tiefgreifend von selbständigen Qualifikationstatbeständen unter-
schieden. Die Ansicht, die für die Annahme des Regelbeispiels und die
Bejahung der Regelwirkung bei einer lediglich versuchten qualifizieren-
M Der B G H läßt an dieser Stelle ausdrücklich offen, wie der Fall zu entscheiden ist, daß
Hier hilft entgegen Fabry57 auch der Rückgriff auf § 23 II nicht weiter.
Denn wie der B G H selbst hervorhebt, steht diese Vorschrift im Kontext
zu § 22, der seinem unzweideutigen Wortlaut nach nur auf Tatbestände
und nicht auf Regelbeispiele zugeschnitten ist. Aus § 23 II kann daher
lediglich entnommen werden, daß bei einem Deliktsversuch der Straf-
rahmen desjenigen Straftatbestandes maßgebend ist, zu dessen Verwirk-
lichung der Täter im Sinne des §22 unmittelbar angesetzt hat. Wie zu
verfahren ist, wenn der Täter bei einer versuchten oder vollendeten
Straftat zur Realisierung außertatbestandlicher Erschwerungsgründe
entschlossen war und dazu bereits angesetzt hatte, regelt § 23 II nicht.
Diese Vorschrift läßt insbesondere offen, ob ein solcher Umstand allein
im Rahmen des § 46 II oder in der Weise zu berücksichtigen ist, daß man
bei Regelbeispielen auf deren strengeren Strafrahmen statt auf den des
Grundtatbestandes zurückgreift. Insoweit versagt auch die Erwägung
des B G H , Grundlage der Strafzumessung sei die Schuld des Täters, diese
spiegele sich im wenigstens teilweise ausgeführten Tatentschluß wider
und bilde so einen geeigneten Anknüpfungspunkt für die Typisierung im
Zusammenhang mit der Strafrahmenbestimmung als dem ersten Schritt
der Strafzumessung. Im Kern ist daran zwar einiges richtig. Die ent-
scheidende Frage, ob die Steigerung der Schuld, die sich in der Betäti-
gung des Willens zur Verwirklichung erschwerender Umstände nieder-
schlägt, über § 46 II in den Grenzen des ordentlichen Strafrahmens oder
über die Indizwirkung des einschlägigen Regelbeispiels zu erfassen ist,
bleibt dabei jedoch offen.
Fehl geht des weiteren das Argument, mit der Reform des § 243 habe
der Gesetzgeber die Reichweite der dort umschriebenen Erschwerungs-
gründe nicht einschränken und zum Beispiel den versuchten Einbruch
nicht grundsätzlich von der Qualifizierung ausnehmen wollen. Dem ist
entgegenzuhalten, daß die Reichweite des §243 a. F. für Fälle des
Versuchs sich gerade aus seiner Eigenschaft als Qualifikationstatbestand
und der darauf beruhenden Anwendbarkeit des § 43 a. F. ergab und daß
die Frage nach der Reichweite des §243 in seiner heutigen Gestalt
folgerichtig nur mit Hilfe des §22 zu beantworten ist, der indessen
Regelbeispiele nicht mehr erfaßt. Bei der Neufassung des §22 kam es
dem Gesetzgeber aber erklärtermaßen darauf an, der Versuchsstrafbar-
keit im Vergleich zum früheren Recht engere Grenzen zu setzen und
ihrer Ausuferung entgegenzuwirken. Für die Lösung des hier angespro-
chenen Problems bleibt die Berufung auf den angeblichen Willen des
Gesetzgebers im übrigen auch deshalb fruchtlos, weil dieser die dogma-
tischen Konsequenzen, die mit der Einführung der Regelbeispieltechnik
verbunden waren, nicht einmal annäherungsweise erfaßt und bedacht
57
N J W 86, 15 (19).
436 Johannes Wessels
58 Zutreffend Kadel, Anm. JR 85, 386; Lieben, NStZ 84, 538 (539).
s' Falsch ist jeder Schlüssel, der zur Tatzeit vom Berechtigten nicht oder nicht mehr
zum Öffnen des betreffenden Verschlusses bestimmt ist (BGHSt. 13, 15; 14, 291; 21, 189).
Von der Verwendung eines falschen Schlüssels ist der bloße Mißbrauch des richtigen
Schlüssels durch einen Unbefugten zu unterscheiden (siehe dazu Wessels, BT-2, S. 49, 50).
60 Vgl. Maiwald, NStZ 84, 433 m.w.N.
61 NJW 86, 15 (20).
Zur Indizwirkung der Regelbeispiele für besonders schwere Fälle 437
aus dem Strafrahmen des §243 bestraft werden kann, so erst recht
derjenige, bei dem zwar die geplante Einbruchshandlung fehlschlägt,
weil der Widerstand, der überwunden werden sollte, sich als nicht
vorhanden erweist, die geplante Wegnahme aber gelingt." Vom Stand-
punkt des B G H aus wäre das folgerichtig. Denn wenn die Anwendbar-
keit des strengeren Strafrahmens schon dadurch indiziert wird, daß der
Täter zur Begehung des Grunddelikts wie zur geplanten Verwirklichung
eines Regelbeispiels lediglich ansetzt, kann sich daran nichts mehr
ändern, wenn es im weiteren Verlauf des Geschehens zur Vollendung
des Grunddelikts kommt. U n d schließlich müßte der B G H sich noch
fragen, ob seine These, daß Regelbeispiele bei der Bestimmung des für
den Deliktsversuch geltenden Strafrahmens wegen ihres tatbestandsähn-
lichen Charakters im Ergebnis „wie Tatbestandsmerkmale zu behan-
deln" seien, nicht auch für die Teilnahmeproblematik zu übernehmen
wäre und dort bezüglich der Anwendbarkeit der allgemeinen Akzesso-
rietätsregeln eine Korrektur seiner eigenen Rechtsprechung 62 nach sich
ziehen müßte.
An der h. M.63, die beim Eintritt der Regelwirkung zwischen der
vollständigen und bloß teilweisen Verwirklichung eines Regelbeispiels
unterscheidet, ist daher festzuhalten. Sie ebnet die aus der jeweiligen
Sachlage folgenden Unterschiede nicht „der Einfachheit halber" ein und
wird dem Gesetz eher gerecht als die abweichende Rechtsauffassung des
B G H . Wer Regelbeispiele wie Tatbestände behandeln will, obwohl sie
es nicht sind, sollte sich gelegentlich daran erinnern, daß dem Reichsge-
richt die bloße „Ähnlichkeit" zwischen körperlichen Sachen und elektri-
scher Energie keinen Anlaß gegeben hat, die Entziehung elektrischer
Energie „wie einen Diebstahl zu behandeln" 64 .
keit des Tatbestandes, seiner Vereinbarkeit mit dem Schuldprinzip, dem Intensitätsgrad
des Vollrausches, den subjektiven Voraussetzungen der Rauschtat, einschließlich der
Bedeutung rauschbedingter Irrtümer, vgl. etwa die Übersicht bei Ranft, J A 1983, 193 ff.
2 Vgl. dazu Lackner und Tröndle in Festschrift für Jescheck, 1985, S.645, 665.
4 Schon wegen der notwendigen Abgrenzung zur actio libera in causa, die zu einem
3. Um d a z u Stellung n e h m e n z u k ö n n e n , b e d a r f es z u n ä c h s t einer
g e n a u e n D a r s t e l l u n g d e r Rechtsprechung, die sich bis z u l e t z t - ohne
b e s o n d e r e Skrupel - einfach in d e n alten, v o r d e r E i n f ü h r u n g jener
S t r a f z u m e s s u n g s r e g e l eingeschlagenen B a h n e n 1 4 f o r t b e w e g t . Mösl NStZ
1 9 8 2 , 1 5 0 e n t n i m m t d a f ü r aus B G H D A R 1 9 8 2 , 2 0 0 1 5 f o l g e n d e „Richt-
linien ":
Bestraft wird nur die schuldhafte Herbeiführung des Rauschzustandes, nicht die in
diesem Zustand begangene rechtswidrige Tat. Als für die Strafzumessung bestimmend
kommen daher grundsätzlich nur solche Umstände in Betracht, die für die Erfüllung
des Tatbestandes des § 323 a StGB von Bedeutung sind, insbesondere also das Sichbe-
rauschen, seine Art, sein Anlaß, die näheren Umstände, die Gefährlichkeit des Täters
im Rauschzustand und (!) seine Kenntnis davon. Da die im Rauschzustand begangene,
mit Strafe bedrohte Tat „Indiz" für die Gefährlichkeit (!) des Volltrunkenen ist, können
aber im genannten Zusammenhang (?) auch die Art, der Umfang und die Auswirkun-
gen der Rauschtat bei der Bemessung der Strafe Berücksichtigung finden". Dies darf
jedoch nicht soweit gehen, daß die Motive und die Gesinnung des Täters, die zu der im
Rauschzustand begangenen rechtswidrigen Handlung geführt haben, bei der Strafzu-
messung zu seinem Nachteil herangezogen werden.
chung.
" Über frühere Entscheidungen vgl. z.B. BGH MDR 1971, 722; 1972, 198; 1974, 25;
DAR 1979, 181. Die einschlägigen Strafzumessungsrichtlinien sind schon in dem (nicht
veröffentlichten) Beschluß 4 StR 592/78 abschließend entwickelt worden, auf den BGH
DAR 1982, 200 Bezug nimmt.
442 Hans-Jürgen Bruns
17 §13 II StGB (a. F.) ist durch das erste Strafrechtsreformgesetz vom 2 5 . 6 . 1 9 6 9 , § 46 II
würde, ebenso hoch wie für die letzteren ausfallen kann, bei schweren
Rauschtaten dagegen um vieles unter deren Höchststrafe liegt. Diese
Regelung ist zwar verfassungsrechtlich22 nicht zu beanstanden, gibt
jedoch zum Nachdenken Anlaß. Der Richter muß jedenfalls grundsätz-
lich von dem Strafrahmen des § 323 a I StGB ausgehen und versuchen,
derartige „Unstimmigkeiten" durch gegenläufige Erwägungen auszuglei-
chen2\
Der Vorschlag von Wolter", den § 323 a StGB schon de lege lata in zwei weitgehend
unabhängige Vollrauschtatbestände mit unterschiedlichen Strafrahmen aufzuspalten,
läßt sich allerdings ohne Gesetzesänderung, insbesondere auf der Ebene der Strafzu-
messung nicht verwirklichen, bestätigt aber die Notwendigkeit einer Strafrahmendiffe-
renzierung. Ob nicht nur der Strafrahmen nach oben begrenzt wird - sogar bei
Begehung mehrerer Rauschtaten25 - sondern, wie Dencker26 meint, auch das konkrete
Strafmaß nicht höher sein darf als ein hypothetisch zu ermittelndes Strafmaß der
Rauschtat, erscheint zweifelhaft; dasselbe gilt für die Versuche der Gerichte, den
Vollrausch-Verkehrsstraftäter möglichst weitgehend nach den gleichen Grundsätzen
wie den Täterkreis aus §§316, 315 c StGB zu bestrafen27.
Auch ohne weitere Einzelheiten ergibt sich aus all dem, daß die
„jeweilige Qualität" der Rauschtat zumindest den Strafrahmen des
§ 323 a StGB beeinflußt und diese gesetzliche Regelung die Vermutung
nahelegt, daß sie ähnliche Wirkungen auch auf die Strafzumessung
ausüben kann. Der Tatbestand stellt nämlich mit seinem Strafrahmen
schon allgemein einen übergeordneten Strafzumessungsgrund dar, sogar
an die Strafenschichtung innerhalb des Rahmens28 ist der Richter gebun-
den. Die Vorarbeit des Gesetzgebers hat richtungweisende methodische
Bedeutung, Strafrahmenverschiebungen und Strafzumessungserwägun-
gen müssen weitgehend einander entsprechen, ähnlich wie nach dem
Gesetz der Grenzwertbestimmung 28 Gründe, die in ihren höheren
Abstufungen Unrecht oder Schuld ausschließen, in ihren geringeren
Graden auch auf deren Umfang und damit auf die Strafhöhe Einfluß
gewinnen. Schon damit wäre ein erstes Argument 29 - unabhängig von
25 Vgl. Tröndle, a.a.O. m.N. Horn, SK zu §323a StGB Nr.23; Ranft JA 1983, 243.
27 Vgl. Haubrich DAR 1980, 359, was mit dem Charakter des §323 a StGB als
Sondertatbestand nicht vereinbar ist.
211 Vgl. Bruns, a. a. O. (Fn. 7), S. 43, 60.
2 ' Vgl. Wolter, a.a.O. S. 56: Es darf nicht verkannt werden, daß der Gesetzgeber bei
der Abmessung des Strafrahmens und der Richter bei der Bemessung der Einzelstrafe auch
die jeweilige Qualität der Rauschtat im Auge hat.
444 Hans-Jürgen Bruns
1. Das bedeutet, daß die Rauschtat als solche, nämlich Art, Umfang,
Intensität und Auswirkungen der rechtswidrigen Tat in ihrer Bedeutung
für die Strafzumessung gewürdigt werden müssen. Hier ist schon
sprachlich einiges klarzustellen, insbesondere zu erkennen, daß es sich
bei einer Rauschtat, z . B . nach § 2 2 6 StGB 3 8 , nicht nur um die Todes-
folge der Körperverletzung, sondern um einen gestreckten, aus Hand-
lung und Erfolg bestehenden Tatbestand handelt und daß man beides als
Auswirkungen des Vollrausches des Täters bezeichnen kann. U m Miß-
verständnisse zu vermeiden, muß man hier auch die einzelnen Begriffs-
bildungen genauer definieren, insbesondere die bedenkliche Gleich-
§ 323 a StGB Verurteilten nur (!) die von ihm ausgehende Gefährlichkeit
im Rausch angelastet und damit lediglich den gesetzgeberischen Grund
für die Bestrafung des schuldhaft herbeigeführten Vollrauschs bei der
Strafzumessung verwertet hat (BGH NStZ 1984, 495); insoweit kom-
men also nur Gefährlichkeitsmodifizierungen als Strafzumessungsgrund
in Frage. Ein Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot ist auch von
BGH MDR 1982, 811 verneint worden, wenn der Tatrichter Umfang,
Ausmaß und Erfüllung der Rauschtat strafschärfend berücksichtigt hat;
für § 46 III StGB kommt es insoweit nur auf den gesetzlichen Tatbestand
des § 323 a StGB an, der das Sichberauschen unter einen einheitlichen,
von der Art der im Rausch begangenen Tat zunächst unabhängigen (?)
Strafdrohung stellt und dafür einen eigenen Strafrahmen vorsieht.
Mit all diesen Erwägungen ist die vom BGH bejahte Strafzumessungs-
relevanz der Rauschtat in ihren sämtlichen Erscheinungsformen jedoch
noch nicht einsichtig begründet, insbesondere der seit der Neuregelung
des §46 II StGB sichtbar gewordene Widerspruch zum Schuldprinzip
nicht ausgeräumt, nicht einmal registriert.
dessen Sachverhalt sich geradezu als Musterbeispiel für die zweite These
des Großen Senats und die Berücksichtigung unverschuldeter Folgen
und damit für die Strafzumessungsrelevanz anbot. Auch die Entschei-
dungen B G H DAR 1982, 200 und MDR 1982, 811 nehmen noch auf
B G H 23, 376 Bezug und halten damit die Thesen von BGH 10, 259
aufrecht.
3. Das ist erstaunlich und schwer verständlich. Denn eine Stellung-
nahme zu §46 II StGB und seinem Verhältnis zu B G H 10, 259 wäre
schon unmittelbar nach der Gesetzesänderung, also vor 15 Jahren,
geboten gewesen. Zwar wird im Anfang der Begründung in B G H DAR
1982, 200 zutreffend gesagt, als für die Zumessung der Strafe bestim-
mend kommen daher ( = wegen der besonderen Struktur des §323 a
StGB) grundsätzlich (!) nur solche Umstände in Betracht, die für die
Erfüllung des Tatbestandes von Bedeutung sind, insbesondere also das
Sichberauschen, seine Art, sein Anlaß, die näheren Umstände, die
Gefährlichkeit des Täters im Rauschzustand und seine Kenntnisse
davon. Aber warum dann auch die Art, der Umfang und die Auswir-
kungen der Rauschtat für die Bemessung der Strafe berücksichtigt
werden können, bleibt offen, sofern diese Ausnahmefolgerung nicht
über den in B G H 23, 276 enthaltenen Verweis auf B G H 10, 259 und den
Gesichtspunkt der erfolgsqualifizierten Schuld gestützt werden soll,
womit der Widerspruch zum Schuldprinzip erneut sichtbar würde. Die
erst in neueren Entscheidungen verwendete Behauptung, die Rauschtat
sei „Indiz" für die Gefährlichkeit des Volltrunkenen, führt ebenfalls
nicht weiter41, da auch mit diesem Vehikel keine (indizielle) Gedanken-
brücke von der Gefährlichkeit zur Schuld geschlagen werden kann. Nur
die verschuldete Gefährlichkeit ist strafzumessungsrelevant, die Rausch-
tat und ihre Auswirkungen bleiben unverschuldet und werden deshalb
gerade nicht von der „einen Beziehungsbegriff darstellenden Schuld"42
erfaßt.
Sie darf auch nicht durch einen „gewissen Verantwortungszusammen-
hang" ersetzt oder mit der verschuldeten Gefahrenträchtigkeit identifi-
ziert werden43. Das alles sind nur neue Vokabeln für den in B G H 10,259
vertretenen Leitsatz 2, der vom Gesetzgeber eindeutig abgelehnt worden
ist und dessen Unvereinbarkeit mit dem Schuldprinzip auch nicht44
durch die Behauptung beseitigt werden kann, wer sich schuldhaft
41 Im Gegensatz zur indiziellen Bedeutung der Vor- oder Nachtaten für die Strafzumes-
43 Wie das Karlsruhe, NJW 1975, 1936 für das Strafaussetzungshindernis der Verteidi-
<5 A. a. O. Nr. 18; ähnlich Hirsch LK zu § 4 6 Nr. 59: Die Art der Rauschtat darf bei der
Strafzumessung nur dann zuungunsten des Täters berücksichtigt werden, wenn er sie
wenigstens voraussehen konnte. Zwiespältig Cramer, Rdn. 30 a zu § 323 a StGB, der die
ältere Rechtsprechung billigt, daneben aber als Strafzumessungsgrund anerkennt, wenn
der Täter mit der Möglichkeit hätte rechnen können, es werde im Rausch zu irgendeiner
Ausschreitung kommen {Bruns J Z 1958, 110).
Die Strafzumessung bei Vollrauschdelikten (§ 323 a StGB) 451
Bleiw will die durch die Rauschtat aktivierten Motive und Gesinnungen dann als
strafzumessungsrelevant anerkennen, wenn sich die Schuld des Täters auf ihren Eintritt
und ihre möglichen Auswirkungen bezog, ζ. B. wenn frühere Erfahrungen den Täter
hätte erkennen lassen müssen, daß er im Rausch oft von grundloser Eifersucht gepackt
wird und dann zu entsprechenden Handlungen neigt. Diese Würdigung hält sich
jedenfalls im Rahmen des Schuldprinzips und ist insoweit (verschuldete Gefährlichkeit)
nicht zu beanstanden.
Horn" möchte ebenfalls die Schwere der im Rausch begangenen Tat, sogar einschließ-
lich der „subjektiven" Umstände, wie ζ. B. das nachhaltige Verfolgen eines verbrecheri-
schen Planes sowie die Motive und die Gesinnung des Täters berücksichtigen, weil sie
gewisse Hinweise für die Gefährlichkeit des Täters und damit auch für das Unrechtsge-
wicht des Berauschungsaktes (!) geben. Aber auch er arbeitet alsbald mit einem
Schuldkorrektiv: Das Maß der Strafe dürfe auch bei §323 a StGB das Maß der auf das
Unrecht bezogenen Schuld nicht überschreiten; erhöhtes Berauschungsunrecht könne
also nur in dem Umfang die Strafhöhe beeinflussen, in dem sich auch die entsprechende
Schuld, ζ. B. wegen Erkennbarkeit der gefährlichen Entwicklung feststellen läßt.
1982, 811). Ein Fall „wirklicher" Brutalität als Ausdruck roher Gesin-
nung liegt in solchen Fällen schon aus tatsächlichen Gründen nicht vor.
Mit Recht sagt B G H M D R 1974, 25: Solche inneren Umstände können
nur dem verantwortlichen Täter zugerechnet werden. Die Lage ist
vielmehr der ähnlich, wie sie zu §21 StGB berücksichtigt wird, wenn
(scheinbar schulderhöhende) Umstände zum Schuldausgleich herange-
zogen werden sollen, die gerade durch den die verminderte Schuldfähig-
keit begründenden Zustand, z.B. wegen der epileptoiden Natur des
Angeklagten oder durch eine auf frühkindlichem Hirnschaden beru-
hende Abnormität seiner Persönlichkeit verursacht waren. Deshalb darf
bei affektbedingter Verminderung der Schuldfähigkeit die darauf beru-
hende Brutalität der Tatausführung dem Angeklagten nicht strafschär-
fend zur Last gelegt werden49. Diese Erwägungen kann man mit gering-
fügigen Modifikationen auf die subjektiven (täterbezogenen) Merkmale
der Rauschtat übertragen.
I.
Jede Theorie der Strafe und jede Lehre zur Strafzumessung geht davon
aus, daß Strafe höchstpersönlich ist und wirkt. Wenn Sinn der Strafe
heißt, „ . . . die schuldhafte Tat . . . auszugleichen, dem Täter Sühne
durch Annahme und Verarbeitung des Übels zu ermöglichen" und wenn
das Strafrecht sich ihrer bedient, „weil sie den Menschen als Persönlich-
keit . . . respektiert", indem sie ihm das „Maß des Verdienten" 1 zumißt,
ist dies wie die Vorstellung spezialpräventiver Ein- und generalpräventi-
ver Auswirkung von Strafe nur unter der Prämisse gültig, daß der
Verurteilte die Strafe selbst erfährt. Daß dem bei Freiheits- und bei
Geldstrafe so ist, ist überall vorausgesetzt, w o Sinn und Zweck der
Strafe und w o richtige Strafzumessung für beide Strafarten undifferen-
ziert in eins gesetzt werden. Das aber ist - soweit ich sehe - im
Grundsatz ohne Einschränkung der Fall2, obwohl die Prämisse für die
Geldstrafe mehr als fragwürdig ist. Sie baut, wie der Jubilar in lebensna-
her Skepsis formuliert hat, auf dem „optimistischen Bild des durch-
schnittlichen Staatsbürgers" auf, „dem die Bezahlung seiner Schulden
1
Lackner, StGB, 16. Aufl. 1985, §46 B e m . l .
2
Natürlich wird nicht verkannt, daß Geldstrafe ihrer N a t u r nach etwa im spezialprä-
ventiven Bereich dem Sicherungszweck von Strafe gar nicht und dem (positiven) Resoziali-
sierungseffekt allenfalls in sehr eingeschränktem Maße dienen kann (s. nur Grebing in:
Jescheck/Grebing, Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, 1978, S. 86 ff,
1273ff; LK-Tröndle, 10. Aufl. 1978, §40 R d n . 8 ; Zipf, Die Geldstrafe, 1966, S.65ff) und
daß durch das Tagessatzsystem und seine gesetzliche Regelung bedingte Unterschiede auch
im Strafzumessungsvorgang bestehen. Im Grundsatz aber sollen Geldstrafen wie Freiheits-
strafen „nach dem Schuldgehalt der Tat und der Präventionsbedürftigkeit des Täters"
zugemessen und dabei „generalpräventive Erwägungen" im Rahmen des f ü r zulässig
Gehaltenen eingespeist werden, in der ersten, f ü r das hier erörterte Thema entscheidenden
Phase der Bemessung der Zahl der Tagessätze also die „allgemeinen Strafzumessungsre-
geln" des §46 f ü r Geldstrafe und Freiheitsstrafe gleichermaßen gelten, s. Lackner (Fn. 1)
§40 Bern. 3, 5; ebenso verweisen f ü r die Geldstrafe auf §46 Baumann/Weber, Strafrecht
AT, 9. Aufl. 1985, S.605; Bruns, Das Recht der Strafzumessung, 2.Aufl. 1985, S.74;
Dreher/Tröndle, StGB, 42. Aufl. 1985, R d n . 2 vor §40; §40 R d n . 4 ; Grebing (s.o.), S. 88,
96; Jescheck, Strafrecht A T , 3.Aufl. 1978, S.627; LK-Tröndle (s.o.), R d n . 6 0 vor §40;
§40 R d n . 2 ; Maurach/Zipf, Strafrecht AT/2, 6. Aufl. 1984, S.458; Schänke/Schröder/
Stree, StGB, 22. Aufl. 1985, §40 R d n . 2 , 4; SK-Horn, Bd. 1 A T (Stand: 5.Lfg. 1984), §40
Rdn. 3.
456 Thomas Hillenkamp
II.
3 Lackner, J Z 1963, S. 620; vom von der Geldstrafe heute praktisch erfaßten Bereich
her ist das negative Bild aus dem Jahre 1963 sicherlich einzuschränken, die Skepsis bleibt
aber - wie zu zeigen ist - auch heute real.
4 S. z . B . Baumann/Weber (Fn.2), S.607; Brüggemann, GA 1968, S. 163; Grebing
(Fn.2), S.27, 86, 137; LK-Tröndle (Fn.2), Rdn.39 vor § 4 0 ; Stree, J Z 1964, S.589; Zipf
(Fn.2), S.31.
5 Heinz, ZStW 94 (1982), S.639; Zahlen dort S. 638 ff und bei Albrecht in: Jescheck/
Grebing, Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, 1978, S. 165 ff.
6 Zum Eingeständnis, Höchstpersönlichkeit bei der Geldstrafe nicht garantieren zu
können und dies als immanente und unbehebbare Schwäche der Geldstrafe zu sehen,
tendieren z. B. Driendl, Die Reform der Geldstrafe in Osterreich, 1978, S. 31, 54; Grebing
(Fn.2), S. 87, 1208f; Zipf (Fn.2), S.42; ders., MDR 1965, S.633 und ZStW 86 (1974),
S. 530 f.
7 v. Lilienthal, Verhandlungen des 2 2 . D J T (1892), Bd. 2, S.86; Rosenfeld, MittlKV
Bd. 3 (1892), S. 139; Kronecker, MittlKV Bd. 21 (1914), S. 180; heute als eher selten
eingestuft von Grebing (Fn.2), S.44; LK-Tröndle (Fn.2), Rdn.58 vor §40.
Zur Höchstpersönlichkeit der Geldstrafe 457
Umweltminister Schneider dem Bauern Ripper einen Scheck über 1000 DM, „damit dieser
eine Strafe in gleicher Höhe zahlen könne, die ihm das AG Michelstadt . . . wegen
Ruhestörung" (des Nachbarn durch das Muhen seiner Kühe) „aufgebrummt hat". Das
458 Thomas Hillenkamp
2. Tut man dies und betont dabei das Wort „Geldstrafe", ist der
relativierende Einwand zu hören, die „Abwälzbarkeit" sei „in Wirklich-
keit ein Argument aus dem . . . Bereich der Angehörigenwirkung einer
jeden Strafe", ein Spezifikum der Geldstrafe also nicht18. Daß dies aber
nur die halbe Wahrheit trifft, liegt auf der Hand. Zwar leiden Familien-
angehörige unter einer Freiheitsstrafe etwa des Familienvaters unbe-
streitbar mit. Auch mag es einmal - wie zu Zeiten des Reichsgerichts 15 -
Unterlaufen des Urteils durch Zahlung des „Ordnungsgeldes" (es dürfte sich um eine
Verurteilung nach §117 OWiG, nicht nach §325 StGB gehandelt haben) bezeichnete der
Darmstädter Richterrat als „ungeheuerlichen Eingriff in die unabhängige rechtsprechende
Gewalt". Laut Göttinger Tageblatt vom 24./25.2.1979 eröffneten Patienten eines wegen
fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe von 9000 DM verurteilten Homöopathen spontan
ein Spendenkonto.
15 Ende des 19. Jahrhunderts galt die Solidarität eher verurteilten Arbeitern, s. Grebing
(Fn.2), S. 45, dort auch zu den Fällen der Zeitungsverleger; Fallnachweise ferner bei
Albrecht (Fn.10), S.304 und schon bei v.d. Decken, ZStW 12 (1892), S.99 („so wie der
Landmann sein Korn gegen Hagelschlag, so versichert der Zeitungseigentümer . . . seine
Redacteure gegen Bestrafung"); aus der Rechtsprechung s. RGSt. 30,232 (Zeitung); RGSt.
65, 308 (Partei); RG GA 44 (1896), 253 (Zeitung) und Hans. O L G Hamburg MDR 1962,
213; BGH J Z 1964, 587; in der Sendung Report wurde am 5.2.1980 berichtet, der
Herausgeber der Deutschen Nationalzeitung Frey habe für den Leiter der ausgehobenen
Wehrsportgruppe Hoffmann eine Geldstrafe von 8000 DM wegen politisch gefärbter
Delikte bezahlt.
16 S. z.B. BayObLG NJW 1964, 2120; O L G Düsseldorf MDR 1969, 70.
17 Nach Heinz, ZStW 94 (1982), S.639 überstiegen 98,5% aller Geldstrafen in den
Jahren 1975-1980 90 Tagessätze nicht und dominieren damit nur den untersten Sanktions-
bereich; s. ferner Albrecht (Fn. 5), S. 175 ff.
18 So Baumann, Beschränkung des Lebensstandards anstatt kurzfristiger Freiheits-
strafe, 1968, S. 49; diff. noch in JZ 1963, S. 738 in Auseinandersetzung mit Lackner;
ähnlich relativierend LK-Tröndle (Fn.2), Rdn.48/58 vor §40.
" RGSt. 8, 366.
Zur Höchstpersönlichkeit der Geldstrafe 459
III.
Räumt man damit ein, daß die Garantie der Höchstpersönlichkeit
(nur) der Geldstrafe zu einem quantitativ erheblichen Teil in der Praxis
ausfällt, will man aber gleichwohl die theoretische Einheit mit der
Freiheitsstrafe wahren, sind Lösungen zu suchen, die entweder den
Garantieausfall als theoretisch unschädlich erweisen oder die Garantie in
den bezeichneten Fallgruppen wiederherstellen22. Ist beides unmöglich,
gilt es - wie einleitend schon betont - die Theorie der Geldstrafe zu
überdenken.
1. Versuche, das Problem theoretisch zu bewältigen, sind in dreierlei
Weise unternommen und gescheitert. Zum einen ist lange Zeit die
Auffassung vertreten worden, die Geldstrafe entstehe als privatrechtliche
Schuld mit Tatbegehung oder verwandele sich doch mit Rechtskraft des
Urteils in eine zivilrechtliche Obligation. Dieser wohl dem Einfluß der
französischen Rechtswissenschaft zuzuschreibenden Lehre23 kam es
20 Der natürlich die Strafe gleichwohl noch zu verbüßen hatte!
21 Das ist schon von v. Lilienthal (Fn. 7), S. 87 klar gesehen worden; ebenso Driendl
(Fn.6), S. 31; v. Spiegel (Fn.13), S.27; Zipf {Fn.2), S. 31 f und ZStW 86 (1974), S.529;
auch Lackner, J Z 1963, S.620 bezeichnet den Anreiz, die Strafwirkungen vollständig auf
die Angehörigen abzuwälzen, als Nachteil gerade der Geldstrafe im Gegensatz zur
Freiheitsstrafe.
22 Dazu unter IV.
nicht darauf an, wer die Schuld beglich. Höchstpersönlichkeit der Lei-
stung war für sie kein Essentiale, die Haftung Dritter und die Vollstrek-
kung in den Nachlaß ist für sie kein Bruch24. Diese Lehre steht mit der
heute zu Recht herrschenden Auffassung der Geldstrafe als einer genuin
öffentlichen Strafe, die den Verurteilten höchstpersönlich treffen soll, in
Widerspruch. Eine ihrer gesetzlichen Stützen, die Zulässigkeit der Voll-
streckung in den Nachlaß, ist mit §30 StGB a. F. gefallen25. Daß sie
damit einschränkungslos obsolet geworden wäre, läßt sich allerdings
angesichts der Vollstreckbarkeit der Geldstrafe in Drittvermögen nicht
behaupten. Die hierin immer noch angelegte „Diskrepanz zwischen der
Theorie der Geldstrafe und ihrer höchstpersönlichen Wirksamkeit in der
Praxis der Vollstreckung"26 löst aber heute niemand mehr durch eine
Wiederbelebung der Obligationenlehre auf27. Sie gehört - jedenfalls nach
deutschem Strafverständnis - zu den Akten.
2. Gleiches läßt sich von der Behauptung nicht sagen, daß es auf die
Herkunft des Geldes nicht ankomme, weil alle Strafzwecke, die man mit
der Geldstrafe verfolge, bereits durch Verurteilung und Verhängung der
Strafe erreicht würden, die Vollstreckung der Strafe also unter diesem
hier allein maßgeblichen Aspekt nicht mehr interessiere. Namentlich die
Rechtsprechung zum alten § 27 b StGB, der ein Urteil darüber verlangte,
ob der Strafzweck durch Geldstrafe erreichbar sei, hat mit ihrer biswei-
len anzutreffenden Formulierung, Strafzweck sei nicht gleichbedeutend
mit Strafvollstreckung, diese Ansicht gefördert28. Richard Lange hat sie
mit der Erwägung flankiert, daß sich die Geldstrafe als erzwungene
Vermögenseinbuße von anderen zwangsweise beitreibbaren Schulden
nicht, sondern allein durch die in ihr steckende sozial-ethische Mißbilli-
gung unterscheide29. Diese erfahre der Täter aber durch das Urteil, nicht
durch die Vollstreckung.
An alldem ist richtig, daß sich auch nach heutiger gesetzgeberischer
Wertung die Strafzwecke auch und schon in der Verurteilung und
24 Deshalb ist die Abwälzbarkeit für manche europäischen Nachbarn nach Grebing
(Fn.2), S. 1209 noch heute kein prinzipielles Problem.
25 S. dazu LK-Tröndle (Fn.2), Rdn.32 vor § 4 0 ; Grebing (Fn.2), S.26, 137; v. Spiegel
(Fn. 13), S. 58 f.
26 Zu Recht gerügt von SK-Samson, Bd.2 (Stand Juni 1985), §258, Rdn.35; zust.
These, eine Geldstrafe sei auch dann im Sinne der Rückfallvorschrift des § 2 4 4 a. F. StGB
„verbüßt" und das in ihr liegende Strafübel zugefügt, wenn die Mutter für ihren Sohn
bezahlt habe, darauf, daß die Geldstrafe „keine höchstpersönliche Leistung" sei, „die nicht
von einem Dritten erbracht werden könnte".
28 S. z . B . RGSt. 59, 51; O L G Hamburg HESt. 2, 341; BayObLG N J W 1964, 2120.
3. Dem kann man schließlich auch nicht damit begegnen, daß man den
Fehlschlag des eigentlich intendierten Strafübels einräumt, dann aber ein
hinreichendes Äquivalent behauptet. Schon v. Lilienthal hat dies darin
gesehen, daß der Verurteilte, der die Strafe auf Dritte abwälze oder sich
von Dritten abnehmen lasse, genügend Bestrafung im Innenverhältnis
von diesen Dritten erfahre. Diese würden - wie der Zeitungsverleger
30 D e r sich in erster Linie um die Frage der positiven Spezialprävention rankt, die der
33
Jescheck (Fn.2), S.625.
462 Thomas Hillenkamp
dem Redakteur oder die für den Ehemann zahlende Frau - den Verur-
teilten mit Vorwürfen eindecken und ihn zu sozialkonformem Verhalten
anhalten. Das werde häufig sogar intensiver wirken als die Geldstrafe34.
Solche Wirkungszusammenhänge versagen zunächst überall dort, wo
Solidarität oder wirtschaftlicher Egoismus den Zahlenden beflügelt.
Aber auch, wo sie präventiv mächtig sein mögen, beseitigen sie das
Problem natürlich nicht. Sie haben den Nachteil, in jedem Drittverhält-
nis ganz verschieden, deshalb unkalkulierbar, im übrigen aber auch
weder kontrollierbar noch erzwingbar zu sein. Sie mögen im Einzelfall
den erzieherischen Wert der Geldstrafe übertreffen, können dieses Wer-
tes aber auch ganz entraten. Die Strafrechtspflege jedenfalls kann sich
auf solche Mechanismen nicht verlassen. Sie muß vielmehr sicherstellen,
daß die jeweilige Sanktion die Wirkung hat, die für den Richter die
kalkulierbare Basis der Strafzumessung bildet. Das aber sind bei der
Geldstrafe nicht irgendwelche Vorhalte Dritter, sondern ist der Kon-
sumverzicht durch Vermögenseinbuße35.
Damit erweisen sich nach den vergeblichen Mühen, das Problem
kleinzuschreiben oder als generelles Strafenproblem zu relativieren, auch
alle theoretischen Erwägungen zur vermeintlichen Unschädlichkeit der
fehlenden Garantie der Höchstpersönlichkeit der Geldstrafe als frucht-
los. Infolgedessen wird die Frage dringlich, ob es nicht Wege gibt, der
Fälle rechtlich und faktisch Herr zu werden. Darauf für die drei ermit-
telten Erscheinungsformen getrennt nach Antworten zu suchen, legt
ihre unterschiedliche Struktur uns nahe.
IV.
1. Schon rechtlich aufzulösen ist das Problem der rechtlichen Abwälz-
barkeit der Geldstrafe. In die Kategorie der untauglichen Versuche
gehört dabei allerdings die Erwägung, daß, wer die Geldstrafe erst
einmal selbst entrichte und nur später etwa durch Klage wieder „herein-
hole", das primäre Strafübel ja erfahren habe36. Zwar ist natürlich nicht
zu verlangen, daß der Verurteilte sozusagen auf Lebzeiten um den
Geldbetrag gebracht wird. Die zu vermeidende sofortige Entlastung tritt
aber eben doch ein, wo mit der Verurteilung zur Geldstrafe ein
Anspruch darauf entstehen soll, sie Dritten aufzubürden: Per Saldo
schuldet man nichts, mag auch der möglicherweise vorzustreckende
Betrag nur auf mühseligem Wege zurückzuholen sein. Die Lösung der
Fälle, die hierzu führt, kann - entgegen der Rechtsprechung - nicht
richtig sein.
34 V. Lilienthal (Fn. 7), S. 87; s. hierzu auch Grebing (Fn. 2), S. 1209.
55 Treffend v. Spiegel (Fn. 13), S. 80, 94 f und auch schon Zipf (Fn. 2), S. 31.
36 S. die Argumentation in RGZ 169, 267ff; ferner BGHZ 41, 223ff.
Zur Höchstpersönlichkeit der Geldstrafe 463
Im Grundsatz nicht richtig sein kann, daß die von einem Geschäfts-
herrn wegen Zuwiderhandlungen gegen ρ reis rechtliche Vorschriften
verwirkte Strafe zivilrechtlich von einem Sachbearbeiter zu tragen sein
soll, der zur Überwachung der Einhaltung dieser Vorschriften eingestellt
war37, nicht richtig auch, daß ein Steuerberater, der einem Klienten von
Selbstanzeige abrät, diesem die Steuerstrafe ersetzen muß58. Überzeugen
kann nicht, daß die Strafe wegen eines Devisenvergehens eines Bankkun-
den dessen Bank überbürdet bekommt, die den Kunden auf die Strafbar-
keit seines Tuns nicht verwies", ebenso nicht, daß eine Aktiengesell-
schaft ihrem Vorstandsmitglied die Steuerstrafe schuldet, zu der dieser
wegen einer von der Gesellschaft tolerierten Steuerverkürzung verurteilt
wurde 40 . Gleichermaßen darf die Klage eines Betonmischwagenfahrers
gegen den auf Akkordleistungen drängenden Arbeitgeber nicht erfolg-
reich sein, ihm die für eine der „Todsünden" im Straßenverkehr aufer-
legte Geldstrafe zu ersetzen 41 .
Wer all dies wie die höchstrichterliche Rechtsprechung zuläßt, ver-
stößt gegen die die Desavouierung der Urteile der strafrichterlichen
Kollegen vermeidende Einsicht verschiedener Vorinstanzen, daß die
Strafe ihres Sinnes entkleidet, wer sie im Wege des „Rückgriffs" von
Rechts wegen weiterleite42. Solch widersprüchliche Handhabung kann
die Gesamtrechtsordnung nicht zulassen, denn entweder trifft den Steu-
erpflichtigen oder den Bankkunden trotz Rückversicherung bei Dritten
strafrechtliche Verantwortung; dann erfolgt die Verurteilung zu Recht
und ist von den Zivilgerichten zu respektieren. Oder die Rückversiche-
rung beseitigt den Sorgfaltsverstoß; dann mag allenfalls der Dritte selbst
strafrechtlich haften. Die zu Recht auferlegte Strafe aber etwa als Scha-
densersatz vom Täter auf den Dritten abzuwälzen, erhebt zu Unrecht
zum bürgerlich-rechtlichen Schaden, was ein unbilliger, ein unrechtmä-
ßiger und daher ausgleichungsbedürftiger Zustand gerade nicht ist43. Das
hat v. Spiegel in methodisch vorbildlicher Weise für die hier verhandel-
ten und zahllose weitere Konstellationen denkbarer rechtlicher Abwäl-
zung etwa im Unterhalts- oder Sozialhilferecht so eindrücklich belegt,
37
R A G 27, 43 ff; auf Besonderheiten dieses Falles ist allerdings in B G H Z 23, 224
hingewiesen.
31
S. aber R G Z 169, 267.
3
' So aber B G H Z 23, 225.
40
So aber B G H Z 41, 223 ( = J Z 1964, 567 m. abl. Anm. Stree) gegen die - richtige -
Entscheidung der Vorinstanz H a n s O L G Hamburg M D R 1962, 213.
41
Hierzu Feller, RdA 1958, S. 222 f und v. Spiegel (Fn. 13), S.33, 138 ff.
42
Vgl. die eindrückliche Darstellung der Meinung der Vorinstanz in RGZ 169, 268 und
H a n s O L G Hamburg M D R 1962, 213 f.
43
So schon ganz zu Recht die Vorinstanz in R G Z 169, 268.
464 Thomas Hillenkamp
44
V. Spiegel (Fn. 13), S. 76 ff und 107 ff; für die arbeitsrechtliche Konstellation im
Ansatz auch schon Feller, RdA 1958, S. 222 f; die Lösungen von Brüggemann, GA 1968,
S. 161 ff sind methodisch weniger reflektiert und deshalb in ihren Differenzierungen nicht
überzeugend.
45
Zu diesen Fragen der Drittwirkung, also der Belastung Dritter s. v. Spiegel (Fn. 13),
S. 62 ff; aus den im Text genannten Gründen berücksichtigt das OLG Wien ZVR 1975,
Nr. 262 den unvermeidbaren Zwang zur Einschränkung der Familie, s. auch Zipf, ZStW 86
(1974), S. 529.
46
LK-Tröndle (Fn. 2), Rdn.47 vor §40 (Hervorhebung vom Verf.); s. auch Rdn. 58
vor §40; in der Strafzumessung die Lösung des Problems zu suchen, schlagen auch vor:
Albrecht (Fn. 10), S. 164; Baumann (Fn. 18), S.49; Driendl (Fn.6), S.31, 34; Grebmg
(Fn.2), S. 1208f; Maurach/Zipf (Fn.2), S.465Í; v. Spiegel (Fn. 13), S.160ff, 182f.
Zur Höchstpersönlichkeit der Geldstrafe 465
,7
Für diese Fallgruppe paßt das Wort Lackners (JZ 1967, S. 518), daß die Anwendung
der Geldstrafe bisweilen „kriminalpolitisch ein Kunstfehler ist".
48
Bei der Entscheidung über die Strafart wollen insoweit die Weichen z.B. stellen:
Albrecht (Fn. 10), S. 164; Baumann (Fn. 18), S. 49 (der dabei an eine Flankierung mit
Weisungen und auch an die alternative gemeinnützige Arbeit gegen den Willen des
Verurteilten dachte); Baumann, J Z 1963, S. 738; v. Lilienthal (Fn. 7), S. 87; v. Spiegel
(Fn. 13), S. 79, 182 ff; Zipf, M D R 1965, S.633. Nach v. Spiegel (Fn. 13), S.183 kann in
solchen Fällen die Freiheitsstrafe ausgesetzt und die Erfüllung der Unterhaltspflichten
trotz Auferlegung einer Geldzahlungspflicht ( § 5 6 b Abs. 2 Ziff. 2 StGB) über §§56c
Abs. 2 Ziff. 5, 56 f StGB garantiert werden. Das klingt plausibel, setzt aber voraus, daß der
prognostizierte Abwälzungswille sich mit einer günstigen Prognose i. S. d. § 56 StGB
verträgt. Wäre dies prinzipiell zu bestreiten, läge hier ein gefährliches Einfallstor für die
Wiederbelebung der vollzogenen kurzfristigen Freiheitsstrafe, die keiner wollen kann.
Auch insoweit wäre über bessere Alternativen zur Geldstrafe, insbesondere über die
gemeinnützige Arbeit (dazu neuestens Schall, NStZ 1985, S. 104 ff) nachzudenken.
49
So z.B. Grehing (Fn.2), S.1208f; Driendl (Fn.6), S.31f, 34; LK-Tröndle (Fn.2),
Rdn. 48 vor §40; v. Spiegel (Fn. 13), S. 160ff.
466 Thomas Hillenkamp
50 Betont schon von v.d. Decken, ZStW 12 (1892), S.98ff; ferner Jescheck (Fn.2),
S. 625.
51 Vertreten von Blei, JA 1976, S. 90; Brüggemann, GA 1968, S. 165f; Dreher/Tröndle
(Fn.2), §258 Rdn.9; Grebtng (Fn.2), S.46; Jescheck (Fn.2), S.625; Krey, Strafrecht BT/
1, 5. Aufl. 1983, S. 179f; v. Lilienthal (Fn. 7), S.86; LK-Tröndle (Fn.2), Rdn.39 vor §40;
Schönke/Schröder/Stree (Fn.2), §258, Rdn.28; Stree, JZ 1964, S.589; BAG 9, 249;
HansOLG Hamburg MDR 1962, 213; zw. Lackner (Fn. 1), §258, Bern.2c.
52 Das „Umgehungsargument" beflügelte vor allem Dreher, StGB, 39. Aufl. 1980,
§258, Rdn.9, der Gedanke der Sozialadäquanz Otto, Grundkurs Strafrecht BT, 2. Aufl.
1984, S.462; Preisendanz, StGB, 30.Aufl. 1978, §258, Bem.3; Schmidhäuser, Strafrecht
BT, 2. Aufl. 1983, S.252 und Wessels, Strafrecht BT/1, 9. Aufl. 1985, S.142; die Friktion
zwischen Zwangsvollstreckung und Strafzweckverwirklichung sind für Engels, Jura 1981,
S. 581 ff und SK-Samson (Fn.26), §258, Rdn.35 maßgeblich; Arzt, Strafrecht BT, LH 4,
1980, S. 99 befürchtet Extension des §258 StGB als Verdachtsstraftatbestand für nicht
erweisbare Anstiftung, Horn, Vers. Recht 1974, S. 1141 f findet im geltenden Recht keine
die Stra/zîpec&verwirklichung schützende Norm.
53 v. Bar, Gesetz und Schuld, Bd. 2, 1907, S. 778; klare Übersicht bei Engels, Jura 1981,
S. 581 ff und vor ihm Stree, JZ 1964, S. 588 f; aus der Rechtsprechung s. etwa RGZ 169,
267; BGH J Z 1964, 587; RG GA 44 (1896), 233; in Polen ist die Drittzahlung straflos, die
öffentliche Sammlung aber nicht, s. Grebing (Fn.2), S. 1209.
54 Es ist hier nicht der Ort, das Problem zu vertiefen; die Verwirklichung des richtigen
Gedankens, daß dem Täter nach der Tat nicht Hilfe winken, sondern durch die Strafdro-
hung des §258 StGB Isolation drohen soll (s. Miehe, Honig-Festschrift 1970, S. 104 ff;
zust. Amelung, J R 1978, S.229; Lenckner, Schröder-Gedächtnisschrift 1978, S.353),
begreift die schon angesichts des Streites um ihre Strafbarkeit nicht sozial-adäquate
Strafabnahme mit ein; lediglich die ernstgemeinte Darlehenshingabe ist unter diesem
Blickwinkel straflos.
Zur Höchstpersönlichkei: der Geldstrafe 467
keitslösung" bekennt, ist mit den Verfechtern wie Gegnern dieser Auf-
fassung einzuräumen, daß die Strafdrohung weitgehend leerläuft, weil
Angehörige und Selbstbegünstigende schon durch das Gesetz ausge-
nommen und weil im übrigen die Drittzahlung kaum je erweisbar oder -
bei öffentlichem Bekenntnis - jedenfalls nachträglich als eine straflose
Variante darstellbar ist55. Als Zeichen dieser praktischen Ohnmacht darf
man die trotz der höchstrichterlich ungeklärten Situation seit langem zu
verzeichnende Absenz veröffentlichter Entscheidungen werten. Die
Drittzahlung deshalb für straflos zu erklären, ist eine überflüssige
Schwächung der zur Zeit dominierenden Strafsanktion, ihre Strafbarkeit
für erheblich mehr als einen Appell auszugeben, aber in der Tat illu-
sionär.
Hält man deshalb nach zusätzlichen Möglichkeiten Ausschau, bleibt
nur eine ähnliche Strategie wie zur faktischen Abwälzbarkeit, d. h. es ist
schon bei „Verhängung und Bemessung" der Geldstrafe auf die Gefahr
der Abnahme zu achten. Natürlich darf dem Mittellosen die Geldstrafe
nicht schon deshalb „vorenthalten" werden, weil schwer zu sehen ist,
wie er die Strafe wird aufbringen können56. Vielmehr soll ihm, wenn er
ohne das möglich erscheinende Einspringen Dritter auskommen und den
Konsumverzicht selber leisten will, bis unter Umständen zum Mindest-
maß des Tagessatzes entgegengekommen werden. Dem aber, der dem
Solidarakt freudig entgegensieht - so wird auch hier vorgeschlagen - ist
die Entlastung durch den Griff zur Freiheitsstrafe unmöglich zu
machen. Während der Impetus, dem Gutwilligen bei von ihm selbst
tragbarer Strafe beizuspringen, versiegen soll, soll die Freiheitsstrafe
beim Böswilligen die Störung des Rechtsfriedens vermeiden, die Solidar-
akte gegenüber Straftätern auslöst57. Noch neben der propagierbaren
Strafbarkeit soll also auch hier ein Zurechnungsinstrumentarium greifen,
das Beruhigung über das Problem einkehren läßt - die Praktikabilität
freilich vorausgesetzt - . Von ihrer Prüfung abgesehen, ist das Einge-
ständnis der Unlösbarkeit nicht von Nöten, ein Überdenken der Geld-
55
Da der Staat nicht kontrolliert, von wem das Geld kommt, ist Abhilfe nicht in Sicht,
s. schon Bozi, DJZ 1 (1896), S.257; v.d.Decken, ZStW 12 (1892), S. 108; v.Lilientbal
(Fn. 7), S. 86; auch heute wird die faktische Irrelevanz der Strafbarkeit gesehen ζ. B. von
Baumann/Weber (Fn.2), S. 607; Grebing (Fn.2), S. 1209; LK-Tröndle (Fn.2), Rdn.39
vor §40; Stree, J Z 1964, S.588.
56
Das ist ebenso unbestritten wie die Tatsache, daß einem Reichen - weil er den Verlust
kaum fühlt - nicht deshalb Freiheitsstrafe zudiktiert werden kann, s. nur Lackner (Fn. 1),
§40 Bern.2; § 4 7 B e m . 2 b ; Schänke/Schröder/Stree (Fn.2), §40 Rdn. 17 und §47 Rdn. 11,
18; SK-Horn (Fn.2), §47 Rdn.28; RGSt. 77, 137.
57
Eine derartige Strafzumessungspraxis empfehlen z.B. Horstkotte, N J W 1969,
S. 1602; LK-G.Hirsch, 10. Aufl. 1979, §47 Rdn.29; Schönke/Schröder/Stree (Fn.2), §47
Rdn. 18; SK-Horn (Fn.2), §47 Rdn.28; RGSt. 65, 308; O L G Düsseldorf M D R 1970,
1025.
468 Thomas Hillenkamp
V.
„Der Richter kann sich . . . immer nur auf das stützen, was er weiß,
und das ist leider im Strafverfahren . . . herzlich wenig." Dieser Satz des
Jubilars 58 - stellt man ihn den von der Dogmatik angebotenen Lösungen
gegenüber - begründet die Befürchtung, sie könnten Teil eines nur
„esoterischen Gesprächs" sein, das keine „Wechselwirkung zwischen
Theorie und Praxis" auslöst59. Denn nicht die Lösung zur rechtlichen,
wohl aber die zur praktisch bedeutsameren faktischen Abwälzbarkeit
und zur Abnahme stellen Anforderungen, die „im Bereich der leichten
Kriminalität nicht einzulösen" sind60. Es ist nach den Forschungen
Albrechts kein Zweifel möglich, daß dort, wo schon heute die rudimen-
tärsten Aufschlüsse über zentrale Strafzumessungstatsachen ganz einfach
fehlen, weil Staatsanwaltschaft und Gericht die insoweit nahezu baren
polizeilichen Ermittlungsakten ohne jede Weiterung übernehmen61, es
purer Zufall wäre, wenn über latente Abwälzungs- oder Abnahmegefah-
ren auch nur ein Indiz ermittelt wäre.
Hier nach Änderung zu rufen und den Strafverfolgungsinstanzen
gründlichere Ermittlungen aufzugeben, ist angesichts der Fruchtlosig-
keit derartiger Appelle zu weit zentraleren Strafzumessungstatsachen62
gewiß vergeblich. Man kann einen solchen Ruf zudem guten Gewissens
auch gar nicht erheben. Denn mögen auch die allfälligen Einwände zur
dann mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht mehr zu
58 In J Z 1963, S. 620; Lackner hat ihn dort freilich auf die „Ermittlung oder Schätzung
der Bemessungsgrundlagen" für die Geldstrafe zugeschnitten, er gilt aber - wie zu zeigen
ist - für das Geldstrafenverfahren insgesamt.
59 Ein Urteil, das Lackner 1978 (Über neue Entwicklungen in der Strafzumessungslehre
und ihre Bedeutung für die richterliche Praxis, S. 10) über die wissenschaftliche Diskussion
der Dogmatik der Strafzumessung insgesamt fällte.
60 So das Urteil Albrechts (Fn. 10), S. 71 für die Anforderungen der heutigen Strafzu-
messungsdogmatik im Geldstrafenverfahren insgesamt.
" Nur in 1 % der Fälle ermittelt die Staatsanwaltschaft, in nur 0,7 % der Fälle das
Gericht zusätzliche strafzumessungsrelevante Daten, s. Albrecht (Fn. 10), S. 205; selbst die
Informationsbasis für die wirtschaftlichen Verhältnisse, mit der das Tagessatzsystem steht
und fällt, hat sich seit der Geldstrafenreform nicht merklich verändert und fehlt damit
weitgehend, Albrecht, a . a . O . , S. 198, 211; zu den übrigen nach §46 StGB relevanten
Daten finden sich ebenfalls bis zur Nullgrenze reichende Defizite, S. 70 ff.
62 S. z . B . Schöch, ZStW 92 (1980), S. 171 für die Ermittlung der wirtschaftlichen
" S. die Nachweise in Fn. 17; die Erwartung, Geldstrafe könnte sich auch im mittleren
Kriminalitätsbereich durchsetzen (nach Lackner, J Z 1963, S. 619 eine „Fehleinschätzung"),
hat sich nicht erfüllt, s. Heinz, ZStW 94 (1982), S.639; Bedauern hierzu bei Baumann/
Weber (Fn. 2), S. 605.
M
Horn, J R 1977, S. 96; s. auch Albrecht (Fn. 10), S. 324; Zipf (Fn. 2), S. 42.
" Schmitt, ZStW 89 (1977), S.639 ff.
" Albrecht (Fn.10), S.323.
67 Man denke an den hohen Anteil der Strafbefehlsverfahren, s. Rieß, Sarstedt-Fest-
schrift (1981), S. 254 ff und D R i Z 1982, S.208.
68 Erste Anstöße für die Strafzumessungsdogmatik bei Albrecht (Fn. 10), S.323.
Zur strafrechtlichen Absicherung
von Organisationsverboten
GÜNTHER WILLMS
I.
hafte Gründe dafür, der Exekutive Vortritt zu geben und das Strafrecht
erst zur Absicherung konkreter administrativer Verbote einzusetzen.
Hier ist eine Nachordnung des Strafrechts allein schon deshalb sinnvoll,
weil die Tätigkeit der Vereinigung nicht unmittelbar der Begehung
strafbarer Handlungen dient und erst das förmliche Verbot der konkre-
ten Vereinigung eine klare tatbestandliche Fixierung zur Verfügung
stellt, die widersprüchliche Entscheidungen der immer nur punktuell
eingreifenden Strafgerichte vermeidet und ein einheitliches Vorgehen
sichert, das für den erfolgreichen Zugriff bedeutsam sein kann. Im
Zusammenhang mit solchen Erwägungen wird die Verweisung der
Strafgerichtsbarkeit ins zweite Treffen sogar zu einem ernsthaften Erfor-
dernis, wenn man bedenkt, daß hier das hohe Gut staatsbürgerlicher
Freiheit und Betätigung berührt wird, das keinen kleinlichen Reglemen-
tierungen unterworfen werden darf und eher einen gewissen Spielraum
braucht, in dem auch für ein Vertreten abstruser und „ketzerischer"
Gedanken Raum bleibt1.
II.
Bei der Erfüllung des in der Grundnorm des Art. 9 Abs. 2 GG
liegenden Auftrags an den Gesetzgeber kam im ersten Anlauf des Jahres
1951 die strafrechtliche Komponente ganz im vorderen Treffen und
maßgebend zum Einsatz. Man folgte damit einer für den zu regelnden
Gegenstand mißlichen Weichenstellung, die durch die Verteilung der
Gesetzgebungskompetenz auf Bund und Länder gegeben war, indem sie
dem Bund für das Strafrecht umfassend den Vortritt gab und die
Polizeigewalt den Ländern beließ. Zugleich legte es die schneidige
Formulierung des Art. 9 Abs. 2 GG, der die genannten Vereinigungen
schlechthin als verboten bezeichnet, nahe, dieses allgemeine Verbot mit
einer unmittelbaren strafrechtlichen Sanktion auszustatten.
Das Strafrechtsänderungsgesetz vom 30.8.1951 (l.StrÄndG, BGBl.
I, 739) stellte dementsprechend in § 129 StGB uneingeschränkt jegliche
Form der Förderung von Vereinigungen unter Strafe, deren Zwecke
oder Tätigkeit auf Begehung strafbarer Handlungen gerichtet sind, und
unterwarf die zweite Gruppe der in Art. 9 Abs. 2 GG bezeichneten
Vereinigungen, also die verfassungswidrigen Organisationen, in §90 a
StGB einer Strafdrohung, die sich im Unterschied zu § 129 StGB nur
gegen Gründer, Rädelsführer und Hintermänner richtete und Gefolgs-
leute minderen Ranges aussparte.
III.
Die mißlichen Erfahrungen mit der einseitig am Strafrecht orientierten
Regelung der Materie durch das l.StrAndG, die in der teilweisen
Nichtigerklärung des §90 a StGB a. F. durch das BVerfG gipfelten 5 ,
führten mit dem Vereinsgesetz vom 5.8.1964 (RGBl. I, 593) zu einer
grundsätzlichen Neuorientierung, die das Vakuum auf Seiten der Exeku-
tive beseitigte und den Einsatz der strafrechtlichen Komponente zurück-
nahm. Im Falle des § 129 StGB rückte der Gesetzgeber im Anschluß an
eine schon von der Rechtsprechung geleistete Vorarbeit 6 von einer
pauschalen Erfassung ab, indem er Parteien ganz von der Anwendung
der Vorschrift ausnahm und den Tatbestand durch Ausscheiden bloß als
Nebenzweck verfolgter und einer Reihe ausdrücklich angeführter Straf-
taten einschränkte. Mit der Einführung eines auch von Bundes wegen
möglichen Verbotsverfahrens für den ganzen Komplex des Art. 9 Abs. 2
G G und der Beseitigung des noch teilweise gültigen § 90 a StGB und des
leidigen § 129 a StGB brachte er für den Teilbereich der verfassungswid-
rigen Vereinigungen die Exekutive ins vordere Treffen. Mit den neuen
§§ 90 a, 90 b StGB fiel der Strafgerichtsbarkeit nur noch die Aufgabe zu,
Verstöße gegen die Prüfung durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit unter-
worfene Verbote des zuständigen Exekutivorgans ebenso wie gegen vom
BVerfG ausgesprochene Parteiverbote zu ahnden. Diese Verstöße waren
in den beiden Tatbeständen als Fortführung der verbotenen Organisa-
tion, anderweitige Aufrechterhaltung ihres organisatorischen Zusam-
menhalts und Schaffen und Betreiben einer Ersatzorganisation um-
schrieben.
Ein Nebeneinander von Exekutive und Strafgerichtsbarkeit blieb
damit für den Bereich der auf Straftaten ausgehenden Vereinigung
aufrechterhalten. Für verfassungswidrige Parteien und Vereinigungen
ergab es sich in neuer und veränderter Form dadurch, daß der Gesetzge-
ber es zur Sicherung eines einheitlichen Vorgehens der Polizei für
angebracht hielt, die verwaltungsmäßige Durchführung des Verbots bei
Ersatzorganisationen an eine verwaltungsgerichtlich überprüfbare
zusätzliche Verfügung des zentralen Exekutivorgans zu binden (§8
Abs. 2 VereinsG). Die Strafgerichte hatten ganz unabhängig von einer
solchen Verfügung gegen Ersatzorganisationen einzuschreiten und
konnten somit durch ihr Tätigwerden der Exekutive bedeuten, auch in
ihrer Kompetenz das Nötige zu tun.
5
BVerfGE 12, 296. Vgl. die Kritik an dieser Entscheidung, deren falsche Ausuferung
durch BVerfGE 39, 334 berichtigt wurde, bei Willms, Staatsschutz im Geiste der Verfas-
sung, 1962, S. 41, und: Das Staatsschutzkonzept des Grundgesetzes und seine Bewährung,
1974, S. 17.
' Siehe die Zusammenstellung in LK, 9. Aufl. 1970 ff, §129 Rdn.9-12.
Zur strafrechtlichen Absicherung von Organisationsverboten 475
IV.
Das 8. StrÄndG vom 2 5 . 6 . 1 9 6 8 ( R G B l . I, 741) ließ es dabei nicht
bewenden. Es folgte dem von Universitätslehrern des Strafrechts ausge-
arbeiteten Alternativentwurf 7 und beseitigte in den neu formulierten
Tatbeständen der § § 8 4 , 85 S t G B , die an die Stelle der durch das
VereinsG geschaffenen §§ 90 a, 90 b traten, dieses Nebeneinander, indem
es die (scheinbare) Alternative der Ersatzorganisation aus den das grund-
legende Organisationsverbot abdeckenden Straftatbeständen heraus-
nahm und erst die nachfolgende zusätzliche Verfügung der Exekutive
gegen die Ersatzorganisation durch eine Strafdrohung absicherte. Die
folgenden Darlegungen sollen sich mit dieser Regelung befassen und
nachweisen, daß nun umgekehrt mit einer übermäßigen Beachtung der
Exekutive das Ziel eines ausgewogenen Einsatzes von Exekutive und
Strafgerichtsbarkeit verfehlt wurde. Dabei geht es in erster Linie um den
Umgang mit dem Begriff „Ersatzorganisation".
Die mit Organisationsverboten befaßte deutsche Gesetzgebung hat
zunächst ganz darauf verzichtet, eine differenzierte Umschreibung des
von der Exekutive ausgesprochenen und polizeilich durchzusetzenden
sowie strafrechtlich abgesicherten Verbots zu geben. Das Sozialistenge-
setz vom 2 1 . 1 0 . 1 8 7 8 sprach nur von „Verboten" (§§ 1, 6), das VereinsG
vom 1 9 . 4 . 1 9 0 8 ( R G B l . 151) verwendete im Blick auf das organisatori-
sche Gefüge erstmalig den Begriff der „Auflösung". In der Praxis wurde
geläufig, von „Verbot und Auflösung" zu sprechen. Mit beiden Aus-
drücken war nicht nur an das im Augenblick des Eingreifens bestehende
Gefüge der angesprochenen Vereinigung gedacht, sondern waren glei-
cherweise angeblich neue, mit dem beim Zugriff vorhandenen identische
Vereine gemeint, mit denen der betroffene Personenkreis dem Zugriff
ausweichen wollte 8 . In diesem Sinne wurden auch die einschlägigen
Vorschriften des Gesetzes zum Schutze der Republik vom 2 1 . 7 . 1 9 2 2
( R G B l . I, 585) verstanden 9 . U b e r die Frage, wo die Grenze für die
Einbeziehung neuer Vereine in Verbot und Auflösung verlaufe, ob also
auch an die Einbeziehung solcher Vereine gedacht sei, bei denen nur
dieselbe Zielsetzung festzustellen, nicht aber eine Fortdauer des alten
organisatorischen Zusammenhalts nachzuweisen ist, hat man sich
damals anscheinend noch keine Gedanken gemacht.
Als das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 1 2 . 3 . 1 9 5 1
( R G B l . I, 243) in seinem § 4 6 den Begriff der Ersatzorganisation ein-
führte und vorschrieb, daß das B V e r f G mit der Anordnung der Auflö-
V.
Identität der organisatorischen Struktur und Identität der Zielsetzung
sind die beiden bestimmenden Faktoren, die die verbotene Organisation
als Gegenstand der Zuwiderhandlung gegen das Organisationsverbot
kenntlich machen". Der Tatbestand, wie er ursprünglich im BVerfGG
und später vom VereinsG mit den §§ 90 a, 90 b StGB formuliert war,
bezeichnete mit den Varianten Auflösung und Ersatzorganisation
zugleich Anfang und Ende des typischen Entwicklungsprozesses einer in
der Illegalität fortbestehenden Organisation. Dementsprechend lag der
Schwerpunkt des Faktors der organisatorischen Identität beim Merkmal
Auflösung, der Schwerpunkt des Faktors Zielidentität beim Merkmal
10
Geiger, Kommentar zum BVerfGG, 1952, §46 Anm.5b.
11
Vgl. zum ganzen Rubrmann, Das Verbot von Ersatzorganisationen..., GA 1959,
129.
Zur strafrechtlichen Absicherung von Organisationsverboten 477
VI.
Es liegt nahe, daß ein unrichtiges Verständnis der flankierenden
Varianten des Tatbestandes, die mit den Worten Auflösung und Ersatz-
organisation gekennzeichnet sind, dieses Ineinandergreifen übersehen,
die Varianten als echte, einander ausschließende Alternativen angesehen
und schon deshalb die Herausnahme der Ersatzorganisation aus dem
Tatbestand als unproblematisch angesehen hat. Die Begründung des
Alternativentwurfs suchte die Änderung damit zu rechtfertigen, daß,
wenn schon die Durchführung polizeilicher Maßnahmen gegen Ersatz-
organisationen an den Grundsatz eines vorangehenden zusätzlichen
Verbots geknüpft sei, dies erst recht für die Durchführung strafrechtli-
cher Maßnahmen zu gelten habe. Wenn dabei an einen Schluß a maiore
ad minus gedacht war, so erscheint dies schon deshalb verfehlt, weil
zwischen zwei so grundverschiedenen Materien wie Verwaltung und
Strafgerichtsbarkeit kein Stufenverhältnis herzustellen ist, auf das dieses
Denkgesetz Anwendung finden könnte. Im übrigen gerieten die Verfas-
ser des Alternativentwurfs insoweit mit sich selbst in Widerspruch, weil
sie für das Parteiverbot zunächst keine Herausnahme der Ersatzorgani-
sation aus dem Tatbstand vorschlugen 13 .
Vor allem wurde übersehen, daß sich verwaltungsmäßiges Eingreifen
und Strafgerichtsbarkeit schon deshalb nicht über einen Kamm scheren
lassen, weil dem Erfordernis justizförmiger Prüfung, die auch im Sta-
dium der Vollstreckung eines unanfechtbaren Organisationsverbots mit
Rücksicht auf das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit unerläßlich
bleibt, nur in ganz unterschiedlicher Weise genügt werden kann. Im
Falle der strafgerichtlichen Absicherung des Organisationsverbots ist
diesem Erfordernis unmittelbar Rechnung getragen. Im Falle des ver-
waltungsmäßigen Vollzugs kann es nur mittelbar über eine Klage der
Betroffenen bei den Verwaltungsgerichten zugänglich sein. Hier lag es
durchaus nicht im Sinne einer Privilegierung der Ersatzorganisation, wie
sie ein verfehlter Reformeifer durch Herausnahme der Ersatzorganisa-
tion aus dem Tatbestand im Bereich der Strafgerichtsbarkeit zustande
brachte, sondern ausschließlich im Sinne eines wirksamen Vollzugs, bei
Ersatzorganisationen ein mit der Verfügung des Innenministers gestraff-
13
S. dazu die Erörterungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform in der 85.,
86. und 93. Sitzung, Protokolle, S. 1681 ff.
Zur strafrechtlichen Absicherung von Organisationsverboten 479
14 Markantes Beispiel ist die Umgehung des Verbots der KPD durch Neugründung der
DKP kurz nach dem Inkrafttreten des 8.StrÄndG. Dazu Kriele, ZRP 1971, 274.
15 LK, 10. Aufl. 1978ff, § 8 4 Rdn.15; SK-Rudolphi, § 8 4 Rdn.7; Schänke/Schröder,
§ 8 4 Rdn. 13.
" Henke, J Z 1973, 293; dagegen Willms, J Z 1973, 455.
480 Günther Willms
17
BVerfGE 17, 306.
Die „Teilnahme" am Landfriedensbruch
und der Landfriedensbruch durch Vermummung
oder Schutzbewaffnung (§ 125 Abs. 1 und 2 StGB)*
GERHARD W E R L E
I.
1. Der Landfriedensbruch wird vielfach unter dem Titel „Demonstra-
tionsstrafrecht" behandelt1, obwohl er keineswegs ein ausschließliches
Demonstrationsdelikt ist, sondern „viele Gesichter" 2 hat: Der Tatbe-
stand betrifft Bandenunwesen („Rockerkrawalle") oder Ausschreitun-
gen bei Fußballspielen ebenso wie wirtschaftlich oder politisch moti-
vierte Verhaltensweisen3. Die Art und Qualität der den Landfriedens-
brecher beherrschenden Motive sowie der tatsächliche Zusammenhang,
in dem die tatbestandlichen Handlungen stehen, spielen für die Subsum-
tion nach der Tatbestandsfassung des § 125 keine Rolle. Seine Karriere
als rechtspolitisches Reizthema verdankt der Tatbestand freilich dem
Umstand, daß er einen weiten Bereich politisch motivierter Verhaltens-
weisen erfaßt und namentlich auch Taten im Zusammenhang mit
Demonstrationen: Die Forderung nach „Entschärfung" oder „Verschär-
fung" des „Demonstrationsstrafrechts" signalisiert häufig, namentlich in
Unruhesituationen, einen bestimmten politischen Standort. Im Kampf
um das „richtige" Demonstrationsstrafrecht lassen sich innenpolitische
Grundpositionen plakativ ausdrücken, politische Polarisierungen dar-
stellen oder sogar herstellen. Bezeichnenderweise wurden die jüngeren
gesetzgeberischen „Marksteine" in der Entwicklung des § 125 als Sym-
bole politischer Wende unter heftigem Protest des unterlegenen politi-
schen Gegners gesetzt: Die SPD/FDP-Koalition verabschiedete 1970 die
Neufassung des § 125 gegen den entschiedenen Widerstand der damali-
gen CDU/CSU-Opposition 4 . Das Fehlen einer überzeugenden parla-
mentarischen Mehrheit bezeichnete damals Dreher als „beklagenswerten
Mangel" eines unter Zeitdruck zustande gekommenen „ad-hoc-Geset-
zes"5. Die CDU/CSU-Fraktion und der Bundesrat haben seit 1974 mit
entsprechenden Gesetzesentwürfen immer wieder Vorstöße zur Reform
des geltenden Rechts unternommen, weil dieses den Strafschutz unver-
tretbar verkürze6. Schließlich hat 1984 die neue Bundesregierung einen
Gesetzesentwurf vorgelegt, der die Strafbarkeit - mit gewissen Ein-
schränkungen - auf alle Personen erstreckte, die sich trotz Aufforderung
aus der Menschenmenge, von der Gewalttätigkeiten ausgehen, nicht
entfernen oder sich ihr anschließen7. Das Änderungsgesetz vom
18.7.1985 ist nach langen Geburtswehen als Kompromiß mit ver-
gleichsweise restriktiver Tendenz aus dem Entwurf hervorgegangen:
Der neue § 125 Abs. 2 sieht die Strafbarkeit des Verweilens in einer - i. S.
des § 125 Abs. 1 - unfriedlichen Menschenmenge nur unter der weiteren
Voraussetzung vor, daß der Täter Schutzwaffen o. ä. mit sich führt oder
vermummt ist und eine vorangegangene Aufforderung, die Schutzwaf-
fen oder seine Aufmachung abzulegen oder sich zu entfernen, nicht
befolgt hat. Dieser Koalitionskompromiß war - eine deutliche Parallele
zur Entstehungsgeschichte des 3. Strafrechtsreformgesetzes von 1970! -
wie der Entwurf selbst äußerst umstritten und wurde zudem „erst
wenige Tage vor der Verabschiedung des Gesetzes im Bundestag formu-
liert und alsdann mit ungewöhnlicher Eile gegen den Widerstand einer
starken Minderheit durchgesetzt"8. Das Änderungsgesetz von 1985 hat
unter die jahrelangen Auseinandersetzungen nach der Prognose Lack-
ners ebenso wie das 3. Strafrechtsreformgesetz von 1970 vermutlich nur
„einen vorläufigen, wahrscheinlich weiter umstrittenen Schlußpunkt"
gesetzt': Einerseits werden gegen das neue Gesetz sehr grundsätzlich
verstandene verfassungsrechtliche, strafrechtsdogmatische und kriminal-
politische Bedenken geltend gemacht10. Auf der anderen Seite konnte die
CDU/CSU-Fraktion ihre ursprünglich erheblich weitergehenden Vor-
stellungen nur teilweise durchsetzen11.
5
A . a . O . , 1153, 1155.
6
Vgl. BT-Dr. 7/2772, 2854 und 4582; 8/322 und 2677; 9/628 u. 1258.
7
BT-Dr. 10/901. Der Entwurf ist überwiegend auf Ablehnung gestoßen, vgl. z.B.
Hamm, AnwBl. 1984, 57ff; Starke/Stein, JR 1984, 97ff und Strohmaier, Die Reform des
Demonstrationsstrafrechts, 1985, 63ff, 103 ff alle m. Nachw.; zust. Scholz, N J W 1983,
705 ff. Vgl. auch BT-Dr. 10/3580, S. 1 zum Erg. der öffentlichen Anhörung im Rechtsaus-
schuß.
» So Lackner, StGB, 16. Aufl. 1985, §125 Vor 1.
' A.a.O.
10
Vgl. BT-Dr. 10/3580, S. 2 f ; de With, SBer. 10, S. 1261; Strohmaier, StV 1985, 469ff;
Kühl, N J W 1985, 2379 ff und 1986, 874 ff; Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB,
22. Aufl. 1985, § 125 Rdn. 31 a. Gegen Art. 8 G G verstößt § 125 II offenkundig nicht, vgl.
Frowein, N J W 1985, 2378 und Kühl, N J W 1985, 2379ff.
11
Vgl. F n . 6 ; s. auch den Regierungsentwurf (Fn. 7).
Die „Teilnahme" am Landfriedensbruch 483
2. Das geltende Recht scheint auf den ersten Blick eine klare Antwort im
Sinne der ersten Alternative zu geben: § 1 2 5 Abs. 1 spricht von der
„Beteiligung" als „Täter oder Teilnehmer" an bestimmten „Gewalttätig-
keiten . . . oder Bedrohungen . . d i e aus einer Menschenmenge in einer
die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise mit vereinten Kräften
begangen werden". Ergänzend wird über diese Beteiligung hinaus ledig-
lich noch das Einwirken auf die Menschenmenge zur Förderung ihrer
Bereitschaft zu den verbotenen Handlungen erfaßt. § 125 Abs. 1 enthält
indes mit der Einbeziehung der Teilnahme einen Verweis auf die allge-
meinen Regeln der Anstiftung und, was im folgenden besonders interes-
siert, der Beihilfe. Damit hängt die Reichweite des Tatbestandes davon
ab, wie weit die Beihilfe trägt und insbesondere unter welchen Voraus-
setzungen „psychische Beihilfe" in Frage kommt. Das in § 27 als „Hilfe-
leisten" vorausgesetzte Verhalten ist farblos: Es genügt jeder kausale
Tatbeitrag, der die Rechtsgutsverletzung ermöglicht oder verstärkt oder
der die Tat erleichtert oder absichert 14 . Die Rechtsprechung geht
bekanntlich weit: Sie glaubt, auch „nicht kausales" Fördern einbeziehen
zu müssen15 und läßt als psychische Beihilfe jede Stärkung der Tatbereit-
schaft 1 ' genügen. Zu dieser Annahme soll das „Dabeisein bei der Tat"
ausreichen, wenn der Wille des Anwesenden auf eine solche Stärkung
des Tatwillens oder auf die Beseitigung von Hemmungen oder Wider-
ständen gerichtet war17. Nimmt man hinzu, daß passiv Anwesende den
Gewalttätern häufig als Kulisse dienen, ihnen „Schutz und Schild" gegen
das Vorgehen der Polizei bieten, so wird deutlich, daß eine Erstreckung
des § 125 Abs. 1 auf den weiten Kreis der in der Menschenmenge
A n w e s e n d e n in B e t r a c h t g e z o g e n w e r d e n m u ß : D e r V e r w e i s auf die
Beihilferegeln f ü h r t also m ö g l i c h e r w e i s e z u r t a t b e s t a n d l i c h e n E r f a s s u n g
„ b l o ß e r " A n w e s e n h e i t als „ B e t e i l i g u n g " !
I n d i e s e m Sinne g e h t e t w a Arzt d a v o n aus, a u c h der „friedliche
M i t l ä u f e r " , d e r in einer gewalttätigen M e n g e verweile, handle in d e r
R e g e l als Gehilfe t a t b e s t a n d s m ä ß i g " . B e z e i c h n e n d e r w e i s e e r a c h t e t e in
der A n h ö r u n g zum Regierungsentwurf von 1984 ein P r a k t i k e r die
R e f o r m f ü r überflüssig, weil allein „aus d e r M i t l ä u f e r s c h a f t , aus d e m
Mitbilligen h e r a u s , t r o t z i m übrigen passiven V e r h a l t e n s eine V e r u r t e i -
lung w e g e n L a n d f r i e d e n s b r u c h s m ö g l i c h s e i " " . Falls o b j e k t i v die „ p a s -
sive P r ä s e n z " ausreicht 2 0 , verläuft die S t r a f b a r k e i t s g r e n z e g e w i s s e r m a ß e n
im K o p f des A n w e s e n d e n : Es kommt allein d a r a u f an, o b er die
G e w a l t t a t e n gebilligt hat o d e r nicht. I m H i n b l i c k auf den n e u e n § 1 2 5
A b s . 1 ist z u d e m v o n s p e z i f i s c h e m Interesse, o b V e r m u m m u n g und
S c h u t z b e w a f f n u n g als s o l c h e die „ b l o ß e A n w e s e n h e i t " s c h o n z u r „Teil-
n a h m e " an b e g a n g e n e n G e w a l t t ä t i g k e i t e n a u f w e r t e n können 2 1 u n d o b
eine innere, die G e w a l t t ä t i g k e i t e n billigende E i n s t e l l u n g aus d e r „ A n w e -
senheit in e n t s p r e c h e n d e r A u f m a c h u n g " abgeleitet w e r d e n kann 2 2 .
18 JA 1982, 271; ihm folgend Sonnen, JA 1982, 566; Arzt will allerdings auf der
Rdn. 5 m. Nachw.
21 Dazu Geilen, JK StGB, § 125/1 a. E.
22 Gareis (Fn. 19), S. 127. Vgl. auch BGH NStZ 1984, 549 und, deutlicher, 3 Str 257/
2i
Lackner (Fn. 8), § 125 Vor 1.
2<
So Arzt, JA 1982, 273 zu den früheren Entwürfen (Fn.6).
25
Zur Bedeutung des „Anheizens" Lackner (Fn. 8), §126 A n m . 3 b .
26
Vgl. oben bei Fn. 14-17.
486 Gerhard Werle
II.
Der seit 1871 unverändert geltende Tatbestand des § 125 a. F. schützte
- ausweislich der Uberschrift des 7. Abschnitts - die „öffentliche Ord-
nung"27 und bedrohte jede Teilnahme an der öffentlichen Zusammenrot-
tung einer Menschenmenge, die „mit vereinten Kräften gegen Personen
oder Sachen Gewalttätigkeiten begeht", mit Freiheitsstrafe von drei
Monaten bis zu fünf Jahren. Den „Rädelsführern" und denjenigen,
welche „Gewalttätigkeiten gegen Personen begangen oder Sachen
geplündert, vernichtet oder zerstört haben", drohte verschärfte Strafe28.
Sachlich eng verwandt mit dem Landfriedensbruch war §115 a. F.
(„Aufruhr"), der bei weitgehender Deckungsgleichheit der übrigen Tat-
bestandsmerkmale die Teilnahme an einer öffentlichen Zusammenrot-
tung erfaßte, bei der eine Widerstandshandlung (§113 a. F.) oder eine
Beamtennötigung (§114 a. F.) begangen wurde2'.
In diesen sog. Massendelikten nach §§115, 125 a. F. war nach dem
Urteil Tiedemanns „fast jedes Merkmal problematisch" und einer exten-
siven wie restriktiven Auslegung in weitem Umfang zugänglich30. Die
Rechtsprechung des Reichsgerichts hatte den Tatbeständen allerdings
zunehmend feste Konturen verliehen. Unter dem Zentralbegriff
„Zusammenrottung" wurde für § 125 jedes nach außen erkennbare
Zusammenireie« oder Zusammen halten einer Menschenmenge zu einem
gemeinschaftlichen gewalttätigen oder bedrohlichen widerrechtlichen
Zweck verstanden31. Die Tathandlung der „Teilnahme" erblickte das
Reichsgericht in der räumlichen Verbindung mit einer solchen Zusam-
27 Vgl. RGSt. 55, 250. Zu den einzelnen terminologischen Varianten v. Bubnoff (Fn. 2),
29 Vgl. auch den Vorfeldtatbestand des § 116 a. F. („Auflauf") und jetzt §§113 OWiG,
29 I Nr. 2 VersG.
50 J Z 1968, 765.
37 Vgl. RGSt. 58, 207, 209; 20, 403, 404; RG GA Bd. 64 (1917), S.368 (Ls.); enger
54, 85. S. auch BGH NJW 1952, 1694 und dazu Tiedemann, JZ 1968, 766 („bloßes Spiel
mit Worten").
488 Gerhard Werle
III.
1. Die Tatbestände des Landfriedensbruchs, des Aufruhrs und des
Auflaufs gerieten Ende der sechziger Jahre im Zusammenhang mit den
Studentendemonstrationen in das Fadenkreuz der Kritik am geltenden
Recht 51 . Gegen die Anwendung geltender Strafgesetze wurde, nament-
lich im Hinblick auf Demonstrationen und „Aktionen" der Studenten-
bewegung, von Studentenvertretern zugespitzt ein „Recht der begrenz-
ten Regelverletzung" als Waffe im Kampf gegen herrschende Mißstände
beansprucht. Jedenfalls bei „leichteren" Gesetzesverstößen sollte die
Legitimität der verfolgten Zielsetzungen die „formale" Illegalität der
Protestformen überspielen können52. Der Gedanke einer politischen
Legitimitätswertung als eigenständiges korrektives (Tatbestands- oder
Rechtfertigungs-)Element wurde in der juristischen Diskussion im
ärztliche Helfer usw. Lackner/Maassen, 5. Aufl. 1969, §115 Anm.3. S. auch v. Bubnoff
(Fa. 2), §125 Anm.5.
50 Vgl. §§295, 296 und, sehr klar, Begr. S.467f.
51 Vgl. nur die Nachw. bei Lackner/Maassen, 6. Aufl. 1970, Vor §110 Anm. 1 und in
JA 1969, StR 65, 85, 207, 273.
52 Vgl. bei der Anhörung vor dem Sonderausschuß für Strafrechtsreform Müller (vds),
2. Für die anstehende Reform markierten zwei nach wie vor exemplari-
sche Auffassungen die Pole, zwischen denen sich alle Lösungsmodelle
53 Vgl. aber zur Verwerflichkeitsklausel bei der Nötigung LG Köln, JZ 1969, 80, 82
„für das Gemeinwohl wichtigen Frage" s. aber AG Frankfurt, ZRP 1969, 21. Vgl. auch die
Zusammenstellung in DRiZ 1969, 86 ff.
55 Vgl. namentlich Tiedemann, JZ 1968, 765 ff und schon Fn. 49.
56 Vgl. v. Winterfeld, Prot. V, S.2979 und den SPD/FDP-Entwurf BT-Dr. VI/139,
S.4.
57 Vgl. Tiedemann, J Z 1968, 761 ff.
se Vgl. die Nachw. bei Tiedemann, JZ 1969, 725.
59 Vgl. BayOblG JZ 1969, 207; anders BGHSt. 23, 46.
60 LackneriMaassen, (Fn.51) Vor §110. Vgl. z.B. auch Kriele, ZRP 1969, 40; Eb.
Schmidt, JZ 1969, 395; BT-Dr. VI/139, S. 4 (SPD/FDP-Entwurf) und VI/261, S.4 (CDU/
CSU-Entwurf).
490 Gerhard Werle
45 Zur breiten Palette der Vorschläge vgl. die Synopse in Prot. VI, S. 257 ff, ferner Prot.
77
BT-Dr. VI/502, S. 9.
78
Vgl. Arzt, JA 1982, 271.
79
A.a.O.
80
Dazu oben bei Fn. 20-22.
81
Dazu Jakobs, ZStW, Bd. 97 (1985), 751 ff, 762, 764 und sogleich IV.
82
So die Kennzeichnung bei Scbroeder, in: Maurach/Schroeder, Strafrecht, BT2,
6. Aufl. 1981, S. 60.
85
Vgl. BT-Dr. VI/502, S.8f.
Die „Teilnahme" am Landfriedensbruch 493
ten; die Neuregelung zielte nach dem Verständnis ihrer Befürworter wie
ihrer Gegner gerade darauf ab, solche „bloße Anwesenheit" ohne
zusätzliches weiterreichendes Verhalten nicht zu erfassen84. Gegen eine
Problemverschiebung in die tatrichterliche Beweiswürdigung spricht
auch das gesetzgeberische Ziel, eine mittelbare Beeinträchtigung der
Demonstrationsfreiheit durch eine eindeutige Erhöhung der Strafbar-
keitsschwelle auszuschließen und nicht umgekehrt durch die Schaffung
neuer „Grauzonen" zu begünstigen.
Eine explizite Festlegung der dogmatischen Konstruktion ist den
Materialien allerdings nicht zu entnehmen, insbesondere wurde die
spezifische Problematik der allgemeinen Beihilferegeln zwar in der
Anhörung angesprochen 85 , in den Beratungen jedoch nicht aufgegriffen.
Entsprechend wurde auch nicht die Frage gestellt, ob man mit dem
Ausscheiden „bloßen Dabeiseins" unmittelbar schon die Beihilferegeln
selbst modifizieren oder allein auf die im Hintergrund wirkende Verzah-
nung mit „den prozessualen Bedürfnissen und Nöten des Beweises"
vertrauen wollte86. Festzuhalten ist jedoch, daß gewichtige Indizien
gegen die Absicht einer „subjektiven" und im Ergebnis „prozessualen"
Lösung und für den Willen zu einer sicheren, objektiven Grenzziehung
sprechen.
IV.
1. Vor der abschließenden Klärung des Umfanges und der dogmatischen
Konstruktion strafbarer gehilfenschaftlicher Beteiligung am Landfrie-
densbruch nach § 125 Abs. 1 wollen wir uns der Position des Bundesge-
richtshofs vergewissern, der sich in zwei jüngeren Entscheidungen mit
der Bedeutung „passiver Präsenz" zu befassen hatte. Der 3. Strafsenat
hat Urteile des LG Krefeld gebilligt, wonach „bloßes inaktives Dabei-
sein bzw. bloßes Mitmarschieren . . . auch unter dem Gesichtspunkt der
psychischen Beihilfe" keine Strafbarkeit nach § 125 Abs. 1 begründe 87 .
Bei einer solchen Sachlage scheitere, so der Kernsatz der Begründung,
„eine Verurteilung wegen Landfriedensbruchs bereits daran, daß ein
nach den allg. Teilnahmegrundsätzen beachtliches, bestimmte Gewalttä-
tigkeiten unterstützendes Verhalten" nicht festgestellt sei. Insbesondere,
so heißt es weiter, sei „nicht etwa festgestellt - was die Annahme eines
84
Vgl. auch Fn. 65.
85
Vgl. Bockelmann, Prot. VI, S. 174; Lackner, Prot. VI, S.203; Tiedemann, Prot. VI,
S.206.
" Vgl. Tiedemann, Strafrechtspolitik und Strafrechtsdogmatik in den Entwürfen zu
einem dritten Strafrechtsreformgesetz, S. 13.
87
LG Krefeld, Urt. v. 3 0 . 1 . 1 9 8 4 , zit. in B G H N S t Z 1984, 549; vgl. auch LG Krefeld,
StV 1984, 249 (Urt. v. 9 . 1 . 1 9 8 4 ) , bestätigt durch 3 StR 257/84, Urt. v. 8 . 8 . 1 9 8 4 .
494 Gerhard Werle
" BGH NStZ 1984, 549 und 3 StR 257/84, S. 3; vgl. auch BGH NJW 1984,1226,1232.
" BGH 3 StR 257/84, S. 4.
90 Vgl. BGH NJW 1984, 1226, 1229, s. auch 1232; dazu aus zivilrechtlicher Sicht
Stürner, JZ 1984, 525, 527 und (modifizierend) Zeuner, Erman, BGB, 11. Aufl. 1985, §830
Rdn. 5.
" Vgl. oben bei Fn.l4ff.
92 Vgl. BGH 3 StR 257/84 und 320/84 (insoweit in NStZ 1984, 549 nicht abgedruckt).
Die „Teilnahme" am Landfriedensbruch 495
96 Vgl. LG Krefeld, StV 1984, 250; s. schon AG Freiburg, NStZ 1982, 247.
" Vgl. 3 StR 257/84 und 320/84 (insoweit in NStZ 1984, 549 nicht abgedruckt).
91 Zum allgemeinen Zusammenhang grundlegend Frisch, JuS 1983, 917 ff und NJW
1983, 2472 ff (jeweils zu §258) und Jakobs, ZStW 97 (1985), 571 ff, 762, 764.
99 Vgl. Lackner (Fn.8), §125 Anm.3a, bb. S. auch Tiedemann (Fn.86), S.13.
496 Gerhard Werle
100 Vgl. Lenckner (Fn. 10), § 125 Rdn. 18; anders noch die Voraufl.
101 Deshalb stehe auch die „Äußerung der Gesinnung allein - abgesehen von den Fällen
der § § 1 3 1 , 140 StGB - nicht unter Strafdrohung", so B G H N J W 1984, 1226, 1229 in
parallelem Zusammenhang. - Vgl. auch B G H S t . 14, 240, 249 zur grundsätzlichen Bedenk-
lichkeit, „strafbares Unrecht allein vom Motiv her begründen zu wollen" (zu § 1 6 4 ) .
102 Vgl. Frisch, JuS 1983, 918 (zu §258). S. aber Sonnen, J A 1982, 567: Das strafrecht-
lich entscheidende „Mehr" gegenüber der (straflosen) bloßen Anwesenheit könne „nur im
subjektiven Bereich zu finden sein".
103 Eindringlich Jakobs (Fn. 98).
104 Zum Stellenwert der Rechtssicherheit im Zusammenhang des § 125 Eb. Schmidt,
ZStW 82 (1970), 5; für Abwägung auf Rechtswidrigkeitsebene aber Arzt, J A 1982, 272,
dazu schon Fn. 18.
105 Vgl. zuletzt den Entwurf der Bundesregierung B T - D r . 10/901 (dazu Fn. 7).
Die „Teilnahme" am Landfriedensbruch 497
106
Vgl. die Beispiele bei Lackner (Fn. 8), § 125 Anm. 3 a, aa; zum Abschirmen vgl. auch
- teilweise widersprüchlich - Prot. VI, S. 344 f, 350; BT-Dr. 7/4549, S.4; v. Bubnoff
(Fn. 2), § 125 Rdn. 5.
107
Vgl. Lackner, a . a . O . ; Lenckner (Fn. 10), §125 Rdn. 18; Tröndle (Fn.20), §125
Rdn. 5.
108
Zu Sachverhalt und Bewertung B G H N J W 1984, 1226, 1229, 1232. Ähnlich B G H
NStZ 1984, 549 und 3 StR 257/84; enger, aber zweifelnd Lackner, §125 Anm. 3 a, bb. -
Vorausgesetzt werden vom B G H Anschluß und Verbleiben; vgl. aber Kühl, N J W 1985,
2380.
498 Gerhard Werle
V.
Abschließend sei das Verhältnis der Teilnahme am Landfriedensbruch
zum Landfriedensbruch durch Vermummung oder Schutzbewaffnung
betrachtet.
1. Aus den bisherigen Überlegungen folgt, daß §125 Abs. 2 für den
passiven, vermummt oder schutzbewaffnet Anwesenden eine Erweite-
rung der Strafbarkeit bedeutet. Die praktisch wichtige Fallgruppe, daß
sich der Vermummte oder Schutzbewaffnete einer gewalttätigen Teil-
gruppe anschließt und dort freiwillig verbleibt, ist schon nach § 125
Abs. 1 mit (höherer) Strafe bedroht. Die Frage, wie die Umgrenzung des
§ 125 Abs. 2 das Bedürfnis nach der getroffenen Neuregelung beeinflußt,
wurde in den entscheidenden Beratungen des Rechtsausschusses nicht
diskutiert, obwohl sie in der Anhörung vom Dezember 1985 angespro-
chen wurde111. Eine Privilegierung vermummter oder schutzbewaffneter
Personen gegenüber anderen Anwesenden war allerdings angesichts der
,0
' Vgl. Lackner, a.a.O.; Kühl, a.a.O.
110
Vgl. B G H NStZ 1984, 549.
m
Vgl. Gareis (Fn. 19) und, mit anderem Akzent, Otto, Prot. 39 (Fn. 19), S. 82 f sowie
das Prot, der entscheidenden 56. Sitzung des Rechtsausschusses v. 26.6.1985.
Die „Teilnahme" am Landfriedensbruch 499
112
Vgl. Corves, Prot. 56 (Fn. I l l ) , S. 84.
113
So Lackner (Fn. 8), § 125 Anm. 8 b; Lenckner (Fn. 10), § 125 Rdn. 42.
114
Dazu Kühl, N J W 1986, 879 mit Nachw. Der (mittelbare) Individualrechtsgüter-
schutz tritt in § 125 Abs. 2 zurück.
115
Deren Richtigkeit und die Vernünftigkeit der daraus gezogenen Konsequenzen ist
hier nicht zu beurteilen; dazu Kühl, N J W 1986, 876ff.
Vgl. Kühl, N J W 1986, 879 ff; Lenckner (Fn. 10), § 125 Rdn. 31.
117
Vgl. Lenckner, a. a. O . ; s. auch Pfeiffer, Prot. 39 (Fn. 19), S. 193.
111
Allg. zur Subsidiarität Vogler, in LK, 10. Aufl. 1985, §52 Rdn. 118 ff.
500 Gerhard Werle
Annahme von Realkonkurrenz zwischen Abs. 1 und 2 " ' ist auf den
ersten Blick naheliegend: Die dem Verhalten nach §125 Abs.2 eigen-
tümliche Gefahrsteigerung besteht nämlich im Hinblick auf künftige
Gewalttaten anderer, so daß der für die Bewertung der ersten Konstella-
tion (Uberlagerung) maßgebliche Gedanke nicht trägt. O b es sich nicht
um eine typische Begleittat (mitbestrafte Nachtat)120 handelt, ist freilich
zumindest für den Fall zu erwägen, daß ein vermummter Gewalttäter,
der sich nicht entfernen kann, getarnt bleibt. Von einer abschließenden
Erörterung dieser Frage muß hier abgesehen werden: Der für die
Bewertung der beschriebenen Sonderkonstellation beachtliche Selbstbe-
zichtigungsaspekt des §125 Abs. 2 Nr. 2, den der Gesetzgeber nicht
gesehen hat, wirft nämlich intrikate und gegenüber der Bestimmung der
Konkurrenzverhältnisse vorrangige materiell-rechtliche Probleme auf121,
die nicht mehr Gegenstand dieses Beitrags sind.
119 Vgl. Lenckner (Fn. 10), § 125 Rdn.42. - Freilich muß die Tat rechtlich selbständig
bleiben: Auf der Basis der Rechtsprechung kommt namentlich eine „natürliche Hand-
lungseinheit " in Betracht; auch die Annahme einer Fortsetzungstat wird nicht selten zu
erwägen sein.
120 Dazu Vogler, Bockelmann-FS, S. 732 ff.
121 Dazu Lenckner (Fn. 10), § 1 2 5 Rdn.33, zu den noch brisanteren verfahrensrecht-
lichen Problemen a. a. O., Rdn. 31 a.
Das Unrecht der Volksverhetzung
FRANZ STRENG
vgl. auch Flehinghaus, Verhandlungen des Bundesrates 1960 (220. Sitzung), S.414:
„Bekenntnis zur Würde der Persönlichkeit und zur Toleranz".
2 Vgl. Der Spiegel, Nr. 7 v. 11.Februar 1985, S.81; Betrifft JUSTIZ, 1/1985, S. 11 mit
einem Nachdruck aus der Stuttgarter Zeitung Nr. 165 v. 19. Juli 1984; vgl. ferner Blau, JR
1986, 82.
3 Geilen, NJW 1976, 279 ff, 280.
* Krit. auch Krone, Die Volksverhetzung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Jur.
Diss. Mainz 1979, S. 1 ff.
502 Franz Streng
' Vgl. etwa Abg. Arndt, Sten.Prot. des BT-Rechtsausschusses III/Nr. 69, S.4; Abg.
Benda, Schriftl. Bericht des Rechtsausschusses, zu BT-Drucks. III/1143, S. 1; Abgeord-
nete Böhm, Dehler, Schneider und Wittrock, Verhandlungen des Deutschen Bundestages,
Sten.Berichte III/Bd. 44, S. 5083 ff; Flehinghaus, Verhandlungen des Bundesrates 1960
(220. Sitzung), S.414.
9
Bockelmann, Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission,
13. Bd., BT, 2. Lesung, 1960, S. 121.
10
Gallas, Niederschriften (Fn.9), S. 122 f.
11
Gallas hatte allerdings zunächst vorgeschlagen, auf die Eignung zur Friedensgefähr-
dung abzustellen.
12
Vgl. Niederschriften (Fn.9), S. 124f (Bockelmann), S. 125 (Baldus) und S. 126 (Gal-
las; Abstimmung).
504 Franz Streng
13
Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Sten.Berichte III/Bd. 44, S. 5080 ff,
5089.
14
Schaßeutle, J Z 1960, 470 ff, 471; Lömker, Abwertung (Fn.6), S.47ff; Krone,
Volksverhetzung (Fn. 4), S. 34 ff.
15
Vgl. Sten.Prot. des BT-Rechtsausschusses III/Nr. 69, S. 7.
" Schaßeutle, Sten.Prot. des BT-Rechtsausschusses III/Nr. 99, S.4ff, 6; Benda, BT-
Drucks. III/1746, S.3; Schaßeutle, J Z 1960, 470ff, 473.
17
Selbst in denjenigen Gesetzgebungsphasen, in denen noch ein numerus clausus der
geschützten Gruppen vorgesehen war, gab es im Rechtsausschuß des Bundestags besorgte
Diskussionen darüber, ob etwa die Nennung der religiösen Gruppen im Gesetz zu
unerwünschten Beschränkungen der Meinungsfreiheit führen könnten; vgl. Sten.Prot. des
BT-Rechtsausschusses III/Nr. 70, S.7ff.
Das Unrecht der Volksverhetzung 505
18 Vgl. bei Schaßeutle, Sten.Prot. des BT-Rechcsausschusses III/Nr. 99, S. 4 ff; Benda,
BT-Drucks. III/1746, S . 2 f ; Flehinghaus, Verhandlungen des Bundesrates 1960 (220. Sit-
zung), S. 414; Schafheutie, J Z 1960, 470ff, 472 f.
" Schaßeutle, Sten.Prot. des BT-Rechtsausschusses III/Nr. 99, S. 5 und Dreher,
а.a.O., S.8; Benda, BT-Drucks. III/1746, S.3; Schaßeutle, J Z 1960, S.470ff, 473.
20 Sten.Prot. des BT-Rechtsausschusses III/Nr. 99, S.6 (Schaßeutle), S. 7 (Bucher;
Benda) und S.8 (Dreher); Benda, BT-Drucks. III/1746, S.3.
21 Benda und Schaßeutle wie in Fn. 19; Flehinghaus wie in Fn. 18.
22 Benda wie in Fn. 19; Schaßeutle, JZ 1960, 470 ff, 473.
2> Allg. dazu etwa Rudolphi, Honig-FS, 1970, S. 151 ff, 166 f; Hassemer, Theorie und
Soziologie des Verbrechens, 1973, S. 57 tí; Jescheck, Strafrecht. AT, 3. Aufl. 1978, S. 124 f;
Otto, Grundkurs Strafrecht. AT, 2. Aufl. 1982, S.9; Maurach/Zipf, Strafrecht. AT 1,
б. Aufl. 1983, S. 256.
506 Franz Streng
24
Früher wurde vereinzelt die Dominanz des Menschenwürdeschutzes angenommen;
vgl. etwa Mezger/Blei, Strafrecht. BT, 9. Aufl. 1966, S.305; Schönke/Schröder, StGB,
14. Aufl. 1969, Rdn. 2 zu § 130; Lömker, Abwertung (Fn. 6), S. 131 f.
25
Maurach/Schroeder, Strafrecht. BT 2, S.69; vgl. auch Brockelmann, DRiZ 1976,
213 ff, 214; Otto, Grundkurs Strafrecht. BT, 2. Aufl. 1984, S.300.
26
Vgl. etwa Mezger/Blei, Strafrecht. BT, 11.Aufl. 1978, S.261; Lackner, StGB,
16. Aufl. 1985, §130 Anm. 1; Schönke/Schröder/Lenckner, StGB, 22. Aufl. 1985, Rdn. 1
zu §130; SK-Rudolphi, 1985, Rdn. 1 zu §130; Dreher/Tröndle, StGB, 42. Aufl. 1985,
Rdn. 2 zu §130.
27
O L G München, M D R 1985, 780; ähnl. schon LK-Mösl, 9. Aufl. 1974, Rdn. 2 zu
§130 und Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972, S.378; nur
mittelbar geschützt sieht die Menschenwürde LK-v. Bubnoff, 10. Aufl. 1978, Rdn. 1 zu
§130.
28
So Mösl und v. Buhnoff wie in Fn. 27.
29
Vgl. Graf Vitzthum, JZ 1985, 201 ff, 204 Fn.76; Dreher/Tröndle, StGB, 1985,
Rdn. 2 zu §185.
Das Unrecht der Volksverhetzung 507
30 Vgl. etwa Abg. Arndt, Sten.Prot. des BT-Rechtsausschusses III/Nr. 99, S. 7; Benda,
BT-Drucks. III/1746, S.3; Schaßeutle, JZ I960, 470ff, 471; vgl. ferner Krone, Volksver-
hetzung (Fn.4), S. 55 ff, 124 f; Giehring, StrVert. 1985, 30 ff, 35.
31 Vgl. auch Brockelmann, DRiZ 1976, 213 ff, 214.
32 Vgl. zur Bedeutung der historischen Dimension für die Interpretation von aktuellen
Handlungen Androulakis, Die Sammelbeleidigung, 1970, S. 97; zur Geschichte der Min-
derheitenverfolgungen vgl. etwa Hans Dollinger, Schwarzbuch der Weltgeschichte, 1973.
33 Zu den sozialpsychologischen Hintergründen von Humanitätsverbrechen vgl.
Krone, Volksverhetzung (Fn.4), S. 83ff.
™ Zur soziologischen Diskussion um solche dominanten Merkmale vgl. besonders
E. C. Hughes, The American Journal of Sociology 50 (1944/45), 353 ff, 357, der Rassezu-
gehörigkeit als „master status-determining trait" bezeichnete. Dieser präzise, wenn auch
lange Begriff wurde in der folgenden Diskussion dann zu „master status" verballhornt; so
etwa H.S. Becker, Outsiders. Studies in the Sociology of Deviance (1963), 1966, S. 33
sowie Ε. M. Schur, Labeling Deviant Behavior, 1971, S. 30, 52 u. 70.
35 Vgl. zum Begriff und zur Funktion des Stigmas E. Goffman, Stigma. Über Techni-
ken der Bewältigung beschädigter Identität, 1967, besonders S. 175 ff.
508 Franz Streng
lieh, wie leicht Hetze gegen spezielle Gruppen den einzelnen in der
Entfaltung seiner Individualität behindern und ihn gewissermaßen in
einen Objektstatus versetzen kann. Daß eine Entindividualisierung und
Verobjektivierung des einzelnen Menschen aber ein ganz wesentliches
Merkmal von Menschenwürdeverletzungen darstellt, kann als allgemein
anerkannt gelten36. Solcher, noch relativ abstrakter Dimension von
(potentiellen) Menschenwürdeverletzungen durch feindliche Äußerun-
gen ist darüber hinaus - historischer Erfahrung entsprechend - der Keim
zu dynamischer Intensivierung und Ausweitung der Angriffe imma-
nent37.
Diese besondere Gefährdung der Menschenwürde einzelner läßt es in
der Tat als durchaus plausibel erscheinen, die Menschenwürde der
Angehörigen solcher spezieller Gruppen auch spezifisch zu schützen.
Die „Klimaschutz"-Bestimmungen 38 von § 130 Nr. 1 und 2 sollen schon
im Vorfeld von unmittelbaren Menschenwürdeverletzungen dem In-
gangsetzen einer historisch als gefährlich nachgewiesenen Eigendynamik
entgegenwirken und §130 Nr. 3 soll nicht nur in gleicher Weise den
Anfängen wehren, sondern zudem vor unmittelbaren Menschenwürde-
verletzungen durch Beschimpfungen und ähnlichem schützen39. Wobei
diese rationale Zielsetzung untrennbar verbunden ist mit dem Gefühl,
daß bestimmte Formen der Hetze gegen gefährdete Gruppen vor dem
Hintergrund des Holocaust schlechthin unerträglich und schon wegen
der gezeigten unmenschlichen Gesinnung strafwürdig sind40. Der Begriff
des Menschenwürdeschutzes erfaßt diese Janusköpfigkeit der Funktion
von § 130 in adäquater Weise: Es geht nicht nur um die Menschenwürde
der einzelnen Angegriffenen, sondern auch um das Selbstverständnis der
Gesamtgesellschaft in bezug auf ihre Orientierung an der Menschen-
würde als oberstem Wert und oberstem Verfassungsprinzip. Diese
zweite, prima facie gesinnungsstrafrechtlich anmutende Facette des
Menschenwürdeschutzes verdeutlicht aber letztlich nur, daß konkrete
Behandlung von Randgruppen kann an dieser Stelle schon aus Raumgründen nicht
nachgegangen werden. Diese kriminologisch/sozialpsychologische Frage (dazu Krone,
Volksverhetzung - o. Fn. 4 - S. 83 ff) braucht für eine sinnvolle Gesetzesinterpretation
aber auch nicht beantwortet zu werden.
38 Zu diesem Begriff Jakobs, ZStW 97 (1985) 751 ff, 774 ff, mit einer „radikalen Kritik"
an den Klimadelikten.
39
Androulakis, Sammelbeleidigung (Fn. 32), S. 95 f, hält eine Menschenwürdeverlet-
zung durch Beschimpfungen oder ähnliches jedoch für unmöglich.
40 Vgl. oben in III.
Das Unrecht der Volksverhetzung 509
2. Auf der Basis der Erkenntnis, daß §130 ganz unmittelbar auf den
Schutz der Menschenwürde abzielt, stellt sich die Frage nach der dem
Rechtsgut öffentlicher Frieden verbleibenden Relevanz. Das Verständnis
von der Volksverhetzung als eines Friedensdeliktes rührt zunächst
daher, daß der alte §130 (der sog. Klassenkampfparagraph) tatsächlich
ganz eindeutig dazu diente, den öffentlichen Frieden i. S. von Ruhe und
Ordnung zu schützen. Die Nachfolgeregelung hat man dann, ohne daß
man sich über eine möglicherweise geänderte Schutzrichtung völlig
klargeworden wäre, im 7. Abschnitt des StGB bei den Straftaten gegen
die öffentliche Ordnung belassen42. Zu der Vorstellung, daß es sich im
Kern bei §130 n. F. weiterhin um ein Friedensdelikt handele, mußte
natürlich die Eignungsformel beitragen. Diese sieht ja auf den ersten
Blick wie eine bloße Beweiserleichterung gegenüber der alten Gefähr-
dungsklausel aus.
Demgegenüber wird aber eine Herabstufung des Aspekts der Frie-
densstörung unter dem Gesichtspunkt des Zusammenwirkens mit dem
Menschenwürdeaspekt durch grundsätzliche Erwägungen zur Hierar-
chie der im Strafrecht geschützten Rechtsgüter plausibel. Da der öffent-
liche Frieden oder die öffentliche Ordnung keinen Wert an sich darstellt,
vielmehr gesellschaftlich notwendige Entwicklungen oft unvermeidlich
41
LK-Mösl, 1974, Rdn.2 zu §130; ähnlich LK-v.Bubnoff, 1978, Rdn. 1 zu §130.
42
Vgl. auch Lömker, Abwertung (Fn. 6), S: 225 ff.
510 Franz Streng
43 Vgl. zur Überschätzung der Bedeutung der Friedensfunktion von Recht auch
Amelung, Rechtsgüterschutz (Fn. 27), S. 380 ff, der sich auf Lehren der soziologischen
Systemtheorie beruft.
44
Jakobs, Strafrecht. AT, 1983, S.35. Zum Zusammenhang zwischen öffentlichem
Frieden und Individualrechtsgüterschutz vgl. S K - R u d o l p h i , 1985, Rdn.2 zu § 1 2 5 und
Rdn.2 zu § 1 2 9 ; Maurach/Schroeder, Strafrecht. BT 2, 1981, S.299. - Zu den Gefahren
von abstrakten, vom Träger losgelösten Rechtsgütern vgl. etwa bei Hassemer, Theorie
(Fn. 23), S. 231 ; Mauracb/Zipf, Strafrecht. A T 1, 1983, S.255.
45 Vgl. dazu Hassemer, Theorie (Fn.23), S . 2 3 2 f -Jakobs, Schuld und Prävention, 1976
(Recht und Staat, Heft 452/453); Streng, ZStW 92 (1980), 6 3 7 f f , 6 4 2 f f ( m . w . N . ) .
46 Zu den „völlig verschiedenen Rechtsgütern", die im 7. Abschnitt des StGB geschützt
sind, vgl. auch Schänke/Schröder/Lenckner, StGB, 1985, Rdn. 1 vor §§123 ff.
Das Unrecht der Volksverhetzung 511
47 Ahnlich schon Lömker, Abwertung (Fn.6), S. 131 f; vgl. auch Mezger/Blei, Straf-
recht. BT, 9. Aufl. 1966, S.305f; Schänke/Schröder, StGB, 14. Aufl. 1969, Rdn.2 zu
§130.
48 Zum Willen des Gesetzgebers vgl. oben in 112 bei Fn.20 u. 21. Zur h.M. vgl.
BGHSt. 16, 49ff, 56; 21, 371 ff, 373; 31, 226 ff, 231 f; O L G Hamburg, NJW 1975, 1088;
Römer, NJW 1971, 1735f, 1736; Mezger/Blei, Strafrecht. BT, 1978, S.261; L K - v . B u b -
noff, 1978, Rdn.4 zu §130; Maurach/Schroeder, Strafrecht. BT 2, 1981, S.69; Schönke/
Schröder/Lenckner, StGB, 1985, Rdn. 7 zu § 130; Lackner, StGB, 1985, § 130 Anm. 3; SK-
Rudolphi, 1985, Rdn. 7 zu § 130; Dreher/Tröndle, StGB, 1985, Rdn. 8 zu § 130.
49 Lohse, NJW 1985, 1677ff, 1678.
keit nicht, da ansonsten die Verpflichtung zu Achtung und Schutz der Menschenwürde aus
Art. 11 S. 2 keinen Sinn ergäbe; vgl. etwa v.Münch, Grundgesetz-Kommentar, 1981,
Rdn. 26 zu Art. 1.
Das Unrecht der Volksverhetzung 513
gen u. ä. gegenüber Gruppen aut den Aspekt schon des Angriffs gegen
die Menschenwürde abgestellt werden.
Diese Überlegungen lassen es nun aber als außerordentlich zweifelhaft
erscheinen, ob der Hinweis auf die Praxistauglichkeit von § 111 Solda-
tenG sowie §§22, 31 WStG ernsthaft dafür beweiskräftig sein konnte,
daß die Menschenwürdeklausel auch im Rahmen von § 130 für die Praxis
hinreichend konkretisierbar ist". Denn die genannten Regelungen aus
der Wehrgesetzgebung betreffen regelmäßig Fälle einer unmittelbaren
Konfrontation von Täter und Opfer, in der Entwürdigungen und andere
Verstöße gegen das Prinzip der Menschenwürde noch relativ einfach
feststellbar sind; bei den im Regelfall rein verbalen Aktionen des § 130,
die vielfach lediglich abwesende Dritte betreffen, ist die Menschenwür-
dedimension hingegen sehr viel schwerer konkretisierbar 58 .
2. Die Tathandlung eines Menschenwürdeangriffs durch eine der in
§130 N r . 1-3 kodifizierten Handlungsformen muß in einer Weise
geschehen, die „geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören". Wäh-
rend der ursprüngliche Gesetzesvorschlag auf die Gefährdung des
öffentlichen Friedens abgestellt hatte, wurde auf einen Vorschlag von
Gallas hin die Eignungsformel eingeführt 59 . Das Abstellen auf die bloße
Eignung macht zunächst ganz deutlich, daß die Anwendung von § 130
keine konkrete Gefahr voraussetzt; d. h. es wird nur eine konkrete
Eignung verlangt, überhaupt - nicht aber notwendigerweise im konkre-
ten Fall - eine Friedensstörung hervorzurufen. Es muß sich konkret um
ein Verhalten handeln, das man als abstrakt gefährlich ansehen kann60.
57
So aber etwa Schafheutie, Sten.Prot, des BT-Rechtsausschusses III/Nr. 99, S. 5 und
JZ I960, 470ff, 473; Benda, BT-Drucks. III/1746, S.3; LK-v. Buhnoff, 1978, Rdn.4 zu
§130; Lackner, StGB, 1985, §130 A n m . 3 .
58
Krit. auch Androulakis, Sammelbeleidigung (Fn. 32), S. 94; Lömker, Abwertung
(Fn.6), S. 157 ff, 160 f; Schänke/Schröder, StGB, 14. Aufl. 1969, Rdn. 11 zu §130.
59
Vgl. dazu Näheres oben in II 1.
60
Vgl. dazu Miinzberg, Verhalten und Erfolg als Grundfragen der Rechtswidrigkeit
und Haftung, 1966, S. 167 ff und 269 f; Schröder, JZ 1967, 522 ff; Brehm, Zur Dogmatik
des abstrakten Gefährdungsdelikts, 1973, S.21 ff, 97ff und 127ff; Schünemann, JA 1975,
787ff, 793; Wolter, Objektive und personale Z u r e c h n u n g . . . , 1981, S. 184ff; Schänke/
Schröder/Cramer, StGB, 1985, Rdn. 3 vor §§306ff; SK-Horn, 1985, Rdn. 18 vor §306. -
In der Rechtsprechung hat sich in bezug auf § 130 der merkwürdige, den Möglichkeits-
aspekt bezüglich des Schadenseintritts verdoppelnde Begriff des „potentiellen Gefähr-
dungsdelikts" eingebürgert; vgl. etwa O L G Hamburg, N J W 1975, 1088 f, 1089; O L G
Koblenz, M D R 1977, 334; O L G Hamburg, M D R 1981, 71; O L G Köln, NJW 1981,
1280 f, 1281; vgl. auch LK-v. Buhnoff 1978, Rdn. 1 zu §130; Dreher/Tröndle, StGB,
1985, Rdn. 2 zu §130; Lackner, StGB, 1985, A n m . I V . 3 vor §13. - Als konkretes
Gefährdungsdelikt wird §130 angesehen von Lohse, N J W 1971, 1245 ff, 1247; Gallas,
Heinitz-FS, 1972, 171 ff, 182; Schmidhäuser, Strafrecht. BT, 2. Aufl. 1983, S. 148 (Rdn. 5);
SK-Rudolphi, 1985, Rdn. 10 zu §130.
514 Franz Streng
Nachdem also unstreitig ist, daß die Eignungsformel dem Richter eine
Beweiserleichterung bringt, bleibt noch festzustellen, anhand welcher
Kriterien er die Eignung zu überprüfen und ggf. zu bejahen hat. Aus den
Gesetzesmaterialien ergibt sich zum einen, daß die konkrete Handlungs-
modalität insoweit eine Eignung voraussetzt, als sie - rein technisch -
Auswirkungen auf die Öffentlichkeit haben können muß; d.h. private-
ste Gespräche bzw. Mitteilungen sollen nicht unter § 130 fallen61. Dies
erscheint zwingend, da ohne mögliche Öffentlichkeit kein für die Opfer
wie auch für die Gesamtgesellschaft relevanter Menschenwürdeangriff
gegen eine ganze Gruppe von Personen denkbar ist. Durch die Eig-
nungsformel wird dieser Aspekt berücksichtigt, ohne den weit weniger
flexiblen Begriff des „öffentlichen Handelns" benutzen zu müssen62.
Schließlich verlangt das Eignungserfordernis auch noch eine derartige
Intensität der Attacken, daß eine Störung des öffentlichen Friedens
Folge sein kann. In den Beratungen der Großen Strafrechtskommission
wurde bei dieser Komponente besonders herausgestellt, daß ein Vorge-
hen gegen den Ausdruck unerträglicher Gesinnung zu ermöglichen ist63.
Zusammenfassend betrachtet läßt sich feststellen, daß der Eignungs-
formel offenbar ein hohes Maß an begrifflicher Unschärfe eigen ist. Dies
ermöglichte es, neben dem Erfordernis der Öffentlichkeitsfähigkeit auch
den dem Gesetzgebungsverfahren zugrundeliegenden Wunsch nach
Bestrafung unmenschlicher Gesinnung zu erfassen, ohne das strafrecht-
liche Leitprinzip offen desavouieren zu müssen, daß nur sozialschäd-
liches Verhalten kriminalisierenswert ist64.
Daß die Eignungsklausel tatsächlich nicht mehr als die beiden schon
im Gesetzgebungsverfahren herausgestellten Kriterien Öffentlichkeitsfä-
higkeit und inhaltliche Intensität des Angriffs enthalten kann, zeigt
folgende Überlegung: Wollte man, wie es letztlich dem Ansatz der
herrschenden Meinung entspricht65, die gesamte sozialpsychologische
61 Vgl. dazu oben in III bei Fn. 12; vgl. ferner LK-Aföi/, 1974, Rdn. 5 zu §130;
berechtigte Gründe für die Befürchtung vorliegen, der Angriff werde das Vertrauen in die
Das Unrecht der Volksverhetzung 515
70 Vgl. zu diesem Begriff Dürig, AöR 81 (1956), 117 ff, 119 u. 122 f; Maunz/Düng,
Grundgesetz-Kommentar, 1985, Rdn.4 u. 14 zu Art. 1; Benda, in: Handbuch des
Verfassungsrechts, Teil 1, 1984, S. 114; vgl. ferner Maihofer, Rechtsstaat und menschliche
Würde, 1968, S . 9 f („Fundamentalnorm unserer heutigen Staatsverfassung").
71 Vgl. etwa BGHSt. 16, 49ff, 56; O L G Koblenz, MDR 1977, 334f; O L G Schleswig,
M D R 1978, 333; O L G Hamburg, MDR 1981, 71; O L G Koblenz, StrVert. 1985, 15 ff, 16
= GA 1984, 575ff, 576; Mezger/Blei, Strafrecht. BT, 1978, S.262; L K - v . B u b n o f f , 1978,
Rdn.5 zu § 1 3 0 ; Lackner, StGB, 1985, § 1 2 6 A n m . 2 c ; SK-Rudolphi, 1985, Rdn.9 zu
§130.
72 Maurach/Schroeder, Strafrecht. BT 2, 1981, S.70; ähnl. Geilen, N J W 1976, 279ff,
280. - Daß dieser Bedeutungsverlust der Eignungsklausel vom Gesetzgeber möglicher-
weise so nicht gewollt war, kann die Tragfähigkeit der hier vorgestellten Interpretation
nicht erschüttern. Denn wegen des überhasteten Vorgehens im Endstadium des Gesetzge-
bungsverfahrens wurde das Zusammenspiel des neu eingefügten Merkmals Menschenwür-
deangriff mit der weitgehend ausgeloteten Eignungsklausel gar nicht problematisiert. Ein
solches Schweigen der Gesetzesväter aus Zeitnot oder gar aus fehlender Problemsicht kann
vernünftigerweise die Auslegung der Norm nicht beeinflussen.
Das Unrecht der Volksverhetzung 517
76
Am Beispiel von Nordirland oder des Libanon läßt sich zeigen, daß anders als in der
Bundesrepublik in anderen Ländern das Gruppenmerkmal Religionszugehörigkeit ein
durchaus dominantes Persönlichkeitsmerkmal darstellt. In den genannten Ländern sind die
Religionsgruppen demnach durchaus sensible Gruppen im Sinne einer Vorschrift zur
Volksverhetzung.
Das Unrecht der Volksverhetzung 519
77 Vgl. auch Grünwald, Kritische Justiz 1979, 291 ff, 299; Benda, in: Handbuch des
Verfassungsrechts, Teil 1, 1984, S. 114; Giehring, StrVert. 1985, 30ff, 32; vgl. ferner
Brockelmann, DRiZ 1976, 213 ff, 214; Bemmann, Meinungsfreiheit (Fn. 75), S. 18.
78 Sten.Prot, des BT-Rechtsausschusses III/Nr. 99, S. 6 f.
520 Franz Streng
79 BGHSt. 32, 310 ff = JR 1985, 205 f mit krit. Anm. von Bloy.
80 Vgl. Betrifft JUSTIZ 1/1985, S. 11, mit einem Nachdruck aus der Stuttgarter Zeitung
Nr. 165 vom 1 9 . 7 . 1 9 8 4 .
81 Krit. zu der Argumentation des B G H auch Bloy, J R 1985, 206 f, 207.
82 N J W 1985, 1720 f; J R 1986, 81 ff mit kritischer Besprechung von Blau; vgl. auch Der
83
L K - v . B u b n o f f , 1978, R d n . 4 zu § 130; S K - R u d o l p h i , 1985, R d n . 4 zu § 130; Dreher/
Tröndle, R d n . 5 u. 8 zu § 1 3 0 ; a . A . : Lobse, N J W 1985, 1677ff, 1679.
84
Römer, N J W 1971, 1735 f; Schänke/Schröder/Lenckner, StGB, 1985, R d n . 5 zu
§ 130; S K - R u d o l p h i , 1985, R d n . 4 zu § 130; Dreher/Tröndle, StGB, 1985, R d n . 5 zu § 130;
zweifelnd Lohse, N J W 1971, 1245 ff, 1247 u. N J W 1985, 1677 ff, 1680.
85
W ä h r e n d sich im ersten Fall eine allgemeine Fremdenfeindlichkeit zeigt, die fast n u r
noch als Selbststigmatisierung des Täters verstanden werden kann, wird im zweiten Falle
eine genau konkretisierbare, recht h o m o g e n erscheinende G r u p p e von ausländischen
Mitbürgern mit einem jedes G r u p p e n m i t g l i e d belastenden Negativurteil versehen.
" E b e n s o Lohse, N J W 1985, 1677 ff, 1680; Blau, J R 1986, 82 ff, 83 f. Eine B e r u f u n g auf
den G r u n d s a t z der Kontrahierungsfreiheit wäre im vorliegenden Fall - schon wegen der
D r i t t w i r k u n g v o n Art. 3 III G G - sittenwidrig. D a r ü b e r hinaus kann die Abschlußfreiheit
in keinem Falle d e m Wirt ein Recht zu derart plakativ diskriminierendem Vorgehen geben.
Vgl. z u m ganzen auch Mörtel, Gaststättengesetz, 3. Aufl. 1973, R d n . 34 zu § 1 ; Michel/
Kienzle, Das Gaststättengesetz, 8. Aufl. 1982, R d n . 20 zu § 4 .
522 Franz Streng
90 Unter IV 4.
" Man denke nur an die Dauerfluktuation der Mitglieder durch die aus allen Gesell-
schaftsschichten stammenden Wehrpflichtigen.
92 A . A . : Giehring, StrVert. 1985, 30ff, 32.
93 Wobei speziell in bezug auf Soldaten auch nicht auf Ausnahmesituationen im
Bürgerkrieg verwiesen werden kann; denn auch dabei ist das eigentlich relevante Gruppen-
unterscheidungsmerkmal die politische Überzeugung, die Religionszugehörigkeit oder
ähnliches.
524 Franz Streng
Mord nicht für gerechtfertigte Tötungen benutzt wird. Die hier gezeigte
deutliche Mißbilligung des Tötens im Krieg trägt aber andererseits nicht
die Wertung durch das O L G , die Soldaten seien so „zu Schwerstkrimi-
nellen und damit zu unterwertigen Gliedern der staatlichen Gemein-
schaft" abgestempelt. Denn die Aussage richtet sich offenbar gegen ein
bestimmtes Verhalten, nämlich daß der - natürlich besoldete - Soldat im
Krieg andere Menschen gezielt tötet. Zu Recht entspricht es aber ganz
herrschender Meinung, daß allein das Zuschreiben bestimmter (ehren-
rühriger) Verhaltensweisen noch keinen Menschenwürdeangriff i. S. von
§ 130, nämlich noch keinen Angriff auf den Kern der Persönlichkeit der
Betroffenen darstellt 94 . Ein Beschimpfen oder böswilliges Verächtlich-
machen in der von § 130 geforderten Intensität liegt somit nicht vor' 5 .
Weiterhin sei darauf hingewiesen, daß das Verhalten der Religions-
pädagogin schon nicht den objektiven Erklärungsgehalt aufweist, sie
identifiziere sich mit der Aussage der Collage. Daß sie die Collage nicht
für so mißlungen oder sonst diskussionsunwürdig hielt, daß sie von
einem Ausstellen absah, läßt ja noch nicht den positiven Schluß auf ihre
eigene Haltung zu. Gerade auf der Basis ihrer pädagogischen Aufgabe
mußte sie auch extreme Ansichten zur Ermöglichung einer späteren
Aufarbeitung durch Diskussion zugänglich machen 96 . Von einem
Beschimpfen oder böswillig Verächtlichmachen seitens der Angeklagten
kann daher schon von vornherein nicht die Rede sein.
Außerhalb der im Rahmen dieser Abhandlung zentral interessieren-
den Fragen liegt die im konkreten Fall u. U . erhebliche Frage, ob die
Erstellung und mittelbar dann auch das sichtbar Aufhängen der Collage
etwa durch die Kunstfreiheitsgarantie aus Art. 5 III G G gedeckt ist.
Hierzu nur soviel: Die Ansicht des O L G , die man vergröbert mit
„öffentlicher Frieden geht der Kunstfreiheit vor" wiedergeben kann,
dürfte dem Rang dieser verfassungsrechtlichen Garantie kaum gerecht
werden 97 . Jedenfalls dann, wenn man - wie das O L G Koblenz - die
Volksverhetzungsvorschrift extensiv auslegt und sie zu einem banalen
Ehrenschutz für Gruppenmitglieder umfunktioniert, wird man §130
nicht ohne weiteres als Schranke für die Garantie des Art. 5 III G G
ansehen können.
102 Bemmann, Meinungsfreiheit (Fn. 75), S. 18, will den „schönen, aber vagen Begriff
der Menschenwürde ersetzen durch eine Wendung, die deutlich macht, daß der Regelung
nur solche Hetztiraden unterfallen, mit denen den Betroffenen das Lebensrecht oder das
Menschsein abgesprochen wird".
103 Hinsichtlich Gruppenbeleidigungen könnte ja de lege ferenda von dem Strafantrags-
erfordernis aus § 1941 Abstand genommen werden, um auch ohne Schwierigkeiten in allen
strafwürdigen Fällen von Amts wegen einschreiten zu können.
104 Wie Fn. 1.
Täuschung über einen Tatbeteiligten
nach § 145 d Abs. 2 Nr. 1 StGB
W A L T E R STREE
1
Unberücksichtigt bleiben die Fälle des Vortäuschens einer bevorstehenden rechtswid-
rigen Tat und des Täuschens über den Beteiligten an einer bevorstehenden Tat.
528 Walter Stree
Tat entlaste und damit von ihm ablenke, suche über den Beteiligten an
einer Tat zu täuschen. Entsprechendes ließe sich aber ebensogut vom
Tatbeteiligten selbst sagen, der seine Tatbeteiligung leugnet, sowie von
jemandem, der zugunsten eines Angehörigen als Tatbeteiligten verdacht-
zerstreuende Aussagen macht. Bei ihnen soll jedoch auch nach den
Vertretern der Ansicht, die Ausgangsfrage sei grundsätzlich zu bejahen,
der Tatbestand des § 145 d S t G B einzuschränken und die Täuschungs-
handlung, die auf bloßes Entkräften des Tatverdachts gerichtet ist, vom
Tatbestand auszunehmen sein 6 . Ist aber in diesen Fällen der Gesetzes-
wortlaut nicht ausschlaggebend, so läßt er sich ebensowenig in den
sonstigen Fällen als ausschlaggebend ansehen. Im übrigen wäre es ohne-
hin unangemessen, den Gesetzeswortlaut ohne Berücksichtigung des
Gesetzeszwecks zum maßgeblichen Faktor für die Reichweite einer
Strafvorschrift zu bestimmen, abgesehen von seiner Heranziehung in der
Funktion als Auslegungsschranke.
Zieht man den Gesetzeszweck als weiteren Anknüpfungspunkt für die
Beantwortung der Ausgangsfrage heran, so läßt sich vorab feststellen,
daß er im wesentlichen unterschiedslos beurteilt wird. Sowohl die
Vertreter der Ansicht, die Ausgangsfrage sei zu verneinen, als auch die
Vertreter der Gegenmeinung gehen davon aus, daß die Strafverfolgungs-
organe vor ungerechtfertigter Inanspruchnahme und Verleitung zu
unnötiger Tätigkeit, die sie von der Erfüllung ihrer wirklichen Aufgaben
abhält, bewahrt werden sollen 7 . Unterschiedlich wird dagegen die
Reichweite des strafrechtlichen Schutzes bestimmt. Wer die Ausgangs-
frage verneint, stellt darauf ab, daß nur das unmittelbare Lenken auf eine
falsche Fährte eine ungerechtfertigte Inanspruchnahme der Strafverfol-
gungsorgane sein kann, nicht jedoch das Verhindern einer bestimmten
Ermittlungstätigkeit zur Uberführung des Schuldigen 8 . Andererseits
wird die Bejahung der Ausgangsfrage darauf gestützt, daß bereits das
Ablenken von der richtigen Spur die Strafverfolgungsorgane zu über-
flüssiger Ermittlungstätigkeit mit der Suche nach Spuren zu einem
anderen Tatbeteiligten und somit zu nutzloser Mehrarbeit veranlassen
kann'.
Der Hinweis auf die Möglichkeit überflüssiger Mehrarbeit auch beim
bloßen Ablenken von der richtigen Spur mag im ersten Moment beste-
' So etwa Willms, in: LK, Strafgesetzbuch, 10.Aufl. 1979, § 1 4 5 d Rdn. 11, 17.
7 Eingehend zum Gesetzeszweck Krümpelmann ZStW 96, 1009. Vgl. aber auch
BGHSt. 6, 255, wonach § 145 d StGB die Strafverfolgungsorgane davor schützen soll, daß
sie unberechtigt in Anspruch genommen werden oder unnütze Maßnahmen ergreifen. In
BGHSt. 19, 307 ff wird dagegen nur der Schutz vor ungerechtfertigter Inanspruchnahme
erwähnt.
« Vgl. BayObLG (Fn. 3) m. w. N.
9 Vgl. etwa Willms (Fn.6) Rdn. 16.
530 Walter Stree
chend klingen und der Ansicht, nach der die Ausgangsfrage zu bejahen
ist, eine ausreichende Stütze geben. Nähere Betrachtungen zeigen aber
alsbald die Fragwürdigkeit einer solchen Ansicht. Deren Fragwürdigkeit
geht bereits aus der Gefahr hervor, daß ein bloßes Ablenken von der
richtigen Spur allzu leicht losgelöst von der tatsächlichen Möglichkeit
nutzloser Mehrarbeit dem § 145 d StGB untergeordnet wird und die
Strafvorschrift damit eine unangemessene Ausweitung erfährt, die vom
Gesetzeszweck nicht mehr getragen wird. Daß eine derartige Gefahr
besteht, lassen Beispiele erkennen, die für die Anwendbarkeit des § 145 d
StGB angeführt werden. So soll es genügen, wenn jemand ein von ihm
beobachtetes Verbrechen als bloßen (etwa durch Herabfallen eines Zie-
gels verursachten) Unfall hinstellt10. Die Begründung hierfür, es liege auf
der Hand, daß solche falschen Hinweise die Aufklärung eines Verbre-
chens ernstlich behindern und erschweren könnten, ist zwar in ihrem
Sachgehalt nicht zu bezweifeln; sie trifft aber als Argument für die
Heranziehung des § 145 d StGB nicht den Kern der Sache. Mit dieser
Strafbestimmung soll nicht, wie in BGHSt. 19, 307 zutreffend zum
Ausdruck kommt, jede Behinderung oder Erschwerung der Ver-
brechensaufklärung geahndet werden, sondern nur eine mögliche
Beeinträchtigung der Verfolgungsaufgaben auf Grund unnötiger Ermitt-
lungen, zu denen die Täuschungshandlung verleiten kann. Wer ein
Verbrechen als Unfall hinstellt, verursacht jedoch im allgemeinen keine
unnötigen Ermittlungen. Er unterbindet vielmehr sachdienliche Ermitt-
lungen und kann im Hinblick auf den Schutz der Strafverfolgungsbehör-
den vor ungerechtfertigter Inanspruchnahme nicht anders behandelt
werden als jemand, der jegliches Entdecken eines strafrechtlich bedeut-
samen Geschehens verhindert. Ähnlich verhält es sich in dem Fall, in
dem jemand wahrheitswidrig einen erkennbar Toten als den Täter des
Verbrechens angibt, um dessen Aufklärung sich die Strafverfolgungsor-
gane bemühen". Gegen den Toten ist strafrechtlich nicht viel zu ermit-
teln, so daß auch hier das maßgebliche, vom § 145 d StGB jedoch nicht
erfaßte Unrecht in der Vereitelung sachgemäßer Aufklärung zu erblik-
ken ist. Das Ablenken auf einen erkennbar Toten unterscheidet sich in
seinem Unrechtsgehalt nicht vom Ablenken auf einen anderen, in dessen
Person das ihm zugeschobene Tun nicht die Voraussetzungen einer
rechtswidrigen Tat erfüllt. Ein solches Verhalten fällt nicht unter § 145 d
StGB, unerheblich, ob der Vortäter auf diese Weise sich selbst einer
Bestrafung zu entziehen sucht12 oder ein Dritter dies tut. Mit diesem Fall
ist übrigens auch das Hinstellen eines Verbrechens als Unfall vergleich-
bar. Beide Male wird zwecks Ablenkung von einem Täter ein Sachver-
10
So WUlms (Fn.6) Rdn.16.
11
Für Strafbarkeit nach § 145d StGB auch in diesem Fall Willms (Fn.6) Rdn. 16.
12
So der Sachverhalt, der BGHSt. 19, 305 zugrunde gelegen hat.
Täuschung über Tatbeteiligten nach § 145 d Abs. 2 Nr. 1 StGB 531
13
Im Ergebnis ebenso O L G Celle N J W 1961, 1416, Krümpelmann ZStW 96, 1028 f,
Willms (Fn.6), § 145 d Rdn. 14. Vgl. auch Stree, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch,
Kommentar, 22. Aufl. 1985, §145d Rdn. 14.
14
LM N r . 2 zu § 145 d StGB.
Täuschung über Tatbeteiligten nach § 145 d Abs. 2 Nr. 1 StGB 535
15
BGHSt. 6, 251 (255).
16
Frankel Anm. zu LM Nr. 3 zu § 145 d StGB = BGHSt. 6, 251.
536 Walter Stree
17
Vgl. etwa O L G Hamburg M D R 1949, 309, Dreher/Tröndle, Strafgesetzbuch und
Nebengesetze, 42. Aufl. 1985, §145d Rdn. 7.
Täuschung über Tatbeteiligten nach § 145 d Abs. 2 N r . 1 StGB 537
18
So Dreher/Tröndle (Fn. 17).
" O L G H a m m N J W 1963, 2139.
20
In Anlehnung an den Sachverhalt, über den O L G Hamm (Fn. 19) zu befinden hatte.
538 Walter Stree
Soweit ein derartiger Verdacht nicht vorliegt, soll für die Behörde kein
Anlaß zu irgendwelchen Ermittlungen vorhanden sein und dementspre-
chend der Schutzzweck des § 145 d StGB unberührt bleiben. Wäre ohne
einen bestehenden und auf einen Nichtbeteiligten abgelenkten Verdacht
die Möglichkeit behördlicher Ermittlungen auf Grund der Täuschungs-
handlung undenkbar, so wäre der tatbestandlichen Einschränkung unbe-
denklich zuzustimmen. Die Möglichkeit behördlicher Ermittlungen
hängt jedoch keineswegs vom objektiven Bestehen des Verdachts einer
rechtswidrigen Tat ab. Sie ergibt sich bereits, wenn die Angaben gegen-
über der Behörde, mit denen über einen Tatbeteiligten getäuscht werden
soll, einen hinreichenden Verdacht erregen können. Ob ein Verdacht
wirklich erregt wird, ist für die Anwendbarkeit des § 145 d StGB ebenso
wie beim Vortäuschen einer rechtswidrigen Tat unerheblich, da ein
Täuschungserfolg nicht erzielt zu sein braucht. Gegenüber dem Vortäu-
schen einer rechtswidrigen Tat sind bei der Täuschung über einen
Tatbeteiligten aber auch sonst keine strengeren Voraussetzungen ange-
bracht. Ebensowenig wie beim Vortäuschen einer rechtswidrigen Tat
objektiv ein die Strafverfolgungsbehörden zu Ermittlungen veranlassen-
der Verdacht bestehen muß, kann ein solcher Verdacht bei der Täu-
schung über einen Tatbeteiligten verlangt werden. Zwar dürften die
Hauptfälle einer derartigen Täuschung bei irriger Annahme einer rechts-
widrigen Tat die Fälle sein, in denen objektiv schon ein Verdacht
vorhanden ist und der Täter diesen zur Bezichtigung eines anderen
ausnutzt, der mit der Sache nichts zu tun hat. Aber das ist kein Grund,
die Fälle, in denen nur der Täter eine bestimmte Person einer rechtswi-
drigen Tat verdächtigt und mit seiner Anzeige einen anderen in Verdacht
zu bringen sucht, aus dem Strafbereich des § 145 d StGB auszuklam-
mern. Die Einschränkung der tatbestandlichen Voraussetzungen gegen-
über dem Vortäuschen einer rechtswidrigen Tat verbietet sich im übri-
gen schon deswegen, weil ohne Bestehen des Verdachts einer rechtswi-
drigen Tat die Unterrichtung der Strafverfolgungsbehörde unter § 145 d
Abs. 1 Nr. 1 StGB fallen würde, hätte beim Täter keine Fehlvorstellung
vorgelegen. Ein Tatbestandsausschluß läßt sich mithin nur in dem
Rahmen billigen, wie er beim Vortäuschen einer rechtswidrigen Tat
vertreten wird. Er beschränkt sich demgemäß auf Täuschungshandlun-
gen, bei denen für die Strafverfolgungsorgane von vornherein die Nicht-
erforderlichkeit behördlicher Ermittlungen offensichtlich ist.
Verdachtsgrundlage und Verdachtsurteil
- Zum Begriff des „Verdächtigens" gemäß § 164 S t G B -
WINRICH LANGER
I.
Die aufgeworfene Frage läßt sich nur im Wege einer umfassenden
Untersuchung des Verdächtigungsbegriffs beantworten, ebenso wie
auch die Lösung des scheinbar nur punktuellen Auslegungsproblems
durch das Bayerische Oberste Landesgericht nicht ohne eine solche
grundlegende Begriffsklärung als Maßstab sachgerecht gewürdigt wer-
den kann.
Sucht man die Definitionen des Merkmals „verdächtigen" i. S. von
§164 Abs. 1 StGB durch Schrifttum und Rechtsprechung in ihrem
gemeinsamen Kern wie in ihren Unterschieden herauszuarbeiten und an
den allgemein anerkannten Kriterien der Gesetzesauslegung zu messen,
dann findet man als vorläufige Umschreibungen, „verdächtigen" sei das
Äußern eines Verdachts 5 oder das Hervorrufen, Umlenken oder Verstär-
ken eines Verdachts 6 .
1. Es liegt nahe, diesen sehr weiten und relativ unbestimmten Vorbegriff
schon durch eine genauere Ermittlung des Wortsinns von „verdächtigen"
zu präzisieren. Bei der Frage nach den möglichen Bedeutungen dieses
Ausdrucks im allgemeinen Sprachgebrauch wird man im Wissen um die
strafrechtsdogmatischen Kontroversen über die Definition des Merk-
mals „verdächtigen" vor allem darauf achten, ob schon der Wortsinn
eine Beschränkung der Verdachtsvermittlung auf verbale Äußerungen,
insbesondere auf Tatsachenbehauptungen, enthält; denn wenn statt des-
sen die sog. Beweislagenfälschung zur Erfüllung des Merkmals „ver-
dächtigen" hinreicht, kann schon das die Beweislage zum Nachteil eines
Dritten verändernde Leugnen des Beschuldigten als „Verdächtigen" zu
beurteilen sein (mit der Folge, daß der Beschluß des Bayerischen Ober-
sten Landesgerichts zu diesem Merkmal anders zu bewerten ist, als wenn
man davon ausgeht, daß das Verdächtigen eine Behauptung erfordert).
Achten wird man zum anderen darauf, ob nach dem Wortsinn die
Verdächtigungshandlung auf das Verdachtsurteil, auf die Verdachts(tat-
sachenjgrundlage oder auf beide bezogen ist, da auch diese Unterschei-
dung das Verneinen einer strafbaren Verdächtigung durch das Gericht
beeinflußt haben kann.
Die philologischen Hilfsmittel beantworten die erste Frage wider-
sprüchlich, die zweite überhaupt nicht: So wird „verdächtigen" einer-
5
BGHSt. 14, 240 (246).
' Vgl. beispielhaft Herdegen in Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar (10. Aufl.,
1979), § 164 Rdn. 5; Lackner (Fn. 2), § 164 Anm. 3 a, aa; Dreher/Tröndle, Strafgesetzbuch
(42. Aufl., 1985), § 164 Rdn. 3. - Die im Text nachfolgend vorgenommene Inhaltsbestim-
mung bezieht sich ausschließlich auf die derzeit geltende Gesetzesfassung. Zur Beurteilung
einzelner Vorschläge zur Gesetzesreform vgl. Langer, Die falsche Verdächtigung (1973),
18 ff.
Verdachtsgrundlage und Verdachtsurteil 543
seits bestimmt unter Beschränkung auf das verbale Äußern eines Ver-
dachts als „einen Verdacht aussprechen" 7 und „für möglicherweise
schuldig erklären, anschwärzen, bezichtigen" 8 , andererseits jede Ver-
dachtsverursachung umfassend als „einen verdächtig machen"', wie auch
beide Bedeutungen umgreifend als „verdächtig machen, in Verdacht
bringen, einen Verdacht gegen jemanden äußern" 10 . Keine dieser Wen-
dungen enthält auch nur im Ansatz eine mögliche Differenzierung
zwischen der Tatsachengrundlage des hervorzurufenden Verdachts und
dem Verdachtsurteil. Es ist deshalb davon auszugehen, daß jedenfalls
rein sprachlich alle hier genannten Deutungen des § 164 Abs. 1 StGB
durch das Merkmal „verdächtigen" abgedeckt sind, d. h. daß sich allein
aus dessen Wortsinn keine präzisierende Einschränkung des Vorbegriffs
ergibt.
7
DUDEN, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Band 6 (1981), 2737.
8
Der Sprach-Brockhaus (6. Aufl., 1952), 727.
' Grimm, Deutsches Wörterbuch, 12. Band I.Abteilung (1956), Sp. 189.
10
Trübners Deutsches Wörterbuch, Siebenter Band (1956), 400.
11
Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches mit Begründung (Reichs-
tags-Drucksache III/3390), 97 f.
12
Eine Ausnahme bilden insoweit die Stellungnahmen durch Rösch und Schaßeutle,
Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission Bd. 13, 297.
544 Winrich Langer
15
Niederschriften Bd. 13 (Fn. 12), 679.
14
Bundestagsdrucksache III/2150, 585.
15
Bundesratsdrucksache 1/72, 16; 222.
Verdachtsgrundlage und Verdachtsurteil 545
der Verletzungsart für das Straftatunrecht vgl. im einzelnen Langer, Das Sonderverbrechen
(1972), 350 ff.
21 Blei, GA 1957, 144.
546 Winrich Langer
Aber auch die „rechtswidrige Tat", die den Gegenstand des hervorzuru-
fenden Verdachts bilden soll, wird im Gegensatz zum Verdächtigen
durch Tatsachenbehauptungen bei der Beweislagenfälschung in der
Regel nicht genau gekennzeichnet, so daß es dem Zufall überlassen
bleibt, ob hernach der „richtige" Argwohn geschöpft wird. - Selbst
hinsichtlich des Adressaten der Verdächtigung, über den bei einer
verbalen Erklärung kaum jemals ein Zweifel besteht, wird im Falle der
Beweislagenfälschung - soweit sie nicht ausnahmsweise einmal unmittel-
bar „bei" einer Behörde erfolgt - meist keine Eindeutigkeit gegeben sein.
Bezeichnenderweise erging die ersichtlich einzige veröffentlichte Ent-
scheidung des Bundesgerichtshofs zur Beweislagenfälschung24 zu einem
Sachverhalt, in dem der Verdacht aufgrund einer verfälschten Beweislage
eine ganz andere Person traf als die, die der Täter zu verdächtigen
trachtete. Genaugenommen handelte es sich selbst hier gar nicht um eine
bloße Beweislagenfälschung, sondern um ein Verdächtigen durch Tatsa-
chenbehauptung; denn nach einer Reihe von Diebstählen hatte die
Verletzte bei der Polizei eine Anzeige erstattet, aufgrund derer dann die
Polizei die Diebesfalle stellte, so daß sich die genaue Bestimmung der
„rechtswidrigen Tat" und des Verdächtigungsadressaten gar nicht aus
der Beweismittelfiktion, sondern aus der Strafanzeige und den in ihr
enthaltenen Tatsachenbehauptungen ergab.
Damit ist bereits ein zweiter Aspekt angesprochen, unter dem sich die
Beweislagenfälschung vom „Verdächtigen" unterscheidet, nämlich ihre
Bedeutungslosigkeit in der Strafrechtspraxis 25 . Auch kriminalpolitisch
besteht somit kein Bedürfnis, solche nach § 145 d StGB strafbaren
Handlungen durch ihre Einbeziehung in das Merkmal „verdächtigen"
künftig aus der schärferen Strafvorschrift des §164 Abs. 1 StGB zu
ahnden. Schließlich liegt es auch im übrigen auf der Linie des Strafge-
setzbuches, Angriffe auf die Rechtspflege durch Äußerungen über Tat-
sachen umfassend unter relativ hohe Strafdrohungen zu stellen (so in den
Aussagedelikten, §§153 ff StGB), Angriffe durch Beweislagenfälschung
hingegen eher punktuell und indirekt unter vergleichsweise milde Straf-
androhungen (so etwa in den §§258, 274 StGB). Insoweit würde man
mit der Erstreckung des Merkmals „verdächtigen" in § 164 Abs. 1 StGB
24
BGHSt. 9, 240.
25
Nach Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch (10. Aufl., 1961), §164 A n m . I I 2 , erfolgen
9 0 % der Straftaten nach §164 StGB durch Anzeigen und 8 % durch Verdächtigungen
anläßlich von Vernehmungen als Zeuge oder Beschuldigter. Nach Groß/Geerds, Hand-
buch der Kriminalistik, Band 1 (10. Aufl., 1977), 419 f, werden etwa 8 0 % aller Falschver-
dächtigungen durch Erstattung von Strafanzeigen und etwa 20 % bei Aussagen als Zeuge
oder Beschuldigter begangen. Beweislagenfälschungen kommen, obwohl sie von der zur
Zeit herrschenden Ansicht als Begehungsform anerkannt sind, im statistischen Material zu
§164 StGB nicht vor.
548 Winrich Langer
II.
Ist das „Verdächtigen" in § 164 Abs. 1 S t G B somit tatbestandlich auf
das Äußern eines Verdachts durch Tatsachenbehauptung beschränkt, so
ist im Hinblick auf den Gesetzeszweck weiter zu fragen, wie diese
Merkmale inhaltlich zu bestimmen sind und ob der strafprozessualen
Form der Äußerung Relevanz für den Verdächtigungsbegriff zukommt.
" BGHSt. 14, 240 (244), mit überzeugender historischer und gesetzessystematischer
Begründung; Lackner ( F n . 2 ) , § 1 6 4 Anm. 3 a, aa; Schmidhäuser, Strafrecht Besonderer
Teil (2. Aufl., 1983), 6/8. - Mit der Hinnahme dieser nach geltendem Gesetz zwingenden
Interpretation des Merkmals „verdächtigen" i. S. d. § 164 Abs. 1 StGB ist kein Urteil über
die sachgerechte Gesetzesfassung de lege ferenda abgegeben. Vgl. dazu Langer (Fn. 6), 19,
68 f.
Verdachtsgrundlage und Verdachtsurteil 549
32
BGHSt. 14, 240 (245 f).
33
BGHSt. 14, 240 (246).
34
Dreher/Tröndle (Fn.6), §164 Rdn. 4; Schönke/Schröder/Lenckner, Strafgesetzbuch
(22. Aufl., 1985), §164 Rdn. 7; Herdegen in LK (Fn.6), §164 Rdn.6.
35
Herdegen in LK (Fn.6), §164 Rdn. 6.
36
Welzel, Das Deutsche Strafrecht (11. Aufl., 1969), 521; Schönke/Schröder/Lenckner
(Fn. 34), §164 Rdn. 7.
37
Herdegen in LK (Fn. 6), § 164 Rdn. 6; Rudolphi in Systematischer Kommentar zum
Strafgesetzbuch, Band II (Stand: Oktober 1982), § 164 Rdn. 6.
39
BGHSt. 13, 219 (220 f).
39
RGSt. 69, 173 (174); BGHSt. 18, 204 (205); Dreher/Tröndle (Fn.6), §164 Rdn.4;
Welzel (Fn. 36), 521.
550 Winrich Langer
2. Fragt man sodann nach dem vom Merkmal „verdächtigen" gem. § 164
Abs. 1 S t G B vorausgesetzten Inhalt jener Behauptungen, so erkennt
man ihn in der Mitteilung eines Verdachts.
In der Regel wird diese Mitteilung unter Nennung der Tatsachen und
des aus ihnen abgeleiteten Schlusses erfolgen, also die Verdachtsgrund-
lage und das Verdachtsurteil umfassen. Damit stellt sich die Frage, ob
erst beide Momente zusammen die Tatbestandshandlung begründen,
d. h. ob begriffsnotwendig erst die Mitteilung der Verdachtsgrundlage
und des Verdachtsurteils das Merkmal „verdächtigen" i. S. von § 1 6 4
Abs. 1 S t G B erfüllt. Den Maßstab für ihre Beantwortung bildet die
Eignung der Äußerungen, behördliche Maßnahmen gegen den Bezich-
tigten zu veranlassen. Gleichgültig, ob man „diese Eignung (für) ein
ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der Bestimmung" 40 hält oder aber
für ein Merkmal des „Verdächtigens" selbst 4 ', hängt von der Definition
dieser „Eignung" der Umfang des nach § 164 Abs. 1 S t G B strafbaren
Verhaltens entscheidend ab.
42
Köhler, Die falsche Verdächtigung; Der Gerichtssaal Bd. 111, 289 ff.
43
Köhler (Fn. 42), 298.
44
Köhler (Fn. 42), 302.
552 Winrich Langer
45
Vgl. hierzu oben, Fn. 6.
46
Dreher/Tröndle (Fn. 6), Rdn. 13 vor § 13; Bohnert, JuS 1984, 183.
47
Lackner (Fn.2), Vorbem. IV3 vor §13.
48
BGHSt. 23, 313 (315f); Schmidbauer (Fn. 19), 8/103.
49
Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil (3. Aufl., 1978), 212.
50
Wessels, Strafrecht Allgemeiner Teil (15. Aufl., 1985), 6.
51
Allgemeine Auffassung, vgl. beispielhaft Lackner (Fn. 2), § 306 Anm. 1 ; Schmidhäu-
ser (Fn. 19), 8/103; Otto, Grundkurs Strafrecht, Die einzelnen Delikte (2. Aufl., 1984),
380.
Verdachtsgrundlage u n d Verdachtsurteil 553
52
B G H S t . 26, 121 (123).
5Î
Das „abstrakte Gefährdungsdelikt" ist eine Straftat, bei der der tatbestandliche
Rechtsgutsangriff (mindestens in der F o r m der konkreten G e f ä h r d u n g eines Rechtsgutes),
der als solcher gar nicht o d e r n u r geringer strafbar ist, wegen seiner im Gesetz benannten -
strafwürdigkeitssteigernden - generellen Gefährlichkeit f ü r weitere ranghohe Rechtsgüter
unter eine verschärfte S t r a f a n d r o h u n g gestellt w o r d e n ist. Mit dieser Begriffsbestimmung,
die der Verfasser bisher erst ansatzweise entwickelt hat (vgl. Langer [Fn.20], 336, 350 ff)
u n d deren ausführliche B e g r ü n d u n g an anderer Stelle erfolgen wird, wird z w a r die Vielfalt
der tradierten Definitionen des abstrakten Gefährdungsdelikts u m eine weitere ergänzt; sie
ist aber gesamtsystematisch fundiert u n d entschärft den aktuellen Streit u m die Existenz-
berechtigung dieser Rechtsfigur.
54
Langer (Fn.20), 354; von den Besonderheiten, die beim U n t e r n e h m e n s d e l i k t d u r c h
die Einbeziehung des untauglichen Versuchs in den Vollendungsbereich entstehen, darf
hier abgesehen werden.
554 Winrich Langer
gen im Einzelfall hierzu nicht in der Lage sind, sind sie sowohl für die
Rechtspflege als auch für den von deren Maßnahmen potentiell betroffe-
nen Bezichtigten konkret ungefährlich und damit als solche nicht straf-
würdig: Eine Strafbarkeit ungefährlicher Handlungen kennt unsere
Rechtsordnung nur in den Fällen des sog. untauglichen Versuchs. Aber
auch diese Fallgestalt ist bei der „Falschen Verdächtigung" (§ 164 StGB)
mit der Entscheidung des Gesetzgebers, den Versuch hier allgemein
straflos zu lassen, als nicht strafwürdig erklärt worden. Die gleiche
Beurteilung lag auch den Bestrebungen in der Großen Strafrechtskom-
mission zugrunde, das Erfordernis der konkreten Gefährdung ausdrück-
lich im Gesetz zu verankern, dergestalt, daß „auch bei der Verdächti-
gung im engeren Sinne (§ 164 Abs. 1) die Eignung, ,zu der beabsichtigten
Folge zu führen', nachgewiesen werden muß" 55 . Von einer (im Wege der
Auslegung zu schließenden) Gesetzeslücke kann angesichts der eindeu-
tig so gewollten Regelung des Strafbarkeitsumfangs durch den Gesetz-
geber keine Rede sein.
Wann aufgrund des Inhalts der Behauptungen die konkrete Gefahr
besteht, daß ein behördlicher Verdacht hervorgerufen wird, hängt in
erster Linie von der Art des in Betracht kommenden Verfahrens oder
Verfahrensabschnitts ab: Für den sog. Anfangs verdacht56 als dem Aus-
gangspunkt des strafprozessualen Ermittlungsverfahrens ist auch an
verdachtsbegründenden Tatsachen weniger erforderlich als für die
Anklageerhebung57. Das Merkmal „verdächtigen" i. S. von §164 Abs. 1
StGB ist insoweit immer schon dann erfüllt, wenn das zu irgendeiner
tatbestandsmäßigen Verfahrensveranlassung erforderliche Minimum an
Tatsachen behauptet worden ist; ausreichend ist also die Mitteilung
solcher tatsächlicher Anhaltspunkte58, die geeignet sind, hinsichtlich
einer „rechtswidrigen Tat" i. S. von §11 Abs. 1 Nr. 5 StGB den sog.
Anfangsverdacht hervorzurufen59 oder in bezug auf die „Verletzung
einer Dienstpflicht" die sog. Vorermittlungen gem. §26 Abs. 1 B D O zu
veranlassen.
gungen reichen hingegen für die Aufnahme von Ermittlungen nicht aus; so zutreffend
O L G Hamburg, N J W 1984, 1635 (1636).
Verdachtsgrundlage und Verdachtsurteil 555
Im übrigen ist für das Merkmal „verdächtigen" i.S. von §164 Abs. 1
StGB als Außerungsinhalt nur ein Tatsachenvorbringen vorausgesetzt,
das das bereits vorhandene Tatsachenwissen des Verdächtigungsadressa-
ten 50 vervollständigt, daß sich aus dieser Verdachtsgrundlage die vorge-
worfene Tat, der Verdächtigte und die Verfolgungsbehörde bestimmt
ergeben. Was damit im einzelnen an Behauptungen verlangt ist, läßt sich
allgemeingültig nicht näher präzisieren, weil es entscheidend von den
spezifischen Bedingungen der Tatsituation abhängt. So kann die gleiche
Bekundung wegen unterschiedlicher äußerer Umstände im Hinblick auf
den hervorzurufenden Argwohn verschiedene Bedeutung haben. So
wird beispielsweise die Erklärung eines Kraftfahrzeuginsassen gegen-
über der Verkehrspolizei, seine sich gleichfalls im Fahrzeug befindende
Ehefrau sei die Fahrerin gewesen, im Regelfall keinerlei Verdacht gegen
die Ehefrau begründen können; gibt der Ehemann die gleiche Erklärung
nach der Verursachung eines Unfalls ab, so wird sie zumeist durchaus
geeignet sein, einen verfahrensveranlassenden Verdacht gegen die Ehe-
frau zu wecken; ist (bei wiederum gleicher Erklärung) die Ehefrau auch
noch hochgradig alkoholisiert, so lassen sich kaum Umstände denken,
unter denen die konkrete Gefahr der Verdachtserregung gegen sie noch
zu verneinen sein könnte 60 .
Die Eignung der mitgeteilten Verdachtstatsachen, den Adressaten
zum Verdachtsurteil zu führen, hängt jedoch nicht nur von den situa-
tionsbedingten äußeren Umständen, sondern auch von dessen bereits
vorhandener Tatsachenvorstellung ab. Zur Erfüllung des Merkmals
„verdächtigen" i. S. von § 164 Abs. 1 StGB ist deshalb nicht erforderlich,
daß der Täter die vollständige Tatsachenbasis für die Bezichtigung
liefert. Hinreichend sind vielmehr immer schon solche Behauptungen,
durch die die Tatsachenvorstellungen des Adressaten zu einer vollständi-
gen, d. h. zur Begründung eines verfahrensveranlassenden Argwohns
geeigneten Verdachtsgrundlage ergänzt werden. Hierfür kann die
Bekundung einer einzelnen, für sich völlig unverfänglichen Tatsache
genügen. Die abstrakte Eignung des Behauptens zum Wecken des
Verdachts ist somit für die Verdächtigungshandlung nicht nur nicht
ausreichend, sondern auch nicht notwendig. - Entgegen dem ersten
Anschein wird mit dieser Interpretation des Merkmals „verdächtigen",
die die Gesamtheit der objektiven Tatumstände und der bereits vorhan-
denen Tatsachenvorstellungen des Verdächtigungsadressaten in die
Bestimmung der Eignung des Täterhandelns zur Konstituierung der
Verdachtsgrundlage einbezieht, die Strafbarkeit nach § 164 Abs. 1 StGB
nicht unangemessen ausgedehnt. Denn nicht jede Verdächtigung, son-
60
Vgl. hierzu den instruktiven Sachverhalt der Entscheidung des O L G Hamm, VRS
35, 425.
556 Winrich Langer
dem erst eine „falsche" begründet das Unrecht dieses Vergehens, das in
subjektiver Hinsicht durch das weitere Korrektiv des sicheren Tatbe-
wußtseins, welches für das Handeln „wider besseres Wissen" vorausge-
setzt ist, zusätzlich eingeschränkt wird.
Das Verdächtigen kann auch durch Bestärken eines bereits bestehen-
den Verdachts erfolgen: Eine selbst schon zur Verfahrensveranlassung
hinreichende (insoweit vollständige) Verdachtsgrundlage kann ihrerseits
noch verbreitert wie auch gefestigt werden. So kann etwa nach der
übereinstimmenden verdachtsbegründenden Aussage zweier Zeugen ein
dritter durch seine Bestätigung die Verdachtsgrundlage noch bekräftigen
wie sie auch durch neue tatsächliche Angaben erweitern. Vermag hinge-
gen der dritte Zeuge nur einen Teil der Behauptungen der beiden
anderen zu bestätigen und bleibt seine Aussage selbst insoweit relativ
unbestimmt, dann fehlt ihr die konkrete Eignung zum Festigen der
Verdachtsgrundlage - sie „verdächtigt" nicht i. S. von §164 Abs. 1
StGB.
Damit liegt die Frage nahe, ob ein für sich verdachtsbegründendes
Vorbringen diese Eignung dadurch verlieren kann, daß der Täter
zugleich entlastende Tatsachen vorträgt. Zu denken ist etwa an den
Führer eines Kraftfahrzeugs, der nach Verursachung eines Verkehrsun-
falls mit Drittschaden der Polizei gegenüber seinen Beifahrer als Fahr-
zeugführer ausgibt und zugleich Tatsachen benennt, aus denen sich
dessen korrekte Fahrweise ergibt61. Ob hier ein „Verdächtigen" anzu-
nehmen ist, hängt nach den vorstehend entwickelten Grundsätzen nicht
davon ab, ob die Äußerung mehr Belastendes oder mehr Entlastendes
enthält. Entscheidend ist vielmehr, ob der „Saldo" der Behauptungen in
Verbindung mit den äußeren Umständen der Tatsituation sowie mit den
schon vorhandenen Tatsachenvorstellungen der Adressaten eine zur
Auslösung eines behördlichen Verfahrens noch ausreichende Verdachts-
grundlage bildet. Wo dies zu verneinen ist, sind die Begriffsmerkmale
des Verdächtigens nicht erfüllt.
Andererseits genügt zur Erfüllung des Verdächtigungsbegriffs jede
konkrete Eignung des Bezichtigens, einen Verdacht und damit ein
behördliches Verfahren herbeizuführen. Auf den Grad der Wahrschein-
lichkeit, mit der der Adressat aus den behaupteten Tatsachen das Ver-
dachtsurteil folgern wird, kommt es nicht an. O b dieser Schluß für ihn
möglich, naheliegend oder zwingend ist, ist für den Begriff des Verdäch-
tigens irrelevant. Notwendig, aber auch hinreichend ist allein die kon-
krete Gefährlichkeit der Äußerung, den verfahrensveranlassenden Ver-
dacht zu wecken.
werden können und dies nicht selten auch geschieht; die auf ein konkre-
tes Geschehen bezogene Äußerung beispielsweise, jemand habe einen
Meineid geschworen, ist nicht lediglich eine bloße Rechtsausführung im
oben genannten Sinne.
Auch das Äußern eines reinen Verdachtsurteils gegenüber den Ermitt-
lungsbehörden (etwa in der Form: man behalte sich vor, wegen eines
bestimmten Vergehens Strafantrag zu stellen67) erfüllt den Verdächti-
gungsbegriff nicht. Insoweit fehlt es nicht schon an einer Tatsachenbe-
hauptung: Zwar kann der These, „der falsche Verdacht enthält die
falsche Tatsache einer angeblich begangenen Tat" 6 8 , nicht gefolgt wer-
den; schon das Wort „angeblich" offenbart, daß es hier in Wahrheit
doch nur um ein Werturteil geht. Aber auch die Mitteilung des bloßen
Verdachtsurteils in einer Strafanzeige enthält die Behauptung einer
Tatsache, nämlich der inneren Tatsache der Uberzeugung des Anzeigen-
den von der Tatbegehung durch den Angezeigten 69 . Diese Tatsache
jedoch ist jedenfalls für sich allein, d.h. ohne zusätzliche äußere
Anknüpfungstatsachen, nicht geeignet, bei rechtlich zutreffender Wür-
digung einen verfahrensauslösenden Verdacht zu wecken.
Außerordentlich vielfältig sind die (gleichfalls nicht hinreichenden)
Formen des qualifizierten Verdachtsurteils, d.h. derjenigen Sachver-
haltsgestaltungen, in denen die Äußerung neben dem Verdachtsurteil
auch Gründe hierfür enthält, diese Gründe aber nicht genügen, um das
Urteil zu tragen, so daß es an der für das Merkmal „verdächtigen" i. S.
von § 164 Abs. 1 StGB erforderlichen Verdachtsgrundlage fehlt: So kann
sich der Verdacht beispielsweise als logisch falsche Folgerung aus dem
Tatsachenvorbringen darstellen70. Weitaus häufiger noch wird das geäu-
ßerte Verdachtsurteil auf einer falschen rechtlichen Würdigung des
zugleich mitgeteilten Sachverhalts beruhen 71 . Die fehlende Verdachts-
grundlage kann durch eine (als solche kenntlich gemachte) tatsächliche
Vermutung ersetzt sein72 wie auch durch das Ausspielen von sachlicher
oder persönlicher Autorität, was erfahrungsgemäß jeweils faktisch zur
Veranlassung behördlicher Maßnahmen ausreichen kann. Nicht selten
erfolgt eine Substitution der Verdachtsgrundlage in der Weise, daß
belastende Behauptungen aufgestellt werden, die einen ganz anderen
(sekundären) Verdacht tragen, wobei dann mit Hilfe dieser wirklichen
Verdächtigung suggeriert wird, auch das primäre Verdachtsurteil sei
77
Vgl. hierzu oben, S. 559.
78
So die derzeit fast einhellige Auffassung; anders nur Hirsch, Schröder-Gedächtnis-
schrift (1978) 307 ff, und Schmidbauer (Fn.31), 6/6.
79
Vgl. oben, S.547 Fn.25.
80
Kleinknecht/Meyer (Fn. 56), § 158 Rdn. 2; Rainer Müller in Karlsruher Kommentar
zur Strafprozeßordnung (1982), § 158 Rdn. 2; enger wohl Meyer-Goßner in Löwe-Rosen-
herg, Strafprozeßordnung (23. Aufl., 3. Band, 1978), §158 Rdn. 1.
Verdachtsgrundlage und Verdachtsurteil 561
nis ebenso beurteilt worden wie hier: Ohne Mitteilung einer zureichen-
den Verdachtsgrundlage, also in Ermangelung geeigneter tatsächlicher
Anhaltspunkte für einen verfahrensauslösenden Verdacht, wird eine
Äußerung nicht schon dadurch zum „Verdächtigen" i. S. von § 1 6 4
Abs. 1 S t G B , daß sie in der prozessualen Form der Strafanzeige erfolgt 82 ,
und zwar selbst dann nicht, wenn auf diese Anzeige hin ein Ermittlungs-
verfahren durchgeführt wird 83 .
b) Die Frage nach der möglichen Relevanz der prozessualen Form einer
Äußerung für das „Verdächtigen" wird zum anderen gestellt im Hin-
blick auf Bekundungen anläßlich strafprozessualer Vernehmungen, und
zwar wird sie im Gegensatz zur zuvor erörterten Fallgestalt der Bege-
hung durch Strafanzeige hier gestellt in der Intention einer Einschrän-
kung des Verdächtigungsbegriffs.
Soweit es um Aussagen von Zeugen geht, hat sich bereits oben ein
spezifischer Einfluß auf die Bestimmung des „Verdächtigens" nicht
feststellen lassen; ob die Mitteilung der Verdachtstatsachen aus eigenem
Antrieb oder aufgrund der gesetzlichen Zeugnispflicht erfolgt, hat sich
als insoweit unerheblich erwiesen. Auch das bloße Leugnen des Ange-
klagten erfüllt, wie bereits gezeigt, niemals das Merkmal „verdächtigen"
i. S. von § 164 Abs. 1 S t G B .
Problematisch bleibt damit allein das sog. qualifizierte Leugnen des
Angeklagten, d . h . das bei seiner Vernehmung erfolgende Bestreiten
eigener Tatbegehung unter gleichzeitiger Bezichtigung eines Dritten.
Diese Fremdbezichtigung kann sich auf dieselbe Tat wie das eigene
Leugnen beziehen (es bestreiten z . B . nach einer Verkehrsstraftat die
beiden Insassen eines Kraftfahrzeugs, dieses geführt zu haben, und
bezeichnen den jeweils anderen als Fahrzeugführer), sie kann aber auch
eine ganz andere, nur mittelbar das Leugnen betreffende Tat des Bezich-
tigten zum Gegenstand haben (ζ. B. erhebt der die Tat bestreitende
Angeklagte in bezug auf den ihn belastenden Zeugen unter Angabe von
Tatsachen den Vorwurf eines Aussagedelikts, einer Falschverdächtigung
oder einer Verleumdung). Die Beurteilung schon der ersten Fallgestalt
unter dem hier behandelten Frageaspekt ist kontrovers: Während die
eine Auffassung der prozessualen Form der Erklärung keine einschrän-
kende Wirkung beimißt, also die unter Behauptung von Tatsachen
erfolgende ausdrückliche Bezichtigung eines potentiell Beteiligten durch
den leugnenden Beschuldigten als ein „Verdächtigen" kennzeichnet 84 ,
verneint die (mehrheitlich vertretene) Gegenansicht hier die Erfüllung
dieses Merkmals mit dem Hinweis, der schon durch das bloße Leugnen
III.
Um zu ermessen, ob und inwieweit der eingangs angeführte Beschluß
des Bayerischen Obersten Landesgerichts 87 mit der oben erarbeiteten
Inhaltsbestimmung des Merkmals „verdächtigen" in Einklang steht, ist
eine summarische Wiedergabe der Gründe jenes Beschlusses unumgäng-
lich:
85
Schänke/Schröder/Lenckner (Fn.34), §164 Rdn.5; Herdegen in L K (Fn.6), §164
Rdn. 6; Rudolphi in SK (Fn. 37), § 164 Rdn. 9.
86 O L G Hamm, N J W 1965, 62.
87 B a y O b L G J Z 1985, 753 f.
564 Winrich Langer
schaft ohne sicheres Wissen von der Unwahrheit, das sie nicht hatte, auf
eine Prüfung nicht verzichten durfte. Aufgrund dieses zureichenden
Anfangsverdachts hat sie deshalb pflichtgemäß das Ermittlungsverfahren
gegen den Zeugen durchgeführt. Nach der (nicht näher begründeten)
Meinung des Bayerischen Obersten Landesgerichts hingegen bestand ein
solcher Anfangsverdacht hier nicht. Wenngleich also das Gericht auch
nicht wegen angeblich mangelnder Eignung des vom Angeklagten
gegenüber dem Zeugen erhobenen Meineidsvorwurfs zum Wecken eines
verfahrensveranlassenden Verdachts das Merkmal „verdächtigen" ver-
neint hat, so kann seiner Ansicht über das Fehlen dieser Eignung doch
nicht gefolgt werden.
c) Wie oben gezeigt, ist damit notwendig auch für den Sachverhalt des
Beschlusses das Verneinen des gem. §164 Abs. 1 StGB tatbestandsmäßi-
gen „Verdächtigens" fehlerhaft begründet.
Zu fragen bleibt, ob außer der falsch beurteilten Vergleichsbasis auch
der Vergleich selbst unrichtig ist, weil die angebliche Gleichwertigkeit
zwischen den miteinander verglichenen Fallgestalten in Wirklichkeit
nicht besteht. Waren im Vergleichssachverhalt das Leugnen und die
Begehungsbezichtigung auf eine und dieselbe Tat bezogen, so leugnet im
Beschluß-Fall der Angeklagte die ihm vorgeworfene Deliktsbegehung
und bezichtigt zugleich einen ihn belastenden Zeugen der falschen
eidlichen Aussage, also einer ganz anderen Tat. Selbst wenn man fälsch-
lich dort ein Verdächtigen gem. § 1 6 4 Abs. 1 S t G B verneint hat, wo
leugnend zugleich die Begehung derselben Tat durch den alternativ als
Täter in Betracht kommenden Dritten behauptet wurde, darf man
folgerichtig den vom Angeklagten in bezug auf den ihn belastenden
Zeugen erhobenen Meineidsvorwurf nicht gleichsetzen: Gegenüber dem
(begrifflich auf die angeklagte Tat beschränkten) bloßen Leugnen wird
mit dem Behaupten der falschen eidlichen Aussage des Zeugen das
Tatsachenvorbringen durch den Angeklagten um eine neue Dimension
so erweitert, daß es offensichtlich als Grundlage für einen verfahrensver-
anlassenden Verdacht in Betracht kommt. N o c h deutlicher als schon im
Vergleichsfall kann das damit in allen seinen Merkmalen festgestellte
„Verdächtigen" i. S. von § 164 Abs. 1 S t G B hier - entgegen dem Bayeri-
schen Obersten Landesgericht - auch nicht unter dem Aspekt der
Selbstbegünstigung noch verneint werden: Unabhängig von der oben
aufgewiesenen Ambivalenz im Hinblick auf die Strafwürdigkeit kann es
unter dem Gesichtspunkt der Selbstbegünstigung zu einer Strafein-
schränkung jedenfalls nur insoweit kommen, als nicht - gemessen an
dem generell vom Recht hingenommenen Umfang selbstbegünstigenden
Handelns - unnötige Rechtsgutsverletzungen begangen werden. Zwi-
schen dem Leugnen des Angeklagten und der Aussage des ihn belasten-
den Zeugen kann zwar eine Divergenz, aber schon begrifflich kein
Widerspruch bestehen, da der Zeuge lediglich seine Wahrnehmungen
bekundet. Damit enthält die Bezichtigung, eidlich falsch ausgesagt zu
haben, das unter dem Aspekt der Selbstbegünstigung objektiv nicht
notwendige Mehr an Rechtsgutsverletzung, das von vornherein von
einer möglichen Strafeinschränkung nicht erfaßt sein kann.
95
O L G Hamm, VRS 32, 441.
Verdachtsgrundlage und Verdachtsurteil 569
3 Was natürlich nicht ausschließt, daß auf Dauer weitere Mordmerkmale einbezogen
werden; vgl. Lackner NStZ 1981, 348, 349; Bruns JR 1981, 359, 360; Günther NJW 1982,
358; Rengier NStZ 1982, 227.
572 Gerd Geilen
I.
nahm er keine Rücksicht auf einen hinter der Glasscheibe im Schußfeld sitzenden
Bankangestellten. Der Angeklagte rechnete ernsthaft mit der Möglichkeit, auch den
Angestellten zu treffen und tödlich zu verletzen.
10
BGHSt. 15, 291; B G H b. Daliinger 1966, 24; dazu auch Lackner, a . a . O . , A 4 ;
Dreher/Tröndle, 42.Aufl. 1985, §211, 9 b ; Maurach/Schroeder, BT, 6.Aufl. 1977, S. 34.
11
Vgl. dazu auch Arzt/Weber, BT, 1, 2. Aufl. 1981, S.57; bezeichnend deshalb, daß
sich die gelegentlichen Versuche zur Übertragung der Mittel-Folge-Formel auf positives
Tun (bei Verdeckungsabsicht) ausschließlich auf Fälle aus dem Straßenverkehr beschrän-
ken; vgl. B G H VRS 17, 190; B G H 4 StR 559/59 v. 4.3.1960 (unveröffentlicht).
12
Vgl. für viele Jescheck, JZ 1961, 752; Schönke/Schröder/Eser, StGB, 22. Aufl. 1985,
§211, Rdn.35 (m. weiterer Differenzierung); SK-Horn, StGB, 3.Aufl. 1985, §211
Rdn. 68 ff; für grundsätzlichen Ausschluß der Absichtsmerkmale bei Unterlassung Grün-
wald, Mayer-FS, 1966, S. 291; vgl. weiter Schmidhausen BT, 2. Aufl. 1983, S.25. - Auch
BGHSt. 15, 291 sieht den Grund für die in BGHSt. 7, 286 engere Lösung in der dort
fehlenden „Tätlichkeit " des Angriffs (S. 296) und in der Tatsache, daß es in der früheren
Entscheidung „um einen besonders gearteten Fall pflichtwidrigen Unterlassens" ging.
576 Gerd Geilen
Allerdings ist auch insoweit festzuhalten, daß in BGHSt. 23, 176 ganz
spezifische, nur ausnahmsweise denkbare und jedenfalls in dem jetzt
entschiedenen Bank-Fall gar nicht in Frage kommende Besonderheiten
zum Rückgriff auf die „Mittel"-„Folge"-Formel führten. In diesem
vorausgegangenen BGH-Fall bezog sich die beabsichtigte Ermöglichung
auf sadistische Praktiken. Der Täter wollte sich, wie der B G H es
ausdrückt, an den „Qualen" seiner Opfer „weiden", so daß schon
deshalb ihre (vorübergehende) Schonung aus der Planperspektive gera-
dezu unabdingbar und deshalb auch das primär angestrebte Ziel des
Täters war. Diese ganz singulären, sexuellen und sadistischen Hinter-
gründe des Falles kommen in der Entscheidung auch deutlich genug zum
Ausdruck, wenn es in dieser Richtung weiter heißt:
13
Welzel, J Z 1958, 494; ders., Lb., 11. A u f l . 1969, S . 2 1 6 .
Bedingter Tötungsvorsatz bei Ermöglichung u. Verdeckung einer Straftat? 577
„Wer eine Straftat nur an (!) einem lebenden Opfer begehen will und deshalb hofft und
wünscht, das Opfer werde zu diesem Zeitpunkt noch leben, kann in den Tod des
Opfers nicht mit dem Ziele einwilligen, sich durch seine Tötung die Möglichkeit zur
VerÜbung der Straftat zu verschaffen."
Es ist klar, daß die dann beabsichtigte, weil für den Triebtäter nur
unter dieser Voraussetzung sinnvolle Manipulation am noch lebenden
Opfer eine subjektiv ganz extreme, so nur selten auftretende Zuspitzung
ist. Es geht darum, daß sich aus der Täterperspektive bedingter Tötungs-
vorsatz mit der primär umgekehrten Absicht zur „Schonung" des
Opfers verbindet. Es wird noch zu prüfen sein, ob selbst bei einer so
konträren Ambivalenz von Vorsatz und Absicht restriktive Konsequen-
zen anhand der Mittel-Folge-Formel wirklich zu ziehen sind. Davon
abgesehen bestehen jedenfalls keinerlei Berührungspunkte zu dem später
in B G H b. Holtz, a.a.O., behandelten, demgegenüber nur noch for-
melhaft begründeten Bankraub-Fall. Diese Entscheidung ist um so
überraschender, als sie - insoweit ebenfalls in deutlichem Gegensatz zu
BGHSt. 23,176 (194) - auf die Prüfung oder wenigstens Andeutung sich
als evident geradezu aufdrängender Mordalternativen verzichtet, was
praktisch darauf hinausläuft, auch bei erneuter Verurteilung das Ergeb-
nis auf Totschlag festzulegen. Der für einen solchen Parforceritt wohl
entscheidende Grund dürfte allerdings, wie aus einer Bemerkung im
vollständigen Text, nicht aus der Wiedergabe bei Holtz, a. a. O. hervor-
geht, in eigenen, revisionsrechtlich aber nicht offen durchzusetzenden
Zweifeln des B G H am erstinstanzlich festgestellten Tötungsvorsatz
liegen14.
M In den vollständigen Gründen des Urteils heißt es insoweit: „In der neuen Verhand-
lung wird der Tatrichter Gelegenheit haben, zu überprüfen, ob die Voraussetzungen eines
Tötungsdelikts überhaupt gegeben sind."
15 Vgl. Schänke/Schröder/Eser, a.a.O., Rdn.35; Dreher/Tröndle, a.a.O., Rdn.9;
Jähnke, LK, 10. Aufl. 1978ff, §211, Rdn.9; Otto, BT, 2. Aufl. 1984, S.24f; Wessels, BT,
Bd. 1, 9. Aufl. 1985, S. 29 sowie Krey, BT I, 6. Aufl. 1986, S. 31 (insoweit ausdrücklich nur
für die zur Verdeckungsabsicht vorliegende Judikatur). - Kritisch: Arzt, in Arzt/Weber,
a.a.O., S.57; Maurach/Schroeder, a.a.O., S.34; Bockelmann, BT, 2, 1977, S. 12; wohl
auch Horn, a.a.O., Rdn.68; offengelassen bei Lackner, a.a.O., A4.
578 Gerd Geilen
16
JZ 1961, 752; vgl. auch Fuhrmann, JuS 1963, 21; Horn, a . a . O . , Rdn.69.
"" Vgl. Nachweise in N . 15.
Bedingter T ö t u n g s v o r s a t z bei E r m ö g l i c h u n g u. V e r d e c k u n g einer Straftat? 579
18
BGHSt. 29, 317; dazu auch Geilen, JK §211/6.
19
So Alwart, JR 1981, 295 bei und in N. 14, der gleichzeitig davon ausgeht, daß mit
„Habgier" auch „niedrige Beweggründe" entfallen.
20
Anders Alwart, a . a . O . : „Dieses enge Verständnis der Ermöglichungsabsicht ist
geboten, weil sich sonst kein vernünftiges Zusammenspiel mit dem Gesinnungsmerkmal
der Habgier ergäbe. Vielmehr wären die Habgier und die ihrer Annahme oder Ablehnung
jeweils zugrundeliegenden subtilen Bewertungen weitgehend unterlaufen." - Zur Proble-
matik vgl. näher P a e f f g e n , GA 1982, 255, 273f; Rengier, NStZ 1982, 227; Krey, a . a . O . ,
S. 23.
21
Vgl. etwa Jähnke, a. a. O., Rdn. 7.
Bedingter Tötungsvorsatz bei Ermöglichung u. Verdeckung einer Straftat? 581
1973, S. 31 f, 135.
25 Beim Töten „zur Befriedigung des Geschlechtstriebs" ist zwar von der „Benutzung"
des Tötungsakts als Befriedigungs„mittel" die Rede; mit Recht spricht man aber in diesem
Zusammenhang nicht vom „ T o d " sondern von der „ T ö t u n g " ; vgl. B G H S t . 7, 353, 3 5 4 ; 19,
101, 105; N J W 1982, 2565. - Zur allgemein notwendigen Präzisierung des Bezugspunkts -
Akt oder Erfolg der Tötung? - vgl. unten.
24 Zur grundsätzlichen Problematik vgl. m. w. Nachw. Paeffgen, G A 1982, 255.
582 Gerd Geilen
7. Sieht man genauer zu, geht es offensichtlich darum, daß die bei
bedingtem Vorsatz psychologische Abschwächung des Tötungswillens
eine den Ausstieg öffnende Bresche in die Mordkasuistik schlagen soll.
Abgesehen davon, daß eine so lokalisierende, nur die Ermöglichungsab-
sicht einbeziehende Lösung ein zu enges, weil inkonsequenterweise
dann nicht auch für andere Mordalternativen geltendes Ergebnis ist,
stellt sich aber dann eine Reihe weiterer Fragen.
Schon äußerlich fällt auf, daß hier wie auch in anderen, mit der Mittel-
Folge-Formel operierenden Entscheidungen in sprunghaft wechselnder
Formulierung einmal vom „Tod", in vermeintlich synonymer Weise
aber auch von „Tötung" die Rede ist27. Offensichtlich meint der B G H ,
man könne ausgerechnet hier auf eine sonst selbstverständliche, sprachli-
che Präzision verzichten. Dabei ist klar, daß exakt an dieser Stelle der für
die Tragweite der Mittel-Folge-Formel ausschlaggebende Bezugspunkt
liegt. Hält man nämlich diese wechselnde Formulierung nicht für Zufall,
sondern zieht man die dann auch fälligen, substanziellen Konsequenzen,
so deutet schon die Gegenüberstellung von „Tod" und „Tötung" die in
Wirklichkeit zugrundeliegende, eigentliche Frage an. Worum geht es -
um den Tötungs<z&£ oder um die Todesfolge} Soll sich die geforderte
Instrumentalfunktion als Ermöglichungs„mittel" auch auf den Todes-
eintritt erstrecken oder dafür schon die Tötungshandlung ausreichend
sein? Solange diese Frage nicht geklärt ist, pendelt die Lösung zwischen
einer einerseits banalen Selbstverständlichkeit und einer andererseits
einschneidenden Einschränkung des Tatbestands. So bedarf keiner Aus-
führung, daß der Tötungs^&i als solcher immer die funktionelle Bedeu-
tung eines der Zwecksetzung dienenden „Mittels" hat. Andernfalls
würde die bei dieser Tötungsalternative ohnehin erforderliche, finale
Zweckverknüpfung fehlen. Aber zur Feststellung einer solchen Banalität
könnte man auf den Begriffskult um die Mittel-Folge-Formel sicherlich
verzichten.
Der Aufwand macht erst Sinn, wenn man weitergeht und auch in der
Todesfolge einen als solchen notwendigen, deshalb mitbeabsichtigten
Durchgangspunkt der der Zielerreichung vorgelagerten Entwicklung
sieht. Stellt man aber darauf ab, dann fragt man sich, was die Unterschei-
dung nach Vorsatzvarianten (Todeseintritt als in Kauf genommene
„Folge" oder als in der Absichtsrichtung liegendes „Zwischenziel") mit
dem vom B G H ausdrücklich herangezogenen Verwerflichkeitsaspekt,
der „Geringschätzung des Lebens", zu tun haben soll. Zunächst ist es
eine primär technische, für die Verwerflichkeit deshalb auch unergiebige
Frage, ob der Täter nur die Tötung(shandlung) oder auch den Tod des
Opfers für die Ermöglichung der Straftat braucht. Ob es um eine auf das
Opfer abgeschlossene, nur bei Todeseintritt zu kassierende Lebensversi-
cherung geht oder ob bei einem Raub mit „nur" bedingtem Tötungsvor-
satz abgefeuerte Schüsse genügen, ist ein rein pragmatischer Unter-
schied, aus dem sich Rückschlüsse auf ein schon deshalb abweichendes
29 Zarathustra, Erster Teil, Kritische Studienausgabe, Bd. IV, Berlin 1980, S.46. - Vgl.
II.
1. Bei der Verdeckungsabsicht, von der der vom B G H eingeschlagene
Restriktionskurs ausging32, sind die Ergebnisse ebenfalls bedenklich,
obwohl sie der B G H in diesem Rahmen völlig anders begründet. Statt
wie bei der Ermöglichungsabsicht vorzugehen und auch bei diesem
Merkmal einschränkende Konsequenzen aus dem Stellenwert der
Tötung als „Mittel" herzuleiten, wird durch und durch pragmatisch
argumentiert und mit einem in den Sicherheitsanforderungen ständig
höher geschraubten Verdeckungsbegriff gearbeitet. Das sich immer
deutlicher abzeichnende Leitbild ist das etwa gangsterhafte Motto, daß
nur „tote Zeugen nicht reden". Bedingter Tötungsvorsatz soll nicht
ausreichen, wenn das Opfer im Falle seines Überlebens ein nicht auszu-
schließendes Uberführungsrisiko darstellt und deshalb ein wirklich
„sicheres" Verdecken nur bei Tötungsabsicht i. S. von „Mundtotma-
chen" und endgültigem „ZumSchweigen-Bringen" zu erreichen ist.
52 BGHSt. 7, 287.
Bedingter Tötungsvorsatz bei Ermöglichung u. Verdeckung einer Straftat? 589
2. Schon äußerlich fällt auf, daß der BGH auf diesem Weg zu immer
restriktiver gewordenen Konsequenzen für den Tötungsvorsatz kommt,
daß er aber nicht der Vorfrage nachgeht, was Verdecken heißt. Bezeich-
nenderweise sind im Schrifttum vergleichbar maximalistische, auf die
Ausräumung restlos aller Risiken hinauslaufende Interpretationen des
Verdeckens nicht zu finden. Auch fehlt jede Auseinandersetzung mit
den zugrundeliegenden praktischen Fragen, was dann auch in entspre-
chenden Schwankungen der Rechtsprechung zum Ausdruck kommt.
Wann soll ζ. B. ein mit der erfolgreichen Verdeckung nicht zu vereinba-
rendes Überführungsrisiko durch das überlebende Opfer gegeben sein?
Muß das Opfer den Täter schon vorher kennen (und mit welcher
Sicherheit erkannt haben)? Oder genügt die als entfernteres Risiko auch
nicht auszuschließende Gefahr der nachträglichen Identifizierung? Ist
der dann maßgebende Gefahrengrenzwert schon bei jeder vom Opfer zu
gebenden, aber dann nur vagen Personenbeschreibung erreicht oder geht
es nur um den Fall, daß zur Identifizierung geeignetes Bildmaterial
vorhanden ist? Genügt es, daß der Täter das beweismäßig für ihn
besonders belastende Ertapptwerden in flagranti vermeidet? Genügt es
selbst dann nicht, wenn bei sofortigem Entkommen die Gefahr künftiger
Entdeckung unter den gegebenen Umständen als gering veranschlagt
werden kann? Es liegt auf der Hand, daß der verbleibende Spielraum für
bedingten Tötungsvorsatz erst anhand einer weiteren Konkretisierung
näher zu bestimmen ist.
Auffallend ist weiter, daß eine unzweifelhaft vorhandene Verdek-
kungsabsicht nur deshalb tatbestandlich nicht relevant sein soll, weil
noch eine andere, insoweit mit dolus eventualis nicht mehr zu vereinba-
rende Alternative bestand. Warum soll es z.B. kein „Verdecken" sein,
wenn der Täter das sonst schreiende Opfer zur Verhinderung der
Alarmierung von Nachbarn, Polizei usw. mit bedingtem Tötungsvor-
satz „still macht", dagegen das Opfer nicht absichtlich würgt, um sich
außerdem vor dem weiteren, vielleicht als weniger akut empfundenen
Risiko seiner nachträglichen Identifizierung zu schützen? Es sollte klar
sein, daß es methodisch unzulässig ist, wenn man wie die Rechtspre-
chung mit dem einfachen Hinweis auf hypothetisch noch bestehende,
andere Möglichkeiten die psychologische Existenz und motivatorische
Wirksamkeit einer im Einzelfall leitend gewesenen (als solche auch
unzweifelhaft tragfähigen) Verdeckungsabsicht leugnet.
Schließlich ist die Argumentation der Rechtsprechung mehr logisch-
rational als psychologisch-realistisch 33 . Aus dem, was objektiv zur Errei-
chung des - zudem ganz optimal verstandenen - Verdeckungserfolges
notwendig war, wird wie selbstverständlich subjektiv auf eine deshalb
a u c h b e i m T ä t e r a n z u n e h m e n d e , alle M ö g l i c h k e i t e n a u s l o t e n d e Ü b e r l e -
g u n g geschlossen. D e m g e g e n ü b e r ist Skepsis a n g e b r a c h t , z u m a l w e n n
man an die in V e r d e c k u n g s f ä l l e n n i c h t a t y p i s c h e Situation des oft
ü b e r r a s c h t e n u n d d a n n p a n i k a r t i g reagierenden T ä t e r s d e n k t .
In der Entscheidung B G H GA 1962, 143 läßt sich dazu noch folgendes finden: „Es
genügt die Befürchtung des Täters, daß das Opfer, würde es weiterleben, in irgendeiner
Weise, sei es auch nur durch Geräusche (z.B. durch Schreien) - beabsichtigt oder
unbeabsichtigt - Dritte auf den Täter aufmerksam machen und so zu dessen Entdek-
kung beitragen würde." Daraus wird gefolgert, daß im Hinblick auf dieses zu verhin-
dernde Auftauchen Dritter ein Nebeneinander von Verdeckungsabsicht und bedingtem
Tötungsvorsatz möglich sei. In krassem Gegensatz dazu wird in B G H NJW 1978, 1490
dieser Verdeckungsaspekt nicht einmal mehr behandelt, sondern ausschließlich darauf
abgestellt, daß das Opfer als späterer Belastungszeuge nicht überleben durfte und
deshalb „endgültig zum Schweigen... (zu bringen)" war; deshalb ist in diesem Fall bei
nur bedingtem Tötungsvorsatz Verdeckungsabsicht und damit in der weiteren Konse-
quenz auch Mord (vorbehaltlich einer nochmaligen Uberprüfung der „niedrigen
Beweggründe") verneint worden. Dabei lag eine in diesem Punkt mit BGH GA 1962,
143 durchaus vergleichbare Situation zugrunde. Der Angeklagte hatte eine Frau aus
seinem Bekanntenkreis aus ihrem Zimmer in einem sog. „Studienhaus" gewaltsam
entführt und sich mit seinem Opfer in einer neben seiner elterlichen Wohnung
gelegenen Scheune eingeschlossen. Als er dort die Frau vergewaltigt hatte, bemerkte er,
daß offensichtlich im Zusammenhang mit der Entführung eine polizeiliche Suchaktion
im Gange war und daß dabei auch die Wohnung seiner Eltern mehrfach überprüft
wurde. Deshalb wollte der Angeklagte Hilferufe der Frau, die zu seiner Entdeckung
geführt hätten, verhindern. Er würgte sie „minutenlang mit äußerster Kraft", bis sie
„nur noch röchelnde Laute von sich gab". Dadurch wollte er bei gleichzeitig bedingtem
Bedingter Tötungsvorsatz bei Ermöglichung u. Verdeckung einer Straftat? 591
Eine noch offenere, weil ganz ausdrückliche Fixierung auf die spätere Zeugenrolle
des Opfers findet sich in B G H GA 1983, 565. Hier hatte eine Frau, das spätere Opfer,
den Angeklagten beim Diebstahl in ihrer Wohnung überrascht. Als sie „sofort zu
schreien" begann, „schlug er (mit „nur" bedingtem Tötungsvorsatz) auf sie ein, würgte
sie am Hals, bis sie zu Boden fiel und trat auf die am Boden liegende F r a u . . . ein, bis sie
sich nicht mehr bewegte". Ausdrücklich wird weiter festgestellt, daß er dabei die
Absicht hatte, „sie zum Schweigen zu bringen, sie als Zeugin auszuschalten und zu
verhindern, daß weitere Mitbewohner geweckt und auf sein Eindringen aufmerksam
w u r d e n . . . " . - Sollte man nun annehmen, daß die jedenfalls auch vorhandene Absicht,
das Auftauchen von durch die Schreie alarmierten Mitbewohnern des Hauses und seine
dann vielleicht drohende Festnahme zu verhindern, für „Verdeckung" ausreichen
würde, so hat man sich, obwohl die früher entschiedenen Fälle eines entsprechend
gewaltsam erzwungenen Fluchtmanövers in diesem Punkt nicht anders lagen,
getäuscht. Auf das hier sehr viel komplexere Spektrum der vom Täter verfolgten
Absichten geht der B G H erst gar nicht ein, sondern begnügt sich mit der Feststellung,
daß der Angeklagte die Frau, wie es wörtlich heißt, jedenfalls „auch angegriffen (habe),
um sie als Zeugin auszuschalten...". Schon daraus soll sich ergeben, daß der nur
festgestellte bedingte Tötungsvorsatz mit der angenommenen Verdeckungsabsicht nicht
zu vereinbaren sei. - Es liegt auf der Hand, daß eine so einseitige Argumentation die
Problematik nicht ausschöpft. Man kann im Falle einer komplexeren Zielsetzung nicht
nur die potentielle Zeugenfunktion des Opfers als den hier maßgebenden (und für den
Täter günstigsten) Verdeckungsaspekt herausgreifen und alle anderen Möglichkeiten,
die mit bedingtem Tötungsvorsatz durchaus vereinbar sind, beiseite schieben. So wie
die Begründung formuliert ist, genügt es jetzt schon, daß der Täter jedenfalls „auch" an
die ihn später womöglich belastende Zeugenrolle seines Opfers denkt. War der Täter
weniger „umsichtig", müßten in der Konsequenz von B G H GA 1962,143 die sonstigen
Umstände des Falles für Verdeckungsabsicht genügen. Unerfreulich sind dann auch die
beweisrechtlichen Konsequenzen des Urteils. Bei nur festgestelltem bedingtem
Tötungsvorsatz wäre „in dubio pro reo" zugunsten des Angeklagten (wohl zu dessen
eigener Überraschung) davon auszugehen, daß er kaltblütig genug war, nicht nur an die
durch die Schreie drohende Alarmierung der Nachbarn zu denken, sondern auch an das
ihm vom überlebenden Opfer in Zukunft bevorstehende Belastungsrisiko.
drei- bis viermal wuchtig mit seinen grobstolligen festen Laufschuhen auf den Kopf und
Halsbereich der alten Frau. Dabei nahm er den tödlichen Ausgang der weiteren
körperlichen Mißhandlung in Kauf." Nach Auffassung des BGH reicht auch hier die
beabsichtigte Verhinderung der sonst drohenden Alarmierung der Nachbarn als „Ver-
deckung" nicht aus. Das würde der Marschroute der Rechtsprechung, dem immer
exzeptioneller verstandenen Seltenheitswert von Verdeckungsabsicht und bedingtem
Tötungsvorsatz, zuwiderlaufen. Deshalb soll, wie es weiter heißt, entscheidend sein,
daß die getötete Frau „blind und schwerhörig" war und (nur aus diesem Grund!) „nicht
endgültig als Zeugin ausgeschaltet zu werden" brauchte. „Der Verdeckungserfolg ließ
sich auch anders als durch ihren Tod - ζ. B. durch Herbeiführung einer nur vorüberge-
henden Bewußtlosigkeit bei ihr - erreichen. (Nur!) In einem solchen Fall sind bedingter
Tötungsvorsatz und Verdeckungsabsicht miteinander vereinbar."
Allgemein kann keine Rede davon sein, daß es nach der Rechtsprechung darauf ankäme,
ob, wie es vielfach heißt, das Opfer den Täter kennt oder doch wenigstens zuverlässig
identifizieren kann.
35 BGH LM §211, Nr.30; BGHSt. 11, 268; BGH GA 1979, 108; weitere Nachw. b.
15, 291; OGH NJW 1950, 195; Stratenwerth, JZ 1958, 545; SK-Horn, a.a.O., Rdn.63;
weitergehend Jähnke, a.a.O., Rdn. 15; Fuhrmann, JuS 1963, 19.
Bedingter Tötungsvorsatz bei Ermöglichung u. Verdeckung einer Straftat? 593
5. Aus diesen Gründen ist schon nicht einzusehen, daß die Rechtspre-
chung in einschlägigen Fällen als in dieser Richtung „einzig erfolgver-
sprechende Möglichkeit" nur auf den Tod des Opfers abstellt, um so die
immer weitergehende Annäherung von TötungsVorsatz und Verdek-
kungsabsicht zu begründen. Warum soll ζ. B. bei bedingtem Tötungs-
vorsatz Verdeckungsmord nur vorliegen, wenn, wie es in B G H Strafver-
teidiger 1984, 409 wörtlich heißt, das Opfer „blind" und „schwerhörig"
40
Zum Verhältnis zwischen §214 a.F. und §211 n.F. vgl. z.B. Schmidt/Leichner, DR
1941, 2148; Schwarz, ZAkDR 1941, 309; Ohhausen, StGB, 12.Aufl. (1941), §211 n.F.,
Anm. 19.
Bedingter Tötungsvorsatz bei Ermöglichung u. Verdeckung einer Straftat? 595
Dieser Gedankengang beschränkt sich aber auf die Frage der Erfolgs-
qualifikation; den sich dann geradezu aufdrängenden Konsequenzen für
die Ermöglichungsabsicht geht der B G H nicht nach. Auch dieser Aspekt
verdeutlicht, zu welchem - mitunter kaum noch zu berechnenden -
Lotteriespiel der Mordtatbestand und seine Handhabung in der Recht-
sprechung führen.
41 Vgl. Geilen JR 1980, 314; Paeffgen, GA 1982, 274 bei und in N.87.
42 Teilabdruck in BGHSt. 28, 18.
Behandlungsabbruch und Sterbehilfe
HANS JOACHIM HIRSCH
I.
Das Thema „Sterbehilfe" ist durch den Fall Dr. Hackethal1, eine
neuere Entscheidung des Bundesgerichtshofs 2 , eine Sachverständigenan-
hörung durch den Rechtsausschuß des Bundestages3 und eine öffentliche
Äußerung des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Zeidler4 jetzt
stark ins Blickfeld getreten. Es steht auch auf dem Programm des
nächsten Deutschen Juristentages 5 , und der Alternativkreis hat soeben
die Vorbereitung eines Gesetzentwurfs abgeschlossen6. Die Zurückhal-
tung, die vorher bestand, weil die in den Jahren 1939 und 1940 aufgrund
eines Geheimbefehls Hitlers erfolgte Massentötung von Geisteskranken
unter der Bezeichung „Euthanasie"-Programm stattgefunden hat, ist seit
Mitte der siebziger Jahre einer mehr oder weniger lebhaften öffentlichen
Euthanasie-Diskussion gewichen. Zwar ging es bei jener Tötungsaktion
der Nationalsozialisten in Wahrheit nicht um echte Euthanasie - also um
„guten Tod", das Erleichtern des Sterbens - , sondern um die Vernich-
tung sogenannten lebensunwerten Lebens7. Infolge der Bezeichnung
dieses Massenmords als „Euthanasie" war in den ersten Nachkriegsjahr-
zehnten aber alles, was mit dem Bereich der Euthanasie zusammen-
hängt, und damit auch die Fälle echter Sterbehilfe, von vornherein
diskreditiert. Dies verband sich mit einer unter dem Eindruck des
gesamten Tötungsgeschehens des Krieges geweckten Sensibilität für den
Wert des menschlichen Lebens. Daher äußerte etwa der Sozialdemokrat
Adolf Arndt, späterer Bundestagsabgeordneter und führender Jurist
5 Das Thema der Strafrechtlichen Abteilung lautet: „Recht auf den eigenen T o d ?
seiner Partei, auf dem Konstanzer Juristentag 1947 die Hoffnung," daß
selbst um echte Euthanasie in Deutschland nie wieder eine Diskussion
entstehen möge®.
Die drei Jahrzehnte nach Kriegsende dann gleichwohl über die echte
Sterbehilfe entbrannte öffentliche Debatte wurde ausgelöst durch techni-
sche Entwicklungen der Medizin. Sie ermöglichen zunehmend, daß eine
medizinische Behandlung eigentlich nicht mehr das Leben, sondern nur
noch die Leiden des Sterbens verlängert. Auch dann, wenn die Leidens-
verlängerung vom Patienten wegen Bewußtlosigkeit nicht empfunden
wird, ist mit diesem technischen Potential häufig jedenfalls nicht mehr
als nur ein vegetatives Weiterleben bei gleichzeitiger therapeutischer
Aussichtslosigkeit des Falles zu erreichen. Vor allem von theologischer
Seite wurde zuerst die Forderung nach einem Behandlungsabbruch, also
der passiven Sterbehilfe, in solchen Fällen erhoben9.
Diese Forderung vermischte sich mit den Zielen jener individualisti-
schen Strömung, die sich zunächst der Freigabe der Gefälligkeitssterili-
sation und dann der Einschränkung der Strafbarkeit der Abtreibung
zugewandt hatte. Nachdem das Thema „Schwangerschaftsabbruch" mit
der Neuregelung der Abtreibungsparagraphen erledigt war, ist „Eutha-
nasie" zu einem neuen Modethema geworden. Dabei geht es nicht mehr
nur um die vorgenannte passive Sterbehilfe, sondern auch um einver-
ständliche direkte aktive Euthanasie. Kennzeichnend für diese — vor
allem aus dem anglo-amerikanischen Bereich kommende - Bewegung ist
der Titel des 1973 erschienenen Buches von Paul Moor „Die Freiheit
zum Tode".
Betrachtet man die bisherige öffentliche Debatte, so scheint sie vor
allem daran zu kranken, daß sie zu undifferenziert geführt wird und daß
über den gegenwärtigen Rechtszustand, nämlich den Umfang des nach
geltendem Recht tolerierten Bereichs der Sterbehilfe, wenig klare Vor-
stellungen herrschen. Das zeigt sich beispielsweise daran, daß Fälle wie
die des Züricher Arztes Hämmerli, der die künstliche Ernährung schon
bewußtloser, nicht mehr zu rettender Patienten eingestellt hatte10, in der
Tagespresse ohne klare Differenzierung der Problem- und Rechtslage in
einer Reihe mit dem der holländischen Arztin Postma-van Boven behan-
delt worden sind. Letztere hatte ihre schwermütige und halbseitig
gelähmte 78jährige Mutter auf deren Wunsch aktiv durch Injektion einer
Uberdosis Morphium getötet11. Auch zeigt sich bei näherem Hinsehen,
daß diejenigen Ärzte, die sich in der Bundesrepublik Deutschland in
II.
Vor jeglicher Forderung an den Gesetzgeber hat man sich deshalb erst
einmal die geltende Rechtslage vor Augen zu führen. Das um so mehr,
als durch die Entscheidung B G H S t . 32, 367 weniger ein Beitrag zur
Klarstellung als zu weiterer Unklarheit geleistet worden ist14. Nachdem
in der Strafrechtswissenschaft eine sehr eingehende literarische Diskus-
sion stattgefunden hat15, läßt sich die geltende Rechtslage heute durchaus
zuverlässig bestimmen.
12 Dazu Fn. 1.
13 Beispielsweise bei einer Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie im Jahre
1984 waren 66 % der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland gegen eine Bestrafung
des Arztes, der einem schwerkranken Patienten ein tödliches Mittel verabreicht; vgl. Eid,
Lebendiges Zeugnis 40 (1985), 51. Dagegen ergab eine Umfrage des Deutschen Ärzteblat-
tes bei 453 Ärzten, daß 56 % der befragten Chirurgen und 7 4 - 9 0 % der niedergelassenen
Ärzte eine aktive Sterbehilfe, auch in besonderen Fällen, ablehnen; vgl. Deutsches
Ärzteblatt 1985, 157.
1J" Vgl. die Angaben in „Der Spiegel" Nr. 7/1975, N r . 18/1984 und die Nachweise bei
a) Dabei ist als erstes rechtlich zu beachten, daß der Arzt gegen den in
der konkreten Entscheidungssituation erklärten Willen des Patienten
rechtlich nicht verpflichtet ist, lebensverlängernd tätig zu werden.
Wegen des entgegenstehenden Willens entfällt vielmehr bereits die
Garantenpflicht des Arztes. Es gibt keinen Kurierzwang. Die Verpflich-
tung des Arztes zur Behandlung ist nicht mehr gegeben, wenn der
Patient diese aus freier Entscheidung ablehnt16. Gerade in dem hier
interessierenden Bereich der medizinischen Lebensverlängerung ist eine
solche Ablehnung als Ausdruck der Selbstbestimmung des Patienten zu
respektieren.
Nach deutschem Strafrecht kommt hinzu, daß ohnehin nur Teil-
nahme am Freitod des Patienten, und zwar Teilnahme durch Unterlas-
sen, vorliegen könnte, wenn der Arzt vom Patienten aus freiem ernsthaf-
ten Entschluß davon entbunden worden ist, die Behandlung fortzuset-
zen. Hier entscheidet sich der Patient, indem er die Fortsetzung der
Therapie verweigert, aus freiem Willen für die Nichthinauszögerung des
Todes. Der daraufhin die Behandlung abbrechende Arzt könnte des-
halb, wenn überhaupt, nur ein Gehilfe zur Selbsttötung sein. Die
Teilnahme am Selbstmord aber ist de lege lata allgemein nicht als
Tötungsdelikt pönalisiert17. Indem das deutsche Strafrecht sich hinsicht-
lich der Strafbarkeit der Teilnahme zurückhält, ist es eines der liberalsten
in der Welt. Auch wenn man dazu tendiert, hierin de lege ferenda eine
ganz oder teilweise zu schließende Strafbarkeitslücke zu sehen, würde
sich gleichwohl nichts daran ändern, daß wegen der fehlenden Garanten-
16 So im Grundsatz auch BGHSt. 32, 367, 378 im Anschluß an BGHSt. 11, 111, 113f.
17 Vgl. RGSt. 70, 313, 315; BGHSt. 2, 150, 152; 6, 147, 154; 13, 162, 167; 19, 135, 137;
24, 342, 343; 32, 262, 264.
Behandlungsabbruch und Sterbehilfe 601
" Denn jedenfalls ist der frei verantwortlich und aktuell erklärte Wille des Patienten,
daß eine Behandlung zu unterbleiben habe, als Ausdruck der Selbstbestimmung zu
beachten, so daß damit die sich aus der Behandlungsübernahme ergebende Garantenstel-
lung beendet ist. Das gilt auch für einen Suizidpatienten, d. h. einen Patienten, der durch
einen Selbstmordversuch in eine lebensbedrohliche Lage gekommen ist. Daß es sich um
einen solchen Patienten handelt, begründet rechtlich nur eine Befugnis des Arztes zur
Hilfeleistung, nicht aber eine Verpflichtung. Nach BGHSt. 32, 367 soll etwas anderes bei
einem bewußtlosen Suizidpatienten gelten (dazu Fn.25). Auch ein Rückgriff auf § 3 2 3 c
StGB scheidet in den im Text genannten Sachlagen aus, da sich jedenfalls das Ablehnen
einer den Todeseintritt hinauszögernden Behandlung nicht als Unglücksfall begreifen
ließe. Es ist etwas anderes, ob jemand sein Leben „wegwirft" oder ob es um die
Verkürzung unausweichlich tödlicher Leiden geht. Entgegen BGHSt. 32, 367 handelt es
sich - auch in dem dort zugrunde liegenden Fall - nicht erst um die Frage, ob ein
pflichtgemäßes Verhalten für den Arzt zumutbar i. S. von § 323 c ist, sondern schon um das
Fehlen eines schutzbedürftigen Interesses.
" Bockelmann, Strafrecht des Arztes, 1968, S. 24 f.
602 Hans Joachim Hirsch
20 Vgl. Geilen, FamRZ 1968, 121, 125 f; Hirsch, ZStW 81 (1969), 917, 925 f; Simson
(Fn. 15), S. 9 7 f ; Eser (Fn. 15), S.59; Hanack (Fn. 15), S.163; Möllering (Fn.15), S.67;
Lackner, StGB, 16. Aufl. 1985, Vor §211 A n m . 2 d b b ; J ä h n k e , in: Leipziger Kommentar
zum StGB, 10. Aufl. 1980, Vor §211 Rdn. 17 m . w . N .
21 Schöllgen (Fn.9), S.41.
23 Vgl. auch BGHSt. 32, 367, 379 f, wobei der B G H allerdings im Widerspruch zur
24 Vgl. die Beispiele bei Engisch (Fn. 15), S.43; Möllering (Fn. 15), S.55; Simson
(Fn. 15), S. 94; Welzel, Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S.281. Auch nach den Richtlinien der
Bundesärztekammer für die Sterbehilfe (abgedruckt in: MedR 1985, 38) ist der Arzt in
solchen Fällen nicht verpflichtet, alle der Lebensverlängerung dienenden therapeutischen
Möglichkeiten einzusetzen.
25 Ebenso Geilen (Fn. 15), S. 20 f und die oben (Fn.24) erwähnten Richtlinien der
Bundesärztekammer. Das gilt entgegen BGHSt. 32, 367, 378 ff auch für Suizidpatienten,
wenn als Folge des Selbstmordversuchs ein schwerer und irreversibler gesundheitlicher
Dauerschaden unausweichlich ist. Denn die bei Suizidpatienten zu beachtenden rechtli-
chen Besonderheiten (vgl. Hirsch, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 10. Aufl. 1981,
§ 226 a Rdn. 37 m. w. N., und auch noch unter III Ziff. 1) betreffen nur die grundsätzliche
Befugnis, zugunsten der Rettung des Suizidenten tätig zu werden. Dagegen haben sie
604 Hans Joachim Hirsch
nichts mit der Frage zu tun, ob im Falle, daß der Selbstmordversuch zu einem Befund der
hier in Rede stehenden Art (zu befürchtender schwerer Dauerschaden oder Letalität)
geführt hat, eine Behandlung fortzusetzen ist. Die These des B G H , daß es auf den Willen
des bewußtlosen Suizidpatienten auch insoweit nicht ankomme (S. 378, 380), ist sachwid-
rig und juristisch nicht haltbar. Auch für den Suizidenten gilt nicht ein - grundsätzlich
auch vom B G H abgelehntes (S. 379 f). - Gebot der Lebensverlängerung um jeden Preis.
Der vom Senat am Ende gewählte Ausweg, in den fraglichen Fällen aber wegen eines
Gewissenskonflikts des Arztes eine Behandlungspflicht gegenüber dem bereits schwer und
irreversibel geschädigten Suizidpatienten abzulehnen (S. 380 f), bildet aus doppeltem
Grunde keine vertretbare Lösung. Einmal deshalb, weil es hier nicht darum geht, einen
ärztlichen Gewissenskonflikt zu respektieren, sondern darum, die wohlverstandenen
Interessen des Patienten zu wahren. Zweitens deswegen, weil ein Gewissenskonflikt des
Täters erst die Schuldseite betreffen würde und es folglich juristisch unzutreffend ist, von
einer dadurch bewirkten Begrenzung der ärztlichen Behandlungspflicht zu sprechen. Ein
Gewissenskonflikt würde doch gerade durch den Bestand einer Rechtspflicht entstehen.
Das Gericht verkennt, daß Rechtspflichten Verhaltensanweisungen an den Normadressa-
ten sind und sich infolgedessen nach objektiven Maßstäben der Rechtsordnung und nicht
nach dem Gewissen des Täters bestimmen.
26 Siehe dazu den Vorschlag von Uhlenbruch N J W 1978, 566.
Behandlungsabbruch und Sterbehilfe 605
Passivität ging. Könnte man auf ein Unterlassen abheben, nämlich das
im Abschalten zum Ausdruck kommende Abbrechen der Therapie, so
würde wie im vorhergehenden das Unrecht mangels Garantenpflicht
entfallen. Hätte man dagegen an das Handeln anzuknüpfen, so stünde
man vor etwas schwierigeren Begründungsfragen 27 . Bei dieser juristi-
schen Problematik sollte man sich allerdings darüber im klaren sein, daß
in der Wirklichkeit regelmäßig ein komplexeres Geschehen vorliegt. Die
Therapie besteht immer in einem Bündel von Maßnahmen, so daß die
Beendigung regelmäßig in der Einstellung von Tätigkeiten, namentlich
der künstlichen Ernährung, besteht und der Tod deshalb normalerweise
bereits im Gefolge dieser unbestrittenen Unterlassungen eintritt.
Aber wenn ein Fall einmal so liegt, daß der T o d durch das Abschalten
des Respirators eintritt, dann stellt sich die vorgenannte juristische
Problematik. Sie läßt sich entgegen einer im Schrifttum vertretenen
Meinung 28 nicht über die Kategorie des „Unterlassens durch T u n " lösen.
Denn dabei handelt es sich um das Unterlassen einer Rettungshandlung
dadurch, daß der Täter statt dessen ein in eine andere Richtung als das zu
rettende Rechtsgut gerichtete Tätigkeit vornimmt, beispielsweise, daß
er, anstatt zu retten, wegläuft. Hier dagegen wirkt er durch sein Tun auf
das O b j e k t ein, um dessen Rettung es gerade geht. Durch das Abschal-
ten wird ein zum T o d führender Kausalverlauf ausgelöst. Das Vorliegen
eines positiven Tuns läßt sich daher nicht hinwegargumentieren. Geht
man weiter der Frage nach, wie dieses Tun rechtlich zu bewerten ist, so
bietet der Gedanke, hier fehle es wegen des aussichtslosen Zustands des
Patienten schon an einem Rechtsgut, das verletzt werden könnte, keine
Lösung. Das wird sofort deutlich, wenn man sich vorstellt, jemand
würde den Patienten, für den keine Rettungschance mehr besteht,
kurzerhand erschlagen. Die richtige Lösung ergibt sich vielmehr durch
folgende Überlegungen: Was hier durch das Abschalten des Respirators
geschieht, ist das Unterbrechen einer rettenden Kausalreihe, deren wei-
terer Verlauf den bisherigen Zustand in der konkreten Situation aufrecht-
erhalten haben würde. Im Unterschied zu den sonstigen Fällen dieser
Sachverhalte des Eingreifens in einen rettenden Kausalverlauf geht es
vorliegend um die Besonderheit, daß zur Vornahme des bewahrenden
Kausalverlaufs, in den eingegriffen wird, keine Rechtspflicht mehr
Engisch, in: Eser (Hrsg.), Suizid und Euthanasie, 1976, S. 312, 315 ff; Geilen, JZ 1968, 145,
151; Hanack (Fn. 15), S. 145; DreherITröndle, StGB, 42.Aufl. 1985, Vor §211 Rdn. 13.
Positives Tun - bei gleichzeitiger Verneinung der Tatbestandsmäßigkeit oder jedenfalls der
Rechtswidrigkeit - legen zugrunde etwa: Hirsch (Fn.20), S. 923 ff; Jähnke (Fn.20), Vor
§211 Rdn. 17; Möllering (Fn. 15), S.67; Samson, in: Welzel-Festschrift, 1974, S.579,
601 ff; Sax, JZ 1975, 137.
2
» Roxin, in: Engisch-Festschrift, 1969, S.380, 395 ff.
606 Hans Joachim Hirsch
Frage der Kriterien des Hirntodes (Deutsches Ärzteblatt 1982, 4 5 ) soll die Feststellung des
Todeseintritts von zwei Ärzten getroffen und dokumentiert werden. Auch der Entwurf
eines Gesetzes über Eingriffe an Verstorbenen zu Transplantationszwecken (Transplanta-
tionsgesetz) bestimmt, daß vor Beginn des Eingriffs zwei daran unbeteiligte Ärzte den T o d
unter Angabe der ihrer Feststellung zugrunde liegenden Tatsachen bestätigt haben. D e r
Entwurf entspricht damit einer Forderung der Generalversammlung des Weltärztebundes
in ihrer „Declaration of Sydney" aus dem Jahre 1968 (vgl. BT-Drucksache 8 / 2 6 8 1 , S. 11).
Ein entsprechendes Verfahren ließe sich für die Klärung der Frage denken, ob der Patient
nicht mehr zu retten ist. Dies hätte allerdings keine unmittelbar strafrechtliche Bedeutung,
sondern könnte lediglich für Beweiszwecke erheblich sein.
32 Das Todeskriterium hat nur Bedeutung für einen aktiven Eingriff nach Behandlungs-
Hirntod bereits eingetreten ist, so ist damit das heute auch im Strafrecht
anerkannte Todeskriterium erfüllt, und die Frage, ob das danach erfol-
gende Abschalten des Geräts ein Tötungsdelikt sein könnte, taucht gar
nicht auf".
2. Während die vorgenannten Fälle noch im Grenzgebiet von Handeln
und Unterlassen liegen, ist nun aber eindeutig der Bereich des Behand-
lungsabbruchs verlassen und das Gebiet aktiver Sterbehilfe - das heißt
der Sterbehilfe durch Handeln - erreicht, wenn nicht lediglich eine
Therapie abgebrochen, sondern eine den Todeseintritt beschleunigende
Maßnahme vorgenommen wird.
Auch hier ist noch ein erheblicher Bereich straflos.
a) Kein strafbares Tötungsdelikt ist nach geltendem Recht jedenfalls
dasjenige aktive Tun, das sich lediglich als Teilnahme am Selbstmord
(Freitod) darstellt. Wenn also jemand einem Sterbenskranken auf dessen
Bitten ein tödliches Gift verschafft oder ihm gar, weil er sich aus dem
Bett nicht mehr erheben kann, einen Gifttrunk auf den Nachttisch stellt,
begeht er eine als Tötungsdelikt straflose Beihilfe zum Freitod. Für die
Frage, ob es sich um eine bloße Teilnahme am Selbstmord oder um eine
mittels des Patienten als Tatmittler begangene mittelbare Täterschaft
handelt, ist ohne Bedeutung, ob der Beteiligte eine Garantenstellung hat.
Denn deren Existenz ist auf die Einordnung des Verhaltens als Teil-
nahme oder Täterschaft ohne Einfluß.
Für den Mediziner ist an den lediglich als Teilnahme am Selbstmord
einzustufenden Fällen einer aktiven Sterbehilfe von Interesse, daß hier
der vom deutschen Strafrecht gewährte Freiraum erheblich größer ist als
der, den die ärztliche Ethik zugesteht 34 . Auch die Anforderungen, die
von den durch die Ärztekammern eingesetzten Ethikkommissionen
aufgestellt werden, sind naturgemäß teilweise strenger als die des Straf-
rechts 35 . Übrigens scheint es in dem noch im Stadium der Ermittlungen
33
Zur Ansehung des Hirntodes als maßgebliches Todeskriterium durch die herr-
schende Auffassung im Schrifttum vgl. Engisch, Der Chirurg 1967, 252; Kohlhaas,
Medizin und Recht, 1969, S. 122; Lüttger, JR 1979, 309, iUfl·, Jähnke (Fn.20), Vor §211
Rdn. 7-10; Stratenwerth, in: Engisch-Festschrift, 1969, S. 528 m. w. N . aus der medizini-
schen Literatur.
3<
Dieser de lege lata bestehende Freiraum wird zwar von der Rspr. durch Rückgriff auf
§ 323 c StGB eingeschränkt. Die Vorschrift setzt jedoch das Vorliegen eines Unglücksfalls
voraus. Selbst wenn man mit der Rspr. dessen Gegebensein grundsätzlich bejahen wollte
(und zwar von dem Zeitpunkt an, in dem sich ein Lebensmüder in erkennbarer Selbsttö-
tungsabsicht in unmittelbare Lebensgefahr begibt, BGHSt. 6, 147, 153; 13, 162), wäre die
Vorschrift in Sterbehilfesituationen aber nicht anwendbar (vgl. Fn. 18).
35
Die Ethik-Kommission in der Bundesrepublik Deutschland ist entstanden im
Anschluß an eine Deklaration des Weltärztebundes, beschlossen am 10.10.1975 in Tokio.
Sie dient dem Schutz von Patienten oder Probanden vor gefährlicher Forschung und
608 Hans Joachim Hirsch
aa) Betrachten wir zunächst die indirekte aktive Sterbehilfe. Hier geht
es in der Praxis vor allem um Fälle, in denen bei einer schmerzstillenden
Medikation ein circulus vitiosus zwischen Gewöhnung und ständiger
Dosissteigerung entsteht, so daß als Nebeneffekt eine auch vitale toxi-
sche Schädigung nicht auszuschließen ist. Darüber hinaus ist auch der
noch zugespitzte Fall denkbar, daß in der terminalen Phase schon die
einzelne Spritze zum Exitus führen kann".
Nicht nur im medizinischen, sondern auch im moraltheologischen
Schrifttum wird die indirekte aktive Sterbehilfe zugelassen. Interessant
ist, daß Papst Pius XII. schon im Jahre 1957 diese Form der Sterbehilfe
sogar ausdrücklich als moraltheologisch zulässig bezeichnet hat. Er sagte
an der entscheidenden Stelle: „Wenn die Verabreichung narkotischer
Mittel von selbst zwei verschiedene Wirkungen hervorruft, einerseits die
Linderung der Schmerzen und andererseits die Verkürzung der Lebens-
dauer, so ist sie erlaubt"38.
Nun soll aber das Strafrecht in solchen Fällen nicht päpstlicher sein als
der Papst. Heute ist denn auch ganz herrschende Meinung, daß die
indirekte aktive Euthanasie bereits nach geltendem Recht nicht strafbar
ist3'. Man verschließt sich bei dieser Frage wiederum nicht der Einsicht,
daß Ziel der ärztlichen Behandlung nicht Lebensverlängerung um jeden
Preis sein kann. Vielmehr kann bei einem unheilbar Erkrankten, qual-
voll Leidenden die Schmerzlinderung als die gebotene ärztliche Hilfe
derart im Vordergrund stehen, daß die eventuelle Nebenwirkung einer
Beschleunigung des Endes als das im Verhältnis zu den unerträglichen
Überschreitung des ethisch Zulässigen. Näher dazu Rössler, MMW 1982, 807; Deutsch,
Der Chirurg 1983, 623. Die in BGHSt. 32, 367, 378 f geäußerte Ansicht, daß der Arzt bei
seiner strafrechtserheblichen Entscheidungsfindung nicht die sozialethischen Belange
außer acht lassen dürfe, ist in dieser Allgemeinheit nicht haltbar. Das Strafrecht ist nur auf
das ethische Minimum ausgerichtet.
" Davon unberührt bleibt die Möglichkeit eines Vergehens nach §95 Arzneimittel-
gesetz.
37 Vgl. Geilen (Fn.15), S. 22 f.
bb) Was nun im Unterschied zur indirekten die direkte aktive Sterbe-
hilfe angeht, so gelangt man erst damit zur Euthanasie im engeren Sinne.
Man sollte den Begriff, weil sich heute mit ihm der Gedanke der
gezielten aktiven Tötung verbindet, am besten überhaupt nur diesen
Fällen vorbehalten. Rechtliche Zulässigkeit ist hier de lege lata nicht
mehr gegeben42. Gleichgültig ist dabei, ob ein ausdrückliches und ernst-
liches Verlangen des Patienten vorliegt. Dieses würde lediglich zur Folge
haben, daß auch auf den Arzt der die Tötung auf Verlangen privilegie-
rende § 2 1 6 StGB zur Anwendung käme. Die Einwilligung des Opfers
bildet nach der insoweit eindeutigen Rechtslage keinen Rechtfertigungs-
grund für die vorsätzliche Tötung. Auch auf rechtfertigenden Notstand
läßt sich nicht zurückgreifen, wenn die Handlung in der gezielten
Liquidation der zu schützenden Person selbst besteht.
Die de lege lata sich erhebende Frage ist nur die, ob es nicht besonders
gelagerte Fälle geben kann, in denen zwar nicht das tatbestandsmäßige
Unrecht, aber doch die Schuld entfallen könnte.
Zu denken ist an extreme Ausnahmesituationen, in denen die anders
nicht zu lindernden Qualen eines zu Ende gehenden Lebens so unerträg-
lich werden, daß als einzig mögliche Hilfe der Weg übrigzubleiben
scheint, dem danach ernstlich Verlangenden den qualvollen Sterbepro-
StGB, 10. Aufl. 1985, vor §32 Rdn.204; Eser, In: Schönke/Schröder, StGB, 22.Aufl.
1985, Vor §211 Rdn. 24-Jährtke (Fn.20), Vor §211 Rdn. 14; Lackner (Fn.20), Vor §211
Anm.2daa; Roxin (Fn. 30), S.93.
610 Hans Joachim Hirsch
zeß durch aktives Tun abzukürzen. Man hat dabei allerdings zu regi-
strieren, daß Fälle, in denen die erbetene Tötung eines anderen der letzte
Ausweg aus unerträglichen Qualen sein könnte, nur noch selten sind.
Schmerzzustände können heute durch schmerzstillende Mittel in aller
Regel beherrscht werden. Das schließt jedoch nicht aus, daß es hin und
wieder erbetene Tötungen geben kann, bei denen die Unentrinnbarkeit
der Situation und die Tragik des Geschehens jeden menschlichen Vor-
wurf entfallen lassen. Solche Extremfälle, die offenbar so selten sind, daß
in der Judikatur bisher keiner bekannt geworden ist, würden sich auch
nach geltendem Recht noch im Sinne der Straflosigkeit lösen lassen. Es
ginge hier darum, daß durch den in solcher Extremsituation entstande-
nen Gewissenskonflikt der Arzt oder ein Angehöriger einem solchen
Motivationsdruck ausgesetzt sein kann, daß die Möglichkeit, rechtmäßig
zu handeln, auf ein strafrechtlich unerhebliches Minimum herabgesetzt
wird. Die anerkannte Lehre vom übergesetzlichen entschuldigenden
Notstand, die mit dem Blick auf schuldausschließende Gewissenskon-
flikte entstanden ist, bildet das Notventil, das für den Strafausschluß in
derartigen extremen Einzelfällen in Betracht kommt43.
An alledem zeigt sich, daß das geltende Recht für sämtliche auftau-
chenden Fragen Antworten bereithält. Es nimmt kein Unrecht an,
solange nicht die Grenze zur direkten aktiven Euthanasie überschritten
ist. In den letztgenannten Fällen läßt es zudem die Möglichkeit offen, in
Extremfällen die Schuld zu verneinen.
III.
Ist nun diese Rechtslage reformbedürftig, wie das teilweise behauptet
wird?
1. Am weitesten geht die Forderung, die Tötung auf Verlangen über-
haupt für zulässig zu erklären44. Diese Forderung reicht über den
Bereich der Euthanasie, also Fällen der Abkürzung eines schon begon-
nenen Sterbens, weit hinaus. Sie umfaßt alle Situationen, in denen
jemand des Lebens müde, und sei es nur noch aus Liebeskummer, sich
auf eigenen Wunsch hin töten läßt.
a) Dafür scheint der Gedanke der Selbstbestimmung des Menschen zu
sprechen. Es wird behauptet, daß der Mensch nicht nur ein Recht auf
Leben habe, sondern auch ein Recht darauf, über seinen Tod frei zu
bestimmen. Ein solches Recht läßt sich jedoch weder aus der Verfassung
noch aus sonstigen rechtlichen Erwägungen ableiten. Es widerspräche
nicht nur den überkommenen Wertvorstellungen der Gesellschaft und
den Ergebnissen der heutigen Selbstmordforschung45, sondern wäre
auch ein Widerspruch in sich. Die Rechtsordnung ist ihrem Wesen nach
eine Schutz- und Friedensordnung für die Mitglieder der Gesellschaft.
Sie soll dazu dienen, ein bellum omnium contra omnes zu verhindern,
also dem einzelnen das Existieren in der Gesellschaft zu ermöglichen.
Infolgedessen würde die Anerkennung eines solchen Rechts, d. h. eines
Rechts auf Vernichtung der eigenen Existenz, eine Negation der Auf-
gabe der Rechtsordnung bedeuten. Der Gedanke, daß ein Lebensmüder,
der sich durch Dritte an der Ausführung des Suizids oder der Tötung
durch einen dazu bereiten anderen behindert sieht, gegen die Behinderer
auf Unterlassung klagen könnte, hieße im Ergebnis: Staatliche Gerichte
hätten die Behinderung eines Selbstmords oder einer Tötung auf Verlan-
gen zu untersagen. Diese makabre Konsequenz erscheint um so fataler,
wenn man bedenkt, daß die meisten Kulturstaaten schon die Teilnahme
am Selbstmord ganz oder teilweise pönalisieren. Daß diese nach deut-
schem Recht nicht als Tötungsdelikt unter Strafe gestellt ist, würde
durch die Anerkennung eines solchen Rechts - und sogar noch dessen
Ausdehnung auf die Tötung auf Verlangen - eine Überhöhung ins
Absurde erfahren. Um was es nur geht, ist nicht eine Berechtigung,
sondern der bewußte Verzicht der Rechtsordnung auf ein Verbot des
Selbstmords (Selbstmordversuchs) und der Beteiligung des Opfers an
der Tötung auf Verlangen (resp. deren Versuchs).
Das Selbstbestimmungsrecht hat in dem zur Erörterung stehenden
Bereich allein die Bedeutung, daß dem einzelnen grundsätzlich die
Entscheidung darüber zusteht, ob er sich gegen eine bedrohliche
Erkrankung oder Verletzung ärztlich behandeln läßt. Er ist berechtigt,
sich gegen eine eigenmächtige Heilbehandlung zur Wehr zu setzen.
Dieses Recht ist lediglich für den Fall eingeschränkt, daß es um einen
Suizidpatienten geht, also die ärztliche Versorgung nach einem Selbst-
mordversuch in Rede steht, da hier die oben angeführten Erwägungen
zur Geltung kommen46.
angenommen wird, denn hat der Selbstmordversuch den Suizidenten in einen Zustand
gebracht, der entweder gar keine Lebensrettung oder aber eine Rettung nur um den Preis
einer schweren Dauerschädigung, insbesondere des Gehirns, erwarten läßt, so gilt auch
hier nichts anderes als in den oben behandelten Normalfällen (vgl. Fn. 25).
612 Hans Joachim Hirsch
Vor allem aber muß man beachten, daß selbst dann, wenn man ein
Recht auf Selbstmord für möglich hielte, damit noch nichts über die
Fälle ausgesagt wäre, in denen es um eine auf Wunsch des Opfers
erfolgende Fremdtötung geht. Denn zwischen einem Recht, selbst Hand
an sich zu legen, und einem Recht, Hand an das Leben eines, wenn auch
damit einverstandenen, anderen zu legen, besteht ein deutlicher sach-
licher und rechtlicher Unterschied.
Man führt nun allerdings an, daß es widersprüchlich sei, einerseits den
versuchten Selbstmord und die Teilnahme am Selbstmord straflos zu
lassen, andererseits die auf Verlangen des Opfers vorgenommene Tötung
zu bestrafen. Die Zulassung des Selbstmords zeige doch, daß man das
Leben dann nicht mehr als strafrechtlich schutzbedürftig ansehe, wenn
es sich darum handelt, daß jemand seinem Dasein ein Ende setzen will.
Ginge es wirklich um einen vom Willen des Betreffenden unabhängigen
Lebensschutz, dann seien konsequenterweise auch der Selbstmordver-
such und die Teilnahme am Selbstmord für strafbar zu erklären. Indes,
sieht man genauer hin, handelt es sich nur um einen scheinbaren
Widerspruch - eben weil es auch rechtlich einen gravierenden Unter-
schied bedeutet, ob es um eine Selbstverletzung oder eine, wenn auch
einverständliche, Fremdverletzung geht. Denn hinter dem Verbot der
Fremdtötung steht nicht bloß der Gedanke des Respekts vor dem Leben,
sondern genauer der der Wahrung des Respekts vor dem Leben der
Mitmenschen. Dieser Gesichtspunkt aber ist unabhängig vom Verlet-
zungseinverständnis des einzelnen Betroffenen. Man hat deshalb auch
vom Erfordernis der Unantastbarkeit (dem Tabu) fremden Menschenle-
bens gesprochen 47 . Wenn das Gesetz eine Strafbarkeit der Tötung auf
Verlangen vorsieht, ist daher dabei die ausschlaggebende Erwägung, daß
im Interesse der Sicherung des Lebens der Mitmenschen eine Tabuisie-
rung, eine prinzipielle Unantastbarkeit fremden Lebens notwendig ist.
Hinzu kommt: Ob ein Mensch wirklich sterben will, ist mit letzter
Sicherheit nicht aus seinen Worten, also dem an einen anderen gerichte-
ten Tötungswunsch, sondern allein aus seinem Handeln, nämlich der
Selbsttötung zu entnehmen 48 .
b) Im übrigen findet der allgemeine, elementare Gesichtspunkt der
Sicherung der prinzipiellen Unantastbarkeit fremden Lebens gegenüber
gezielten Tötungen, wie er der geltenden Regelung zugrunde liegt, seine
Bestätigung noch durch folgende Erwägungen:
47 Engisch, in: H.Mayer-Festschrift, 1966, S. 399, 415; Hirsch (Fn.15), S.779; Jäbnke
(Fn. 20), Vor §211 Rdn.14; siehe auch Peters, JR 1950, 742, 743; einschränkend neuer-
dings Webend, ZStW 98 (1986), 44, 67 f.
48 Roxin (Fn. 30), S. 93.
Behandlungsabbruch und Sterbehilfe 613
49 Hirsch (Fn. 15), S. 791; siehe auch schon Simson (Fn. 15), S. 109.
50 Hirsch (Fn. 15), S. 791.
51 Hirsch (Fn. 15), S.791; Hanack (Fn. 15), S. 155; Roxm (Fn.30), S.93.
52 Zum Argument des nächsten Schrittes siehe Engisch, in: Schaffstein-Festschrift,
1975, S. 1.
614 Hans Joachim Hirsch
Im übrigen ist nicht aus dem Blick zu verlieren, daß Fälle, in denen die
erbetene Tötung als der letzte Ausweg aus unerträglichen Qualen
erscheint, nur selten vorkommen, weil Schmerzzustände heute in aller
Regel durch Analgetica beherrscht werden können. Es geht daher ledig-
lich um jene kleine Gruppe extremer Konfliktlagen, bei denen eine
Situation so zugespitzt und das Geschehen so von Tragik gezeichnet ist,
daß ein Vorwurf verstummt. Aber das liegt rechtlich auf einer anderen
Ebene als der der Rechtmäßigkeit des Verhaltens. Es geht nur um ein
ausnahmsweises Entfallen der Schuld.
Mit Recht lehnt die im strafrechtlichen Schrifttum herrschende Auf-
fassung deshalb eine allgemeine Freigabe der direkten aktiven Euthanasie
ab und beschränkt sich darauf, auch de lege ferenda lediglich für
vereinzelte Extremfälle - die sich nach geltendem Recht durch den
übergesetzlichen entschuldigenden Notstand erfassen lassen - eine aus-
nahmsweise Straflosigkeit des weiterhin als rechtswidrig eingestuften
Verhaltens vorzusehen 56 .
3. Die Frage einer Gesetzesreform reduziert sich deshalb auf den Punkt,
ob es erforderlich ist, die im vorhergehenden aufgezeigte Rechtslage
ausdrücklich durch den Gesetzgeber klarzustellen".
Dafür könnte sprechen, daß in der Öffentlichkeit und auch in der
Ärzteschaft Unklarheiten über den geltenden Rechtszustand verursacht
worden sind. Diese Unklarheiten sind, wie oben schon ausgeführt
wurde, durch anfängliche Unsicherheiten im arztrechtlichen Schrifttum,
vor allem aber durch Journalisten entstanden, denen berufsspezifisch die
Fähigkeit zu präziser Differenzierung abgeht. Aber es gibt auch zahlrei-
che andere Bereiche des Strafrechts, in denen Laien nur ungenaue
Vorstellungen über die genauen Grenzen der Strafbarkeit haben. Wäre
es anders, brauchte man keine sachkundigen Juristen. Ausschlaggebend
für einen Gesetzgebungsbedarf kann deshalb hier nur sein, ob für den
geschulten Juristen die Rechtslage klar ist. Da sich die oben aufgezeigte
Lösung zwingend nach geltendem Recht ergibt und die Straflosigkeit der
genannten Fälle herrschender Lehre entspricht, handelt es sich lediglich
darum, daß die Rechtsprechung diese Ergebnisse in die Praxis umsetzt.
Daß in BGHSt. 32, 367 die Chance zu einem solchen Vorgehen vertan
worden ist und obendrein einige unhaltbare Thesen aufgestellt worden
sind, sollte für den B G H wohl Anlaß sein, bei einer erneuten Befassung
56
Vgl. Engisch (Fn.47), S.412f; Geilen (Fn.15), S.29; Hirsch (Fn. 15), S. 800; ders.
(Fn. 42), Vor §32 Rdn.204; Hanack (Fn. 15), S. 151 ff; Möllenng (Fn. 15), S.93ff; Roxtn
(Fn. 30), S. 93 f; Eser (Fn.42), Vor §211 R d n . 2 4 f ; Dreher/Tröndle (Fn.27), Vor §211
Rdn. 13; Lackner (Fn.20), Vor §211 A n m . 2 d ; so jetzt auch §216 Abs.2 AE-Sterbehilfe.
57
Auf die Klarstellungsaufgabe will sich auch der AE-Sterbehilfe beschränken, vgl.
Begründung S. 3 f.
616 Hans Joachim Hirsch
58 Aus den genannten Gründen hat die im AE-Sterbehilfe vorgesehene Regelung (§214)
im StGB keinen Platz. Darüber hinaus genügen zur Orientierung der Ärzteschaft die von
ärztlichen Ethikkommissionen festgelegten Richtlinien. Da diese teilweise strenger sind als
das Deliktsrecht, kann der an seinen beruflichen Richtlinien orientierte A r z t nicht in
Konflikt mit dem Strafrecht geraten.
59 Zur ausländischen Rechtslage eingehend Simson/Geerds (Fn. 7), S. 63 ff.
60 Vgl. die Nachw. in Fn.45.
Behandlungsabbruch und Sterbehilfe 617
IV.
Daß die eigentliche Problematik der Sterbehilfe woanders liegt als bei
einer Gesetzesreform, hat der Bonner Moraltheologe Böckle treffend mit
den Worten zum Ausdruck gebracht: „Ich fürchte sehr, daß wir
Gesunde uns heute mit einem theoretischen Streit über die Berechtigung
aktiver oder passiver Euthanasie an den wirklichen Problemen des
menschlichen Sterbens und der notwendigen Sterbehilfe vorbeidrücken.
Wir müssen uns in erster Linie darum bemühen, daß unsere Kliniken
nicht nur als Service-Stationen optimaler biotechnischer Versorgung
gelten können, sondern daß ein Klima geschaffen und eine personale
Hilfe ermöglicht wird, die dem Verlangen der Sterbenden nach Beistand
entspricht 68 ."
I.
Das 1. Strafrechtsreformgesetz von 1969 beschränkte sich auf die
Reformanliegen, die als besonders dringlich angesehen wurden. Zu
ihnen rechnete der Gesetzgeber offenbar auch die Reform der §§ 236 und
237 1 . Sie wurden zunächst miteinander ausgetauscht2. §237 n. F. knüpft
also an §236 a. F. an, was für die Auslegung von Bedeutung ist. Die neue
Vorschrift erhielt anstelle der herkömmlichen Bezeichnung „Frauen-
raub" die lasche Uberschrift „Entführung gegen den Willen der Entführ-
ten" 3 . Im übrigen wurde der Tatbestand zweiaktig ausgestaltet, was in
unserem Strafgesetzbuch eine große Seltenheit ist, und inhaltlich ein
ganzes Stück in Richtung auf die Sexualstraftaten verschoben. So ent-
stand die nachfolgende Bestimmung:
„Wer eine Frau wider ihren Willen durch List, Drohung oder Gewalt entführt,
namentlich mit einem Fahrzeug an einen anderen O n bringt, und eine dadurch für sie
entstandene hilflose Lage zu außerehelichen sexuellen Handlungen (§ 184 c) mit ihr
ausnutzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft."
II.
1. Ziemlich bald wurde darauf hingewiesen, daß der Täter eine „hilflose
Lage" nur ausnützen könne, wenn er sie vorher geschaffen habe.
Obgleich der Gesetzeswortlaut eigentlich hinreichend ist („dadurch für
sie entstandene hilflose Lage"), sah sich BGHSt. 24, 90 doch zu einer
richterlichen Ergänzung des ersten Aktes veranlaßt4. Danach ist dieser
Akt wie folgt zu lesen:
„Wer eine Frau wider ihren Willen durch List, Drohung oder Gewalt entführt und
dadurch in eine hilflose Lage bringt."
Diese Ergänzung ist von BGHSt. 29, 233 bestätigt5 und, soweit ich
sehe, auch in der Wissenschaft allgemein übernommen worden. -
Natürlich muß der Erweiterung des objektiven Tatbestandes auch eine
Erweiterung des Vorsatzes entsprechen, und die Rechtsprechung legt
großes Gewicht darauf, daß der Täter das Bewußtsein hat, die Frau in
eine hilflose Lage zu bringen6.
J. Praktisch weit bedeutsamer als der eben behandelte Streit ist ein
anderer, der sich mit der Neuformulierung der Vorschrift einstellte. Es
ging und geht dabei um die Frage, ob der Täter den sexuellen Vorsatz
schon bei Beginn der Entführung haben muß, oder ob es genügt, wenn
er ihn in einem späteren Zeitpunkt faßt. Der Streit über diese Frage
entzweit nicht nur die Literatur9, sondern leider auch die Senate des
Bundesgerichtshofs. Zwar begnügen sich die in der Amtlichen Samm-
lung abgedruckten Entscheidungen mit dem Vorliegen des sexuellen
Vorsatzes in einem späteren Zeitpunkt10; aber andere Entscheidungen
fordern diesen Vorsatz bereits für den Beginn der Entführung11. Daß die
Frage noch nicht dem Großen Strafsenat vorgelegt worden ist, erscheint
11 BGH bei Dallinger MDR 1970, 197; BGH NJW 1972, 648.
Reform der Reform des § 2 3 7 StGB? 623
als ein besonders krasser Fall von Horror pieni12. Jede höchstrichterliche
Entscheidung wäre besser als die gegenwärtige Divergenz. Aus dem
Wortlaut der Vorschrift läßt sich die Frage jedenfalls nicht lösen, wie
sich bereits daraus ergibt, daß sich beide Ansichten auf den Wortlaut
berufen 13 . Kriminalpolitisch verdient freilich die in Rechtsprechung und
Literatur überwiegende Ansicht den Vorzug. Würde man nämlich ver-
langen, daß der sexuelle Vorsatz schon bei Beginn der Entführung
vorliegen müsse, so würde kein Beschuldigter bereit sein, dies zuzuge-
ben, und die Schutzbehauptung, er habe den sexuellen Vorsatz erst
später gefaßt, könnte in aller Regel nicht widerlegt werden.
15 Kienzle, Der Widerstreit der Tatbestandsmerkmale „List" und „wider ihren Willen"
in § 2 3 7 StGB, Freiburger Dissertation 1985, S. 76ff.
" Roxin, Uber die mutmaßliche Einwilligung, in: Festschrift für Hans Welzel, 1974,
S.461.
624 Rudolf Schmitt
„Der Angeklagte erklärte sich in einem Tanzlokal gegen 2.00 Uhr morgens auf Bitten
der mit ihm flüchtig bekannten, damals 18jährigen Zeugin Sylvia B. bereit, sie in seinem
PKW nach Hause zu fahren. Als er seinen Wagen nicht zu ihrer Wohnung, sondern in
entgegengesetzter Richtung steuerte und die Zeugin deswegen nach dem Fahrziel
fragte, antwortete der Angeklagte, er müsse noch zu sich nach Hause. Als er angekom-
men war, sagte der Angeklagte zu der Zeugin, sie solle mit hinaufgehen. Sie tat es. Im
Schlafzimmer packte der Angeklagte die sich wehrende Zeugin, würgte sie und vollzog
gewaltsam den Geschlechtsverkehr mit ihr."
Daß der Angeklagte hier mit „List" vorgegangen ist, dürfte offen-
sichtlich sein. Aber hat er auch „wider ihren Willen" gehandelt? Der
Senat glaubt, dieses Problem mit folgender Sentenz lösen zu können:
„Das mit einem solchen Willensmangel" (nämlich der Täuschung)
„behaftete Einverständnis ist unbeachtlich, kann infolgedessen keine
tatbestandsausschließende Wirkung haben . . ," 18 . Es folgen Hinweise
auf entsprechende Ansichten in Rechtsprechung und Literatur, und in
der Tat läßt es sich kaum bestreiten, daß diese Auffassung für § 2 3 7 ganz
überwiegend vertreten wird. Was mich stört, ist der Anspruch auf
Allgemeingültigkeit, den der zitierte Satz des B G H erhebt. Es sei doch
17
Kienzle a.a.O. S.68/69.
18 BGHSt. 32, 269/70.
Reform der Reform des §237 StGB? 625
19
Vgl. die Nachweise bei Schänke/Schröder/Lenckner, 22. Aufl. 1985, §123, Rdn.22.
20
Dafür liegt regelmäßig ein Sachbetrug vor.
21
Noch zu § 236 a. F., was aber keinen Unterschied im Problem bedeutet.
22
Lobenswerte Ausnahmen: Grein, Die Entführung, Stuttgart (Wirtemberg), 1974,
S. 109; Kienzle a . a . O . S.26.
626 Rudolf Schmitt
die einzigen sind, die die Existenz des §237 überhaupt rechtfertigen 23 . Es
sind zudem die Fälle, die unsere Praxis in der Regel zu beschäftigen
pflegen.
Also bliebe nur die Streichung der Worte „wider ihren Willen". Dann
freilich wäre §237 kein Freiheitsdelikt mehr, sondern müßte bei den
Sexualstraftaten untergebracht werden. Dieser Gedanke ist keineswegs
neu, sondern schon in §209 des Entwurfs 1962 verwirklicht, der seiner-
seits wieder auf ein älteres Vorbild zuriickgriff 24 .
Die letztgenannte Lösung hätte auch den Vorteil, die leidige Konkur-
renzproblematik des §237 zu beseitigen. Da die Vorschrift kein Spezial-
fall der Freiheitsberaubung ist, aber in aller Regel im Wege der §§ 239,
240 verwirklicht wird, liegt an sich ein Fall der Konsumtion mit Vorrang
des §237 vor. Dies ergibt aber, wie seit langem erkannt ist, völlig
ungereimte Ergebnisse, weil man bei der Festlegung des Strafrahmens
das „strafrechtliche Umfeld" nicht hinreichend berücksichtigt hat. Wenn
deshalb fast alle Autoren für das Verhältnis der echten Idealkonkurrenz
im Sinne des §52 eintreten 25 , so ist das vom Ergebnis her begreiflich,
aber dogmatisch kaum zu begründen. Wäre hingegen §237 eine Sexual-
straftat, so wäre das Ergebnis der h. M. schon wegen der Verschieden-
heit der geschützten Rechtsgüter selbstverständlich.
III.
Insgesamt zeigt §237 mit besonderer Deutlichkeit, daß eine übereilte
Reform nicht nur alte Mängel konserviert, sondern auch neue hinzufügt.
23
Zutreffend Eser a. a. O . § 237 Rdn. 23 und Kienzle a. a. O . S. 89.
24
Näher Kienzle a. a. O . S. 93.
25
So auch Lackner, 16. Aufl. 1985, §237 Anm.5.
Ein Plädoyer für die Verfassungsmäßigkeit
des § 2 4 0 StGB
HERBERT TRÖNDLE
I.
§240 StGB schützt die Willensentschließungs- und Willensbetäti-
gungsfreiheit des Bürgers. Dieses Rechtsgut ist schon seinem Wesen
nach nicht so leicht faßbar wie etwa das Rechtsgut des Lebens oder des
Sacheigentums. Gleichwohl hat aber gerade eint freiheitliche Rechtsord-
nung - will sie diesen Namen verdienen - die Willensbetätigungs-
(Handlungs-)freiheit ihrer Bürger im Hinblick auf die Grundrechte der
Würde des einzelnen, der Freiheit seiner Person und der freien Entfal-
tung seiner Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 S. 2 in V. m. Art. 1
Abs. 1 GG) ubiquitär zu sichern, freilich immer im Blick auf die
Eingebundenheit des einzelnen in die Gemeinschaft, also stets im Rah-
men der Verschränkung von Freiheit und Bindung, wie sie sich aus dem
rechtlich geordneten sozialen Leben ergibt.
Für die Auslegung der Nötigungsvorschrift und für ihre verfassungs-
rechtliche Überprüfung hat das Konsequenzen: Die Verfassung gebie-
tet nicht etwa eine Auslegung des Tatbestandsbestimmtheitsgebots
(Art. 103 Abs. 2 GG) in der Weise, daß sie zu einer sachwidrigen
Verkürzung des Schutzes der Freiheitsrechte - oder gar der Notrechte -
aller Bürger führen müßte. Die verfassungsrechtlichen Schutzrechte des
Ein Plädoyer für die Verfassungsmäßigkeit des § 240 StGB 629
II.
Vergegenwärtigen wir uns daher den Sachverhalt der ersterwähnten
Verfassungsbeschwerde1 :
Die Beschwerdeführer ketteten sich mit anderen Blockadeteilnehmern dergestalt an-
einander, daß jeder von ihnen eine mit Vorhängeschlössern verbundene Gesamtkette
eng um seinen Körper schlang und diese Umgürtung an zwei Kettengliedern jeweils mit
einem weiteren Vorhängeschloß verschloß. Die dergestalt zusammengeketteten Blok-
kierer ließen sich dann 7 m vor dem Haupteingang der Eberhard-Finckh-Kaserne in
Engstingen nieder. Die Enden ihrer Kette ließen sie von Helfern an einem Verkehrs-
schild auf der einen und an einem Eisenpfosten des Wachgebäudes auf der anderen Seite
mit weiteren Vorhängeschlössern verschließen. Den Schlüssel verwahrte ein in der
Nähe befindliches Mitglied der Aktionsgemeinschaft.
Der gesamte Fahrverkehr von und zur Kaserne mußte - bei einem Umweg von
mindestens 1 km - auf einen Seiteneingang geführt werden. Nach 24 Stunden schnitt die
Polizei die Eisenkette an mehreren Stellen mit einem Bolzenschneider durch und trug
die Blockierer auf die Straßenseite.
Keine Rede kann davon sein, daß diese Auslegung den möglichen
Wortsinn überschritte. Die angeketteten Sitzblockierer haben daher
physische Gewalt ausgeübt. Gewalt ausüben heißt nicht nur, sie anwen-
den, sondern auch Gegengewalt aufzwingen. Diese Form der Gewalt
kann übrigens noch bedrohlicher sein und scheinheilig ist sie obendrein:
Sie kalkuliert nämlich meist die Friedfertigkeit des Genötigten mit ein,
der keine andere Wahl hat, als selbst Gewalt anzuwenden oder - wie die
deutsche Sprache untrüglich sagt - „der Gewalt zu weichen".
Seit RGSt. 27, 405 (im Jahre 1895 war ein Gerichtsvollzieher bei einer
Vollstreckungshandlung vom Schuldner eingesperrt worden) kann nicht
daran gezweifelt werden, daß Einsperren und Aussperren Gewaltaus-
übung sind4. Schon damals hob man nicht (in erster Linie) auf die
Kraftentfaltung des Täters ab, sondern auf die vom Opfer aufzubrin-
gende Kraft, sich des Hindernisses zu erwehren. Nötigung enthält das
Wort „Not", also schon sprachlich - nicht allein etwa wegen der B G H -
Rechtsprechung — liegt das Gewicht bei der Zwangs Wirkung. Letztlich
kann die Gewalt ihre Inhaltsbestimmung auch nur von der Opferseite
erhalten (so sind auch die unterschiedlichen Nuancen des Gewaltbegriffs
bei den verschiedenen Tatbetänden zu erklären!). Die Uberwindung
eines aus Menschen bestehenden Hindernisses kann zudem riskant sein,
weil der Genötigte vor Gegenwehr nie sicher ist. Der Notwehrübende
hat daher in diesen Fällen auch größere Hemmungen, als wenn er sich
nur eines Sachhindernisses erwehren müßte. Sitzblockaden spekulieren
darauf.
Auf die zahlreichen einfachrechtlichen Abgrenzungsfragen des
Gewaltbegriffs kommt es hier gar nicht an. Daher ist bei Sitzblockaden
eine Problematisierung des Gewd/imerkmals unter verfassungsrecht-
lichen Aspekten insbesondere dann schwer verständlich, wenn eine stark
III.
Noch stärker wird die Tatbestandsbestimmtheit der Verwerflichkeits-
klausel des §240 angegriffen. Aber auch das zu Unrecht. Ihr Sinn ist,
sozial tolerable Zwänge von der Strafdrohung auszunehmen. §240
Abs. 2 hat für das Tatbestandsmerkmal der Gewalt - anders ist es bei
dem des empfindlichen Übels - ohnehin nur geringe Bedeutung. Im
übrigen ist die sachliche Aussage der Verwerflichkeitsklausel auch in
neueren Gesetzen anderer Länder enthalten oder ihnen immanent. Das
österreichische StGB von 1975 (§105 Abs. 2) bestimmt:
„Die Tat ist nicht rechtswidrig, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Drohung
als Mittel zu dem angestrebten Zweck nicht den guten Sitten widerstreitet."
IV.
Wenn demgegenüber Calliess10 die Rechtswidrigkeitsklausel des § 240
Abs. 2 StGB mit dem Schellengeklapper nationalsozialistischer Herkunft
behängt, muß er sich die Frage gefallen lassen, was er eigentlich damit
bezwecken will: mit einem Sachgrund hat das überhaupt nichts zu tun
und vergleichsweise wenig mit der rechtsgeschichtlichen Entwicklung
dieser Formel. Daß selbst im Dritten Reich da und dort reife Früchte
einer - bis 1933 rechtsstaatlichen - Reformentwicklung geerntet wurden,
nimmt er nicht zur Kenntnis. Er unterstellt (NJW 1985, 1507) sogar der
Reformentwicklung seit der Jahrhundertwende (!) „Bestrebungen", die
Nötigungsvorschrift „zum Auffangtatbestand für politisch mißliebiges
Verhalten im Arbeitskampfrecht umzugestalten"! Diese - falsche -
Argumentation stimmt verdrießlich. Ignoriert sie doch absichtsvoll, daß
drei Juristengenerationen sich unter rechtsstaatlichen Vorzeichen um die
Strafrechtsreform bemüht haben. Calliess rekurriert auf eine Gesetzes-
fassung des letzten Jahrhunderts und offeriert im Zeitalter der Compu-
tertechnik und der Elektronik zum Schutz des Rechtsguts der Freiheit
des einzelnen Bürgers juristisches Handwerkszeug, das man schon für
überholt hielt, als in Berlin noch Pferdebahnen fuhren.
Sein Vorschlag verschweigt Wesentliches und verweist Relevantes in
die Marginalität, so ζ. B., daß
- schon 1902 Binding den damaligen § 240 für veraltet hielt, eben weil
intensiver Zwang auch ohne Körperkraft möglich sei,
- daher alle Entwürfe seit 1909 die Nötigungsvorschrift deutlich,
wenn auch in verschiedener Weise, vor allem in Richtung der
„Zwangswirkung" erweiterten,
- insbesondere der Strafgesetzentwurf des damaligen sozialdemokra-
tischen Reichsjustizministers Radbruch (§§246, 247) - ebenso wie
die Entwürfe 1925 bis 1930 (§§279, 280) - die Nötigungsvorschrift
um den Tatbestand der Ehrennötigung ergänzte und vor allem die
8 N J W 1986, 1883.
Es ist daher durch nichts dargetan, daß die üblich gewordenen Sitz-
blockaden in der langen Rechtsgeschichte je hätten anders beurteilt
werden können denn als Nötigung.
Für die Rechtsbereinigung und die Strafrechtsreform unter der Gel-
tung des Grundgesetzes kam eine Rückkehr zur Fassung vor 1943 nicht
in Betracht. Der Gesetzgeber hat auch ganz bewußt die Korrektur des
Tatbestandes über die Mittel-Zweck-Relation beibehalten und die
damals schon erhobenen Einwände Hellmuth Mayers11 mit Recht für
unbegründet gehalten. Eine sachgemäßere Lösung fand sich nämlich
nicht (und wurde bis heute noch nicht gefunden). Der Entwurf eines
3. Strafrechtsänderungsgesetzes wollte zunächst bei der Rechtswidrig-
keitsklausel darauf abheben, ob
" . . . die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten
Zweck gegen die guten Sitten verstößt".
V.
Nun wird immer wieder geltend gemacht, daß ein Eintreten für den
Frieden niemals ein verwerflicher Zweck sein könne. Dieser Einwand ist
schon deshalb unbeachtlich, weil der Nötiger schließlich nicht weiß, von
welchem Friedenswillen der Genötigte erfüllt ist. Solange dieser sein
Notwehrrecht nicht ausübt, ist er jedenfalls friedfertiger einzuschätzen.
Der Einwand geht aber auch deshalb fehl, weil es bei der Mittel-Zweck-
Relation nur auf den unmittelbaren Zweck des nötigenden Verhaltens,
also hier auf die Blockierung der Ein- und Ausfahrt der Kaserne,
ankommen kann. Wer meint, diese Sicht greife zu kurz, bedenkt nicht,
daß erst das Pochen auf Beachtung der Fernziele, die ja in den Fällen der
Nötigung sehr verschieden sein können und keineswegs verläßlich fest-
stellbar sind, zu einer Tatbestands««bestimmtheit führen muß, die die
Vorschrift sonst nicht aufweist. Und woher will der Nötiger eigentlich
wissen, wie dringlich das Interesse des Genötigten ist, dem Willens-
zwang zu trotzen? Das einseitige Insistieren auf hehren Fernzielen läßt
erkennen, daß es den Kritikern des §240 StGB weniger um dessen
Bestimmtheit als vielmehr darum geht, eigenen „Fernzielen" unter Miß-
achtung der Schutzvorschriften zugunsten anderer Bürger Publizität zu
verschaffen.
Blindheit auf einem Auge behindert auch die Sicht fürs Ganze.
Nehmen wir z.B. einmal an,
- man zwänge weggetragene Blockierer durch eine Menschenmauer
aus Soldaten, über Lautsprecher Informationen darüber anzuhören,
was etwa in Afghanistan wirklich vorgeht,
gäbe es da Zweifel an der Verwerflichkeit des Vorgehens? Und wäre es
nicht vorstellbar, daß künftig einmal Sitzblockaden - wie weiland in
Engstingen - durchgeführt werden,
Ein Plädoyer für die Verfassungsmäßigkeit des § 240 StGB 635
VI.
Auch aus „guten Zwecken" kann - wie auf dieser Welt hinreichend
bekannt ist - terrorisiert werden. Die Strategie ist bekannt: die unguten
Mittel werden euphemistisch beschönigt:
- Da ist von „schlichtem" Sitzen die Rede, das keine Gewalt sein
könne (Untergerichte haben diese Vokabel schon gedankenlos auf-
genommen)13. Man vernebelt dabei den eigentlichen Vorgang, näm-
lich das aktive und die Grundrechte anderer mißachtende absichts-
volle Sichhinsetzen, das den Genötigten zum bloßen Werkzeug
einer Aktion herabwürdigt, mit der er nichts zu tun hat, nichts zu
tun haben will und die er durch sein Verhalten weder ausgelöst hat
noch deren Ursache er beseitigen kann. Dieses „schlichte Sitzen"
spekuliert darauf, daß die Genötigten von ihrem Notwehrrecht
keinen Gebrauch machen, sich also der Gewalt beugen oder - falls
sie dazu überhaupt in der Lage sind - die Blockierer in einem für
beide Seiten entwürdigenden Vorgang wegtragen.
Im übrigen ist für die Blockierer nicht ihr Eintreten für den Frieden
kennzeichnend. Vielmehr kommt die Problematik erst auf den Punkt,
wenn man erkennt, daß sie sich allein durch die Art und Weise von ihren
Mitbürgern unterscheiden, in der sie ihre Überzeugung von der Frie-
denserhaltung kundtun. Das geschieht - unter dem evidenten Verstoß
gegen die Gesetze und der Mißachtung von Entscheidungen demokra-
tisch legitimierter Instanzen - vor allem unter Geringschätzung der
Meinung anderer Mitbürger, von denen nicht wenige umgekehrt für den
seit vier Jahrzehnten erhaltenen Frieden gerade deshalb fürchten, weil
die Blockierer, die an dem Risiko eines feindlichen atomaren Angriffs-
krieges schwerlich etwas ändern, die Gefahren eines konventionellen
Krieges vervielfachen.
Entscheidend ist also allein, ob es in dieser lebenswichtigen Frage
einer militanten Minderheit erlaubt sein kann, sich über demokratische
Entscheidungsprozesse unter Verstoß gegen die Gesetze hinwegzuset-
zen. Das Wort vom „zivilen Ungehorsam" ist in einem demokratischen
Rechtsstaat ein Ungedanke. Er verdient vom Bundesverfassungsgericht
lapidar und lakonisch ebenso verbeschieden zu werden, wie dies das
schweizerische Bundesgericht hinsichtlich der Beweggründe und Motive
für einen „Menschenteppich" tat. Wer diese aus dem Kampf gegen
Kolonialherren stammende Vokabel in unserem Gemeinwesen für dis-
kussionswürdig hält, hat die Grundprinzipien der rechtsstaatlichen Ord-
nung entweder nicht verinnerlicht oder es geht ihm darum, sie auszuhe-
beln.
Zweierlei sei damit gesagt. Zum einen: sog. „friedliche Sitzblockaden"
sind verwerflich im Sinne einer „sozial unerträglichen" Handlungsweise.
Denn diese rechtliche Folgerung läßt sich schon aus den Grundstruktu-
ren der rechtsstaatlichen Ordnung unmittelbar ablesen. In Fällen von
Sitzblockaden tritt daher die angebliche Unbestimmtheit der Norm
überhaupt nicht in Erscheinung. Zum anderen: Das Gesagte ist auch von
verfassungsrechtlicher Relevanz. Wenn Sitzblockaden ohne strafrecht-
liches Risiko organisiert werden können, ist es Feinden unserer rechts-
638 Herbert Tröndle
VII.
Die Frage, ob das in Art. 8 G G garantierte Grundrecht der Versamm-
lungsfreiheit durch §240 so konkret eingeschränkt worden ist, daß
jedermann erkennen kann, daß auch Sitzblockaden verboten sind,
scheint mir nach dem bisher Ausgeführten beantwortet. Dabei weiß ich,
daß das Grundgesetz gerade auch für das Strafrecht zwingende Ausle-
gungsschranken setzt. Nur finde ich als Strafrechtler keine Anhalts-
punkte dafür, daß sich aus dem Bestimmtheitsgebot, dem § 240 StGB im
übrigen - nach dem bisher Gesagten - hinreichend gerecht wird, im
Hinblick auf Art. 8 G G Bedenken ergeben könnten. Das schon deswe-
gen nicht, weil Ankettungsaktionen und Sitzblockaden, die wider Recht
und Gesetz lediglich darauf angelegt sind, lebenswichtige Verkehrsvor-
gänge zu behindern und einer Vielzahl von Mitbürgern den Willen der
Blockierer aufzuzwingen, schwerlich dem freundlichen Rechtsbegriff
der „friedlichen Versammlung" unterstellt werden können. Daß dies da
und dort geschieht, verwundert angesichts dessen, was eine so verstan-
dene „Friedlichkeit" anderen Bürgern - wohlgemerkt unter dem Mar-
kenzeichen einer freiheitlichen Verfassung - hinzunehmen zumutet. Wie
friedlich wäre eigentlich eine solche Versammlung, wenn die Genötigten
alle von ihrem Notwehrrecht Gebrauch machen würden? Man sollte
schon darüber nachdenken, was es eigentlich mit dem Lamento um die
sog. „Vergeistigung des Gewaltbegriffs" auf sich hat, mit dem mir eine
„Ver-Ungeistigung des Friedlichkeitsbegriffs" einherzugehen scheint.
Äußert sich hier nicht ein Teil der geistigen Befindlichkeit unserer Zeit,
die die Normen, die der Gewalt begegnen, reduzieren und die, die die
Ein Plädoyer für die Verfassungsmäßigkeit des § 240 StGB 639
Diese Zitate haben mich aus meinen eigenen Irritationen und Selbst-
zweifeln befreit, in die mich eine Reihe von eigenwilligen Interpreten des
Begriffs der Friedlichkeit versetzt hatten. Denn weder als Strafrechtler
noch als Bürger will mir in den Sinn, daß Ankettungsaktionen und
Sitzblockaden mit friedlichen Versammlungen im Sinne des Art. 8 G G
überhaupt etwas zu tun haben könnten.
Zwischen Nötigung und Wucher
GUNTHER ARZT
' Karl Lackner, StGB, 16. Aufl. München 1985. - Es erscheint mir reizvoll und nötig,
das Wachsen und Wuchern unserer Strafrechtswissenschaft und die davon beeinflußte
Rolle der Kommentare, Lehrbücher, Festschriften etc. zu beschreiben. Dies ist jedoch
einer passenderen Gelegenheit vorzubehalten, gerade weil der Kommentar seit vielen
Jahren in idealer Weise die Flut der Veröffentlichungen so bändigt, daß sie fruchtbar
werden kann. Ein Festschriftbeitrag soll jedoch den Jubilar nicht durch Lob - und sei es
noch so verdient - in Verlegenheit bringen; ganz abgesehen davon, daß Lob als Anmaßung
mißdeutet werden kann, „wie manchmal einer gern den Fürsten Freund nennt im
Gespräch mit Bauern, wenn dieser Fürst sehr groß ist und - sehr fern" (Rilke, Das
Stunden-Buch).
2 Lackner (wie Anm. 1) §240 Bern. 4 b am Ende.
3 Nachweise in BGHSt. 31, 195. - Ausführlicher Überblick bei Hillenkamp, 36
Probleme aus dem Strafrecht, BT, 5. Aufl. Frankfurt/Main 1985 S. 35 ff.
4 So bes. deutlich Volk, J R 81, 274 f.
s Roxin, JuS 64, 371, hier zitiert nach dem Wiederabdruck in Strafrechtliche Grundla-
genprobleme, 1973 S. 184ff, 194. - Ihm folgt u.a. Weber (Arzt/Weber, Strafrecht BT, LH
1, 2. Aufl. 1981) Bern. 590; ebenso zum schweizerischen Recht Schubarth, Schweiz. StGB
Bd. 3, Bern 1984 Art. 181 Bern. 27, 29 f.
642 Gunther Arzt
b) Weiter ist darauf hinzuweisen, daß der Täter, der eine ihm nicht
zustehende Freiheit in Anspruch nimmt, also z . B . seine Unterlassungs-
drohung verwirklicht, wegen des entsprechenden Unterlassungsdelikts
zu bestrafen ist. Diese Fälle belegen, daß §§ 240, 253 dem Täter wegen
der von ihm zu Unrecht beanspruchten Verknüpfungsfreiheit Strafe
androhen. Daß der Täter zugleich eine Autonomie i. S. des angedrohten
verbotenen Verhaltens beansprucht, wird durch die entsprechenden
Unterlassungs- oder Begehungsdelikte geahndet. So ist die auf den
ersten Blick als paradoxe Diskrepanz erscheinende Lösung zu begrün-
den, daß die ganze und unbedingte Nichterfüllung einer Hilfspflicht
nach § 323 c leichter bestraft wird als die halb erfüllte Hilfspflicht, d. h.
wenn Hilfe erst nach Erfüllung finanzieller Forderungen geleistet wird
Verhandlungen über ein Entgelt für die Hilfe oder auf andere Ursachen
zurückzuführen ist8.
Wollte man alle denkbaren Übel auf einer Schwereskala einordnen,
ergäbe sich eine bunte Mischung zwischen Drohung mit strafbaren bzw.
nicht strafbaren Handlungen9. Diese Einsicht hat den Gesetzgeber
davon abgebracht, die Nötigung auf Bedrohung mit Verbrechen und
Vergehen zu beschränken. Maßgebend ist also nicht die primäre Freiheit
des Täters, dem Opfer das Übel zuzufügen, sondern die sekundäre
Freiheit, das Übel mit der Handlung des Opfers zu verknüpfen. Dieses
Konnexitätsprinzip kann man auch dahin formulieren, daß mit der
Bejahung der §§ 240, 253 dem Täter die sekundäre Verknüpfungsfreiheit
abgesprochen wird. Umgekehrt liegt in der Ablehnung der §§ 240, 253
die Anerkennung der sekundären Verknüpfungsfreiheit und in diesem
Sinne auch einer Täterautonomie. Mit einer so verstandenen Täterauto-
nomie ist sachlich nichts gewonnen, da sie die Verknüpfungsfreiheit
nicht begründet, sondern einfach mit ihr gleichzusetzen ist.
lende normative Opferfreiheit. Nach Jakobs soll die Drohung mit einem
dem Täter erlaubten Handeln grundsätzlich die normative Freiheit des
Bedrohten nicht verletzen. Der Schluß liegt nahe, daß dann die Drohung
mit einem dem Täter erlaubten Unterlassen erst recht nicht unter §240
fallen kann - und beide Drohungskategorien schon um der Täterautono-
mie willen aus §240 ausgenommen werden. Horn11 hat diesen - wie mir
scheint, zwingenden - Schluß aus den Überlegungen von Jakobs gezo-
gen. Nach Jakobs soll es freilich gerade nicht darum gehen, bestimmte
Drohungskategorien aus §240 auszunehmen. Deshalb schließt Jakobsn
seinen Beitrag mit dem Satz, es sollte „möglich sein, für Unterlassen wie
für Tun im Drohungsbereich die Schmälerung einer Rechtsstellung als
das konstitutive und limitative Moment einer Nötigung als Freiheitsde-
likt zu erkennen". Jakobs hebt mehrfach hervor, seine Lehre von der
Nötigung durch Drohung als Freiheitsdelikt stehe im Gegensatz zu den
Konnexitäts- bzw. Verwerflichkeitstheorien. Nach diesen Theorien
komme es „nicht darauf an, was der Täter tun oder lassen dürfe, sondern
wann er mit Tun oder Unterlassen drohen dürfe"13. Dagegen ist nach
Jakobs derjenige, der ohne Rücksicht auf lautere oder unlautere Motiva-
tion das ausführen darf, was er androht, „Herr über dieses Stück Freiheit
des Opfers" 14 . Auch bei inkonnexer Verknüpfung verringere der Dro-
hende die normative Freiheit des Opfers nicht, sondern er bringe dem
Opfer „ein Plus an Freiheit" 14 .
Die Einwände gegen diese Lösung haben zwei Ansatzpunkte.
a) Zunächst zur Unfreiheit des Opfers: „Normative" Freiheit ist ein fast
beliebig definierbarer, außerordentlich unbestimmter, mißdeutbarer und
zugleich fruchtbarer Begriff. Selbstverständlich ist der Satz richtig - und
nie bestritten worden - , „dem Bedrohten wird keine Freiheit genom-
men, wenn er nur beansprucht wird, soweit er rechtlich gebunden ist"15.
Halten wir zunächst fest, was dieser Satz nicht bedeutet, denn insofern
besteht weitgehendes Einvernehmen: Der Satz bedeutet nicht die Wie-
derholung des Rechtswidrigkeitsprinzips von Roxin16 mit umgekehrtem
Vorzeichen. Nach dem Rechtswidrigkeitsprinzip ist die Drohung, um
das Opfer zu rechtswidrigem Handeln zu veranlassen, in aller Regel
inkonnex. Wechselt man das Vorzeichen, so könnte man die Verletzung
normativer Freiheit leugnen, wenn gedroht wird, um das Opfer von
11 Horn, NStZ 83, 497 (Rezension von BGHSt. 31, 195). Ebenso schon Kollmann, Die
Lehre von der Erpressung nach deutschem Recht, Berlin 1910 S. 75, 90 f.
12 Jakobs (wie Anm. 10) S. 89, zur Drohung mit Unterlassen ebenda S. 74.
"Jakobs (wie Anm. 10) S. 80, ähnlich S. 75 oben. - Weitgehend zustimmend F.C.
Schroeder (wie Anm. 7) S. 286.
14 Jakobs (wie Anm. 10) S. 82.
" Roxin (wie Anm. 5) S. 193 (der dieses Prinzip als Regel ohne Ausnahme ansieht).
Zwischen Nötigung und Wucher 645
19
Vgl. nur Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts, BT, Bd. 1,2. Aufl.
Leipzig 1902 S.86. - Nach Lackner, LK 10. Aufl. 1983 §253 Bern. 4 „kommen bei der
Erpressung in großem Umfang als angedrohte Übel auch solche Nachteile in Frage, deren
Zufügung für sich betrachtet rechtmäßig wäre".
20
Zutreffend Jakobs (wie Anm. 10) S. 82, wo dann aber von einer unbeschränkten -
statt von einer beschränkten - rechtlichen Bindung des Opfers ausgegangen wird.
21
Dazu Baumann/Arzt, Z H R 134 (1970) 24 ff, bes. S. 47-49.
22
Zur näheren Begründung Arzt, M D R 65, 344; Baumann, M D R 65, 346. - Amelung,
GA 82, 381 sucht dasselbe Resultat auf eine andere Begründung zu stützen (kein Kampf im
Dunkeln um das Recht). Dies hat manches für sich, kann aber die Notwehr bei Wucher
nicht klären, ganz abgesehen davon, daß es jedenfalls bei § 34 geheimgehaltene Rechtferti-
gungslagen gibt, zwei Beispiele bei Arzt, JuS 82, 449 (Aussageverweigerungsrecht, das der
Zeuge geheimhalten muß und Recht zur verdeckt falschen Aussage - wenn man den Fall so
abwandelt, daß das Strafverfolgungsinteresse gering ist).
Zwischen Nötigung und Wucher 647
b) Ein zweiter Ansatz für Einwände gegen eine Lösung via normativer
Opferfreiheit führt zur Täterautonomie und damit zum Unterschied
zwischen einer Drohung mit erlaubtem bzw. verbotenem Unterlassen
zurück, vgl. dazu schon oben a). Damit wird eine schwierige Grenzzie-
hung, die bei den Unterlassungsdelikten unvermeidlich ist und dort mit
erheblichem dogmatischen Aufwand relativiert wird, auf einen neuen
Anwendungsbereich ausgedehnt. Zugleich vervielfachen sich die Pro-
bleme. Dazu nur einige Stichworte: Die Unterlassungsdogmatik kann
die Grenze zwischen Pflicht und Freiheit u. a. insofern relativieren, als
eine bestehende außerstrafrechtliche Pflicht bejaht, aber nicht als straf-
rechtliche Pflicht übernommen wird. Auf eine Relativierung läuft es
auch hinaus, wenn eine strafrechtliche Pflicht auf einer Ebene der
Unterlassungsdogmatik zwar bejaht, auf einer anderen aber verneint
wird, so ζ. B. bei Unzumutbarkeit der Pflichterfüllung. Welche dieser
hier nur beispielhaft genannten Relativierungsmechanismen auf § 240 zu
übertragen sind, mit der Folge, daß Täterautonomie zu bejahen ist, weil
der Täter wegen eines Unterlassungsdelikts im Ergebnis nicht zu bestra-
fen wäre, ist ungeklärt und unerklärlich 23 .
V o r allem ist daran zu erinnern, daß der Übergang der Handlungs-
pflicht zur Handlungsfreiheit durch bruchteilige Handlungspflichten24
gemildert ist. Solche halben Pflichten des Täters gegenüber einem Opfer
sind bei Dauerbeziehungen besonders häufig. Zugleich liegt hier ein
wesentlicher Grund dafür, daß wir die Abgrenzung zwischen (verbote-
ner) Drohung mit erlaubtem Tun und (erlaubter) Drohung mit erlaub-
tem Unterlassen als sachwidrig empfinden, näher unten IV. - Für den
Grenzbereich zwischen Nötigung und Wucher ist eine andere Form der
bruchteiligen Handlungspflicht charakteristisch. Sie entsteht durch Auf-
spaltung einer ganzen Pflicht bei mehreren miteinander konkurrierenden
Rechtsgütern (Rechtsgutsinhabern).
dener Garantenstellungen zu einer ganzen Pflicht Arzt, J A 80, 553, 649. Ablehnend zu der
von mir als „diskutabel" bezeichneten Addition Schiinemann, ZStW 96, 287, 296 f unter
Ignorierung der Judikatur.
15 Baumann/Weber, A T 9. Aufl. 1985 S. 353; Lackner (wie Anm. 1) § 34 Bern. 4 jeweils
mit Nachweisen.
648 Gunther Arzt
3. Opferselbstverantwortung
Was die D r o h u n g mit einem „an sich" erlaubten Unterlassen angeht,
hat BGHSt. 31, 195 die Freiheit in einem anderen Sinne „normativ"
26
Für die juristische Bewältigung solcher Notlagen stehen als Extreme der völlig freie
Markt (mit freiem Mietzins) oder die totale Zwangsbewirtschaftung (mit Mietzinskontrolle
und Zuweisung des Vertragspartners durch den Staat) zur Verfügung. Im ersten Extrem ist
der freie Markt wucherisch, im zweiten Extrem (und bei allen Zwischenlösungen) entwik-
kelt sich ein grauer oder schwarzer Markt, der vielfach wucherisch ist.
Zwischen Nötigung und Wucher 649
27
BGHSt. 32, 165 unter ausdrücklicher Berufung auf BGHSt. 31, 195; näher zur
Opferselbstverantwortung meine Anm. JZ 84, 428, 429.
28
Volk (wie Anm. 3) S. 277.
2
' §177 setzt angesichts des wichtigen Rechtsguts die Selbstbehauptung des Opfers
gegen schwächeren Druck voraus. Ich würde daraus entsprechend BGHSt. 32, 165
folgern, daß dasselbe (!) Rechtsgut gegen schwächeren Druck auch nicht über §240
geschützt sein kann. Der in BGHSt. 31, 195 implizit vertretene und sicher diskutable
Gegenstandpunkt geht von einer zweistufigen Selbstbehauptungspflicht des Opfers bzw.
zweistufigen Verantwortlichkeit des Täters aus, vgl. dazu Laufhütte, LK 10. Aufl. §177
Bern. 22.
30
Roxin, JR 83, 333 (bes. S. 335 1. Sp.) - Rezension von BGHSt. 31, 195.
" Volk (wie Anm. 3) S. 277 Fn. 24.
650 Gunther Arzt
Übel drohten, die nicht verdient waren und die für die Erreichung der
Strafzwecke sogar kontraproduktiv gewesen wären. - Richtig dürfte
sein, verdient und empfindlich zu trennen. Die Verbindung liegt erst in
der verdienten Drohung (mit einem empfindlichen und verdienten
Übel), also in der Konnexität.
Zusammenfassend ergibt sich, daß keine der untersuchten Grundposi-
tionen allein eine Lösung ermöglicht. Damit bleibt die Aufgabe, die
richtigen Elemente dieser Grundpositionen im Rahmen der Zweck-
Mittel-Relation zur Konkretisierung der Verwerflichkeit der Drohung
zu nutzen.
32 Vgl. nur AE (wie A n m . 6 ) Begr. S.65; Jakobs (wie Anm. 10) S . 8 6 f ; Volk (wie
Anm. 4) S.275 Fn. 13. Kritisch zur Einschränkung des §240, ohne Klärung der Zuord-
nung zum Wucher (oder Ausdehnung, des Wuchers de lege ferenda) Fezer (wie Anm. 18)
S. 353, 355.
53 Jakobs (wie Anm. 10) S. 86.
35
Jakobs (wie Anm. 10) S. 86.
36
Kollmann (wie Anm. 11) S. 133f unter Berufung u.a. auf Frank; Hohendorf, Das
Indi vidual wucherstrafrecht nach dem 1. WiKG 1976, Berlin 1982 S. 173 f.
37
BT-Drucks. 7/3441 S.40; zitiert bei Lackner (wie Anm. 1) §302a Bern. 4. - Die
Definition ist klassisch, vgl. nur Binding (wie Anm. 19) S.456: „Die N o t besteht in dem
momentanen Geldmangel, verbunden mit der Schwierigkeit, solches zu erhalten".
3!
Bes. klar Schönke/Schröder/Stree, StGB 22.Aufl. 1985 §302a Bern.23: „ . . . z w i n -
gendes Bedürfnis . . . nicht e r s t . . . Existenzgefährdung" ; vgl. ferner Weber (wie Anm. 34)
L H 4 Bern. 154-156 und Flubacher, Zum Tatbestand des Wuchers, Diss. Basel 1982
S. 102 ff sowie Hohendorf (wie Anm. 36) S. 95 f. - Nach Sickenberger, Wucher als Wirt-
schaftsstraftat, Freiburg 1985 S.356 scheitert die Anwendung des §302 a in aller Regel an
der Zwangslage.
652 Gunther Arzt
<z Arzt, in Haesler (Hrsg.), Viktimologie 1986 S. 161 ff, bes. zum Kleinkreditvergabe-
verbot als Kreditaufnahmeverbot.
43 Zu der für Mietwucher charakteristischen Verwischung der Grenze zwischen Indivi-
44 B G H S t . 32, 183 sucht die sexuelle Neutralisierung der Geisteskranken als Konse-
quenz ihres Schutzes gegen Mißbrauch zu vermeiden. - Die Widerruflichkeit der Einwilli-
gung nimmt dem Bürger die Freiheit, sich zu binden. Es ist nicht selbstverständlich, daß
das Gesetz ζ. B. dem Patienten die Möglichkeit nimmt, sich in Kenntnis seiner Ängstlich-
keit am Vorabend seiner Operation so zu binden, daß der A r z t einen Widerruf am
nächsten Morgen nicht beachten darf.
Zwischen Nötigung und Wucher 655
typischen Fall ist insbesondere dort legitim, wo die für die Ausnahme-
fälle entstehenden Beweisschwierigkeiten auf den typischen Fall aus-
strahlen würden (wie hier, wenn man den Nachweis verlangen würde,
was der Täter getan hätte, wenn er sich an das Verknüpfungsverbot
gehalten hätte). Erst dann, wenn die Ausnahmefälle sich ihrerseits
typisieren lassen, bricht sich der Grundgedanke Bahn, daß §§240, 253
das Opfer nicht bevormunden dürfen. Deshalb wird ein vom Opfer
initiierter Freikauf aus §§ 240, 253 ausgeklammert - unter Inkaufnahme
beträchtlicher konstruktiver Schwierigkeiten.
Da bei einem vom Opfer ausgehenden Freikaufsangebot dem Täter
noch vor der Zahlung der Zusammenhang zwischen Übel und Abwen-
dung durch Zahlung bewußt wird (und der Täter diesen Zusammenhang
ausnutzt), ließe sich die Auffassung vertreten, dieses Wissen könne dem
Übel ex nunc den Charakter einer Drohung verleihen. Es komme zur
Übernahme bzw. Aufrechterhaltung einer zunächst nicht intendierten
Drohung durch den Täter 45 .
Beispiel: Will E seinen Gegner O durch Publikation belastenden
Materials politisch zunächst unbedingt vernichten und entschließt er sich
erst auf Bitten (1) seiner Frau oder (2) der Frau des O oder (3) des O ,
dem O eine Freikaufschance einzuräumen und ihm so statt politischer
Nachteile wirtschaftlichen Schaden zuzufügen, dann dürfte in der
Variante (1) die Bestrafung des E wegen Erpressung unausweichlich
sein. Sonst würde man jedem Täter nach §§253, 240 die Ausrede
eröffnen, er habe zunächst das Übel dem Opfer „unbedingt" zufügen
wollen und durch seinen späteren Entschluß gegenüber dieser Ausgangs-
lage die Freiheit seines Opfers nicht angegriffen, sondern vermehrt.
Das vorstehende Beispiel soll nur zeigen, daß die Ablehnung des §253
in der Variante (3), also bei initiativ werdendem Opfer, sich nicht
zwingend aus der Vorsatzlehre, dem Drohungsbegriff oder der Kausali-
tät zwischen Übelsandrohung und Opferdisposition ergibt. Wie ein
bedingt Entschlossener angestiftet werden kann, so kann ein bedingt
zum Freikauf bereites Opfer konkret zur Zahlung nur motiviert werden,
indem der Täter Übel und Zahlung verknüpft. Daß die Fälle der vom
Opfer ausgehenden Initiative aus § 2 5 3 auszunehmen sind, ist mit den
vorstehend aus der Abgrenzung zum Wucher entwickelten übergeord-
neten Sachgesichtspunkten zu begründen.
45 Vgl. Lackner, LK (wie Anm. 19) §253 Bern. 14. - Zur Drohung kraft Übernahme
oder Ausnutzung unentschieden Bergmann (wie Anm. 17) S. 148.
656 Gunther Arzt
46 Angesichts der Musterfälle des Kredit- und Mietwuchers ist unbestreitbar, daß im
Zentrum des § 302 a marktgängige wirtschaftliche Leistungen stehen. Mit Recht hat der AE
(Lampe u.a., AE, Straftaten gegen die Wirtschaft, Tübingen 1977) Begr. S. 113 eine
entsprechende Beschränkung vorgeschlagen. - Zu § 302 a ist schon streitig, wieweit nur auf
illegalen Märkten erhältliche Leistungen einzubeziehen sind. Einer Einbeziehung höchst-
persönlicher, nicht wirtschaftlicher Leistungen steht der fehlende Marktwert entgegen
{Weber, wie Anm.34, L H 4 Bern. 160), ferner die Einseitigkeit des § 3 0 2 a . Wenn z . B .
Fluchthilfe als Leistung des Wucherers an der Geldleistung des Opfers gemäß §302 a
gemessen werden könnte, sollte man auch Geld als Leistung des Wucherers an Fluchthilfe
als Gegenleistung des Opfers messen können. - Gut zu den Schwierigkeiten des Markt-
preises Bernsmann, GA 81, 141 ff mit der unbefriedigenden Notlösung, illegale Leistungen
ohne Rücksicht auf einen Schwarzmarkt mit Null festzusetzen und so § 302 a gerade auf
atypische immaterielle Leistungen des Wucherers anzuwenden, was - so B. S. 168 Fn. 137
selbst - „allerdings seltsam anmuten muß".
Zwischen Nötigung und Wucher 657
Sucht das Opfer Hilfe in Form einer wirtschaftlichen Leistung des zur
Hilfe nicht verpflichteten Täters, ist der vom Täter mit Unterlassungs-
drohung erstrebte Vermögensvorteil vielfach nicht rechtswidrig. Die
rechtliche Mißbilligung der Bereicherung und der Bedingungen des
Täters folgt erst aus dem Mißverhältnis, d . h . aus dem Wucherverbot.
Wenn die Offerte, eine Vermögensleistung zu erbringen, mit wirtschaft-
lichen Gegenforderungen verknüpft wird, ist dies nicht inkonnex i.S.
der §§ 240, 253. - Der Beanspruchung der Marktfreiheit durch den Täter
entspricht die Opferautonomie. Angesichts des Marktes für Wirtschafts-
güter hat das Opfer die Wahl zwischen vielen Übeln. Das Eingehen auf
die Offerte des Täters hat das Opfer selbst zu verantworten. Die
Entscheidung des Opfers wird von der Rechtsordnung bis zur Wucher-
grenze akzeptiert. Ein früherer Eingriff via §§ 240, 253 würde nicht nur
die Täterautonomie beschränken, sondern auch die Autonomie des
Opfers.
BeispielGeht O in einer einsamen Gegend das Benzin aus und
kommt E vorbei, der ihm einige Liter zu Wucherpreisen offeriert, so hat
O abzuwägen, ob er per Autotelefon ein (noch teureres) Taxi rufen
möchte, ob er unbestimmt lange auf einen weniger geldgierigen Samari-
ter warten möchte, ob er eine längere Strecke zu Fuß gehen möchte etc.
Dieses Kalkül des O mit Geld und Zeit wird von E erweitert; eine gegen
E gerichtete Strafdrohung engt O ein.
Schwieriger ist der Austausch wirtschaftlicher Leistungen zu beurtei-
len, bei dem es dem O p f e r mittelbar um die Abwendung eines drohen-
den immateriellen Schadens geht. In solchen Fällen (z.B. wenn das
Opfer Geld benötigt, um ein durch seine Veruntreuung entstandenes
Loch angesichts einer bevorstehenden Revision zu stopfen) kann neben
das unmittelbare Mißverhältnis zwischen wirtschaftlicher Leistung und
wirtschaftlicher Gegenleistung des Opfers eine mittelbare Inkonnexität
zwischen wirtschaftlichem Vorteil des Täters und Drohung mit unmit-
telbar materiellen, mittelbar aber immateriellen Nachteilen für das Opfer
treten. Da Sach- und Personwerte vielfach austauschbar sind (Geld/
Arbeit/Freizeit), sind solche Fälle häufig. Auch ist die Grenze zwischen
materieller und immaterieller Leistung mitunter schwer zu ziehen 48 . So
stehen schon im früheren Beispiel der Panne beim Opfer neben wirt-
47
In Anlehnung an Hohendorf (wie Anm. 36) S. 173. - O b die Intensität der Zwangs-
lage genügt, sei dahingestellt.
48
Der Abschluß eines Arbeitsvertrags oder die Vergabe einer Lehrstelle kommen
materiellen Leistungen nahe, obwohl materielle Austauschverhältnisse erst vorbereitet
werden und es keinen Markt i. S. einer Vermittlungsprämie für den Vertragsabschluß gibt.
- Im Beispiel der Panne ist Benzin eine marktgängige Leistung, während der Rat, wo in der
Nähe Benzin erhältlich ist, schon nicht marktgängig ist.
658 Gunther Arzt
" Volk (wie Anm. 4) S. 276 mit der zusätzlichen Erwägung, dem Opfer werde ange-
sichts der unter inadäquaten Konditionen offerierten Hilfe „eine neue Last" aufgebürdet.
Dies läßt sich jedenfalls nicht generell behaupten, selbst wenn die Verknüpfung inadäquat
oder das Angebot wucherisch ist, dazu die folgende Fußnote.
50 Schwierigkeiten macht die Bewältigung des in Anm. 39 angedeuteten Problems.
Orientiert sich der Wucherer am Kreditrisiko (nicht an dem Grund für den Kreditbedarf)
und verlangt er ζ. B. 40 % Zins, so handelt der Tischler zwar unvernünftig, aber verständ-
lich, wenn er unter diesen Umständen ein Darlehen aufnimmt, um sich zum Sänger
fortbilden zu lassen. Geht es nur um ein Hobby, ist die Unvernunft so kraß, daß die
Opferselbstverantwortung den Täter entlastet (keine Notlage). - Geht es dem Opfer um
Heilung seines Kindes, harmoniert die aus § 302 a folgende Entmündigung (d. h. Aussper-
rung von diesem wucherischen Kreditschwarzmarkt) nicht mehr mit der These, es sei
verständlich, aber unvernünftig, wenn das Opfer sich auf solche Konditionen einlasse. Das
Opfer handelt vielmehr vernünftig.
660 Gunther Arzt
51 Volk (wie Anm.4) S.275; sowie zuletzt die Besprechungen von BGHSt. 31, 195
durch Roxin (wie Anm. 30) und F. C. Schroeder (wie Anm. 7).
52 So F. C. Schroeder (wie Anm. 7) S.287.
Zwischen Nötigung und Wucher 661
losem Abbruch, mit Kündigung zur Unzeit etc. gedroht wird, liegen
nicht nur Tun und Unterlassen nahe beieinander, sondern auch erlaubtes
und verbotenes Unterlassen. Solche Ubergänge lassen sich mit der
elastischen Zweck-Mittel-Relation besser bewältigen als mit der starren
Alternative, mit der das Drohen mit erlaubter Unterlassung kategorisch
aus §240 ausgenommen wird. Nehmen wir den rechtstreuen Täter, d. h.
einen Täter, der das Verbot beachten würde, mit Unterlassen zu drohen,
um das Opfer zu bewegen, inkonnexe Gegenleistungen zu erbringen.
Ein solcher Täter hat in diesen Grenzfällen kein Interesse daran, dem
Opfer das Übel (ohne Androhung) zuzufügen. Das Opfer hat also eine
gute Chance, vom Übel verschont zu bleiben, ohne dafür die Gegenlei-
stungen erbringen zu müssen, zu denen es gezwungen würde, gäbe es
das Drohungsverbot nicht.
Um auf das vorstehende Beispiel zurückzukommen: Warum sollte der
Täter das Liebesverhältnis abbrechen, wenn ihm verboten ist, damit zu
drohen, um seine Freundin zum Beischlaf mit X zu bewegen"? Warum
sollte der Onkel seiner Nichte keinen Unterhalt mehr zahlen, wenn ihm
verboten ist, mit der Zahlungseinstellung zu drohen, um die Nichte zu
sexuellen Gegenleistungen zu bewegen54?
53 BGH, NStZ 82, 287 (Übel nicht empfindlich; auch zum Übergang Tun/Unter-
lassen).
M Beispiel nach F. C. Schroeder (wie Anm. 7) S. 287. - Beim Vermieter kann man
entsprechend fragen, wenn er mit Kündigung droht, um Zusatzleistungen zu erlangen.
Warum sollte er der Frau die Wohnung nicht weiter zum normalen Zins vermieten, wenn
er die sexuelle Zusatzleistung nicht verlangen darf? Geht es um den Abschluß des Vertrags,
so läßt sich vermuten, daß je gestörter der Markt ist, desto wahrscheinlicher der Vermieter
angesichts des Verbots inkonnexer Zusatzleistungen einen uberhöhten Mietpreis fordern
würde. Auch dann stellt sich das Opfer infolge des Verknüpfungsverbots besser.
662 Gunther Arzt
gratis helfen würde. Diese Hypothese ist falsch, obwohl sie in der
Literatur vielfach als geradezu evident richtig angesehen wird. Verbieten
wir inkonnexe Verknüpfungen, erreichen wir jedenfalls bei einem mit
dem Opfer schon vorbefaßten Täter, daß er die Entscheidung für oder
gegen Hilfe „ermessensfehlerfrei" treffen muß55. Bei dem Beamten, der
nicht helfen muß (aber helfen darf, ζ. B. indem er ein Verfahren nach
pflichtgemäßem Ermessen einstellt), ist die Verknüpfung der Hilfe mit
inkonnexen Forderungen nur ein besonders drastischer Fall unter vielen
anderen denkbaren Ermessensfehlern. Beim Bürger ist das Ermessen fast
unbegrenzt, abgesehen von den großen zivilrechtlichen Generalklauseln
der Sittenwidrigkeit und des Verstoßes gegen Treu und Glauben und
dem Schikaneverbot (wobei auch §226 BGB nicht nur schikanöses
Handeln, sondern auch schikanöses Unterlassen einer Hilfe erfaßt, z.B.
Gestatten des Betretens eines Grundstücks). Verbieten wir dem Täter
die in der inkonnexen Verknüpfung liegende ermessensfehlerhafte Befas-
sung mit dem Opfer, so belassen wir dem Opfer die Chance, daß der
Täter das Übel ohne inkonnexe Forderungen abwenden wird. Freilich
setzen wir das Opfer zugleich einem gewissen oder ungewissen Risiko
aus, daß das Übel eintritt. Wie bei der Chantage wird die Realität
zwischen den beiden Extremen liegen, daß der Täter immer gratis helfen
bzw. daß er das Opfer immer in der Notlage belassen wird.
Was andere Ansichten angeht, so berührt sich das vorstehend entwik-
kelte Kriterium der Vorbefassung mit dem Gedanken von Roxin56, der
BGHSt. 31, 195 im Ergebnis zustimmt, weil (wenn) mit dem Unterlas-
sen gedroht wird, „in einen schon in Gang gesetzten schädigenden
Kausalverlauf" einzugreifen. Dies impliziert, daß der Drohende die Lage
des Opfers genau kennt, setzt also i. d. R. „Vorbefassung" voraus. -
F. C. Schroeder57 kommt durch „natürliche Betrachtungsweise" zum
Resultat, daß eine Drohung mit Abbruch eines bisher geübten Verhal-
tens oder bei unvorhergesehener Forderung von Zusatzleistungen zu
bejahen sei. Dies berührt sich mit Vorbefassung, Handlungsnähe und
Pflichtnähe. Freilich scheint es mir hoffnungslos zu sein, eine seit einem
Jahrhundert umstrittene Frage unter Berufung auf natürliche Betrach-
tungsweise lösen zu wollen58.
57 F. C. Schroeder (wie Anm. 7) S.287. F.C. Schroeder lehnt BGHSt. 31, 195 ab,
während m. E. die Entscheidung gutzuheißen ist, vom Vorbehalt in Anm. 29 abgesehen.
58 Die Konkretisierung der natürlichen Betrachtung über ein „rechtspflichtbezogenes
Umkehrprinzip" (a. a. O. S. 288) soll erklären, daß der Täter, der „in seinem Verhalten
völlig frei" ist und mit Unterlassen einer Leistung droht, natürlich betrachtet Anbieter
einer Handlung sein soll (also aus § 240 herausfällt), während der ebenso freie Täter beim
Zwischen Nötigung und Wucher 663
4. Ergebnis
Das Ergebnis läßt sich wie folgt zusammenfassen: § 2 4 0 ist ausnahms-
weise auf die Drohung mit Unterlassen bei fehlender Handlungspflicht
des Täters anwendbar, unter der Voraussetzung, (1) daß es um den
Austausch immaterieller Leistungen geht, (2) die Zweck-Mittel-Ver-
knüpfung inkonnex und deshalb verboten ist und (3) dem Opfer die
Chance belassen wird, daß ihm ein rechtstreuer Täter ohne unangemes-
sene Bedingungen helfen würde. Kriterien dafür, daß die zuletzt
genannte Voraussetzung gegeben ist, sind die Nähe der Unterlassung
zur Handlung oder zur Handlungspflicht oder die Vorbefassung des
Täters mit dem Opfer.
Das Ergebnis bestätigt, daß § 2 4 0 Freiheitsräume schützt, die durch
das materielle Recht festgelegt sind. Weiter schützt § 2 4 0 auch die
Einhaltung des ordentlichen Verfahrens zur Durchsetzung von Frei-
heitstransfers, zu denen das Opfer verpflichtet ist. - In rudimentärer
Weise regelt § 240 schließlich auch das Verfahren, wie wir miteinander
um Freiheitstransfers ringen dürfen.
Radikale Lösungen, wie z . B . die kategorische Ausnahme der Dro-
hung mit erlaubtem Verhalten aus § 2 4 0 , liefern bestimmtere Resultate.
Das ist sicher ein Vorteil 59 . Unbestreitbar scheint mir jedoch, daß
gemeinschaftsbezogene, auf Kontakt ausgerichtete Rechtsgüter eine ela-
stischere Grenzziehung nötig machen als Rechtsgüter, die primär auf
Kontaktvermeidung angelegt sind. Selbst der Schutz des Rechtsguts
„Leben" verliert seine Bestimmtheit durch Kombination mit dem außer-
ordentlich unbestimmten Fahrlässigkeitsmaßstab, wenn es um Risiken
aus mitmenschlichem Kontakt und damit um die Handlungsfreiheit von
Täter und Opfer geht. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn sich bei
§ 240 die Freiheitsräume von Täter und Opfer nur mit Hilfe elastischer
Maßstäbe abgrenzen lassen - oder durch Zuflucht zu einem Sondertat-
bestand des Sexualwuchers"3.
Angebot eines Unterlassens verschleiert drohen soll (und unter §240 fallen soll). Dieses
Umkehrprinzip funktioniert u.a. deshalb nicht, weil das richtige Resultat (verschleierte
Drohung mit Tun) zugleich beweist, daß der Täter nicht völlig frei war; ganz abgesehen
davon, daß eine solche Umkehrung auf der Prämisse beruht, daß der Rechtsverzicht (z.B.
Verzicht auf Strafantrag) nicht als „Leistung" anzusehen ist.
59 Zum Bestimmtheitsgrundsatz bei § 240 vgl. Horn (wie Anm. 11 ) S. 498 ; F. C. Schroe-
der (wie Anm. 7) S.286f; Schubarth, NStZ 83, 312 (Anm. zu BGHSt. 31, 195).
60 Zum Sexualwucher vgl. Art. 197 Schweiz. StGB und den Vorentwurf der Experten-
kommission für die Revision des StGB, Art. 197: „Wer eine Person unter Ausnützung
einer schweren Notlage zur Vornahme oder Duldung einer geschlechtlichen Handlung
veranlaßt, wird mit Gefängnis bestraft." - Zum Sondertatbestand „Funktionsfähigkeit der
Rechtspflege" Fezer (wie Anm. 18) S.360.
Die Bedrohung mit Verbrechen
FRIEDRICH-CHRISTIAN SCHROEDER
Brigitte Nagel schilderte dem Zeugen Kriminalhauptkommissar K., daß sie sich ernst-
haft bedroht fühle, und verwies dabei auch auf den Vorfall vom 27-/28.11.1980 in
Kulmbach. Obwohl Frl. Nagel äußerte: „Da muß ich mich wohl erst umbringen lassen,
bis die Polizei etwas unternimmt", sah sich der Zeuge K. außerstande, ihr zu helfen, da
nach seiner Meinung keine konkrete Bedrohung vorlag. Sie wurde lediglich auf die
Notrufnummer hingewiesen. Kriminalhauptkommissar K. gegenüber erklärte der
Angeklagte, er sei nur nach Erlangen gekommen, um mit Brigitte Nagel zu sprechen.
K. riet ihm, Frl. Nagel nicht ständig nachzulaufen, sondern sie in Ruhe zu lassen.
Aus dem Urteil der 5. Strafkammer des L G Nürnberg-Fürth vom 28.5.1982,
A z . 5 Ks J s 1442/80.
Zwei Tage später wurde Brigitte Nagel beim Verlassen ihres Hotels von dem
Angeklagten erschossen.
I.
Welche Möglichkeiten sieht unser Recht in solchen Fällen zum Schutz
der Opfer vor?
Die Bestrafung wegen Bedrohung nach §241 StGB kommt, wenn sie
überhaupt zu einer Freiheitsstrafe führt 2 , für eine Sicherung vor der
Drohung regelmäßig zu spät. Auch eine Untersuchungshaft ist ausge-
schlossen. Denn die Flucht- oder Verdunkelungsgefahr muß ja in bezug
auf die Bedrohung, nicht etwa die angedrohte Tat bestehen. Eine Flucht
des Drohenden ist aber nur für die Strafverfolgung eine „ G e f a h r " ; für
das bedrohte Opfer ist sie dagegen deren Beseitigung. Umgekehrt
1 Für die entsprechenden Mitteilungen danke ich Herrn Vors. Richter am L G München
StGB.
666 Friedrich-Christian Schroeder
ausgedrückt: die Gefahr für das Opfer besteht gerade dann, wenn die
Voraussetzungen der Untersuchungshaft nicht vorliegen. Auch die Ver-
hältnismäßigkeit der Untersuchungshaft (§112 Abs. 1 S.2 StPO) ist
nicht auf das angedrohte Verbrechen, sondern auf die Bedrohung zu
beziehen. § 112 a StPO ermöglicht eine Untersuchungshaft nur bei
Wiederholungs- oder Fortsetzungs-, nicht aber bei Begehungsgefahr.
Nach dem Polizeirecht ist eine Ingewahrsamnahme, um die unmittel-
bar bevorstehende Begehung einer Straftat von erheblicher Gefahr zu
verhindern, nur bis zum Ende des folgenden Tages möglich (§§ 13, 16
Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der
Länder sowie die entsprechenden Regelungen in den Polizeigesetzen der
Länder). Zwar wird die Auffassung vertreten, daß der Polizeigewahrsam
zur Verhinderung von Straftaten bei richterlicher Genehmigung die in
den Polizeigesetzen festgelegten Höchstfristen überschreiten könne 3 .
Diese Auffassung ist jedoch nach den meisten Polizeigesetzen nicht
haltbar 4 . Es ist allerdings bemerkenswert, daß in einer so einschneiden-
den Frage unterschiedliche Rechtsauffassungen vertreten werden - ein
Zeichen dafür, daß die weitergehende Auffassung in der Praxis offen-
sichtlich nicht angewendet wird.
II.
Bemerkenswerterweise findet sich in der Carolina von 1532 eine
Regelung des hier behandelten Problems. Art. 176 trägt die Überschrift
„Von straff oder Versorgung der personen von den man auß ertzeygten
vrsachen, Übels und missethatt warten muß". Danach ist bei Drohungen
mit Straftaten Gefängnis bis zu einer ausreichenden Kautionsleistung
anzuordnen 5 . Allerdings enthält diese Vorschrift eine schwer verständli-
' Martin!Samper, Polizeiaufgabengesetz - P A G - 12. Aufl. 1982, Art. 19, Anm. 4 und
überraschenderweise auch der v o m Arbeitskreis „Polizeirecht" vorgelegte „Alternativent-
wurf einheitlicher Polizeigesetze des Bundes und der Länder", 1979, § 2 3 Erl. 5.
4
Die Polizeigesetze verlangen überwiegend die richterliche Bestätigung auf Grund
eines anderen Gesetzes. D a z u reicht das Gesetz über das gerichtliche Verfahren bei
Freiheitsentziehungen nicht aus, da es nur das Verfahren regelt und nach § 1 selber eine
anderweitige materielle Rechtsgrundlage verlangt.
5
Vermutlich handelt es sich nur um eine rationelle Gesetzestechnik. Der moderne
Gesetzgeber würde wahrscheinlich formulieren: „Sicherheitsleistung, im Falle der Unein-
bringlichkeit G e f ä n g n i s . . . " . Das Erfordernis einer „genügsamen caution Sicherung"
dürfte sich nur auf die H ö h e der Kaution, nicht aber auf das Ausreichen einer Kaution als
solcher beziehen. Übrigens ist es bemerkenswert, daß auch heute noch die Sicherheitslei-
stung nicht als eigenständige Maßnahme zur Sicherung des Strafverfahrens, sondern nur als
Mittel zur Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls ausgestaltet ist (§116 StPO). Da sie
auf dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beruht (BVerfGE 19, 342; 53, 152), müßte sie
eigentlich in der StPO vorrangig benannt sein, was auch psychologische und damit
praktische Konsequenzen hätte.
Die Bedrohung mit Verbrechen 667
III.
weder v o m Drohenden noch von dessen früherem Gegner begangen worden sein muß,
sondern von jedermann begangen worden sein kann. Das würde zwar der nicht seltenen
Anknüpfung an begangene Straftaten gerecht werden (vgl. § 140 StGB jetziger Fassung),
doch wäre dabei wiederum die Beschränkung auf „nachgelassene vnd gerichte" Straftaten
unverständlich.
8 Tesar, Die symptomatische Bedeutung des verbrecherischen Verhaltens, 1910, S . 2 7 ;
Kollmann, Die Schuldauffassung der Carolina, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswis-
senschaft, B d . 3 4 (1913), S . 6 0 5 f f , 6 5 2 ; R.Ritter ( A n m . 6 ) , S . 2 f , 8, 13 o . ä .
668 Friedrich-Christian Schroeder
Baden von 1851 wird der Drohende unter polizeiliche Aufsicht gestellt
(§280). Bei den Arbeiten zum preußischen StGB von 1851 wurde eine
Vorschrift gegen Drohungen ohne Nebenzweck mit der Rechtsfolge von
Geldstrafe und Kautionsbestellung oder Polizeiaufsicht erst kurz vor der
Verabschiedung gestrichen, da in allen Fällen, in denen die Ausführung
der D r o h u n g wirklich zu besorgen sei, die Strafbestimmungen über
Nötigung und Erpressung einschlagen dürften 13 . Die bloße Bedrohung
war nur bei D r o h u n g mit Brand oder Überschwemmung strafbar (§213)
- eine Reminiszenz an die §§ 1535, 1537 II 20 ALR mit einer sachwidri-
gen Reduzierung auf den Individualschutz.
IV.
In der Wissenschaft entwickelte sich bekanntlich in dieser Zeit die
Lehre von den Verbrechen gegen die Freiheit. Dabei wurde die Strafbar-
keit der Bedrohung keineswegs deduktiv aus diesem Konzept abgeleitet,
sondern umgekehrt versucht, das überkommene Rechtsinstitut zum
Schutz vor Bedrohung in diese Lehre schlecht und recht zu integrieren.
Kleinschrod versuchte, die Strafbarkeit auf die Gefährdung der bedroh-
ten Rechtsgüter zu stützen 14 . Man modifizierte die Freiheit oder den
Angriff auf sie zur Gefährdung. Andere kreierten die formelhaften
Rechtsgüter der Rechtssicherheit oder des Rechtsfriedens, ohne zu
erläutern, was sie darunter verstanden. Gleichwohl zeigten diese Bestim-
mungen zunehmend legislatorische Erfolge. Die Drohung mit Straftaten
wurde in den Strafgesetzbüchern von Württemberg 1839 (Art. 282),
Sachsen-Altenburg 1841 (Art. 170), Thüringen 1850 (Art. 160), Öster-
reich 1852 (§99) und Sachsen 1855 (Art. 206) unter Strafe gestellt.
Schließlich erfolgte in §241 des Reichsstrafgesetzbuchs von 1871 eine
Kriminalisierung, die bis heute besteht. Interessanterweise wurde aber
schon bei der Novelle des StGB von 1876 geplant, die Möglichkeit einer
Friedensbürgschaft einzuführen 15 .
V.
Der zunehmende Verzicht auf Sicherungsmaßnahmen bei der Bedro-
hung ist sicher auch durch den Siegeszug und die Verabsolutierung der
Generalprävention zu erklären. Wenn der Sinn der Strafdrohung in der
u
Goltdammer, Die Materialien zum Straf-Gesetzbuche für die Preußischen Staaten,
Tl. II, 1852, §213 Erl. 1.
14
S. Rosenfeld, Verbrechen und Vergehen wider die persönliche Freiheit, in: Verglei-
chende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts. Besonderer Teil, 5. Bd.,
1905, S. 385 ff, 398.
15
Text bei A. Zucker, Die Reformbedürftigkeit der Untersuchungshaft, 1879, S. 91.
670 Friedrich-Christian Schroeder
Abschreckung von Straftaten und damit der Mensch als einer solchen
Abschreckungswirkung zugänglich angesehen wird, müssen weitere
Vorschriften zur Sicherung vor der Begehung von Straftaten durch
schuldfähige Täter als überflüssig erscheinen.
Indessen ergibt sich hier zunächst einmal die weitere Paradoxie, daß
der Täter durch die Drohung dem Opfer die Arglosigkeit und damit der
Tat den Mordcharakter nimmt16. Die vorangehende Drohung führt also
zu einer wesentlichen Strafmilderung! Nicht selten dürfte noch eine
Milderung nach den §§21, 49 Abs. 1 StGB hinzukommen, so daß der
Strafrahmen 2-11 '/• Jahre beträgt.
Im übrigen beweisen die Kriminalstatistiken zur Genüge, daß die
Generalprävention leider häufig versagt. In ihrer Abstraktheit und
wegen der Hoffnung des Täters, der Strafverfolgung zu entkommen,
bleiben die Strafdrohungen in vielen Fällen unwirksam.
VI.
Auch in denjenigen Strafrechtsordnungen, in denen das Institut der
Kaution und Sicherungsverwahrung bei Drohungen im materiellen
Recht verlorenging und sich das materielle Recht mit einer bloßen
Strafdrohung begnügte, wurde aber zum Teil im Strafprozeßrecht ein
entsprechendes Auffanginstitut geschaffen, nämlich die Untersuchungs-
haft wegen der Gefahr der Ausführung des angedrohten Verbrechens.
Entsprechende Bestimmungen finden sich in der Strafprozeßordnung
für das Königreich Sachsen von 1855 (§151), im Lübecker Strafprozeß
von 1862 (§§27, 30) und im Hamburger Strafprozeß (§54) 17 . In Öster-
reich entwickelte sich ein entsprechender Haftgrund aus dem Haftgrund
der „Erschwerung" der Untersuchung und wurde durch die
Strafprozeßordnung von 1873 gesetzlich eingeführt (§ 175)18.
VII.
Die Schwierigkeiten, das Rechtsgut und die Rechtsnatur des §241
StGB zu begründen, haben sich bis heute fortgesetzt. Nach h. L. soll
§241 StGB den individuellen bzw. subjektiven Rechtsfrieden schützen".
Indessen hat dieser Begriff seit seiner Erfindung im letzten Jahrhundert
nichts an Substanz hinzugewonnen. Der Begriff „Rechtsfrieden" bedeu-
tet zunächst einmal, daß das Recht nicht verletzt wird, also den Zustand
der Befolgung des Rechts. Insofern ist er nichts anderes als eine bloße
Umformulierung der Tatsache, daß keine Straftaten drohen. Die genann-
ten Autoren präzisieren den „subjektiven Rechtsfrieden" denn auch als
Vertrauen des einzelnen auf seine durch das Recht gewährleistete Sicher-
heit; der Jubilar beschränkt sich von vornherein auf diese Präzisierung 20 .
Auch dies ist allerdings als Rechtsgut kaum ausreichend. Das Vertrauen
als solches wird im Strafrecht nirgends geschützt, sondern nur dann,
wenn seine Verletzung zu anderen, substantiellen Schäden führt (z.B.
§§203, 246, 266 StGB). Zum anderen ist die Enttäuschung des Vertrau-
ens auf die Rechtssicherheit die Folge jeder Straftat und wird daher mit
deren Bestrafung abgegolten 21 . Was hier in Wahrheit beeinträchtigt ist,
ist die Freiheit des einzelnen von Furcht, vergleichbar der Zufügung
seelischer Leiden nach §223 b StGB oder der Kränkung des subjektiven
Ehrgefühls nach § 185 StGB.
Indessen hat schon Glaser22 darauf aufmerksam gemacht, daß unter
diesem Aspekt der durch §241 StGB gebotene Schutz sehr lückenhaft
erscheint. Zwar wurde mit der Einbeziehung der Vortäuschung einer
fremden bevorstehenden Straftat 1976 durch das 14. StrÄG eine diesbe-
zügliche Lücke geschlossen. Außerhalb des Tatbestandes bleiben aber
nach wie vor so schwerwiegende Furchterregungen wie die Vorspiege-
lung einer schweren Krankheit bei dem Opfer oder einer ihm naheste-
henden Person und die Vortäuschung von drohenden Naturereignissen
oder bösen Geistern.
Die Furcht vor dem Angriff eines anderen Menschen löst allerdings
infolge dessen Unberechenbarkeit eine spezifische Vorsicht aus, die sich
vor allem in Richtung auf das Verbleiben an sicheren Orten auswirkt.
Insofern erscheint uns die Auffassung der Bedrohung als Gefährdung
der Willensentschließungsfreiheit 23 nach wie vor als die plausibelste
Begründung, sofern man sich überhaupt darauf einläßt, ein Verhalten,
das in erster Linie eine Gefährlichkeit indiziert, in das System des
Rechtsgüterschutzes zu zwängen.
Auch hierbei verbleiben nämlich noch Probleme. Ist die Drohung
ernsthaft, so wird sie alsbald durch die Begehung des Verbrechens
überholt und §241 StGB damit konsumiert. Die Drohung verwandelt
sich in diesen Fällen in eine Warnung, für die das Opfer nur dankbar sein
" Maurach/Schroeder (Anm. 21), S. 120; Blei, Strafrecht II. Besonderer Teil, 12. Aufl.,
1983, S. 85; BT-Dr. 7/3030, S . 9 .
672 Friedrich-Christian Schroeder
kann. Auch wenn der Täter später noch von der Ausführung der Tat
zurücktritt, ist es nicht einmal zu einem Versuch gekommen; die War-
nung des Opfers kann ihm kaum als Unrecht angelastet werden. Die
Vorbereitung einer Straftat kann nicht über die Angst des Opfers
kriminalisiert werden. Wieso kann es, wenn Dritte sogar verpflichtet
sind, dem „Bedrohten" die Bedrohung mitzuteilen (§ 138 StGB), für den
potentiellen Täter selber strafbar sein? Nach einer immer mehr um sich
greifenden Auffassung sind auch Teilnehmer und Mittäter selbst zur
Anzeige verpflichtet24; die Erfüllung dieser Pflicht kann offensichtlich
nicht gleichzeitig nach §241 StGB strafbar sein. Damit beschränkt sich
die Berechtigung des §241 StGB auf den Bereich, in dem die Drohung
nicht ernst gemeint ist. In diese Richtung geht auch die Entwicklung des
Delikts, wie sich aus dem 1976 eingefügten Abs. 2 zeigt. Nach seinem
Wortlaut könnte Abs. 2 schon jetzt auch diejenigen Fälle umfassen, in
denen der Täter selbst die Absicht der Begehung eines Verbrechens nur
vortäuscht. Abs. 1 könnte dann als teils überflüssig, teils unberechtigt
entfallen.
VIII.
Die Scheu des Gesetzgebers, Sicherungsmaßnahmen gegen eine bloße
Gefährlichkeit ohne eine vorherige Straffälligkeit vorzusehen, ist sicher
achtenswert. Daß sie jedoch in nicht seltenen Fällen zu schweren
Verletzungen, ja zum Tode der Opfer führt, wurde bereits dargelegt.
Zum Schutz der Opfer hat die Rechtsprechung seit längerem einen
Ausweg gewiesen, den man kaum als befriedigend ansehen kann. Die
Rechtsprechung sieht nämlich das Drohen von Straftaten eines Men-
schen als eine nicht anders abwendbare gegenwärtige Gefahr im Sinne
der Notstandsvorschriften an25. Durch diese Rechtsprechung werden die
Drohenden im wahrsten Sinne des Wortes „zum Abschuß freigegeben"!
Es handelt sich längst nicht mehr um seltene Einzelfälle; wenn schon in
der höchstrichterlichen Rechtsprechung, d. h. bei Anklageerhebung und
Einlegung von Rechtsmitteln, zehn Fälle erörtert sind, müssen die
1824; B G H NStZ 1984, 20. Die Entscheidungen RGSt. 66, 98 und 222 sowie B G H N J W
1979, 2053 bejahten ebenfalls eine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr, jedoch
mit der Besonderheit, daß die Person der Drohenden unbekannt war. Näher zu dieser
Rechtsprechung F.-C. Schroeder, Notstandslage bei Dauergefahr - BGH, N J W 1979,
2053, JuS 1980, 336 ff.
Die Bedrohung mit Verbrechen 673
IX.
In einem Teilbereich hat übrigens der Gesetzgeber bereits entspre-
chende Konsequenzen gezogen, die allerdings dadurch um so inkonse-
quenter werden. Die §§ 129 und 129 a StGB lassen sich - abgesehen von
ihrer Funktion zur Erfassung der Verschleierung der Beteiligung an
Straftaten - nur als Regelung zur Sicherung vor geplanten Straftaten
verstehen 27 . Dabei ist hier der Anlaß für das sichernde Eingreifen sehr
viel weiter umrissen als bei der unmittelbaren Drohung mit Straftaten.
Allerdings ist auch hier kein sofortiges Eingreifen zur Verhütung unmit-
telbar bevorstehender Straftaten möglich. Diese Möglichkeit wird aber
durch §112 Abs. 3 S t P O geschaffen, der bei dem dringenden Verdacht
einer Straftat nach § 129 a StGB die Verhängung der Untersuchungshaft
ohne Haftgrund erlaubt. Diese Bestimmung, die im Hinblick auf die
Schuld überzogen erscheint, gewinnt in diesem engen Rahmen der
Verhütung bevorstehender Straftaten durchaus eine vertretbare Funk-
tion. Man kann sogar sagen, daß in bezug auf diesen Ausschnitt aus
§129 a StGB §112 Abs. 3 StPO seine einzige legitime Funktion besitzt.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Vorschrift des § 112 Abs. 3 StPO
dahingehend ausgelegt, daß auch hier ein Haftgrund nach §112 Abs. 2
oder aber der H a f t g r u n d der Wiederholungsgefahr nach §112 a StPO
gegeben sein muß und daß deren Voraussetzungen nur gelockert wer-
den28. Der Sinn der Einbeziehung des § 129 a StGB in § 112 Abs. 3 StPO
besteht nun sicherlich nicht darin, daß der Gefahr der Wiederholung der
Gründung einer terroristischen Vereinigung begegnet werden soll, son-
dern eben der Gefahr der Realisierung der Ziele der Vereinigung.
Uber den umständlichen U m w e g der Schaffung eines Vorbereitungs-
tatbestandes und der Ermöglichung der Untersuchungshaft ohne H a f t -
26
Der Fall RGSt. 43, 342 wurde 1909, der Fall RGSt. 60, 318 1926, die Fälle RGSt. 66,
98, 222 und 397 wurden 1932 entschieden.
27
F.-C. Schroeder, Die Straftaten gegen das Strafrecht, 1985, S. 28 ff.
2
» BVerfG 19, 342.
674 Friedrich-Christian Schroeder
grund hat der Gesetzgeber also hier das Ziel der Sicherung vor geplanten
Straftaten erreicht.
X.
Eine eingehende Untersuchung, wie fremde Rechtsordnungen dieses
Problem lösen, kann hier nicht erfolgen. Immerhin sieht das rechtsstaat-
lich sicher unbedenkliche niederländische Recht ausreichende Möglich-
keiten für unseren Ausgangsfall vor. Art. 285 StGB stellt die Drohung
mit einem gegen das Leben gerichteten Verbrechen sowie anderen
schwereren Straftaten unter Strafe. Nach § 67 a StPO ist eine Untersu-
chungshaft nicht nur wegen Fluchtgefahr möglich, sondern auch bei
einem „erheblichen Grund von gesellschaftlicher Sicherheit". Darunter
fällt auch die ernsthafte Befürchtung, daß der Verdächtige eine Straftat
mit einer Straferwartung von über sechs Jahren Gefängnisstrafe oder mit
einer Gefährdung der Gesundheit von Personen begehen wird29. Das
niederländische Recht befolgt also die schon erwähnte Lösung über die
Untersuchungshaft (s.o. VI.), faßt allerdings die Wiederholungs- und
die Begehungsgefahr zusammen.
In der Schweiz ist bei der Drohung mit einer Straftat eine „Friedens-
bürgschaft" möglich, die in dem Versprechen gegenüber dem Richter,
die Tat nicht auszuführen, und in einer Sicherheitsleistung besteht
(Art. 57 StGB). Sie wurde anläßlich der Beratungen der Großen Straf-
rechtskommission in der Bundesrepublik Deutschland von Frey sehr
negativ vorgestellt; sie sei so gut wie obsolet geblieben30. Indessen sind
Bedrohungen, obzwar - wie eingangs dargelegt - kein Einzelfall, zwei-
fellos nicht allzu häufig. Die Tatsache, daß es nicht häufig angewendet
wird, kann daher kein Argument gegen dieses Rechtsinstitut sein. In der
Tat berichtet auch Graven von einer Reihe von Anwendungsfällen 31 .
Entscheidend erscheint allerdings nicht die Drohung mit dem Verfall der
Sicherheit, sondern die förmliche Ermahnung des Drohenden und der
Hinweis auf die bei einer Verwirklichung der Drohung mit Sicherheit
eintretende Strafverfolgung.
XI.
Der Täter unseres Ausgangsfalles verbüßt übrigens inzwischen eine
Freiheitsstrafe von 14 Jahren und verflucht den Tag, an dem er sich zu
dieser Tat hat hinreißen lassen. Er hätte wohl das Recht, auch diejenigen
29 Für diese Hinweise danke ich Herrn Prof. Dr. G.J. M. Corstens, Nijmegen.
30 Aufbau des Strafensystems, ZStW Bd. 65 (1953), S. 3 ff, 17.
31 Le cautionnement préventif - Die Friedensbürgschaft, 1963, S. 103 ff.
Die Bedrohung mit Verbrechen 675
Auch wenn der verehrte Jubilar sein Schaffen der gesamten Breite des
materiellen Strafrechts 1 gewidmet hat2, so heben sich gleichwohl einige
Schwerpunkte heraus : Tötungsdelikte, Verkehrsstrafrecht und vor allem
der Betrugstatbestand. Bei letzterem handelt es sich um die premier
amour, der sich Lackner schon mit seiner Dissertation aus dem Jahre
19463 zugewandt hatte und zu der er immer wieder zurückgekehrt ist.
Zeugnis hierfür legen nicht nur die zahlreichen Aufsätze und Urteilsan-
merkungen ab, die sich mit Problemen aus dem Betrugsbereich befassen,
sondern vor allem die Erläuterungen im Großkommentar zum Strafge-
setzbuch (Leipziger Kommentar), die ein Rezensent zutreffend als die
„umfassendste Bearbeitung . . . , die § 263 je erfahren hat" 4 , würdigt 5 . Die
hier gebotene Aufarbeitung des Diskussionsstandes und die souveräne
Gedankenführung haben die wissenschaftliche Auseinandersetzung
ungemein befruchtet sowie der Rechtsprechung gut gangbare und gerne
beschrittene Wege zur Bewältigung problematischer Konstellationen
gewiesen.
Vieles ist allerdings nach wie vor offen. So hebt etwa Lackner* selbst
ausdrücklich hervor, daß „zahlreiche Einzelfragen . . . des Eingehungs-
und des Erfüllungsschadens noch nicht abschließend geklärt" seien. Es
sei gestattet, diesen Punkt aufzugreifen und einmal näher zu untersu-
chen, inwieweit wir uns, wenn wir von Eingehungs- und Erfüllungsbe-
trug sprechen, auf festem Boden bewegen und wo die Grundlage infolge
sachlicher Divergenzen noch unsicher ist.
1
Und nicht nur auf diesem Gebiet, wie die Bibliographie (vgl. S. 1081 ff) eindrucksvoll
ausweist.
3
In den letzten zwanzig Jahren vor allem als Kommentator des von Dreher und
Maassen begründeten Werkes „Strafgesetzbuch mit Erläuterungen" von der 4. Aufl. (1967)
bis zur 16. Aufl. (1985).
3
Vermögen und Vermögensbeschädigung in der Betrugstheorie des Reichsgerichts,
Diss. Bonn 1946.
4
Jescheck/Ruß/Willms (Hrsg.), Strafgesetzbuch (LK), 10. Aufl. 1979. Vgl. auch Bal-
dus/Willms (Hrsg.), Strafgesetzbuch (LK), 9. Aufl. 1974.
5
K.Meyer, JR 1980, 127, 128.
6
StGB, 16. Aufl. 1985, §263 A n m . V I 4.
678 Jörg Tenckhoff
I. Das Begriffspaar
Die Unterscheidung von Eingehungs- und Erfüllungsbetrug beruht
auf dem Umstand, daß nach deutschem Zivilrecht bei gegenseitigen
Verträgen die Vermögensverschiebung in rechtlich und häufig auch
zeitlich getrennten Phasen erfolgt, nämlich durch die Verpflichtung zur
Leistung durch den Vertragsabschluß und den Vollzug des Vertrages
durch Austausch von Leistung und Gegenleistung. Für das Strafrecht
ergibt sich daraus die Frage, ob bei Vorliegen betrügerischer Manipula-
tionen eines Vertragspartners erst die Vertragserfüllung einen vollende-
ten Betrug begründet oder ob bereits die schuldrechtliche Verpflichtung
zu einem Vermögensschaden führt.
" Zur Lehre vom strafbaren Betrug, 1964, S.215; ebenso neuerdings in: StrVert 1985,
187.
12 Ablehnend auch Kohlrausch/Lange, Strafgesetzbuch, 43.Aufl. 1961, §263
Anm. V 2 a; v. Liszt!Schmidt, Lehrbuch, 25. Aufl. 1927, S.668.
Eingehungs- und Erfüllungsbetrag 679
13 Diss. (Fn.3), S.35f und LK, §263 Rdn.151, 152, 222. Vgl. auch Cramer, Vermö-
gensbegriff und Vermögensschaden im Strafrecht, 1968, S. 124; Lenckner, J Z 1971, 320,
321; SchänkeISchröder!Cramer, StGB, §263 Rdn. 143.
14 RGSt 44, 230, 233; BGHSt 16, 220, 221; Bruns, Mezger-Festschrift, 1954, S. 335 f;
Dreher/Tröndle, StGB, §263 Rdn. 27; Wessels, Strafrecht B T II, S. 121 m.w.N. Ähnlich
der „dynamische" Vermögensbegriff Esers (GA 1962, 289 ff).
15 Vgl. insbesondere Gallas, Eb. Schmidt-Festschrift, 1961, S. 401, 409; Lackner, LK,
§263 Rdn. 123; Samson, SK-StGB, §263 Rdn. 112 ff; Schänke!Schröder!Cramer, StGB,
§263 Rdn. 83 ff.
16 Während die juristische Vermögenstheorie (vgl. Binding, Strafrecht BT II, 2. Aufl.
1902, S. 238) keine Anhänger mehr hat, befinden sich heute sog. personale Vermögensleh-
ren (vgl. etwa Bockelmann, Strafrecht BT I, S. 188 ff und JZ 1952, 461; Otto, Strafrecht
BT, S. 133 f, 224 ff; ders., Die Struktur des strafrechtlichen Vermögensschutzes, 1970,
S. 26 ff; Schmidhäuser, Strafrecht BT, S. 112) im Vordringen (kritisch hierzu Lackner, LK,
§263 Rdn. 124 und Schönke/Schröder/Cramer, StGB, §263 Rdn. 81). Aber auch ihre
Vertreter anerkennen, wenn auch mit gewissen Einschränkungen, die Figur des Einge-
hungsbetruges (vgl. oben Fn.9 sowie Otto, J Z 1985, 69, 72).
17 BGHSt 16, 220, 221; 23, 300; BGH, NJW 1953, 836; O L G Hamm, NJW 1969,
2256. Vgl. auch Graba, NJW 1970, 221; Maurach/Schroeder, Strafrecht BT I, S.423f.
18 BGHSt 21, 112, 113; 32, 211, 212 f; BGH, NJW 1986, 1183; O L G Köln, MDR
1975, 244. Vgl. auch Arzt, Strafrecht BT III, S. 147f; Krey, Strafrecht BT II, S. 174f.
" Vgl. Lackner, LK, §263, Rdn. 152, 153.
20 Insbesondere Cramer (Fn. 13), S. 125ff, 176ff; Lackner, LK, §263, Rdn. 153, 223;
Lenckner, JZ 1971, 320, 322 und J R 1974, 337ff; Schönke/Schröder/Cramer, StGB, §263
Rdn. 131, 132, 143ff. Vgl. auch Amelung, NJW 1975, 624, 625; D.Meyer, MDR 1971,
718.
680 Jörg Tenckhoff
21 Vgl. Lackner, a. a. O.
22 Näher dazu Cramer (Fn. 13), S. 199 f; Lenckner, MDR 1961, 652, 653 f.
23 Lackner, LK, §263 Rdn. 234.
24 Ist der Eingehungsbetrug nur versucht, weil noch keine „schadensgleiche" Gefähr-
dung vorliegt, so geht nach den allgemeinen Konkurrenzregeln (vgl. dazu BGHSt 10, 230,
232; BGH, N J W 1967, 60; Lackner, StGB, vor §52 Anm. VII 2; Schönke/Schröder/Stree,
StGB, vor §52 Rdn. 120, 123) dieser Versuch als straflose Vortat in dem vollendeten
Erfüllungsbetrug auf ( L a c k n e r , LK, §263 Rdn. 292).
25 RGSt 66, 175, 180; Bilda, MDR 1965, 541; Jescheck, Welzel-Festschrift, 1974,
S. 683, 688; Lackner, LK, §263 Rdn. 292.
26 O L G Hamm, G A 1957, 121; Bilda, a.a.O.; a.A. BayObLG, JR 1974, 336 mit abl.
Anm. Lenckner.
27 Zur Konstellation, daß §263 mangels Eingehungsschadens entfällt, vgl. unten III.
Eingehungs- und Erfüllungsbetrug 681
erblicken ist, ist strittig; bejahend O L G Stuttgart, JR 1982, 470 mit Anm. Bloy, verneinend
RG, GA Bd. 47, S.283; vgl. unten III 3 c.
29 RGSt 9, 168, 169; 16, 1, 3; 44, 230, 235; 74, 129, 130; BGHSt 3, 99, 102; 16, 220,
221.
30 Dreher/Tröndle, StGB, §263 Rdn.30; Lackner, StGB, §263 Anm. VI 2; Maurach/
Schroeder, Strafrecht BT I, S.419; Samson, SK-StGB, §263 Rdn. 133. Zur Frage, ob und
inwieweit die rein wirtschaftliche Betrachtungsweise gewisser normativer Korrekturen
bedarf, vgl. Gallas (Fn.15), S.434f; Lackner, LK, §263 Rdn. 143; Schönke/Schröder/
Cramer, StGB, §263 Rdn. 99.
" Zur Frage, welche Vorteile kompensationsfähig sind, vgl. Lackner, LK, §263
Rdn. 145 ff; ders., StGB, §263 Anm. VI2; Samson, SK-StGB, §263 Rdn. 134ff.
32 BGHSt 16, 220.
34 So die ganz h.M. Vgl. BGHSt 16,220, 221 f; 16, 321, 325; 23, 300, 302; 30, 388, 389;
BGH, NJW 1985, 1563; BayObLG, MDR 1962, 70; Cramer (Fn.13), S.174; Eser, GA
1962, 289, 296 f; Otto, JZ 1985, 69, 72; Schänke I Schröder! Cr amer, StGB, §263 Rdn. 132.
35 Strafrecht BT II, S. 359. Ebenso Eckstein, GA Bd. 58, S. 338, 343 f; Stenglein, GS
Bd. 40, S. 81, l l l f .
36 So Cramer (Fn.13), S.174, 195 ff. Vgl. auch R. Hirschberg, Der Vermögensbegriff
im Strafrecht, 1934, S. 309 f.
682 Jörg Tenckhoff
a) Nach der wohl h. M.42 sind nur vertragliche Ansprüche, also solche,
die ihren Ursprung unmittelbar im Vertragsverhältnis haben, kompensa-
tionsfähig, nicht aber gesetzliche Gegenansprüche wie insbesondere das
Anfechtungsrecht43. Begründet wird diese Auffassung im wesentlichen
damit, daß der wirtschaftliche Wert dieser Gegenrechte ja dadurch
gemindert werde, daß der Täuschende die Ausgleichsmöglichkeiten zu
vereiteln suchen wird, sowie dem kriminalpolitischen Argument, daß
bei Annahme der Kompensationsfähigkeit ein Eingehungsbetrug prak-
37 Grundlegend BGHSt 16, 220, 223 und 321. Folgend BGHSt 22, 88, 89; 23, 300; 32,
MDR 1970, 13; BGH, M D R 1985, 512; Krey, Strafrecht BT II, S. 175; weitere Nachweise
bei Lackner, LK, §263, Rdn. 187, 188.
43 Auch bei einer ständig geübten Stornierungsbereitschaft wird die Kompensations-
fähigkeit von BGHSt 23, 300 verneint; ebenso O L G Hamm, N J W 1969, 2256; O L G
Köln, N J W 1966, 1222; Graba, N J W 1970, 2221. A . A . insbesondere Lenckner, J Z 1971,
321 und Schröder, J R 1971, 74. Zusammenfassend Lackner, LK, §263 Rdn.225.
Eingehungs- und Erfüllungsbetrug 683
44
Zutreffend Schröder, JR 1961, 268, 269.
45
Eser, Strafrecht IV, S. 137; Lackner, LK, §263 Rdn. 188; v. Ungern-Sternherg, ZStW
Bd. 88, S. 653, 689. Vgl. auch B G H , GA 1972, 209.
44
Amelung, N J W 1975, 624f; Eser, a . a . O . ; Lackner, a . a . O . ; Lenckner, JR 1974, 336;
D.Meyer, M D R 1975, 357f. Vgl. auch RGSt 74, 129, 130.
47
Cramer (Fn. 13), S. 176f; Samson, SK-StGB, §263 Rdn. 167; Schänke/Schröder/
Cramer, StGB, §263 Rdn. 131. Ablehnend Lackner, a . a . O .
48
V gl. dazu oben I 2. a. E.
" Ahnliche Erwägungen insbesondere bei Cramer (Fn. 13), S. 176 f; Lackner, LK,
§263 Rdn. 223 ff; Lenckner, JZ 1971, 320 ff.
50
Fehlende Erkennbarkeit liegt beispielsweise vor, wenn künstliche Steine als Diaman-
ten verkauft werden (Beispiel von Arzt, Strafrecht BT III, S. 147 f), da nur der Fachmann
den Unterschied zu erkennen vermag.
51
So auch Samson, SK-StGB, §263 Rdn. 167; a. A. BGHSt 23, 300, 303; Schänke/
Schröder/Cramer, StGB, §263 Rdn. 131.
684 J ö r g Tenckhoff
2. Sind bei der Täuschung beim Abschluß des Vertrages nur die jeweils
übernommenen Verpflichtungen miteinander zu vergleichen, so kommt
bei einer Täuschung bei Abwicklung des Vertrages hinzu, daß der
Getäuschte nunmehr ein Recht auf die im Vertrag vereinbarte Leistung
erworben hat. Folglich ist bei dem für die Schadensfeststellung erforder-
lichen Wertvergleich bei der Erfüllung festzustellen, ob die vom Gegner
erbrachte Leistung hinter dem Anspruch des Getäuschten aus dem
Verpflichtungsgeschäft zurückbleibt beziehungsweise ob er selbst mehr
leistet, als er vertraglich verpflichtet ist56.
Ein Erfüllungsbetrug ist daher auch dann zu bejahen, wenn die
erbrachte Leistung zwar ihren Preis wert ist, aber hinter der vertraglich
52 Die Zumutbarkeit wäre etwa beim Bezug pornographischer Schriften durch einen
57 Dies kann auf geringerer Quantität oder Qualität (vgl. RGSt 25, 182), auf minderem
" Näher und differenzierter zum Zeitpunkt der Tatvollendung allein Cramer (Fn. 13),
S. 199 ff.
65 H . M . ; vgl. B G H (Z), N J W 1958, 418-, Jauernig/Vollkommer, BGB, 3. Aufl. 1984,
§ 480 Anm. 3 a, b; Palandt/Putzo, BGB, 44. Aufl. 1985, § 480 Anm. 1 b.
66 Vgl. Samson, SK-StGB, § 2 6 3 Rdn. 170, der darauf hinweist, daß der Schaden auch
im Erbringen der Leistung unter Verzicht auf das Zurückbehaltungsrecht nach § 320 BGB
bestehen könne.
67 Lackner, LK, §263 Rdn.228; Lenckner, M D R 1961, 652, 653; Samson, SK-StGB,
§ 2 6 3 Rdn. 171; Schänke/Schröder/Cramer, StGB, §263 Rdn. 138.
48 Lackner, a . a . O . ; Samson, a . a . O .
69 Strafrecht BT III, S. 145 f.
Geschäft reut 71 , packt ihm aber eine täuschend ähnliche Zellwollhose ein, die D M 2 6 , -
wert ist. - Alternative: Der betrügerische Händler erklärt dem Käufer, er könne ihm
eine Wollhose zu D M 2 6 , - anbieten, obgleich man für diesen Preis ansonsten nur
Zellwollhosen erhalte. In der Meinung, besonders günstig zu einer Wollhose zu
kommen, erwirbt der Getäuschte eine Zellwollhose, die tatsächlich D M 2 6 , - wert ist.
2. Daß ein Geschäftsmann strafbar sein soll, wenn er sich bei Erfüllung
seiner Verpflichtung eine Unredlichkeit zuschulden kommen läßt, hin-
gegen der größere Gauner straffrei ausgehen soll, der bereits bei
Abschluß des Vertrages den Partner übertölpelt, erscheint nicht nur
willkürlich, sondern geradezu unsinnig.
wollhosen durchaus brauchbar sind. Anders mag es liegen, wenn ein Gebrauchtwagen-
händler den Kilometerzähler zurückstellt oder über sonstige Eigenschaften des Fahrzeugs
täuscht; dazu B G H bei Dallinger, M D R 1972, 571; B a y O b L G , M D R 1962, 70; O L G
Düsseldorf, J M B 1 N R W 1964, 2 8 3 ; O L G Hamm, N J W 1960, 642; 1968, 9 0 3 ; O L G Köln,
N J W 1980, 1762.
7" O L G Köln, N J W 1959, 1980; O L G Hamm, B B 1960, 503. Vgl. bereis RG, G A
76
M D R 1961, 652 ff und N J W 1962, 59.
77
Cramer (Fn. 13), S. 190 ff und Schönke/Schröder/Cramer, StGB, §263 Rdn. 137.
7
» J Z 1984, 531 ff. Zustimmend Otto, JK, StGB §263/16.
79
Vgl. bereits R.Hirschberg (Fn. 36), S. 311 ; Jagusch, LK, 8. Aufl. 1958, vor §249
Anm. III 3 d b b ; Parsch, N J W 1960, 977.
80
Hierin liegt der Unterschied zu der oben (bei Fn. 35) dargestellten Auffassung, die
einen Eingehungsbetrug bejaht.
81
Statt aller Schönke/Schröder/Cramer, StGB, §263 Rdn. 137.
82
Cramer (Fn. 13), S. 191; Lenckner, M D R 1961, 652, 653. In diesem Punkt überein-
stimmend Lackner, LK, §263 Rdn. 232; a.A. aber noch in LK, 9. Aufl., §263 Rdn. 221,
222. Kritisch Eser, GA 1962, 289, 293.
83
BGHSt 16, 220; B G H bei Daliinger, M D R 1972, 517; B G H , GA 1978, 332, 333;
O L G Köln, N J W 1980,1762; O L G Stuttgart, N J W 1960, 2264. O L G Hamm, JMB1NRW
1971, 201, 202 läßt die Frage ausdrücklich dahingestellt.
84
Entgegen Otto, JK, StGB §263/16 enthält die Entscheidung BGHSt 32, 211, 214
keine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung, da in dem zugrundeliegenden Sachver-
halt die Täuschungshandlung erst nach Abschluß des obligatorischen Geschäftes begangen
wurde; daß sie schon vorher eingeplant war, ist unerheblich.
85
Dreher/Tröndle, StGB, §263 Rdn. 33; Gutmann, M D R 1963, 91, 93; Hengsberger,
LM N r . 54 zu §263 StGB; Kreft, DRiZ 1970, 58, 59 f; Maurach/Schroeder, Strafrecht BT
I, S. 422; Schönfeld, JZ 1964, 206ff; Welzel, Strafrecht, S. 374. Aus dem älteren Schrifttum
vgl. Grünhut, RG-Festgabe V, 1929, S. 116, 120.
86
Schönfeld, JZ 1964, 206, 208.
Eingehungs- und Erfüllungsbetrug 689
3. In der Tat dürfte die einzig sachgerechte Lösung auf dieser Linie
liegen:
93 B G H S t 32, 211.
690 Jörg Tenckhoff
Ein Unternehmer hatte dadurch Kunden gewonnen, daß er für Fassadenplatten ein-
schließlich Montage ungewöhnlich niedrige Preise verlangte. D e m vorgefaßten Plan
entsprechend wurde dann aber unnötig viel Material verlegt und so ein Gewinn
erwirtschaftet.
Die Frage ist nur, ob für die Anwendbarkeit des §263 StGB die
juristische Aufspaltung des einheitlichen Lebensvorgangs maßgebend ist
oder ob nicht doch die wirtschaftliche Gesamtbetrachtung den Vorzug
verdient. Für sie spricht nämlich die heute allseits akzeptierte Abkehr
von den juristischen Vermögenslehren, die unter Vermögen die Summe
der Vermögensrechte und -pflichten verstanden, und die Hinwendung
zu wirtschaftlichen Betrachtungsweisen 102 . Es ist also keineswegs so, daß
das Strafrecht die zivilrechtliche Rechtslage einfach als Faktum akzeptie-
ren müßte 103 .
Angesichts der fragmentarischen Natur des Strafrechts kann vielmehr
nur entscheidend sein, ob die fraglichen Rechtspositionen auch in der
konkreten Situation dem Schutzbereich des §263 StGB unterfallen 104 .
Bei der Auslegung dieser Bestimmung ist aber zu beachten, daß der
Betrugstatbestand, wie Gallas105 eindrucksvoll herausgearbeitet hat, als
Vermögenswertverschiebungsdelikt konzipiert ist, weshalb als Vermö-
gensschaden nur effektive Vermögensminderungen in Betracht kom-
men. Insofern trifft es zu, daß der Betrug nur vor dem Armerwerden
schütze, nicht aber ein Reicherwerden ermöglichen wolle.
Fallen nun Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäft zeitlich zusam-
men, so wird der Getäuschte wirtschaftlich nicht ärmer; was ihm mit der
einen H a n d gegeben wird, wird ihm mit der anderen wieder genommen,
ehe er zupacken kann. Es zerschlägt sich also nur seine Hoffnung,
reicher zu werden. Nach dem Prinzip der Gesamtsaldierung ist ein
Vermögensschaden daher nicht gegeben106.
Es ist daher bei Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung
nicht möglich, die vielleicht als unbillig empfundene Strafbarkeitslücke
beim Eingehungsbetrug durch die Konstruktion eines (versuchten)
Erfüllungsbetruges zu schließen.
c) Problematisch ist indes noch, wie zu entscheiden ist, wenn Verpflich-
tung und Erfüllung zwar zeitlich auseinanderfallen, der Täter sich aber
darauf beschränkt, die den Vertragsabschluß motivierende Täuschung
bis zur Abwicklung fortwirken zu lassen:
130
Statt aller Lackner, LK, §263 Rdn. 129 mit Nachweisen auch zu abweichenden
Ansichten.
«" Vgl. RGSt 16, 1, 5 f; Cramer (Fn. 13), S. 186f; Grünhut (Fn. 85), S. 120; Lackner,
Diss. (Fn. 3), S. 35; Proli, GA Bd. 66, S. 339, 340.
102
Vgl. die Nachweise in Fn. 14 und 15.
103
So aber Puppe, JZ 1984, 531, 532.
104
Zutreffend Schönfeld, JZ 1964, 206, 208.
105
Gallas (Fn. 15), S.410. Vgl. auch Gutmann, M D R 1963, 3, 5; Schönfeld, a . a . O . -
Daß dieser effektive Schaden zu eng gesehen wird (vgl. etwa Gallas, a. a. O., S.416), spielt
hier keine Rolle.
106
Statt aller Mohrbotter, GA 1975, 41, 51.
692 Jörg Tenckhoff
™ Grundsätzlich ablehnend K r e f t , DRiZ 1970, 58, 59, für den Regelfall dagegen
bejahend Cramer (Fn. 13), S. 194 Fn. 114.
lwZur konkludenten Täuschung eingehend Lackner, LK, §263 Rdn. 28 ff, hier
Rdn.29.
1,0 Vgl. RGSt 2, 430, 431; 14, 310; Lackner, LK §263 Rdn. 47; SchänkeISchröder!
Cramer, StGB, §263 R d n . l 6 d , 17b.
111 Vgl. RGSt 42, 147, 150; BGH, LM Nr. 5 zu § 2 6 3 StGB; Lackner, LK, §263
Rdn. 46.
112 Dazu Lackner, LK, § 2 6 3 Rdn. 63. 65.
113 Grundsätzlich ablehnend Samson, Strafrecht II, S. 184.
114 Vgl. Lackner, LK, §263 Rdn. 70.
Eingehungs- und Erfüllungsbetrug 693
I.
§ 263 S t G B , die Strafbestimmung über den Betrug, unterscheidet drei
Arten des Betruges: den Normal- oder Durchschnittsfall (§263 Abs. 1
S t G B ) , den besonders schweren Fall (§263 Abs. 3 S t G B ) und, durch
Verweisungen verschlüsselt, den kleinen Fall (§263 Abs. 4 StGB). Die
Grenzen dieses Kleinbetruges nach positivem Recht will der folgende
Text ermitteln. Die Schwierigkeiten beginnen bei der Frage, was das
positive Recht des Kleinbetruges ist.
Das positive Recht des Kleinbetruges ist jedenfalls die Gesetzesmenge
im materiellen Recht und im Verfahrensrecht, die sich mit dem Gegen-
stand „Kleinbetrug" beschäftigt. Zum positiven Recht gehört das nicht
ausdrücklich geregelte Zusammenspiel zwischen diesen Rechtsgebieten.
Die herrschenden Meinungen und die Argumentationsketten, die zu
herrschenden Meinungen führen, werden als Teil des positiven Rechts
aufgefaßt. Bei ungeklärten Fragen sind die mögliche Entscheidungs-
breite und die Gründe, die für die Wahl innerhalb der Breite in Frage
kommen, das gegenwärtige positive Recht. Nicht vernachlässigt werden
dürfen Regeln unterhalb der Gesetzesebene, die die Handhabung des
Gesetzes entschieden steuern; diese Regeln (Richtlinien, Verfügungen,
Erlasse) sind Teile des aktuellen positiven Rechts des Kleinbetruges.
Eine ausgiebige Verwertung setzte allerdings die Publikation dieser
Texte voraus; diese Publikation geschieht kaum.
Es wird sich nicht vermeiden lassen, ein positives Recht des Kleinbe-
truges von nur mittlerer Qualität zu zeigen. Als Qualitätsmaßstäbe für
positives Recht sind angenommen: Klarheit und Entschiedenheit ohne
zweckwidrige Härte und ohne wehleidige Milde; Souveränität der
gesetzgeberischen Technik. Das positive Recht des Kleinbetruges wird
sich als weitgehend unkoordinierte Datenmenge mit offener Entwick-
lung erweisen. Die Handhabung des positiven Rechts, und damit das
positive Recht selbst ändern sich, je nachdem ob man diese Kennzeichen
für gut oder schlecht hält.
II.
Das aktuelle positive Recht schafft den Begriff des Kleinbetruges
nicht, trennt diesen Begriff vielmehr aus einer diffusen Vorstellung, es
696 Wolfgang Naucke
III.
Zum positiven Recht des Kleinbetruges gehört ein merkwürdiges, für
die Handhabung dieses Rechts wichtiges, nicht ausdrücklich formulier-
tes Ordnungsverfahren. Dieses Verfahren muß immer den Texten des
positiven Rechts hinzugerechnet werden, sonst sind sie mißverständlich.
Das S t G B teilt seit 1975 die Straftaten nur in Verbrechen und Vergehen.
Der Kleinbetrug untersteht den Vergehen, ist also eigentlich ein norma-
ler Betrug. Auf den Kleinbetrug sind nach der Gesetzestechnik anwend-
bar: der normale Strafrahmen, die üblichen Regeln über Versuch, Ver-
jährung und Rückfall. Diese Ordnung beruht darauf, daß mit der
Strafrechtsreform am Ende der 60er und am Anfang der 70er Jahre die
kleinste Straftatkategorie der Übertretungen weggefallen ist, der Gesetz-
geber aber sich nicht entschließen konnte, den Kleinbetrug mit anderen
Kleinstraftaten aus dem Strafrecht bedingungslos zu entlassen. Dieser
unklare Dogmatismus führt dazu, daß das positive Recht den Klein-
betrug mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren (§ 263 Abs. 1 S t G B ) ,
einer Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen (§§263 Abs. 1, 40 S t G B )
bedroht, daß es einen versuchten Kleinbetrug (§263 Abs. 2 S t G B ) und
eine Strafschärfung für den wiederholten Kleinbetrug (§§263, 46 Abs. 2
S t G B ) gibt. Das positive Recht des Kleinbetruges, das im folgenden
skizziert wird, hat den Charakter der Korrektur dieses Einordnungsver-
fahrens und ist keine eigenständige Lösung des Problems des Kleinbe-
truges 1 . Der Kleinbetrug ist nach positivem Recht ein normales Verge-
hen des Betruges mit gesetzestechnisch mühsam aufgenötigten Ein-
schränkungen.
1 Dieser Charakter des Rechts des Kleinbetruges, Korrektur zu weit geratenen positi-
ven Rechts, k o m m t gut in der Entscheidung des BVerfG 50, 2 0 5 ff zum Ausdruck. D e r
Vorlagebeschluß rügt präzise, daß nach positivem Recht die Kleindelikte zu hart bestraft
werden können. Die Rüge wird zurückgewiesen mit der Erwägung, zwar sei das positive
Recht der Bestrafung der Kleinkriminalität zu hart, aber die H ä r t e sei wegen der zusätz-
lichen Mechanismen der Milderung, die das positive Recht kenne, erträglich (a. a. O . ,
S. 213 f).
Der Kleinbetrug 697
IV.
Eine schon angedeutete Eigenheit des positiven Rechts des Klein-
betruges ist zu unterstreichen. Dieses positive Recht besteht nicht aus
einer kürzeren oder längeren Gesetzesstelle, sondern besteht aus der
Summe zahlreicher, auf verschiedene Gesetze, Entscheidungen und
andere Rechtsquellen verteilten Stellen. Bei dieser Summe handelt es sich
zudem nicht um ein einfaches Addieren von Inhalten zu einer Gesamt-
information. Diese Summe besteht in einem beweglichen Zusammen-
spiel unterschiedlich konkreter positivrechtlicher Anweisungen.
Der Kleinbetrug ist ein Fall des kleinen Vermögens- bzw. Eigentums-
delikts. Die Regelung beginnt im materiellen Recht (§§263 Abs. 4, 243
Abs. 2 StGB), läuft schnell auf das Prozeßrecht zu (§248 a StGB,
Antragserfordernis, besondere Bedingungen für das Einleiten eines Offi-
zialverfahrens), dringt dann tief in das Verfahrensrecht ein (§§ 153, 153 a
StPO) und bringt seine Besonderheiten bei der Rechtsfolgenzumessung
zur Geltung (§§40, 47, 56, 59, 60 StGB). Die Anwendung positiven
Rechts beim Kleinbetrug besteht zu einem großen Teil aus der Koppe-
lung weit auseinanderliegenden positivrechtlichen Materials, das in der
ganzen Breite für die Handhabung jedes einzelnen Falles gegenwärtig
sein muß. Wer an irgendeiner Stelle dieser Kette des positiven Rechts des
Kleinbetruges entscheidet, muß die vorangegangenen und die folgenden
Entscheidungsglieder einbeziehen.
Diese Kette positiven Rechts, die schließlich eine Entscheidung zur
Grenze des Kleinbetruges ergibt, arbeitet durchgängig mit sehr allgemei-
nen Begriffen, unbestimmten Rechtsbegriffen, Ermessensbegriffen oder
Generalklauseln. Die Verringerung des Normalbetruges zum Kleinbe-
trug geschieht mit Hilfe eines Verfahrens, das das Denken in Typen, im
Typ des Kleinbetrügers, des Durchschnittsbetrügers, des Großbetrü-
gers, und das einen weitgehenden Dezisionismus im Umgang mit Klein-
straftaten favorisiert. N u r die Summe dieser Möglichkeiten, die sich
gegenseitig kontrollieren und aufheben können, macht das Verfahren
erträglich. Hintereinandergehängt sind zur Begrenzung des Kleinbetru-
ges: der unscharfe Begriff der Geringfügigkeit (§§263 Abs. 4, 248 a
StGB); das Antragserfordernis, wobei nur das Vorliegen des Antrags
festgestellt, nach Gründen nicht gefragt wird 2 ; der nur über einen
2
Es gehört zum Inhalt des heutigen Rechts des Kleinbetruges, daß das Thema
„Mißbrauch des Strafantrags" (zusammenfassend: Maria-Katharina Meyer, Zur Rechts-
natur und Funktion des Strafantrags, 1984, S. 52 ff) entfallen kann. Im Zusammenspiel der
Entscheidungen, die zur Annahme oder Ablehnung eines Kleinbetruges führen, ist der
Strafantrag nicht ausschlaggebend wichtig; es kommt daher nur darauf an, ob er vorliegt
oder ob er nicht vorliegt, weniger kommt es auf die Frage an, warum das so ist. Diese
Frage kann im übrigen ohne Aufwand an anderen Stellen des Rechts des Kleinbetruges
698 Wolfgang Naucke
V.
Die Verweisung in §263 Abs. 4 StGB auf §§243 Abs. 2, 248 a StGB
ergibt, wenn man die Verweisung auflöst, zwei unterschiedliche Fälle
des Kleinbetruges, den typischen und den untypischen Fall. Die beiden
Fälle sind gekennzeichnet durch die Geringfügigkeit des Schadens, sonst
sind sie verschieden.
aufgegriffen werden, z. B. bei der Entscheidung über das besondere öffentliche Interesse
im Rahmen des § 2 4 8 a StGB.
3 Zu vermuten ist, daß diese Gründe, wie beim Strafantrag (vgl. Anm. 2), an anderen
Stellen des Verfahrens zur Festlegung des Kleinbetruges eine Rolle spielen, etwa bei der
Prüfung des besonderen öffentlichen Interesses nach § 248 a StGB oder der Voraussetzun-
gen der § § 1 5 3 , 153 a StPO.
4 Für das Stellen oder Nicht-Stellen des Strafantrags gilt dies ohne lange Debatte als
ohnehin klar (s. Anm. 2). Die h. M. entzieht die Ermessensentscheidung der StA über das
besondere öffentliche Interesse der gerichtlichen Uberprüfung (vgl. die Nachweise bei
Lackner, StGB, 16. Aufl., Anm. 3 c zu § 2 3 2 ; Dreher-Tröndle, StGB, 42. Aufl., R d n . 4 zu
§ 2 3 2 ) . Die h . M . folgt damit konsequent dem dezisionistischen Klima, das das Recht des
Kleinbetruges prägt. Die Gegenmeinung sieht „unliebsame Konsequenzen" (Schänke/
Schröder/Stree, StGB, 22. Aufl., R d n . 3 zu § 2 3 2 ) , die freilich von jenem Klima gesehen
und in Kauf genommen werden; s. BVerfGE 51, 177 ff und B G H S t . 16, 225 ff.
5 Übersicht bei Rieß, in: L R - S t P O , 24. Aufl., R d n . 5 1 , 53, 7 8 f zu § 1 5 3 ; 86, 87, 102,
103 zu § 1 5 3 a.
Der Kleinbetrug 699
' Vgl. Lackner, LK-StGB, 10. Aufl., Rdn.338 zu §263 mit ausführlichen Nach-
weisen.
7 Die Bemerkung im Text geht davon aus, daß es auch juristisch Selbstverständliches
gibt, ζ. B., daß der Kleinbetrug nicht auf den Sachbetrug beschränkt ist. Die Beschränkung
wäre Willkür; die Vermeidung von Willkür ist eine selbstverständliche strafjuristische
Berufsmaxime. - Die breite Diskussion des Für und Wider, die zu der herrschenden
Meinung geführt hat (vgl. die Dokumentation bei Lackner, LK-StGB, 10. Aufl., Rdn.338
mit Anm. 523 zu §263), erscheint daher leicht künstlich. Verständlich wird sie, wenn man
sie als Beitrag zu der stets hart umkämpften Grenze des Kleinbetrugs auffaßt, als
Erörterung der Frage also, ob nicht Fälle, die selbstverständlich zum Kleinbetrug gehören,
durch gewollte Gegensteuerung dem Kleinbetrug entzogen werden können. So verfahren
die Entscheidungen RGSt. 63 (1929), 153 und RG D R 1941, 709, die, einen ungenauen
Gesetzestext ausnutzend, willkürlich den Umfang des Kleinbetruges auf den Sachbetrug
beschränken wollen und damit für die anderen Fälle größere Bestrafungsmöglichkeiten
eröffnen. Die Bedeutung der heute herrschenden Meinung liegt nicht in dem juristischen
Respekt gegenüber dem Gesetzestext, sondern in der Aufhebung jener Willkür und damit
in der Wiederherstellung der richtigen Grenze des Kleinbetruges; gut zu sehen ist diese
Bedeutung noch an BGHSt. 5 (1954), 263 (265 f).
s Vgl. Lackner, LK-StGB, 10.Aufl., Rdn.338 zu §263; Lackner, StGB, 16.Aufl.,
A n m . X I zu §263; Schönke/Schröder/Cramer, StGB, 22. Aufl., Rdn. 192 zu §263; Dre-
her/Trön die, StGB, 42. Aufl., Rdn. 55 zu §263; SK-Samson, StGB, Rdn. 197 zu §263.
700 Wolfgang Naucke
StGB zeichnet sich folgendes Gebilde ab: der besonders schwere Betrug,
der zum Kleinbetrug wird.
Ein Normalbetrug kann zum besonders schweren Betrug durch die
Höhe des Schadens oder durch die Besonderheit der Betrugshandlung
werden9. Das Zusammentreffen von besonders gefährlicher Betrugs-
handlung und normalem Schaden oder von normaler Betrugshandlung
und herausragendem Schaden sind Anwendungsfälle des besonders
schweren Betruges gem. §263 Abs. 3 StGB. Vorstellbar ist aber auch das
Zusammentreffen von besonders hervorgehobener Betrugshandlung und
geringem Schaden. Die Regelung dieser Situation wäre gesetztestech-
nisch durchsichtiger, wenn die Verweisung auf §243 Abs. 2 StGB in
§ 263 Abs. 3 StGB und nicht in Abs. 4 stände. Die Anordnung, daß ein
besonders schwerer Fall des Betruges bei geringem Schaden nicht ange-
nommen werden dürfe (§§263 Abs. 4, 243 Abs. 2 StGB), führt zu
Besonderheiten. Hat die hervorgehobene Täuschung nur einen geringen
Schaden zur Folge, so liegt kein besonders schwerer Fall des Betruges
vor, sondern ein Normalfall. Dieser Fall (harte Täuschung und geringer
Schaden) kann über § 248 a StGB zum Antragsdelikt werden10.
Die harte Täuschung, die beim Betrogenen nur geringen Schaden
verursacht, ist gesetzestechnisch also auch ein Fall des Kleinbetruges,
allerdings eben ein untypischer Fall. Hier tritt deutlich die nicht durch
viele Gründe gegen Alternativen geschützte Neigung des positiven
Rechts hervor, den Kleinbetrug wie jedes andere Kleindelikt einseitig an
der Geringfügigkeit des materiellen Schadens auszurichten.
Dem untypischen Fall des Kleinbetruges (schwere Täuschung, aber
leichter Schaden) wird man wahrscheinlich bei der Handhabung des
§248 a StGB wiederbegegnen. Die Differenzierung in Antragsdelikt und
mögliches Offizialdelikt, die §248 a StGB schafft, bedeutet für den
Betrug die Differenzierung von typischem und untypischem Kleinbe-
trug. Für den typischen Fall (Normaltäuschung, geringer Schaden) ist
der Antrag die Regel, für den untypischen Fall (schwere Täuschung,
geringer Schaden) ist die Verfolgung von Amts wegen die Regel. Jeden-
falls muß in §263 Abs. 4 StGB unterschieden werden zwischen zwei
unvergleichbaren Fällen des Kleinbetruges: Normalfall und geringer
Schaden (typischer Kleinbetrug, Antragsdelikt) und besonders schwerer
Fall der Täuschung mit geringer Schadensfolge (untypischer Kleinbe-
trug, Offizialdelikt).
VI.
Von diesen im Rahmen des § 2 6 3 Abs. 4 S t G B erfaßten Fällen ist zu
trennen die Betrugstat, die nicht durch einen geringen Schaden, sondern
die durch eine geringe Täuschung ausgezeichnet ist. Das positive Recht
bemerkt diesen Fall nicht ausdrücklich, zu sehr ist es mit der Gleichung:
Kleinbetrug = Betrug mit geringem Schaden beschäftigt. Literatur und
Rechtsprechung zeigen freilich, daß für das Bild des Kleinbetruges die
Geringfügigkeit der Täuschungshandlung nicht weniger wichtig ist als
die Geringfügigkeit des Schadens". Es ergeben sich drei Fallgruppen, die
das positive Recht unterschiedlich sieht.
3. Der dritte Fall zeigt die geringfügige Täuschung, gekoppelt mit einem
schweren Schaden. Dieser Fall ist §263 Abs. 1 S t G B zuzurechnen; er
kann, wegen des hohen Schadens, als besonders schwerer Fall (§263
Abs. 3 S t G B ) angesehen werden. Da § 263 Abs. 3 StGB aber eine ermes-
sensabhängige Gesamtbewertung von Tat und Täter verlangt15, also den
Typ des skrupellosen Betrügers meint 16 , wird das Zusammentreffen von
hohem Schaden und kleiner Täuschung im Regelfall von §263 Abs. 3 zu
§ 263 Abs. 1 S t G B zurückführen.
VII.
VIII.
Die gesetzlich beschriebenen Fälle des Kleinbetruges sind also ent-
scheidend gekennzeichnet durch die Geringfügigkeit des Vermögens-
schadens (§§263 Abs. 4, 243 Abs. 2, 248 a StGB).
Es liegt auf der H a n d , daß „geringer Vermögensschaden" ein unklarer
Begriff ist. Freilich ist es wirkungslos, verfassungsrechtliche Bedenken
wegen dieser Unklarheit zu formulieren. Die vorherrschende Meinung
nimmt solche Unklarheiten als Teil des positiven Rechts hin. Das
BVerfG stützt diese Haltung 18 . Es gehört zum positiven Recht des
Kleinbetruges, daß das BVerfG den Begriff der Geringfügigkeit in
§248 a StGB für verfassungsgemäß hält19. Die Debatte geht allein darum,
den Begriff nachträglich klarer zu machen. Es zeichnen sich zwei Linien
ab: starre Grenze oder Ermessen 20 .
1. Die eine Linie will der Unklarheit entgehen, indem eine feste Wert-
grenze festgelegt wird. Die Vorschläge schwanken und bewegen sich
gegenwärtig u m D M 50,- mit dem Zusatz, daß dieser Betrag dem Preis-
und Lohngefüge folgen müsse 21 .
2. Die andere Linie wendet das gegenwärtig gewohntere juristische
Verfahren an. Man geht nicht von einer festen Wertgrenze aus und paßt
sie an, sondern man legt das verfügbare Rechtsprechungs- und Literatur-
material mit seinen unterschiedlichen Kriterien für die Geringfügigkeit
zugrunde und entscheidet 22 . Diese Entscheidung ist als Ermessensent-
17
Diese Linie - Vermeidung der Anwendung des § 263 Abs. 3 StGB bei leichter
Täuschung, aber hohem Schaden - zeichnet sich in der Rechtsprechung ab; vgl. B G H ,
NStZ 1981, 391; B G H , StrVert 1984, 464; B G H , wistra 1984, 23 ff.
18
Vgl. Krahl, Die Rechtsprechung des BVerfG und des B G H zum Bestimmtheits-
grundsatz im Strafrecht (Art. 103 Abs. 2 GG), 1986, S. 104 ff.
" BVerfGE 50, 216 = N J W 1979, 1039f (zu dieser Entscheidung Krahl, a . a . O . -
Anm. 18 - S. 159ff); ergänzt wird diese Entscheidung durch BVerfGE 51, 176ff. Diese
beiden Entscheidungen zusammen sichern die vage juristische Organisation der Verwal-
tung der Kleinkriminalität gegen verfassungsrechtliche Bedenken.
20
Vgl. B G H , M D R 1975, 543.
21
Gute Ubersicht über diese Linie: SK-Samson, StGB, Rdn. 15 zu §248a. Vgl. Arzt,
Sitzungsbericht Ν zum 51. DJT, S. 53; Rössner, Bagatelldiebstahl und Verbrechenskon-
trolle, 1976, S.225; Dreher, in: Festschrift für Welzel, 1974, S.928f.
22
Sorgfältig ausgeführt ist dieses Verfahren bei Lackner, StGB, 16. Aufl., Anm. 3 a zu
§248 a.
704 Wolfgang Naucke
26
Dreher/Tröndle, S t G B , 42. Aufl., Rdn. 7 zu § 248 a; Lackner, S t G B , 16. Aufl.,
Anm. 3 c zu § 2 4 8 a ; Schänke/Schröder/Eser, S t G B , 22. Aufl., R d n . 1 6 zu §248 a.
27
SK-Samson, S t G B , Rdn. 21-23 zu § 2 4 8 a .
28 Die als Belege für die h. M. in A n m . 26 zitierten Stellen registrieren die abweichende
IX.
Das Erstaunliche am positiven Recht des Kleinbetruges ist, daß es sich
mit der Regelung des § 263 Abs. 4 StGB nicht zufrieden gibt. Vielmehr
ist eine zusätzliche Regelung in §§ 153, 153 a StPO enthalten. Der
Beitrag dieser Regelung zum Begriff des Kleinbetruges ist festzulegen.
1. §§153, 153 a StPO beschäftigen sich nicht ausdrücklich mit dem
Betrug. Sie betreffen alle kleinen Strafsachen. Diese Vorschriften der
StPO müssen auf die Vorschriften des StGB zugeschnitten werden.
§§ 153, 153 a StPO sind allgemeiner als die Vorschriften des Besonderen
Teils des StGB. Es entstehen ähnliche Fragen wie im Verhältnis von
Allgemeinem und Besonderem Teil des StGB. Dabei fällt eine zusätzli-
che Schwierigkeit auf. Es gibt unterschiedliche Höhen der Allgemeinheit
in §§153, 153 a StPO. Die meisten Bestimmungen in diesem Bereich
sind wirklich Allgemeiner Teil der Kleinkriminalität. Die kleine Vermö-
genskriminalität ist aber noch einmal gesondert ausgewiesen (§§153
Abs. 1 S. 2, 153 a Abs. 1 letzter Satz StPO). Das Ineinanderpassen von
einigermaßen konkreten Regeln zum Kleinbetrug (§263 Abs. 4 StGB),
von Regeln mit mittlerer Allgemeinheit (§§ 153 Abs. 1 S. 2, 153 a Abs. 1
letzter Satz StPO) und von Regeln mit großer Allgemeinheit (§§ 153,
153 a StPO insgesamt) ist eine ungewöhnliche Schwierigkeit des positi-
ven Rechts des Kleinbetruges.
2. Das Verhältnis von §263 Abs. 4 StGB zu §§ 153, 153 a StPO ist noch
immer ungeklärt. Die Meinung, §§153, 153 a StPO seien Präzisierungen
des materiellen Rechts, also selbst materielles Recht, findet keine
Zustimmung 30 . Man faßt übereinstimmend §§153, 153 a StPO als eine
„Ergänzung" 31 der Vorschriften des StGB zu den kleinen Straftaten auf.
Diese Vorstellung des Ergänzens einer Vorschrift im StGB um eine
Vorschrift in der StPO scheint eine durchaus neue und aussichtsreiche
strafrechtliche Vorstellung zu sein. Die Frage, was z.B. §263 Abs.4
StGB für den Kleinbetrug an ergänzungsbedürftigen Regeln enthält, ist
nicht leicht zu beantworten. Nach §263 Abs. 4 StGB sind der typische
30
Übersicht: Rieß, in: LR-StPO, 24. Aufl., Rdn.2 zu §153.
31Lackner, StGB, 16. Aufl., Anm. 1 zu § 248 a; Schänke/Schröder/Eser, StGB,
22. Aufl., Rdn. 20 zu §248a; Dreher/Tröndle, StGB, 42. Aufl., Rdn. 11 zu §248a; SK-
Samson, StGB, Rdn. 6 zu § 248 a; KK-Schoreit, StPO, Rdn. 5 zu §153a; Dreher, in:
Festschrift für Welzel, 1974, S.933.
Der Kleinbetrug 707
dem Richter? 1980, S. 225 ff; Kleinknecht/Meyer, StPO, 37. Aufl., Rdn. 1 zu § 153 a;
Kunz, Das strafrechtliche Bagatellprinzip, 1984, S . 3 2 0 ; Marxen, Straftatsystem und
Strafprozeß, 1984 S. 2 2 6 ff, 4 2 1 ; Roxin, Strafverfahrensrecht, 19. Aufl., 1985, S . 6 8 f f ; KK-
Schoreit, S t P O , Rdn. 6 zu § 153 a.
35 Die Kontur dieser „umgeleiteten" Kleinkriminalität, die weder dem überkommenen
a) Es kann vorkommen, daß für den klassischen und für den typischen
Kleinbetrug (geringe bzw. normale Täuschung gekoppelt mit geringem
Schaden) ein Strafantrag gestellt wird. Es sollte nicht vorkommen, ist
aber gesetzlich nicht verhindert, daß in diesen Fällen des Kleinbetruges
ein Strafprozeß von Amts wegen in Gang kommt.
Zuständig für den weiteren Umgang mit dieser Fallgruppe ist allein
§153 Abs. 1 S.2 StPO, nur zur Korrektur eines zu weit gediehenen
Prozesses §153 Abs. 1 S. 1 bzw. Abs. 2 StPO. Die Anwendung des
§153 a StPO für den typischen und den klassischen Kleinbetrug sollte
auf keinen Fall auch nur erwogen werden. Der klassische und der
typische Fall des Kleinbetruges sind eben jene Fälle, in denen geringe
Schuld vorliegt und kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung
besteht. Ein selbstsicheres Strafrecht würde diese Fälle in sein Gebiet
nicht erst einbeziehen. Um so wichtiger ist es, daß diese Fälle über § 153
StPO spät zwar, aber klar und beständig wieder abgetrennt werden38.
Der Antragsteller muß hinnehmen, daß seine Antragsbefugnis leer-
läuft. Das Klageerzwingungsverfahren ist ausgeschlossen (§172 Abs. 2
StPO), Privatklage ist nicht möglich, ein gerichtlicher Beschluß, sollte es
bis zu einer solchen Entscheidung kommen müssen, wäre nicht anfecht-
bar (§153 Abs. 2 StPO). Je konsequenter die Straflosigkeit des klassi-
schen und des typischen Kleinbetruges im Verfahren nach §153 StPO
betont wird, um so ausnahmsloser werden Strafanträge unterbleiben.
37
Der Versuch, die Menge von „prozessualen Nichtverfolgungsermächtigungen" als
„Teil eines kriminalpolitischen Gesamtkonzepts abgestufter strafrechtlicher Intervention
zu verstehen" (Rieß, in: LR-StPO, 24. Aufl., Rdn.20 zu §153), ist mißlich. Eine distan-
ziert-wissenschaftlich klingende Sprache, die gegenwärtig auf Akzeptanz rechnen kann
und daher gepflegt wird, verleiht dem positiven Recht eine Auszeichnung, die es nicht
verdient.
38
Sollte in diesen Fällen wirklich einmal von Amts wegen ein Strafverfahren eingeleitet
werden, so wäre es für die beteiligten Staatsanwaltschaften und Gerichte ein Ermessensfeh-
ler, dieses Vorgehen nicht über § 153 Abs. 1 StPO wieder zu korrigieren.
710 Wolfgang Naucke
" In einem anderen Zusammenhang ebenso Rieß, in: LR-StPO, 24. Aufl., Rdn. 28 zu
§153 a.
Der Kleinbetrug 711
X.
Der Umfang der Strafbarkeit des Kleinbetruges hätte sich diesseits der
juristischen Formen der §§263 Abs. 4, 248 a StGB, 153, 153 a StPO
festlegen lassen, durch eindeutig abgrenzende Tatbestandsfassungen,
durch präzise Auslegungen, durch Anwendung des Geringfügigkeits-
prinzips bei der Auslegung, durch kluge Handhabung der Rechtferti-
gungs-, Vorsatz- und Irrtumslehren, durch souveräne Rechtsfolgenbe-
stimmungen und konkrete Rechtsfolgenbemessungen. Mit Hilfe eines
streng weitergeführten Allgemeinen Teils des Strafrechts ginge das sogar
heute noch; wenn man rechtlich wollte, ließe sich jene schwer durch-
dringbare juristische Masse in §§263 Abs. 4, 248 a StGB, 153, 153 a
StPO dem Regime des Allgemeinen Teils des Strafrechts unterstellen 45 .
Das positive Recht hindert es nicht, die theoretisch locker verankerten
Bruchstücke einer Regelung des Kleinbetruges im Allgemeinen Teil des
Strafrechts zu sammeln und zu verbinden 46 .
Die Anziehungskraft des positiven Rechts besteht offenbar aber
gerade darin, diese juristischen Anstrengungen überflüssig zu machen.
Das vorhandene positive Recht des Kleinbetruges, das die Reichweite
des Allgemeinen Teils des Strafrechts nicht unbeträchtlich verringert,
schafft eine strafrechtliche Arbeitsweise, die auf eine breite Bereitschaft
trifft, sie zu akzeptieren. Diese Arbeitsweise macht den Kleinbetrug zu
einem normal-strafbaren Vergehen und gleicht dies durch eine weitge-
hende tatsächliche Straflosigkeit aus. Der Kleinbetrug ist in dieser
Arbeitsweise ein durchschnittlicher Betrug, der in einem Verfahren,
43
Die Literatur beginnt mit solcher Differenzierung, freilich zunächst nur allgemein
nach Präventionsinteressen, z.B. Hobe, in: Festschrift für Leferenz, 1983, S.629ff, oder
nach Bestimmungen des StGB, z.B. KK-Schoreit, StPO, Rdn.66 zu §153. Diese Art der
Kommentierung müßte bis zu Fallgruppen innerhalb der Deliktsarten weitergetrieben
werden. Ansätze dazu bei Arzt/Weber, Strafrecht, Besonderer Teil, Vermögensdelikte
(Kernbereich), 2. Aufl., 1986, S. 24 ff.
44
Ein noch vollständigeres Bild des sensiblen Rechts des Kleinbetruges ergibt sich,
wenn man dieses Beispiel in jene Gebiete hineinverfolgt, die das materielle Recht der
Abgrenzung der Straftaten und das Strafverfahrensrecht weiterführen. Das Rechtsfolgen-
recht ist als Teil des materiellen Rechts zweckmäßig auf die Kleinkriminalität eingerichtet
(§§ 40, 47, 56, 59, 60 StGB). Dagegen finden sich im Vollstreckungs- und Vollzugsrecht,
im Registerrecht, im Amnestie- und Gnadenrecht keine Sonderregeln über Kleinkriminali-
tät. Diese Gebiete rechnen offenbar fest damit, daß keine geringfügige Straftat in ihr
Einzugsgebiet gerät. Diese Erwartung verstärkt den Druck auf §§ 263 Abs. 4, 248 a StGB,
153, 153 a StPO, keinen Kleinbetrug durchzulassen.
45
Vgl. Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, 1966, und Kunz, Das strafrechtliche Baga-
tellprinzip, 1984.
46
Kunz, a . a . O . (Anm.45), S.319.
Der Kleinbetrug 713
" Bei der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Regeln über die Bestrafung der
Kleinkriminalität teilt das BVerfG folgende Auffassung des Bundesministers der Justiz
zum Legalitätsprinzip im Bereich der kleinen Straftaten mit: „Das Legalitätsprinzip sei
grundsätzlich unbeschränkt und könne vom Staat ohne Ausnahme durchgeführt werden.
Der Staat könne jedoch von der Strafverfolgung absehen, wenn öffentliche Interessen diese
nicht geböten." (BVerfGE 51, 180).
48
In einer allgemeinen, nicht auf einzelne Tatbestände bezogenen Weise sind diese
Grenzen bestimmt von Kunz, a. a. O . (Anm. 45), S. 322 ff.
Schadenseintritt und Verjährungsbeginn
HARRO O T T O
1 Vgl. RGSt. 26, 261; 42, 171; 62, 418; 63, 325; BGHSt. 11, 347; 16, 209; Lackneri
Maassen, StGB, 8. Aufl. 1974, §67 Anm.3; Mösl, LK, 9. Aufl. 1974, §67 Rdn.3; Welzel,
Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S.262.
2 Vgl. BT-Drucks. 7/550, S.215; dazu auch Jähnke, LK, 10. Aufl. 1978ff, § 7 8 a
Rdn. 1 ; Lackner, StGB, 16. Aufl. 1985, §78 a Anm. 1.
3 Daher kann das Urteil von Zipf, Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht, A.T. 2, 6. Aufl.
1984, §75 Rdn.21, die „dankenswert klare Vorschrift" beseitige schwere Mängel des
bisherigen Rechts, nicht geteilt werden.
716 Harro O t t o
keit besteht weiter darin, daß im Zeitpunkt der Vollendung das straf-
rechtsrelevante Geschehen nicht abgeschlossen zu sein braucht. Schon
Hälsebner machte darauf aufmerksam, daß es neben den Fällen, in denen
die verbrecherische Absicht sich mit Vollzug der tatbestandsmäßigen
Handlung in erschöpfender Weise verwirklicht hat, andere gibt, in
denen dies nicht zutrifft. Denn „die Handlung schreitet, ohne eine
qualitativ andere zu werden, noch weiter fort, weil die Absicht sich zwar
in Rücksicht auf ihre Wesensbestimmtheit, nicht aber rücksichtlich ihrer
Maßbestimmtheit vollständig verwirklicht hat" 9 . Er zog daraus die
Konsequenz, daß bei fortgesetzten Taten und Dauerdelikten zwei Zeit-
punkte zu unterscheiden seien: Zum einen der der Vollendung, der
angibt, wann der Täter den Tatbestand vollständig verwirklicht hat, so
daß die Voraussetzungen der Strafbarkeit vorliegen, und zum anderen
der der Beendigung, der den Zeitpunkt des tatsächlichen Verbrechensab-
schlusses kennzeichnet und davon abhängt, wann die Rechtsgutsverlet-
zung in quantitativer Hinsicht abgeschlossen ist10. - Der Gedanke, daß
zwischen Vollendung und Beendigung des Delikts zu differenzieren und
das Delikt - trotz Erfüllung aller Merkmale des gesetzlichen Tatbestan-
des - erst beendet sei, wenn „weitere zur Tat gehörige Wirkungen"11
eingetreten sind, wurde in der Folgezeit zur Lösung der verschiedensten
Problemstellungen fruchtbar gemacht. Ganz unterschiedliche Zweck-
und Zielsetzungen fanden in den entsprechenden Problemlösungen Aus-
druck, denn diese waren keineswegs in einem einheitlichen Problemzu-
sammenhang miteinander verbunden.
Beim Dauerdelikt und bei der fortgesetzten Tat war und ist es die
Überlegung, daß die quantitative Erweiterung einer Rechtsgutsverlet-
zung einerseits nicht strafrechtlich irrelevant, andererseits aber auch
nicht geeignet sein kann, eine jeweils erneute vollendete Deliktsverwirk-
lichung zu begründen. Angemessen ist es hingegen, die Tathandlungen
nach Vollendung und bis zur Beendigung des Delikts im Strafmaß zu
berücksichtigen. - Nicht die Frage der das konkrete Strafmaß bestim-
menden Faktoren, sondern die Weite des Strafrechtsschutzes dem
Deliktsopfer gegenüber kennzeichnet die Beendigungsproblematik beim
Diebstahl und Raub. Zwar ist das Diebstahlsdelikt mit der Begründung
neuen Gewahrsams durch den Täter vollendet. Aus der Sicht des
Berechtigten ist jedoch sein Eigentum erst konkret gefährdet, wenn er
den Täter auf frischer Tat, d. h. in einer Situation betrifft, in der dem
Täter die Sicherung des Gewahrsams noch nicht gelungen ist. Für den
Berechtigten ist eine Situation gegeben, in der die Gefährdung seines
„Beendet war der Angriff der Diebe nicht; auch dann nicht, wenn die diebische
Wegnahme des Obstes und damit die Straftat bereits vollendet war, als sich die Diebe
zur Flucht wandten. Solange die Diebe, und mit ihnen das Eigentum des Angeklagten,
das sie davontrugen, diesem erreichbar blieben, handelte es sich um die Abwehr eines
noch fortdauernden gegenwärtigen Angriffs. Denn die Notwehr ist nicht auf Abwen-
dung und Vereitelung von bestimmten, strafgesetzlich umschriebenen und begrenzten
Handlungen beschränkt, sondern zum Schutz gegen Angriffe auf ein bestimmtes
Rechtsgut zugelassen, die sehr wohl fortdauern können, auch wenn die Straftat, die sich
mit dem Angriff verbindet, in ihren gesetzlichen Merkmalen bereits begangen und bis
zur Vollendung gediehen ist. Der Angriff braucht trotz der Vollendung des Verbre-
chens nicht beendet zu sein, er wird fortgesetzt und ist gegenwärtig so lange, bis die
Gefahr, die daraus für das bedrohte Rechtsgut erwächst, entweder völlig abgewendet
oder umgekehrt endgültig in den Verlust umgeschlagen ist. Nur im Fall des endgültigen
Verlustes handelt es sich namentlich bei Angriffen auf Eigentum und Besitz beweglicher
Sachen für den Berechtigten nicht mehr um die Erhaltung der Gewalt an der Sache,
sondern um ihre Wiedererlangung; insoweit ist Gewaltanwendung nicht mehr aus dem
Gesichtspunkte der Notwehr zugelassen, sondern nur in Gestalt der Selbsthilfe,
insbesondere auch des Notangriffs (§§ 229, 230, 859 B G B ) . Solange aber dem Berech-
tigten der Gewahrsam an der Sache, deren diebische Wegnahme Anlaß zur Gewaltan-
wendung gegen den Dieb in der Gestalt einer sonst strafbaren Handlung bietet, nicht
oder nicht völlig entzogen, ein Zustand gesicherten Gewahrsams für den Dieb noch
nicht eingetreten ist, vielmehr durch alsbaldigen Zugriff der bedrohte oder streitige
Gewahrsam des Berechtigten im unmittelbaren Anschluß an die widerrechtlichen
Eingriffe in den Gewahrsam ohne Zeitverlust aufrechterhalten oder wiedergewonnen
werden kann, solange also eine endgültige Beendigung dieses Gewahrsams nicht
eingetreten, dem Berechtigten vielmehr die Möglichkeit geblieben ist, auf der Stelle
gegen den Dieb einzuschreiten und sich der Sache zu bemächtigen, solange sind die zu
dem berechtigten Zweck erforderlichen Maßnahmen durch Notwehr erlaubt. Gerade in
dem Zeitpunkte der Unsicherheit der Gewahrsamsverhältnisse, die sich im Fall alsbal-
diger Entdeckung der vollendeten Wegnahmehandlung an diese anschließt, eröffnet
sich regelmäßig die Gelegenheit zum Kampf um die Sache, innerhalb dessen der
Berechtigte sich die Macht über sie zu erhalten sucht, und daran kann er nicht dadurch
gehindert sein, daß im Rechtssinn sein Gewahrsam in dem Sinne verloren ist, wie es für
den strafrechtlichen Begriff der „Wegnahme" angenommen ist; trotz vollendeter Weg-
nahme kann der Angriff des Diebes auf das Recht des Eigentümers und Gewahrsams-
inhabers fortdauern 12 ."
12 RGSt. 55, 83 f.
Schadenseintritt und Verjährungsbeginn 719
auf eine zwar vollendete, aber „noch im Raum stehende" und daher nicht beendete
Beleidigung vgl. B G H 1 StR 452/52 v. 1.12.1953 bei Pfeiffer/Maul/Schulte, S t G B , 1969,
§53 R d n . 4 .
14 Vgl. dazu B G H S t . 6, 251; 8, 390; 19, 323; 21, 377; 28, 224 sowie Herdegen, LK,
10. Aufl., §252 Rdn. 7 f f mit eingehenden Angaben.
15 D a z u im einzelnen Otto, Grundkurs Strafrecht, A . T . , 2. Aufl. 1982, § 2 2 III 2 a .
" So auch R G S t . 71, 194; B G H S t . 3, 43 f; 6, 251; 19, 325; B a y O b L G N J W 1980, 412;
Baumann/Weber, Strafrecht, A . T . , 9. Aufl. 1985, § 3 5 I 2; Bockelmann, Strafrecht, A . T . ,
3 . A u f l . , 1979, § 2 5 III 2 b ; Dreher/Tröndle, § 2 7 R d n . 4 ; Hau, Beendigung, S. 119ff;
Jescheck, Welzel-Festschrift, 1974, S . 6 9 7 f ; ders., A . T . , § 6 4 IV 2 b ; Lackner, StGB,
16. Aufl., § 2 7 A n m . 2 b ; Schmidhausen Strafrecht, A . T . , 2. Aufl. 1975, 14/137; Wessels,
Strafrecht, A . T . , 16. Aufl. 1986, §13 IV 5. A . A . Gössel, in: Maurach/Gössel/Zipf,
A . T . 2 , §52 R d n . 1 3 ; Jakobs, Strafrecht, A . T . , 1983, 2 2 / 3 8 f f ; Roxin, L K , 10. Aufl., §27
Rdn. 22 f; Rudolphi, Jescheck-Festschrift, Bd. 1, 1985, S. 5 5 9 f f ; Samson, S K , § 2 7 Rdn. 18.
17 So auch Gössel, in: Maurach/Gössel/Zipf, A . T . 2 , §49 R d n . 6 1 , 68; Herzberg, JuS
1975, 36; Jakobs, A . T . , 21/60; Küper, J Z 1981, 573; Lackner, S t G B , 16. Aufl., § 2 5
A n m . 2 b c c ; Roxin, L K , 10.Aufl., § 2 5 Rdn. 136; Rudolphi, Bockelmann-Festschrift,
1979, S . 3 7 6 f f ; Samson, S K , § 2 5 R d n . 4 8 ; Seelmann, J u S 1980, 5 7 2 f ; Stratenwerth,
Strafrecht, A . T . I , 3 . A u f l . 1981, R d n . 8 1 8 f ; Wessels, A . T . , §13 III 2.
A . A . B G H S t . 2, 346; 19, 325; B G H J Z 1981, 596 mit krit. Anm. Geilen, Jura-Kartei
Q K ) , S t G B § 2 5 I I / l und Küper, J Z 1981, 5 6 8 f f ; B G H N S t Z 1985, 70; Dreher/Tröndle,
§ 25 Rdn. 9; Hau, Beendigung, S. 115 ff; Jescheck, Welzel-Festschrift, S. 696 f; Welzel, Lb.,
S. 107.
720 Harro Otto
bei Betrug und Erpressung die Tat erst mit Erlangung des Vermögens-
vorteils durch den Täter als beendet angesehen wird, damit in den Fällen
zeitlichen Abstandes zwischen Vermögensverfügung und Bereiche-
rungseintritt das sachlich unangemessene Ergebnis vermieden wird, die
Bereicherung durch den Täter als selbständiges Vermögensdelikt erfas-
sen zu müssen.
Es soll der Frage nicht weiter nachgegangen werden, wie sich die
Problematik der Differenzierung zwischen Vollendung und Beendigung
des Delikts im Rahmen der Amnestie, des Eintritts qualifizierender
Tatumstände oder der Bestimmung des Ortes der Tat im Sinne des § 9
StGB stellt. Eines dürfte nämlich hinreichend deutlich geworden sein:
Ein Begriff der Beendigung, in dem die verschiedensten Zweck- und
Zielsetzungen der einzelnen Problemstellungen Berücksichtigung finden
könnten, müßte wegen seiner Weite notwendigerweise inhaltsleer blei-
ben. Mehr als den Hinweis, daß weitere zur Tat gehörige Wirkungen
erst zu einem späteren Zeitpunkt eintreten können, dürfte er nicht
bieten. Welche Konsequenzen in welcher Situation gezogen werden
müssen, wäre dem aber nicht zu entnehmen.
18 So auch Kühl, J Z 1978, 551; Lackner, StGB, 16. Aufl., §78 a Rdn. 1; Schröder, JZ
1959, 31; Welp, Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der
Unterlassung, 1968, S. 340; Winkler, Vollendung und Beendigung des vorsätzlichen
Verbrechens, Diss. München 1965, S. 141. - Dazu auch BGHSt. 11, 122.
" Eingehender Überblick über den Streitstand bei Jäbnke, LK, 10. Aufl., Vor §78
Rdn. 8.
20 Vgl. B G H JR 1985, 244; Jescheck, A.T., §86 I I ; Lackner, StGB, 16.Aufl., §78
Anm. 1 a; Rudolpbi, SK, Vor §78 Rdn. 10; v. Stackelberg, Bockelmann-Festschrift,
S. 763 f; Volk, Prozeßvoraussetzungen im Strafrecht, 1978, S.226; Welzel, Lb., S.262. -
Eingehender Uberblick über die Argumentation bei Bloy, Die dogmatische Bedeutung der
Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe, 1976, S. 180ff. - Wenn z.T. der Wah-
rung des Rechtsfriedens besondere Bedeutung zuerkannt wird - vgl. z.B. Jäbnke, LK,
Schadenseintritt und Verjährungsbeginn 721
10. Aufl., Vor §78 R d n . 9 - , ist damit nur ein anderer Aspekt des schwindenden Strafbe-
dürfnisses erfaßt.
21
Lackner, StGB, 16. Aufl., § 7 8 a A n m . l .
22
BGHSt. 27, 342.
722 Harro Otto
Sicherung oder Verwertung der Beute zielen", und beim Betrug, §263
S t G B , der des Eintritts des Vermögensschadens auf Seiten des Tatopfers,
nicht aber der der Erlangung der Bereicherung auf Seiten des Täters 28 . -
Wenn trotz Anerkennung dieses Grundsatzes die Bestimmung des rele-
vanten Zeitpunkts bei den Vermögensdelikten, und insbesondere beim
Betrug, in Einzelfällen umstritten ist, so liegt dies in der durch die
Gleichsetzung des Vermögensschadens mit einer „schadensgleichen Ver-
mögensgefährdung" begründeten Gefahr einer unrichtigen Bestimmung
des Zeitpunktes des Schadenseintritts. Denn die Verwendung des
Begriffs der Vermögensgefährdung ist einerseits geeignet, den Zeitpunkt
des real eingetretenen Vermögensschadens zu verdecken, zum anderen
aber dienlich, das Fehlen eines real eingetretenen Vermögensschadens zu
kaschieren.
ζ. B. im Falle der schweren Amtsunterschlagung nach § 357 StGB a. F., beginnt die
Verjährung des Delikts mit der Vornahme der letzten Verschleierungshandlung, denn mit
dieser Handlung setzt der Täter seine auf Verwirklichung des Tatbestandes gerichtete
Tätigkeit über den Zeitpunkt der Vollendung des Delikts fort; dazu BGHSt. 24, 220; B G H
NStZ 1983, 559.
28 Vgl. RGSt. 42, 171; Dannecker, NStZ 1985, 53; Lackner, StGB, 16. Aufl., §78 a
Anm. 2 b. - Α. A. Dreher/Tröndle, § 78 a Rdn. 3; Jähnke, LK, 10. Aufl., § 78 a Rdn. 5.
2 ' Dazu Lackner, LK, 10. Aufl., §263 Rdn. 152. - Zur h . M . vgl. BGHSt. 21, 113; 23,
300 sowie die eingehenden Nachweise bei Lackner, Rdn. 152 ff und Schänke I Schroder!
Cramer, §263 Rdn. 143.
724 Harro O t t o
einer Zeit geschehen sein muß, die von dem Satz nullum crimen sine lege
nicht viel hielt. Der Begriff der Vermögensgefährdung gehört jetzt zum
feststehenden Arsenal der Betrugsdogmatik. Die Frage, welche Nuancen
man diesem Begriff abgewinnen kann, wird für wichtiger genommen als
die Frage, ob man ohne die Bestrafung von Vermögensgefährdungen
über §263 StGB auskommen kann" 30 .
Doch gerade wenn man die Identifizierung von Vermögensschaden
und Vermögensgefährdung ablehnt und die Frage stellt, „ob man ohne
die Bestrafung von Vermögensgefährdungen über §263 StGB auskom-
men kann", m u ß die A n t w o r t verneinend ausfallen. Das hängt mit dem
Begriff des Vermögens selbst zusammen. Vermögen ist nicht als ein
statisches, sondern als ein dynamisches Gut zu erfassen. Es kennzeich-
net die wirtschaftliche Potenz des Rechtssubjekts im Rechtsraume 31 .
Insoweit wird durch das Wort Vermögen „unmittelbar das Wesen der
Sache ausgedrückt, die durch das Daseyn jener Rechte uns zuwachsende
Macht, das was wir durch sie auszurichten imstand sind oder ver-
mögen"n.
Die Begrenzung und Minderung dieses Vermögens, d. h. der Vermö-
gensschaden, ist aber bei Vermögensgütern, die ein zukünftiges wirt-
schaftliches Vermögen im Sinne eines Könnens, z.B. ein Fordernkön-
nen, zum Inhalt haben, nicht jederzeit einfach festzustellen, sondern in
einer Prognoseentscheidung wertend zu ermitteln. Insofern sind Gefah-
renaussagen aus der Begründung eines Vermögensschadens nicht auszu-
schließen. Keineswegs ist jedoch die Gefahr als solche mit einem Vermö-
gensschaden identisch oder „schadensgleich". So wie z.B. der Wert
eines Nutzgegenstandes von seiner Gebrauchsdauer abhängig ist, d . h .
von der Möglichkeit der Realisierung der Gefahr der Funktionsbeein-
trächtigung oder des Funktionsverlustes, ist auch der Wert einer Forde-
rung nicht unabhängig von der Tatsache, ob die geschuldete Leistung
erbracht wird oder nicht. Diese Bewertung ist nicht erst im Zeitpunkt
der Fälligkeit relevant, sondern sie entscheidet über den Wert der
Forderung vom Moment ihrer Entstehung an. Der Wert einer Forde-
rung wird von zwei Faktoren bestimmt: von ihrem rechtlichen Bestand,
d . h . ihrer rechtlichen Durchsetzbarkeit, und von ihrer tatsächlichen
Durchsetzbarkeit. Steht fest, daß die rechtlich vollwirksame Forderung
tatsächlich nicht durchsetzbar ist, so betrifft dies nicht nur den Wert der
zukünftigen Leistung, sondern den aktuellen Wert der Forderung selbst.
Ist die Forderung nicht durchsetzbar, weil der Schuldner z.B. unfähig
30
Strafverteidiger 1985, 187.
31
Eingehend dazu Otto, Die Struktur des strafrechtlichen Vermögensschutzes, 1970,
S. 26 ff.
32
v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, l . B d . 1840, S.340 N o t e b).
Schadenseintritt und Verjährungsbeginn 725
ist, die Leistung zu erbringen, oder weil dem Gläubiger die Existenz der
Forderung verheimlicht wird, so kann die Forderung nicht in gleicher
Weise bewertet werden, wie eine ohne weiteres durchsetzbare Forde-
rung. Je nachdem, wie hoch die Gefahr des Ausfalls der Forderung
eingeschätzt wird, ist der Wert der Forderung anzusetzen, ihre Bonität
zu bestimmen". Hingegen ist die Gefahr, daß dem Vermögensträger
eine bestimmte Sache demnächst entwendet oder durch einen anderen
oder durch ihn selbst zerstört wird, irrelevant für das Werturteil. Diese
Gefahren berühren die aktuelle Wertfeststellung nicht, da sie die Funk-
tionen zukünftigen Vermögens mit der Sache im Augenblick der Wert-
feststellung nicht beeinträchtigen oder zerstören.
Für die Problematik des Schadenseintritts bei den Vermögensdelikten
hat das die Konsequenz, daß überhaupt nur Gefahren für die Beurtei-
lung relevant sind, die objektiv feststellbar eine Minderung des aktuellen
Vermögenswertes begründen, weil die durch ein Vermögensobjekt aktu-
ell gewährleisteten Möglichkeiten, wirtschaftliche Macht auszuüben,
nicht mehr garantiert erscheinen. Die real durch das Objekt vermittelten
wirtschaftlichen Möglichkeiten sind daher geringer, als es den Anschein
hat. Eine derartige, aktuelle reale Minderung wirtschaftlichen Vermö-
gens kann daher nicht in der Gefahr gesehen werden, „daß der
Getäuschte durch die Vermögensverfügung in eine Lage gebracht wird,
die ihn nur der - sei es auch konkreten - Gefahr aussetzt, demnächst
selbst eine Handlung vorzunehmen, die erst eine spürbare wirtschaftli-
che Schlechterstellung bewirkt" 34 . Das hat im Hinblick auf den Zeit-
punkt des Schadenseintritts für die Verjährung weitreichende Konse-
quenzen beim sog. Eingehungsbetrug, denn letztlich ist es hier die
mangelnde Schärfe der Differenzierung, die zu unterschiedlichen Lösun-
gen einzelner, in der Problematik gleichliegender Fälle geführt und in
anderen Fällen die Unterschiede in der Problemstellung verdeckt hat.
36
RGSt. 66, 180.
Schadenseintritt und Verjährungsbeginn 727
41 BGHSt. 32, 211; dazu Puppe, JZ 1984, 531 ff; Lackner, StGB, 16.Aufl., §263
56 v. 13.9.1956.
43 Dazu unten Fn. 54.
Schadenseintritt und Verjährungsbeginn 729
1. Der Kreditbetrug
Der Grundsatz, daß der Wert einer Leistung nicht erst im Erfüllungs-
zeitpunkt bestimmt wird, sondern die Gefahr' der Nichterfüllung im
Zeitpunkt der Fälligkeit bereits den aktuellen Vermögenswert beein-
flußt, ist allgemein anerkannt in den Fällen des sog. Kreditbetruges im
Sinne des § 263 StGB, wenn dem Anspruch des Betroffenen nämlich eine
Kreditgewährung zugrunde liegt, z . B . beim Darlehensvertrag, dem
Verkauf von Ware auf Kredit oder Wechsel u. ä. Mit seiner Leistung
erwirbt der Kreditgeber eine Forderung, die unter wirtschaftlichen
Gesichtspunkten dem Kredit gleichwertig sein muß. Erhält der Kredit-
geber jedoch nur eine nominell gleich hohe Forderung, der jedoch die
Bonität mangelt47, so hat er einen Vermögensschaden erlitten. O b der
Schuldner - wider Erwarten - später den Kredit zurückzahlt, teilweise
Leistung erbringt oder überhaupt nicht zahlt, ist irrelevant, denn nicht
die spätere Nichtzahlung ist das schadensstiftende Ereignis, sondern der
Vertragsschluß, d. h. im Falle eines sog. Realvertrages die Hingabe des
Darlehens. Die Tatsache, daß das Vermögen des Kreditgebers durch den
Vertragsschluß belastet wurde, wird durch eine eventuelle spätere Zah-
lung nicht negiert, diese ist vielmehr Wiedergutmachung des Schadens
und berührt seinen Eintritt daher nicht. Der maßgebliche Zeitpunkt für
den Beginn der Strafverfolgungsverjährung ist dementsprechend der des
Vertragsschlusses, nicht aber der der Fälligkeit des Anspruches. - Die
Problematik ist insoweit identisch mit der der pflichtwidrigen Kreditver-
gabe durch leitende Personen von Banken. Mit der Kreditvergabe ist die
Tat vollendet und beendet. O b der Kredit dennoch ganz oder zum Teil
zurückgezahlt wird, ist für den Schadenseintritt irrelevant48.
Forderung: Lackner, LK, 10. Aufl., §263 Rdn.212ff; Otto, Jura 1983, 17ff.
4» Vgl. dazu B G H Sparkasse 1960,147f, 393 ff; B G H 1 StR 606/59 v. 2 5 . 3 . 1 9 6 0 ; 1 StR
4. Der Akkreditivbetrug
Eröffnet eine Bank aufgrund einer Täuschung über die Gegenleistung
ein unwiderrufliches Akkreditiv, so liegt in der Akkreditiveröffnung die
Vermögensschädigung, denn die Bank haftet demjenigen, zu dessen
Gunsten das Akkreditiv eröffnet wurde, wie aus einem abstrakten
Schuldversprechen. Die rechtswirksame Begründung dieser Haftung ist
das schadensbegründende Ereignis, daher kommt es weder auf den
Fälligkeitstermin des Akkreditivs, noch darauf an, ob und wieweit das
Akkreditiv später in Anspruch genommen wird 51 .
50 Vgl. dazu RGSt. 75, 286; BGH NJW 1983, 461 f; BGHSt. 31, 232 ff; BGH wistra
Allerdings liegt der Schaden nicht, wie der BGH meint, in der konkreten Vermögensge-
fährdung, „die einem Vermögensschaden im Sinne des §263 StGB gleichzusetzen ist",
sondern in der realen Belastung des Vermögens mit der Haftung wie aus einem abstrakten
Schuldversprechen.
52 Im einzelnen dazu: Lackner, LK, 10. Aufl., §263 Rdn.235ff.
732 Harro Otto
begründet den rechtlich relevanten Schaden, der Betrug ist vollendet und
beendet". Die Möglichkeit, den Vertrag anzufechten, ändert daran
nichts, denn diese Möglichkeit steht auch dem Schadenseintritt durch
Begründung einer vermögensmindernden Verpflichtung nicht entgegen.
Solange daher nicht angefochten wird, ist die Situation nicht einem
Sachverhalt vergleichbar, bei dem lediglich über das Bestehen eines
Anspruchs getäuscht wird. Während dort nämlich nur eine reale Bela-
stung des Vermögens vorgetäuscht wird, ist hier die rechtlich relevante
Vermögensbelastung mit der Begründung der vermögensmindernden
Verpflichtung real eingetreten 54 . Der Täter ist auch aufgrund der rechts-
widrigen Begründung der Forderung nicht aus vorangegangenem Tun
zur Aufklärung verpflichtet, denn dieses wäre eine Pflicht zur Aufdek-
kung des Betruges, mit dem sein späteres Verhalten bereits erfaßt ist,
weil der relevante Schadenseintritt nicht erst in der Leistung der minder-
wertigen Dienste, sondern in dem geringeren Wert des Anspruchs auf
diese Dienste zu sehen ist.
vgl. RGSt. 64, 33; BGH 5 StR 192/54 v. 6.7.1954; 3 StR 388/54 v. 20.1.1955; 5 StR 115/
55 v. 8.7.1955; 1 StR 62/56 v. 13.9.1956; 5 StR 279/57 (bei Dallinger, MDR 1958, 564);
BGHSt. 22, 38; O L G Köln MDR 1957, 371. - In den beiden abweichenden Entscheidun-
gen des 2. Senats des BGH: BGH 2 StR 479/56 v. 14.11.1956 und 2 StR 320/57 (bei
Dallinger, MDR 1958, 564) wird der Unterschied zwischen der Belastung des Vermögens
mit einer Forderung und der bloßen Täuschung über die Existenz einer solchen Forderung
verkannt, wie sich aus dem Bezug der Entscheidungen auf RGSt. 62, 418 ergibt, denn dort
handelt es sich um einen sog. Rentenbetrug; dazu sogleich im Text unter 6. In der weiter
herangezogenen Entscheidung RGSt. 71, 64 geht es um eine Steuerhinterziehung, bei der
in der Entscheidung nicht zum Ausdruck kommt, wieweit in jedem Jahr eine Rechtspflicht
zur Offenbarung der jeweiligen Vermögensverhältnisse erneut entstand, die dann auch
stets erneut verletzt worden wäre.
54 So auch Jescheck, A.T., §86 I 2; Oppe, NJW 1958, 1909; Preisendanz, StGB,
30. Aufl. 1978, §78 a Anm.2. - A . A . Dreher/Tröndle, §78 a Rdn.3; Hau, Beendigung,
S . 1 4 4 - J ä h n k e , LK, 10. Aufl., §78 a Rdn.5; Kühl, Beendigung S. 167; ders., JZ 1978, 552;
Lackner, LK, 10. Aufl., §263 Rdn.293; Schröder, JR 1968, 346; ders., Gallas-Festschrift,
S. 333; Schönke/Schröder/Stree, § 78 a Rdn. 4.
Schadenseintritt und Verjährungsbeginn 733
8. Die Steuerhinterziehung
Die Präzisierung des Zeitpunkts des realen Schadenseintritts führt im
Bereich der deliktischen Erlangung ungerechtfertigter Steuervorteile zu
einer Differenzierung nach den verschiedenen Steuerarten.
a) Bei Fälligkeitssteuern, z.B. der Lohnsteuer, fallen Vollendung und
Beendigung der Tat zusammen, denn mit der Versäumung des letzten
Fälligkeitstermins ist die Tat rechtlich vollendet und beendet57. Der
Schaden ist eingetreten, da die Leistung nicht fristgerecht erbracht
55 Vgl. auch RGSt. 62, 418; BGHSt. 27, 342; O L G Köln M D R 1957, 371; O L G
wurde, auch wenn der Anspruch selbst dadurch rechtlich nicht beein-
trächtigt wurde.
b) Bei Veranlagungssteuern, z.B. der Einkommensteuer oder der Um-
satzsteuer, ist der für den Schadenseintritt relevante Zeitpunkt der der
Rechtswirksamkeit des Veranlagungsbescheides. Das ist der Moment
der Bekanntgabe des Veranlagungsbescheides an den Veranlagten58.
Werden durch falsche Angaben zunächst unrichtige Vorauszahlungen
erwirkt und später die Jahressteuer aufgrund der Übernahme der fal-
schen Angaben festgesetzt, so ist die Tat erst mit der Festsetzung der
Jahressteuer beendet. Mag eine Steuerhinterziehung auch schon mit der
Festsetzung der falschen Vorauszahlungen vollendet sein, weil hier ein
rechtswidriger Steuervorteil auf Zeit erlangt wird, so erfolgt die Verkür-
zung des Steueranspruchs doch erst mit der endgültigen Festsetzung.
Mit dieser wird daher die Tat beendet59. Werden hingegen aufgrund der
zu niedrig festgesetzten Jahressteuererklärung die Steuervorauszahlun-
gen für das nächste Jahr zu niedrig festgesetzt, so wird dadurch der
Beendigungszeitpunkt der Tat nicht hinausgeschoben, da dieses Verhal-
ten der Steuerbehörden nur an die vorausgegangene Tat anknüpft, die
Tat selbst aber keinen Anspruch auf diese Festsetzung begründet hat60.
58 Vgl. RGSt. 76, 334; BGH wistra 1982, 108; BGH wistra 1983, 70; BGH NStZ 1983,
559; BGH NStZ 1984, 414; BGH wistra 1984, 182; Dreher/Tröndle, § 78 a Rdn. 3 - J ä h n k e ,
LK, 10. Aufl., §78a Rdn. 6; Schmidt, JR 1966, 128; Volk, DStR 1983, 345.
59 Vgl. dazu BGH NStZ 1983, 559; BGH wistra 1984, 182 mit Anm. Schomhurg,
S. 183.
60 Vgl. RGSt. 76, 334; Jähnke, LK, 10. Aufl., §78 a Rdn. 6.
" Dazu Kühn!Kutter!Hofmann, Abgabenordnung, 14. Aufl. 1983, §182 AO Anm. 2;
Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, §182 AO Rdn. 5, 7.
Schadenseintritt und Verjährungsbeginn 735
I.
In seiner bekannten Gesamtkommentierung des Strafgesetzbuches
erwähnt der hochverehrte Jubilar auch das Phänomen des Bilanz- und
Gründungsschwindels 1 , der während der sprunghaften Belebung der
deutschen Wirtschaft durch die französischen Reparationszahlungen in
der Zeit von 1871 bis 1875 kräftig aufgeblüht war und seither trotz
wechselnder Konjunkturverläufe zu einer Dauererscheinung des Wirt-
schaftslebens geworden ist.2 Für die strafrechtliche Erfassung dieser
Erscheinung stehen seit rund einem Jahrhundert auch strafrechtliche
Spezialtatbestände außerhalb des StGB zur Verfügung. Diese beschrän-
ken sich angesichts der traditionellen Schwierigkeiten bei der Anwen-
dung des § 263 StGB auf die Inkriminierung unrichtiger Angaben bei der
Gründung von Handelsgesellschaften, verzichten also insbesondere auf
das Erfordernis (und den Nachweis) eines Vermögensschadens etwaiger
Opfer und einer rechtswidrigen Bereicherung der Täter. Die Sonder-
tatbestände erheben damit das Interesse an zutreffender Information
über die Verhältnisse der Handelsgesellschaften zum eigenständigen
Rechtsgut.
Trotz einer beachtlichen historischen Tradition dieses Spezialstraf-
rechts der Handelsgesellschaften sind seine Tatbestände noch weit von
einer Klärung entfernt, die dem im Rahmen des StGB weithin erreichten
Zustand entspräche. Erst in neuerer Zeit hat sich das wissenschaftliche
Schrifttum in stärkerer Weise als früher üblich insbesondere mit dem
Aktien- und dem GmbH-Strafrecht beschäftigt. Dabei kann und muß
die Behandlung der nebenstrafrechtlichen Straftatbestände, die in den
einzelnen Handelsgesetzen strukturell im wesentlichen übereinstimmen
und daher für den Buchführungs- und Bilanzierungsbereich der
Kapitalgesellschaften jüngst durch das Bilanzrichtlinien-Gesetz vom
19.12.1985 einheitlich im H G B (§331 n. F.) geregelt worden sind,
1
Lackner, Strafgesetzbuch mit Erläuterungen, 16. Aufl. 1985, §283 A n m . 4 g .
2 Zusammenfassend dazu unter kriminologischen Gesichtspunkten Tiedemann, in
Würtenberger-Festschrift, 1977, S.241 ff mit Nachw.
738 Klaus Tiedemann
II.
Die Beschränkung der zivilrechtlichen Haftung von Kapitalgesell-
schaften auf das Gesellschaftsvermögen (§1 Abs. 1 S.2 AktG, §13
Abs. 2 G m b H G ) stellt den Gesetzgeber vor die Notwendigkeit, die
Aufbringung und die Erhaltung dieses Vermögens gegenüber Manipula-
tionen der Gesellschaftsorgane und der Gesellschafter zu sichern.
Besondere Gefahren für die Gläubiger bestehen dann, wenn die Einlagen
der Gesellschafter nicht in Geld, sondern in Gestalt von Sachwerten
eingebracht werden (wobei sowohl das AktG als auch das G m b H G mit
einem strafrechtlich zumindest überraschenden Sprachgebrauch auch
Forderungen und andere Rechte als einlagefähige Sachen bezeichnet;
vgl. bes. §27 Abs. 1 AktG). Hier droht einerseits eine Überbewertung
der als solche deklarierten Sacheinlage; dem sucht der Gesetzgeber durch
Sachgründüngsberichte der Gründungsgesellschafter (§§32 AktG, 5
Abs. 4 S. 2 G m b H G ) und durch eine externe Gründungsprüfung
(§§33ff, 38 AktG, § 9 c S.2 G m b H G ) zu begegnen. Andererseits und
zum Zwecke der Vermeidung dieser Prüfung wird nicht selten die
Leistung von Bareinlagen vorgetäuscht, wobei in Wirklichkeit über-
haupt keine Einlagen erbracht oder statt der vereinbarten Geldeinlagen
Sacheinlagen geleistet werden. Geht es nicht um das Gründungsstadium,
sondern um die Sanierung einer in die Verlustzone geratenen Gesell-
schaft durch Zuführung neuen Kapitals, so liegt die Versuchung nahe,
daß Gläubiger und/oder Gesellschafter ihre Forderungen gegen die
Gesellschaft in diese als neues Kapital einbringen und dabei die infolge
der Krise der Gesellschaft nicht mehr vollwertige Forderung mit dem
Nennwert angeben. - Die zivilrechtliche Rechtsfolge ist in allen Fällen
identisch: Die Eintragung der Gesellschaft bzw. der Kapitalerhöhung in
das Handelsregister kann vom Gericht abgelehnt werden, und auch bei
erfolgter Eintragung werden die Gesellschafter von ihrer Leistungs-
pflicht gegenüber der Gesellschaft nicht frei, sondern müssen nachleisten
Gründungs- und Sanierungsschwindel 739
3
Vgl. hier nur B G H Z 15, 52 (60f) und W M 1975, 177 (178); O L G Düsseldorf A G
1982, 20 (21) mit Nachw.; aus der umfangreichen Lit. zuletzt Fischer/Lutter, G m b H -
Gesetz, 11. Aufl. 1985, §56 R d n . 9 mit weit. Nachw.
4
Dazu bes. B G H N J W 1982, 2444 (2446).
5
Fischer/Lutter §19 Rdn.28; G . H u e c k , in Baumhach/Hueck, GmbH-Gesetz,
14. Aufl. 1985, §19 Rdn. 30 mit weit. Nachw.
740 Klaus Tiedemann
III.
sondere das AktG in §§ 27 Abs. 1,183 Abs. 1 den Begriff der Sacheinlage
ausschließlich negativ, nämlich als Einlage, die nicht durch Einzahlung
von Geld geleistet werden soll. Auch stellt der bereits erwähnte §27
Abs. 1 S. 2 AktG die Zahlung einer Vergütung für eine Sachübernahme
durch die Gesellschaft dann einer Sacheinlage gleich, wenn die Vergü-
tung auf die Einlage angerechnet werden soll. Jedoch setzt dieser
gesamte Sprachgebrauch voraus, daß eine Leistung als Einlage einge-
bracht werden soll, also Inferent (Aktionär) und Gesellschaft hinsichtlich
der Behandlung einer Leistung als Einlage oder der Anrechnung auf die
Einlage einig sind.9 Insbesondere der Fortbestand der zivilrechtlichen
Einlageschuld bei Nichterbringung der vereinbarten Einlage zeigt, daß
trotz weitergehender Tendenzen des Steuerrechts gesellschaftsrechtlich
und damit auch strafrechtlich die Finalität und Motivation der Zuwen-
dung für ihre Einordnung ausschlaggebend ist. Selbst in dem Sonderfall
des §27 Abs. 1 S.2 AktG, bei dem die Sachübernahme ebenfalls - als
Sacheinlage - in der Satzung vereinbart werden muß, behandelt das
Gesetz gesellschaftsrechtlich, nämlich im Hinblick auf die Kapitalauf-
bringung, die Einbringung einer nicht wirksam vereinbarten Sachlei-
stung als Nichtleistung.
Hieraus folgt, daß die Behauptung einer erfolgten Bareinlage unter
Verschweigen der Umstände, welche diese Bareinlage entwerten oder
einer nicht wirksam vereinbarten Sacheinlage gleichstellen, keine unrich-
tige Angabe über eine Sacheinlage, sondern emt falsche Angabe in bezug
auf die Bareinlage ist. Dabei ergibt sich die Unrichtigkeit daraus, daß die
in sich richtige Angabe, eine bare Einzahlung geleistet zu haben, unvoll-
ständig ist oder der Täter wesentliche Umstände verschweigt.
Bevor im einzelnen darauf eingegangen wird, wie die Unvollständig-
keit der Angaben bei Anmeldung der Gründung oder Kapitalerhöhung
zur Eintragung im Handelsregister genauer zu bestimmen ist, bleibt zum
Zwecke der weiteren Eingrenzung noch darauf hinzuweisen, daß nur
§ 399 Abs. 1 AktG neben unrichtigen Angaben auch das Verschweigen
erheblicher Umstände unter Strafe stellt. So sehr es daher naheliegen
mag, diese Unterlassensvariante des aktienrechtlichen Straftatbestandes
für einschlägig zu halten, bleibt doch die Konsequenz einer solchen
Auffassung, wie sie etwa von Klug10 vertreten wird, für das GmbHG
unübersehbar: Da im GmbHG (§82 Abs. 1) entgegen einem Ergän-
zungsvorschlag des RegE 1977 ein entsprechender Unterlassungstatbe-
stand nicht vorgesehen ist, wäre derselbe Vorgang einer VSE nach
9 Vgl. dazu aus zivilrechtlicher Sicht RGZ 167, 99 (108); Barz a.a.O. § 2 7 Anm.25;
an die von Eb. Schmidt in der Vorauflage des Großkommentars vertretene Ansicht).
Gründungs- und Sanierungsschwindel 743
10. Aufl. 1978 ff (LK), §263 Rdn.30; Tiedemann, in Klug-Festschrift, 1983, S.405 (407)
und in LK § 264 Rdn. 65 sowie in Scholz § 82 Rdn. 26. Zur Maßgeblichkeit der Verkehrs-
anschauung nach der BGH-Rechtsprechung zu §263 StGB zuletzt BGH N J W 1985, 2280
(2281 f), zur parallelen gesellschaftsrechtlichen Einordnung Rittner, in Rowedder § 9 a
Rdn. 9 mit weit. Nachw.
" RGSt 24, 286 (288); 30, 300 (314 ff); RG J W 1911, 514 Nr. 20 und 1927, 1698 Nr. 30.
17 Zusammenfassend dazu Lackner, Strafgesetzbuch, §263 Anm.III 2abb.
Gründungs- und Sanierungsschwindel 745
IV.
27
Vgl. hier nur Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, 1969, S. 58 mit
Nachw.
28
Vgl. Lackner a. a. O . § 263 Anm. III 2 a aa; Schönke/Schröder/Cramer § 263 Rdn. 31 a
mit weit. Nachw. Altere Beispiele aus dem Steuer- und Subventionsbereich bei Tiede-
mann, Wirtschaftsstrafrecht Bd. I S. 183 f.
29
Vgl. Tiedemann a . a . O . S. 180; Teichmann, Die Gesetzesumgehung, 1962, S.48f;
eingehend Vetsch, Die Umgehung des Gesetzes, 1917, S. 230 ff.
Gründungs- und Sanierungsschwindel 751
merkmal ist, wie von uns schon an anderer Stelle hervorgehoben 30 , nicht
(nur) zivilrechtsakzessorisch, sondern (zumindest auch) wirtschaftlich-
faktisch zu verstehen und läßt damit eine sehr weite Auslegung zu, wie
sie bereits das Reichsgericht in Strafsachen unter dem Leitgesichtspunkt
effektiver Kapitalaufbringung praktiziert hat.31 Das nicht zivilrechts-
technisch verstandene Merkmal der Kapital„einbringung" eröffnet also
einen weitgefaßten Rahmen, innerhalb dessen auch zivilrechtliche Ana-
logieschlüsse formal Auslegung bleiben, nämlich die Grenze des mögli-
chen Wortsinnes des Straftatbestandes nicht überschreiten. Dies gilt um
so mehr, als die zivilrechtliche Behandlung einer Geldeinlage „wie" eine
(verschleierte) Sacheinlage nur die Annahme einer Entwertung der Bar-
einlage begründen soll und daher auch, wie oben III. dargelegt, die
Unrichtigkeit der Angabe gerade auf die (Werthaltigkeit der) Bareinlage
bezogen wird. Der zivilrechtliche terminus der VSE drückt mit anderen
Worten, insoweit ganz dem Sprachgebrauch des A k t G entsprechend,
lediglich aus, daß ein Wert in das Gesellschaftsvermögen eingebracht
worden ist, der die vereinbarte und verlautbarte Bareinlageforderung
nicht erfüllt.
30
In Scholz §82 Rdn.27 sowie in Delitala-Gedächtnisschrift, 1984, S.2149 (2157);
zust. Richter, G m b H R 1984, 116.
31
Vgl. vor allem RGSt 24, 286 (291 f) (zu Art. 249 a Nr. 1 H G B a. F.).
752 Klaus Tiedemann
34 Die gängige Rechtsprechung und Literatur erwähnt eine Pflicht zur Offenlegung
erfolgter Transaktionen nur bei Minderwertigkeit der in das Vermögen der Gesellschaft
gelangten Gegenleistung; so insbes. RG L Z 1916, 617; Hachenburg/Ulmer § 7 Rdn.48;
Priester, ZIP 1982, 1144; wohl auch Richter, GmbHR 1984, 115. Noch großzügiger
K. Schmidt, A G 1986, 106 (115).
35 Scholz/Fischer, GmbH-Gesetz, 10. Aufl. 1983, § 8 Anm.2, § 8 2 Anm.2.
36 Ubersicht bei Heidenhain/Meister, Münchener Vertragshandbuch Bd. I, 2. Aufl.
1985, IV. 3 Anm. 16 (S.306) mit Nachw.
Gründungs- und Sanierungsschwindel 755
unrichtig machen. O b dies der Fall ist, läßt sich jenseits bloßer Scheinlei-
stungen, welche die formal erbrachte Geldleistung ganz oder teilweise
entwerten, mit hinreichender Trennschärfe nicht mehr dem insgesamt
wenig klaren Merkmal der Verfügungsfreiheit, sondern den anerkannten
Gesichtspunkten der Umgehung entnehmen. Dies wird von B G H Z 28,
319 f zutreffend hervorgehoben und ist vor allem für den Fall der
„Vorfinanzierung" der Bareinlage durch die Gesellschaft offensichtlich
(vgl. bereits oben II.).
57 BGHSt 32, 256 ff; O L G Koblenz J Z 1980, 736 f (mit Bspr. Tiedemann, N J W 1980,
3!
A. a. O . § 56 Rdn. 9.
39
Dazu hier nur Tiedemann, Multinationale Unternehmen und Strafrecht, 1980,
5. 43 f.
Gründungs- und Sanierungsschwindel 757
V.
40 Ahnlich zu § 264 StGB Schänke/Schröder/Lenckner § 264 Rdn. 44; vgl. auch Meister,
in Werner-Festschrift S.538.
758 Klaus Tiedemann
41 Krit. daher insgesamt Fischer/Lutter a. a. O.: „Der Erfindungsreichtum der Praxis ist
groß (z.B. Kreditrückzahlung über mehrere Stationen in- und ausländischer Töchter)."
Jedoch betrifft diese Kritik wohl nicht den im Text erörterten Fall der Tilgung einer
eigenen Kreditverbindlichkeit der Tochter, sondern Darlehensschulden der Mutter, die zu
Verschleierungszwecken über Töchter getilgt werden.
42 Vgl. für die ganz h.M. Κ .Schmidt, Handelsrecht, 1980, § 5 I 2 c S. 78 mit Nachw.
43 O L G Zweibrücken 2 Ws 76/84 v. 14.3.1985 bei Tiedemann, Art. Vergleichsbetrug,
in Krekeler/Tiedemann/Ulsenheimer/Wemmann (Hrsg.), Handwörterbuch des Wirt-
schafts- und Steuerstrafrechts, 1985; ausführlich dazu bereits Tiedemann, in v. Caemme-
rer-Festschrift, 1978, S. 643 (645 ff).
Gründungs- und Sanierungsschwindel 759
Für die VSE ergibt sich im Konzern zunächst die Besonderheit, daß
diese Figur im Gründungsstadium ausgeschlossen ist: Eine rechtlich
noch nicht existente A G kann keine Tochtergesellschaften haben, die
von ihr abhängig sind.
Sodann fällt auf, daß § 183 Abs. 1 A k t G für die Kapitalerhöhung mit
Sacheinlagen vorschreibt, den Gegenstand und die Person, von der „die
Gesellschaft", also das kapitalerhöhende Mutterunternehmen, den
Gegenstand „erwirbt" (!), im Erhöhungsbeschluß festzusetzen. Erwirbt
also nicht die kapitalerhöhende Mutter-, sondern eine Tochtergesell-
schaft den Gegenstand, so könnte allenfalls eine analoge Anwendung
von § 183 dazu führen, daß dieser Erwerb offengelegt (und als Erwerb
durch die Muttergesellschaft behandelt!) würde. Eine solche Analogie
wird bisher in Rechtsprechung und Schrifttum nirgends vertreten und
erscheint auch wegen der Unwirksamkeitsfolgen des § 183 Abs. 2 zwei-
felhaft.
Entscheidend ist, daß die Vollwertigkeit der Kapitalerhöhung bei der
Muttergesellschaft gerade nicht von der Werthaltigkeit des Kaufgeschäf-
tes zwischen der Tochtergesellschaft und dem Inferenten, sondern von
der Werthaltigkeit der Darlehensforderung abhängt, die im Vermögen
der Muttergesellschaft an die Stelle der Bareinlage getreten und gegen die
Tochtergesellschaft gerichtet ist. Nicht die Effektivität der Kapitalauf-
bringung bei der Muttergesellschaft, sondern die Mittelverwendung und
der rechtliche Schutz der Tochtergesellschaft vor nachteiligen Geschäf-
ten stehen also in Frage. Die damit indirekt angesprochenen „Regeln
ordnungsgemäßer Konzernfinanzierung" gibt es bisher nicht. 44 Sie
existieren nur in Ansätzen, insbesondere in dem zu § 57 Abs. 1 S. 1
A k t G entwickelten Institut der verdeckten Gewinnausschüttung und in
dem Straftatbestand der (Konzern-)Untreue (§266 StGB). Der letztere
Tatbestand zeigt, daß es hier auch strafrechtlich nicht um den Schutz der
Muttergesellschaft (sowie ihrer Gläubiger und Aktionäre), sondern um
den der Tochtergesellschaft gegenüber der Muttergesellschaft geht: ist
das Kaufgeschäft mit dem Inferenten für die Tochtergesellschaft nachtei-
lig, so kann dies für den Vorstand der Muttergesellschaft den Vorwurf
der Untreue oder der Beteiligung an einer Untreue zum Nachteil der
Tochtergesellschaft begründen. 45 Da der wirtschaftliche Schaden somit
faktisch wie rechtlich die Tochtergesellschaft trifft, kann nicht derselbe
Schaden die Minderwertigkeit der Bareinlage bei der Muttergesellschaft
und damit die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der Angaben gegen-
über dem Registergericht begründen. Beide Annahmen schließen sich
gegenseitig aus.
44
Vgl. vor allem Hirte, ZGR 1984, 538 (ff); U w e H.Schneider, ZGR 1984, 497ff.
45
Vgl. dazu nur Scholz/Tiedemann Rdn. 18 vor §82.
760 Klaus Tiedemann
1. Die Legaldefinition
Die Amtsträgereigenschaft entsteht nach der Legaldefinition des § 11
Abs. 1 Nr. 2 StGB entweder aufgrund einer besonderen dienstlichen
Stellung des Betroffenen oder als Folge der Wahrnehmung spezieller
Aufgaben. Amtsträger ist nach dem Gesetz, „wer nach deutschem Recht
a) Beamter oder Richter ist, b) in einem sonstigen öffentlich-rechtlichen
Amtsverhältnis steht oder c) sonst dazu bestellt ist, bei einer Behörde
oder bei einer sonstigen Stelle oder in deren Auftrag Aufgaben der
öffentlichen Verwaltung wahrzunehmen".
Eine Legaldefinition dient der autoritativen Gesetzesauslegung und
damit der Vereinheitlichung der Gesetzesanwendung, ist aber ihrerseits
der Auslegung zugänglich und bedürftig. Ihr praktischer Wert hängt
somit davon ab, in welchem Maß der definierte Begriff gegen die
Unschärfen einer dennoch unvermeidlichen Interpretation geschützt ist.
Bedient sich die Legaldefinition ihrerseits solcher Begriffsmerkmale,
deren Auslegung nicht weniger problematisch ist als die des definierten
Begriffs selbst, so darf der hermeneutische Nutzen des Definitionspro-
jekts bezweifelt werden.
1.1 Beamtenstellung
Beurteilt man die Definition des § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB unter diesem
Aspekt, so wird man zunächst einräumen müssen, daß die Entstehung
der Amtsträgereigenschaft1 kraft einer Beamtenstellung (§11 Abs. 1
Nr. 2 a StGB) unzweideutig festgelegt ist. Wie sich aus dem Wortlaut des
Gesetzes und der ergänzenden Funktion der Nr. 2 b ergibt, ist dieser
2
EEGStGB, BT-Drucks. VII/550, Begr. zu Art. 17 Nr. 5 (S.209); Lackner, StGB,
16. Aufl. 1985, §11 Anm.3a; Dreher/Tröndle, StGB, 42. Aufl., 1985, §11 Rdn.12; Eser,
Schönke/Schröder, StGB, 22. Aufl., 1985, §11 Rdn.18; Samson, SK StGB §11 Rdn.12;
Tröndle, LK, StGB, 10. Aufl. 1985, §11 Rdn.18.
5
Vgl. v. Münch, in: v.Münch, Besonderes Verwaltungsrecht, 7. Auflage. 1985, S. 15,
24. - Die Formalisierung der Beamteneigenschaft geht auf das Beamtenrechtsänderungsge-
setz 1933 (§ 1 Abs. 1 S. 1 Kap. 1) zurück. Vgl. dazu im gegenwärtigen Zusammenhang
Kelpin, Beamteneigenschaft und Ausübung obrigkeitlicher Funktionen, Diss. Jena, 1935,
S. 2, 42 ff et passim; Peter Schröder, Der strafrechtliche Beamtenbegriff in der Entwicklung
der Rechtsprechung und der Entwürfe, Diss. Münster, 1965, S.24; ferner EEGStGB,
a. a. O.
4
§5 Abs. 1 Nr. 1 BRRG, §6 Abs. 1 Nr. 1 BBG.
5
§5 Abs. 2 Nr. 3 BRRG, §6 Abs. 2 Nr. 3 BBG.
6
Lackner, a. a. O.; Dreher/Tröndle, a. a. O. Rdn. 14.
Der Amtsträgerbegriff 763
7
Wolff/Bachof, a. a. O. S. 29, 30, 32; ferner Rudolf, in: Erichsen/Martens, Allgemeines
Verwaltungsrecht, 7. Aufl. 1986, S. 579 ff.
8
A.a.O.
' Vgl. Lackner, StGB §11 Anm.3b.
10
Lackner, a. a. O.
11
So Eser, Schönke/Schröder, StGB §11 Rdn. 21; Lackner, a.a.O.
12
Einhellige Ansicht; vgl. RGSt. 67, 299, 300, 302 f; RG, H RR 1940, Nr. 874; ferner
RGSt. 32, 259, 260; 51, 65, 66; 51, 113, 114; 60, 139, 140, 151; 68, 70, 71; RG, GA 59
(1912), 348. Ebenso Eser, Schönke/Schröder, StGB §11 Rdn.20; Dreher/Tröndle, StGB
§11 Rdn. 13; Tröndle, LK, StGB § 11 Rdn. 19; Erb, Der Beamtenbegriff des Strafrechts,
764 Jürgen Welp
1.3 Funktionswahrnehmung
Weitaus problematischer ist indessen der dritte Unterfall der Legal-
definition. Die Amtsträgereigenschaft kommt nach §11 Abs. 1 Nr. 2 c
StGB auch solchen Personen zu, die nach deutschem Recht sonst dazu
bestellt sind, bei einer Behörde oder bei einer sonstigen Stelle oder in
deren Auftrag Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrzunehmen.
Da sich die Bestellung nach überwiegender Ansicht im Akt der Übertra-
gung der wahrzunehmenden Aufgaben erschöpft, knüpft das Gesetz die
strafrechtliche Amtsträgereigenschaft hier offensichtlich an die Wahr-
nehmung bestimmter Funktionen. Damit ist für den Amtsträgerbegriff
eine dualistische Struktur angelegt, da er einerseits vermöge der besonde-
ren dienstlichen Stellung des Betroffenen und andererseits als Folge der
speziellen rechtlichen Natur einer wahrzunehmenden Aufgabe entsteht.
Es besteht daher keine Möglichkeit, der im Gesetz definierten persona-
len Bindung des Amtsträgers an den Staat (§11 Abs. 1 Nr. 2 a u. b StGB)
Interpretationsbehelfe zu entnehmen, die zugleich Aufschluß über die
Natur der Funktionen geben könnten, deren Wahrnehmung das Gesetz
Diss. Marburg, 1938, S. 17; Weiß, Der Beamtenbegriff im Straf- und Haftungsrecht, Diss.
Tübingen, 1961, S.25, 72. Ferner EEGStGB, a . a . O .
15 Vgl. v.Münch, in: v.Münch, Besonderes Verwaltungsrecht, S. 23.
14 Vgl. § 2 Abs. 1 BRRG, 2 Abs. 1 BBG.
15 Vgl. dazu etwa v. Münch, a. a. O. S. 37 ff, Achterberg, J A 1980, 468, 471 ff.
16 Die Begr. zu Art. 17 Nr. 5 EEGStGB (BT-Drucks. VII/550, S.209) nennt die
Minister des Bundes und der Länder, den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages
und die Notare (Notarassessoren) als Beispiel, die Literatur fügt die Parlamentarischen
Staatssekretäre (Dreher/Tröndle, StGB § 11 Rdn. 18; Tröndle, LK, StGB § 11 Rdn.21) und
die Gemeinderäte (Samson, SK, StGB §11 Rdn. 13) hinzu. Streitig ist, ob auch solche
„Ehrenämter" unter das Gesetz fallen, zu deren Übernahme eine staatsbürgerliche Pflicht
besteht (dafür Dreher/Tröndle, a . a . O . Rdn. 18; Tröndle, a . a . O . Rdn.21; Lackner,
a. a. O . ; dagegen Eser, a. a. O.).
Der Amtsträgerbegriff 765
17 Hierauf weist die Begr. zu Art. 17 Nr. 5 EEGStGB (BT-Drucks. VII/550, S.209)
hin, ohne sich um den Inhalt des dort verwendeten Begriffs zu bemühen.
" Einhellige Ansicht; vgl. Kopp, VwVfG, 3. Aufl. 1983, §1 Rdn.36; Knack, VwVfG,
2.Aufl. 1982, §1 Rdn.8; Meyer/Borgs, VwVfG, 2. Aufl. 1982, §1 Rdn.25; Stelkens/
Bonk/Leonhardt, VwVfG, 2. Aufl. 1983, §1 Rdn. 16.
" Knack, a.a.O. Rdn.3; Kopp, a.a.O.; Stelkens/Bonk/Leonhardt, a.a.O.
20 Kopp, a.a.O. Rdn.38.
2. Historische Interpretation
Die Amtsträgerdefiniton des § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist durch Art. 17
Nr. 5 EGStGB 25 in das Strafgesetzbuch eingefügt worden. Aus der
Entstehungsgeschichte ergeben sich für das Verständnis des Begriffs
„öffentliche Verwaltung" folgende Hinweise.
2.1 Entwurfsfassung
Gegenstand der Beratungen der Großen Strafrechtskommission und
des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform war eine von der heuti-
gen Gesetzesfassung abweichende Bestimmung des Amtsträgerbegriffs.
22
Kopp, a . a . O . Rdn.43; Meyer/Borgs, a . a . O . R d n . 6 ; Stelkens/Bonk/Leonhardt,
a . a . O . Rdn. 18. - Der Begriff der „öffentlichen Verwaltung" wird ferner in § 1 Abs.4
VwKostG verwendet und ist auch dort im Sinne „öffentlich-rechtlicher Verwaltungstätig-
keit" zu verstehen (v. Dreising, VwKostG, 1971, § 1 Erl. zu Abs. 4), da „kostenpflichtige
Amtshandlungen" bei einer privatrechtlichen Tätigkeit der Behörden offenbar nicht vorge-
nommen werden. Insofern besteht zu § 1 Abs. 4 VwVfG keine sachliche Divergenz. - Vgl.
noch §9 Abs. 2 S.3 O W i G , §14 Abs. 2 S.3 StGB, wo derselbe Begriff verwendet, nicht
aber definiert wird.
23
Forsthoff, Lb. d. Verwaltungsrechts, B d . l , Allgemeiner Teil, 10. Aufl. 1973, S.370f.
24
Näheres unten 4.2.
25
v. 2.3.1974, BGBl. I S.469.
Der Amtsträgerbegriff 767
26
Dazu E 1962, Begr. S. 115 ff; ferner Umdruck J 92 (§11 N r . 1), in: Niederschriften
über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, Bd. 9 (1959), S.568, 572. Vgl.
ferner die Beratungen der Großen Strafrechtskommission, Niederschriften Bd. 9 (1959),
S.387ff, Bd. 10 (1959), S.281 ff, 338ff, 356f; Beratungen des Sonderausschusses,
IV. Wahlperiode, Prot. IV / S. 614 ff, 622 ff, 693 ff.
27
Schwalm, Niederschriften, Bd. 10, S.282; Schafheutie, ebd. S.343.
28
Schwalm, Niederschriften, Bd. 9, S.388; Schafheutie, Niederschriften, Bd. 10,
S. 339, 341; E 1962, Begr. S.115f; Schwalm, Prot. I V / S . 614, 624; Müller-Emmert, ebd.
S. 627f.
2
' Diemer-Nicolaus, Prot. I V / S . 622, 626, 698; Schwalm, ebd. S.624; Cüde, ebd.
S. 694.
30
Schwalm, Niederschriften, Bd. 9, S.388f, 572; Schäfer, Niederschriften, Bd. 10,
S. 338, 340.
31
Vgl. Schwalm, Niederschriften, Bd.9, S.389; Bd. 10, S.282, Schafheutie, ebd.
S.339f; Dünnebier, ebd. S.341; E 1962, Begr. S. 116; Schwalm, P r o t . I V / S.623, 696;
Schafheutie, ebd. S.625, 695; Diemer-Nicolaus, ebd. S.626, 633.
768 Jürgen Welp
2.2 Gesetzesfassung
Die heutige Fassung des § 11 Abs. 1 N r . 2 StGB geht - wie bemerkt-
auf Art. 17 Nr. 5 E E G S t G B zurück39. Mit dem Verzicht auf die hoheits-
rechtliche Natur der wahrzunehmenden Aufgaben sollten „entschei-
34 Schwalm, Niederschriften, Bd. 9, S.388; Bd. 10, S.282; Schaßeutle, ebd. S.340;
ders., Prot. IV /S. 629.
57 E 1962, Begr. S. 116; P r o t . I V / S . 6 1 5 ; Schwalm, ebd. S.623.
schriften, Bd. 10, S.344) und wörtlich in § 1 0 Abs. 1 Nr. 2 a A E sowie die Entwürfe
übernommen worden, die dem Deutschen Bundestag in der V.Wahlperiode vorgelegen
haben (BT-Drucks. V/32, S. 10 u. V/2285, S.2, 3).
39 BT-Drucks.VII/550, S.8. Dazu P r o t . V I I / S . 160; ferner BT-Drucks.VII/1232. -
Auch der in der VI. Wahlperiode nicht mehr verabschiedete Entwurf eines EGStGB (BT-
Drucks. VI/3250, Begr. zu Art. 7 Nr. 5, [S. 198 ff]) enthielt bereits die heutige Fassung der
Legaldefinition.
Der Amtsträgerbegriff 769
47
Göhler, a . a . O . ; ders., N J W 1974, 825, 831; ferner E E G S t G B , a . a . O .
,8 E E G S t G B , BT-Drucks. VII/550, Begr. zu Art. 17 Nr. 5 (S.209).
49 Der Sonderausschuß hat der Entwurfsfassung ohne Diskussion zugestimmt; vgl.
Prot. V I I / S . 160.
50 Als „hoheitsrechtlich" kann eine Tätigkeit sinnvoll nur bezeichnet werden, wenn sie
sich der Handlungsformen des öffentlichen Rechts bedient. Daß hiermit ein geringerer
Präzisionsgrad erzielt werde als mit dem Begriff der „öffentlichen Verwaltung", kann
keinesfalls angenommen werden.
Der Amtsträgerbegriff 771
3. Teleologische Interpretation
3.1 Strafrechtliche Aspekte
Das gebräuchliche strafrechtliche Interpretationsverfahren stellt unter
den einzelnen Tatbestandsmerkmalen einen Zweckzusammenhang her,
indem es sie auf ein geschütztes Rechtsgut bezieht, auf dessen Verletzung
oder Gefährdung das betreffende Delikt gerichtet ist. Die in einem
Tatbestand verwendeten Begriffe werden somit durch dessen Schutz-
zweck geprägt und können daher unterschiedliche Nuancierungen
annehmen, wenn sie in verschiedenen Deliktsbeschreibungen gebraucht
werden.
Diese Interpretationsmethode ist auf die Auslegung der Merkmale des
Amtsträgerbegriffs nur bedingt anwendbar. Da die Legaldefinition des
§11 Abs. 1 Nr. 2 StGB diesen Begriff vor die Klammer der Einzeltatbe-
stände zieht, ist eine einheitliche Begriffsbestimmung vorgegeben.
Damit entfällt jede Möglichkeit, die Auslegung im Hinblick auf die
unterschiedlichen Schutzzwecke einzelner Tatbestände zu variieren, die
die Amtsträgereigenschaft auf der Täter- oder Opferseite voraussetzen51.
Da die Legaldefinition eine Differenzierung ausschließt, scheidet das
geschützte Rechtsgut des Einzeltatbestandes als Interpretationsbehelf
aus.
Es bleibt die Möglichkeit, einen gemeinsamen Schutzzweck der Tat-
bestände zu destillieren, die den Amtsträgerbegriff verwenden. Betrach-
tet man unter diesem Aspekt nur die echten und unechten Amtsdelikte52,
so wird mit unterschiedlichen Begründungen etwa die Integrität und
Funktionstüchtigkeit der Verwaltung, die Reinheit der Amtsführung
oder das Vertrauen der Allgemeinheit auf den Bestand dieser Güter als
übergreifender Schutzaspekt genannt; das Unrecht der Amtsdelikte
bestehe im Mißbrauch der Amtsstellung, in der Kompromittierung der
Staatsgewalt oder einer spezifischen personalen Pflichtverletzung, die
sich aus dem Bruch der Treuepflicht ergebe". Indessen berücksichtigt
dieser Ansatz nicht hinlänglich, daß der fragliche Begriff nicht nur das
Unrecht der von Amtsträgern, sondern auch das Unrecht der gegen sie
begangenen Delikte (z.B. §§113, 114, 121, 132, 164, 194 StGB) konsti-
tuiert. Es ist schon aus diesem Grunde nicht angängig, einen spezifi-
schen personalen Unwert zum Anknüpfungspunkt der Begriffsbildung
zu machen.
51
Vgl. dazu Lackner, StGB §11 Anm. 1; P.Schröder, a . a . O . S.56; Wagner, Amtsver-
brechen, 1975, S. 141. - Kritisch zur Technik der Legaldefinitionen aus dem im Text
genannten Grund daher Gallas, Niederschriften, Bd. 10, S.226; Bd. 13 (I960), S.44;
Stratenwerth, ZStW 76 (1964), 669, 672; ferner Noll, JZ 1963, 297, 299.
" So Erb, a . a . O . S.30, 32; Weiß, a . a . O . S.56f.
53
Vgl. die Zusammenstellung bei Wagner, a. a. O . S. 28 ff.
772 Jürgen Welp
das Deutsche Reich, Diss. Heidelberg, 1908, S.65; Holl, Der Begriff des Beamten im
strafrechtlichen Sinne, Diss. Erlangen, 1908, S.24; Keßmann, Der Beamtenbegriff des
Reichsstrafgesetzbuches in seiner rechtsgeschichtlichen Entwicklung, Diss. Marburg 1933,
S.65; P.Schröder, a . a . O . S.227; ferner Wiedemann, NJW 1965, 852, 854.
57 Seit RGSt. 1, 327, 328. - Zur Entwicklung des strafrechtlichen Beamtenbegriffs vgl.
41, 326, 327; RG, LZ 1916, 1548, 1549. - Vgl. ferner Puppe, a . a . O . S.65; Holl, a . a . O .
S. 15, 24; P. Schröder, a. a. O. S. 93 ff.
59 RGSt.38, 17, 19; ferner RGSt.30, 29, 30; 35, 325, 327. Ähnlich Holl, a . a . O . S. 15;
325f; 69, 231, 233; 70, 2 3 4 f ; 72, 289f; 72, 362f; 73, 169, 171; 74, 105f; 74, 251, 253 -
ständige Rechtprechung. Die Formel wird aufgenommen in BGHSt. 31, 264, 268.
" O L G Hessen, HESt. 2, 175, 179; BayObLG, HESt. 2, 360 f; O L G Bremen, NJW
1950, 198; O L G Stuttgart, MDR 1950, 627f; O L G Bremen, J R 1950, 410; O L G
Oldenburg, NdsRpflg. 1950, 178f; BGHSt. 2, 119f; 2, 396, 398; 4, 293f; 8, 273, 277; 9,
203, 222; 11, 345, 349, 351; 12, 89ff; 14, 147f; 31, 264, 268; BGH, NJW 1952, 191; BGH,
GA 1953, 49. Vgl. auch BGHSt. 6, 276 ff; 8, 21 f; 25, 204 f.
M Dazu unten 4.2.
774 Jürgen Welp
4. Fallgruppen
76 Wolff/Bacho), I, S. 18.
77 Nach Wolff/Bachof I, S. 17.
78 RGSt.9, 409; 14, 350; 22, 39; RGRechtspr. 6, 159 (gemeindliche Nachtwächter);
349; 39, 284; 40, 341; 41, 222; 53, 165; 73, 169; RGRechtspr. 2, 108; RG, J W 1938, 1317
(Fleischbeschau); RGSt. 17, 406.
81 RGSt. 5, 418; 24, 24; 33, 29; 39, 232; RGRechtspr. 5, 328; RG, Recht 1911,
31, 293; 34, 234; 41, 1 ; 71, 205; RGRechtspr. 3, 688; RG, D R 1939, 1982; RG H R R 1934,
Nr. 1174) sowie die Kassenverwaltung (z. B. RGSt. 8, 29; RG, J W 1937, 759; BGHSt. 25,
204).
Der Amtsträgerbegriff 777
4.2 Leistungsverwaltung
Die Verwaltungsrechtswissenschaft markiert die Grenzen ihres
Gegenstandes dadurch, daß sie zwischen Leistungsverwaltung und
erwerbswirtschaftlich-fiskalischer Betätigung der öffentlichen H a n d
unterscheidet. Als Abgrenzungskriterium dient hierbei das Merkmal der
Daseinsvorsorge69. Forsthoff versteht unter diesem Begriff „alles, was
von Seiten der Verwaltung geschieht, um die Allgemeinheit oder nach
objektiven Merkmalen bestimmte Personenkreise in den Genuß nützli-
cher Leistungen zu versetzen"; „alle öffentliche Daseinsvorsorge in
" EEGStGB, BT-Drucks. VII/550, Begr. zu Art. 17 Nr. 5 (S.208); Göhler, Prot. V I I /
S. 160; den., N J W 1974, 825, 831. - Zust. Wagner, ZRP 1975, 273 Fußn.6; Maiwald, JuS
1977, 353; Dreher/Tröndle, StGB §11 R d n . l l , 24; vgl. auch v.Münch, in: v.Münch,
Besonderes Verwaltungsrecht, S. 17.
87
Lackner, StGB §11 Anm. 3 c d d ; ähnlich Dreher/Tröndle, a . a . O . ; Tröndle, LK,
StGB § 11 Rdn. 33.
"8 Dreher/Tröndle, StGB §11 Rdn. 22; Tröndle, LK, StGB §11 Rdn. 25; Lackner,
StGB §11 Anm. 3 c d d ; Eier, Schönke/Schröder, StGB §11 Rdn. 23; Blei, Strafrecht, BT,
12. Aufl., 1983, S. 451 f; Krey, Strafrecht, BT, Bd. 1, 4. Aufl., 1979, S. 197.
" Forsthoff, Lb. d. Verwaltungsrechts, S. 370; Badura, D Ö V 1966, 630; Hans H. Klein,
Evangelisches Staatslexikon, 2. Aufl., 1975, Art. Daseinsvorsorge, Sp.348; Low, D Ö V
1957, 880; Menger, D Ö V 1955, 591; Terpitz, D Ö V 1969, 742.
778 Jürgen Welp
90 Forsthoff, a. a. O.
" Forsthoff, Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, 1959, S. 12; ders., Lb. d. Verwal-
tungsrechts, S. 370.
92 Vgl. Ossenbühl, D Ö V 1971, 516.
93 Forsthoff, Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, a. a. O.
94 Vgl. etwa Emmerich, JuS 1970, 332 ff; Fischerhof, D Ö V 1957, 312; ders., D Ö V 1960,
41; Ipsen, N J W 1963, 2055; Maunz, VerwArch.50 (1959), 319; Ossenbühl, D Ö V 1971,
516.
95 Badura, D Ö V 1966, 624, 628, 631; Ossenbühl, D Ö V 1971, 515.
96 B G H Z 29, 76, 80; 36, 91, 96; 37, 21, 27 f; 41, 2 6 4 , 2 6 7 ; 48, 98, 103. Aus der Literatur
98 Vgl. etwa Siebert, Niedermeyer-Festschrift, S. 220 ff, 229, 240; Wolff/ Bachof , I,
S. 108ff m.w.Nachw. Aus der Rechtsprechung B G H Z 29, 76ff; 32, 76ff; 52, 325ff;
BGH, LM GG Art. 3 Nr. 84, 92.
Der Amtsträgerbegriff 779
103 Für Schuleinrichtungen RGSt. 4, 379; 9, 204; 15, 244; 25, 89; 35, 182; 42, 251; 64,
337 sowie RG, J W 1937, 1811 (Staatsarchiv).
104 Für Kliniken sowie für Heil- und Pflegeanstalten RGSt. 74, 251; RGRechtspr. 6,
711; RG, GA 59 (1912), 348; O L G Karlsruhe, N J W 1983, 352. Ferner RG, DR 1940, 792
(Friedhofsverwaltung).
105 RGSt. 18, 391 (Gemeindepfleger); RGRechtspr. 6, 26 (Tierarzt); Gemeindewaage:
RGSt. 18, 37; RG, H R R 1939, Nr. 62; O L G Schleswig, SchlHA 1949, 297; BGH, MDR
1958, 141; BGH, LM, StGB § 3 5 9 Nr. 12.
780 Jürgen Welp
106 Z . B . Krankenkasse: RGSt.32, 259; 38, 17, 74, 268; 76, 105; RG, H R R 1935,
Nr. 151; BGHSt.6, 17; B G H , LM StGB § 3 5 9 Nr. 13; O L G Hamm, JMB1. N W 1952,
157; O L G München, HESt.2, 364; Arbeitslosenversicherung: RGSt. 70, 234; RG, J W
1936, 3005; Invaliditätsversicherung: RGSt. 44, 102. - Vgl. zu dieser Rechtsprechung auch
Werner, LM, StGB § 3 5 9 Nr. 9; Hülle, ebd., Nr. 11.
107 RGSt. 62, 188; 68, 325; RG, J W 1934, 2980; RG, H R R 1933, Nr. 1902.
108 Armenwesen: RGSt. 3, 420; 24, 83; 64, 262; 71, 390; ferner RG, H R R 1937,
Nr. 1684 (Fürsorgearbeiter); RG, D R 1940, 443 (städtisches Leihhaus).
109 Z . B . Lebensmittelversorgung: RGSt. 50, 356; 75, 193; RG, H R R 1942, Nr. 828;
Wohnungsbewirtschaftung: RGSt. 56, 366; 57, 366; BGHSt. 8, 21.
110 Lackner, StGB §11 A n m . 3 c d d ; Eier, Schönke/Schröder, StGB §11 Rdn.24;
Dreher/Tröndle, StGB § 11 Rdn. 22 ; Tröndle, LK, StGB § 11 Rdn. 25 ; Blei, Strafrecht, BT,
S. 451 f; Krey, Strafrecht, BT B d . l , S.197. Ferner BGHSt. 6, 17, 19; 6, 276, 278;
BayObLG, HESt.2, 360f. Aus der älteren Rechtsprechung RGSt.4, 421, 423; 20, 70, 76;
31, 293 ff; 49, 111, 113; 62, 24, 27; RGRechtspr. 6, 711 ff.
Der Amtsträgerbegriff 781
111 Vgl. etwa R G S t . 2 , 189, 191; R G , L Z 1916, 821; 1917, 882; R G , J W 1916, 1588;
in beiden Fällen gleich ist, ist auch seine Schutzbedürftigkeit gleich. Das
Verwaltungsrecht reagiert auf diesen Befund mit der Ausbildung von
Begriffen, die auch bei privatrechtlichen Handlungsformen einen ausrei-
chenden Schutz des Leistungsempfängers gewährleisten. Es wäre ein
Anachronismus, wenn das Strafrecht diese Entwicklung umkehren
wollte. Der Schutz und die Sanktionierungen eines besonderen Amts-
strafrechts gelten der „öffentlichen Verwaltung" als dem spezifisch
staatlichen Handeln. Dieser Bereich wird durch die Verwaltungsrechts-
wissenschaft begrifflich strukturiert; sie definiert damit - vorbehaltlich
der Schlüssigkeit ihrer Ableitungen - zugleich das Schutzgut der straf-
rechtlichen Tatbestände. Hinsichtlich der „öffentlichen Verwaltung" ist
die Funktion des Strafrechts daher in demselben Sinne akzessorisch wie
etwa gegenüber dem „Eigentum".
Hiernach begründet die Wahrnehmung von Funktionen aus dem
Bereich der Leistungsverwaltung die Amtsträgereigenschaft nach §11
Abs. 1 Nr. 2 StGB ohne Rücksicht auf die hierbei eingehaltene Rechts-
form.
116 Vgl. etwa Ossenbühl, D Ö V 1971, 520 f; Wolff/Bacbof, I, S. 108 f; Rüfner, Formen
öffentlicher Verwaltung im Bereich der Wirtschaft, 1967, S. 394 ff; B G H Z 29, 76, 80.
117 Lackner, StGB §11 A n m . 3 c d d ; Dreher/Tröndle, StGB §11 Rdn.22 („fiskalische
Verwaltung"); Tröndle, LK, StGB §11 Rdn.25; Eser, Schönke/Schröder, StGB §11
Rdn.23 („soweit" eine öffentliche Verwaltungsaufgabe bestehe, könne auch eine
„erwerbswirtschaftlich-fiskalische Betätigung" die Amtsträgereigenschaft begründen);
Blei, Strafrecht, BT, S.451 f; a. A. Krey, Strafrecht, BT Bd. 1, S. 197; Geppert, Jura, 1981,
42, 44; wohl auch v. Münch, in: v. Münch, Besonderes Verwaltungsrecht, S. 16.
Der Amtsträgerbegriff 783
Eser, a . a . O .
Vgl. oben 2.2 bei und in Fußn.48. Die Frage ist offengelassen in BGHSt. 31, 264,
269.
120 Dreher/Tröndle, a . a . O . ; vgl. auch Lackner, a . a . O .
121 Vgl. die in Fußn. 117 Genannten.
122 Vgl. oben 2.2.
123 Ständige Rechtsprechung; vgl. RGSt.29, 273; 66, 380, 383; RG, J W 1931, 6 2 f ;
1935, 2433; 1936, 1606; 1936, 3005; RG, H RR 1940, Nr. 874; KG J R 1961, 228. Vgl. dazu
Hoferecht, J R 1961, 509f; Jessen, MDR 1962, 526ff; Wiedemann, N J W 1965, 852f;
P.Schröder, a . a . O . , S. 208; Hartmann, DVB1. 1966, 809; Wagner, a . a . O . S. 119ff; 129 ff.
124 RGSt.24, 83, 85; 28, 239, 241; 74, 251, 253; RGRechtspr.6, 711 ff; RG, J W 1935,
2433; RG, DR 1940, 443f; BGHSt.2, 119f; 6, 276, 278; O L G Oldenburg, NdsRpflg.
1950, 178f. Vgl. dazu auch Holl, a . a . O . S.26; Hülle, LM, StGB § 3 5 9 Nr. 11.
125 RGSt. 51, 65, 68; 52, 309 f; 54, 202 f; 60, 139; RG, J W 1924, 1878; 1930, 1972; RG,
126 RG, J W 1935, 2433; ferner RG, J W 1931, 62 f; BGH, Urt. v. 14.6 .1951, 4 StR 132/
363; v. 2 1 . 1 2 . 1 9 7 2 , 4 StR 494/72; KG, J R 1961, 228 f; ebenso bereits RGSt. 70, 234, 235 f.
- Vgl. zu dieser Rechtsprechung auch Jessen, MDR 1962, 526; Wiedemann, N J W 1965,
852 f; Weiß, a . a . O . S. 8, 31, 69; P.Schröder, a . a . O . S.208.
150 B G H , Urt. v. 19.6.1963, 2 StR 116/63.
Der Amtsträgerbegriff 785
ständig, wenn sie nicht um die Judikate ergänzt würde, nach denen die „Verwaltung
staatlichen Vermögens . . . immer Ausfluß der Staatshoheit" und damit öffentliche Verwal-
tung ist (RGSt. 76, 105, 107; ferner RGSt. 74, 251, 253; R G , DR 1940, 443f; B G H S t . 2 ,
119; B G H , Urt. v. 9.7.1953, 4 StR 153/53; vgl. auch B G H , N J W 1952, 191; BGHSt.25,
204, 205 sowie Härtung, DtRpflg. 1939, 70, 72; Weiß, a . a . O . S. 32, 70; P.Schröder,
a . a . O . S.211 Fußn.51; Jessen, M D R 1962, 526, 528; Hülle, LM, StGB §359 Nr. 11;
Schäfer, Niederschriften, Bd. 10 [1959], S. 338 f). Diese zumeist als obiter dictum geäu-
ßerte Annahme (entscheidungserheblich wohl nur in RGSt. 74, 251, 253 und B G H S t . 2 ,
119, 120) ist mit der im Text nachgewiesenen Rechtsprechung nur dann vereinbar, wenn
man sie auf den Zeitraum nach Uberführung des Fiskal- in Verwaltungsvermögen bezieht
(vgl. auch Weiß, a . a . O . S. 70 Fußn. 190); denn da jede erwerbswirtschaftliche Betätigung
auf das Vermögen der betreffenden Organisation bezogen ist, wäre sie in dieser Hinsicht
dennoch immer „öffentliche Verwaltung". Dies verkennt BGHSt. 31, 264, 274 ff, soweit
dort die „Verflechtung" von erwerbswirtschaftlicher Betätigung und Verwaltung mit
einem gemeinsamen „Liquiditätsfundus" beider Bereiche begründet wird (vgl. dazu ferner
O L G Hamm, DVB1. 1981, 228, 230; Oehhecke, DVB1. 1981, 230, 231; Geerds, J R 1983,
465, 466; Dingeldey, NStZ 1984, 503, 504); die in dieser Entscheidung verworfene
Trennung der Einzelfunktionen von Vorstandsmitgliedern einer Landesbank in Verwal-
tungsaufgaben und erwerbswirtschaftliche Tätigkeit ist im übrigen mit der begrifflichen
Struktur des Amtsträgerbegriffs nach §11 Abs. 1 Nr. 2 c StGB unvereinbar, der - im
Gegensatz zum Beamtenbegriff - überhaupt nur durch die Verwaltungsqualität der
wahrgenommenen Einzelfunktion erfüllt werden kann („Funktionsbeamter").
786 Jürgen Welp
I. Einleitung
1 Maurach, Bes. Teil, 5. Aufl., 1969, S. 738 ff. Dazu Armin Kaufmann, Rechtspflicht-
begründung und Tatbestandseinschränkung Festschr. für Klug, 1983, S.283.
2 So z.B. Art.235-261 auf der einen und Art.262 des griechischen StGB auf der
anderen Seite.
3 Die einschlägigen Bemerkungen von Maurach, S. 739, sind interessant.
* So der Titel des entsprechenden Kapitels im früheren griechischen StGB, Art. 449 ff.
5 Dedes, Amtsdelikte, Athen 1983, S. 13 ff.
' Die Kritik der Lehre gegen den Titel kann man bei Maurach S. 738/9 finden.
7 Maurach, S. 739 stellt fest, daß einige Handlungen Straftaten „gegen das Amt", aber
nicht „im Amte" sind.
' Das 1975 in Kraft getreten ist.
788 Christos Dedes
5. Das neue griechische StGB hat den Titel „Straftaten um das Amt"
vorgezogen14, vgl. die Überschrift der Art. 235-263. Dieser Titel ist
allgemein genug, alle in Frage kommenden Handlungen zu umfassen,
unabhängig davon, ob sie von Beamten oder Nichtbeamten begangen
sind.
Abschließend ist festzustellen, daß die Gemeinsamkeit der Bestim-
mungen dieses Kapitels nicht in der Beamteneigenschaft des Täters,
sondern in der Ausrichtung der Handlung als gegen das Amt15 gewendet
zu finden ist.
28 Maurach, S. 740.
29 Maurach, S. 740; Schönke/Schröder/Cramer, Rdn. 1 vor §331; Wagner, S. 79, Lack-
ner §331 Rdn. 1.
Probleme der Amtsdelikte 791
3' Wagner, S. 170 ff, nimmt an, die Rechtmäßigkeit der Amtsführung sei ein überindivi-
duelles Rechtsgut.
40 Wagner, S. 170 ff.
792 Christos Dedes
Sie bildet aber nicht das kennzeichnende Element der hier erörterten
Handlungen. Denn Schutzgut ist das Amt, das Funktionieren des
Amtes41, die Richtigkeit der Amtsführung vor jeglicher Störung, unab-
hängig davon, ob sie von innen oder außen kommt.
Satz Armin Kaufmanns, Festschr. für Klug S.283: „Delikte mit reinen Tätermerkmalen
scheint es im Kernbereich des Strafrechts nicht zu geben."
45 Schänke/Schröder/Cramer, vor §331 Rdn. 5.
46 Uber weitere Probleme wie z.B. die Wirkung der Einwilligung des Verletzen,
Maurach, S. 741 und insbesondere Rudolphi- SK §331, Rdn. 18 oder der Rechtfertigungs-
gründe, Maurach, S.741 und Rudolphi-SK, §331 Rdn. 10 ff.
47 So § 11 Abs. 1 Nr. 2 c StGB. Man spricht von der funktionellen Auffassung.
4> In diesem Sinne ist §11 Abs. 1 Nr. 2 c und Nr. 4 StGB zu verstehen, Lackner §11
Rdn. 5.
Probleme der Amtsdelikte 793
hebung (§ 352) und der Parteiverrat (§ 356). So wurde der alte Beamten-
begriff durch die Begriffe „Amtsträger" und „für den öffentlichen Dienst
besonders Verpflichteten" ersetzt, § 11 Abs. 1 N r . 2 und N r . 4 StGB. Bei
der Verletzung des Steuergeheimnisses (§ 355) stehen den Amtsträgern
gleich:
1. die für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten
2. amtlich zugezogene Sachverständige und
3. die Träger von „Amtern der Kirchen und anderen Religionsgesell-
schaften des öffentlichen Rechts" (§ 355 II N r . 1-3 StGB).
Jede Änderung der entsprechenden Vorschriften bringt eine Erweite-
rung des Täterkreises und damit auch eine Erweiterung des Beamten-
begriffes mit sich.
Die strafrechtliche Verantwortlichkeit
Vollzugsbediensteter für den Mißbrauch
von Vollzugslockerungen
FRIEDRICH SCHAFFSTEIN
1
Rössner, Die strafrechtliche Beurteilung von Vollzugslockerungen, J Z 1984, 1065 ff;
Kusch, Die Strafbarkeit von Vollzugsbediensteten bei fehlgeschlagenen Lockerungen,
NStZ 1985, 385 ff.
2 Vgl. Rössner, wie Fn. 1, 1067 f; Kusch, wie Fn. 1, 385 f; zustimmend Lackner, StGB
16. Aufl., § 1 2 0 , 4 a und b.
' Vgl. Rössner, Kusch und Lackner, wie Fn. 2.
4 Vgl. Kusch, wie Fn. 1, 391 f.
796 Friedrich Schaffstein
41 Vgl. die „Thesen zur Behandlung und Rehabilitation psychisch Kranker im Maßre-
gungsvollzug in einem psychiatrischen Krankenhaus handelt, ändert nichts daran, daß die
dabei anzustellenden Überlegungen hinsichtlich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit
der Vollzugsbediensteten auch für den Strafvollzug gelten, auf den in den folgenden
Ausführungen in erster Linie abgestellt ist. Strafvollzug und Maßregelvollzug unterschei-
den sich in bezug auf die Rechtslage bei Lockerungen nur dadurch, daß für die Strafvoll-
zugslockerungen eine ausdrückliche gesetzliche Regelung in § 11 StrVollzG besteht,
während der Maßregelvollzug in seinen Einzelheiten nur landesrechtlich und dort meist
auch nur unvollständig geregelt ist. Eine dem § 11 Abs. 2 StrVollzG entsprechende
Bestimmung, nach der Lockerungen nicht bei Fluchtgefahr und bei Gefahr des Miß-
brauchs zu neuen Straftaten gewährt werden dürfen, leitet Volckart, Maßregelvollzug
1984, unmittelbar aus dem Sicherungszweck der Maßregeln und aus § 67 d Abs. 2 StGB ab,
demzufolge die Vollstreckung der Unterbringung nur ausgesetzt werden kann, wenn
verantwortet werden kann, zu erproben, ob der Patient außerhalb des Vollzuges keine
rechtswidrigen Taten mehr begehen wird. M. E. ist hier auch eine analoge Anwendung des
§ 1 1 Abs. 2 StrVollzG auf die Unterbringung möglich.
798 Friedrich Schaffstein
I. Regreßverbot?
Für die alte, einst von Frank7 begründete und neuerdings wieder
aktuell gewordene Theorie 8 vom Regreßverbot ist der Fall der miß-
brauchten Vollzugslockerung ein geradezu klassisches Beispiel. Ein
Regreß auf den die Lockerung gewährenden Vollzugsbediensteten
würde unzulässig sein, weil als Glied der Kausalkette zwischen ihm als
Täter und dem Erfolg, der Körperverletzung, das vorsätzliche Handeln
eines Dritten, nämlich des Gefangenen bzw. Untergebrachten steht'.
Folgt man der älteren und wohl auch heute noch herrschenden Lehre
und der vom Reichsgericht in mehreren Entscheidungen bestätigten
Praxis10, so ist ein solches Regreßverbot generell abzulehnen. Der Straf-
vollzugsbedienstete ist dann für die vorsätzlichen Straftaten, die er dem
Gefangenen aufgrund der Vollzugslockerungen ermöglicht hat, straf-
rechtlich verantwortlich, sofern die übrigen Voraussetzungen dafür, also
Rechtswidrigkeit, Vorsatz oder Fahrlässigkeit, bei ihm gegeben sind und
soweit im letzteren Falle auch die fahrlässige Begehung der Tat mit Strafe
bedroht ist. Eben dies aber trifft in unserem Göttinger Beispielsfall für
die vom Untergebrachten begangene Vergewaltigung zu, weil die fahr-
lässige Verursachung nach § 230 StGB strafbar ist. Die Göttinger Straf-
kammer hat dann auch ebenso wie der ihr Urteil bestätigende Senat des
O L G Celle in dieser Hinsicht überhaupt kein Problem gesehen und sich
mit der einfachen Feststellung begnügt, daß es ohne den Geländeausgang
nicht zu den Sexualstraftaten an drei Frauen gekommen wäre.
7 R. Frank, StGB 18. Aufl. (1931) § 1 III 2 a, S. 14: „Keine Ursachen sind Vorbedingun-
gen einer Bedingung, die frei und bewußt (vorsätzlich und schuldhaft) auf Herbeiführung
des Erfolges gerichtet war."
8 Vgl. Lackner, wie Fn. 2, vor § 13 III 1 caa, dd sowie § 13, 3 b; Wessels, Strafrecht AT,
für die neuere Lehre Schmidhäuser, Strafrecht A T (1982), 73; Baumann/Weber, Strafrecht
AT, 9. Aufl. (1985), § 1 7 112 a; Dreher/Tröndle, StGB 42. Aufl. Rdn. 17 c vor § 13; RGSt.
61, 319; 64, 312 u. 370.
Mißbrauch von Vollzugslockerungen 799
Indessen läßt sich aus der Sicht moderner Dogmatik das Problem mit
einer solchen Kausalitätsfeststellung noch nicht aus der Welt schaffen.
Denn es handelt sich beim Regreßverbot nicht, wie seine älteren Vertre-
ter und Gegner annahmen", um den Kausalzusammenhang, sondern um
den objektiven Zurechnungszusammenhang, im Verhältnis zu dem der
Kausalzusammenhang nur einen Teilaspekt darstellt. Auf dieser Grund-
lage, die in bezug auf das Regreßverbot wohl zuerst Naucke deutlich
herausgearbeitet hat12, sucht die neuere Dogmatik einen differenzieren-
den Mittelweg zwischen generellem Regreßverbot und dessen bisher
ebenso genereller Ablehnung zu gehen. Ich halte eine solche differenzie-
rende Lösung, ohne das hier im einzelnen begründen zu können, für
richtig. Allerdings ist zuzugeben, daß die bisher von der Lehre herausge-
arbeiteten Kriterien und Gesichtspunkte für eine strafrechtliche Verant-
wortlichkeit auch des Hintermannes noch recht unbestimmt, unter-
schiedlich und nicht immer überzeugend geblieben sind". Indessen kann
für den Fall, der uns hier angeht, auch aufgrund dieser unterschiedlichen
Kriterien doch wohl eine eindeutige Entscheidung gefällt werden.
Fruchtbar scheint hier insbesondere die von Jakobs entwickelte Paral-
lele zu dem unechten Unterlassungsdelikt zu sein14. Danach tritt das
grundsätzlich anzuerkennende Regreßverbot zurück und greift eine
Haftung des den Erfolg mittelbar Verursachenden Platz, wenn dieser
„nach den Grundsätzen des unechten Unterlassungsdelikts Garant dafür
ist, daß Schaden durch deliktisches Verhalten am bedrohten Gut
(Beschützer) nicht eintritt oder nicht von einer Gefahrenquelle ausge-
hend (Uberwacher) bewirkt" wird. In unserem Fall ist, da das Strafvoll-
zugsgesetz in § 2 Satz 2 dem Vollzug ausdrücklich auch den Schutz der
Allgemeinheit vor weiteren Straftaten als Aufgabe zuweist, auch der
Strafvollzugsbedienstete dieser Aufgabe verpflichtet, welche durch § 11
Abs. 2 StrafVG noch einmal ausdrücklich bei der Gewährung von
11 Vgl. darüber Robert v. Hippel, wie Fn. 10, 141 m . w . N . Obgleich erst Frank,
a. a. O., den Ausdruck „Regreßverbot" geprägt hat, ist die ihm zugrunde liegende Lehre
von der Unterbrechung des Kausalzusammenhangs durch das willensfreie Handeln eines
Dritten wesentlich älter und schon durch v. Bar und v. Liszt vertreten worden.
12
Naucke, ZStW 76 (1964), 409 ff (426 ff) m . w . N . zur älteren Lehre; ferner vor allem
Jakobs, ZStW 89 (1972), 1 ff (23) und Strafrecht AT, 24/13-21.
" Vgl. dazu etwa Maurach/Zipf, Strafrecht AT, Bd. 1, 273 f; Schänke/Schröder/Cra-
mer, StGB 21. Aufl., § 1 5 Rdn. 146 ff; Rudolphi, SK, 2. Aufl., Rdn.72 vor § 1 ; Lackner,
wie Fn.2, vor §13 I l l l c d d , alle m . w . N . Weniger eindeutig J. Wolter, Objektive und
personale Zurechnung von Verhalten 1981, 344 ff. Da Wolter eine Haftung des Hinterman-
nes ablehnt, wenn beim Vordermann noch gar kein Tatentschluß erkennbar ist (S. 348), so
müßte der Vollzugsbedienstete straffrei bleiben, weil und soweit der Vordermann zur Zeit
der Lockerungsgewährung noch nicht zur Tat entschlossen, sondern noch voll guter
Vorsätze war. Diesem Ergebnis widersprechen allerdings andere Formulierungen Wolters
im gleichen Zusammenhang.
H
Jakobs, ZStW 89, 23 und Strafrecht AT, 24/19.
800 Friedrich Schaffstein
15 Schönke/Schröder/Cramer, wie Fn. 13, § 15, Rdn. 154; Rudolphi, SK Rdn. 72 vor § 1.
16 So Rudolphi, a. a. O.
Mißbrauch von Vollzugslockerungen 801
ablehnt, wie auch nach der neuerdings vordringenden Lehre, die mit
einer differenzierenden Lösung des Problems aufwartet, der Strafvoll-
zugsbedienstete als Hintermann sich nicht auf ein Regreßverbot und
ebensowenig auf den Vertrauensgrundsatz berufen kann, wenn der
Gefangene die ihm gewährten Vollzugslockerungen zu neuen Straftaten
mißbraucht. Anders würde wohl jene kleine Gruppe von Autoren
entscheiden, die wie früher v. Liszt, Frank u. a., in neuerer Zeit Naucke
und Otto", beim Eintritt eines vorsätzlich-schuldfähig Handelnden in
die Kausalkette stets ein Regreßverbot annimmt.
22 Die Ausführungen von B G H 30, 324 haben um so mehr Gewicht, als sich der B G H
hier ausdrücklich auf die Entscheidung des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichts-
höfe des Bundes in B V e r w G E 39, 355, 364 bezieht.
23 Die Entscheidung B G H 30, 320 bezieht sich explizit nur auf den § 1 3 Abs. 1
StrVollzG (Urlaubsgewährung), der aber seinerseits in Satz 2 ausdrücklich auf den § 11
Abs. 2 StrVollzG verweist.
2* So denn auch die überwiegende Meinung des Schrifttums. Vgl. u. a. Kühling bei
Schwind/Böhm, StrVollzG 1983, § 1 1 Rdn. 12; Calliess/Müller-Dietz, StrVollzG, 3. Aufl.
§ 1 1 Rdn. 6 m . w . N . ; Rössner, wie Fn. 1, 1069.
804 Friedrich Schaffstein
versagt hat und nunmehr der Gefangene nach § 109 StrafVG gerichtliche
Entscheidung beantragt. Auch die erwähnte Grundsatzentscheidung des
B G H bezieht sich wie bisher alle einschlägigen OLG-Entscheidungen
auf einen solchen Fall (Versagung des Urlaubs u. dgl.). Doch muß die
gleiche Einschränkung natürlich auch für den umgekehrten Fall gelten,
wenn der zuständige Vollzugsbedienstete eine Lockerung nicht verwei-
gert, sondern gewährt. Daraus folgt, daß die gerichtliche Uberprüfung
der Frage, ob diese Gewährung sich im Rahmen des erlaubten Risikos
gehalten hat, ebenfalls nicht in den Beurteilungsspielraum eingreifen
darf, welcher der Vollzugsbehörde vorbehalten ist. Auch unterschiedli-
che Entscheidungen der Behörde über die Vollzugslockerung sind,
sofern sie sich im Rahmen jenes Spielraums halten, gleichermaßen
rechtlich vertretbar und werden somit auch durch das erlaubte Risiko
gerechtfertigt.
Indessen wäre es falsch, aus dieser Einschränkung der richterlichen
Uberprüfbarkeit zu folgern, daß den Gerichten jegliche Beurteilung der
Lockerungsentscheidungen der Vollzugsbehörden zu versagen sei. Denn
schon der Begriff des „Spielraums" schließt in sich ein, daß dem Ermes-
sen der Behörde auch Grenzen gesetzt sind, jenseits deren ihre Entschei-
dungen der richterlichen Nachprüfung unterliegen. Die Bedeutung der
Grundsatzentscheidung B G H 30, 320 liegt gerade auch darin, daß sie in
ihrem letzten Teil (S. 327) festlegt, wann eine Versagung bzw. Gewäh-
rung einer Vollzugslockerung trotz der Anerkennung des Beurteilungs-
spielraums der Behörde auf ihre Rechtmäßigkeit nachgeprüft werden
kann. Es heißt dort, die Versagung des Regelurlaubs könne von der
Strafvollzugskammer nur daraufhin überprüft werden, ob die Vollzugs-
behörde „bei ihrer Entscheidung von einem zutreffenden und vollstän-
dig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist, ob sie bei ihrer Entschei-
dung von dem richtigen Begriff des Versagungsgrundes ausgegangen ist
und ob sie dabei die Grenzen des ihr zustehenden Beurteilungsspiel-
raums eingehalten hat". Verdeutlichen wir uns diese Begriffe an unserem
Göttinger Ausgangsfall, so hätte der erstgenannte Fehler etwa vorgele-
gen, wenn der Vollzugsbedienstete (Arzt) etwa nichts von dem voraus-
gegangenen dreifachen Mißbrauch früherer „Geländeausgänge" des
Gefangenen gewußt oder sie unbeachtet gelassen hätte. Da Beanstan-
dungen in dieser Hinsicht aber nicht erhoben worden sind, so blieb für
die Strafkammer noch die Zulässigkeit oder Notwendigkeit einer Nach-
prüfung des „richtigen Begriffs des Versagungsgrundes", hier also der
Befürchtung des Mißbrauchs der Vollzugslockerung zu Straftaten und
der davon kaum zu trennenden Frage, ob die Vollzugsbehörde „die
Grenzen des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums eingehalten hat",
eine Formulierung also, die ausdrücklich anerkennt, daß jener Spielraum
nicht grenzenlos ist.
Mißbrauch von Vollzugslockerungen 805
25 Volckart, NStZ 1982, 174. Ebenso Joester, AK StrVollzG 2. Aufl. §11 Rdn.25;
Schock in: Kaiser/Kemer/Schöch, Strafvollzug 1982, 3. Aufl., 118. - Auch die „Waldlies-
borner Thesen" (wie Fn. 4 a), an denen Volckart mitgewirkt hat, betonten ausdrücklich,
die Entscheidung für die Durchführung von Lockerungen des Vollzuges (der Unterbrin-
gung in einem psychiatrischen Krankenhaus) sei „keine Ermessensentscheidung". Da die
Thesen insgesamt darauf abzielen, den Entscheidungsspielraum der Psychiater zu erwei-
tern und seine strafrechtliche Verantwortlichkeit für die Entscheidung einzuschränken, so
ist jene Leugnung einer Ermessensentscheidung nicht recht verständlich und widersprüch-
lich. Denn nur wenn dem Psychiater eine Ermessensentscheidung zugestanden wird, also
mehrere von ihm zu treffende unterschiedliche Entscheidungen rechtlich vertretbar sind,
kann er für die im Rahmen dieses Ermessens zu treffenden Entscheidungen strafrechtlich
nicht verantwortlich gemacht werden.
806 Friedrich Schaffstein
26 Vgl. dazu auch Rössner, wie Fn. 1, 1071. Insofern übereinstimmend die „Waldlies-
borner Thesen", die von „Risikoabwägung" sprechen. Wenn dort gesagt wird, bei dieser
Abwägung sei die Schwere der möglichen Gefährdung der Allgemeinheit in bezug zur
Dauer des erlittenen Freiheitsentzuges zu setzen, so kann dieser Gesichtspunkt der
erlittenen Haftdauer nur für den Maßregelvollzug, nicht aber für den Strafvollzug relevant
sein. In beiden Fällen aber ist insbesondere auch die Aussicht zu berücksichtigen, die man
sich jeweils für eine bessere Rehabilitation bzw. Resozialisierung von der Vollzugslocke-
rung verspricht.
11 So Joester, wie Fn. 25, Rdn. 9 vor § 11 m. w. N. In Ergänzung des von ihm angeführ-
ten kontroversen Schrifttums kann hier noch auf zwei kriminologische Dissertationen
verwiesen werden, in denen jeweils eine Probandengruppe, welche die Vollzugslockerung
des Freigangs erhalten hatte, mit einer Vergleichsgruppe ohne Freigang gegenübergestellt
wurde. In beiden Untersuchungen wurden für die Freigängergruppe etwas günstigere
Ergebnisse hinsichtlich ihrer späteren Legalbewährung erzielt. Vgl. P. Smolka, Der Frei-
gang im Strafvollzug, Jur. Diss. Göttingen 1981; D.Nolting, Freigänger im Jugendstraf-
vollzug, Jur. Diss. Göttingen 1985, beide m. w. N.; vgl. dazu aus psychiatrischer Sicht
ferner Rasch, Die Prognose im Maßregelvollzug als kalkuliertes Risiko, Blau-Festschrift
1985, 309 ff, dessen erst nach Abschluß des Textes erschiener Beitrag leider dort nicht mehr
berücksichtigt werden konnte. Insbesondere zur Bedeutung der nach einem Stufensystem
zu gewährenden Vollzugslockerungen im Maßregelvollzug Rasch, 312 ff m.w. N.
Mißbrauch von Vollzugslockerungen 807
28 ' Zur Fehlprognose aus psychiatrischer Sicht Rasch, wie Fn.27 insbes. 311 f.
810 Friedrich Schaffstein
29 Indessen kommt später, besonders im vorletzten Abschnitt IV der Thesen, dann doch
wieder auch der Sicherungsauftrag des Maßregelvollzuges zu seinem Recht. - Rasch, wie
Fn. 27, S. 311 f, betont ebenfalls die für den Psychiater primären therapeutischen Gesichts-
punkte, meint aber in seiner insgesamt sehr abgewogenen Beurteilung, daß „der psychiatri-
sche Kliniker eher zu einer Uberschätzung der Gefährlichkeit von untergebrachten Rechts-
brechern neige".
30 Schmidhäuser, wie Fn. 10, 7/62.
Mißbrauch von Vollzugslockerungen 811
51
Stratenwerth, ZStW 71, 54; Strafrecht A T , 3. Aufl. § 8 R d n . 3 0 8 ; Ròxm, J u S 1964,
61; Rudolphi, S K § 1 6 , R d n . 4 3 m . w . N . ; Jescheck, Strafrecht A T , 3. Aufl., 246; Jakobs,
A T 8/25. Weitere Nachweise bei Lackner, § 15, II, 3 b.
32 Zu dieser Annahme muß besonders auch das von Jakobs, a. a. O . angeführte Beispiel
der ärztlichen Operation führen, welches unserem Fall der Vollzugslockerung annähernd
entspricht. Jakobs A T 8/24 ist der Auffassung, daß auch „der Fehlschlag einer erkannter-
maßen riskanten ärztlichen Operation vom Vorsatz umfaßt" werde. Er meint, daß seine
Beschreibung des bedingten Vorsatzes der Formulierung Stratenwerths u. a., die auf das
„ernst nehmen" des Erfolges abstellt, nahestehe. Mir scheint freilich, daß Jakobs damit
eher Verfechter einer sonst kaum noch vertretenen „Wahrscheinlichkeitstheorie" ist. -
Schroeder, L K , § 16, Rdn. 85-93 vertritt eine Formel, die Einwilligungs- und Wahrschein-
lichkeitstheorie miteinander verbindet: Eventualvorsatz, wenn der Täter den Erfolg für
möglich hält und billigt, für wahrscheinlich hält oder ihm völlig gleichgültig gegenüber-
steht. N a c h dieser Formel würde der Vollzugsbedienstete wohl in der Regel ohne Vorsatz
handeln.
53
Stratenwerth, wie F n . 3 1 , §8 R d n . 3 0 8 .
812 Friedrich Schaffstein
IV. Schlußbetrachtung
Das Ergebnis, zu dem wir gelangt sind, läuft darauf hinaus, daß ein
Vollzugsbediensteter - mag es sich nun um den Vollzug einer Freiheits-
strafe oder um den einer freiheitsentziehenden Unterbringung handeln -
strafrechtlich verantwortlich sein kann, wenn er in Überschreitung des
erlaubten Risikos Vollzugslockerungen gewährt, die von dem Gefange-
nen bzw. Untergebrachten zu neuen Straftaten mißbraucht werden. Die
Verantwortlichkeit beruht nicht auf den in diesem Zusammenhang
bisher vornehmlich erörterten §§ 120, 258 a StGB, welche Vorsatz bzw.
Wissentlichkeit voraussetzen, sondern sie greift Platz, weil und soweit
sich die mißbrauchte Lockerung als fahrlässige Ermöglichung der von
dem Gefangenen begangenen neuen Straftat darstellt und wenn sie als
solche strafbar ist. Darin kommt zum Ausdruck, daß es nicht primär die
Gefährdung des staatlichen Strafanspruchs, sondern die unübersehbaren
Leiden der potentiellen Opfer künftiger Straftaten sind, die bei der
Begrenzung des durch §11 StrafVG gewährten Beurteilungsspielraums
zu berücksichtigen und gegen die humanitären und spezialpräventiven
Erleichterungen abzuwägen sind, die dem Gefangenen gewährt werden.
Dem hier als Beispiel gewählten Göttinger Urteil kommt daher trotz
mancher Schwächen und Lücken seiner Begründung eine über den
Einzelfall hinausreichende kriminalpolitische Bedeutung zu. Es fügt sich
Mißbrauch von Vollzugslockerungen 813
ein in den Trend der letzten Jahre, der gerade auch unter einem
individualistischen Aspekt in der Kriminalpolitik wie in der Dogmatik
den Interessen der Verbrechensopfer den Platz einräumen möchte, der
ihnen durch eine allzu einseitig am Täter orientierte Betrachtungsweise
lange verwehrt geblieben ist.
Indessen wurde schon am Eingang unseres Beitrages ebenso wie
mehrfach in den weiteren Ausführungen betont, daß auch eine solche
auch die Gefährdung künftiger Opfer berücksichtigende Sicht keinen
alleinigen Geltungsanspruch erheben darf. Die Furcht, sich durch Voll-
zugslockerungen strafrechtlicher Verfolgung auszusetzen, könnte sonst
die für den Vollzug Verantwortlichen, seien sie nun im Strafvollzug oder
im Maßregelvollzug tätig, vor der Eingehung auch eines erlaubten
Risikos abschrecken. Besonders die moderne Psychiatrie hält heute
offene Vollzugsformen und Lockerungen als unerläßlich für die Rehabi-
litation ihrer Patienten. Gleiches gilt indessen auch für den Strafvollzug,
der nach dem erklärten Willen des Gesetzgebers mehr als ein bloßer
Verwahrvollzug sein soll. Der Jurist befindet sich hier in der bedrücken-
den Lage, den für die Lockerung Verantwortlichen auf eine Interessen-
abwägung verweisen zu müssen, für die er zwar, wie oben ausgeführt
wurde, einige zu beachtende Anhaltspunkte, aber doch keine so sicheren
Maßstäbe geben kann, wie von ihm erwartet werden wird. Das Risiko
dafür, daß er sich im Rahmen des erlaubten Risikos hält, trägt so doch
immer der die Lockerung Gewährende selbst.
Probleme der Verwaltungsakzessorietät
des Strafrechts, insbesondere im Umweltstrafrecht
KRISTIAN K Ü H L
I.
1. Die gründlich vorbereitete, planmäßige und auf breitem Konsens
beruhende Erneuerung des Strafrechts war und ist ein Hauptanliegen
von Karl Lackner. Wie die vierzehn Bände der „Niederschriften über die
Sitzungen der Großen Strafrechtskommission" eindrucksvoll belegen,
hat er bei den Vorarbeiten zur Reform des Strafgesetzbuches von Anfang
an eine „gewichtige Rolle" 1 gespielt. Auch nach Abschluß dieser Arbei-
ten, die zum Entwurf 1962 führten, und nach seinem Wechsel von der
„Gesetzgeber-" zur Wissenschaftlerseite hat er die weiteren Reformbe-
mühungen vor allem als Autor des „StGB mit Erläuterungen" stets
aktuell und kritisch begleitet. Diese kritische Begleitung läßt eine zuneh-
mende Skepsis gegenüber dem Gesetzgebungsbetrieb unserer Zeit
erkennen 2 . In einem informativen Uberblick über den bisherigen Verlauf
der Reformarbeiten werden die in der 8. Wahlperiode des Deutschen
Bundestages behandelten Gesetzentwürfe als Vorhaben qualifiziert, die
zunehmend „nicht mehr der allgemeinen Erneuerung des Strafrechts,
sondern nur noch der Befriedigung aktueller Zeitbedürfnisse dienen 3 " ; -
in diese Wahlperiode fiel u. a. die Verabschiedung des 18. StÄG, das seit
seinem Inkrafttreten am 1.7.1980 den strafrechtlichen Umweltschutz
neu gestaltet hat. Schon in der 9. Wahlperiode und noch deutlicher in der
laufenden 10. Wahlperiode sei klar geworden, „daß von einer planmäßi-
gen Fortsetzung der strafrechtlichen Reformarbeiten auf dem Gebiet des
BT nicht mehr die Rede sein kann" 4 . Als hervorstechendster Mangel der
gegenwärtigen Strafgesetzgebung erscheint die vermehrte Anknüpfung
an bestimmte Anlässe, das Aufgreifen konkreter, meist umstrittener
Forderungen und die dadurch bewirkte Beschränkung auf nur punktu-
elle Rechtsänderungen. Während einerseits die längst überfällige
Neuordnung des Tötungsstrafrechts 5 , für die Lackner selbst in einem
1
Küper, Ruperto Carola, H e f t 67/68, 1982/83: Karl Lackner zum 65. Geburtstag.
2
Auch hier übernehme ich die treffende Diagnose von Küper (Fn. 1).
3
Lackner, Strafgesetzbuch mit Erläuterungen, 16. Aufl., 1985, Vor § 1 Anm. 1 h.
1
Lackner (Fn. 3), Vor § 1 Anm. 1 i.
5
Zur Reformbedürftigkeit der Tötungsdelikte vgl. Lackner (Fn.3), Vor §211 A n m . 6.
816 Kristian Kühl
Referat zum 53. Deutschen Juristentag ein ausgereiftes Modell, die sog.
Gefährlichkeitslösung, vorgelegt hat6, bisher nicht in Angriff genommen
wurde, hat der Gesetzgeber andererseits „mit ungewöhnlicher Eile" das
neue Demonstrationsstrafrecht 7 „gegen den Widerstand einer starken
Minderheit durchgesetzt" 8 .
2. Die Problematik einer so hektischen Strafgesetzgebung kann hier
nicht weiter analysiert und bewertet werden, obwohl ihre Gründe und
Folgen gewiß einer (Auf-)Klärung bedürften. Vielmehr soll ein Aspekt
der soeben kurz angesprochenen Neuregelung herausgegriffen werden,
der als „Anknüpfung des Strafrechts an das Verwaltungsrecht" umschrie-
ben werden kann. Eine solche Anknüpfung ist im neuen Umweltstraf-
recht der §§324 ff StGB erfolgt, aber auch die neue Strafdrohung des
Landfriedensbruches gemäß § 125 II StGB knüpft an den Erlaß eines
Verwaltungsaktes an9. Die mit diesen Anknüpfungen ans Verwaltungs-
recht aufgeworfenen strafrechtlichen Fragen hat Lackner sofort gestellt;
für einige von ihnen soll im folgenden eine Antwort versucht werden.
Das Umweltrecht zeichnet sich nach Lackner10 durch eine „enge
Verzahnung präventiv-verwaltungsrechtlicher und sanktionsrechtlicher
Regelungen aus". Die deshalb unvermeidliche, sachlich begründete
Abhängigkeit vom Verwaltungsrecht - die verwaltungsrechtliche Akzes-
sorietät - sei durch die keineswegs ausgereiften Vorschriften mit Blan-
kettcharakter (insbesondere §§ 324 ff StGB) nicht zufriedenstellend
bewältigt worden, da die Vorschriften aus ihrem jeweiligen Kontext
herausgelöst worden seien. Schwer lesbare Formulierungen, undurch-
sichtige Strukturen und eine Schwächung der Effizienz des Gesetzes im
ganzen und der Einheitlichkeit seiner Anwendung seien die Folgen, die
teilweise hätten vermieden werden können. Denn in dem vollständigen
Sachzusammenhang eines Spezialgesetzes wäre die verwaltungsrechtli-
che Akzessorietät „leichter zu wahren und durchsichtig zu machen"
gewesen. - O b dieser Einwand nur einen aus anderen Gründen hin-
nehmbaren Mangel oder ein beachtliches verfassungsrechtliches Beden-
ken formuliert, soll unter II. untersucht werden.
Als noch „schwerer" wiegend bezeichnet Lackner den weiteren Ein-
wand gegen das neue Umweltstrafrecht, nach dem diese Materie durch
Teil M 25—46.
7 Genauer zur erneuten „Wende" im Demonstrationsstrafrecht, Kühl, N J W 1985,
2379 ff.
8
Lackner (Fn. 3), § 125, vor Anm. 1.
' Lackner (Fn.3), §125 Anm. 4 c.
10 Vor §324 A n m . l b a a . Ähnlich Blei, Strafrecht II, 12. Aufl., 1983, S.345; Otto,
Grundkurs Strafrecht - Die einzelnen Delikte, 2. Aufl., 1984, S . 4 0 0 f .
Probleme der Verwaltungsakzessorietät des Strafrechts 817
II.
1. Der erste Einwand gegen die Neuregelung des Umweltstrafrechts im
StGB - die Verwaltungsakzessorietät des Strafrechts lasse sich rechts-
staatlichen Anforderungen entsprechend nur oder zumindest besser in
den Spezialgesetzen des Umweltverwaltungsrechts und damit im sog.
11
Lackner (Fn. 3), Vor §324 Anm. 1 b b b . Ebenso kritisch wieder Otto (Fn. 10), S.401.
12
So der noch griffiger formulierte Einwand von Dreher/Tröndle, StGB, 42. Aufl.,
1985, Vor §324 Rdn.4. - Zur Gefahr der „Abdankung des Gesetzgebers zugunsten
gesellschaftlicher Gruppen" beim Verweis auf technische Regeln in Blankettstrafgesetzen,
s. Schünemann, ZfBauR 1980, 160.
13
Verf. hat eine solche Prüfung schon im Januar 1981 in seinem Bielefelder Habilita-
tionsvortrag angestellt; das Thema wurde ihm auf Nachfrage hin von dem mit dieser
Festschrift zu Ehrenden vorgeschlagen, wofür Verf. noch heute dankbar ist.
14
Lackner (Fn.3), §125 Anm. 4 c.
15
Vor §324 Anm. 1 b b b .
818 Kristian Kühl
23
Auch sog. „abhängiges" Strafrecht, vgl. Göhler u. a. (Fn. 16), Einf. Rdn. 5.
24
Lackner (Fn. 3), Vor § 324 Anm. 1 a.
25
So Rehbinder/Kay ser/Klein, ChemikalienG-Kommentar, 1985, §27 Rdn.2, die den
Grund für die Abtrennung im zeitlichen Nebeneinander der Diskussion des Umweltstraf-
rechts und des ChemikalienG sehen.
26
Zur nicht ganz folgerichtigen Einordnung von Strafvorschriften in das StGB oder das
Nebenstrafrecht s. Göhler u.a. (Fn. 16) Einführung Rdn. 7, mit zahlreichen Beispielen,
insb. aus dem Wirtschaftsstrafrecht.
820 Kristian Kühl
27 Vgl. Kast, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976,
S. 2 6 2 ; ausführlicher ist die Darstellung der Leitsätze für die Fassung von Sanktionsnormen
im Nebenstrafrecht von Kast, Beilage zum Bundesanzeiger 42/83. - Zu den Besonderhei-
ten der Tatbestandsbildung im Nebenstrafrecht unter Einschluß des Ordnungswidrigkei-
tenrechts, vgl. Schmitt, Ordnungswidrigkeitenrecht, 1977, S. 24 f.
28 Vgl. Kast (Fn. 27) Beilage 42/83, S. 31, der die Trennung von sachlichen Regelungen
37 So Lackner (Fn. 3), § 330 Anm. 2 b; kritisch auch Triffterer, Umweltstrafrecht, 1980,
S. 193 f, 229 f.
38 Vgl. zu den genaueren Ermächtigungsgrundlagen BT-Drs. 10/3580, S. 3, sowie
recht) 1981, 127 f, mit Beispielen aus hier nicht behandelten Bereichen des Nebenstraf-
rechts. Zum Begriff vgl. auch Otto, ZStW 96 (1984) 369.
45 Zur Normklarheit bei Verweisungen vgl. Krey (Fn.42), S. 132f, mit Hinweis auf
BVerfGE 5, 25 ff, 31, 33 f; vgl. auch Ehlers, DVB1. 1977, 694, der zusätzlich auf BVerfGE
22, 330 ff, 346, hinweist. - Nach Herzog (Fn.29), Art. 20 VII Rdn.63, ist der Grundsatz
der Normklarheit einer verfassungskonformen Auslegung zugänglich, weshalb nur in
extremen Ausnahmefällen ein Gesetz wegen mangelnder Klarheit für nichtig erklärt
werden könne.
44 Ähnlich jetzt Winkelbauer, Zur Verwaltungsakzessorietät des Umweltstrafrechts,
1985, S. 29.
45 Es geht um die Prüfung der Notwendigkeit der strafrechtlichen Sanktionierung und
III.
Gelingt die Anbindung des Strafrechts an das Verwaltungsrecht im
Nebenstrafrecht besser, im Strafgesetzbuch aber immerhin auch in
rechts staatlich nicht zu beanstandender Weise, so stellt sich nun die
Frage, ob diese Anbindung - wie bisher unterstellt - wünschenswert,
und unter welchen Voraussetzungen sie verfassungsmäßig ist. Damit
wird der unter 12 als „schwerer" wiegend bezeichnete Einwand aufge-
46
Vgl. Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, 1969, S.267.
47
So schon Baumann, Umwelt 1972, 38 f; ähnlich Noll, universitas 1971, 1024; für
Göhler u.a. (Fn. 16) Einführung Rdn.7, handelt es sich um eine „Abwägungsfrage". Zur
„Zweckmäßigkeit" s. Rogali, J Z - G D 1980/7, S. 103.
48
Im internationalen Vergleich steht der Gesetzgeber mit dieser Entscheidung durchaus
nicht allein, vgl. Heine, GA 1986, 68.
49
Vgl. aus den Gesetzesmaterialien die Begründung des Regierungsentwurfs und den
Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs. 8/2382 S. 9 f und 8/3633 S. 19. - Nach Auffassung
der Bundesregierung hat sich das Gesetz „grundsätzlich bewährt"; so die Antwort des
Staatssekretärs Dr. Kinkel vom 30. Juni 1986, BT-Drs. 10/5824 S.5. Zweifel äußert
Steindorf, LK-StGB, 10. Aufl. (Stand 1986), 4 vor §324, sowie §325 Rdn.26.
50
Nach Arzt, BKA-Vortragsreihe Bd. 26, 1981, S. 82 ff, führt nur eine Verstärkung der
Kontrollbemühungen zu mehr Rechtsgüterschutz; ähnlich Arzt (Fn. 17), Bern. 357; ähn-
lich auch Otto, GA 1985, 469.
51
Vgl. Albrecht/Heine/Meinberg, ZStW 96 (1984) 948 ff; Hümbs-Krusche/Krusche,
ZRP 1984, 62, 66; vgl. auch schon Salzwedel, Z f W R 1980, 211: „Papiertiger"; optimisti-
scher Bottke, JuS 1980, 541.
Probleme der Verwaltungsakzessorietät des Strafrechts 825
tige Diskussion vermittelnd Jescheck, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, AT, 3. Aufl.,
1978, S.412. - Gegen die begriffliche Akzessorietät Bruns, Die Befreiung des Strafrechts
vom zivilistischen Denken, 1938, S. 51 f; und jüngst Tiedemann, Die gesetzliche Milde-
rung im Steuerstrafrecht, 1985, S. 27 f.
826 Kristian Kühl
denn auch hier wird als Rechtsfolge ,Strafe', ja sogar die .Freiheitsstrafe'
angedroht. Diese gravierenden Sanktionen dürfen aber nach der für das
Strafrecht fundamentalen Entscheidung der Art. 103 II, 1041 G G nur
angedroht werden, wenn die Voraussetzungen der Strafbarkeit „gesetz-
lich" bestimmt (Art. 103 II G G ) oder sogar durch ein förmliches Gesetz
(vgl. Art. 1041 GG) festgelegt sind.
Die konkreten Anforderungen, die sich aus diesen Vorschriften erge-
ben, sind gerade für Blankettstrafgesetze zu beachten71. Zu solchen
Blankettstrafgesetzen gehören unstreitig die hier anvisierten Strafvor-
72
s. Göhler (Fn. 30), 17-19 vor § 1. - Eine Unterscheidung zwischen „klassischen" Blankett-
normen und „unselbständigen" Strafnormen trifft Riiping, NStZ 1984, 451.
74 Vgl. BVerfGE 58, 257 ff, 277.
82
Vgl. dazu sowie zum im Text Folgenden Schenke, N J W 1980, 745.
85
Nach der Rspr. des BVerfG's müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß nicht notwendig
der Ermächtigungsnorm selbst entnommen werden, vielmehr genügt es, wenn diese
Kriterien aus dem gesamten Ermächtigungsgesetz ermittelt werden können, vgl. E 8,
274 ff, 307, in Anlehnung an B. Wolff, AöR 78 (1952/53) S. 194 ff, 199 f. - Dementspre-
chend zieht BVerfGE 51, 60 ff = N J W 1979, 1981, bei der verfassungsrechtlichen Prüfung
von §21 StVG nicht nur § 2 1 StVG, sondern die gesamten „Ordnungsvorstellungen des
Gesetzgebers... im Straßenverkehrsgesetz" heran. - Dagegen stellt BGHSt. 32, 248 ff,
251, bei der Festlegung des Kreises der von § 36 StVO bußgeldbewehrten Weisungen eines
Polizeibeamten auf die der „Straßenverkehrsordnung als einer Rechtsverordnung
zugrunde liegende Ermächtigungsnorm des § 6 Abs. 1 N r . 3 StVG" ab.
84
Kritisch hinsichtlich § 17 ChemikalienG Kloepfer, N J W 1981, 21 f, weil die Ermäch-
tigung so weit gefaßt sei, daß sie größte Teile des Schadstoffrechts unter Verbote zwingen
könnte.
Probleme der Verwaltungsakzessorietät des Strafrechts 831
werden solche Verweisungen auch an dieser Vorschrift gemessen; so vor allem Schenke,
NJW 1980, 745; vgl. auch Breuer, AöR 101 (1976) 62ff.
86 Unter Verweis auf BGHSt. 6, 30 ff, 40 f, werden solche Strafvorschriften ζ. T. nicht
als Blankettstrafgesetze aufgefaßt, da bei solchen die Ergänzung von einer anderen Stelle
und zu einem anderen Zeitpunkt vorgenommen werden müsse, so ζ. B. Jescheck (Fn.57),
S. 86, und von öff.-rechtl. Seite Karpen (Fn. 79), S. 84 f. - Wie hier aber Krey, EWR 2
(1981) 172 f; Otto, ZStW 96 (1984) 369 Fn. 74, und schon Warda, Die Abgrenzung von
Tatbestands- und Verbotsirrtum bei Blankettstrafgesetzen, 1955, S. 5 ff, 8, 11 f.
87 Auch Krey, EWR 2 (1981) 176, sieht hier keine versteckte Delegation von Gesetzge-
bungsgewalt, da der Inhalt des Straftatbestandes allein vom Gesetzgeber statuiert werde.
" Vgl. Schenke, NJW 1970, 747, der von einer völligen Überforderrung des Gesetzge-
bers spricht.
" Vgl. J Z - G D 1982/10, S. 137; Fischer/Schömberg, NStZ 1983, 12.
90 Vgl. Warda (Fn. 86), S. 29.
832 Kristian Kühl
" Vgl. Cramer, in: Schänke ¡Schröder, StGB, 22. Aufl., 1985, 4 vor §324; ähnlich schon
Schröcker, N J W 1967, 2290.
92
Zur freiwilligen Selbstentmachtung vgl. Ossenbühl, DVBl. 1967, 402.
93
Vgl. die überzeugende Kritik bei Winkelhauer (Fn. 44), S. 32.
94
Von den Entscheidungen aus 1962 (E 14, 174 ff, 245 ff, 254 ff) bis hin zu E 51, 60 ff =
N J W 1979, 1981. - Vgl. zust. aus strafrechtl. Sicht Krey, EWR 2 (1981) 182, sowie ders.,
Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, 1977, S. 210 ff; vgl. allgemein zur Wesent-
lichkeitstheorie des BVerfG's im Bereich der Grundrechtsausübung, Kisker, N J W 1977,
131 ff; Breuer, N J W 1979, 1865 f; Krey, JZ 1978, 467.
95
Karpen (Fn. 79), S. 219; Weidenbach (Fn. 71), S. 146 = Zusf.; Rauball, in: v. Münch
(Hrsg.), G G , Bd. 3, 1978, Art. 103 Rdn.7, sowie in der 2. Aufl., 1983, Rdn.23, 34
(Kunig).
96
E ser, in: Schänke/Schröder (Fn. 91) § 1 Rdn. 11 ; Jescheck (Fn. 57), S. 87; Krey, EWR
2 (1981) 181 ff, 196; Tiedemann (Fn.46), S.265; Tröndle, in: LK, StGB, 10. Aufl., 1978,
§ 1 Rdn. 11.
97
O b letztere einbezogen werden darf, ist umstritten; abl. Tiedemann (Fn.46), S.250;
Winkelbauer (Fn. 44), S. 34, jeweils unter Hinweis auf BVerfGE 14, 245ff, 253; bejahend
Göhler (Fn. 30) 19 vor § 1 ; Krey, EWR 2 (1981) 196.
Probleme der Verwaltungsakzessorietät des Strafrechts 833
98
Vgl. BVerfGE 2, 307ff, 334, sog. Selbstentscheidungsformel: „Der Gesetzgeber muß
also selbst die Entscheidung treffen, daß bestimmte Fragen geregelt werden sollen, er muß
die Grenzen einer solchen Regelung festsetzen und angeben, welchem Ziel die Regelung
dienen soll."
" Zur Identität der Anforderungen bei Art. 103 II und 104 I G G vgl. Krey, EWR 2
(1981) 183.
100
Zweifel an diesen Wertungen erheben von öff.-rechtl. Seite Düng, in: Maurizi
DUrig, G G , Art. 1 II Rdn. 7 (Stand 1958), und in: NJW 1961, 1831; von strafrechtlicher
Seite Schmidt-Leichner, N J W 1962, 1372, der auf die alleinige Verantwortung des Parla-
ments als Gesetzgeber pocht; ähnlich auch Weidenbach (Fn. 71), S. 123 f. Strenge Anforde-
rungen an Blankettstrafgesetze aus Art. 103 II G G stellt auch Lohherger, Blankettstrafrecht
und Grundgesetz, Diss. München 1968, S. 113.
,c
" Krey, EWR 2 (1981) 184.
102
Zur unklaren Grenze zwischen wichtigen und unwichtigen Änderungen bei Verwei-
sungsobjekten vgl. Ehlers, DVB1. 1977, 695.
103
Ansätze findet man bei Tiedemann (Fn.46), S.265; Winkelbauer (Fn.44), S.33f;
weniger streng von öff.-rechtl. Seite Karpen, in: Rödig (Fn.27), S.209.
834 Kristian Kühl
104 Für eine restriktive Auslegung der Reichweite von ganz offenen Blankettgesetzen,
10 ' Vgl. dazu sowie zum im Text Folgenden Warda (Fn. 86), S. 18 f; vgl. auch schon
Oetker, GS 64 (1904) 160 ff; Kdäb/Rösch, Bayerisches Straf- und Verordnungsgesetz,
2. Aufl., 1967, Einf. Rdn. 232-234, sowie jetzt wieder Winkelbauer (Fn.44), S. 12 f. -
Ähnlich schon von öff.-rechtl. Seite Karpen (Fn. 79), S. 84 f.
1,0 Dieses Beispiel bildet Winkelbauer (Fn.44), S. 13.
111 Zur verfassungsrechtlichen Problematik dieser Strafvorschrift unter dem Gesichts-
punkt von Art. 81 GG und im Hinblick auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip s. Kühl, NJW
1985, 2379 ff, und NJW 1986, 874 ff.
1,2 So Winkelbauer (Fn.44), S. 16.
Dies gesteht auch Winkelbauer (Fn.44), S. 16 u. 34, ausdrücklich zu.
1.4 So die von Sieber, ZStW 96 (1984) 270 Fn. 7, übersetzte Resolution einer internatio-
wird und dementsprechend ein Blick ins Gesetz dem Bürger nicht die
garantierte Orientierungssicherheit verschafft. Ahnlich wie dort könnte
man aber auch hier zur Rettung der jetzt zu prüfenden Gesetzgebungs-
technik argumentieren" 6 , der Gesetzgeber müsse nur die Grundentschei-
dung hinsichtlich des strafbaren Verhaltens treffen, dann dürfe er auch
die Festlegung der Details der Einzelanordnung einer Verwaltungsbe-
hörde überlassen.
Im Bereich der gesetzesgebundenen Verwaltung" 7 könnte man sogar
behaupten, daß der Verwaltungsakt nur die vom Gesetzgeber festgeleg-
ten Pflichten konkretisiere, und deshalb die gesetzliche Bestimmtheit des
Straftatbestandes nicht in Frage stelle. So argumentiert etwa Winkel-
bauerni im Hinblick auf § 3 2 5 S t G B : D e r Strafgesetzgeber habe die
Tatbestandsvoraussetzungen durch Umschreibung der geschützten
Rechtsgüter und schädlichen Verhaltensweisen selbst umschrieben und
damit der Verwaltung nur die Befugnis zur Aktualisierung des ebenfalls
im Tatbestand, wenn auch abstrakt formulierten Merkmals der Verwal-
tungswidrigkeit überlassen, wobei die Verwaltung allein die gesetzgebe-
rischen Entscheidungen des Umweltverwaltungsrechts auf den Einzelfall
anzuwenden habe.
O b die Einzelanordnungen aber wirklich nur den Willen des Strafge-
setzgebers „aktualisieren", und ob sie zugleich auch die Entscheidung
des Umweltverwaltungsgesetzgebers nur „anwenden", erscheint zumin-
dest fraglich. Der Strafgesetzgeber hat zwar in § 3 2 5 S t G B seine Ent-
scheidung über den Strafbarkeitsbereich weitgehend, aber eben nicht
vollständig getroffen, weil er sich dazu nicht in der Lage sah. Die
Vervollständigung des bewußt unvollständig Gelassenen kann aber nicht
durch Aktualisierung eines nicht vorhandenen Willens geschehen. Die
Entscheidung ist im unvollständigen Teil der Verwaltung überlassen
worden, die freilich in ihren Einzelanordnungen durch Gesetz oder
Rechtsverordnungen auf gesetzlicher Grundlage gebunden ist. Aus die-
ser Bindung ergibt sich aber nicht ohne weiteres, daß die Verwaltung nur
die Konkretisierung des im Gesetz offen zutage liegenden Regelungsge-
116 In dieser Richtung argumentieren Rüdiger (Fn. 63), S. 151, und Tiedemann (Fn. 46),
S. 253 f.
117 Nach Albrecht/H eine/Meinberg, ZStW 96 (1984) 951, wäre der Stellenwert der
Verwaltungsakzessorietät im Hinblick auf die Definitionsmacht der Verwaltung gering,
wenn - was nicht der Fall sei - es sich im Umweltverwaltungsrecht um eine „streng
gebundene Verwaltung" handeln würde. - Nur für den Fall der gesetzesfreien Verwaltung
nimmt z . B . Löwer, J Z 1979, 627ff, einen rechtssatzvertretenden Charakter des Verwal-
tungsakts an; ob das von ihm genannte Beispiel des Subventionsbetruges gem. § 2 6 4 StGB
wirklich ein Beispiel dafür ist, wird bezweifelt, vgl. Lenckner, in: Schänke/Schröder
(Fn. 91) §264 Rdn.2 und 34.
118 (Fn. 44), S. 35.
Probleme der Verwaltungsakzessorietät des Strafrechts 837
119
Vgl. in dieser Richtung immer wieder und besonders nachdrücklich Tiedemann
(Fn.46), S.244ff, 254ff; (Fn.64), S.23; in: LK, StGB, 10. Aufl., 1979, §264 Rdn.47, der
die Gegenauffassung im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts mit „Fiktionen" arbeiten sieht.
- Weniger kritisch aber Tiedemann, Kartellrechtsverstöße und Strafrecht, 1976, S. 149: die
bloße Konkretisierung des allgemeinen Mißbrauchverbots durch die Behörde für den
Einzelfall sei unter dem Gesichtspunkt der Tatbestandsbestimmtheit „problemlos".
120
Deshalb wird auch die Schaffung verwaltungsakzessorischer Sanktionsvorschriften
für Diskriminierungen im Kartellrecht gefordert, solange der Verbotsbereich gesetzlich
nicht klar bestimmbar sei, vgl. Richter, wistra 1982, 209 ff, 214, sowie ders., Die Diskrimi-
nierung als Kartellordnungswidrigkeit, 1982, S. 127.
121
Vgl. Laußütte/Möhrenschlager, ZStW 92 (1980) 938.
122
Vgl. Rudolphi, NStZ 1984, 249, der zwar im Immissionsschutzrecht von „gesetzes-
gesteuerten Verwaltungsakten" ausgeht, aber auch „nicht geringe Beurteilungsspielräume"
für die Verwaltung in den gesetzlichen Ermächtigungen sieht. Zu §§22, 24 Blmmissions-
schutzG in der strafrechtlichen Fallbearbeitung, vgl. Tiedemann, Jura 1982, 374. - Zum
sehr weiten Ermessen der Verwaltungsbehörden s. schon Herrmann, ZStW 91 (1979) 289.
123
Auch im ChemikalienG gehen nach Kloepfer, N J W 1981, 22, die Einzelanordnungs-
befugnisse in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise über die Zuweisung der reinen
Gesetzesanwendung hinaus.
838 Kristian Kühl
124 Vgl. Tiedemann (Fn.46), S. 239 ff, sowie den. (Fn.64), S.23; Weidenbach (Fn.71),
S.99; Rudolphi, NStZ 1984, 249.
125 Vgl. Lenckner, JuS 1968, 305 f; sowie ders. (Fn.52), S.255. Ebenso Eser, in:
Schönke/Schröder, StGB, 22. Aufl., 1985, §1 Rdn.23.
Probleme der Verwaltungsakzessorietät des Strafrechts 839
nicht nutzt, wenn sich die Rechtsprechung an den Umgang mit den
abstrakten N o r m e n gewöhnt und ein funktionierendes Regelungssystem
geschaffen hat.
Materiell-rechtlich wird man die Schaffung noch weitgehend unbe-
stimmter Gesetze im Bereich des Umweltschutzes auf die sich aus
Art. 2 II 1 G G ergebende Schutzpflicht 126 des Staates zugunsten der
körperlichen Unversehrtheit der Bevölkerung stützen können. Auch
wenn man dem Gesetzgeber bei der Entscheidung, wie er dieser Pflicht
nachkommen will, einen erheblichen Spielraum 1 " einräumen wird müs-
sen - eine Reaktion mit Strafrechtsnormen wird nur in Extremfällen die
einzige Möglichkeit der Pflichterfüllung sein128 - , so wäre eine völlige
Untätigkeit auf der Gesetzgebungsebene nicht mit Art. 2 II 1 G G verein-
bar. Führt aber diese gesetzgeberische Aktivität im gegenwärtigen Zeit-
punkt notwendig zu noch unbestimmten N o r m e n , so muß das mangels
Alternativen hingenommen werden.
c) Der weitere Einwand gegen Strafvorschriften nach der Art von § 325
StGB erhebt sich gerade dann, wenn man die Tätigkeit der Verwaltungs-
behörde bei Erlaß des Verwaltungsaktes als Rechtsanwendung versteht.
Ist damit nicht die von Art. 92 G G den Richtern anvertraute Rechtsan-
wendung teilweise der Verwaltung überlassen worden? Schiebt sich
nicht die Exekutive als zweite Gewalt zwischen das Gesetz und die dritte
Gewalt 129 mit der Folge, daß die Verwaltung zumindest mittelbar
Rechtsanwendung auch im Strafrecht 130 , einem Kernbestand der Richter-
befugnis 131 , betreibt?
Die Entkräftung dieses Einwandes wird damit versucht, daß man den
Verwaltungsakt als vorzugswürdige Alternative zum unbestimmten
Rechtsbegriff ausgibt132. Uberlasse man die konkretisierende Verwirkli-
chung des Gesetzes nicht der Verwaltung, so müsse man das Strafgesetz
mit unbestimmten Rechtsbegriffen oder mit Verweisungen auf Spezial-
gesetze mit unbestimmten Rechtsbegriffen spicken. An dieser Argumen-
tation ist richtig, daß unbestimmte Rechtsbegriffe die richterliche
Rechtsanwendung und die Orientierungssicherheit des Bürgers er-
schweren.
126
Vgl. BVerfGE 49, 89 ff, 141; 53, 30 ff, 57; 56, 54 ff. - Zu den Grenzen dieser
Schutzpflicht s. Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, 1978, S.28.
127
Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 1985, S. 105.
12!
Vgl. zu einem solchen Pönalisierungsgebot BVerfGE 39, 1 ff, sowie Kühl, GA 1977,
364 f.
129
Vgl. die Formulierung bei Karpen (Fn. 79), S.235, der auf Art. 971 und 103 II G G
hinweist.
130
So wird dieser Einwand von Winkelbauer (Fn. 44), S. 35, formuliert.
151
Vgl. BVerfGE 22, 125 ff, 131; E 22, 311 ff, 317.
132
Vgl. hierzu sowie zu den im Text folgenden Ausführungen Winkelbauer (Fn. 44),
S. 36.
840 Kristian Kühl
Freilich hat man sich, was die Strafgesetze mit unbestimmten Rechts-
begriffen oder gar Generalklauseln in den Tatbestandsvoraussetzungen
angeht, sowohl im Hinblick auf den Grundsatz der Gesetzesbestimmt-
heit im Sinne von Erkennbarkeit des Strafbaren als auch im Hinblick auf
die Verantwortung des Strafgesetzgebers133 für den Bereich des Strafba-
ren weitgehend134 damit abgefunden, daß der Strafrichter die notwendige
Konkretisierung der unbestimmten Rechtsbegriffe vornimmt und damit
teilweise vom Gesetzgeber preisgebende Rechtssetzungsbefugnisse
wahrnimmt135. Und dies, obwohl man sieht, daß dadurch das normale
Ergreifungs- und Überführungsrisiko für den potentiellen Straftäter um
das Interpretationsrisiko vermehrt wird136.
Ernste verfassungsrechtliche Bedenken wurden jedoch dagegen geäu-
ßert, daß nunmehr durch die Neuregelung des § 153 a StPO im Bereich
der Bagatellkriminalität sogar dem Staatsanwalt als „Richter vor dem
Richter" 137 die Festlegung der Grenzen des Strafbaren überlassen wird.
Der Grund für die verfassungsrechtlich unterschiedliche Beurteilung der
Konkretisierung und damit teilweisen Normsetzung durch den Richter
einerseits und den Staatsanwalt andererseits ist darin zu sehen, daß nur
bei der Rechtsprechung die institutionellen Vorkehrungen wie richterli-
che Unabhängigkeit und Verfahrensgarantien geschaffen sind, die die
133 Nach Kunz, Das strafrechtliche Bagatellprinzip, 1984, S. 94, hat sich der Strafgesetz-
vgl. aber auch Runz (Fn. 133), S. 80 ff, 89 ff, und vor allem S. 103 ff, mit beachtlichen
Einwänden.
Probleme der Verwaltungsakzessorietät des Strafrechts 841
138
Vgl. Kausch (Fn. 137), S. 168 ff.
139
Vgl. allgemein dazu Lange, DVB1. 1981, 73 ff, der die Notwendigkeit der Informa-
tion über Normen betont, die in bestimmten Bereichen nur durch Einzelanordnungen
erreicht werden könne (S. 75); aus der strafrechtlichen Diskussion vgl. Backes, Strafrecht
als Sozialwissenschaft, Bielefelder jurist. Habilitationsschrift 1976, S. 194 ff, Kausch
(Fn. 137), S. 168, 184, Eser (Fn. 125) §1 Rdn. 23; kritisch aber Kunz (Fn. 133), S. 105 f.
140
A E - StGB, BT, Straftaten gegen die Person, 2.Halbbd., 1971, S.49ff, 51, 53; vgl.
Baumann, ZRP 1972, 51; Backes, JZ 1973, 340 ff.
141
Weiterführende Überlegungen finden sich bei Backes (Fn. 139), S. 200 ff; vgl. aber
den Einwand von Kunz (Fn. 133), S. 112 Fn. 243: auch Prüfstellen wären „Richter vor dem
Richter" und im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft keine Organe der Strafrechtspflege.
142
Vgl. aber Krusche, ZRP 1985, 307, der über eine öffentliche Anhörung der SPD-
Bundestagsfraktion vom 25. 7.1984 berichtet, in der das Umweltbundesamt als denkbare
Prüfstelle verworfen wurde.
1,3
Vgl. Kausch (Fn. 137), S. 174, zur Rechtsanwendungsgleichheit; anders aber Winkel-
bauer (Fn. 44), S. 36, mit dem Hinweis auf die Selbstbindung der Verwaltung.
842 Kristian Kühl
IV.
1. Erschien die besondere Bindung des Strafrechts an Einzelanordnun-
gen der Verwaltungsbehörden nach den bisherigen Überlegungen schon
deshalb problematisch, weil die Behörden bei ihrer auch für das Straf-
recht bedeutsamen - sie vervollständigen durch Erlaß des Verwaltungs-
akts den Tatbestand einer Strafvorschrift - Tätigkeit mehr oder weniger
Gestaltungsfreiheit haben, so verschärfen sich die Probleme, wenn diese
gestaltende Rechtsanwendung fehlerhaft verläuft, dieses fehlerhafte,
rechtswidrige Ergebnis aber dennoch für das Strafrecht, für den Straf-
richter verbindlich sein soll. „Verwaltungsrechts-Akzessorietät" hieße
dann „nicht, daß das Strafrecht nur rechtmäßigen Verwaltungsentschei-
dungen, sondern, daß es allein ,wirksamen' (also auch u.U. nach
Verwaltungsrecht fehlerhaften Rechtswidrigen') Akten der Verwaltung
Beachtung zu schenken hat"144. Das Strafrecht müßte dann eben aner-
kennen, daß es nun einmal die Verwaltung ist, die durch das „Setzen
ihrer Einzelakte (mit) darüber entscheidet, ob der Betroffene sich straf-
bar macht oder nicht" 145 . Dem Strafrecht wäre dann nicht nur das
„Wildern"146 im Verwaltungsrecht verboten, sondern es müßte jeden
„Behördenbefehl" sanktionieren147, womit z . B . das „Umweltschutz-
Strafrecht" in seinen verwaltungsaktakzessorischen Bestimmungen wie
§§325, 33012 StGB zu einer „After-Disziplin" 148 würde, ein Strafrecht,
das mit seinen „Blankett-Normen" möglicherweise nur „schlichten Ver-
waltungsungehorsam" bestraft14'.
Soweit die Verwaltung durch Genehmigungs- und Erlaubnisakte den
Bürger begünstigt, stellt sich die Frage, ob diese Akte unabhängig von
ihrer materiellen Rechtmäßigkeit allein aufgrund ihrer Wirksamkeit150
144 Horn, in: SK - StGB, Bd. II, 7 vor §324 (Stand 1985).
1,5 Tiedemann (Fn. 64), S. 43.
146 So Horn, N J W 1981, 3; ebenso Seier, J A 1985, 25, da nur dann „die wünschenswerte
Erfordernis der „Vollziehbarkeit" kritisch sieht; vgl. Knöpfte, BayVBl. 1982, 229.
Probleme der Verwaltungsakzessorietät des Strafrechts 843
151
Verwiesen sei auf die Antworten von Horn, N J W 1981, 3 ff, Winkelbauer (Fn.44),
S. 66 ff.
152
Auch Winkelbauer (Fn.44), S.40-66, widmet dieser Frage deutlich mehr Raum als
der hier offengelassenen. - Dötting, JZ 1985, 461, unterscheidet „zwei Konstellationen",
die der Sache nach den hier unterschiedenen „Fragen" entsprechen.
153
Horn, N J W 1981, 2.
154
Eine wertvolle Bereicherung erfährt die Diskussion durch die Monographie von
Winkelbauer (Fn. 44), der zu Recht davon ausgeht, „daß die Position der h. M. so nicht
hingenommen werden kann" (S.41). - Auch im Ergebnis die h . M . ablehnend Arnhold,
Die Strafbewehrung rechtswidriger Verwaltungsakte, 1978.
155
Zu Recht bezweifelt Cramer (Fn.91) 21 vor §324, ob die Grundsätze dieser
Entscheidung „sich ohne weiteres auf die §§ 324 ff übertragen lassen" ; auch nach Winkel-
bauer (Fn. 44), S. 42, steht diese Entscheidung einer anderen Lösung im Umweltstrafrecht
nicht entgegen. Eng an BGH St. 23, 91, orientiert, Sack, Komm. z. Umweltschutz-
Strafrecht (Jan. 1986), §325 Rdn.26.
154
§325 Anm. 2 c cc; ebenso jetzt Steindorf (Fn.49) §325 Rdn.27 und 36.
157
§125 Anm. 4 c.
158
So vor allem Lenckner, in: Schänke/Schröder (Fn.91) §125 Rdn. 32c.
159
Vgl. Meyer, Das neue Demonstrations- und Versammlungsrecht, 2. Aufl., 1986,
§25 Anm. 4 b, §26 Anm. 3 b, §29 Anm. 6 b.
844 Kristian Kühl
140
Vgl. schon Kühl, N J W 1986, 877.
161
Das Verdienst, die Aufmerksamkeit der Strafrechtswissenschaft auf diese Fragestel-
lung gelenkt zu haben, kommt vor allem Haaf, Die Fernwirkungen gerichtlicher und
behördlicher Entscheidungen, 1984, zu.
162
Vgl. Haaf (Fn. 161), S. 84 ff. - Vgl. aus öff.-rechtlicher Sicht Knöpfle, BayVBl. 1982,
226, mit Hinweis auf die Lehrbücher zum Allgemeinen Verwaltungsrecht von Mayer und
Maurer.
163
Vgl. Haaf (Fn. 161), S. 244-246.
164
Vgl. Bettermann, in: Die Grundrechte, Bd. III, 2. Halbbd., 1959, S. 902 ff.
165
Vgl. zur neueren Gesetzgebung, Schäfer, Strafprozeßrecht, 1976, Einl. Kap. 12
Rdn. 125, 126.
166
In Abgrenzung zu anderen Wirkungen, vor allem zur Gestaltungswirkung vgl. Haaf
(Fn. 161), S. 61 ff, 81 ff, 250 ff, sowie Ress/Hailhronner, AöR-Beiheft 1, 1974, S. 160 ff. -
Kritisch zu sog. streitentscheidenden Verwaltungsakten Achterberg, Allgemeines Verwal-
tungsrecht, 1982, S. 353 ff, der nur gestaltenden Verwaltungsakten auch bei Rechtswidrig-
keit eine Tatbestandswirkung zugesteht, S. 465 f. - Von „unentwirrbarer Gemengelage"
bei der Heranziehung der Begriffe „Tatbestands- und Feststellungswirkung" spricht
Knöpfle, BayVBl. 1982, 225.
Probleme der Verwaltungsakzessorietät des Strafrechts 845
172 Beachtet aber von Haaf (Fn. 161), S.258, sowie schon Ress/Hailbronner (Fn. 166),
S. 171.
175 Zur Verkehrsunterrichts-Vorschrift §48 StVO vgl. Mühlhaus/Janiszweski, StVO,
10. Aufl., 1984, §48 Anm.3, die die Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts .Vorladung'
als Tatbestandsmerkmal einordnen und eine spätere Aufhebung im Hinblick auf das
Bußgeldverfahren für unerheblich halten (3 b); in diesem Verfahren soll aber - interessan-
terweise - das Gericht nicht auf die Gültigkeitsprüfung des Verwaltungsakts beschränkt
sein, sondern den Verkehrsverstoß des Vorgeladenen unabhängig von der Verwaltungsbe-
hörde prüfen dürfen (3 a). - Vgl. aber Welp, Zwangsbefugnisse der Staatsanwaltschaft,
1976, S. 18 Fn.46, der die von der wohl h. L. vertretene mangelnde Nachprüfbarkeit
846 Kristian Kühl
S. 15 f, 8/3633, S. 27, sowie ausführlich Delling, J Z 1985, 466 f, der aber nur in bestimmten
Fällen rechtswidriger Verfügungen den Tatbestand des § 325 StGB verneint, und auch nur,
weil die Zuwiderhandlung kein „grob pflichtwidriges Verhalten" i.S.v. § 3 2 5 I V StGB sei.
178 Diese Formel könnte freilich vom Wortlaut her auch anders verstanden werden, vgl.
187 Ein Rechtfertigungsproblem sieht in diesen Fällen Rudolphi, NStZ 1984, 252; vgl.
auch Dölling, J Z 1985, 467, der Strafbarkeit bejaht, weil die von § 3 2 5 StGB intendierte
Warnfunktion der Verfügung erfüllt sei; der Zuwiderhandelnde habe somit Anlaß, sich
Klarheit über seine Pflichten zu verschaffen.
188 Horn, SK-StGB, 6 vor § 324, spricht vom Erfordernis, sich „doppelt rechtswidrig"
verhalten zu müssen, d.h. strafrechtlich und verwaltungsrechtlich. Kritisch wegen der
doppelten Einschränkung des Rechtsgüterschutzes Triffterer (Fn. 37), S. 96 ff.
m Winkelbauer (Fn. 44), S. 47.
Formelle Fehler könnten beim Vorliegen der Voraussetzungen von § 46 VwVfG
unberücksichtigt bleiben, da sie auch bei rechtsgutsschützenden Verwaltungsakten auftre-
Probleme der Verwaltungsakzessorietät des Strafrechts 849
1,5
Armin Kaufmann, JZ 1971, 576.
Der Begriff stammt von Armin Kaufmann, JZ 1971, 576.
"7 Zuwiderhandlungen gegen Einzelanordnungen der Verwaltung sind stra/bewehrt
beispielsweise in: §13 Bundes-ApothekerO, §34 Nr. 4 AsylverfahrensG, §47 I Nr. 4
AusländerG, § 148 GewerbeO, § 87 JugendwohlfahrtsG, §§59, 62 LuftverkehrsG, §64 II
Nr. 4 BundesseuchenG, §20 I Nr. 1, 2 u. 4 VereinsG, §§25 I Nr. 2, 26 Nr. 1 Versamm-
lungsG, §§ 19 I, 20 I Nr. 1 WehrstrafG, § 54 I Nr. 1 ZivildienstG. - Sehr viel häufiger sind
sie bußgeldbewehrt, vgl. nur §18 I Nr. 4 AbfallbeseitigungsG, §25 II Nr. 3 ArbeitszeitO,
§97 Nr. 6, 25 ArzneimittelG, §46 I Nr. 3 AtomG, §48 I Nr. 3-5 AusländerG, §33 II
Nr. 4 AußenwirtschaftsG, §23 I Nr. 3 b, 6, 9 BundesfernstraßenG, §26 ChemikalienG,
§ 27 II Nr. 4 a, 10 FleischbeschauG, § 28 I Nr. 2 GaststättenG, §§ 143-147 GewerbeO, § 62
Bundes-ImmissionsschutzG, §54 I Nr. 5 LebensmittelG, §58 I Nr. 1, 11 LuftverkehrsG,
§69 I Nr. 4 BundesseuchenG, §18 II Nr. 3 TierschutzG, §10 I Nr. 2 UWG, §29
VersammlungsG, §55 I Nr. 1, 2 WaffenG, §3 I WirtschaftsstrafG.
1,8
Ablehnend für das Gebiet des Wirtschaftsverwaltungsrechts Berg, WiVerw. 1982/3,
S. 187.
lw
Zu dieser praktischen, nicht aber dogmatisch geforderten Einschränkung des Kreises
„wirksamer" (s.o. Fn. 150) Verwaltungsakte s. Berg, WiVerw. 1982/3, S. 177f.
200
BGH NJW 1984, 65 (Strafrichter muß Anordnung nach Wortsinn und Zweck
auslegen); BGHSt. 31, 314 ff, 315 („Zuwiderhandlungen gegen Verwaltungsakte können
auch dann strafbar sein, wenn diese zwar fehlerhaft, aber gleichwohl gegenüber dem
Betroffenen wirksam sind"); BGH bei Holtz MDR 1982, 970 (Erlaß des Finanzministers
Probleme der Verwaltungsakzessorietät des Strafrechts 851
w e r d e n . D i e N o t w e n d i g k e i t eines V e r b o t s jeglicher V e r w a l t u n g s w i d r i g -
keit w u r d e deshalb a u c h bisher v o r allem für das Verkehrsstrafrecht20U
m i t d e m A r g u m e n t gerechtfertigt, daß d o r t z u r V e r m e i d u n g eines für
alle V e r k e h r s t e i l n e h m e r gefährlichen V e r k e h r s c h a o s aus ü b e r g e o r d n e t e n
Interessen a u c h b u ß g e l d - u n d s t r a f b e w e h r t e r e c h t s w i d r i g e V e r k e h r s z e i -
chen 2 0 2 w e g e n ihrer faktischen Ordnungsfunktion Beachtung finden
m ü ß t e n . O b das n i c h t n u r eine H o r r o r v i s i o n ist, m u ß m a n z u m i n d e s t
fragen dürfen 2 0 3 : A b g e s e h e n d a v o n , d a ß m a n bei nichtigen V e r k e h r s z e i -
chen 2 0 4 das angeblich z u e r w a r t e n d e C h a o s a n s c h e i n e n d h i n n e h m e n will,
sind die als r e c h t s w i d r i g e m p f u n d e n e n V e r k e h r s z e i c h e n w o h l n i c h t das
abstellen, finden sich beispielsweise in: §13 Bundes-ApothekerO, §34 Nr. 4 Asylverfah-
rensG, §47 I Nr. 4 AusländerG, §27 I Nr. 2 ChemikalienG, §20 I Nr. 1, 2 u. 4 VereinsG,
§ 26 Nr. 1 VersammlungsG. - Zum Merkmal der „Vollziehbarkeit" bei straf- und bußgeld-
bewehrten Verwaltungsakten vgl. in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, fol-
gende Kommentierungen: A 167, Pelchen, 2 zu §13 Bundes-ApothekerO; A217, Fuhr-
mann, 3c zu §33 AußenwirtschaftsG; U 4 3 Fuhrmann, 3 b zu § 10 UWG; V55, Meyer, 3 b
bb zu §26 VersammlungsG; W98, Meyer, 5 zu §3 WirtschaftsstrafG. Zur verkehrsrechtli-
chen Gesetzgebung vgl. Janiszewski (Fn.33), 1984, Rdn. 35 a.
2011 Vgl. Cramer, Straßenverkehrsrecht I, 2. Aufl. 1977, §39 Rdn. 6, sowie Cramer, in:
Rotlicht der Ampel oder das Stoppschild, sondern der für Behördenan-
gestellte reservierte Parkplatz; schließlich fordert § 1 StVO 205 Rücksicht
auf andere Verkehrsteilnehmer auch von Rechthabern, die die Rechtmä-
ßigkeit von Verkehrszeichen anzweifeln.
Ahnlich kritische Fragen muß sich auch das verwaltungsaktakzessori-
sche Umweltstrafrecht gefallen lassen: Kann man z . B . die Strafbarkeit
des Betreibens einer Lärm erzeugenden landwirtschaftlichen Maschine
oder gar eines Rasenmähers entgegen einer rechtswidrigen Allgemein-
verfügung mit dem Argument rechtfertigen, Verstöße gegen Verwal-
tungsakte aus dem Bereich des Umweltschutzes seien typischerweise
gefährlich für Umweltschutzgüter? Rechtfertigung schafft hier nur das
von der Verwaltungswidrigkeit unabhängige Erfordernis der Eignung
zur Gesundheitsschädigung in §3251 Nr. 2 StGB, dessen Erfüllung aber
zur Tatbestandsmäßigkeit gerade nicht ausreichend sein soll.
Die Auffassung des Ungehorsams gegen fehlerhafte Einzelanordnun-
gen als besondere Form einer abstrakten Rechtsgutsgefährdung läßt sich
möglicherweise bei der Freisetzung ionisierender Strahlen (§311 d StGB)
eher halten, sie müßte aber auch dort erst begründet werden206. Nur
wenn diese Begründung gelingt, kann der fehlerhafte Verwaltungsakt
ausnahmsweise ein verfassungsrechtlich haltbares, unrechtsbegründen-
des Tatbestandsmerkmal in einer Strafvorschrift sein. Lediglich verwal-
tungsrechtlicher Ungehorsam (der möglicherweise beim Verstoß gegen
ein vollziehbares, aber rechtswidriges Hausverbot in Form eines Ver-
waltungsaktes unter dem falschen Etikett ,Hausfriedensbruch' bestraft
wird207) wäre keine ausreichende Grundlage für einen Straftatbestand, da
die Freiheit des einzelnen durch eine Strafdrohung nur zum Schutz
wichtiger Rechtsgüter eingeschränkt werden darf208.
205 Vgl. Schenke, J R 1970. 454. - Zwar ist § 1 I S t V O selbst „wegen seiner Unbestimmt-
heit und vorwiegend programmatischen Bedeutung nicht bußgeldbewehrt ( M ü h l h a u s /
Janiszewski, Fn. 173, § 1 A n m . 1), jedoch kann die nach § 4 9 I N r . 1 S t V O bußgeldbe-
wehrte Vorschrift des § 1 II S t V O Anwendung finden, „wenn mangelnde Vorsicht oder
fehlende Rücksicht zu einer Gefahr oder Schädigung für andere führt" ( C r a m e r , Fn. 201 a,
§ 1 Rdn. 15); Zweifel an der ausreichenden Bestimmtheit von § 1 II StVO im Hinblick auf
Art. 103 II G G hat das BVerfG ( N J W 1969, 1164 Ls = D A R 1968, 329) zurückgewiesen;
zust. Cramer, a. a. O . , der die Unentbehrlichkeit dieser Grundregel aus der Notwendig-
keit zur Erfassung der vielfältigen Lebensverhältnisse ableitet.
206 Vgl. den interessanten Versuch von Dötting, J Z 1985, 462 ff, § 3 2 7 I 2 Alt. StGB
„formell", aber mit „materiellem B e z u g " zu begründen.
207 Vgl. Lenckner, in: Schönke/Schröder ( F n . 9 1 ) § 1 2 3 Rdn. 2 0 ; Rudolphi, in: SK-
StGB, Bd. II, § 1 2 3 Rdn. 35 a (Stand 1982); Bernsmann, Jura 1981, 4 6 9 f ; Schnieder JuS
1982, 494. - Aus der Rspr. s. B G H N J W 1982, 189. - Aus öff.-rechtl. Sicht Meyer/Borgs,
VwVfG, 2. Aufl., 1982, § 4 3 Rdn. 9.
208 Vgl. Kühl, N J W 1986, 874 ff; Otto, Grundkurs Strafrecht - Allgemeine Strafrechts-
lehre, 2. Aufl., 1982, S. 11.
Probleme der Verwaltungsakzessorietät des Strafrechts 853
Vollzugsakt oder ein formelles Ordnungsinteresse bewehren, soll hier nicht entschieden
werden; vgl. zu § 113 StGB Winkelbauer (Fn.44), S.47; Kritisch zu formellen Ungehor-
samskonzeptionen Haaf (Fn. 161), S.261 ff; Tiedemann (Fn.46), S. 114, 257, 277; s. aber
Bölling, J Z 1985, 462 ff, mit Hinweis auf die sog. „reinen Ungehorsamsdelikte" bei
Binding (Fn.25 auf S.463). - t ) a ß der Gesetzgeber davon ausgehe, auch formalen
Ungehorsam ahnden zu dürfen, behaupten Kääb/Rösch, Bayerisches Straf- und Verord-
nungsgesetz, 2. Aufl. 1967, Art. 4 Rdn. 1. - Vgl. aus öff.-rechtl. Sicht Ress/Hailbronner
(Fn. 166), S. 170; Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Aufl. 1974, S. 93.
854 Kristian Kühl
218 In diesem Sinne Cramer und Lenckner, in: Schönke/Schröder (Fn.91) 21 vor §324
und 130a vor §32; vgl. jetzt auch Steindorf (Fn.49) §325 Rdn.38, der auch noch die
§§ 153, 153 a StPO ins Gespräch bringt.
J
" Cramer ebd.; vgl. Jescheck (Fn.57), S.448.
220 Näher zu dieser Konzeption Winkelbauer (Fn. 44), S. 54 ff.
221
Tschira/Schmitt-Glaeser, Verwaltungsprozeßrecht, 6. Aufl., 1983, S.44; Herzog, in:
Maunz/Dürig, G G , Art. 20 V Rdn. 62-64, sowie Art. 97 Rdn.30, 31; Raab!Rösch
(Fn. 212) Einf. Rdn. 175; bzgl. des Steuerbescheids Kirchhof, NJW 1985, 2983; 1986, 1316.
- Für eine Rechtmäßigkeitskontrolle bei Verwaltungsakten, die ein materielles Interesse
schützen, Wolff/Bachof (Fn.212), S. 93. Weitergehend für die Beurteilungsfreiheit des
Strafrichters Berg, WiVerw. 1982/3, S. 184; Kopp, V w G O , 6. Aufl., 1984, §113, Rdn. 7;
nur in Ausnahmefällen wie §113 StGB Erichsen/Martens, in: dies. (Hrsg.), Allgemeines
Verwaltungsrecht, 7. Aufl., 1986, S.210.
222
Stern, FS f. Lange, 1976, S.864; vgl. auch Berg, WiVerw. 1982/3, S. 171.
856 Kristian Kühl
V.
Erscheint nach alledem die Anerkennung der strafrichterlichen Recht-
mäßigkeitskontrolle gegenüber verwaltungsbehördlichen Einzelanord-
nungen die nur in anders nicht zu bewältigenden Fällen gewählte
Verwaltungsaktakzessorietät rechtsstaatlich erträglich zu machen, so
kommen im Bereich des Umweltschutzes neue, vorwiegend kriminalpo-
litische Bedenken auf. Bringt man - wie z.B. in §325 StGB - die
Strafbarkeit derart in Abhängigkeit von verwaltungsrechtlichen Vorent-
scheidungen, schafft man die Gefahr, daß strafrechtlicher Umweltschutz
mangels umweltschützender Aktivitäten der Verwaltung weitgehend
nicht stattfindet. Die Realisierung dieser Gefahr ist sogar wahrscheinli-
cher als die oben behandelte Gefahr einer Überdehnung des strafrecht-
lichen Umweltschutzes infolge der Verwaltungsaktakzessorietät.
Wie empirische Untersuchungen ergeben haben, herrscht im Bereich
der für den Umweltschutz zuständigen Verwaltung ein beträchtliches
Vollzugsdefizit230, das sich im verwaltungsabhängigen Strafrecht fort-
setzt231. Die „Entstehung straffreier Räume" 232 wird gerade dadurch
begünstigt, daß die Behörden vor O r t teilweise derart interessenblok-
kiert sind, daß sie aus Furcht vor unbequemen Entscheidungen gesetz-
lich vorgeschriebene, notwendige Eingriffe zum Schutze der Umwelt
unterlassen, wenn sie anderenfalls Arbeitsplätze oder Steuereinnahmen
der Gemeinden gefährden würden 233 . Entschließt sich die Verwaltungs-
behörde nicht zu einer vollziehbaren Anordnung oder Untersagung
gegenüber dem Anlagenbetreiber, oder unterläßt sie es, die erteilte
Genehmigung mit den zur Verhinderung von schädlichen Umweltein-
wirkungen erforderlichen Auflagen zu versehen, so scheitert eine Straf-
barkeit des Anlagenbetreibers bereits an der fehlenden Verletzung einer
229
Vgl. das entsprechende „Bemerken" des Vorprüfungsausschusses des BVerfG's,
N J W 1985, 1950, zu der §262 StPO entsprechenden Ermessensvorschrift des §396 A O .
230
Vgl. Mayntz u.a., Vollzugsprobleme der Umweltpolitik, 1978; Bohne, Der infor-
male Rechtsstaat, 1981; Herrmann, ZStW 91 (1979) 290f; Hoppe, W D S t R L 38 (1980)
216 ff; Albrecht, MschrKrim. 1983, 278 ff; Heine, GA 1986, 71; Treiber, RuP 1986, 20 ff.
231
Vgl. Hümbs-Krusche/Krusche, Die strafrechtliche Erfassung von Umweltbelastun-
gen, 1982, S.20f, 285ff; Rudolphi, NStZ 1984, 249, 250f; Dötting, J Z 1985, 469;
Winkelhauer, NStZ 1986, S. 149. - Vgl. zur registrierten Umweltkriminalität Albrecht/
Heine/Meinberg, ZStW 96 (1984) 961 ff.
232
Lackner (Fn. 3) 1 b bb vor § 324.
233
Vgl. Maihof er, in: Gesellschaft für Umweltrecht (Hrsg.), Dokumentation zur wiss.
Fachtagung 1979, 1980, S. 126.
858 Kristian Kühl
234 Backes, ZRP 1975, 2 3 0 f ; Maihofer (Fn.233), S. 132f; Tiedemann (Fn.64), S.43; s.
jetzt auch Krusche, ZRP 1985, 306.
235 Vgl. Albrecht/Heine/Meinberg, ZStW 96 (1984) 951 f; Scheu, N J W 1983, 170 ff, der
auch nach schon bestehenden rechtlichen Anzeigepflichten fragt. - Zur Problematik der
Offenbarungspflichten von Herstellern und Anlagenbetreibern und deren eventueller
Strafbarkeit vgl. Hahn, Offenbarungspflichten im Umweltschutzrecht, 1984, S. 140 ff.
236 Vgl. Winkelbauer, NStZ 1986, 150 ff. - Vgl. auch Grünert, Städte- und Gemeinde-
bund 1985, 91 f, zu einem (S. 69 f) mitgeteilten Bescheid des Generalstaatsanwaltes Hamm
v. 2 3 . 8 . 1 9 8 3 (2 Zs 1636/83).
237 Tiedemann (Fn. 64), S. 44 f, vgl. § 329 a aus dem „Gegen-Entwurf" von Triffterer
(Fn. 37), S.270f.
238 BT-Drucks. 8/3633, S.21; vgl. Triffterer (Fn.37), S. 146 ff. - Aus der neuesten
kriminalpolitischen Diskussion vgl. den Bericht über die Sitzung des Länderausschusses
für Immissionsschutz v. 9./10.1985, in: U P R 1986, S. 23 ff.
239 Vgl. Horn, U P R 1981, 363 f; Delling, J Z 1985, 468; für eine engere Bindung an das
denkbar.
Probleme der Verwaltungsakzessorietät des Strafrechts 859
2,1 Vgl. jedoch die Forderung des „Polizeipraktikers" Steinke, Kriminalistik 1982, 528,
246 Tiedemann (Fn.64), S.23; zust. Maihofer (Fn.233), S. 128 ff, Eser, in: Mar kl
(Hrsg.) Natur und Geschichte, 1983, S.387; abl. Dreher/Tröndle (Fn. 12) §325 Rdn. 11;
vgl. neuestens Meinberg, NStZ 1986, 319.
247 BVerwG NJW 1978, 1450 ff; vgl. Breuer, DVBD 1978, 34 und 559 ff; zur Kritik vgl.
Schmidt/Assmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 IV Rdn. 206, mit zahlreichen Nachwei-
sen. - Möglicherweise kommt Verwaltungsvorschriften, wenn sie nur „Unwesentliches"
regeln, sogar Rechtsnormqualität mit Außenwirkung zu, vgl. BVerfG E 40, 237ff, 254;
Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 2. Aufl., 1981, S. 396; kritisch dazu
Schenke, FS f. Fröhler, 1980, S. 104.
248 Dreher/Tröndle (Fn. 12) § 325 Rdn. 11 : nicht verbindliche Auslegungshilfen; ebenso
Cramer, in: Schänke/Schröder (Fn. 91) 182 vor § 15. - Vgl. auch Herrmann, ZStW (1979)
304; Rudolphi, NStZ 1984, 251; Schünemann, ZfBauR 1980, 161, der §323 StGB als
Modell empfiehlt, wobei die Verweisung auf die „anerkannten Regeln der Technik" als
Umschreibung der vom Richter vorzunehmenden Feineinstellung der Sorgfaltsanforde-
rungen verstanden wird.
249 Vgl. Schenke, NJW 1980, 746, sowie ders., FS f. Fröhler, 1980, S. 103 ff, aber auch
S. 106 Fn. 56: selbst strafbewehrte Verwaltungsvorschriften seien möglich. - Vgl. aber
auch die kriminalpolitischen Vorschläge von Krusche, ZRP 1985, 307, sowie Meinberg,
RuP 1984, 187. - Dazu, daß technische Normen auch nicht durch Verweisung in
Rechtsnormen auf sie zu Rechtsnormen werden, vgl. Lenckner, FS f. Engisch, 1969, 494;
vgl. jetzt auch Schneider, Gesetzgebung, 1982, S. 204 ff.
250 Hofmann, UPR 1984, 78; Schmidt-Aßmann (Fn.247) Art. 19 IV Rdn. 205.
251 Dynamische Verweisungen auf Regelungen außerstaatlicher Stellen sind grundsätz-
lich nicht verfassungsgemäß, s. BVerfGE 64, 208 ff = NJW 1984, 1225 f; vgl. aber die
Differenzierung zwischen verfassungswidrigen normergänzenden und verfassungsgemä-
ßen normkonkretisierenden dynamischen Verweisungen bei Verweisungen auf technische
Regeln durch Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, 1979, S.385f, 395 ff, zust.
Krey, EWR 2 (1981) 156 f.
252 Schmidt-Aßmann, ebd.; vgl. auch Nicklisch, NJW 1982, 2635, zur „Ergänzungs-
funktion" der Bezugnahme auf den „Stand der Technik".
Probleme der Verwaltungsakzessorietät des Strafrechts 861
scheidet 2 ", so ist seine Verantwortung für die von der Exekutive oder
außerstaatlichen Stellen übernommenen technischen Aussagen sicherge-
stellt254. Gleichzeitig ist die Kompetenz des Strafrichters zur Uberprü-
fung der Rechtsverordnung außer Zweifel, auch wenn diese Überprü-
fung wie jede gerichtliche Kontrolle von Rechtsverordnungen 255 einen
gerichtsfreien Beurteilungsspielraum 256 bzw. das normsetzende Ermes-
sen257 des Verordnungsgebers beachten muß. Auf diese Weise würde
schließlich der Sachverstand der Exekutive doch in einer Weise ins
Strafrecht einfließen, die weniger bedenklich erscheint, als wenn der
Strafrichter jeder „sachverständigen" Einzelanordnung einer Verwal-
tungsbehörde folgen müßte, und auch auf eine allgemeinere (i. S. v.
Gleichheit schaffende) Weise, als wenn der Strafrichter angesichts unkla-
rer Tatbestände zur Festlegung der Grenzwerte und damit des Strafbar-
keitsbereichs jeweils einen Sachverständigen einschalten müßte. Schließ-
lich wäre der Strafrichter auch nicht dabei alleingelassen, die „Regeln der
Technik" wie z . B . in §323 S t G B ohne Verrechtlichungsakt durch die
sachverständigen Oberbehörden in konkrete Sorgfaltsanforderungen
umzusetzen 258 .
Angesichts dieser Vorteile und der zuvor angesprochenen Sicherhei-
ten erscheint eine Abhängigkeit des Strafrechts von untergesetzlichen
N o r m e n der Exekutive in den Bereichen akzeptabel, in denen auf der
(Straf- und Umweltverwaltungs-)Gesetzesebene eine Bestimmtheit der
Verhaltensge- und -verböte nicht zu erreichen ist.
253 Zur Verordnungsgewalt als Feind des Rechtsstaats vgl. Leisner, J Z 1977, 541. - In
* Der Text gibt im wesentlichen unverändert einen Vortrag wieder, den Verfasser am
1. Oktober 1985 im Rahmen eines gewässerstrafrechtlichen Symposions gehalten hat.
864 Hans-Joachim Rudolphi
' Horn, in: SK, 3. Aufl. 1985, §324 Rdn.2a; Rudolphi, Dünnebier-Festschr. 1982,
561.
2 Vgl. dazu Rudolphi, in: SK, 4. Aufl. 1986, Rdn.41 vor § 1 m. w . N .
Strafrechtliche Verantwortlichkeit für Gewässerverunreinigungen 865
3 So z.B. Horn, in: SK, §324 Rdn.2a; Cramer, in: Schönke/Schröder, StGB, 21. Aufl.
1982, §324 Rdn.10.
4 Vgl. dazu Rudolphi, in: SK, Rdn. 52 ff vor § 1 m. w. N.
866 Hans-Joachim Rudolphi
5 Vgl. dazu eingeh. Frisch, Vorsatz u. Risiko, 1983, 118 ff; Rudolphi, Jescheck-
Festschr. 1985, 572.
' S. dazu näher Rudolphi, in: SK, Rdn. 57ff vor § 1.
Strafrechtliche Verantwortlichkeit für Gewässerverunreinigungen 867
8 Vgl. dazu und zum Folgenden Roxin, Täterschaft u. Tatherrschaft, l.Aufl. 1963,
c) Möglich und zulässig ist es, daß der Betriebsinhaber bzw. die Organe
des Betriebsinhabers diese ihnen als Garanten obliegende Aufgabe zur
Überwachung ihres Betriebes als Gefahrenquelle für die Gewässerrein-
heit nachgeordneten Bediensteten übertragen. In der Praxis geschieht
dies ausdrücklich oder auch stillschweigend in vielfältiger Weise und in
abgestufter, zunehmend spezialisierender Form. Durch diese einver-
ständliche Übertragung der Garantenaufgaben wird der Betraute zwar
zum Garanten, doch wird der Übertagende dadurch nicht frei von
jeglicher Verantwortung. Fällt der Betraute als Garant aus oder kommt
er seinen Garantenpflichten nicht nach, so bleibt auch der Übertragende
als Garant weiterhin verantwortlich. Ihm verbleibt die Position eines
subsidiären Garanten, so daß er auch stets für eine sorgfältige Auswahl
und Kontrolle des von ihm mit der Wahrnehmung der Garantenaufgabe
Betrauten haftet. Nicht selten ergibt sich daher, daß in einem Unterneh-
men zur Überwachung der Gefahrenquelle „Abwasser etc." mehrere
Personen in abgestufter Form und in bestimmter Rangfolge als Garanten
verantwortlich sind, nämlich neben dem Betriebsinhaber der Werkslei-
13 Jescheck, Allg. T., 508f; Rudolphi, in: SK, §13 Rdn.27ff; Stree, in: Schönke/
Schröder, § 13 Rdn. 43 f jew. m. w. N.
Strafrechtliche Verantwortlichkeit für Gewässerverunreinigungen 875
14
So auch Cramer, in: Schönke/Schröder, §324 Rdn. 17; Steindorf, in: LK, 10. Aufl.
1986, §324 Rdn. 49.
Strafrechtliche Verantwortlichkeit für Gewässerverunreinigungen 877
15 So z.B. Dahs NStZ 1986, 1 0 0 f ; Horn, in: SK, § 3 2 4 Rdn. 11; Sack, Umweltstraf-
recht, 1984, § 3 2 4 Rdn. 196; Cramer, in: Schönke/Schröder, § 3 2 4 Rdn. 17.
16 So z. B. Bickel Z f W 1979, 148; Dreher/Tröndle, § 324 Rdn. 9; Sander Natur u. Recht
1985, 55; Steindorf, in: LK, § 3 2 4 R d n . 4 9 ; Truxa Z f W 1980, 224.
17 Vgl. jed. A G Frankfurt NStZ 1986, 74 f.
878 Hans-Joachim Rudolphi
18 Vgl. dazu a. Truxa ZfW 1980, 224; Steindorf, in: LK, §324 Rdn. 49 und Cramer, in:
Schönke/Schröder, § 324 Rdn. 17, der daraus folgert, daß der Gewässerschutzbeauftragte
nur Gehilfe sein könne. Dies ist jedoch verfehlt, da Beihilfe eine vorsätzliche Haupttat
voraussetzt und es an dieser gerade fehlt, wenn der Gewässerschutzbeauftragte seine
Pflicht zur Information des betrieblichen Garanten nicht erfüllt hat. Gegen Cramer auch
Horn, in: SK, §324 Rdn. 11.
Strafrechtliche Verantwortlichkeit für Gewässerverunreinigungen 879
vor allem das Bedürfnis der Bürger, die Rechtmäßigkeit der Abwasser-
einleitung schon vor ihrer tatsächlichen Vornahme zu klären22.
Bei der behördlichen Erlaubnis handelt es sich mithin um die auch für
den Strafrichter verbindliche Entscheidung eines Interessenwiderstreits
durch die fachlich kompetente und gesetzlich legitimierte Behörde. Sie
entfaltet daher grundsätzlich eine die Abwassereinleitung rechtferti-
gende Kraft. Vorausgesetzt ist dabei nach der Rechtsprechung und
herrschenden Lehre für ihre rechtfertigende Wirkung lediglich ihre
verwaltungsrechtliche Wirksamkeit, nicht hingegen ihre materielle
Rechtmäßigkeit. Eine Ausnahme gilt insoweit lediglich für durch Täu-
schung, Drohung oder Bestechung erlangte Erlaubnisse 23 .
29 Vgl. dazu bereits ausführlich Rudolpbi ZfW 1982, 204ff; ebenso jetzt a. Horn, in:
SK, §324 Rdn. 8; Lackner, §324 Anm. 5 a aa; Cramer, in: Schönke/Schröder, §324
Rdn. 12; Steindorf, in: LK, §324 Rdn. 84.
884 Hans-Joachim Rudolphi
ten des Bundes und ist dort wie folgt definiert: „Der festgesetzte Wert ist einzuhalten. Er
gilt auch als eingehalten, wenn das arithmetische Mittel der Ergebnisse aus den letzten fünf
im Rahmen der staatlichen Gewässeraufsicht durchgeführten Untersuchungen diesen Wert
nicht überschreitet. Untersuchungen, die länger als drei Jahre zurückliegen, bleiben
unberücksichtigt."
52 Vgl. dazu einerseits Papier a. a. O., 37ff und andererseits Rudolphi ZfW 1982, 207f.
Strafrechtliche Verantwortlichkeit für Gewässerverunreinigungen 887
5
Hans Schultz, Einführung in den allgemeinen Teil des Strafrechts, 4. Aufl., Bern
1982, 1. Band, §3111, S.49; 2. Band, § 3 0 1 1 1 f, S. 69 f.
4 Siehe Hans Schultz, Notwendigkeit und Aufgaben der dritten Teilrevision des
Schweizerischen Strafgesetzbuches, ZStrR 88 (1972) 225; ders., Vierzig Jahre schweizeri-
sches Strafgesetzbuch, ZStrR 99 (1982) 26-32.
5 So Günter Stratenwerth, Strafrechtliche Maßnahmen an geistig Abnormen, ZStrR 89
(1973) 131; Peter Noll, Die Arbeitserziehung, ibid. 149; Peter Albrecht, Die allgemeinen
Voraussetzungen zur Anordnung freiheitsentziehender Maßnahmen gegenüber erwachse-
nen Delinquenten, Basel, Frankfurt a. M. 1981.
6
Caritas Schweiz, Reformprogramm zum schweizerischen Strafwesen, Luzern 1983.
7 So die Motion von Nationalrat Longet vom 2 1 . 3 . 1 9 8 5 , die beschleunigte Einführung
» BB1. 1 9 8 5 II 1 0 0 9 .
' Hans Schultz, B e r i c h t und V o r e n t w u r f z u r Revision des Allgemeinen Teils des
schweizerischen Strafgesetzbuches, M ä r z 1 9 8 5 .
10 Schultz ( A n m . 3 ) , l . B a n d , § 4 1 1 1 , 2, S . 5 2 / 3 ; Günter Stratemverth, Schweizerisches
Strafrecht, Allgemeiner Teil I : D i e Straftat, B e r n 1 9 8 2 , R d n . 8 zu § 4 .
892 Hans Schultz
nahme an einer Auslandstat, VE Art. 3 Ziff. 2, und eine Einschränkung des Ubiquitäts-
prinzips, VE Art. 7 Abs. 1.
12 So schon Strafgesetz von 1803 und 1953 ; Theodor Rittler, Lehrbuch des österreichi-
schen Strafrechts, Allg. Teil, 2. Aufl., Wien 1954, §811, S.44; jetzt §65.
13 Zu Thema IV Ziff. 6, ZStrW 97 (1985) 748.
IV 193, E. 3 b.
, s Beschlüsse der Expertenkommission für die Teilrevision des Strafgesetzbuches
(Bereinigte Fassung der Redaktionskommission), 8.4.1959, Art. 26bis.
16 VE Art. 10, nach dem Vorbild von A E § 12 gebildet.
Probleme einer Revision des Allg. Teils des Schweiz. StGB 893
17
Bis jetzt nur Thurgauer Strafprozeßordnung vom 30.6.1970, §36 Abs. 1.
18
SVG Art. 24 Abs. 1, IRSG Art. 23.
" Conseil de l'Europe, Rapport sur la décriminalisation, Strasbourg 1980, 6.2.8, S. 65.
Die von Jürgen Baumann et al., Alternativ-Entwurf, Novelle zur Strafprozeßordnung,
Strafverfahren mit nichtöffentlicher Hauptverhandlung, Tübingen 1980, 6, am Verfahren
gemäß S t r P O §153 a geübte Kritik trifft die „Diversion" ebenfalls.
20
Siehe die Beispiele von Louis Kos-Rabcewicz-Zubkowski, General Report, Rev. int.
D r . pén. 54 (1983) 896. Kritisch z u m Ablenkungsverfahren auch Hans-Jürgen Kerner
(Hrsg.), Diversion statt Strafen?, Probleme und Gefahren einer neuen Strategie strafrecht-
licher Sozialkontrolle, Heidelberg 1983.
894 Hans Schultz
les), Juin 1983, Art. 39 ff, der nur Strafen kennt und die ganze Problematik dem Vollzug
zuweist.
22 Hellmuth Mayer, Strafrechtsreform für heute und morgen, Berlin 1962, 140.
23 Siehe Günter Stratenwerth, Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips, Karls-
ruhe 1977, bes. 42 f, aber auch Karl Lackner, Uber neue Entwicklungen in der Strafzumes-
sungslehre und ihre Bedeutung für die richterliche Praxis, Karlsruhe 1978.
24 § 56f Abs. 2, Schweiz. StrGB Art. 41 Ziff. 3 Abs. 3.
25 Der Freiheitsstrafe kommt nur noch im System der Strafen der Vorrang zu, in der
StGB § 42, nach Wiedergutmachung, wenn der Täter eine besondere Anstrengung leistete,
oder entsprechend § 60.
Probleme einer Revision des Allg. Teils des Schweiz. StGB 895
h o h e r A r b e i t s l o s i g k e i t z u w a g e n ist 27 , g a n z a b g e s e h e n d a v o n , d a ß d a s
schweizerische Jugendstrafrecht diese Sanktion schon kennt2'. Alles
hängt davon ab, daß die K a n t o n e , nicht zuletzt mit Hilfe privater
O r g a n i s a t i o n e n 2 9 , die e r f o r d e r l i c h e n M ö g l i c h k e i t e n s o z i a l e r u n d i n d i v i -
dueller Hilfeleistung ausfindig m a c h e n u n d den V o l l z u g dieser Sanktion
sorgfältig organisieren30.
Als nächstschwerere S t r a f e ist G e l d s t r a f e z u v e r h ä n g e n nach dem
S y s t e m d e r T a g e s b u ß e , das d e m V o r b i l d d e r nordischen L ä n d e r fol-
gend 3 1 in d e n e u r o p ä i s c h e n S t r a f g e s e t z e n e i n e n w a h r e n S i e g e s z u g a n g e -
t r e t e n hat 3 2 . A u f die U m w a n d l u n g s s t r a f e w i r d n i c h t v e r z i c h t e t w e r d e n
k ö n n e n 3 3 , d o c h soll sie j e d e r z e i t , selbst w ä h r e n d d e s V o l l z u g e s , d u r c h
Bezahlung abgewendet werden können34.
F ü r V e r k e h r s d e l i n q u e n t e n s i e h t V E A r t . 3 7 ein F a h r v e r b o t v o n e i n e m
M o n a t bis z u d r e i J a h r e n m i t d e r M ö g l i c h k e i t d e s b e d i n g t e n V o l l z u g e s
v o r , d a s , u m A b g r e n z u n g s s c h w i e r i g k e i t e n z u v e r m e i d e n , d e n bis j e t z t
30 Dies betont ebenfalls Monique Gisel-Bugnion, Punir sans Prison. Quelques sugges-
tions, Genève 1984, 130, die zudem weitere Möglichkeiten solcher Arbeit nennt, 119.
" Zur Geschichte der Tagesbuße Gerhardt Grebing, Die Geldstrafe in rechtsverglei-
chender Darstellung, 1251, in Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und
ausländischen Recht, Baden-Baden 1978. In die Richtung der Tagesbuße zielte der
Vorschlag von Carl Stooss, Bericht über den Vorentwurf zu einem Schweizerischen
Strafgesetzbuch nach den Beschlüssen der Expertenkommission, Bern 1899, 55/6.
32 StGB §40, Österreich §19, Frankreich CP Art. 43-8, 43-9, Portugal Art. 40 Abs. 1
zwangsweises Abverdienen vorsah, ferner Stooss (Anm. 31) 53. - Grebing (Anm. 31)
befürwortet zurückhaltend einen stufenweisen Abbau, 1256. Italiens Verfassungsgericht
erklärte am 21.11.1979 die Umwandlung einer Buße nur wegen Zahlungsunfähigkeit des
Verurteilten als rechtsungleich und deshalb verfassungswidrig, Giustizia penale 1980 1 129;
CPI Art. 24 und 26 berücksichtigten damals die wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschul-
digten in der Bemessung der Buße nur, wenn sie besonders günstig waren, und CPI
Art. 136 sah eine Umwandlungsstrafe bis zu drei Jahren vor. Anders nun CPI Art. 133bu
und 136 in der Fassung der Art. 100 und 101 der Legge 24 novembre 1981, η. 689, Indice
Penale X V I (1982) 79, Art. 102 Abs. 1 leg. cit. sieht im Fall der Nichtbezahlung einer Buße
überwachte Freiheit gemäß Art. 56, deren Verfassungsmäßigkeit der Magistrato di Somi-
gliànzà di Firenze bezweifelte, Indice penale XVII (1983) 644, und Art. 102, Abs. 2 und 3,
und Art. 105, ermöglichen auf Antrag des Verurteilten Ersatz der Geldstrafe durch
Gemeinnützige Arbeit.
34 So schon VStrR Art. 10 Abs.4, welchen Grundsatz B G E 105 (1979) IV 16, E . 2 ,
55 Bundesamt für Statistik, Die Strafurteile in der Schweiz 1984, Bern 1986, Tab. 21.
36 Die gemäß VStGB 3 vom 16.12.1985, AS 1985 1941, Art. 1, bis zu sechs Monaten
dauern darf.
37 Gemäß VStGB 1 vom 13.11.1973, Art. 4 Abs. 2, für Strafen von nicht mehr als zwei
Wochen zulässig.
38 Der Vorschlag scheint nur revolutionär. Frankreich kennt seit der Loi Bérenger von
1891 die Strafaussetzung zur Bewährung für Gefängnisstrafen bis zu fünf Jahren.
39 Für die vorsätzliche Schuld die Stärke des gegen die Rechtsordnung gerichteten
Willens, um so geringer, je stärker die Tat auf äußere Umstände zurückgeht, um so größer,
Probleme einer Revision des Allg. Teils des Schweiz. StGB 897
maß der Strafe bestimmen, der Richter aber eine gelindere Strafe verhän-
gen soll, wenn sie zu genügen scheint, um den Täter von weiterer
Delinquenz abzuhalten.
Allen zeitgemäßen Zweifeln zum Trotz 40 ist daran festzuhalten, daß
der Strafvollzug die Wiedereingliederung des Verurteilten in das Leben
in Freiheit vorbereiten soll, VE Art. 85. Die bedingte Entlassung soll
nach der Hälfte der Strafzeit möglich und nach zwei Dritteln geboten
sein, wenn nicht besondere Gründe dagegen sprechen, VE Art. 87 Ziff. 1
Abs. 1. Kriterium der bedingten Entlassung ist einzig die Aussicht auf
Bewährung in der Freiheit. Die jetzt schon üblichen Ubergangsformen,
insbesondere die Halbfreiheit, sind gesetzlich zu verankern.
Was die Maßnahmen betrifft, so ist auf die der Sicherungsverwahrung
entsprechende Verwahrung von Gewohnheitsverbrechern, StrGB
Art. 42, zu verzichten. Sie wird wie eine Strafe vollzogen und ist nichts
anderes als eine zeitlich unbestimmte Freiheitsstrafe. Die Arbeitserzie-
hung ist als Maßnahme für junge Erwachsene mit erheblich gestörter
seelischer Entwicklung beizubehalten, aber dem vikariierenden System
zu unterstellen, doch so, daß die Maßnahme nur in Frage kommt, wenn
eine Freiheitsstrafe ausgesprochen wird, die unter Berücksichtigung der
bedingten Entlassung wenigstens der Mindestdauer des Aufenthaltes in
der Anstalt von einem Jahr gleichkommt 41 . Die Verwahrung seelisch
schwer auffälliger Delinquenten ist beizubehalten, aber unter der Vor-
aussetzung, daß der Betreffende eine besonders schwere Tat verübt hat
und erneute Begehung eines solchen Delikts höchstwahrscheinlich ist.
Für Rückfällige anderer Art ist eine sozialtherapeutische Anstalt vorzu-
sehen.
Keine grundsätzliche Neuerung ist für die Behandlung der Trunk-
und Rauschgiftsüchtigen einzuführen. Es ist einzig der Kreis der für die
Behandlung dieser Täter dienenden Einrichtungen zu erweitern 42 .
Außerdem soll ermöglicht werden, rauschgiftsüchtige Gefangene aus der
Strafanstalt in den Maßnahmenvollzug zu verbringen, VE Art. 8243.
je umsichtiger die Tat geplant und je rücksichtsloser sie ausgeführt worden ist; für die
Fahrlässigkeit der Grad der Pflichtwidrigkeit.
40
D a z u Hans-Heinrich Jescheck, Die Krise der Kriminalpolitik, in: Strafrecht im
Dienste der Gemeinschaft, Berlin 1980, 148; Hans Schultz, Krise der Kriminalpolitik?,
Jescheck-Festschrift, Berlin 1985, 791.
41
Das bis 1971 geltende uneingeschränkte Vikariieren hatte dazu geführt, daß den zu
kurzen Freiheitsstrafen und zur Einweisung in die Arbeitserziehungsanstalt Verurteilten
zuweilen geraten wurde, sich in der Anstalt so widerspenstig zu verhalten, daß die
Maßnahme als aussichtslos abgebrochen und der Vollzug der Strafe oder sogar n u r eines
Teils von ihr gemäß alt Art. 43 Ziff. 4 angeordnet werde.
42
Ζ. B. durch Einweisen in Wohngemeinschaften oder Großfamilien.
43
Z u r grundsätzlichen Problematik der Bestrafung von Drogenkonsumenten Hans
Schultz, Die strafrechtliche Behandlung der Betäubungsmittel, Schweiz. J Z 1972 229;
898 Hans Schultz
Hans Kind, Die Gefährlichkeit der Drogen und die heutige Drogenpolitik, Neue Zürcher
Zeitung 2 2 . / 2 3 . 6 . 1 9 8 5 Nr. 142, S.39.
44 Immer noch grundlegend Walther Burckhardt, Kommentar der schweizerischen
Bundesverfassung vom 29. Mai 1974, 3. Aufl., Bern 1931, zu Art.64 b ' i , II A 5, S. 596.
45 Mit dem Titel „Einführung und Anwendung des Gesetzes"; ein entsprechender
Vorentwurf, der die das Strafrecht der Erwachsenen betreffenden Vorschriften behandelt,
wurde im Dezember 1985 abgeschlossen.
46 Z . B . mit den Geboten, die Menschenwürde der Verurteilten zu achten, deren
" Zum doppelten Ansatz der Kriminalpolitik Hans Schultz, La riforma del Diritto
penale, Repertorio di giurisprudenza patria 108 (1975) 10 f, ders. (Anm.40), 808 f; ähnlich
Pietro Nuvolone, Riforme penali e politica criminale nel momento attuale; ders., Problemi
di politica criminale, beides in II diritto penale degli anni sessante Studi, Padova 1982, 45/6,
99/100. Zur Problematik der besonders gefährlichen Täter auch Peter-Alexis Albrecht,
Spezialprävention angesichts neuer Tätergruppen, ZStrW 97 (1985) 858 f.
" Siehe Neue Zürcher Zeitung 26.2.1986, Nr. 47, S.33.
50
Günther Jakobs, Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung, ZStrW 97
(1985) 756, unterscheidet den Rechtsbrecher als Feind von dem Verbrecher als Bürger und
spricht von einem „Feindstrafrecht" im Gegensatz zum „bürgerlichen Strafrecht". Selbst
wenn diese Worte aus dem Fundus von „etwas altliberal klingenden Ideen" geäußert
werden, um „die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen", op. cit. 783, so ist
vor einem solchen Sprachgebrauch dringend zu warnen; er könnte Anlaß zu einem
verhängnisvollen Mißbrauch bieten.
Das Strafensystem des Vorentwurfs zur Revision
des Allgemeinen Teils des schweizerischen
Strafgesetzbuches in rechtsvergleichender Sicht
HANS-HEINRICH JESCHECK
A. Allgemeine Vorbemerkung
Es handelt sich um den Vorentwurf zur Revision des Allgemeinen
Teils des Schweizerischen Strafgesetzbuches, den Hans Schultz im Auf-
trag des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements geschaffen
und im März 1985 abgeschlossen hat6. Die allgemeinen Probleme der
Reform werden in seinem Beitrag zu dieser Festschrift von ihm selbst
erörtert 7 . Hier soll nur von dem Strafensystem des Vorentwurfs die Rede
sein, das aber, zusammen mit der Umgestaltung der Maßnahmen,
ebenso wie seinerzeit das Sanktionensystem in den deutschen Reformge-
setzen den Schwerpunkt der Neugestaltung des Allgemeinen Teils bil-
det. Das schweizerische StGB hat in dem vergangenen halben Jahrhun-
dert seit seiner Annahme im Parlament am 21.12.1937 eine erstaunliche
Lebenskraft bewiesen. Insbesondere sind die Änderungen im Strafensy-
stem nicht tiefgreifend gewesen. Einmal wurde durch die Zweite Teilre-
vision vom 18.3.1971 der Vollzug der Zuchthaus- und Gefängnisstrafe
in derselben Anstalt zugelassen (Art. 37 Ziff. 2 Schweiz. StGB), was den
ersten Schritt zur Einführung der Einheitsstrafe darstellte. Zum andern
wurde der bedingte Strafvollzug bei Freiheitsstrafen von Gefängnis bis
zu einem Jahr (und Haft) auf alle Freiheitsstrafen bis zu 18 Monaten
ausgedehnt (Art. 41 Ziff. 1 Schweiz. StGB). Weiter gestattete die Ver-
ordnung zum Schweiz. StGB vom 13.11.1973 den Kantonen in Art. 4,
für Haftstrafen und Gefängnisstrafen bis zu drei Monaten den tagewei-
sen Vollzug und den Vollzug in Halbgefangenschaft einzuführen, bei
dem der Verurteilte seine bisherige Arbeit oder Ausbildung außerhalb
der Anstalt fortsetzt und nur die Ruhe- und Freizeit in der Anstalt
verbringt8. Die Stabilität des schweizerischen Strafensystems beruht vor
allem darauf, daß es von vornherein in eine moderne Richtung gelenkt
worden ist. Die Vorentwürfe von Carl Stooss aus den Jahren 1893 und
1894, die dem schweizerischen Strafgesetzbuch zugrunde liegen, ver-
wirklichten im Strafensystem bereits alle wesentlichen Forderungen der
Reformer jener Zeit', die in anderen Rechtsordnungen noch längst nicht
6 Bericht und Vorentwurf zur Revision des Allgemeinen Teils des Schweizerischen
B. Die Freiheitsstrafe
10 Zu den Entwürfen von Carl Stooss vgl. Kaenel, Die kriminalpolitische Konzeption
von Carl Stooss im Rahmen der geschichtlichen Entwicklung von Kriminalpolitik und
Straftheorien, 1981, S. 78 ff. Uber den Zusammenhang der schweizerischen Entwurfsarbei-
ten mit der deutschen Strafrechtswissenschaft jener Zeit Jescheck, Der Einfluß des schwei-
zerischen Strafrechts auf das deutsche, SchwZStR 73 (1958) S. 184 ff.
11 Das Bundesverfassungsgericht hat bekanntlich die lebenslange Freiheitsstrafe nach
Jahre verbüßt sein müssen. Norwegen kommt bei einer Höchststrafe von
21 Jahren auf eine Mindestverbüßungszeit von 14 Jahren.
3. Das eigentliche Problem der zeitigen Freiheitsstrafe ist jedoch nicht
ihre Höchstdauer, sondern ihre Mindestdauer. Hier hat Schultz, ebenso
wie der deutsche Alternativ-Entwurf (§36) 14 und aus den gleichen
Gründen, die Radikallösung der Abschaffung der Freiheitsstrafe unter
sechs Monaten gewählt (Art. 32)15, was die schweizerische Strafzumes-
sungspraxis tiefgreifend verändern würde, da 1982 noch 24 127 Gefäng-
nisstrafen, d.h. 9 1 , 0 4 % aller Gefängnisstrafen solche bis zu sechs
Monaten gewesen sind. Hinzu traten noch 2349 vollziehbare Haftstra-
fen, die nach Art. 39 Ziff. 1 Abs. 1 Schweiz. StGB nicht länger als drei
Monate dauern können. Auch die als Eventuallösung vorgeschlagene
Mindestdauer von drei Monaten würde einen kaum geringeren Eingriff
in die gegenwärtige Praxis bedeuten, da 1982 in der Schweiz immer noch
83,51 % aller Gefängnisstrafen solche bis zu drei Monaten gewesen
sind16. Als Ersatz für die kurzfristige Freiheitsstrafe sollen die refor-
mierte Geldstrafe (Art. 33), bei Verkehrsdelikten das Fahrverbot
(Art. 37) und die gemeinnützige Arbeit (Art. 41) eintreten. Die Forde-
rung des Alternativ-Entwurfs nach vollständiger Streichung der Frei-
heitsstrafe unter sechs Monaten hat in der Bundesrepublik Deutschland
überwiegend Ablehnung17 und international bisher kaum Nachfolge
gefunden. Man darf deshalb besonders gespannt darauf sein, wie dieser
Teil des Entwurfs in der Schweiz aufgenommen werden wird. Dabei ist
daran zu denken, daß der rein spezialpräventive Charakter der Freiheits-
strafe bis zu einem Jahr, der in der Strafzumessungsvorschrift des Art. 47
Ausdruck findet, den an der Schuldschwere orientierten Richter noch
mehr einengt als der Wegfall der kurzen Freiheitsstrafe, die leichter
durch schuldentsprechende Alternativen ersetzt werden kann.
a) Nur die DDR hat die hohe Untergrenze von sechs Monaten für den
Regelfall im Gesetz festgelegt (Art. 40 Abs. 1 StGB DDR). Ausnahms-
weise kann jedoch, hauptsächlich aus Gründen spezialpräventiver Ein-
flußnahme auf den Täter, eine Freiheitsstrafe von drei bis sechs Monaten
verhängt werden, wenn die verletzte Strafvorschrift auch Strafen ohne
Freiheitsentzug androht; im Urteil muß dann jedoch besonders begrün-
"* In Belgien schlägt Legros, in: Ministère de la Justice, Avant-projet de Code pénal (ca.
1985) für korrektionelle Freiheitsstrafen wie der schweizerische Vorentwurf eine Mindest-
dauer von sechs Monaten, eventuell von drei Monaten, vor.
18 So Heinz, Strafrechtliche Sozialkontrolle - Beständigkeit im Wandel? Bewährungs-
hilfe 1984, 32. Überwiegend handelte es sich dabei nicht um unbedingt vollziehbare,
sondern um „mittelbare" kurze Freiheitsstrafen, vor allem um vollstreckte Ersatzfreiheits-
strafen und Fälle des Widerrufs ausgesetzter kurzer Freiheitsstrafen.
" Näher dazu Jescheck (Anm. 13) S. 2050 ff.
908 Hans-Heinrich Jescheck
C. Die Geldstrafe
/. Die Geldstrafe hat in einem Sanktionensystem, das auf die kurze
Freiheitsstrafe verzichtet, die mittlere Freiheitsstrafe auf Fälle unbeding-
ter Erforderlichkeit beschränkt (Art. 47) und mit Fahrverbot und
gemeinnütziger Arbeit lediglich zwei nur begrenzt anwendbare Alterna-
tiven zur Verfügung stellt, für die Masse der Kriminalität ausschlagge-
bende Bedeutung. Schon infolge der Prioritätsklausel des §47 StGB, die
immerhin noch Raum für den Ausspruch von jährlich etwa 50000
kurzen Freiheitsstrafen läßt, ist in der Bundesrepublik Deutschland die
Zahl der Geldstrafen mit über einer halben Million auf 82% aller
Verurteilungen von Erwachsenen angestiegen. Im Hinblick auf die
deswegen auch für die Schweiz zu erwartende erhebliche Zunahme der
Geldstrafen und das dabei stärker als bei der Freiheitsstrafe auftretende
Problem der Opfergleichheit hat der Vorentwurf dem Tagesbußensy-
stem gegenüber dem Gesamtsummensystem 24 den Vorzug gegeben
(Art. 33). Er folgte damit einer Entwicklung, in die schon Vorschläge
von Carl Stooss gewiesen haben25 und die sich allmählich auch internatio-
nal durchzusetzen beginnt. Das Tagesbußensystem wurde zuerst in drei
nordischen Staaten eingeführt, und zwar in Finnland (1921), Schweden
20
Kaiser, Erfolg, Bewährung, Effizienz, in: Kaiser/Kerner u.a., Kleines Kriminologi-
sches Wörterbuch, 2. Aufl. 1985, S.91.
21
Schöch, Empirische Grundlagen der Generalprävention, Festschrift für H . - H .
Jescheck, Bd. II, 1985, S. 1103 ff.
22
Sveri, The Case for Short-Term Imprisonment, in : Schweizerisches Nationalkomitee
für Geistige Gesundheit, Arbeitsgruppe Kriminologie (Hrsg.), Alternativen zu kurzen
Freiheitsstrafen, 1979, S. 201 ; Gabriele Dolde/Rössner, Freiheitsstrafe ohne soziale Desin-
tegration, in: Kerner/Kury/Sessar (Hrsg.), Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsentste-
hung und Kriminalitätskontrolle, Bd. 6/3, 1983, S. 1723 f.
° Weigend, Die kurze Freiheitsstrafe - eine Sanktion mit Zukunft? JZ 1986, 266 ff.
24
Zur Unterscheidung der beiden Systeme Grebing, Die Geldstrafe in rechtsverglei-
chender Darstellung, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und
ausländischen Recht, 1978, S. 1249 ff.
25
Stooss, Bericht über den Vorentwurf zu einem schweizerischen Strafgesetzbuch nach
den Beschlüssen der Expertenkommission, 1899, S. 56. Ferner Lang, Die Geldstrafe in der
Schweiz, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.) (Anm. 24) S. 817. Für die Reform Hurtado Pozo,
L'amende, SchwZStR 102 (1985) S. 84 ff; Maurer, Die Buße, SchwZStR 102 (1985) S. 67 ff.
Das Strafensystem des Vorentwurfs des Schweiz. StGB 909
(1931) und Dänemark (1939)26. In Europa 27 haben sich später die Bun-
desrepublik Deutschland (§40 StGB), Osterreich (§19 österr. StGB),
Frankreich (Art. 43-8 bis 43-11 C . p . sowie Art. 52 Avant-projet), dort
als Ersatzstrafe anstelle einer angedrohten Gefängnisstrafe, und Portugal
(Art.46 C.p.) angeschlossen. In Spanien ist ein Quotensystem mit
Tages-, Wochen- und Monatssätzen in Aussicht genommen (Art. 45
Anteproyecto 1983).
II. Die Einzelregelung des Vorentwurfs (Art. 33) trägt den Erfahrungen
Rechnung, die sich aus der Rechtsvergleichung ergeben, und ist darum
maßvoll und ausgewogen. Die Mindestzahl der Tagessätze beträgt wie in
Osterreich zwei, die Höchstzahl wie in der Bundesrepublik Deutschland
360. Der Mindestbetrag eines Tagessatzes ist mit fünf Franken angesetzt
und damit erheblich höher als der Mindestbetrag von zwei D M in der
Bundesrepublik Deutschland. Doch wird dieser Unterschied an der
Untergrenze dadurch wieder ausgeglichen, daß in der Bundesrepublik
Deutschland die Mindestzahl der Tagessätze fünf beträgt (§40 Abs. 1
Satz 2 StGB). Trotzdem spielt natürlich der höhere Mindestbetrag der
Schweiz für die sich jeweils ergebende Gesamtsumme eine Rolle: drei
Mindesttagessätze ergeben in der Schweiz bereits 15 Franken, 5 Min-
desttagessätze in der Bundesrepublik Deutschland nur 10 DM. Der
Höchstbetrag eines Tagessatzes entspricht mit 1000 Franken, die im
Höchstfall eine Gesamtsumme von 360 000 Franken ergeben, dem
Gewicht der leichten und mittleren Kriminalität, in deren Relation die
Geldstrafe zu sehen ist. Die Regelung des Vorentwurfs vermeidet damit
sowohl die Ubertreibung des deutschen Rechts (10000 D M nach §40
Abs. 2 Satz 3 StGB) als auch die zu zaghaften Lösungen des französi-
schen (2000 Francs nach Art.43-9 Abs.2 C.p.) oder österreichischen
(3000 Schilling nach § 19 Abs. 2 österr. StGB). Bei der Bestimmung der
Höhe des Tagessatzes wird wie in der Bundesrepublik Deutschland vom
Nettoeinkommen ausgegangen und werden danach die persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters in Rechnung gestellt. Die öster-
reichische Praxis geht dagegen nach dem Prinzip der Abschöpfung des
Einkommens bis in die Nähe des Existenzminimums vor (Einbußeprin-
zip). Doch haben sich die beiden Bemessungsverfahren in der Praxis
angeglichen, weil es letztlich nur um die von der Rechenmethode
unabhängige Frage geht, welcher Unterhaltsbetrag dem Verurteilten
billigerweise belassen werden sollte28. Die für die Schweiz besonders
26
Dazu näher Ermgassen, Die Geldstrafe in den nordischen Ländern, in: Jescheck/
Grebing (Hrsg.) (Anm. 24) S. 895 ff.
27
Über die Entwicklung in Lateinamerika Grebing (Anm. 24) S. 1258.
28
Maurach/Gössel/Zipf (Anm. 17) S. 461 f; Triffterer, Österreichisches Strafrecht, Allg.
Teil, 1985, S. 477.
910 Hans-Heinrich Jescheck
29
LK (Tröndle), 10.Aufl. 1985, §40 Rdn.52; Grebing, Probleme der Tagessatz-
Geldstrafe, ZStW 88 (1976) S. 1085 f.
30
Grebing (Anm.24) S. 1325.
Das Strafensystem des Vorentwurfs des Schweiz. StGB 911
erreicht wird, nicht zustande käme. Auf der anderen Seite sorgt die
Möglichkeit der Tilgung der Geldstrafe durch gemeinnützige Arbeit
(vgl. unten b) dafür, daß das Strafensystem im unteren Bereich, in dem
Freiheitsstrafe ausgeschlossen ist, im Falle der Armut des Verurteilten
nicht wirkungslos würde. Das Abarbeiten der Geldstrafe muß doch
wohl, wenn zumutbare Arbeit zur Verfügung gestellt werden kann, als
Pflicht des zahlungsunfähigen Verurteilten verstanden werden.
b) Der Verurteilte kann die Geldstrafe, wie eben gesagt, durch die in
Art. 41 auch als Hauptstrafe vorgesehene gemeinnützige Arbeit tilgen
(Art. 34 Ziff. 1 Abs. 3), eine Regelung, die schon nach gegenwärtigem
Recht gilt (Art. 49 Ziff. 1 Abs. 2 Schweiz. StGB), aber dort „nur auf dem
Papier steht" 31 . U m sie effektiv zu machen, müßte noch im Gesetz
klargestellt werden, daß zumutbare gemeinnützige Arbeit zur^ Abwen-
dung der andernfalls eintretenden Ersatzfreiheitsstrafe verlangt werden
kann (vgl. oben a). Wer den Antrag auf Zuweisung zumutbarer gemein-
nütziger Arbeit nicht stellt, muß zur Ersatzfreiheitsstrafe verurteilt
werden können, auch wenn er die Geldstrafe als solche ohne sein
Verschulden nicht aufbringen kann. Ohne Folge würde die Geldstrafe
danach nur dann bleiben, wenn der Verurteilte arm und außerdem
unfähig ist, wenige Stunden am Tag gemeinnützige Arbeit zu leisten.
c) Die gemeinnützige Arbeit als Alternative zur Geldstrafe bzw. zur
Ersatzfreiheitsstrafe gewinnt international zunehmend an Bedeutung 32 .
So hat in der Bundesrepublik Deutschland das EGStGB von 1974 die
Landesregierungen in Art. 293 ermächtigt, Regelungen zu treffen, nach
denen die Vollstreckungsbehörde dem Verurteilten gestatten kann, eine
uneinbringliche Geldstrafe durch freie Arbeit zu tilgen. Derartige Rege-
lungen, an denen es nach früherem Recht fehlte, sind neuerdings unter
dem Druck der ansteigenden Zahl mittelloser Geldstrafenschuldner und
der dadurch eintretenden Wiederkehr der Überfüllung der Gefängnisse
in allen Bundesländern eingeführt worden, wobei eine Arbeitsleistung
von 6 bis 8 Stunden einem Tagessatz Geldstrafe gleichgeachtet wird33,
während der schweizerische Vorentwurf sich schon mit drei Stunden
begnügen will (Art. 34 Ziff. 1 Abs. 3). Die Erfahrungen in der Bundesre-
publik Deutschland mit dem „Ersatz der Ersatzfreiheitsstrafe" durch
freie Arbeit scheinen jetzt günstiger geworden zu sein, weil man sich
31
Schultz, E i n f ü h r u n g in den Allgemeinen Teil des Strafrechts, Bd. II, 4. Aufl. 1982,
S. 126.
32
Gemeinnützige Arbeit kann als primäre Hauptstrafe, als Alternative zur Geldstrafe
bzw. z u r Ersatzfreiheitsstrafe und als Auflage bei bedingter Verurteilung verwendet
werden; vgl. dazu Takivan Kalmtbout, Dienstverlening en sanctiestelsels, 1985.
35
N ä h e r Jescheck, N e u e Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik in rechtsvergleichen-
der Sicht, ZStW 98 (1986) S. 24 ff.
912 Hans-Heinrich Jescheck
D. Das Fahrverbot
/. Große praktische Bedeutung hat das Fahrverbot, das in der Schweiz
gegenwärtig als sogenannter „Warnentzug" (Art. 16 Abs. 2, 3 SVG) von
den Verwaltungsbehörden gehandhabt wird.
1. Der schweizerische Vorentwurf führt das richterliche Fahrverbot für
die Dauer von einem Monat bis zu drei Jahren als Hauptstrafe ein
(Art. 37). Durch das Fahrverbot wird dem Verurteilten untersagt, im
öffentlichen Verkehr ein Fahrzeug bestimmter Art - nicht nur ein
Kraftfahrzeug - zu führen. Das Fahrverbot kann allein oder in Verbin-
dung mit einer Freiheitsstrafe oder einer Geldstrafe ausgesprochen wer-
den, wenn der Verurteilte im öffentlichen Verkehr Verkehrsregeln ver-
letzt und dadurch den Verkehr gefährdet oder andere belästigt hat
(Art. 38 Abs. 1). Die Verletzung der Verkehrsregeln m u ß entweder als
solche strafbar sein oder zu einer strafbaren Handlung, z.B. einer
fahrlässigen Tötung oder Körperverletzung, geführt haben, da es sich
bei dem Fahrverbot um eine Strafe handelt. Ausreichend ist wie bisher
eine abstrakte Gefährdung 36 . Der Ausspruch des Fahrverbots ist in
bestimmten, genau umschriebenen Fällen zwingend vorgeschrieben,
u. a. bei Herbeiführung einer ernstlichen Gefahr für die Sicherheit
anderer durch eine grobe Verletzung der Verkehrsregeln oder durch das
Fahren in angetrunkenem Zustand (Art. 38 Abs. 2). Die Mindestdauer
des Fahrverbots ist in bestimmten Fällen erhöht, so auf zwei Monate,
wenn der Verurteilte angetrunken ein Fahrzeug geführt hat, auf sechs
Monate, wenn der Verurteilte ein Fahrzeug trotz bestehenden Fahrver-
bots geführt hat, und auf ein Jahr, wenn der Verurteilte innerhalb von
fünf Jahren seit Ablauf eines früheren Fahrverbots wegen Fahrens in
angetrunkenem Zustand erneut ein Fahrzeug in diesem Zustand geführt
hat (Art. 39). Zwingendes Fahrverbot und erhöhte Mindestdauer ent-
sprechen dem geltenden Recht (Art. 16 Abs. 3, 17 SVG).
* Dazu Bericht zum Vorentwurf S. 129 sowie Schultz, Die Strafbestimmungen des
Bundesgesetzes über den Straßenverkehr vom 19.12.1958, 1964, S. 165.
57
Schultz, Rechtsprechung und Praxis zum Straßenverkehrsrecht in den Jahren
1978-1982, 1984, S. 138.
914 Hans-Heinrich Jescheck
2. Frankreich, das früher nur die Geldstrafe als Alternative zur Frei-
heitsstrafe kannte, hat im Jahre 1975 eine Vielzahl von bisher nur als
Nebenstrafen, Nebenfolgen oder Maßnahmen mit Sicherungscharakter
vorgesehenen Sanktionen als Hauptstrafe anstelle einer Freiheitsstrafe
zugelassen. Art. 43-3 C. p. nennt sechs Sanktionen, die ohne Bezug zu
der begangenen Tat und ohne Androhung in der verletzten Strafvor-
schrift an die Stelle einer Gefängnisstrafe treten können; hierzu gehört
als wichtigste das Fahrverbot bis zu fünf Jahren (Nr. 1 ; ebenso Avant-
projet Art. 44 Nr. 1). Das Fahrverbot des französischen Rechts ist als
alleinige Hauptstrafe und ohne Bezug auf die begangene Tat vorgesehen,
wird aber von der Praxis nur angewendet, wenn ein solcher Zusammen-
hang besteht. Spanien kennt das Fahrverbot von einem Monat bis zu 10
Jahren (Art. 30 C.p.), in Art. 52 des Anteproyecto ist es aufgegliedert in
eine schwere Strafe (drei bis sechs Jahre Dauer) und eine leichte Strafe
(ein bis drei Monate Dauer). Auch Polen hat die Ersetzung einer
" So Cramer, Zur Reform von Fahrerlaubnis und Fahrverbot, Gedächtnisschrift für
H.Schröder, 1978, S.544ff.
" Das Fahrverbot wurde in gerichtlichen Entscheidungen 1983 in 38 702 Fällen, die
Entziehung der Fahrerlaubnis in 191 137 Fällen ausgesprochen. Das Fahrverbot nach
§ 2 5 StVG wurde 1979 in 6179 Fällen verhängt (Janiszewski, GA 1981, 390).
Das Strafensystem des Vorentwurfs des Schweiz. StGB 915
II. Der schweizerische Vorentwurf kann sich für seine neue Sanktionsart
schon auf eine Reihe geglückter Vorbilder im Ausland berufen. Die
gemeinnützige Arbeit als primäre Hauptstrafe ist unter der Bezeichnung
„Community Service" durch den Criminal Justice Act im Jahre 1972 in
England eingeführt worden41. Sie besteht dort darin, daß der Beschul-
digte durch Richterspruch mit seiner Zustimmung dazu verpflichtet
wird, unter der Leitung eines Bewährungshelfers eine unbezahlte
gemeinnützige Tätigkeit zu verrichten, deren Dauer zwischen 40 und
240 Stunden festgesetzt wird. Zulässig ist die neue Sanktion bei allen mit
Gefängnis bedrohten Delikten, also im weitesten Umfang, und sie ist
deswegen auch ziemlich häufig. Der Verurteilte kann sich die für ihn am
meisten geeignete Arbeitsmöglichkeit aus einer ihm vom Bewährungsbe-
amten vorgelegten Liste selbst aussuchen. In Betracht kommen die
verschiedensten sozialen oder karitativen Dienste. Bei Nichtbefolgung
des festgelegten Arbeitsplans kann nachträglich eine ausgesetzte oder
vollziehbare Freiheitsstrafe oder eine Geldstrafe ausgesprochen werden.
Der Erfolg des Community Service wird in England als befriedigend
angesehen. Frankreich hat die gemeinnützige Arbeit im Jahre 1983 als
primäre Hauptstrafe in Art. 43-3-1 ff C . p . eingeführt (und außerdem als
Auflage bei der Strafaussetzung zur Bewährung nach A r t . 7 4 7 - I f f
C.p.p.). Sie ist zulässig bei mit Gefängnis bestraften Vergehen und
Unbestraftheit des Beschuldigten, wobei jedoch nur nichtausgesetzte
41 Näher dazu Barbara Huber, Community Service Order als Alternative zur Freiheits-
strafe, J Z 1980, 638 ff; Pfohl, Gemeinnützige Arbeit als strafrechtliche Sanktion, 1983,
S. 122 ff.
Das Strafensystem des Vorentwurfs des Schweiz. StGB 917
42
N ä h e r dazu Takivan Kalmthout (Anm.32) S. 151 ff.
43
Irene Sagel-Grande, Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate in den Niederlanden, in:
Jescheck (Hrsg.) (Anm. 13) B d . I , 1983, S. 434 ff.
44
Schaffmeister, D u r c h Modifikation zu einer neuen Strafe, Festschrift für H . - H .
Jescheck, Bd. II, 1985, S . 9 9 9 f , der allerdings annimmt, daß die gemeinnützige Arbeit
hauptsächlich die Geld- und zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe ersetzen wird,
nicht aber die vollziehbare kurze Freiheitsstrafe. Ebenso Albrecht, Ansätze und Perspekti-
ven f ü r die gemeinnützige Arbeit in der Strafrechtspflege, Bewährungshilfe 1985, 130. Der
Gesetzentwurf in den Niederlanden beschränkt die Dienstleistung als Hauptstrafe jedoch
ausdrücklich auf die Ersetzung einer unbedingten Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten.
U b e r den gegenwärtigen Stand der Dienstleistung, die vorerst bis zu einer gesetzlichen
Regelung noch weiterhin als Auflage im Rahmen bedingter Verurteilung verwendet wird,
van Kalmthout/Tak, N e u e r e Entwicklungen im niederländischen Sanktionensystem,
ZStW 98 (1986) S.526f.
45
Beckmann/Anke Wagensonner (Anm. 8) B d . I , 1983, Tabelle III, S.919.
918 Hans-Heinrich Jescheck
1. Der Vorentwurf will die Strafaussetzung zur Bewährung über die 18-
Monatsgrenze hinaus, die in Art. 41 StGB bereits von der Zweiten
Teilrevision von 1971 anstelle der Obergrenze von einem Jahr eingeführt
worden ist, nochmals ausdehnen und gelangt für die Freiheitsstrafe zur
Dreijahresgrenze, schließt aber die Geldstrafe bei Erwachsenen von der
Strafaussetzung weiterhin aus (Art. 57 Ziff. 1 Abs. 1). Auch die Teilaus-
setzung der Freiheitsstrafe wurde nicht übernommen46. Die weiteren
Vorschriften des Vorentwurfs zur Strafaussetzung müssen hier außer
Betracht bleiben.
Bd. II, 1985, S. 987 schlägt sie für Freiheitsstrafen von mehr als zwei Jahren vor.
47 Das 23. Strafrechtsänderungsgesetz vom 13.4.1986 (BGBl. I 393) hat die bisherige
Fassung des § 5 6 Abs. 2 StGB („wenn besondere Umstände in der Tat und in der
Persönlichkeit des Verurteilten vorliegen") der Rechtsprechung zu dieser Bestimmung
(BGHSt. 29, 370 [375]) angepaßt. Das neue Gesetz geht aber über die Zweijahresgrenze
nicht hinaus und behält auch die Differenzierung gegenüber der Aussetzung von Freiheits-
strafen bis zu einem Jahr bei.
Das Strafensystem des Vorentwurfs des Schweiz. StGB 919
48
Annette Bernards, Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate in Frankreich, in: Jescheck
(Hrsg.) (Anm. 13) Bd. I, 1983, S. 301 ff.
49
Johanna Bosch, Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate in Italien, in: Jescheck (Hrsg.)
(Anm. 13) Bd. I, 1983, S. 360 ff.
50
Maurer, Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate in Spanien, in: Jescheck (Hrsg.)
(Anm. 13) Bd. I, 1983, S.974.
5
' Irene Sagel-Grande (Anm. 43) S. 440 ff.
" Hansen, Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate in Norwegen, in: Jescheck (Hrsg.)
(Anm. 13) Bd. I, 1983, S.574.
" Ewa Weigend, Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate in Polen, in: Jescheck (Hrsg.)
(Anm. 13) Bd. I, 1983, S.754.
54
Barbara Huber, Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate in England und Wales, in:
Jescheck (Hrsg.) (Anm. 13) Bd. I, 1983, S.220ff.
920 Hans-Heinrich Jescheck
55
Zur Bedeutung der bedingten Geldstrafe in Österreich Zipf (Anm. 46) S.981.
» Barbara Huber (Anm. 54) S.223f.
57
Auch die probation gibt es schon im schweizerischen Jugendstrafrecht (Art. 97 Abs. 1
StGB); sie ist das Gegenstück zur Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe nach §27
des deutschen J G G .
Das Strafensystem des Vorentwurfs des Schweiz. StGB 921
als erstes Land eingeführt hatte, erweiterte das schon genannte Gesetz
vom 26.6.1964 das Instrumentarium des belgischen Richters um die
probation im anglo-amerikanischen Sinne. Eingeführt wurde die Ausset-
zung der Straffestsetzung nach dem Schuldspruch mit oder ohne Aufla-
gen. Der Angeklagte muß wie im englischen Recht mit der Maßnahme
des Gerichts einverstanden sein. Das Gesetz überläßt die Bestimmung
der Auflagen in vollem Umfang dem Richter. Ihre Kontrolle obliegt der
unter dem Vorsitz eines Richters oder Staatsanwalts stehenden Bewäh-
rungskommission, die auch den zur Unterstützung wie zur Überwa-
chung des Verurteilten berufenen Bewährungshelfer bestimmt. Norwe-
gen hat die Aussetzung der Strafvollstreckung schon 1894, die der
Straffestsetzung 1965 eingeführt. Die traditionelle Form überwiegt
jedoch in der Praxis bei weitem. Das Gericht kann Weisungen erteilen,
die es für angezeigt hält, um die Lebensführung des Verurteilten zu
beeinflussen, insbesondere Bewährungshilfe anordnen. Einverständnis
des Verurteilten ist hier jedoch nicht erforderlich. Portugal hat die
probation (regime de prova) neben der schon seit 1893 bestehenden
Strafaussetzung zur Bewährung durch das neue Strafgesetzbuch von
1982 eingeführt (Art. 53 ff C.p.). Zwischen der probation im englischen
und dem Aufschub der Strafvollstreckung im kontinentalen Sinne steht
die Verurteilung auf Bewährung in der DDR. Der Strafausspruch
besteht hier nur in der Verurteilung auf Bewährung und der Anordnung
einer Bewährungszeit (§33 Abs. 1, 2 StGB). Im Urteil wird jedoch
bereits eine Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu zwei Jahren festge-
setzt, die bei Widerruf des Bewährungsurteils vollzogen wird, so daß
hier die nachträgliche Festsetzung der Strafe entfällt. Im Urteil kann dem
Täter ferner eine Reihe von Pflichten, insbesondere die Bewährung am
Arbeitsplatz, auferlegt werden. England ist den umgekehrten Weg
gegangen. Als die Urheimat der probation kannte es diese Form der
bedingten Verurteilung schon seit 1907, als es im Jahre 1967 auch die
Strafaussetzung zur Bewährung (suspended sentence) einführte, die die
ältere Form der bedingten Verurteilung in der Praxis inzwischen zahlen-
mäßig weit überholt hat. Auch in der Schweiz dürfte der Strafaussetzung
gegenüber der probation in der Praxis der Vorzug gegeben werden, weil
der Richter nach dem Schuldspruch den Strafausspruch nicht gerne
offenläßt und ihn einer späteren, möglicherweise von einem anderen
Richter zu treffenden Entscheidung vorbehält. In der Bundesrepublik
Deutschland hat die Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB), die der
probation ähnlich ist, keine Bedeutung erlangt, obwohl die Strafe für
den Fall der Nichtbewährung hier ebenfalls schon mit dem Schuldspruch
festgesetzt wird, während die Strafaussetzung zur Bewährung mit 65 %
aller Freiheitsstrafen ein hochwichtiges Instrument der Kriminalpolitik
in der Hand des Richters geworden ist.
922 Hans-Heinrich Jescheck
III. Die Entlassung des Gefangenen aus der Strafhaft findet grundsätz-
lich erst nach Verbüßung der vollen Strafzeit, gegebenenfalls unter
Anrechnung der erlittenen Untersuchungshaft, statt. Die bedingte Ent-
lassung, die in Parallele zur Strafaussetzung zur Bewährung im deutschen
Recht jetzt Aussetzung des Strafrestes (§57 StGB) heißt, soll die Zeit des
Aufenthalts des Verurteilten in der Strafanstalt abkürzen und ihn unter
dem Druck der drohenden Verbüßung des Strafrestes zu einem straf-
freien Leben in der Bewährungszeit bestimmen.
58 Das in A n m . 47 genannte Gesetz führt die Halbverbüßung für Erstverbüßer bei einer
IV. Die drei Fälle der Strafl>efreiung im Vorentwurf gehören nicht mehr
zum Strafensystem im engeren Sinne und können deshalb hier nur am
Rande erwähnt werden. Das Absehen von der Strafverfolgung wegen
schwerer eigener Betroffenheit des Täters durch die Folgen seiner Tat
5
' Annette Bernards, Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate in Belgien, in: Jescheck
(Hrsg.) (Anm. 13) Bd. I, 1983, S.66f.
60 Über das komplizierte Verfahren vgl. Jescheck (Anm. 13) S.2143.
924 Hans-Heinrich Jescheck
(Art. 53) entspricht dem deutschen § 60 StGB (mit § 153 b StPO), ist aber
hinsichtlich der Höhe der zu erwartenden Strafe nicht beschränkt. Das
Absehen von Strafe wegen fehlender Strafwürdigkeit (Art. 54) hat sein
deutsches Gegenstück in der Nichtverfolgung von Bagatellsachen nach
§153 StPO. Dagegen hat der Vorentwurf das vorläufige Absehen von
der Erhebung der öffentlichen Klage bei geringer Schuld und Erfüllung
von Auflagen und Weisungen durch den Beschuldigten (§153 a StPO)
wegen des grundsätzlichen Bedenkens gegen belastende Entscheidungen
aufgrund einer bloßen Verdachtslage nicht übernommen. Das Absehen
von der Strafverfolgung wegen Wiedergutmachung des Schadens oder
anderer das Unrecht ausgleichender besonderer Leistungen des Täters
(Art. 55) hat jedoch eine gewisse Verwandtschaft mit § 153 a StPO Abs. 1
Nr. 1 und 3 ; die vorgesehene Regelung würde das zuvor geäußerte
Bedenken vermeiden, da die eigene Bemühung des Täters um Wieder-
gutmachung unzweifelhaft auch ein Schuldeingeständnis enthalten
würde.
Der schweizerische Vorentwurf steht auf der Höhe der kriminalpoliti-
schen Erkenntnisse unserer Zeit und spiegelt in dem beigefügten Bericht
wie kein anderes zur Vorbereitung einer nationalen Strafrechtsreform
bestimmtes Gesetzgebungswerk die Vielfalt der Lösungen der ausländi-
schen Rechte wider, die in Fülle erörtert und gewogen, aufgenommen
oder verworfen werden, ohne daß es bei der souveränen Stoffbeherr-
schung des Autors Material- oder Verständnisschwierigkeiten gäbe. Die
konkreten Vorschläge für die Neugestaltung des Strafensystems werden
in ihrer der Zeit in verschiedenen Punkten vorauseilenden Entschieden-
heit wahrscheinlich nicht nur Zustimmung finden, sondern auch auf
Widerspruch stoßen. Aber gerade die Erkenntnis, daß sie nirgends aus
Neuerungssucht aufgestellt werden, sondern Bestandteil eines interna-
tionalen Kulturzusammenhangs sind, wird die Bereitschaft fördern, sie
als Ganzes und als ein in sich geschlossenes Zeugnis des internationalen
Standes der Kriminalpolitik zu würdigen.
Daß die besonderen Verhältnisse der Schweiz im Bereich der
Gerichtsverfassung, des Strafverfahrens und des Vollzugs bei allen Vor-
schlägen für ein neues Strafensystem mitbedacht sind, versteht sich und
wird dazu beitragen, sie auch für die unterschiedliche Praxis der einzel-
nen kantonalen Justizbehörden annehmbar zu machen. Wer die
Geschichte der deutschen Strafrechtsreform seit dem Jahre 1952 miter-
lebt hat, kann unser Nachbarland nur dazu beglückwünschen, daß ein so
konsequent fortschrittliches Werk über das Strafensystem schon auf
einer frühen Entwicklungsstufe des Gesetzgebungsverfahrens in die
Reformarbeiten eingebracht worden ist.
Der Forscher als „Täter" und „Opfer"
Rechtsvergleichende Beobachtungen
zu Freiheit und Verantwortlichkeit
von Wissenschaft und Technologie*
ALBIN ESER
I. Zum Hintergrund
Forschung ist gefährlich geworden: sowohl für den Forscher selbst
wie auch für sein Objekt. Nicht als ob es sich dabei um ein völlig
neuartiges Phänomen handeln würde. Wenn etwa ein Giordano Bruno
im Jahre 1600 für sein neues naturphilosophisches Weltsystem den
Scheiterhaufen besteigen mußte, so geschah das nicht zuletzt deshalb,
weil seine wissenschaftlichen Erkenntnisse vom damaligen Zeitgeist
zugleich als Bedrohung des politischen Systems empfunden wurden. Es
dürfte nicht schwerfallen, von jenem spektakulären Einzelfall eine mit
eindrucksvollen Beispielen belegbare Linie „gefährlicher Forschung" bis
in unsere Zeit zu ziehen. Allenfalls daß sich dabei die Konfliktfelder
verändert haben: Während in der Vergangenheit eher der spekulative
Forscher geisteswissenschaftlicher Provenienz Gefahr lief, mit Recht
und Moral seiner Zeit in Kollision zu geraten, ist es heute vor allem der
empirische Natur- und Sozialwissenschaftler, dessen Forschungstätig-
keit einerseits bedroht, andererseits aber selbst bedrohlich sein kann1.
Demzufolge kann der Forscher - in strafrechtlicher Terminologie ausge-
drückt - sowohl zum „Täter" wie auch zum „Opfer" werden: zum
Bei diesem Beitrag handelt es sich um die Fortführung von Überlegungen, die ich
erstmals am 4. Februar 1983 anläßlich meiner Einführung als Direktor des Max-Planck-
Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht Freiburg vorgetragen habe. Damit
ist zugleich eine Brücke zur Tätigkeit des verehrten Jubilars geschlagen, der sich als
langjähriger Vorsitzender des Fachbeirats und Kuratoriums um das Max-Planck-Institut
verdient gemacht hat. Daher sei ihm dieser Beitrag mit Dank und Anerkennung darge-
bracht.
1 Allgemein zu dieser Konfliktproblematik vgl. insbesondere die Beiträge von A. Eser
und H. Rostek sowie den Diskussionsbericht von G. Gollner, in: A. Eser/K. F. Schumann
(Hrsg.), Forschung im Konflikt mit Recht und Ethik, 1976, S. 7-76; ferner die Beiträge in:
M. Brüsten/W. D. Eberwein/Ch. Feltes/G. Gollner/K. F. Schumann, Freiheit der Wissen-
schaft - Mythos oder Realität? Eine empirische Analyse von Forschungskonflikten und der
rechtlichen Regulierung der Forschungsabwehr aus der Sicht der Sozialwissenschaftler,
1981.
926 Albin Eser
1. Humanexperiment
Wenn wir den Forscher zunächst als möglichen „Täter" in den Blick
nehmen wollen, so fällt in erster Linie das biomedizinische Humanexpe-
riment ins Auge 4 . In diesem Bereich der Forschung mit und am Men-
schen kann vor allem der Mediziner zum Rechtsverletzer werden: so
wenn er beispielsweise bei Arzneimittelerprobung einen Probanden
einem unverhältnismäßigen Lebens- oder Gesundheitsrisiko aussetzt
oder wenn er einen Patienten über seine Einbeziehung in ein noch
unerprobtes Therapieverfahren nur unzureichend aufklärt und dadurch
sein Selbstbestimmungsrecht mißachtet. Daß solches Vorgehen nicht
nur in den durch den Nürnberger Ärzteprozeß aufgedeckten Menschen-
versuchen in NS-Konzentrationslagem vorkam, sondern - ohne Rück-
sicht auf die politischen Verhältnisse - offenbar für jeden engagierten
Forscher zur latenten Versuchung werden kann, zeigen beispielhaft jene
gerichtsnotorisch gewordenen Fälle aus den U S A und Kanada: So etwa
das Verfahren gegen das Chronic Disease Hospital in New York, wo
einer Gruppe von schwerkranken Patienten, die sich zu einer scheinbar
vorteilhaften Testung ihrer Immunreaktion bereiterklärt hatten, in
Wirklichkeit virulente Krebszellen injiziert wurden. Oder das Verfahren
gegen die Universität von Saskatchewan, wo sich ein Student gegen ein
geringes Entgelt zu einer scheinbar harmlosen Arzneimittelerprobung
einen Katheter in seine Armvene einführen ließ, tatsächlich jedoch ein
neues Narkotikum erprobt werden sollte, und dazu der Katheter bis ins
Herz vorgeschoben wurde, wobei es zu einem vorübergehenden Herz-
2. Sozialwissenschaftliche Forschung
Eine solche Mißachtung von Persönlichkeitsrechten, womöglich noch
unter Gefährdung oder gar Verletzung von Leib oder Leben, kommt
jedoch nicht nur bei biomedizinischer Forschung in Betracht, sondern
unter Umständen auch bei psychologischen, soziologischen oder sonsti-
gen sozialwissenschaftlichen Experimenten 6 : So etwa, wenn - wie tat-
sächlich geschehen - Probanden in einen dunklen Raum verbracht
werden, um angeblich ihr Verhalten in längerer Abgeschlossenheit zu
testen, in Wirklichkeit jedoch ihre Reaktion bei plötzlichen Streßsitua-
tionen beobachtet werden soll, und zu diesem Zweck ein Brand vorge-
täuscht wird, aus dem scheinbar keine Rettung mehr möglich ist - mit
der Folge, daß Probanden in schockartige Todesangst geraten (§223
StGB). Wenn auch vielleicht nicht strafrechtlich, aber möglicherweise
als zivilrechtliche Persönlichkeitsverletzung relevant sind Fälle, in denen
Probanden in ihrem seelischen Gleichgewicht erschüttert werden, indem
ihnen zum Zweck von Reaktionstests vorgemacht wird, sie hätten starke
homosexuelle Neigungen, oder wenn psychiatrischen Rehabilitanden
nach vier aufeinanderfolgenden Durchgängen einer leicht wirkenden
Aufgabe eröffnet wird, die Leistungsstandards ihrer Altersklasse nicht
erfüllt zu haben.
Nicht weniger problematisch sind die Fälle, in denen Probanden zu
strafbarem Verhalten verleitet werden: So etwa dadurch, daß - wie in
jener berühmt-berüchtigten Gehorsamsstudie von Milgram — Proban-
5 Weitere Einzelheiten und Nachweise zu den vorgenannten Fällen finden sich bei
H.K. Beecher, Ethics and Clinical Research, in: J.M. Humber/R.F. Almeder (Hrsg.),
Biomedical Ethics and the Law, 1976, S. 2 1 5 - 2 2 7 ; / . Katz, Experimentation with Human
Beings, 1972, S. 284 ff, sowie bei E. Deutsch, Medizin und Forschung vor Gericht, 1978,
S. 35 ff. Vgl. auch Y. M. Cripps, Controlling Technology, Genetic Engineering and the
Law, 1980; ders., A New Frontier for International Law, in: Intern, and Comparative
Law Quarterly 29 (1980) S. 1-20.
6 Allgemein dazu wie auch zu den nachfolgend geschilderten Fällen L. Kruse!M. Kumpf
(Hrsg.), Psychologische Grundlagenforschung: Ethik und Recht, 1981, ferner E. Deutsch,
Rechtliche Grenzen des sozialpsychologischen Experiments, in: H. Ehmann/W. Hefer-
mehl/A. Laufs (Hrsg.), Privatautonomie, Eigentum und Verantwortung - Festgabe für
Herrmann Weitnauer, 1980, S. 297-313, sowie die Beiträge von Freidsort, Quensel, Schu-
mann, Kühne, in: Eser/Schumann (oben Anm. 1) S. 183 ff, 200ff, 285 ff, 353ff. Auch
etwaige Gesetzgebungsexperimente, wie sie neuerdings erwogen werden (vgl. K. Marxen,
Strafgesetzgebung als Experiment, in: Goltdammers' Archiv für Strafrecht 1985,
S. 535-552), können natürlich entsprechende Probleme aufwerfen.
Der Forscher als „Täter" und „Opfer" 929
3. Datenschutzverstöße
Ein weiteres Feld, auf dem vor allem der biomedizinische und sozial-
wissenschaftliche Forscher mit dem Recht in Konflikt geraten kann, ist
der Datenschutz'. So enthielten die Jahresberichte der Datenschutzbe-
auftragten immer wieder eindrucksvolles Anschauungsmaterial dafür,
wie sehr es - jedenfalls bis vor wenigen Jahren - weithin noch am
Respekt vor der Persönlichkeit des Bürgers gefehlt hat, wenn zu For-
schungszwecken personbezogene Daten verarbeitet werden sollten.
Freilich ist dieser Mangel eines „Unrechtsbewußtseins" bis zu einem
gewissen Grad auch verständlich, standen doch bis z u m Inkrafttreten
der Datenschutzgesetze personbezogene Daten praktisch dem freien
4. Humangenetik
E i n n i c h t w e n i g e r k o m p l e x e s P r o b l e m f e l d betritt m a n m i t d e m h e u t e
meist unter dem Stichwort „ H u m a n g e n e t i k " zusammengefaßten For-
schungsfeld, auf d e m sich n e b e n M e d i z i n e r n v o r allem B i o l o g e n betäti-
gen 1 0 . S o w e i t es dabei u m m e n s c h l i c h e F ö t u s f o r s c h u n g geht, h a t m a n in
G e s t a l t des E m b r y o s i m m e r h i n n o c h ein klar definierbares R e c h t s g u t 1 1 .
gemeinsamen Arbeitsgruppe des Bundesministers für Forschung und Technologie und des
Bundesministers der Justiz. Reihe „Gentechnologie: Chancen und Risiken, Bd. 6, 1985
(nach ihrem Vorsitzenden sog. Benda-Kommission), ferner A. Eser, Humangenetik: recht-
liche und sozialpolitische Aspekte, in: J. Reiter/U. Theile (Hrsg.), Genetik und Moral.
Beiträge zu einer Ethik des Ungeborenen, 1985, S. 130-145; W.Schloot (Hrsg.), Möglich-
keiten und Grenzen der Humangenetik, mit Beiträgen aus Medizin, Biologie, Theologie,
Rechtswissenschaft, Politik, 1984, ferner The Japan Foundation (Hrsg.), Conference on
Life Sciences and Mankind, March 19-22, 1984, Hakone/Japan, Tokyo 1984. Speziell aus
strafrechtlicher Sicht vgl. A. Eser, Biotechnologie und Recht: Strafrechtliche Bewehrung,
in: Bitburger Gespräche Jahrbuch 1986/1, S. 105-125; A.Kaufmann, Humangenetik und
Fortpflanzungstechnologien aus rechtlicher, insbesondere strafrechtlicher Sicht, in: Fest-
schrift für D. Oehler, 1985, S. 649-669; H. Ostendorf, Juristische Aspekte der extrakorpo-
ralen Befruchtung und des Embryotransfers beim Menschen, in: U.Jüdes (Hrsg.), In-
vitro-Fertilisation und Embryotransfer (Retortenbaby), 1983, S. 177-198; ders., Rechtliche
Thesen zum Schutz des menschlichen Lebens nach extrakorporaler Befruchtung, Recht
und Politik 1985, S. 50-52; vgl. auch Anm. 14.
" So jedenfalls vom Zeitpunkt der Nidation an (vgl. A. Eser, in: Schänke/Schröder,
oben Anm. 7), Vorbem. 5 f, 26 f vor § 218, während vor Abschluß der Nidation - und um
so mehr bei Nichtimplantierung nach In-vitro-Fertilisierung außerhalb des Mutterleibs -
der Embryo jedenfalls nach derzeitigem Strafrecht praktisch schutzlos ist (vgl. Eser in
Reiter/Theile, oben Anm. 10, S. 137 f sowie K. Lackner, die Neuregelung des Schwanger-
schaftsabbruchs, NJW 1976, 1233-1244, 1236). Um so mehr erhebt sich die Forderung
nach verstärkter Reflexion über den „moralischen Status" und Schutz des nichtimplantier-
ten Embryos: vgl. die Empfehlungen der „Réunion Internationale de Bioéthique" von
Rambouillet, April 1985, in: Bio-Engineering 2/1985, 39-44, sowie die englische Fassung
in: Centre d'Etudes des Systèmes et des Technologies Avancées (CESTA) (Hrsg.),
International Conference on Bioethics, 1986, S.341-352. Vgl. auch D.Giesen, Probleme
künstlicher Befruchtungsmethoden beim Menschen, JZ 1985, 652-661, insbes. S. 655 f
zum Diskussionsstand in Großbritannien und Australien. Aus medizinischer Sicht vgl.
E. Schleiermacher, Der Beginn des Lebens, in: Reiter/Theile (oben Anm. 10) S. 69-85
sowie A. Eser, Thesen zur Reproduktionsmedizin und Humangenetik, in: Künstliche
Fortpflanzung, Genetik und Recht. Lausanner Kolloquium, November 1985, Veröffent-
lichungen des Schweiz. Institut für Rechtsvergleichung, Zürich 1986, 305-330, insbes.
309 f, 319 ff. sowie Koch (unten Anm. 60).
Der Forscher als „Täter" und „Opfer" 931
Primat der Kindesinteressen hervorgehoben (III 1, 4). Im gleichen Sinne der Bericht der
Benda-Kommission (oben Anm. 10), insbes. bei A 2.1.1.2, sowie mit besonderem Nach-
druck das Sondervotum von P. Petersen im Benda-Bericht Β Anlage III sowie ders.,
Retortenbefruchtung und Verantwortung, 1985, insbes. 32 ff., 49 ff.
932 Albin Eser
5. Gentechnologie
Die damit eröffnete Versuchung zu eugenischer Selektion wird noch
bedrohlicher im Bereich der sog. Gentechnologie 16 . Auch wenn das bei
Mäusen bereits mögliche Klonieren dem Menschen vielleicht noch eine
Weile erspart bleibt und wir auf den Beweis, daß es doch so etwas wie
eine asexuelle „Jungfrauengeburt" geben könnte, wodurch das Kind
zum genidentischen Zwilling seiner Mutter wird, auch weiterhin gerne
verzichten möchten, so ist man offenbar doch schon so weit, daß man in
den Genbestand eingreifen und dadurch Erbanlagen verändern könnte.
Solange davon nur Gebrauch gemacht wird, um damit krankes Erbgut
auszuschließen, scheint sowohl die individuelle wie auch die gesell-
schaftliche Nützlichkeit auf der Hand zu liegen. Wie aber, wenn es nicht
mehr um therapeutische Eugenik, sondern um gezielte Selektion höher-
wertiger Anlagen oder sonstwie erwünschter Eigenschaften und damit
um eugenische Zuchtwahl geht? Nach welchen Interessen soll sich dann
eigentlich die Höher- oder Minderwertigkeit bestimmen? Und wer soll
darüber befinden dürfen? Während sich für die Feststellung von Erb-
schäden immerhin noch ein am „Normalzustand" orientierter Maßstab
finden ließe, ist ein positiver „Superioritätskatalog" kaum frei von
subjektiver Willkür. Nicht als ob es Selektion nicht allenthalben gäbe -
ist doch unser ganzes Bildungs- und Erziehungssystem bis in die Berufs-
karriere und Partnerwahl hinein ein einziger Präferenzprozeß. Was
jedoch all dies radikal von humangenetischer Selektion unterscheidet, ist
zumindest ein Minimum an individueller Freiheit des Betroffenen: Der
sonst nach höherem Strebende kann sich eigene Maßstäbe für seine
Lebensgestaltung setzen oder gänzlich dem Superioritätssog entziehen.
Was von solchen gesellschaftlichen Selektionsmechanismen die human-
genetische Selektion unterscheidet, ist das Fehlen jeglicher Selbstbestim-
mung des betroffenen Individuums. Denn wenn der Humangenetiker
minderwertig erscheinende Anlagen ausschaltet oder höherwertige
16 Allgemein dazu der Benda-Bericht (oben Anm. 10) sowie Bundesminister für For-
schung und Technologie (Hrsg.), Ethische und rechtliche Probleme der Anwendung
zellbiologischer und gentechnischer Methoden am Menschen, 1984; Friedrich-Naumann-
Stiftung (Hrsg.), Gentechnologie: Chancen und Risiken, 1985; W'.Klingmüller (Hrsg.)
Genforschung im Widerstreit, 1980; Max-Planck-Gesellschaft (Hrsg.), Gentechnologie
und Verantwortung, Berichte und Mitteilungen, 5/1985, sowie speziell zur Genomanalyse
neuestens E.Deutsch, Die Genomanalyse: Neue Rechtsprobleme, ZRP 1986, 1-4. Aus
amerikanischer Sicht vgl. u. n.J. C. Chalfant/M. E. Hartmann!A. Blakeboro, Recombined
D N A : A Case Study in Regulation of Scientific Research, in: Ecology Law Quarterly 8
(1979) 55-129; T. O. McGarity/K. O. Bayer, Federal Regulation of Emerging Genetic
Technologies, in: Vanderbilt L. Rev. 36 (1983) 4 6 1 - 5 4 0 ; / . C. Fletcher, Moral Problems
and Ethical Issues in Prospective Human Gene Therapy, in: Virg. L. Rev. 96 (1983)
515-546. Aus der Sicht der DDR vgl. R. Piechocki, Genmanipulation : Frevel oder Fort-
schritt?, 1983.
Der Forscher als „Täter" und „Opfer" 933
6. Pränatale Diagnostik18
Selbst eine so harmlos erscheinende Diagnostik wie die Amniozentese
oder die seit einigen Jahren im Vordringen begriffene Chorionbiopsie
kann insoweit zum rechtspolitischen Problem werden. Soweit derartige
Untersuchungen in der Frühphase der Schwangerschaft allein dazu
dienen, Mißbildungen des Kindes zu erkennen, mag der Abbruch noch
aus Notstandsgründen nach § 2 1 8 a Abs. 2 Nr. 1 StGB zu legitimieren
sein". Wenn die Amniozentese dagegen — wie in den U S A und neuer-
dings auch in China und Indien zu beobachten - gezielt zur Geschlechts-
bestimmung benutzt wird, um sich im Falle eines unerwünschten
Geschlechts des Kindes entledigen zu können 20 , so wird die Mitwirkung
" Vgl. A. Eser, Recht und Humangenetik. Juristische Überlegungen zum Umgang mit
menschlichem Erbgut, in: Schloot (oben Anm. 10) 185-199 ff, 217f sowie speziell zu den -
allerdings begrenzten - Möglichkeiten des Strafrechts in diesem Bereich Eser in Bitburger
Gespräche (oben Anm. 10). Vgl. auch W. Klingmüller, Genetik und Gentechnologie, in:
Naturwissenschaftliche Rundschau 38 (1985) 83-91, insbes. 89 f.
18 Allgemein dazu T. M. Schroeder-Kurth, Die Bedeutung von Methoden, Risikoabwä-
gung und Indikationsstellung für die pränatale Diagnostik, in: Reiter/Theile (oben
Anm. 10) 86-108.
" Näher zu den rechtlichen Voraussetzungen Eser, in: Schänke /Schröder (oben
Anm. 7), §218 a Rdn. 19-31; aus medizinischer Sicht U. Tettenborn, Schwangerschaftsab-
bruch aus genetischer und ärztlicher Sicht, in: Reiter/Theile (oben Anm. 10) 109-115.
20 Vgl. Der Spiegel 1982 Nr. 32, ferner Schroeder-Kurth (oben Anm. 18) 104; G.A.
Dove/C. Blow, Boy or Girl - Parent Choice?, in: Brit. Med. Journal 2 (1979) 1399-1400;
H.Harris, Prenatal Diagnosis and Selective Abortion, 1975.
934 Albin Eser
7. Unbeabsichtigte Forschungsrisiken
Mit solchen mittelbaren Auswirkungen ist bereits eine weitere
Dimension angesprochen, in der Forschung zur Gefahr werden kann,
und zwar durch unbeabsichtigte Nebenfolgen: So etwa dadurch, daß
gentechnologische und sonstige molekularbiologische Exerimente mit
pathogenem Spendermaterial zu nichtkontrollierbaren Infektionen oder
gar zur Entwicklung von krebserzeugenden Organismen oder sonstigen
toxischen Agenzien führen könnten. Auch vor einer möglicherweise
gefährlichen Resistenzsteigerung gegenüber Antibiotika ist bereits die
Rede. Gewiß mögen diese Ängste, wie sie durch die bekannten Richtli-
nien von Asilomar in Form von Sicherheitsvorkehrungen ihren Nieder-
schlag gefunden haben, zeitweilig übersteigert gewesen sein24. Dennoch
kommt man an der Tatsache nicht vorbei, daß bereits Forschungsunfälle
mit teils tödlichem Ausgang namentlich aus England und Amerika zu
zum 6. Monat auch ohne Vorliegen einer Indikation auf Verlangen der Schwangeren
abgebrochen werden kann: vgl. A. Eser, Schwangerschaftsabbruch im Ausland, in:
H. Müller/H. Olhing, Ethische Probleme in der Pädiatrie, 1982, S. 66-73, 71 f.
23 Aus ausländischer Sicht vgl. zum Ganzen auch J. M. Friedmann, Legal Implications
of Amniocentisis, in: 123 Univ. Penn. L. Rev. (1974/75), 92 f; G. Memeteau, L'experimen-
tation sur le foetus, in: R. Dierkens, Jus Medicum (6th World Congress on Medical Law),
Teil 1, 1984, S. 173-192.
24 Vgl. den Uberblick von E. Deutsch, Rechtspolitische Probleme der Gentechnologie,
in: MMG (Medizin Mensch Gesellschaft) 7 (1982) 88-97, 89 f, ferner N.Binder, Gentech-
nologie zwischen Forschungsfreiheit und Gefahrenschutz, in: Reiter/Theile (oben
Anm. 10) 116-129, sowie die von der Zentralen Kommission für Biologische Sicherheit
(ZKBS) vorgelegte „Risiko-Diskussion in der Gentechnologie", in: Bundesministerium für
Forschung und Technologie (oben Anm. 16) 171-173.
Der Forscher als „Täter" und „Opfer" 935
verzeichnen sind25: So etwa der Ausbruch von Pocken viren aus mikro-
biologischen Labors in London und Birmingham, wodurch in einem
Fall nicht nur der betroffene Forscher selbst, sondern auch zwei andere
laborfremde Kontaktpersonen den Tod fanden. Auch der Schaden, der
durch das Entweichen von Organismen aus einem amerikanischen Vete-
rinärlabor unter benachbarten Viehherden entstand, hat verständlicher-
weise einige Aufregung verursacht. Was dabei besonders beunruhigen
muß, ist die Tatsache, daß selbst in Höchstsicherheitslabors, wie dem
von Fort Detrick, innerhalb eines Zeitraumes von 25 Jahren 423 Infek-
tionsfälle, davon 3 mit tödlichem Ausgang, aufgetreten sind, und selbst
eine so hochgeschätzte Forschungsstätte wie das Massachusetts Institute
of Technology in Boston nach dem Tode eines Physikstudenten und
dadurch zutage getretenen Gefahrenquellen annähernd 400 000 US-
Dollar für Korrekturmaßnahmen aufzuwenden hatte.
All dies sei keineswegs im Sinne von Panikmache gesagt. Auch sind
diese Zahlen - wie von Forscherseite gerne eingewandt - zweifellos
gering im Vergleich zu den Opfern des Straßenverkehrs. Höhere Unfall-
zahlen dort sind jedoch kein Grund, um sich nicht auch hier um noch
größere Sicherheit zu bemühen. Immerhin sind die vorgenannten Fälle
auch ein Anzeichen dafür, daß Forschung nicht nur für den eigentlichen
Probanden, sondern darüber hinaus auch für den Forscher selbst, vor
allem aber auch für völlig unbeteiligte Dritte gefährlich werden kann,
und zwar aufgrund von Wirkungen, die gar nicht das eigentliche Objekt
der Forschung sind, sondern aufgrund von unvorhergesehenen und
daher um so schwerer beherrschbaren Risiken als unbeabsichtigte
Nebenfolgen eintreten können. Deshalb scheint mir die zeitweilig erwo-
gene Einführung eines Gentechnologiegesetzes nach wie vor diskus-
sionswert 2 ', wobei dies freilich - schon zur Vermeidung einer Diskrimi-
nierung bestimmter Forschungszweige - auf eine breitere, die gesamte
Forschung und Technologie erfassende Grundlage zu stellen wäre.
25
Allgemein dazu wie auch zu den nachfolgend angesprochenen Fällen vgl. insbeson-
dere Y.M. Cripps, Controlling Technology (Genetic Engineering and the Law), 1980,
S. 12, 16, 44; T. O. McGarity, Contending Approaches to Regulating Laboratory Safety,
in: Kansas L. Rev. 28 (1980) 183-242, 194. Vgl. neuestens auch die dpa-Meldung über
„Todesfälle bei Genforschung" infolge Krebserkrankung von französischen Forschern, in
Badische Zeitung vom 7./8.6.1986. Vgl. auch unten Anm. 72 zum kritischen Übergang
vom Labortest zur Außenfeldanwendung.
26
Vgl. - gegenüber der Kritik von Deutsch (oben Anm.24) - Eser in: Schloot (oben
Anm. 17) 186, 202.
936 Albin Eser
2. Zugangssperren
Doch selbst dort, wo sich der Forscher - wie hierzulande nach Art. 5
Abs. 3 Grundgesetz - an sich auf sicherem Verfassungsgrund bewegt
und demzufolge nicht seine Freiheit, sondern allenfalls deren Beschrän-
kung einer besonderen Begründung bedarf31, sieht er sich heute mannig-
fachen rechtlichen Behinderungen ausgesetzt. Zu dieser zweiten Art von
Forschungsgefährdung gehört vor allem das immer größer werdende
Problem von Zugangssperren gegenüber wesentlichen Forschungsquel-
len32. Wenn etwa dem Historiker oder Politikwissenschaftler der Zugang
zu staatlichen Archiven nicht als Recht, sondern allenfalls gnadenhalber
als „Vergünstigung" eingeräumt wird33, die er womöglich noch durch
Zusicherung von Wohlverhalten erbuhlen muß, so steht Forschungsfrei-
heit gerade für möglicherweise besonders interessante Forschungsberei-
che praktisch auf dem Papier.
Auch die Datenschutzgesetzgebung hat sich - so überfällig es auch
war, die Privatsphäre gegen das unkontrollierte Sammeln, Speichern und
Weitergeben von personbezogenen Daten abzuschirmen - schon ver-
schiedentlich als Zugangssperre erwiesen: So mußten beispielsweise
3. Vertraulichkeitsschutz
Damit ist ein Stichwort gefallen, das nicht nur als mögliche Zugangs-
sperre für den Forscher ein Hindernis bedeuten kann, sondern auch
nach erlangtem Vertrauen noch Probleme aufwirft: so bei Sicherung
dieses Vertrauens gegen den Zugriff Dritter, und zwar namentlich
gegenüber staatlichen Ermittlungsorganen. Dabei geht es um die -
soweit ich sehe - weltweit noch ungelöste Frage, ob dem Forscher
für Informationen oder sonstige Materialien, die er im Zuge seiner
Forschungsarbeit aufgrund ausdrücklicher oder stillschweigender Zusi-
cherung vertraulicher Behandlung erlangt hat, sowohl ein Zeugnisver-
weigerungsrecht wie auch dementsprechende Beschlagnahmefreiheit
einzuräumen ist37. Solange beispielsweise ein Kriminologe befürchten
muß, daß er über kriminelles Verhalten eines beobachteten oder selbst-
berichtenden Probanden in den Zeugenstand gerufen oder er zur Her-
ausgabe diesbezüglicher Forschungsprotokolle gezwungen werden
kann, bleibt ihm nur die Wahl zwischen Preisgabe des Informanten und
dem damit zwangsläufigen Verlust einer Forschungsquelle einerseits
oder der heroischen Erduldung einer Beugestrafe andererseits 38 . Dem
Journalisten hingegen sind insoweit schon längst gewisse Vertraulich-
keitsprivilegien eingeräumt ( § 5 3 Abs. 1 N r . 5, § 9 7 Abs. 5 StPO). Sollte
aber das, was für die Pressefreiheit recht ist, nicht auch für die For-
schungsfreiheit billig sein?
vgl. die Beiträge in A. Eier/K. F. Schumann (oben Anm. 1), 155-266, ferner H.-L. Schrei-
ber, Das Strafrecht als Mittel der Forschungskontrolle, in: R. Kurzrock (Hrsg.), Grenzen
der Forschung, 1980, S. 141-149.
38 Vgl. aus der amerikanischen Rechtsprechung United States v. Popkin, 460 Fed. Rep.
2nd (1972) 328 ff. Vgl. ferner E. Freidson, Rechtsschutz für Sozialforschung, in: A.Eser/
K.F. Schumann (oben Anm. 1), 183-199, insbes. 187f sowie Endruweit (oben Anm. 34).
39 Vgl. beispielsweise die Berichte in Die Zeit vom 27.9.1985 Nr. 40 sowie in der
Vorschläge von ]. Blum/A. Kaufmann, Ziele, Grenzen und praktische Wege einer techno-
logischen Zusammenarbeit zwischen Hochschule und Industrie, in: Wissenschaftsrecht,
Wissenschaftsverwaltung, Wissenschaftsförderung 18 (1985), 1-40. Vgl. auch H.C.
Kelman, When Scholars Work With the C.I. Α., in: The New York Times von March 5,
1986, A 27.
43 Zur Wissenschaft als Träger universaler Orientierungen vgl. namentlich J. Mittel-
straß, Wissenschaft als Lebensform. Reden über philosophische Orientierungen in Wissen-
schaft und Universität, 1982.
44 Vgl. dazu das Urteil BVerfGE 47, 327 ff ( = NJW 1978, 1621-1624), wo auch die
, s Insoweit - aber eben nur insoweit - vermag ich dem Forschungsverständnis von
ker, Einleitung, in: E.Ströker (Hrsg.), Ethik der Wissenschaften? Philosphische Fragen,
Bd. 1, 1984, S. 9-13. - O b statt von einer solchen Ethik der „Wissenschaft" nicht vielleicht
besser von einem besonderen „Ethos des Wissenschaftlers" - bestehend aus geschärfter
Einsicht und explizitem Eintreten für ethische Anforderungen (Beispiel: Eid des Hippo-
krates) - gesprochen werden sollte, ist dabei von untergeordneter Bedeutung, sofern sich
der einzelne Wissenschaftler selbst als Subjekt der Wissensbildung, nämlich als Motor von
Entwicklungen und nicht nur als Teil einer Institution - im Sinne eines bloßen „Rädchens"
- versteht: So zu Recht J. Mittelstraß, Zur wissenschaftlichen Rationalität technischer
Kulturen, in: Physikalische Blätter 40 (1984) Nr. 3, 64-68; vgl. auch seine in Anm. 43
angeführte Schrift.
47 Das damit angesprochene Spannungsverhältnis zwischen ethischer und rechtlicher
Freiheit und Verantwortlichkeit des Forschers kam auch auf dem Symposion der Max-
Planck-Gesellschaft auf Schloß Ringberg/Tegernsee im Mai 1984 über „Verantwortung
und Ethik in der Wissenschaft" (Max-Planck-Gesellschaft/Berichte und Mitteilungen 3/84)
immer wieder zur Sprache (vgl. insbes. S. 194 ff). Daß dieses Ethos nicht nur manchen
Wissenschaftlern in der NS-Zeit in grauenhafter Weise verlorenging (vgl. etwa J. Riedl, in:
Die Zeit vom 27.9.1985 Nr. 40), sondern auch sonst aus ungezügeltem Ehrgeiz das
Verhältnis von Wissenschaft und Wahrheit gestört sein kann, zeigen die mehr als nur zu
unterhaltsamer Schadenfreude gedachten Berichte von A. Fölsing, Der Mogelfaktor, 1984.
Vgl. auch den Bericht von Ph. M. Boffert, Major Study Points to Faulty Research at Two
Universities, in: The New York Times von April 22, 1986, Science Times C 1, 11.
942 Albin Eser
48 Speziell zum Teilbereich der Humangenetik und Gentechnologie ist eine solche
E.Ströker, Ich und die anderen. Die Frage der Mitverantwortung, 1984, Ströker und
Mittelstraß (je oben A n m . 4 6 ) ; Schuler, Überlegungen zur Ethik des Humanexperiments,
Der Forscher als „Täter" und „Opfer" 943
in: H. Lenk (Hrsg.), Ethik der Wissenschaft, Bd. 3: Humane Experimente, 1985, 86-102;
O.Höffe, Sittlich-politische Verantwortung der Wissenschaften, in: A. v.Zelowsky u.a.
(Hrsg.), Herausforderung und Besinnung, H. 7: Wissenschaft und Verantwortung, 1982,
S. 47-71 ; H.Jonas, Philosophical Reflections On Experimentation With Human Subjects,
in: J.Humber/R.F. Almeder Hrsg.), Biomedical Ethics and the Law, 1976, S. 239-264;
ferner - insbesondere zum Verhältnis von Verantwortung und Sorgfaltspflicht -
H. Pietschmann, Personale Verantwortung und die Struktur naturwissenschaftlichen Den-
kens, in: J.Rehrl (Hrsg.), Christliche Verantwortung in der Welt der Gegenwart, 1983,
S. 79-92, sowie W. Becker, Die Spannung zwischen ethischer und politischer Verantwor-
tung, in: Griechischer Humanitärer Verein, Internationales Zentrum humanistischer Fas-
sung, Studien und Forschungen Nr. 36, 1985, S. 244-257, wonach Wissenschaftler zwar
ethisch verpflichtet seien, gute Arbeit zu leisten, die nachträgliche Produktbewertung aber,
aus der die Verantwortung resultiert, bei der Gesellschaft liege. Aus sozialistischer Sicht
für eine vorrangige Verantwortung der Gesellschaft vgl. H.-M. Dietl, Erforderliches und
Mögliches bei der Bearbeitung ethischer Probleme der Genetik, in: E.Luther (Hrsg.),
Ethische Werte in der Wissenschaft, Teil 1, Halle 1980, S. 19-28.
50 Vgl. etwa der Überblick über Codes of Ethics von D. A. Frenkel, Human Experi-
mentation: Codes of Ethics, in: A. Carmi, Medical Experimentation, o. J., 127-137 sowie
die C/OMS-Richtlinien (Organisation mondiale de la santé - Conseil des organisations
internationales des sciences médicales, Directives internationales proposées pour la recher-
che biomédicale impliquant des sujets humains), Genève 1982.
51 Skeptisch dazu namentlich St. Straziscar/J. Milanski, Ethical and Legal Regulation of
Biomedical Research in Slovenia, Yugoslavia, in: R. Dierkens (oben Anm. 23) Teil 2, 1984,
S. 255-259.
944 Albin Eser
52 Vgl. Eser in Bitburger Gespräche (oben Änm. 10), S. 107 ff; Schreiber (oben Anm. 37)
3. Strafrechtliche Sanktionierung
Freilich wird selbst durch verwaltungsrechtliche Prävention und zivil-
rechtliche Restitution allein ein voller Schutz gegen die Beeinträchtigung
legitimer Interessen durch Forschung vermutlich nicht zu sichern sein.
Sobald man aber auch nur partiellen Strafrechtsschutz in Erwägung
zieht, stellt sich die Frage, ob dafür bereits die allgemeinen Schutztatbe-
stände - wie die für Leib (§§ 223-226 a StGB), Leben ( § § 2 1 1 - 2 2 2 StGB)
und Freiheit (§ 240 StGB) - genügen können, oder ob es nicht speziell
auf Forschungsrisiken zugeschnittene und dabei auch das Forschungsin-
teresse mitberücksichtigende Tatbestände geben müßte. Ohne dies hier
näher erläutern zu können, wären dabei durchaus unterschiedlich
strenge Sanktionierungsstufen denkbar: angefangen von der Ahndung
prozeduraler Pflichtverletzungen 5 ' durch bloße Geldbußen, wie seit
einigen Jahren in sehr differenzierter Weise in Spanien57, fortschreitend
zur Strafbewehrung von Probandenschädigung oder -gefährdung (wie
im deutschen Arzneimittelgesetz) 58 , bis hin zum totalen Verbot gewisser
Forschungen. Diesen letzten Weg sind bereits einige US-Staaten durch
das strafrechtliche Verbot bestimmter Formen von Fötusforschung
gegangen59. Auch gegenüber reproduktionsmedizinischen und gentech-
nologischen Eingriffen in das menschliche Erbgut sind gewisse Verbots-
tendenzen zu beobachten und teilweise auch berechtigt 60 .
56 Wie beispielsweise in England: vgl. The Health and Safety (Genetic Manipulation)
gico de Legislación 1978, Randnummer 998 (S. 1106-1107) sowie die ausfüllende Verord-
nung, Orden de 3 de agosto de 1982, núm. 20605, Art. 16 u. 17, in: Buletín Oficial del
Estado, Núm. 192 vom 12. Aug. 1982, 21750-21756.
51 Vgl. A. Eser, Kontrollierte Arzneimittelprüfung in rechtlicher Sicht, in: Der Internist
4. Maßgebliche Prinzipien
Doch welche Art von Präventions- und Sanktionierungsinstrumenten
auch immer man letztlich wählt, grundentscheidend bleibt die Frage
nach den materialen Kriterien, die für die Wahrung von Drittinteressen
maßgeblich sein sollen. Diese Frage aber ist noch weithin ungeklärt,
geschweige einheitlich geregelt, und zwar selbst in solchen Forschungs-
bereichen nicht, die - wie das biomedizinische Humanexperiment -
bereits besonders eingehend diskutiert und jedenfalls für den Teilbereich
der Arzneimittelerprobung in vielen Ländern auch schon gesetzlich
normiert sind.
Diese Klärungsbedürftigkeit besteht selbst für das Einwilligungserfor-
dernis, wonach ein anderer nur mit seinem Einverständnis in ein Experi-
ment einbezogen werden darf. Obgleich dieses Erfordernis zwar überall
als essentiell gilt" und beispielsweise in Ägypten sogar verfassungsrecht-
lich verankert ist62, erscheint es in seinen Einzelforderungen aber noch
keineswegs voll durchschaut. Denn wenn die Einwilligung des Proban-
den wirklich unverzichtbar wäre, wie wären dann Humanexperimente
an Kindern, Geisteskranken oder sonstwie in ihrer Einwilligungsfähig-
keit beschränkten Versuchspersonen rechtlich zu verantworten? Uber
diese Hürde hilft auch eine Ersatzeinwilligung durch den gesetzlichen
Vertreter kaum hinweg, dürfte es doch schwerlich noch vom Sorgerecht
gedeckt sein, das Kind einem Versuchsrisiko auszusetzen, wenn es
davon - wie für Kontrollprobanden typisch - keinen eigenen Vorteil
erwarten kann. Wenn trotzdem die Forschungspraxis auf das Kind als
Versuchsperson aus wissenschaftlichen Gründen nicht glaubt verzichten
zu können, bleibt wohl nur die Suche nach einem einwilligungsunabhän-
gigen Legitimierungsgrund63.
Von ähnlich zentraler Bedeutung ist die Nutzen-Risiko-Abwägung·.
und zwar nicht nur als etwaiges Zusatzerfordernis zur Einwilligung
beim Humanexperiment, sondern weit darüber hinaus bei jeder Art von
risikobehafteter Forschung, wie etwa für die Gentechnologie und
Nuklearforschung. Denn selbst dort, wo eine solche Nutzen-Risiko-
Abwägung nicht ausdrücklich gefordert ist, kann sie sich doch mittelbar
einerseits in fahrlässigkeitsbegründenden Sorgfaltspflichten oder ande-
rerseits tatbestandseinschränkend oder rechtfertigend in der Rechtsfigur
des „erlaubten Risikos" niederschlagen. Dabei wäre schon allein diese
verschiedenartige dogmatische Lokalisierung einer rechtsvergleichenden
44 Vgl. E.Deutsch, Arztrecht und Arzneimittelrecht, 1983, S.218f, 224f, sowie allge-
mein zur Toleranzgrenze bei Risiko H. Wagner, Die Risiken von Wissenschaft und
Technik als Rechtsproblem, N J W 1980, 665-672.
Der Forscher als „Täter" und „Opfer" 947
5. Internationale Absicherung
Selbst in internationalrechtlichen Dimensionen wird man bereits den-
ken müssen 66 . Denn ähnlich wie bei Steuerflucht in ausländische Oasen
könnten auch Forscher, die sich im eigenen Lande strengeren Restriktio-
nen unterworfen sehen, versucht sein, ihre Experimente in Ländern mit
laxerer Gesetzgebung oder Praxis durchzuführen. Auch dafür gibt es
bereits besorgniserregende Anzeichen, wie etwa die vor einigen Jahren
bekanntgewordene Erprobung von Pflanzenschutzmitteln in Ägypten
durch einen schweizerischen Pharma-Konzern 67 . U m ein solches Aus-
weichen in gleichsam gesetzlose „refuges génétiques" jedenfalls bei
Gentechnologie zu unterbinden, hat sich der Europarat bereits in einer
Empfehlung vom Januar 1982 dafür ausgesprochen, die Unantastbarkeit
des genetischen Erbgutes in den Menschenrechtskatalog aufzunehmen
und durch Harmonisierung der nationalen Schutzbestimmungen abzu-
6. Effizientere Selbstkontrolle
Freilich, bevor man derart weitgehende rechtliche Sanktionierungs-
schritte ins Auge faßt, wären zunächst doch noch die Chancen einer
effizienteren Selbstkontrolle der „scientific community" auszuschöpfen.
Dies würde aber zumindest zweierlei voraussetzen:
— Zum einen, daß der Forscher - und zwar bereits der Grundlagen-
wissenschaftler - seine eigene Verantwortlichkeit für die Folgen seines
Tuns begreift und sie nicht einfach auf den Nutzanwender abzuschieben
sucht69. Denn selbst wenn sich Wissenschaft und Technologie nach wie
vor begrifflich unterscheiden lassen, so scheint mir die Zeit, in der man
für die Grundlagenforschung schrankenlose Freiheit glaubte proklamie-
ren zu können, um dann für deren technologische Anwendung allein
den Politiker verantwortlich zu machen 70 , in vielen Bereichen längst
vorbei: so vor allem in der Nuklear- und Genforschung 71 . Denn nicht
nur, daß hier bereits durch die Grundlagenforschung als solche Naturge-
gebenheiten verändert und Gefahrenquellen geschaffen werden können.
Auch schreitet gerade in der Gentechnologie der Fortschritt derart
68 Empfehlung des Europarats vom 26.1.1982 Nr. 934, abgedruckt in: Bundestags-
Einstellung R.Marten, Die Gegenwart des Fortschritts, in: G.Bliimle, Fortschritt und
Schöpfungsglaube, 1984, 11-33 (14): „Wissen sei selbstverständlich ein wertfreies G u t . . .
Der wissende und der moralische Mensch trennen sich. Das ist die Stunde der neuen
Sophisten: Wissenschaftler entlassen sich aus der Verantwortung der von ihnen bereitge-
stellten Güter. Die ,anderen' würden's schon richten. Wissenschaftlich arbeiten sie Tag
und Nacht, moralisch aber nur alle vier Jahre beim geheimen Ankreuzen auf dem
Wahlschein. - Sapere aude, wage zu wissen - ein schönes Wort, ein unwahr gewordenes
Wort. .Unsere' Wissenschaftler wagen selber gar nichts. Die Gefahr, die sie heraufbe-
schwören, reichen sie blind weiter." Vgl. auch C.F. v. Weizsäcker: „Was soll ein Mensch
(der Forscher) tun, der etwas weiß, was die Entscheidungsträger nicht zu denken vermö-
gen?" (in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5.10.1985, Nr. 231) sowie die oben
Anm. 47 angesprochenen Diskussionen.
71 Vgl. u. a. F. Becker, Law vs. Science: Legal Control of Genetic Research, in: 65
Kentucky L. J. 1976/77, 880-894;/. R. Ferguson, Scientific Inquiry and First Amendment,
in: 64 Cornell L. Rev. (1979), 639-665; G. Goldberg, Controlling Basic Science: The Case
of Nuclear Fusion, in: 68 Georgetown L. Journal (1980), 583-627; J. Lederberg, The
Freedoms and the Control of Science: Notes from the Ivory Tower, in: 45 South. Cal. L.
Rev. (1972), 596-614.
Der Forscher als „Täter" und „Opfer" 949
72 Ein gerichtsnotorisch gewordenes Beispiel dafür ist der Ende 1985 in Kalifornien
betriebene Ubergang gentechnologisch veränderter Bakterien vom Labor auf den Feldver-
such (vgl. Biotechnology Law Report 5 [1986] No. 1-2, S. 5-7, 25-33), wobei Forschung
gar nicht anders als durch Anwendung voranzubringen ist. Gleiches gilt im Grunde auch
für jede Arzneimittelerprobung oder ein sonstiges Humanexperiment, wie insbesondere
auch für die Erprobung von Fertilisierungstechniken.
73 Vgl. H. Lübbe, Die Wissenschaften und die praktische Verantwortung der Wissen-
schaftler, in: H.M. Baumgartner/H.J. Staudinger (Hrsg.), Ethik der Wissenschaften,
B d . 2 : Entmoralisierung der Wissenschaften, 1985, 57-73.
Gedanken zur „Normalität des Verbrechens"
Ein Beitrag zur Ethik des Strafverfahrens
K A R L PETERS
I.
' Sie wurzelt in den Auffassungen von Durkheim, Les règles de la méthode sociologi-
que 1895; dazu eingehend Göppinger, Kriminologie 4. Aufl. 1980 S. 51 ff; ferner Kaiser,
Kriminologie (1980), S.27, 233.
1
Die Formel „Normalität des Verbrechens" taucht als Gegenstand kriminologischer
Betrachtung heute in den meisten Lehrbüchern und Übersichtswerken an verschiedenen
Stellen auf, wie sich aus den Sachregistern ergibt. Eisenberg, Kriminologie, 2. Aufl. 1985;
Göppinger, Kriminologie, 4. Aufl. 1980; Kaiser, Kriminologie 1980; s.a. Kleines krimino-
logisches Wörterbuch, hrsg. von Kaiser/Kemer/Sack/Schellhoss, 2. Aufl. 1985.
952 Karl Peters
II.
Der Satz „Kriminalität ist normal" kann in verschiedener Weise
verstanden werden 4 . Er kann zunächst rein empirisch, sodann bewer-
tend begriffen werden. Er kann sowohl von der Gesellschaft her als auch
vom einzelnen Täter her gedeutet werden. Schon der Begriff der Krimi-
nalität bedarf der näheren Deutung. Erst recht ist der Begriff der
„Normalität" unbestimmt 5 . Da es um einen Satz aus der Soziologie geht,
kann die den Juristen und Medizinern geläufige Deutung: normal =
gesund, anomal = krankhaft (Zurechnungsfähigkeitsproblem) hier aus-
gesondert werden.
1. Empirisch besagt der Satz: „Kriminalität ist normal", daß Kriminali-
tät eine Massenerscheinung in jeder Gesellschaft ist. Sie kann, wie auch
immer das Gemeinschaftsleben gestaltet ist, nicht hinweggedacht wer-
den. Kriminalität ist ein üblicher Vorgang. Sie mag zwar Schwankungen
unterliegen, aber im Kern gehört sie zum Bestand des staatlichen,
3
Deswegen ist es ein Grundirrtum zu glauben, philosophische und metaphysische
Probleme der Kriminologie ausscheiden zu können. Vgl. hierzu K. Peters, Zur Entwick-
lung der deutschen kriminologischen Wissenschaft, JR 1974, 230 (233). Als Hauptvertreter
einer Verknüpfung von empirischer und philosophischer Verknüpfung der Kriminologie
ist Wilhelm Sauer zu nennen, Kriminalsoziologie 1933; Kriminologie 1930.
4
Kennzeichnend dafür ist, daß das Schlagwort: „Normalität des Verbrechens" im
kleinen kriminologischen Wörterbuch, hrsg. von Kaiser/Kerner/Sack/Schellhoss, S. 319 f,
ohne erläuternden Text auf verschiedene andere Schlagworte verweist.
5
Zum Begriff der Normalität vgl. auch Mannheim, Vergleichende Kriminologie
(deutsche Übersetzung) Bd.I (1974), S.340.
Gedanken zur „Normalität des Verbrechens" 953
III.
7 Zur Dunkelfeldforschung: Eisenberg, S. 121 f; Göppinger, S. 158 ff; Kaiser, S. 28, 143,
233ff; Sack, Dunkelfeld, Kleines kriminologisches Wörterbuch, S.64ff; s.a. Kerner,
Verbrechenswirtschaftlichkeit und Strafverfolgung (1973), S. 39 ff.
8 Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung, 3. Aufl. 1923, S.250.
9 Exner, Kriminalbiologie 1943, S.20, 171.
10 Heindl, Der Berufsverbrecher, 5. Aufl. 1927, S.228.
11 K. Peters, Zeugenlüge und Prozeßausgang 1939, S. 3. Nach Schätzungen von Staats-
14
Zit. bei Roesner, H d K Bd. II, l . A u f l . 1933, S.33.
15
Ins Christliche übertragen lautet der Satz: „Keiner ist ohne Sünde" (l.Joh. 1,8).
956 Karl Peters
Liebesverbund 17 , von dem sie sich nicht trennen können. Jede Loslösung
führt zu neuem Unrecht. Damit ergibt sich das scheinbar paradoxe
Gebot, auch in der Strafrechtspflege' 8 und in dem Strafvollzug der Liebe
Geltung zu schaffen.
Die Verletzung der Liebe, wo immer sie erfolgt, führt zur mensch-
lichen und gesellschaftlichen Leere, zur Friedlosigkeit, zu Lüge und
Mißtrauen, zur Angst und zur Zerstörung von Werten. D a die Liebe
auch den gesellschaftlichen Bereich betrifft, kann sie der Gesellschaft
nicht gleichgültig bleiben. Das Ringen der Gesellschaft und in der
Gesellschaft um den letzten Grundwert ist für den Bestand des Friedens,
der Freiheit und der Menschlichkeit unausweichlich.
Die Mittel, die Werte auszudrücken, sind nicht in erster Linie Gewalt
und Strafe". An erster Stelle steht das Vorleben der Werte in Gesell-
schaft und im Einzelleben. Sie müssen in der Politik, in der Verfassungs-
wirklichkeit 20 , in der Wirtschaft und in der Kultur ihren Ausdruck
finden. Sie müssen Grundlage der Erziehung und der Leitung von
Menschen sein. Die Bindung an die Normen der Ethik darf nicht als
Last, sondern als Befreiung angesehen werden. Auch die Sprache ist
kennzeichnend für die Einstellung zu den Werten. Die Minderung der
Werthaltung zeigt sich an der verharmlosenden Wortbildung. Auf-
schlußreich ist die Verwendung von wertneutralen Begriffen in einem
Teil der neueren Kriminologie im Gegensatz zur Rechtswissenschaft;
z . B . abweichendes Verhalten statt Verbrechen 21 , soziale Kontrolle statt
Strafverfolgung 22 . Die dem Strafrecht zugrundeliegenden Begriffe, wie
religiös aus der Gottesebenbildschaft des Menschen, aus der Erlösung durch Christus und
aus dem Berufensein zu G o t t .
18 Vgl. zum Strafprozeß mein Lehrbuch Strafprozeß, 4. Aufl. 1985, S . 4 4 , 8 7 ; zum
Strafvollzug meine Grundprobleme der Kriminalpädagogik, S. 141 ff.
" Das Strafrecht hat daher subsidiären Charakter. Auch wer das Strafrecht in einer
vorgegebenen N o r m e n o r d n u n g verwurzelt sieht, braucht keineswegs für eine ausgedehnte
Strafrechtsordnung einzutreten. Maßstab ist vielmehr die Notwendigkeit des Schutzes der
Werte und der Sicherheit der Allgemeinheit und des einzelnen. Z u m Grundsätzlichen vgl.
K. Peters, Lang-Hinrichsen, Grundfragen der Strafrechtsreform 1959; ferner mein Referat
Glaube und Strafrecht in Heinitz/Würtenberger/Peters, Gedanken zur Strafrechtsreform
1965; neuerdings zu Fragen christlicher Ethik und Strafrecht Lüderssen, Vergeltung und
Sühne vor den F o r m e n der christlichen Ethik - kein Platz mehr für absolute Strafzwecke?
in Lüderssen, Kriminalpolitik auf verschlungenen Wegen 1981, S. 13. Zur Gesamtproble-
matik aus theologischer Sicht: Bernhard Häring, Frei in Christus (Moraltheologie), Bd. III
1981, 401 ff; Thielecke, Theologische Ethik, Bd. III 1964, S. 380 ff.
20 Hier gewinnt vor allem das Grundgesetz mit seinen Wertinhalten eine hervorragende
Bedeutung.
21 Vgl. Liiderssen/Sack, Seminar: Abweichendes Verhalten I. Die selektiven N o r m e n
der Gesellschaft 1974; zum Begrifflichen vgl. Göppinger, Kriminologie S . 4 6 .
22 Zur Herkunft und Ausbreitung des Begriffs der sozialen Kontrolle vgl. Göppinger,
Kriminologie, S. 44 ff.
958 Karl Peters
ein Erziehungsrecht handelt, das noch mit jungen Menschen zu tun hat, die erst in die
Rechtsordnung hineinwachsen. Zu einem großen Teil sind die strafgesetzlichen Verstöße
noch Zeichen von für junge Menschen typischen Konflikten, auf die der Begriff „Krimina-
lität" nicht paßt. Hier könnte man tatsächlich die Realität mit dem Satz umschreiben:
„Konflikte sind normal". Aber auch hier greifen Wertungen ein, die dem Erziehungsge-
danken zugrunde liegen. Von Kriminalität sollte man im Hinblick auf den Stand der
Entwicklung überhaupt nicht sprechen. Zu alldem K. Peters, Die Grundlagen der Behand-
lung Jugendlicher, Monatsschrift für Kriminologie 1966, S.49.
24 Zu diesem Schuldbegriff meine Abhandlung „Glaube und Strafrecht" in Heinitz/
Würtenberger/Peters, Gedanken zur Strafrechtsreform 1966, S. 39 ff.
25 Nach dieser Auffassung beruht die Einzeltatschuld auf der Lebensführungsschuld.
5. Die ethische Würdigung von Tat und Täter führt zu einem paradoxen
Schluß: Statistisch hat der Satz: „Kriminalität (Unrecht, Schuld) ist
normal" Anspruch auf Gültigkeit. Ethisch, d.h. von der sittlichen
N o r m her gesehen, gilt der Satz „Kriminalität (Unrechttun) ist
anomal."
IV.
Wer sich in der Strafrechtspflege betätigt, sieht sich vor ein Bündel
widersprechender Gegebenheiten und Gedanken gestellt. Auf der einen
Seite steht die Notwendigkeit des Strafrechts, des Strafverfahrens und
des Strafvollzugs. Das Organ der Strafrechtspflege, vor allem der Rich-
ter, muß durch sein Amt Zeugnis für die im Strafrecht geschützten
Werte geben. Er muß bemüht sein, der Allgemeinheit Sicherheit zu
gewährleisten und durch seinen Spruch warnend auf die Einhaltung des
Rechts hinzuwirken. Auf der anderen Seite kann er sein Amt nur
unvollkommen ausführen. Wer vor den Richter kommt, ist nahezu
zufällig. So wird Gerechtigkeit zur Ungleichheit. Der Boden der
Gerechtigkeit wird aber insofern noch schwankender, als vieles gleich-
wertiges Unrecht außerhalb der Kriminalität liegt. Der Richter repräsen-
tiert eine Gesellschaft, deren Glied er zugleich ist, die selbst in der
Vielheit des Unrechts steht. Die Verknüpfung von Straftat und Ethik
gibt ihm den Anschein des Pharisäers26. Den Urteilsspruch selbst muß er
im Dunkelfeld unwahrer Aussagen und Beweisverfälschungen suchen.
So tritt zu allem anderen noch die Unsicherheit der Sachverhaltsaufklä-
rung hinzu. Der Spruch selbst, als Ausdruck der Ethik gedacht und als
Anfang eines neuen Lebens für den Betroffenen gemeint, trägt die
Gefahr in sich, im Strafvollzug sowohl die ethische Klarstellung als auch
das Ziel der Rückgliederung (Resozialisation) zu verfehlen27, zumal auch
in den Vollzug die negativen Wellen der gesellschaftlichen Wirklichkeit
hineinschlagen.
Das richterliche Amt ist gebrochen in seiner Notwendigkeit und
Zerspaltenheit, in seinen sittlichen Ansprüchen und in den Unzuläng-
lichkeiten. In dieses Amt ist der Richter nicht nur als Organ und
Repräsentant der Gesellschaft hineingestellt. Er bringt in sein Amt seine
26
Vor einer ideologischen Erhöhung der Gesellschaft über den Rechtsbrecher warnt
Thielecke, Theologische Ethik III (1964), S.418. Die irdische Strafgerichtsbarkeit steht
unter der Bedingung der prinzipiellen Gleichheit. Sie zeigt sich für den gläubigen Men-
schen an der gleichen Stellung im „Jüngsten Gericht". Ähnlich K.Peters, Justiz als
Schicksal 1979, S. 243. Mir scheint sich dadurch die von Liiderssen, Vergeltung und Sühne
vor dem Forum der christlichen Ethik, in: Kriminalpolitik auf verschlungenen Wegen
1981, S. 18, ausgesprochene Kritik aufzulösen.
27
Vgl. hierzu meine Abhandlung: Die ethischen Voraussetzungen des Resozialisie-
rungs- und Erziehungsvollzugs, Heinitz-Festschrift 1972, S. 501.
960 Karl Peters
Persönlichkeit ein. Das bedeutet, er muß sein Amt nicht nur vor der
Gesellschaft verantworten, sondern auch vor sich und dem, dem er die
letzte Antwort auf sein Handeln schuldet28. Der Richter kann sich nicht
allein auf die Gesellschaft und deren Gesetz berufen. Er muß vor einem
höheren Gericht Rede und Antwort stehen.
Sicherlich ist der Richter auch der „Mund des Gesetzes". Er spricht
aber auch seine Worte. Damit tritt der Richter dem Betroffenen als
Mensch zu Mensch gegenüber. Das Strafverfahren wird so zu einem
Gespräch zwischen „Gebrochenen".
Wie jedes Gespräch kann auch dieses nur in der Wahrhaftigkeit
geführt werden. Das Verfahren muß vom Richter her gesehen „rein"
sein. Ist der Richter der Repräsentant einer ethischen Wertordnung, so
muß er diese selbst bejahen und vertreten. Er muß um sie selbst ringen
und sich um sie bemühen. Es ist daher nicht gleich, wie der Richter sich
in seinem Leben verhält. Sicherlich wird ein Urteil nicht dadurch
unwirksam, daß der Richter selbst ein „Dieb" 29 ist. Der selbst ungetreue
Richter korrumpiert das Recht. Aber schon die Tatsache, daß das nicht
vom Strafrecht erfaßte Unrecht die gleiche Wurzel wie das kriminelle
Unrecht hat und daß jeder Mensch ihm unterliegt, versetzt den Urteilen-
den in einen unausweichlichen Widerspruch.
Die Frage ist, wie wird der Urteilende mit diesem Widerspruch fertig?
Dazu gibt es verschiedene Wege. Man kann den Widerspruch dadurch
überspielen, daß er aus dem Bewußtsein ausgeschaltet wird. Das „Urtei-
len" wird guten Gewissens geübt. Geeignete Mittel dazu sind Routine
und eine äußerliche Betrachtung des Strafrechts und des Strafverfahrens.
Eine solche Haltung wird durch eine formale Rechtsausbildung ermög-
licht. Eine andere Möglichkeit besteht darin, zwar die Problematik zu
sehen, ihr aber dadurch auszuweichen, daß das Richten als notwendig
anerkannt wird und die richtende Tätigkeit nicht weiter hinterfragt wird.
Auch der Versuch, Amt und Persönlichkeit, Beruf und Leben zu
trennen, stellt keine Lösung dar, da die Persönlichkeit mit dem Amt
verflochten ist.
Richten kann nur in Erkenntnis des Zwiespalts und im Bewußtsein
der Last des Amtes erfolgen. Das bedeutet nicht Richten und Kopf
hängen lassen, aber Richten in Demut und Bescheidenheit, mit Geduld
und Offenheit, mit Zuhören und Hilfsbereitschaft, mit dem Mut, falsche
28 In meinem Lehrbuch Strafprozeß 4. Aufl. 1985, S. 105 ff habe ich mich bemüht,
neben der fachlichen Verpflichtung auch die persönliche Verantwortung des Richters
darzulegen. Daher ist auch das Problem des Richters ein zentrales Problem, das nicht
einfach mit dem Hinweis auf die Gebundenheit an das Gestz ganz beiseite geschoben
werden kann.
29 Zur Problematik vgl. Shakespeare, „Maß für Maß" oder Kleist, „Der zerbrochene
Krug".
Gedanken zur „Normalität des Verbrechens" 961
Töne des Gegenübers nicht einfach hinzunehmen, sich selbst aber vor
falschen Tönen zu bewahren.
U m was es geht, kommt in einem Gedicht von Reinhold Schneider
(abgedruckt in Erfüllte Einsamkeit 1963, S.69) zum Ausdruck. Einen
Auszug aus diesem Gedicht habe ich in meinem Strafprozeß-Lehrbuch
4. Aufl. (1985) S.44 mitgeteilt. Wir richten, obwohl wir selbst gerichtet
werden müßten. Wir sprechen schuldig, obwohl wir selbst schuldig
sind30. Gerade in einem so hohen Amt, wie es der Richter wahrzuneh-
men hat, wird die Gebrochenheit dieser Welt und die Selbstgebrochen-
heit sichtbar. Diese Erkenntnis bewahrt vor Pharisäismus, Kälte, Über-
heblichkeit und Demütigung des Gegenübers.
Richten erfordert aber auch Mut 31 . Es ist die Bereitschaft, den Zwie-
spalt zu ertragen und seine Gebrochenheit in das Bemühen um das Recht
einzusetzen 32 . Aber dieser Mut befreit nicht von der Notwendigkeit der
ständigen Selbstprüfung. Die Frage drängt sich auf, ob eine solche
Haltung nicht zu einer für den Menschen unerträglichen Selbstquälerei
führt. In der Tat muß jeder einzelne sich fragen, ob er diese Last tragen
kann. Es sollte niemand gezwungen werden, Strafrichter zu sein33. Es
sollte aber auch niemand gescholten werden, wenn er das schwere Amt
übernimmt.
Vielleicht wird das Richten im Strafrecht leichter, wenn es in seiner
Vorläufigkeit und seiner Begrenztheit gesehen wird. Aber dennoch darf
dieses „Leichter-werden" nicht zur Leichtfertigkeit werden. Zu zer-
brechlich ist das ethische Fundament und zu schwierig die Findung der
Wahrheit und der Gerechtigkeit. Zu weittragend sind auch die Folgen
falschen Verhaltens und unrichtigen Richtens. Das „Richten" ist ja nicht
nur ein Beurteilen der Vergangenheit, sondern auch ein Richtunggeben
in die Zukunft. Das Urteil kann eine Hilfe zum Leben, aber auch eine
Vernichtung menschlichen oder doch wenigstens gesellschaftlichen Da-
seins sein. Das Strafurteil ähnelt der Verschreibung einer Medizin. Die
Medizin kann nützlich, sie kann aber auch schädlich sein.
Das Strafurteil bewirkt Leiden. Leiden kann dem Menschen den Weg
zur erkennenden und bewegenden Tiefe weisen. Leiden kann aber auch
der Anlaß zur Verhärtung und zum Widerstand sein. Welche Richtung
i0
Zitat aus Reinhold Schneider „Zu einschlägigen Rechtsproblemen " bei Wegner,
Einführung in die Rechtswissenschaft 2. Aufl. 1948, S. 17; Thielecke, Theologische Ethik
III, S. 419.
31
So zutreffend Erich Schwinge, Der Jurist und sein Beruf. Eine Einführung in die
Rechtswissenschaft 1960, S. 103 f.
32
Dieser Mut mag sich erweisen, wenn die Rechtsverwirklichung gefährlich oder
unpopulär ist.
33
Das sollte auch bei der Geschäftsverteilung berücksichtigt werden. Die einzelnen
Rechtsparteien fordern den Richter in sehr verschiedener Weise.
962 Karl Peters
das Leiden nimmt, hängt davon ab, ob es dem Richter gelingt, den Sinn
des Verfahrens dem Gegenüber klarzumachen. Das Urteil öffnet nach
beiden Richtungen die Tore. Auch für ein sinnvolles Leiden kann der
Strafrichter nicht mehr als eine Richtung eröffnen. Auf dem weiteren
Weg ist der Betroffene auf sich selbst und all die Menschen angewiesen,
denen er in der folgenden Zeit begegnet. Das Verständnis für das Leiden
kann aber nur der erwecken, der mitfühlt und mitleidet, der von dem
Leidensweg - wiederum in seiner Unzulänglichkeit - weiß und sich
nicht damit zufriedengibt, wie er nun einmal ist.
Auf einem verlorenen Posten steht das Strafrecht, wenn seine ethi-
schen Grundlagen nicht von dem Richter und der Allgemeinheit verstan-
den werden. So sehr die Allgemeinheit mit Recht Verwirklichung des
Strafrechts fordert, so sehr ist an sie die Forderung gestellt, sich für den
Betroffenen zu öffnen. Die Mitwirkung an der Wiedereingliederung und
das Verzeihen nach dem Vollzug des auferlegten Leidens ist nicht nur
menschliche Aufgabe, sondern sittliche Pflicht, zumal auch die Allge-
meinheit in der Gebrochenheit steht.
V.
Die Unzulänglichkeit des Richters erfährt in der Gnade ihren Aus-
gleich. Sie übt im Rechtsbereich eine unentbehrliche Funktion aus. Sie
leitet ihre Kraft aus ihrem ethischen Fundament. Freilich kann sie nur
ausnahmsweise helfen. Die Gnade kann nicht zu jeder Zeit, an jedem
O r t und bei jeder Tat ausgeübt werden. Das würde die Strafrechtsord-
nung auflösen. Eine Verurteilung, bei der bereits der Richter die Erwar-
tung der Gnade hat, trifft nur Sonderfälle. Dennoch geht die Gnade
darüber hinaus. Sie beruht auf einem anderen Fundament als das Rich-
ten. Die gelegentlich zu hörende Meinung, daß Gnade mit der Unabhän-
gigkeit der Richter nicht vereinbar sei, übersieht die Verschiedenheit der
Grundlagen von Richten und Gnade. Die Unvollkommenheit des Straf-
rechts, des Strafverfahrens und des Strafvollzugs, die jedem Rechtssy-
stem eigen ist, macht die Gnade auch in einem Rechtsstaat erforderlich 34 .
VI.
Zusammenfassend ist festzustellen:
In dem Durchdenken des soziologisch gemeinten Satzes „Kriminalität
ist normal" haben sich uns Fragen erschlossen, die an das Fundament des
Menschlichen führen. Wer sich nicht mit einer äußerlichen Betrachtung
menschlichen Fehlverhaltens begnügen will, wird sicherlich nicht sozio-
logische, psychlogische und kriminologische Erkenntnisse und empiri-
34
A.A. Rüping, Strafverfahren, 2.Aufl. 1983, S.186.
Gedanken zur „Normalität des Verbrechens" 963
PETER RIESS
I. Einleitung
Dem Arbeitskreis der sogenannten Alternativprofessoren, der in den
sechziger Jahren mit seinen damaligen Alternativentwürfen zum Straf-
recht die Strafrechtsreform wesentlich beeinflußt und gefördert hat, ist
nunmehr ein in Gesetzesform ausformuliertes Reformkonzept für die
Hauptverhandlung in Strafsachen zu verdanken 1 ( A E - S t P O - H V ) . Die
Verfasser 2 bezeichnen den Entwurf als Diskussionsentwurf mit dem
Hinweis, daß es ihnen in erster Linie auf die Diskussion seiner Grund-
prinzipien ankomme 3 . Sie nehmen aber zugleich in Anspruch, über eine
Reform des Teilbereichs Hauptverhandlung hinaus einen Beitrag zur
Gesamtreform des Strafverfahrens zu leisten 4 .
Die bisherige Reaktion der rechtspolitisch orientierten Prozeßrechts-
wissenschaft ist einigermaßen enttäuschend 5 , ganz abgesehen davon, daß
die breitere Öffentlichkeit, in ihrem Interese offenbar durch aktuellere
Fragen auch strafprozessualer Art besetzt, von ihm nicht nennenswert
Notiz genommen hat. Mit dem nachfolgenden Beitrag soll die Aufforde-
rung zur Diskussion aufgegriffen werden. Sein Autor darf, gerade weil
die Verfasser mit der Veröffentlichung des Entwurfs die Diskussion
fördern wollen, auch dann auf ihr Verständnis und ihr Interesse rechnen,
wenn seine eigene Position gegenüber den Intentionen des Entwurfs in
weiten Passagen als eine kritische erscheint. Diskussion lebt nun einmal
4 AE-StPO-HV, a. a. O.
s Der Beitrag wurde Anfang April 1986 abgeschlossen. Bis zu diesem Zeitpunkt lag
weder eine kursorische, geschweige denn eine auch nur einigermaßen ausführliche Reak-
tion im Fachschrifttum vor; vgl. danach die Rezension von Dahs, ZRP 1986, 181.
966 Peter Rieß
fast unübersehbare Literatur auch nur einigermaßen repräsentativ zu erfassen, sie haben
lediglich exemplarischen Charakter; ausführlichere Nachw. etwa bei Rieß (Fn. 6); Wolter,
G A 1985, 49 ff.
' Vgl. dazu und zum nachfolgenden u.a. jeweils mit weit. Nachw. Rieß (Fn.6);
Schreiber, in: Strafprozeß und Reform (1979), 15 ff; Wolter (Fn. 7); Zipf, Kriminalpolitik,
2. Aufl., 1980, 203 ff.
5 Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes
vom 1 9 . 1 2 . 1 9 6 4 (BGBl. I S. 1067); zur Bedeutung näher mit weit. Nachw. Rieß, Festschr.
Kleinknecht, 1985, 355 ff.
Hauptverhandlungsreform - Reform des Strafverfahrens? 967
form zu verstehen der Regierungsentwurf eines Ersten Gesetzes zur Verbesserung der
Stellung des Verletzten im Strafverfahren, BT-Drucks. 10/5305.
15 Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Verteidigung, 1979; vgl. dazu u.a. Hassemer,
Z R P 1980, 33 f; Hanack, ZStW 93 (1981), 559 ff; sehr kritisch z. B. die Stellungnahme des
Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer, BRAK-Schriftenreihe, Bd. 5
(1984).
" Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Untersuchungshaft, 1983; zur Untersuchungs-
haft auch Wolter, ZStW 93 (1981), 425 ff; zum Untersuchungshaftvollzug Baumann,
Entwurf eines Untersuchungshaftvollzugsgesetzes, 1981.
968 Peter Rieß
17
Aiternadv-Entwurf Novelle zur Strafprozeßordnung, Strafverfahren mit nichtöffent-
licher Hauptverhandlung, herausgegeben vom Arbeitskreis AE, 1980 (AE-StPO-NöV);
vgl. auch unten, Fn. 65.
18
So Rieß, ZStW 95 (1983) 559 f; vgl. auch Schreiber (Fn. 8), 23; Wolter, GA 1985, 49 f;
Zipf (Fn. 8), 141 ff.
19
Dazu ausführlich unten, V.
20
AE-StPO-HV, S. 2 f.
Hauptverhandlungsreform - Reform des Strafverfahrens? 969
Als Mittel zur Erreichung dieser Ziele schlägt der Entwurf folgende
sechs, der bisherigen, teilweise weit in die Vergangenheit zurückreichen-
den Reformdiskussion entstammenden, grundsätzliche Änderungen der
Struktur der Hauptverhandlung vor 21 :
etwas abweichend.
22 Vgl. Fn. 17.
970 Peter Rieß
3. Gerichtshilfe
Die in der StPO (seit 1975) nur an zwei Stellen33 eher rudimentär
geregelte Gerichtshilfe für Erwachsene als besonderes Ermittlungsorgan
für die persönlichen Verhältnisse des Beschuldigten soll durch ein ganzes
Bündel von Regelungen erheblich aufgewertet werden34. Der Entwurf
geht in diesem Punkt insoweit über sein eigentliches Regelungsthema
(Hauptverhandlung) hinaus, als er verhältnismäßig detailliert Stellung
und Befugnisse des Gerichtshelfers35 regelt und die Verpflichtung zur
Heranziehung der Gerichtshilfe schon im Ermittlungsverfahren be-
stimmt36.
mit weit. Nachw. LR-Gollwitzer, 23. Aufl., §318 Rdn.37ff, L R - H a n a c k , 24. Aufl., §344
Rdn. 15, 16. Verschärft wird die Problematik im hier interessierenden Zusammenhang
dadurch, daß die Feststellungen zum Zwischenbescheid nicht schriftlich fixiert werden.
33 §160 Abs. 3 Satz2; § 4 6 3 d StPO.
34 Vgl. zur Gerichtshilfe auch mit weit. Nachw. Schöch, Festschr. Leferenz, 1983,
127 ff; Wolter, GA 1985, 88 ff.
35 §§150, 214 a Abs. 3, §243 Abs. 4 Satz 2 AE-StPO-HV; zur Begründung insbes.
S. 29 ff.
36 § 160 Abs. 3, 4 AE-StPO-HV.
Hauptverhandlungsreform - Reform des Strafverfahrens? 973
Das alles ist, bei einigen Vorbehalten im Detail, aus der Sicht eines
auch täterorientierten Strafverfahrens im Grundsatz begrüßenswert.
Gewisse verfahrensverzögernde und unpraktikable Einzelregelungen lie-
ßen sich nachbessern. Auch stehen diese Vorschläge im Kern nicht in
untrennbarem Zusammenhang mit den sonstigen, die Hauptverhand-
lungsstruktur tief verändernden Vorschlägen des Entwurfs. Stärkerer
Einsatz der Gerichtshilfe, Präzisierung der Befugnisse des Gerichtshel-
fers und Anwesenheitsrecht in der Hauptverhandlung lassen sich auch
im Rahmen des herkömmlichen Hauptverfahrens realisieren und könn-
ten dort nützlich sein.
4. Wechselverhör
" Vgl., auch zum folgenden, die zusammenfassenden Darstellungen bei Roxin,
Festschr. Schmidt-Leichner, 1975, 145; Schöch, in: Strafprozeß und Reform, 1979, 5 4 f f .
58 Vollständige Zusammenfassung der bisherigen Vorschläge bei Weißmann, Die Stel-
lung des Vorsitzenden in der Hauptverhandlung, 1982, insbes. S. 25 ff.
974 Peter Rieß
" Die Untersuchung von Weißmann hat einen anderen, eher auf den Verhandlungslei-
ter bezogenen Forschungsansatz zur Grundlage. Dazu, daß sich entgegen verbreiteter
Auffassung das Wechselverhörmodell rechtsvergleichend nicht auf den spanischen Straf-
prozeß berufen kann, vgl. Volkmann-Schluck, Der spanische Strafprozeß zwischen Inqui-
sitionsverfahren und Parteiverfahren, 1979, zusammenfassend S. 150 ff; vgl. auch Schüne-
mann, bei Kerner/Kury/Sessar, Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsentwicklung und
Kriminalitätskontrolle, 1983, S. 1109 ff.
40 §§243 Abs. 5 bis 7, 243 a Abs. 2 bis 4 AE-StPO-HV, Begründung S.7, 68 ff.
Hauptverhandlungsreform - Reform des Strafverfahrens? 975
deutend verwenden zu wollen. Wenn das so ist, läuft aber das Wechselverhör möglicher-
weise darauf hinaus, daß dem Vorsitzenden doch ein weitgespanntes „Erstvernehmungs-
recht" zukommt. Der Entwurf geht wohl nicht ausreichend der Frage nach, ob nicht die
beabsichtigte „Typenmischung anglo-amerikanischer und kontinentaleuropäischer Prinzi-
pien" schon an unterschiedlichen und nicht mischbaren „Vernehmungsstilen" im prakti-
schen Effekt scheitern kann.
976 Peter Rieß
5. Genehmigtes Diktatprotokoll
a) Nach dem Vorschlag des Entwurfs sollen in der Tatverhandlung 42 alle
Aussagen in ihrem wesentlichen Inhalt in das Protokoll aufgenommen
werden, das Protokoll soll verlesen und von den Beweispersonen geneh-
migt werden. Der Entwurf will damit - unter Hinweis auf die im
Zivilprozeß geltende Regelung -
42
Nicht dagegen in der Rechtsfolgenverhandlung, eine Differenzierung, die der Ent-
wurf (S. 82) nicht ganz einsichtig begründet.
43
Vgl. insoweit, teilweise kontrovers, Schünemann, GA 1978, 161; Roxin, Festschr.
Schmidt-Leichner, 1977, 152, 156; zum grundsätzlichen theoretischen Ansatz u.a. Kühne,
Strafverfahrensrecht als Kommunikationsproblem, 1978; s. auch Schünemann (wie
Fn.39); sehr zurückhaltend Rieß, Festschr. K.Schäfer, 1980, 214.
Hauptverhandlungsreform - Reform des Strafverfahrens? 977
fahren könnte der Vorschlag dazu führen, daß nicht mehr der Inbegriff
der Hauptverhandlung, sondern nur noch das schriftliche Substrat der
Diktatprotokolle Entscheidungsgrundlage wäre; erhebliche Friktionen
mit dem Grundgedanken des §261 StPO sind unübersehbar. Die revi-
sionsrechtlichen Konsequenzen, die der Entwurf reichlich kursorisch
behandelt44, betreffen Grundfragen des Revisionsrechts.
49 Es ist auffallend, daß der Entwurf insoweit (Begr. S. 39) vorwiegend das ältere
Schrifttum zur Stützung seiner Auffassung zitiert und auch insoweit selektiv verfährt.
Hauptverhandlungsreform - Reform des Strafverfahrens? 979
Eröffnungsrichters lehnt er, wenn auch nicht ohne Zögern, aus zutref-
fenden Gründen ab. Er kann sich aber auch nicht dazu entschließen, das
Eröffnungsverfahren nach dem Vorbild der VO von 1942 gänzlich zu
beseitigen, sondern beschränkt es im wesentlichen, unter Ausschluß
ergänzender Beweisaufnahme, jedenfalls nach dem Wortlaut seines Vor-
schlags, auf eine formale Prüfung der Anklageschrift auf ihre Schlüssig-
keit, ohne Rückgriff auf den Akteninhalt und die sich daraus ergebende
Verdachtslage"\ Das ist mit einer völligen Neugestaltung des entspre-
chenden Abschnitts der StPO (§§199 bis 212 b StPO) verbunden, die
auch unabhängig von der Grundsatzfrage zahlreiche hier nicht zu erör-
ternde Zweifelsfragen aufwirft.
Dem Entwurf muß in diesem Punkt nachdrücklich widersprochen
werden50. Er behandelt mit dem nicht sonderlich schwerwiegenden
Voreingenommenheitsargument nur eine Seite der erforderlichen
Gesamtabwägung, vernachlässigt aber die Rechtsschutzfunktion des
Eröffnungsverfahrens für den Angeschuldigten ebenso wie die mit dem
gegenwärtigen Rechtszustand verbundenen erheblichen Möglichkeiten
der Stoffkonzentration und der Hauptverhandlungsvorbereitung. For-
mal ist einzuwenden, daß die stattdessen vorgesehene Schlüssigkeitsprü-
fung der Anklageschrift ohne Grund nicht mehr den Maßstab der
vorhandenen Verurteilungswahrscheinlichkeit, sondern das Ausdrucks-
vermögen des Anklageverfassers zum Prüfungsgegenstand macht.
Im einzelnen versperrt der Entwurf zunächst die Möglichkeit, dem
Beschuldigten eine Hauptverhandlung zu ersparen, wenn der Anklage-
vorwurf (mag er nun in der schriftlichen Anklage überzeugend oder
nicht dargestellt sein) nach den aktenmäßigen Ergebnissen des Ermitt-
lungsverfahrens nicht hinreichend verdichtet ist. Der Anteil solcher
Ablehnungen der Eröffnung ist zwar prozentual nicht erheblich, aber
doch in absoluten Zahlen von einigem Gewicht51. Der Entwurfsvor-
schlag reduziert ferner selbst in den Fällen der nach seinem Prüfungs-
maßstab zurückgewiesenen Anklagen gegenüber der gegenwärtigen
Regelung (§211 StPO) die Sperrwirkung und damit den Schutz vor
erneuter Verfolgung auf ein praktisch nicht mehr relevantes Minimum 52 .
Er verbietet es dem Gericht im Eröffnungsverfahren entgegen dem
Jahr (vgl. LR-Rieß, Vor § 198 Fn. 19), weitaus höher dürfte die statistisch nicht erfaßbare
Häufigkeit veränderter und damit der Stoffkonzentration dienender Anklagezulassungen
sein.
" Vgl. § 2 0 6 AE-StPO-HV, wonach die neue Anklage stets möglich ist, „wenn die
Gründe für die Zurückweisung entfallen sind". Auf das Vorliegen neuer Tatsachen oder
Beweismittel kommt es nicht mehr an.
980 Peter Rieß
7. Kommunikationsfördernde Hauptverhandlungsgestaltung
Nach dem vom Entwurf vorgeschlagenen neuen §238 Abs. 2 AE-
StPO-HV bestimmt der Vorsitzende im Rahmen der Verhandlungslei-
tung Sitzordnung und äußeren Verhandlungsablauf; dabei kann „in
geeigneten Fällen . . . die Verhandlung in einer die offene Aussprache
erleichternden Form gestaltet werden"; vorgesehen ist dies insbesondere
für die Rechtsfolgenverhandlung und das vereinfachte Verfahren nach
dem A E - S t P O - N Ö V .
Hinter dieser abstrakten Formulierung verbirgt sich in erster Linie die
sog. „Hauptverhandlung am runden Tisch" im Sinne einer „kommuni-
kationsfördernden Interaktionsgemeinschaft". Gestützt wird dieser
Ansatz durch empirische Untersuchungen im Jugendgerichtsverfahren,
bei denen sich ein - wenn auch eher bescheidener - positiver Ertrag
gezeigt hat". Der Entwurf begründet die Notwendigkeit einer gesetz-
lichen Regelung u. a. damit, daß sich in der experimentellen Phase
gezeigt habe, daß Verfahrensbeteiligte „nicht mitspielen wollten" 54 .
Genau dieser Begründungsansatz läßt auch grundsätzliche Bedenken
gegen den sonst eher interesanten, wenn auch marginalen Gedanken
deutlich werden. Mindestens für die Seite des Beschuldigten ist die
Hauptverhandlung kein Spiel, bei dem es auf das Mitspielen ankommt,
und er mag gute Gründe haben, nicht mitspielen zu wollen. Die
Spielregeln dem pflichtgemäßen Ermessen des Vorsitzenden im Rahmen
der Verhandlungsleitung anheimzustellen, erscheint denn auch rechts-
politisch einigermaßen bedenklich, zumal die Versuchung nicht immer
gänzlich fernliegen könnte, die entspannte Atmosphäre einer offenen
Aussprache geständnisfördernd einzusetzen.
„Folgeänderungen" nicht angestrebt werde. Indessen gehen die vom Entwurf nicht
berührten Fragen über bloße „Folgeänderungen" deutlich hinaus.
61 Dazu neuestens Stein, ZStW 97 (1985) 303.
Hauptverhandlungsreform - Reform des Strafverfahrens? 983
lich. Vielmehr enthält § 407 e Abs. 1 AE-StPO-NÖV insoweit eine Globalverweisung, bei
der der AE-StPO-HV keine Ausnahmen vorsieht, obwohl er an anderer Stelle (vgl. z.B.
§ 200 Abs. 2 AE-StPO-HV) auf den AE-StPO-NÖV Bezug nimmt. Auch für den Anwen-
dungsbereich des N Ö V in Betracht kommen aber der Einsatz der Gerichtshilfe, der Abbau
des Eröffnungsverfahrens und die „Hauptverhandlung am runden Tisch".
H Entwurf, S. 4, auch zum folgenden.
15 Vgl. zum AE-StPO-NÖV die grundsätzliche Kritik von Dahs, Verh. des 54. DJT
(1982) Bd. II Κ 1 4 ff; ferner Engels!Frisier, ZRP 1981,111 ; Hilger, NStZ 1982, 312; Mehle,
NStZ 1982 309; Meyer-Goßner, ZRP 1982, 237; krit. auch, und zwar gerade unabhängig
von der Öffentlichkeitsproblematik Zipf, Gutachten zum 54. DJT, Verh. des 54. DJT,
1982, Bd. I C 77 f. Die Auffassung der Entwurfsbegründung (S. 3), daß sich die Vorbehalte
gegen diese Verfahrensart überwiegend gegen die Beschränkungen der Öffentlichkeit
984 Peter Rieß
richteten, findet im Schrifttum keine Stütze. Die Kritik richtet sich mehr pragmatisch
gegen die verfahrensverzögernde und unpraktikable Ausgestaltung und mehr grundsätz-
lich gegen den von diesem Verfahren ausgehenden Geständnisdruck; insoweit jedoch
befürwortend z . B . Wolter, G A 1985, 56.
66Entwurf, S. 4.
67Überlegungen dazu z. B. bei Wolter, G A 1985, 51 f, 81 f; vgl. auch Zipf (Fn. 8), 142;
eher zurückhaltend noch Rieß, Festschr. K.Schäfer, 1980, S. 187, 193.
" Dazu ausführlich unten, V.
Hauptverhandlungsreform - Reform des Strafverfahrens? 985
" Freilich muß gesehen werden, daß dabei erhebliche Zielkonflikte entstehen können,
weil die Abgrenzungsmerkmale der sachlichen Zuständigkeit auch die Funktion haben, die
Belastung der Rechtsmittelinstanzen zu steuern.
70
Entwurf, S. 2.
71
Roxin, Strafverfahrensrecht, 19.Aufl., 1985, S.249; ebenso z.B. Schöch, in: Straf-
prozeß und Reform, 1979, S. 52.
986 Peter Rieß
auch die Vorstellung, die der Konzeption der RStPO 1877 zugrunde lag
und die beispielsweise in der Legalordnung noch heute dazu führt, das
Ermittlungsverfahren systematisch dem Verfahren im ersten Rechtszug
und in seiner Abschnittsbezeichnung als „Vorbereitung der öffentlichen
Klage" schwerpunktmäßig dem gerichtlichen Verfahren zuzuordnen72.
Diese gleiche systematische Sichtweise hat zur Folge, daß Verfahrensbe-
endigungen ohne Entscheidung über den Sanktionsanspruch der Rechts-
gemeinschaft in den §§ 153 ff StPO lediglich als Durchbrechungen des
Legalitätsprinzips kategorisiert werden und daß das in der Rechtswirk-
lichkeit hochbedeutende Strafbefehlsverfahren als „Besondere Art des
Verfahrens" in den Randbereich abgedrängt wird.
Dahinter steht wohl vielfach die Vorstellung, daß der eigentliche oder
richtige Strafprozeß erst mit der Erhebung der öffentlichen Klage
beginne73. Es ist dies schließlich auch die traditionelle Sichtweise rechts-
wissenschaftlicher Reformdiskussion. Diese hat immer das gerichtliche
Verfahren und hierbei namentlich die Hauptverhandlung erster Instanz
zum bevorzugten Thema gehabt, und es ist eine Folge hiervon, daß die
Reform der Hauptverhandlung und, wenn auch in geringem Maße, der
Instrumente, die der Korrektur des Urteils erster Instanz dienen
(Rechtsmittel und Wiederaufnahme), zum Lieblingsthema universitär
gespeister Reformdiskussionen geworden ist, während bei der, vom
Reifegrad her eher rückständigen, Diskussion über die Reform etwa des
Ermittlungsverfahrens die Justizpraktiker dominieren74, wenn auch in
neuerer Zeit deutlich unterstützt von empirisch und rechtssoziologisch
orientierter Theorie 75 . Der hauptverfahrenszentrierte Reformansatz des
AE geht insoweit, und wohl auch in der Auswahl der schwerpunkt-
mäßig behandelten und hervorgehobenen Einzelvorschläge, bei aller
materiell-strafrechtlich und kriminalpolitisch gesehen eher progressiven
Haltung aus der verfahrensrechtlichen Reformperspektive in eine eher
traditionelle, beinahe schon konservative Richtung mit deutlich retro-
spektiven Elementen. Das soll hier nicht als Kritik, sondern als Befund
verstanden werden; es wird auch im Detail vielfach gemildert und
2. Gesamtzentrierter Reformansatz
Eine Betrachtung des Strafverfahrens mit der Hauptverhandlung als
dem Höhepunkt des gesamten Strafprozesses ist heute keineswegs mehr
selbstverständlich. Sie wird ebenso durch die fast unbestrittene Einsicht
in Frage gestellt, daß die entscheidenden Weichen für das Ergebnis der
Hauptverhandlung bereits im Ermittlungsverfahren gestellt werden, wie
durch die statistisch zu belegende Tatsache, daß der größere Teil der
Ermittlungsverfahren eben nicht in die Erhebung der öffentlichen Klage,
ein nicht unerheblicher Teil gerichtlicher Verfahren nicht in eine Haupt-
verhandlung und viele Hauptverhandlungen nicht in ein Urteil mün-
den76, wobei die Freiräume, in denen sich diese Selektionsprozesse
abspielen, dogmatisch nicht immer sonderlich erhellt und rechtspolitisch
oft nicht sonderlich strukturiert sind.
Immer wahrscheinlicher wird ferner die Annahme, daß bei dieser
Reduktion des für die Hauptverhandlung und in der Hauptverhandlung
für das Urteil verbleibenden Stoffes Kommunikationsvorgänge eine
Rolle spielen, die mit der offenen Aussprache am „Runden Tisch" sehr
wenig, mit Vereinbarungen von funktioneller (nicht dogmatischer!)
Verwandtschaft mit dem amerikanischen plea bargaining aber sehr viel
zu tun haben. Hauptverhandlung als Höhepunkt des gesamten Strafpro-
zesses trifft dann nur noch dort (und auch dort in eingeschränktem
Maße) zu, wo es zur Hauptverhandlung kommt, wobei die Effizienz des
Teilstückes Hauptverhandlung im Gesamtsystem kritischer Prüfung
bedarf. Der hauptverhandlungszentrierten Perspektive des Strafverfah-
rens läßt sich heute eine andere entgegensetzen, die das Strafverfahren in
seiner Gesamtheit als „Prozeß", d . h . als eine geordnete Ablaufreihen-
folge von aufeinander bezogenen und in einer funktionellen Beziehung
stehenden Ereignissen betrachtet".
Für Reformüberlegungen sind diese unterschiedlich möglichen Per-
spektiven von erheblicher Bedeutung. Eine hauptverhandlungszentrierte
gende Zahlen anschaulich: Von jeweils 100 Ermittlungsverfahren gegen bekannte Tatver-
dächtige gelangen 38 durch Klageerhebung ins gerichtliche Verfahren, 21 in die Hauptver-
handlung, 15 zur Erledigung durch Urteil und etwa 3 in die Rechtsmittelkontrolle.
77 So im Ansatz, wenn auch ebenfalls nicht frei von einer hauptverhandlungszentrierten
Betrachtungsweise Rieß, Festschr. K.Schäfer, 1980, 155ff, insbes. 190f; stärker auf diese
Gesamtperspektive gerichtet ζ. B., wenn auch mit vielfach problematischen Einzelheiten,
Wolter, G A 1985, 49 ff.
988 Peter Rieß
Perspektive, für die der AE-StPO-HV als Beispiel stehen mag, wird vom
traditionellen Verständnis der Hauptverhandlung ausgehend deren Effi-
zienz für die Verfahrensziele zu verbessern trachten und von dieser
Grundlage her die übrigen Verfahrensabschnitte umzugestalten suchen,
und sie muß deshalb das Gesamtverfahren unter dem Blickwinkel
reformieren, daß die anderen Abschnitte auf die Hauptverhandlung
„zuarbeiten". Dies geschieht auch dann, wenn sie zur Entlastung der zu
reformierenden Hauptverhandlung Abschichtungsmechanismen zur
Verfügung stellt, wie etwa der AE-StPO-NOV, denn auch diese
Abschichtung ist vorwiegend eine hauptverhandlungszentrierte. Durch
ihre Orientierung an der vorhandenen Legalordnung eröffnet diese
Perspektive scheinbar die Möglichkeit einer Teilreform. In Wirklichkeit
präjudiziert sie in erheblichem Ausmaß die Gesamtreform.
Eine beim Strafverfahren insgesamt ansetzende Reformperspektive
muß in erster Linie einen Reformansatz ins Auge fassen, bei dem die
Erledigungen vor dem gerichtlichen Verfahren und außerhalb der
Hauptverhandlung selbständig und gleichgewichtig gesehen werden. Sie
muß deren Effizienz für die Verfahrensziele und die hierfür erforder-
lichen rechtsstaatlichen Mindeststandards überprüfen. Sie muß Konsens
darüber herbeizuführen suchen, welche Maßstäbe diejenigen Verfahren
bestimmen sollen, für die eine Hauptverhandlug in Betracht kommt,
und sie muß sachgerechte Kriterien für die vorher auszuscheidenden
Verfahren und ihre Behandlung entwickeln. Ihr Schwerpunkt wird im
vorbereitenden Verfahren und außerhalb der Hauptverhandlung liegen.
Hauptverhandlungsreform ist bei dieser Perspektive nicht der Ausgangs-
punkt, sondern die Folge; eine Folge freilich, die schon bei der Reform
des Ermittlungsverfahrens, bei der Bestimmung der Reichweite der
Verfolgungspflicht und bei der Entwicklung von besonderen Verfah-
rensgängen im Auge zu behalten ist. Deshalb ist bei dieser Reformper-
spektive kaum die Versuchung vorhanden, präjudizierende Teilvor-
schläge so exakt auszuformulieren, daß eine Teilreform möglich er-
scheint.
stellten Leitsätze zur Reform des Ermittlungsverfahrens (vgl. AnwBl. 1986, 50 ff) stellen
diese Reformperspektive schon deshalb nicht dar, weil sie sich auf einzelne, aus der Sicht
der Verteidigung besonders wichtige Problemfelder beschränken (vgl. näher Rieß, AnwBl.
1986, 78). Bemerkenswert ist insoweit weiter, daß hier mindestens teilweise Reform des
Ermittlungsverfahrens mit Hilfe von dem Hauptverfahren entlehnten institutionellen und
strukturellen Gedanken betrieben wird.
Wird in der Bundesrepublik Deutschland
zu viel verhaftet?
Versuch einer Standortbeschreibung anhand nationaler
und internationaler Statistiken
H E I N Z SCHÖCH
I.
Die Uberzeugung Karl Lackners, daß „zureichende Erkenntnisse
kriminologischer Forschung unverzichtbare Voraussetzung jeder Krimi-
nalpolitik sind"1, gilt auch für die in nahezu allen Rechtsordnungen
umstrittene Frage nach den richtigen Grenzen des Haftrechts. So enthält
die Anfang 1983 bei einem Forum des Deutschen Anwaltvereins formu-
lierte und seither immer wieder aufgegriffene These, in der Bundesre-
publik Deutschland werde zu schnell und zu viel verhaftet2, zwar primär
rechtspolitische Wertungen, doch läßt sich deren Gewicht kaum ohne
Berücksichtigung der Rechtswirklichkeit des Haftrechts und seiner
Konsequenzen für Taten, Täter und Verfahren beurteilen.
Dabei geht es nicht nur um sog. „Instanzenforschung"3, sondern auch
um kriminalprognostische Fragen (z.B. bei den Haftgründen der
Flucht-, Wiederholungs- und Verdunkelungsgefahr), um Täter-Opfer-
Beziehungen (z.B. bei der Verdunkelungsgefahr) oder um Wechselwir-
kungen zwischen Haftentscheidungen (z.B. Erlaß des Haftbefehls,
Aussetzung des Vollzugs, Aufhebung) und persönlichen und sozialen
Verhältnissen des Beschuldigten (ζ. B. familiäre Bindungen, Wohn- und
Beschäftigungssituation, Vorstrafenbelastung, Alkohol- und Drogenab-
hängigkeit).
In Göttingen wird derzeit im Auftrag des Bundesjustizministeriums
eine repräsentative Stichprobenuntersuchung durchgeführt, die sich mit
diesen und anderen Fragen zur Rechtswirklichkeit des Haftrechts
II.
Die Untersuchungshaft ist in nahezu allen modernen Staaten ein
kriminalpolitisches Problem ersten Ranges. In vielen Ländern wird von
ihr über die originäre Aufgabe der Verfahrenssicherung hinaus erwartet,
daß sie zur Beruhigung der Öffentlichkeit bei spektakulären Straftaten
oder zum Schutz der Allgemeinheit vor Serientätern beiträgt'; in Zeiten
steigender Kriminalität wird U-Haft oft zu einem Hort generalpräven-
tiver Erwartungen 7 . Andererseits bilden die Unschuldsvermutung und
die verfahrensrechtlichen Garantien bei Freiheitsentziehung, wie sie in
Art. 5 und 6 II der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und
Grundfreiheiten verankert sind, eine einigende Klammer zwischen den
europäischen Staaten8. Aber der für das Strafverfahren typische Konflikt
zwischen Strafverfolgungsinteressen des Staates und Freiheitsrechten des
(möglicherweise unschuldigen) Bürgers kommt in allen Ländern bei den
Problemen der Untersuchungshaft in seiner schärfsten Form zum Aus-
druck9. Recht und Wirklichkeit der Untersuchungshaft werden daher oft
als Seismograph für das rechtspolitische Klima eines Landes betrachtet.
Die Entwicklung des deutschen Haftrechts ist ein Beispiel hierfür;
' Vgl. auch Kaiser, in: Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesell-
schaft zu Berlin, 1984, S. 299 ff.
Wird in der Bundesrepublik Deutschland zu viel verhaftet? 993
10 Hierzu und zum folgenden Roxin, Strafprozeßrecht, 19. Aufl. 1985, S. 181 (§30 Β II,
2); Rüping, Das Strafverfahren, 2. Aufl. 1983, S.66; LR-Wendisch, 24. Aufl. 1984, Vor
§112, Entstehungsgeschichte.
" Vgl. Jehle, Untersuchungshaft zwischen Unschuldsvermutung und Wiedereingliede-
rung, Beiträge zur empirischen Kriminologie, Band 10, 1985, S.4.
12 Krümpelmann, Kriminologische Gegenwartsfragen 12 (1976), S. 44 ff, 45 m . w . N .
994 Heinz Schöch
13 Bei den Gesetzen vom 1 4 . 4 . 1 9 7 8 (§ 127) und vom 2 8 . 7 . 1 9 8 1 (§112 a) handelt es sich
" Verdienstvoll daher die neueren Auswertungen bei Abenhausen, Statistische und
empirische Untersuchungen zur Untersuchungshaft, in: Jung/Müller-Dietz (Fn.6),
S. 99 ff; Seebode, Der Vollzug der Untersuchungshaft, 1985, S. 14 ff-Jehle (Fn. 11), S. 31 ff;
für die Zeit bis 1969 Krümpelmann, Statistische Angaben über die Untersuchungshaft in
der Bundesrepublik, in: Je scheck /Krümpelmann (Hrsg.), Die Untersuchungshaft im deut-
schen, ausländischen und internationalen Recht, 1971, S. 82 ff; sowie in den 70er Jahren
Kerner (Fn. 7), S. 549 ff.
20 Vgl. die Nachweise bei Krümpelmann (Fn. 12), S. 44 ff; ferner Jescheck/Krümpel-
mann, Die Untersuchungshaft in rechtsvergleichender Darstellung, i n : ] e s c h e c k / K r ü m p e l -
mann (Fn. 19), S. 929 ff, 988 f.
21
Holle, in: Bundeskriminalamt (Hrsg.), Polizeiliche Kriminalstatistik, 1970, S.41.
22 So teilweise beim Forum des Deutschen Anwaltvereins im Februar 1983 (vgl.
Brüssow (Fn.2) und bei der Alsberg-Tagung im November 1983 (vgl. Schlothauer,
Strafverteidiger 1984, S. 48 f); allerdings ging es hierbei auch nicht um wissenschaftliche
Beweisführung, sondern - durchaus erfolgreich - um die Mobilisierung der öffentlichen
Meinung.
996 Heinz Schöch
1 2 3 4 5 6 7 8
Jahr Gefangene U-Gefangene Anteil U-Gefangene Bekanntgew. Tatver- Verurteilte
(Straf- u. (Stichtag U-Haft pro 100000 Straftaten dächtige mit
U-Haft) 31.12.) in % Einwohner (o. Verk.) (o. Verk.) 2 Verk.del.
Stichtag (U-Gef.-
31.12. Ziffer)
1
Spalte 1-6 in Anlehnung an Abenhausen (Fn. 19), S. 106, 109 f, bis 1981; danach Sp.
entnommen aus Stat. Bundesamt, Strafvollzug 1982-84, Sp.5 selbst berechnet, Sp. 6, 7
aus Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalstatistik, 1961-1984; Sp. 8 aus Stat. Bun-
desamt, Strafverfolgung 1961-1984.
2
Bis 1962 Einbeziehung der Verkehrsdelikte in Poliz. Kriminalstatistik, daher nicht
vergleichbar.
3
Ab 1983 teilweise, seit 1984 vollständig bereinigte Mehrfachtäterzählung durch Umstel-
lung auf „echte" Tatverdächtigenzählung (vgl. Bundeskriminalamt, Fn.21, 1984, S.6),
daher mit früher nicht vergleichbar.
23
Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Fachserie 10, Rechtspflege, Reihe 3 Strafverfolgung,
Tab. 4, Reihe 4 Strafvollzug (seit 1975 in dieser Form).
Wird in der Bundesrepublik Deutschland zu viel verhaftet? 997
24 Diese Zahl nannte der Deutsche Anwaltverein in seiner ersten Presseerklärung vom
zählung von 1970 seit 1971) relativ konstant zwischen 61,3 und 62,0 Millionen, haben sich
aber von 1963 bis 1970 von 57,6 auf 61,5 Millionen erhöht (vgl. Polizeiliche Kriminalsta-
tistik 1973, 9; 1984, 9).
998 Heinz Schöch
einen Stand erreicht hat, der in etwa dem zu Beginn der 60er Jahre
entspricht. Diese langfristige Konstanz der Haftzahlen bleibt auch dann
erstaunlich, wenn man als Indikator für die Kriminalitätsentwicklung
nicht primär die starke Zunahme bei den bekanntgewordenen Straftaten
zugrunde legt28 - auch hier zeigt sich 1984 ein leichter Rückgang 2 ' - ,
sondern den moderateren und wohl realitätsnäheren Anstieg bei den
Tatverdächtigen und Verurteilten 30 : Auf steigende Kriminalität wurde
jedenfalls langfristig nicht mit vermehrter Haft reagiert. Andererseits
zeigen beträchtliche Schwankungen in den 22 Jahren, daß gesetzliche
Änderungen die Praxis des Haftrechts offenbar nicht besonders nachhal-
tig beeinflussen; eher scheint das rechtspolitische Klima und die öffent-
liche Diskussion einen gewissen Einfluß zu haben.
Das StPÄG 1964 bewirkte nur 1965 eine beträchtliche Reduzierung
der Zahl der U-Gefangenen, 1966/67 war bereits wieder der alte Stand
erreicht. 1969 folgte trotz weiter steigender Kriminalität31 der kräftigste
„Einbruch" mit dem niedrigsten Stand der Nachkriegszeit, offenbar eine
Ausstrahlung des Reformklimas, das mit den Strafrechtsreformgesetzen
einherging32; es betraf zwar die U-Haft allenfalls mittelbar33, war aber
vom Resozialisierungsgedanken und dem Ziel der Beschränkung des
Freiheitsentzuges geprägt. Anfang der 70er Jahre erfolgte dann die
erwähnte Gegenreaktion mit einem starken Anstieg der Haftzahlen vor
und im Gefolge der Haftrechtsnovelle des Jahres 197234. Nach einer
gewissen Beruhigung von 1975-1978, die möglicherweise mit der relativ
guten Wirtschaftskonjunktur und Arbeitsmarktlage sowie mit der
Kriminalstatistik, in: Kaiser/Kerner/Sack/Schellhoss (Fn. 3), S.260ff, 266; Kaiser (Fn. 3),
S. 200 ff.
29 Mit Ausnahme des Jahres 1973 ( - 0,5 % ) zum ersten Mal; obwohl die Reduzierung
manns (Fn. 19), S. 82, der steile Anstieg in den Jahren 1966/67 hänge mit dem starken
Ansteigen der Kriminalität in den Jahren der Wirtschaftsrezession (1966/67) zusammen.
32 Vgl. Jehle (Fn. 11), S. 37 ff, mit zutreffendem Hinweis auf die Vorauswirkung von
Verhältnismäßigkeit auch bei der U-Haft relevant werden, hat sich aber praktisch nicht so
ausgewirkt (vgl Jehle, 1985, S.40f).
34 Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung vom 7.8.1972 (BGBl. I, 1361);
skeptisch zur Auswirkung dieses Gesetzes Jehle (Fn. 11), S.40, der aber das relativ hohe
Niveau in den Jahren 1971-1975 nicht genügend berücksichtigt.
Wird in der Bundesrepublik Deutschland zu viel verhaftet? 999
deren Verfahren gem. §§27, 45 I J G G oder § 5 9 StGB endet (vgl. Stat. Bundesamt,
Strafverfolgung 1984, S. 6, sowie Tab. 4).
1000 Heinz Schöch
40 Insoweit bereits ähnlich Abenhausen (Fn. 19), S. 131 f; Seebode (Fn. 19), S. 20.
41 Erstmalig bei Gebauer (Fn. 38).
42 Bundeskriminalamt (Hrsg.), Polizeiliche Kriminalstatistik 1984, S. 6.
43 Schwind, Kriminologie, 1986, S. 18.
Wird in der Bundesrepublik Deutschland z u viel verhaftet? 1001
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1002 Heinz Schöch
III.
Als weiteres Kriterium für die Frage, ob das Gesamtniveau der
Haftquoten und des Verhaftungsrisikos bei uns zu hoch ist, bietet sich
ein Vergleich mit anderen Ländern an, deren Wirtschafts- und Gesell-
schaftsstruktur ähnlich ist.
Bis vor kurzem konnte hierfür nur ein UNO-Bericht aus dem Jahre
1975 mit Angaben für 1972/74 herangezogen werden, da die Fortschrei-
bung dieses UN-Zensus in das Jahr 1979 an der mangelnden Mitwirkung
der Mitgliedsstaaten scheiterte46. Im übrigen war man auf Zufallsfunde
aus einzelnen Ländern angewiesen, wobei meist keine einheitliche Zähl-
weise zugrunde lag47. Neuerdings wird jährlich eine Übersicht über die
Gefangenenpopulation in den Mitgliedsstaaten des Europarates erstellt,
in der die am Stichtag 1.2. eines Jahres einsitzenden Straf- und Untersu-
44 Gebauer (Fn. 38); hinsichtlich der Haftdauer bisher keine deutliche Tendenz, vgl.
Seebode (Fn. 19), S.22.
45 Mit Ausnahme des stark gestiegenen Raubes und einiger Gewaltdelikte hauptsächlich
auf leichtere Eigentums- und Vermögensdelikte (vgl. Kaiser, Fn.3, S. 203 ff; Göppinger,
Kriminologie, 4. Aufl. 1980, S. 606 ff).
46 Kaiser, in: Kaiserl Kernerl Schöch (Fn.7), S.41.
" Conseil de l'Europe (Hrsg.): Bulletin d'information pénitentiaire 1984/3 und 1985/5.
49
Teilweise standen seinerzeit nur die Zahlen für 1972 zur Verfügung (vgl. Kaiser,
Fn.7, S. 41).
50
Türkei: Gefangenenziffer 1984: 171,1; 1985: 147,0; U-Haft-Ziffer 1984: 69,8; 1985:
51,3 (vgl. Fn. 48).
51
Vergleichbar auch Luxemburg, Norwegen; früher Portugal, das 1985 jetzt aber mit
einer Gefangenenziffer von 87 und einer U-Haft-Ziffer von 32,5 zu den Industrieländern
aufschloß.
52
Ahnlich niedrig aber auch Zypern, Griechenland, Island, Malta.
53
Vgl. Schaffmeister, ZStW 90 (1978), S. 309ff, 331, 333; Schöch, Möglichkeiten und
Grenzen der Behandlung Straffälliger in Freiheit, in: Kury (Hrsg.), Ambulante Maßnah-
men zwischen Hilfe und Kontrolle, Interdisziplinäre Beiträge zur kriminologischen For-
schung, Band 7, 1984, S. 29 ff, 43 m . w . N .
1004 Heinz Schöch
1 2 3 4 5 6
IV.
Die bisherige Bestandsaufnahme hat ergeben, daß die Praxis des
Haftrechts derzeit nicht mehr so beunruhigend ist wie teilweise in den
70er und zu Beginn der 80er Jahre. Dennoch legen die Schwankungen in
den vergangenen 25 Jahren und der Vergleich mit anderen Ländern nahe,
daß es Spielräume oder Schwachstellen in unserem Haftrecht gibt, die
unter bestimmten Konstellationen zu einer ausufernden Praxis führen
können.
54 Vgl. umfassend ]escheck/Krümpelmann (Fn. 19); ferner Jung (Fn. 6); Diez-Ripollées,
J Z 1984, 561 ff, 562 f (Spanien); Pradel, Chronique 1985, II, S . 7 f f ; Stefani/Levasseur/
Bouloc, Procédure pénale, 12e édition, 1984, S. 514 ff (Frankreich); v. Bemmelen, Strafpro-
cesrecht, 8 . A u f l . 1984, S. 121 ff (Niederlande); Heine/Romani, ZStW 97 (1985),
S. 1087ff, 1133 ff; Hauser, Kurzlehrbuch des schweizerischen Strafprozeßrechts, 2. Aufl.
1984, S. 186ff (Schweiz); Foregger/Serini, Die österreichische Strafprozeßordnung, Kurz-
kommentar, 3. Aufl. 1983, § § 1 8 0 f f ö S t P O ; Morawetz/Stangl, Untersuchungshaft in
Osterreich, Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie, Wien 1984 (Osterreich).
55
Gebauer (Fn.38).
Wird in der Bundesrepublik Deutschland zu viel verhaftet? 1007
H E I N Z LEFERENZ
I.
1. Kriminologie definieren wir als „selbständige empirische Seinswis-
senschaft im Bereich der gesamten Kriminalrechtspflege" und treffen
damit inhaltlich wohl im wesentlichen die ausfiihrlicher-beschreibenden
Definitionen von Göppingen und Kaiser2. Jedoch gewinnt unsere
Begriffsbestimmung nur Kontur, wenn man die hier verwendeten Ter-
mini ihrerseits möglichst exakt festlegt, was nun in Kürze geschehen
soll.
II.
Richtet man freilich sein Interesse auf die Erfüllung der m. E. primä-
ren Aufgabe einer Kriminalrechtspolitik, nämlich auf die Effizienz einer
rechtsstaatlichen Verbrechensbekämpfung, so erstaunt es doch, daß
dieser Aspekt höchstens nebenbei erwähnt wird, und diese Zurückhal-
tung sowohl der Strafrechtler als auch der Kriminologen hat auch ihren
Grund, wenn auch einen schlechten; denn trotz und teilweise wohl auch
wegen des Wandels unserer Kriminalrechtspolitik haben wir einen kon-
tinuierlichen und besorgniserregenden relativen und absoluten Anstieg
der Kriminalität zu verzeichnen, der hier nur kurz und illustrativ anhand
der Polizeilichen Kriminalstatistik verdeutlicht werden soll. Man muß
sich dabei zwar bewußt sein, daß durch gewisse - hier nicht zu erör-
ternde - Fehlerquellen Ungenauigkeiten in Kauf zu nehmen sind; jedoch
lassen die Eindrücklichkeit und Plausibilität der Zahlen keinen vernünf-
tigen Zweifel an dem realen Anstieg der Kriminalität aufkommen und
sprechen gegen die gelegentlich vertretene Meinung, daß es sich bei
diesen Ziffern in Wirklichkeit um ein statistisches Kunstprodukt handle.
Im Folgenden verwenden wir die sog. Häufigkeitszahl ( = bekannt
gewordene Fälle insgesamt bzw. innerhalb einzelner Deliktsarten,
errechnet auf 100000 Einwohner), ausgehend vom Jahre 1963:
4 PolKrimStat. B R D 1984 S . 9 .
5 Feltes, Freie Straffälligenarbeit im Spannungsfeld der kriminalpolitischen Wende:
Behindert oder beflügelt durch eigene Ansprüche? Eröffnungsvortrag zum 3. Bundeskon-
greß der freien Initiativen und Gruppen in der Straffälligenarbeit 1986.
6 PolKrimStat. B R D jeweiliger Jahrgang.
Die neuere Kriminalpolitik auf kriminologischer Grundlage 1015
III.
Nach dieser wenig günstigen Bilanz erörtern wir nunmehr einige
neuere kriminologisch fundierte kriminalpolitische Entscheidungen im
Hinblick auf ihre sozialen Auswirkungen, nämlich a) die Zurückdrän-
gung der kurzen Freiheitsstrafe, b) die erweiterte Strafaussetzung zur
Bewährung, c) die steigende Strafrestaussetzung, d) die Vollzugslocke-
rungen, e) Reform und Praxis des Maßregelrechts:
ad a) Eine alte, auch kriminologisch begründete Forderung nach
Zurückdrängung der kurzen und mittleren Freiheitsstrafen zugunsten
der Geldstrafe hat die Gesetzgebung inzwischen verwirklicht. Zusam-
men mit der steigenden Strafaussetzung zur Bewährung und der Straf-
restaussetzung schien damals die Kampagne zur „Entvölkerung der
Gefängnisse" beachtliche Erfolge erzielt zu haben. Mit dem prozentua-
len Anstieg der Geldstrafen ging die Gefangenenpopulation um etwa Vi
zurück. Freilich ist der Glanz dieses Reformwerks bereits verblaßt, und
es scheint sich immer deutlicher herauszustellen, daß sich die Vor- und
Nachteile der vermehrten Geldstrafen aufzuwiegen beginnen: Die Insas-
sen sind inzwischen wieder stark angestiegen und haben den alten Stand
fast erreicht. Jedenfalls treten wieder unzuträgliche und rechtlich
bedenkliche Uberfüllungserscheinungen auf, die eine vernünftige Voll-
zugsarbeit erschweren. So lag die prozentuale Auslastung der Bele-
gungskapazität des Bundesgebiets 1970 bei 74,9%, im Jahre 1980 bei
96,7%, in Hessen bei 111,3 Ob der von Fehes" für 1985 bereits
Die neuere Kriminalpolitik auf kriminologischer Grundlage 1017
10
Dünkel/Rosner, Die Entwicklung des Strafvollzugs in der Bundesrepublik Deutsch-
land 1982 S. 404.
11
Feit es, Anm. 5.
n
Hasenpusch/Steinhilper, Die Verbüßung von Ersatzfreiheitsstrafen in Niedersachsen,
in: Steinhilper (Hrsg.), Soziale Dienste in der Strafrechtspflege, Kriminologische For-
schung Bd. 3 1984 S. 195 ff (206).
13
Böhm/Erhard MonKrim 1984 S. 368/69.
" Best, Freie Arbeit statt Ersatzfreiheitsstrafe, in: Steinhilper Anm. 12 S. 209ff.
1018 Heinz Leferenz
15
Spieß MonKrim 1981 S.299, 308.
16
Hausen, Die Strafaussetzung zur Bewährung bei Strafen über 1 Jahr bis zu 2 Jahren,
Jur. Diss. Heidelberg 1980, insbes. S.405.
Die neuere Kriminalpolitik auf kriminologischer Grundlage 1019
sowohl quantitativ als auch qualitativ deutlich ungünstiger lag als bei der
allgemeinen Strafaussetzung.
Freilich geht es hier letztlich wohl um eine ideologische Grundeinstel-
lung: Heute wird vorherrschend die Auffassung vertreten, daß bei der
Entscheidung über eine Strafaussetzung zur Bewährung weniger der
Ausschluß ungeeigneter Probanden bedeutsam sei, vielmehr ein gewisses
Risiko bewußt in Kauf genommen werden müsse, um mehr Verurteilten
eine Resozialisierungschance zu eröffnen. Jedoch erscheint es allmählich
fragwürdig, wenn das prognostische Risiko in immer größerem Umfang
nicht mehr den Verursachern der Situation, sondern Dritten aufgebürdet
wird.
2i Meier, P. Die Entscheidung über Ausgang und Urlaub aus der Haft 1982 S.25,
29, 61.
26 Neuwirth, Können Verbrechen und Vergehen wider das Leben durch Maßregeln der
Sicherung und Besserung verhindert werden? Jur. Diss. Heidelberg 1974.
Die neuere Kriminalpolitik auf kriminologischer Grundlage 1023
derartiger Opfer bringen. - Wir halten nichts vom Grundsatz „in dubio
pro übertäte", sofern er sich im Effekt gegen künftige Opfer richtet.
bung lanciert zu haben, das in der Form des früheren §65 StGB von
sachkundiger, nämlich psychopathologischer Seite von vornherein als
Mißgeburt angesehen wurde. O h n e hier die Diskussion nachträglich
aufwärmen zu wollen, ist im Grunde nur erstaunlich, daß aus den
Reihen der Urheber der längere Aufschub dieser Bestimmung lebhaft
beklagt wurde, anstatt eine praktikable Konzeption vorzulegen. -
Immerhin hat der Gesetzgeber die Anregung für Modell- bzw. Ver-
suchsanstalten gegeben, die teilweise im Desaster endeten, teilweise aber
in stabile Einrichtungen ausgebaut werden konnten und erste Effizienz-
kontrollen prästiert haben, bisher freilich mit bescheidenem Erfolg im
Hinblick z u m Aufwand, und zudem methodisch wohl nicht genügend
abgesichert. Ich selbst habe schon immer den Standpunkt vertreten, daß
mit einer Verbesserung des allgemeinen Strafvollzugs quantitativ mehr
erreicht werden kann als mit den gleichen Mitteln durch die spezielle,
aufwendige Förderung einer kleinen und prognostisch ungünstigen Pro-
bandengruppe, bei der grundsätzlich nur mäßige Erfolge erzielt werden
können. Aber auch die jetzige sog. Vollzugslösung (§§9,123-126
StVollzG) erscheint akzeptabel und ist - entgegen theoretisierenden
Kriminologen - ein Ausdruck praktischer Vernunft.
IV.
Im letzten Abschnitt befassen wir uns mit einigen Wirkungen dieser
insgesamt beklagenswerten Situation unserer kriminologisch fundierten
Kriminalpolitik:
Die Forschungsergebnisse zu Verbrechensfurcht bzw. Sicherheitsge-
fühl der Bevölkerung, die vor einiger Zeit von Kerner27 und von Murck28
vorgelegt wurden, sprechen schon für die Jahre 1976 bzw. 1977 dafür,
daß sich große Personengruppen, vor allem ältere Menschen und Frauen
allgemein, durch die steigende Kriminalität beunruhigt fühlen und durch
Strategien des Vermeidens und des „Rückzugs" erhebliche Einschrän-
kungen ihrer persönlichen Freiheit auf sich nehmen, z.B. durch Ver-
zicht auf Waldspaziergänge oder auf abendlichen Theater- oder Kino-
Besuch, durch Meiden von Tiefgaragen oder Nötigung zur Taxibenut-
zung oder durch Verzicht auf Tragen von Schmuck. Man sieht sich
gehalten, Türen und Fenster sorgfältig zu schließen, auch tagsüber, um
den immer dreisteren Einbrüchen entgegenzuwirken, aber auch des
Versicherungsschutzes wegen. Indessen sieht sich die Kriminalpolizei,
die der Massenkriminalität nicht genügend H e r r wird, veranlaßt, die
Bevölkerung in den Medien („Die Kriminalpolizei rät" oder „Vorsicht
27
Kerner, Kriminalitätseinschätzung und innere Sicherheit 1980 (BKA Bd. 11).
28
Murck KrimJ 1978 S. 202 ff.
Die neuere Kriminalpolitik auf kriminologischer Grundlage 1025
aus überformt werden, freilich immer mit dem Risiko seines Durch-
bruchs bei Provokation durch anomische Umstände. Aus geschichtli-
cher Erfahrung und rezenter Anschauung besteht kaum ein Zweifel, daß
eine steigende, die Bevölkerung immer mehr direkt oder indirekt berüh-
rende und belastende Kriminalität in Verbindung mit einer permissiven
oder gar solidaristischen Einstellung des Staates zum Kriminellen eine
Wiederbelebung des Vergeltungsbedürfnisses zur Folge hat, wie wir das
heute bereits in Ansätzen sehen. Dieser durchaus unerwünschten Ent-
wicklung kann m. E. nur durch eine wirksame Verbrechensbekämpfung
entgegengetreten werden, wozu Sozial- und Kriminalrechtspolitik, aber
auch unsere Wissenschaft in Pflicht stehen. Die Kriminologie ist aber
derzeit mit ihren neueren Ansätzen hierzu nicht ausreichend in der Lage.
Sie beschäftigt sich u. a. mit- Justiz, Anzeigeverhalten, Mitwirkung der
Opfer oder geht den Motiven des Täters nach, anstelle die F o l g e n der
Kriminalität stärker zu beachten. Es wäre wichtig, daß sich die Krimino-
logie wieder mehr mit Fragestellungen befaßt, die von praktischer
Bedeutung für potentielle Verbrechensopfer sind, also der Verbrechens-
bekämpfung unmittelbarer dienen, als dies bei den meisten heutigen
Forschungsrichtungen der Fall ist.
Freilich wäre es ein bedauerliches Mißverständnis, wenn aus unserer
Kritik an der neueren Reformpolitik auf eine negative Einstellung gegen-
über s i n n v o l l e n pädagogischen, therapeutischen oder sonst helfenden
Maßnahmen geschlossen werden sollte. Ausführungen zu d i e s e m Thema
würden aber den Rahmen der vorliegenden Arbeit überschreiten.
Abolitionismus - Alternative zum Strafrecht?
Was läßt der Abolitionismus vom Strafrecht übrig?
G Ü N T H E R KAISER
I.
„Wie alles Recht ein Schutzrecht ist", so soll auch das Strafrecht „nur
zur Gewährleistung des friedlichen Zusammenlebens der Menschen
beitragen". Demgemäß hat die Strafe in einer freiheitlichen Gesellschaft
„nicht die Aufgabe, Schuldausgleich und Gerechtigkeit um ihrer selbst
willen zu üben . . . ; sie ist vielmehr nur gerechtfertigt, wenn sie sich
zugleich als ein notwendiges Mittel zur Erfüllung der präventiven
Schutzaufgabe des Strafrechts erweist"1. Aber gerade die für die Strafe
beanspruchte Notwendigkeit und die dem Strafrecht angesonnene
Schutzaufgabe werden immer wieder angezweifelt. „Warum die Ausein-
andersetzungen um Sinn und Zweck der Strafe ständig in Fluß bleiben",
liegt, wie Karl Lackner treffend hervorhebt, in der nicht vollständig
auflösbaren „Antinomie der Strafzwecke" 2 . Doch weitere Gründe grei-
fen darüber hinaus; sie wecken Zweifel an der Legitimität und Funk-
tionstüchtigkeit des Strafrechts schlechthin, sie rühren in der westlichen
Welt erneut an der „Existenzfrage" des Strafrechts3.
Handelte es sich in den fünfziger und sechziger Jahren vorwiegend um
Forderungen nach einem therapieorientierten Maßnahmenrecht anstelle
des Strafrechts4, so macht seit den siebziger Jahren zunehmend eine
Richtung von sich reden, die international unter dem Namen „Abolitio-
nismus" bekannt geworden ist und unterschiedliche Reaktionen ausge-
1 Lackner, K.: Strafgesetzbuch mit Erläuterungen. 16. Aufl. München 1985, Ziff. 1 zu
§46, und sinngemäß übereinstimmend schon in seinem Vortrag „Kriminologie und
Strafrecht", KrimGegfr. H . 6 (1964), 6 - 2 0 (8).
2 Uckner (Fn. 1), Ziff. 1 b zu §46, sowie 1964, 11.
3 Vgl. Lange, R.: Das juridisch-forensich-kriminologische Grenzgebiet. Vom Stand-
punkt des Juristen. In: HB der Neurosenlehre und Psychotherapie. Bd. 5, hrsg. v.
V.Frankl u.a. München, Berlin 1961, 404ff. Nur in der sozialistischen Gesellschaft
scheint sich diese Frage nicht zu stellen, da hier der staatliche Strafanspruch ungebrochen
verwirklicht wird. Folgerichtig lehnt man hier den Abolitionismus strikt ab; vgl. Hack, P.
u. a.: Das Recht zum Strafen. Bericht über ein internationales Kolloquium. MschrKrim. 69
(1986), 41-45 (44).
' Dazu Frey, E.: Strafrecht oder soziale Verteidigung? SchwZfStr. 68 (1953), 407-440;
ders.: Heilen statt Strafen? Zürich 1962, und Lange (Fn. 3).
1028 Günther Kaiser
II.
Allerdings sind - wie angedeutet - Angriffe auf Theorie und Praxis des
Strafrechts keinesfalls neu. Seien es die seinerzeit als Frontalangriff auf
das Strafrecht empfundenen Thesen v. Liszts", seien es später psychoana-
lytische Kritik oder extreme Auffassungen der défense sociale9 oder
schließlich neomarxistische Positionen10, um nur einige Beispiele zu
nennen: Immer wieder sieht sich das Strafrecht heftiger Grundsatzkritik,
obschon mit unterschiedlich begründeter Ablehnung, ausgesetzt.
Gleichwohl handelt es sich bei der abolitionistischen Strömung der
Gegenwart um einen etwas anderen theoretischen und politischen Hin-
tergrund. Hier scheinen gerade „grüne" und „alternative" Gruppierun-
gen eine Position zu übernehmen, die ihren Grundgefühlen und Wert-
5 Vgl. Mittelstadt, O . : Wider die Freiheitsstrafen. Ein Beitrag zur Kritik des heutigen
Strafensystems. 2. Aufl. Leipzig 1 8 7 5 ; dazu Kaiser, G . : Strafvollzug im internationalen
Vergleich. Darmstadt 1982, 10 ff.
6 In Anlehnung an Radbruch, G . : Der Erziehungsgedanke im Strafwesen (1932). In:
Der Mensch im Recht. Göttingen 1957, 50 ff (59). Auch Κ .Lackner hat sich in seinem
Heidelberger Vortrag (Fn. 1), 20, auf die Verbesserung des Strafrechts und „die Reform
des Strafvollzuges . . . im Sinne Radbruchs" berufen, allerdings nicht im Verständnis
„negativer Kriminalpolitik".
7 Steinert, H . : Kriminalpolitik jenseits von Schuld und Sühne. In: K B 11 (1984), H . 4 5 ,
69 ff; ferner Hess, H . , Steinert, H . : Zur Einleitung: Kritische Kriminologie - zwölf Jahre
danach. KrimJ 1. Beiheft 1986, 2 ff (8), und Schumann, K . : Progressive Kriminalpolitik
und die Expansion des Strafrechtssystems. In: FS für L. Pongratz. München 1986,
371-385.
8 Dazu Kürzinger, J . : Die Kritik des Strafrechts aus der Sicht moderner kriminologi-
scher Richtungen. Z S t W 86 (1974), 211 ff (218 ff); ders.: Kriminologie. Stuttgart u. a. 1982,
2 2 f ; Schöch, H . : Verbrechens- und Straftheorien („Schulenstreit-Fall"). In: Juristischer
Studienkurs „Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug", hrsg. v. Kaiser/Schöch.
2. Aufl. München 1982, 2 9 ff.
' Vgl. F n . 4 ; Kaufmann, H . : Gramaticas System der Difesa Sociale. In: FS für H .
v.Weber. Bonn 1963, 418—444.
10 Kürzinger (Fn. 8), 2 3 0 ff.
Abolitionismus - Alternative zum Strafrecht? 1029
III.
F ü r die begriffliche A n a l y s e ist es hilfreich, sich z u v o r ü b e r die
Begriffsgeschichte des Abolitionismus zu vergewissern.
Soweit zu sehen, steht der Begriff ursprünglich für die seit 1774 in den Vereinigten
Staaten entstandene Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei. Einhergehend mit der
aufkommenden Vorstellung vom Individuum als Subjekt begreift sich der Abolitionis-
mus als moralische Bewegung. So wird H. B. Stoves' Roman „Onkel Toms Hütte"
(1852) als abolitionistischer Text gedeutet12. Später wird die Forderung nach Abschaf-
fung der Todesstrafe in die abolitionistische Zielsetzung aufgenommen'3. Auch in
England existiert diese Bewegung schon früh. Sie meint die seit dem 19. Jahrhundert
aufkommende Strömung zur Abschaffung der Prostitution. In Deutschland kämpft sie
gegen die staatliche Aufsicht und Kasernierung der Prostitution und setzt sich schließ-
lich 1927 durch14.
In diesem h i s t o r i s c h e n Z u s a m m e n h a n g , der m i t b e a c h t l i c h e m P a t h o s
eingesetzt w i r d , sieht sich a u c h der neue Abolitionismus. D a b e i w i r d der
V o l l z u g der Freiheitsstrafe als n e u e F o r m der V e r s k l a v u n g v e r d ä c h t i g t .
So verstehen beispielsweise die A b o l i t i o n i s t e n in den U S A den K a m p f
u m àie Abschaffung der Gefängnisse als geschichtliche A u f g a b e i m Sinne
einer F o r t s e t z u n g des K a m p f e s u m die A b s c h a f f u n g der Sklaverei 1 5 . In
E u r o p a steht der A b o l i t i o n i s m u s seit M i t t e d e r siebziger J a h r e v o r allem
unter d e m E i n f l u ß v o n Foucault. Seine historisch-strukturalistischen
A n a l y s e n der D i s z i p l i n i e r u n g v o n M e n s c h e n enthalten in seinem B u c h
11 Dazu Lackner (Fn. 1), Ziff. 1 b; Kaiser, G.: Was ist eigentlich kritisch an der
„kritischen Kriminologie"? In: FS für R. Lange. Berlin u.a. 1976, 521 ff.
12 Vgl. Scheerer, S.: Die abolitionistische Perspektive. KrimJ 16 (1984), 90ff (92).
13 Vgl. etwa Rossa, Κ.: Todesstrafen. Oldenburg u.a. 1966, 12 ff ; Schumann, K.F.:
Labeling approach und Abolitionismus. In: KrimJ 17 (1985), 19 ff (22). Hauptträger des
Kampfes gegen die Todesstrafe sind in Nordamerika zunächst die „American League to
abolish Capital Punishment" in Boston, die „John Howard Association" in Chicago und
„The Pennsylvania Prison Society" in Philadelphia; vgl. Diising, B.: Abschaffung der
Todesstrafe (Diss. Freiburg). Schwenningen 1952, 263 ff (268).
M Vgl. Scheerer (Fn. 12), 92 f.
15 Vgl. de Haan, W.: Die Politik mit dem „schlechten Gewissen". Die Diskussion über
den Abolitionismus in den Niederlanden. KrimJ 17 (1985), 246 ff (156); ferner das
Sammelwerk Abolitionism Towards a Non Repressive Approach to Crime, ed. by
Η.Bianchi u.a. Amsterdam 1986, mit Papieren einer internationalen Konferenz.
1030 Günther Kaiser
- eine Einführung. In: Mathiesen, T.: Überwindet die Mauern! Neuwied 1979, Iff.
" Mathiesen, T.: Überwindet die Mauern! Neuwied 1979. (Im Gegensatz zu diesem
deutschsprachigen Sammelband ist die englischsprachige Publikation „The politics of
abolition", Oslo 1974, bezüglich des Abolitionismus vom Titel her deutlicher.) Vgl.
außerdem ders.: Die lautlose Disziplinierung. Bielefeld 1985; etwas andere Schwerpunkte
im übrigen bei Christie, N.: Limits to Pain. Oslo 1981.
20 Kaiser, G.: Strafvollzug im internationalen Vergleich. In: GS für H.Kaufmann.
Berlin u.a. 1986, 599ff.
21 Vgl. dazu etwa Weigend, T. : Neoklassizismus - ein transatlantisches MißVerständnis.
ZStW 94 (1982), 801 ff; v.Hirsch, Α.: „Limits to Pain"; eine (ziemlich) neoklassische
Perspektive. KrimJ 15 (1983), 57ff; Christie, N.: Die versteckte Botschaft des Neo-
Klassizismus. KrimJ 15 (1983), 14 ff ; de Haan (Fn. 15), 253 ff.
Abolitionismus - Alternative zum Strafrecht? 1031
IV.
Stellt sich der Abolitionismus in seiner Umsetzung als konkretes
Programm dar, welches auf Verringerung und Abschaffung der Frei-
heitsstrafe gerichtet ist, so beanspruchen die Abolitionisten hierfür eine
theoretische Grundlage, die auf mehr als nur „ethischem Humanismus"
beruhen soll. Denn es geht nicht um die Legitimation der jetzigen
Strafrechtslehre und deren partielle Reform, sondern um die Stellung-
nahme gegen jegliche Inhaftierung von Menschen. Dafür braucht man
Mathiesen geht es nicht nur um die Abschaffung des Gefängnisses als solchem.
Vielmehr möchte er mit dem Kampf gegen die Freiheitsstrafe den autoritären Charakter
der Gesellschaft demonstrieren. Dabei bezieht er sich primär auf die gegenwärtige
bürgerliche Gesellschaft. Spätestens beim Kampf gegen die Freiheitsstrafe „entdecke"
man, daß das, was man angreife, nicht das „Eigentliche" sei; von Nöten sei vielmehr, zu
generellen Angriffen in ständig größeren Kreisen überzugehen. Deshalb lehnt Mathie-
sen „liberalistische Reformen" als unbedeutend ab37. Statt dessen sieht er die Ansatz-
punkte an anderer Stelle.
Zum einen schlägt er eine „Strategie des Unfertigen" als Alternative vor. Die einzige
Handlungsweise des Abolitionisten könnte das „Abschaffen" sein. Dabei liege dann die
Alternative im Unfertigen, in dem, was noch nicht endgültig sei. Jeder Versuch, die
herrschende Ordnung in der Weise zu verändern, daß an ihre Stelle etwas Fertiges
gesetzt werde, sei zum Scheitern verurteilt: Im Prozeß des Vollendens liege bereits ein
Zurückwenden zum Alten. Das Unfertige dagegen sei eine doppelte Negation der
fertigen ausgeformten Welt38.
Dazu gehört dann in der Umsetzung als zweiter Punkt die „Strategie der Negation".
Hierbei seien positive und negative Reformen zu unterscheiden. Positive Reformen,
also solche Veränderungen, die ein System so verbessern oder fortentwickeln, daß es
31 De Haan (Fn. 15), 257 ff.
32 Schumann (Fn. 18), 12.
33 Mathiesen (Fn. 19).
effektiver arbeitet, seien prinzipiell abzulehnen, weil sie am Ende die Legitimität des
herrschenden Systems steigerten. An deren Stelle hätten die negativen Reformen zu
treten, da nur diese sich der Aufrechterhaltung oder Legitimation der Strafrechtspflege
entziehen würden. Da es im Sinne der o. a. Strategie des Unfertigen unmöglich sei,
endgültige Zustände zu benennen, in denen abolitionistische Politik ende, bedeuten
negative Reformen konkret, das zu beseitigen, was ein System legitimiere, was man für
falsch halte. Dabei stehe hinter der Negation dann nicht etwa ein „Nichts", sondern ein
„Etwas" im Sinne einer Realität, die das System zu verstecken suche 3 '.
In dieser „radikalen" Gestalt erscheint der Abolitionismus als eine Weiterführung
und Ergänzung des labeling approach. Denn geht man von der Prämisse einer Krimina-
lität als Ergebnis von Definitionsprozessen durch strafrechtliche Kontrollinstanzen aus,
wie dieser Ansatz es tut, so ist es gedanklich folgerichtig, daß nur durch Verlust eines
Zwangsmittels oder die Entkriminalisierung eines Straftatbestandes die soziale Kon-
trolle tatsächlich beschnitten werden kann: N u r abolitionistische Kriminalpolitik kann
- aus der Sicht der Betroffenen - somit wirksame Änderungen auf Dauer bewirken.
Von diesem Standpunkt aus stellt der Abolitionismus eine denkmögliche, vielleicht
sogar notwendige Weiterführung des labeling-Ansatzes dar40.
Dieser Rückgriff auf den labeling approach gibt der Position Mathiesens auch eine
innere Stütze. Denn der neue Zustand, den er erreichen möchte, kann nur vorüberge-
hender Natur sein: Die von ihm gedachte „alternative Gesellschaft", welche ohne
Repression und Strafe sei, könne nämlich nur so lange alternativ sein, als sie im
Entstehen begriffen, unfertig sei. So sei die bloße Existenz einer Gesellschaft in sich
selbst bereits anti-alternativ, enthalte Begrenzungen, welche allein schon in dem
Phänomen „Struktur" eingebaut seien; deshalb werde die neue Gesellschaft, wenn sie
fertig aufgebaut sei, auf fundamentale Weise der alten gleich 4 '. Berücksichtigt man
diesen Teil der Aussagen, wird deutlich, daß Mathiesens Position nicht nur antireformi-
stisch wie jene Foucaults ist, sondern in der Ablehnung jeglichen Systems auch
postrevolutionär zu sein scheint. Sie läßt sich lediglich mit dem Attribut „anarchistisch"
einigermaßen umschreiben. Im allgemeinen wird Mathiesen zu den materialistischen
Gesellschaftstheoretikern gezählt 42 .
Vor diesem theoretischen Hintergrund wird deutlich, warum kein Entwurf einer
„Alternative" möglich scheint, warum der Abolitionismus nach Mathiesen nur im
Unfertigen liegen kann: Würde man ihn in das oder irgendein System integrieren, dann
gebe man das letzte Ziel, den „Augenblick der Freiheit", selbst auf. Denn „jedes soziale
System ist . . . autoritär" 43 . N i m m t man aber den labeling-Ansatz ernst, so erschöpft er
sich nicht im Abolitionismus. Denn mit der Beseitigung (straf-)rechtlicher Reaktions-
mechanismen hat der Abolitionismus zunächst sein Ziel erreicht, während der labeling
approach die Aufgabe wahrnehmen kann, die anders ablaufenden Prozesse informeller
Sozialkontrolle zu untersuchen: Denn auch sie enthalten - was nicht zweifelhaft sein
kann - einschneidende Moralurteile, Ausgrenzungen, also insgesamt ein gewisses
degradierendes Potential 44 .
von Nils Christie. KrimJ 15 (1983), 34ff; Scheerer (Fn. 12); de Haan (Fn. 15).
4 ! Etwa v.Hirsch (Fn.21), einer von Christies Hauptkritikern.
45 Christie (Fn.21), 24.
50 Plack, Α.: Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts. München 1974, 199. Auch
bei Plack kommt - in diesem für die westdeutsche Diskussion frühen Zeitpunkt - der
Begriff des Abolitionismus im übrigen noch nicht vor (vgl. zur Titeländerung bei Mathie-
sen, Fn. 19).
51 Z . B . Hassemer, W . : Sozialwissenschaftlich orientierte Rechtsanwendung im Straf-
recht. In: Sozialwissenschaften im Strafrecht, hrsg. v. Hassemer. Neuwied 1984, 1 ff.
Abolitionismus - Alternative zum Strafrecht? 1035
56 Vgl. etwa Plack (Fn.50), 325; Sessar (Fn.29), 155; aber auch die Anhänger der
amerikanischen mediation movement, vgl. hierzu etwa Hauck, G.: Diversion und Kon-
fliktregelung. In: KB 9 (1982), H.35, I f f (19ff); ders.: Vermittlung als Alternative zur
strafrechtlichen Konfliktregelung. In: KB 7 (1980), H. 28/29, 5ff (12 ff, 35 f), sowie das
Themenheft The Mediation of Social Conflict. Journal of Social Issues, Vol.41 (1985),
Heft 2, ed. by Kressel/Pritt.
57 Z.B. Sessar (Fn.29), 154; Steinen (Fn.7).
5" Scheerer (Fn. 12), 102 f.
59 Vgl. Sebba, L.: Policies and Practices of Informal Social Control outside the
Criminal Justice System (Prevention). In: IX. Int. Kongreß der Int. Gesellschaft für
Kriminologie, Berichte der Panelisten und Liste der wissenschaftlichen Beiträge 1983,
141 ff (150).
60 v.Hirsch (Fn. 21), 60.
" Schumann (Fn. 13), 22 u.a.
1036 Günther Kaiser
eines eben nicht verrechtlichten Reaktionssystems mit dem Ziel von Einzelfall-Gerech-
tigkeit. Diese Auffassung fügt sich offensichtlich in einen breiten Trend zunehmender
Unbeliebtheit der Staatsidee, wie er in der sogenannten Grünen Bewegung tatsächlich
vorherrscht62. Deshalb verwundert es nicht, daß Christie heute geradezu als „Beccaria
der Alternativkultur" gefeiert wird'3.
Man braucht nicht unbedingt Hobbesianer zu sein, um einzuwenden, daß die Bilder
des „bellum omnium contra omnes" und des „homo homini lupus" eine gewisse
Plausibilität besitzen; dieser Streit kann jedoch hier unentschieden bleiben. Denn
gegenüber den Thesen Christies und anderer sind gravierendere Einwände geltend zu
machen:
Zum einen kommt man nicht um die Feststellung herum, daß die oben angeführten
Organisationsprinzipien mit der erreichten Entwicklungsstufe der modernen Gesell-
schaft nicht vereinbar sind64. Nicht zu Unrecht wird darauf hingewiesen, daß Christie
gewisse alternative Gemeinschaften „in den Tälern Norwegens" im Auge habe65; diese
Modelle können aber nicht auf andere Länder übertragen werden. Von daher sei
Christie „gesellschaftspolitisch naiv". Der sich in diesem Zusammenhang fügende
Vorschlag Steinerts, Konfliktlösung sei auch dadurch möglich, daß man sich aus dem
Wege gehe66, erscheint in der milderen Form des Rechtsbruchs für das Opfer nur selten
akzeptabel, in der schwereren Form des Verbrechens jedoch nicht frei von einer vom
Täter selbstauferlegten und freiwillig vollzogenen Sanktion. Wenn Christie zum ande-
ren soziale Subsysteme ohne strafrechtliche Kontrolle anpreist, so erscheint dies als zu
kurz gegriffen. Zwar ist der Gedanke an die Möglichkeit außerstrafrechtlicher Sozial-
kontrolle nachvollziehbar. Jedoch müßte dann anstelle des Strafrechts eine Sozialkon-
trolle durch gesellschaftliche Gruppierungen als eine Art Gesellschaftsjustiz treten,
wobei diese soziale Kontrolle im Ergebnis expandierende Tendenzen aufweist, was
gelegentlich unter dem Stichwort der Net-widening-Effekte beschrieben wird. Dies
bedeutet zwangsläufig einen Prozeß der Vergesellschaftung und des Verlustes an
Privatheit67, der bedenklich totalitäre Züge trägt6®. Foucaults Sorge vor der Totalisierung
sozialer Kontrolle wird also hier nicht ausgeräumt, sondern im Gegenteil noch ver-
stärkt. Auch bei der Konfliktlösung innerhalb der „Gemeinschaften" wird es unver-
meidlich Degradierung und Stigmatisierung geben6'. Im übrigen bleibt die Frage, was
diese Form von Privatjustiz gegenüber der staatlichen Übelszufügung eigentlich privile-
gieren soll. Verglichen damit erscheint Mathiesens radikaler Ansatz, wonach letztlich
jedes soziale System autoritär sei, konsequenter.
V.
Der theoretische Abolitionismus in seiner gemäßigten Variante ist in
gewisser Hinsicht die notwendige Voraussetzung, welche der Umset-
zung abolitionistischer Ideen in die praktische Kriminalpolitik bedarf,
soll nicht die gesamte abolitionistische Bewegung in einer „freischwe-
benden" Perspektive verharren. Obschon der Abolitionismus als Einheit
von Theorie und Bewegung gilt, liegt sein Schwerpunkt unverändert in
der praktischen Orientierung. Diese konkrete Position versteht sich
dabei überwiegend als soziale Bewegung76. Sie wird beispielsweise von
Gruppierungen, die Gefangene betreuen wie Organisationen von Ange-
hörigen der Gefangenen oder kirchlichen Vereinigungen, die im Bereich
der Resozialisierung arbeiten, getragen. In der praktischen Arbeit finden
72
Schumann (Fn. 13), 24.
7Î
Scheerer (Fn. 71); de Haan (Fn. 15), 259.
" So sinngemäß Plack (Fn. 50), Vorwort, 5.
75
Scheerer (Fn. 12), 110.
76
De Haan (Fn. 15), 256; Scheerer (Fn. 12), 93, 95.
1038 Günther Kaiser
Opportunities for Controls. Beverly Hills u.a. 1985, sowie Kaiser, G., Kemer, H.-J.,
Schöch, H . : Strafvollzug. 2.Aufl. Heidelberg 1982, 476ff.
90 Für alle Papendorf/Schumann/Voß (Fn.22); Voß, M„ Papendorf, K.: Im Käfig des
Erziehungsgedankens: Die scheiternde Jugendstrafvollzugsreform. KJ 14 (1981), 201 ff.
" Papendorf'/Schumann/Voß (Fn.22), 93f.
1040 Günther Kaiser
VI.
„Solange solche Fundamentalkritik" allerdings „kein alternatives
Konzept konkreter Reaktionen auf abweichendes Verhalten anzubieten
vermag, ist sie", wie Karl Lackner hervorhebt95', „als Gegenmodell nicht
brauchbar und allenfalls geeignet, durch Einzelergebnisse die evolutive
Fortentwicklung des Bestehenden zu beeinflussen". Worin besteht
letzten Augenblick von einem A r z t überwacht werden, der so als Verantwortlicher für das
Wohlbefinden als Agent des Nicht-Leidens denen an die Seite gestellt wird, die das Leben
auszulöschen haben. Unmittelbar v o r der Exekution werden Beruhigungsinjektionen
verabreicht. Utopie einer schamhaften Justiz: man raubt alle Rechte, ohne Leiden zu
machen; man erlegt Strafen auf, die von jedem Schmerz frei sind. Der Rückgriff auf
Psychopharmaka und auf diverse physiologische ,Unterbrecher' liegt genau in der Rich-
tung dieses ,körperlosen' Strafsystems (Foucault 1977, 19).
94 Voß, M . : Aufforderung zum Verzicht auf Gefängnisbauten in Hessen und anderswo.
In: K B 11 (1984), H . 45, 36 ff (36). Auf den irreversiblen Charakter von Neubauten weist
Mathiesen hin: im selben Heft (anläßlich derselben Anhörung), 5 7 f f (63 f).
95 Voß (Fn. 94), 3 9 ; Schumann, K. F . : Vortrag im Hessischen Landtag anläßlich einer
Anhörung des Rechtsausschusses und Unterausschusses Justizvollzug. In: K B 11 (1984),
H . 45, 48 ff (51 ff).
,5> Lackner, K. : Prävention und Schuldunfähigkeit. In : FS für Th. Kleinknecht. Mün-
chen 1985, 2 4 5 - 2 6 6 (255).
Abolitionismus - Alternative zum Strafrecht? 1041
96 D a z u Smaus (Fn.28), 3.
97
De Haan (Fn. 15), 258.
91
Wright, M . : In Place of Punishment. Vortrag am Max-Planck-Institut für ausi, und
int. Strafrecht Freiburg, gehalten am 4 . 1 0 . 1 9 8 5 .
99 So Lahti (Fn. 27), 70.
100 So Sessar (Fn. 29), 154; allerdings ist die „Opferorientierung" sehr spät entdeckt und
aufgenommen worden.
101
Steinen (Fn. 7), 72.
101
Sessar (Fn. 29), 155.
I0J Vgl. etwa de Haan (Fn. 15), 261.
104
Sessar (Fn.29), 154.
105
Steinen (Fn. 7), 75.
1042 Günther Kaiser
106 Van Dijk, J . J . M . : Research and the Victim Movement in Europe. In: Research on
Victimisation. Collected Studies in Criminological Research, Vol. X X I I I . ed. by Council
of Europe. Strasbourg 1985, 7ff (14).
107 So sinngemäß allerdings schon Schneider, H. J.: Jugendkriminalität im Sozialprozeß.
Göttingen 1974, 107 f.
108 So Gramatica, F.: Grundlagen der Défense Sociale. Kriminologische Schriftenreihe
Bd. 18/19. Hamburg 1965, und Plack (Fn.50), 380 ff.
m Vgl. Scheerer (Fn. 87), 66.
110 Wright (Fn. 98).
111 Steinert (Fn. 7), 73 f.
1,2 Kern, R.: Wie die Grünen in Hessen die Strafvollzugspolitik wieder in Schwung
bringen wollen. In: KB 11 (1984), H . 4 5 , 29ff.
113 So Hulsman auf die Frage nach der Bandenkriminalität und dem organisierten
Verbrechen mit dem Hinweis, daß dies kein gutes Beispiel sei; vgl. Scheerer (Fn. 87), 67.
Abolitionismus - Alternative zum Strafrecht? 1043
m
Steinen (Fn. 7), 77.
115 Vgl. Herrmann, J . : Diversion und Schlichtung in der Bundesrepublik Deutschland.
ZStW 96 (1984), 485ff; Blau, G.: Diversion und Schlichtung. ZStW 96 (1984), 485ff.
116
Steinert, H.: Die Kosten der Gesetzlichkeit. In: IX. Int. Kongreß der Int. Gesell-
schaft für Kriminologie (Fn. 59), 72 ff (81 ff).
117
Kaiser, G.: Kriminologie - ein Lehrbuch. Heidelberg 1980, 173.
111 Was auch Steinert (Fn. 116), 81, zugesteht.
1,9
Herrmann (Fn. 115), 462.
120
Steinert (Fn. 118), 85; Schumann (Fn. 13), 19.
1044 Günther Kaiser
124 Dazu etwa Scheerer (Fn. 12), 111 m.w.N., sowie de Haan (Fn. 15), 257.
126 Vgl. Scheerer, S.: Neue soziale Bewegungen und Strafrecht. KJ 18 (1985 f), 245 ff
(249).
1046 Günther Kaiser
127
Ders. (Fn. 126), 246.
» Kritisierend ders. (Fn. 126), 245.
,2
Über den Angleichungsgrundsatz
des § 3 Abs. 1 StVollzG
GÜNTER BEMMANN
1 § 2 Satz 1 StVollzG.
2 B V e r f G E 35/235.
' D a z u mein Beitrag in der Festschrift für Paul Bockelmann, 1979, S. 891 ff.
* Vgl. Schüler-Springorum, Festschrift für Paul Bockelmann, 1979, S. 879 ff.
1048 Günter Bemmann
aus dem Wortlaut des § 3 Abs. 1 StVollzG. Denn danach soll das Leben
im Vollzug den allgemeinen Lebensverhältnissen schließlich nicht total,
sondern eben nur „soweit als möglich" angeglichen werden.
Diese Einschränkung bedeutet, daß die Angleichung haltzumachen
hat vor solchen Eigenheiten des Anstaltslebens, die zur Aufrechterhal-
tung von Sicherheit und Ordnung unbedingt notwendig sind. Gewiß,
die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung darf nicht, wie dies
in der Vergangenheit vielfach geschehen ist, zum Selbstzweck werden 5 .
Uberflüssige Sicherheitsvorkehrungen und übertriebene Ordnungsbe-
strebungen sind in einem auf Resozialisierung abzielenden Strafvollzug
allemal fehl am Platz. Indessen dürfte kaum bezweifelbar sein, daß,
würde in der Anstalt nicht für eine einigermaßen verläßliche Sicherheit
und eine leidliche Ordnung gesorgt, alle Resozialisierungsbemühungen
scheitern müßten.
Die andere Einschränkung ergibt sich aus dem Sinn des Angleichungs-
grundsatzes. Wie dargetan, ist der Sinn dieses Grundsatzes der, günstige
Voraussetzungen für die Erreichung des Vollzugsziels zu schaffen.
Daher hat die Angleichung des Lebens im Vollzug an die allgemeinen
Lebensverhältnisse zu unterbleiben, falls sie, was freilich nur ausnahms-
weise anzunehmen ist, der Resozialisierung des Gefangenen entgegen-
wirken würde. Immerhin, es kann sein, daß der Gefangene einer den
allgemeinen Lebensverhältnissen entsprechenden Situation nicht oder
noch nicht gewachsen, daß er nachgerade lebensuntüchtig ist und darum
zunächst einmal so etwas wie „einen künstlichen ,Schonraum' für erste
Lernschritte benötigt" 6 .
Abgesehen aber von diesen beiden Einschränkungen, erheischt der
Angleichungsgrundsatz Beachtung. Er ist, wie es in den Gesetzesmate-
rialien heißt, „im gesamten System des Vollzuges . . . bei allen einzelnen
Maßnahmen gebührend zu berücksichtigen" 7 . Die Vollzugsbehörde
müßte daher, um nur einige Beispiele zu nennen, in der Frage der
Unterbringung des Gefangenen im offenen oder geschlossenen Vollzug,
in Angelegenheiten der Lockerung des Vollzugs, in Besuchsangelegen-
heiten, in der Frage der Überlassung oder Zurückweisung persönlicher
Gegenstände, in Sachen der Berufsausbildung und natürlich in Sachen
der Freizeitgestaltung, und zwar immer dann, wenn es möglich ist und
nicht ausnahmsweise sinnwidrig wäre, so entscheiden, daß der Unter-
schied zwischen dem Leben im Vollzug und den allgemeinen Lebensver-
hältnissen sich verringert.
5
Vgl. Baumann, Festschrift für Reinhart Maurach, 1972, S. 561 ff; ders., Die Reform
des Strafvollzuges, 1974, S. 101 ff.
6
Böhm in Schwind/Böhm, Kommentar zum Strafvollzugsgesetz, 1983, § 3 Rdn.2.
7
BT-Drucks. 7/918, S.46.
Über den Angleichungsgrundsatz des § 3 Abs. 1 StVollzG 1049
Mithin kann festgestellt werden, daß der derzeitige §20 StVollzG mit
dem Angleichungsgrundsatz im Widerspruch steht und ohne Zweifel der
Reform bedarf.
Bevor nachfolgend weitere Gesetzesbestimmungen daraufhin unter-
sucht werden, ob auch sie dem Grundsatz der Angleichung widerspre-
chen, erscheint der Hinweis angebracht, daß der Gesetzgeber aus
Kostengründen leider eine Reihe von Regelungen getroffen hat, deren
Unvereinbarkeit mit dem Angleichungsgrundsatz gleichsam auf der
Hand liegt. Zu diesen Regelungen zählen in erster Linie §43 Abs. 1
i.V.m. §200 StVollzG, wonach dem Gefangenen für seine Arbeit
einstweilen nur ein extrem niedriger Lohn zusteht, sowie §198 Abs. 3
StVollzG, wonach insbesondere die vorgesehene Einbeziehung des
Gefangenen in die Sozialversicherung von einem noch ungewissen
Gesetzgebungsakt abhängt11. Allein, derlei Hemmnisse, die der Gesetz-
geber dem Angleichungsgrundsatz entgegenstellen zu müssen gemeint
hat, sollen hier nicht im Brennpunkt der Kritik stehen. Daß der Gesetz-
geber angesichts begrenzter finanzieller Möglichkeiten sich außerstande
gesehen hat, dem Grundsatz der Angleichung allenthalben sofort zum
Durchbruch zu verhelfen, ist zwar bedauerlich, aber gewissermaßen
auch verständlich. Die kritische Untersuchung, die nun fortgesetzt
werden soll, beschränkt sich daher auf solche Gesetzesbestimmungen,
die, soweit nötig, reformiert werden könnten, ohne daß dadurch zusätz-
liche Kosten in nennenswerter Höhe anfallen würden.
Besondere Aufmerksamkeit gebührt hier dementsprechend neben
dem bereits erörterten § 20 StVollzG auch dem ihm unmittelbar benach-
barten §21 StVollzG. Diese Vorschrift geht davon aus, daß der Gefan-
gene von der Anstalt verpflegt wird. Zwar kann die Vollzugsbehörde, da
das Gesetz dies nicht untersagt, dem Gefangenen gestatten, sich selbst
zu verpflegen 12 . Doch einen Anspruch des Gefangenen auf Selbstverpfle-
gung anerkennt §21 StVollzG nur insoweit, als er, der Gefangene, zur
Befolgung essentieller Speisegebote seiner Religionsgemeinschaft eine
andere als die aus der Anstaltsküche erhältliche Kost benötigt.
Die Frage drängt sich auf, warum der Gesetzgeber dem Gefangenen
nicht prinzipiell einen Anspruch auf Selbstverpflegung eingeräumt hat.
Eine Regelung beispielsweise, die dem Gefangenen zugestehen würde,
sich seine Speisen, wenn möglich, selbst zuzubereiten oder aus einer
Gaststätte kommen zu lassen, entspräche dem Angleichungsgrundsatz
11
Ferner § 201 StVollzG, wonach in älteren Vollzugsanstalten die Unterbringung nicht
den sonst vorgeschriebenen Erfordernissen zu genügen braucht.
12
So jedenfalls Begründung zum Reg.-Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes, BT-
Drucks. 7/918, S.56.
Über den Angleichungsgrundsatz des § 3 Abs. 1 StVollzG 1051
13 Auch andere Arten der Selbstverpflegung kommen in Betracht. Vgl. Feest, Alterna-
fen17. Aber einen Anspruch auf einen Einkauf unter Verwendung von
Eigengeld hat der Gefangene nur, falls er ohne sein Verschulden weder
über Hausgeld noch über Taschengeld verfügt18.
Warum, so muß gefragt werden, hat der Gesetzgeber das Einkaufs-
recht des Gefangenen nicht auch auf Schreib- und Malpapier, Bleistifte,
Bücher und Spielkarten, überhaupt auf alle Gegenstände erstreckt, die
zu besitzen in der Anstalt erlaubt ist? Die Beschränkung des Einkaufs-
rechts auf Nahrungs-, Genuß- und Körperpflegemittel ist doch schlech-
terdings unverständlich. Und warum, so muß weiter gefragt werden, hat
der Gesetzgeber dem Gefangenen die Befugnis vorenthalten, generell
außer vom Haus- oder Taschengeld auch vom Eigengeld einzukaufen?
Natürlich, wenn durchweg auch das Eigengeld für den Einkauf zur
Verfügung stünde, dann könnte der bemittelte Gefangene, und nur er,
seinen Besitz beträchtlich mehren, dann würden unter Umständen rela-
tiv große Besitzunterschiede innerhalb der Gefangenengemeinschaft ent-
stehen. Allein, eine entsprechende Ungleichheit findet sich auch in der
freien Gesellschaft, und das Leben im Vollzug soll ja den allgemeinen
Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen werden. Also kann
es eigentlich nicht opportun sein, in der Anstalt einen möglichst einheit-
lichen und damit insgesamt sehr niedrigen Lebensstandard zu bewah-
ren19. Allerdings erscheint vorstellbar, daß größere Besitzunterschiede
innerhalb der Gefangenengemeinschaft dazu ausgenutzt werden könn-
ten, „Sicherheit und Ordnung gefährdende Abhängigkeitsverhältnisse
. . . zu begründen und zu unterhalten" 20 . Doch daß diese Vorstellung
nicht sehr zu schrecken braucht, dafür bietet wiederum die Praxis des
Untersuchungshaftvollzugs einen trefflichen Anschauungsunterricht.
Die Inhaftierten in der Untersuchungshaft sind ja, wie bekannt, nicht
selten ziemlich ungleich situiert, und selbstverständlich wird die Haft
trotzdem unter Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung voll-
zogen.
Vielleicht steht hinter der geltenden, ausgesprochen kleinlichen Ein-
kaufsregelung auch der Gedanke, das Übel der Strafe hinreichend fühl-
bar zu machen21. Aber gegenüber solchem antiquierten Gedanken kann
nicht nachdrücklich genug betont werden, daß das Strafübel in nichts
anderem bestehen darf als dem Entzug der Freiheit und den damit
S.57.
21 Vgl. Böhm, Strafvollzug, 1979, S. 102.
Über den Angleichungsgrundsatz des § 3 A b s . 1 StVollzG 1053
Vollzug, abgesehen davon, daß der Gefangene zustimmen muß und daß er außerdem nicht
zu der Befürchtung Anlaß geben darf, er werde entweichen oder Straftaten verüben,
1054 Günter Bemmann
schließlich noch voraussetzt, daß der Gefangene auch sonst „den besonderen Anforderun-
gen des offenen Vollzuges genügt". Diese Voraussetzung kann nur ausnahmsweise,
nämlich nur dann für nicht gegeben erachtet werden, wenn der Gefangene in seiner
sozialen Entwicklung außerordentlich zurückgeblieben, wenn er praktisch gemeinschafts-
unfähig ist und für die ersten Schritte zum Erlernen der Fähigkeit, sich in der Gemeinschaft
richtig zu verhalten, „den ,Schonraum' einer geschlossenen Anstalt braucht". Quensel in
Kaufmann, Die Strafvollzugsreform, 1971, S. 159 ff.
25 Dazu mein Beitrag in der Festschrift für Ulrich Klug, 1983, S. 563 ff.
24 Vgl. insbesondere BGHSt. 11/113 f; Β G H Z 29/49 f, 179 f.
Über den Angleichungsgrundsatz des § 3 Abs. 1 StVollzG 1055
Der Gesetzgeber hat sich indessen von der Meinung leiten lassen,
Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht habe die Gesundheitsfürsor-
gepflicht, die der Vollzugsbehörde gegenüber dem Gefangenen ob-
liege25. U m dieser Pflicht genügen zu können, müsse die Vollzugsbe-
hörde, und zwar unabhängig davon, ob der Gefangene dies wolle oder
nicht, die medizinisch indizierten Maßnahmen durchführen dürfen,
nötigenfalls mit Zwang 26 . Der entgegenstehende freie Wille des Gefange-
nen könne, wenn überhaupt, nur in der Weise Berücksichtigung finden,
daß dann die Vollzugsbehörde zur Durchführung der Zwangsmaßnah-
men zwar für nicht verpflichtet, nicht aber auch für nicht berechtigt
erachtet werden könne. Denn der Vollzugsbehörde könne nicht gut
angesonnen werden, untätig zusehen zu müssen, wie der Gefangene,
den zu retten ihr möglich sei, den Tod erleide27.
Doch diese Argumentation ist nicht schlüssig. Davon ausgehend, daß
die Vollzugsbehörde die Befugnis, den Gefangenen zwangsweise zu
kurieren, hat, damit sie ihrer Pflicht zur Gesundheitsfürsorge nachkom-
men kann, muß ja doch gefolgert werden, daß der Umfang der Befugnis
sich mit dem Umfang der Pflicht deckt, daß also dort, wo die Pflicht
endet, auch die Befugnis zu bestehen aufhört. Von diesem Ausgangs-
punkt aus ist es darum abwegig, die Vollzugsbehörde zur Durchführung
der Zwangsmaßnahmen zwar für nicht verpflichtet, aber dennoch für
berechtigt zu halten. U n d eine Verpflichtung der Vollzugsbehörde
anzunehmen, also anzunehmen, die Vollzugsbehörde sei eben nicht nur
berechtigt, sondern sei sogar verpflichtet, dem Gefangenen, und zwar
dem seines Willens mächtigen Gefangenen, mit medizinischen Zwangs-
maßnahmen zu Leibe zu rücken, das geht denn doch, wie auch der
Gesetzgeber erkannt zu haben scheint, nicht an, schon gar nicht unter
Berufung auf die Gesundheitsfürsorgepflicht. Denn die der Vollzugsbe-
hörde gegenüber dem Gefangenen obliegende Pflicht zur Gesundheits-
fürsorge soll ja lediglich ein Ausgleich dafür sein, daß der Gefangene
selbst nicht oder nicht genügend für seine Gesundheit zu sorgen ver-
mag 28 . So weit dieses Unvermögen des Gefangenen reicht, so weit und
nicht darüber hinaus erstreckt sich demgemäß die Gesundheitsfürsorge-
25 Jedenfalls ist diese Meinung bei der Beratung des Reg.-Entwurfs eines Strafvollzugs-
29
Ich wiederhole hier eine Formulierung aus meinem Beitrag in der Festschrift für
Ulrich Klug, 1983, S.568.
J0
Überdies verstößt §101 StVollzG, da das Selbstbestimmungsrecht, das er ignoriert,
in dem absolut zu sichernden Kernbereich menschlicher Freiheit wurzelt, gegen das
Grundgesetz.
Mehrere Straftaten in verschiedenen
Alters- und Reifestufen
Zur Problematik des § 32 J G G ,
namentlich in Fällen der Schwerkriminalität
HERMANN KRAUTH
I.
Das Jugendstrafrecht verdankt dem verehrten Jubilar viel. Diesem
Rechtsgebiet hat er früh gesetzgeberische und wissenschaftliche Arbeit
gewidmet. Das Protokoll der 200. Sitzung des Ausschusses für Rechts-
wesen und Verfassungsrecht des Deutschen Bundestages vom 11. Sep-
tember 1952 weist als anwesenden Vertreter des Bundesministeriums der
Justiz neben „ORR Dr. Dreher" und „AGR Dr. Maassen" - als Dritten
im Bunde - den „LGR Dr. Lackner" aus. In dieser Sitzung begann unter
dem Vorsitz des Abgeordneten Dr. Adolf Arndt die Beratung des Regie-
rungsentwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Reichsjugendgerichts-
gesetzes (BR-Drucks. Nr. 50/52) in zweiter Lesung. Klangvolle Namen
allesamt, die ihre Spuren in der strafrechtlichen Gesetzgebung und
Wissenschaft der Bundesrepublik Deutschland hinterlassen haben. In
gleichem Sinne hinzuzufügen ist der des damaligen „MinRats Dr. Dal-
iinger", der in dem Protokoll der 1. Sitzung des Unterausschusses
Jugendgerichtsgesetz vom 29. Oktober 1952 erscheint1. Mit ihm gemein-
sam hat Lackner den gewaltigen Stoff in dem grundlegenden Kommen-
tar zu dem neuen Jugendgerichtsgesetz wissenschaftlich durchdrungen
und zugleich für die Praxis aufbereitet.
Mit dem Änderungsgesetz von 1953 wurde das Jugendstrafrecht nicht
nur von nationalsozialistischem Gedankengut befreit. Es wurde in man-
cher Hinsicht ausgebaut und neu gestaltet. Namentlich wurde der
Erziehungsgedanke im Gesetz noch stärker ausgeprägt, nicht zuletzt
auch durch Wiedereinführung der im J G G 1923 enthalten gewesenen
und im R J G G 1943 wieder abgeschafften Strafaussetzung auf Probe in
der verbesserten Form der Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung
' In diesem gemeinsamen Unterausschuß aus Mitgliedern des Ausschusses für Fragen
der Jugendfürsorge und des Rechtsausschusses wurde der Gesetzentwurf unter dem
Vorsitz des Abgeordneten Senator Ewers (vgl. Daliinger/Lackner, J G G l . A u f l . , 1955,
S. 57) in 14 Sitzungen beraten.
1058 Hermann Krauth
sowie durch das neue Rechtsinstitut der Aussetzung der Verhängung der
Jugendstrafe. Eine Entscheidung von großer rechtspolitischer Bedeu-
tung war insbesondere die weitgehende Erstreckung des Jugendstraf-
rechts auf Heranwachsende2. Obgleich im Laufe der parlamentarischen
Behandlung die Änderungen gegenüber dem RJGG über die Regie-
rungsvorlage wesentlich hinausgingen3, war das Gesetz noch nicht als
die große Reform angelegt, in der bereits jede als problematisch erkannte
Regelung letzte Verfeinerung hätte erwarten dürfen. Als schwierigen
Problembereich hat der Gesetzgeber bereits damals erkannt, daß sich
mit der aus §15 RJGG weitgehend übernommenen Regelung über die
Bildung einer Einheitsstrafe beim Zusammentreffen von Jugend- und
Erwachsenenstraftaten (§32 J G G ) „für das Rechtsgefühl kaum erträg-
liche Vorteile"4, ergeben können. Wohl als erster hat Lackner literarisch
eindringlich auf die „Grenzfragen, die an den Berührungspunkten der
beiden Strafrechtsordnungen entstehen", auf den „ganzen Umfang der
Aufgabe . . . , die es noch zu meistern gilt"5 und in diesem Zusammen-
hang auch auf die bezeichnete Problematik hingewiesen.
Unmittelbaren Anlaß zu der vorliegenden Untersuchung gibt ein
Rechtsfall, der jüngst' vom Bundesgerichtshof in der Revision zu ent-
scheiden war.
II.
1. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hatte (mit Urteil vom
8. Januar 1986 - 3 StR 457/85 - , bei Holtz MDR 1986, 443) über eine
Revision der Staatsanwaltschaft zu entscheiden, die sich dagegen rich-
tete, daß eine Jugendkammer den Angeklagten wegen Mordes in vier
Fällen, wegen tateinheitlich mit gefährlicher Körperverletzung begange-
nen schweren Raubes sowie wegen gefährlicher Körperverletzung ledig-
lich zu einer Jugendstrafe (von zehn Jahren) verurteilte. Den von ihm als
Justiz Dr. Dehler in der 205. Sitzung des Deutschen Bundestages am 23. April 1952, Prot.
S. 8852.
1 Vgl. den Schriftlichen Bericht des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungs-
rates am 29. Februar 1952, S.62, sowie die Änderungsvorschläge des Bundesrates, BT-
Drucks. Nr. 3264, S. 55/56, Anlage Nr. 2, zu §§14 und 15. Bereits in der 6. Aufl. des
Leipziger Kommentars von 1944 hebt Ν agier zu § 15 RJGG hervor, es widerspreche aller
Gerechtigkeit, wenn die frühere Straffälligkeit des Täters sich privilegierend auswirke. Er
verlangt, daß „die sich je nach der Schwerpunktsverlagerung ergebenden strafrechtlichen
Konsequenzen voll berücksichtigt werden" ( a . a . O . I 1). Richtig fügt er hinzu: „Diese
Grundsätze sind leichter aufgestellt als durchgeführt."
5 In: Kollisionen zwischen Jugend- und Erwachsenenstrafrecht, GA 1955, 33 ff, 40.
' Die vorliegende Arbeit wurde im April 1986 abgeschlossen.
Mehrere Straftaten in verschiedenen Alters- und Reifestufen 1059
7 Ein Mord.
" Zu den Richtlinien für die Behandlung der Frage einer zusammenfassenden Anklage
vgl. Nr. 114 RiStBV, in denen auf den Gesichtspunkt der Verzögerung wie auch auf die
Interessen des Beschuldigten hingewiesen ist.
12 Vgl. Grethlein/Brunner, J G G 3. Aufl., 1969, §32 Anm. 1 a.
13 Seltsamkeiten im Gerichtssaal: Die Staatsanwaltschaft hält alle Taten für bewiesen
und beantragt zehn Jahre Jugendstrafe. Das Gericht spricht wegen der Jugendtaten frei,
Mehrere Straftaten in verschiedenen Alters- und Reifestufen 1061
weil es insoweit die Unschuld für erwiesen hält und muß allein aus diesem Grunde -
bedauernd - lebenslange Freiheitsstrafe für die Erwachsenenstraftat verhängen.
14 Vgl. BGHSt. 27, 295; in dieser Entscheidung lehnt der Bundesgerichtshof die
Anwendung des § 105 Abs. 2 J G G auf einen Fall ab, in dem der Angeklagte, nachdem er
wegen einer als Heranwachsender begangenen Straftat rechtskräftig nach Erwachsenen-
strafrecht verurteilt worden war, nachträglich wegen einer Straftat verurteilt wird, die er
als Jugendlicher begangen hatte.
15 NStZ 1981, 355 m. Anm. Dingeldey; zumindest mißverständlich ist die mit einem
Hinweis auf BGHSt. 14, 287 und das Urteil vom 25. Juli 1972 - 1 StR 252/72 - verbundene
Bemerkung in dem Urteil vom 21. Oktober 1980, die frühere Rechtsprechung des Bundes-
gerichtshofs zum Nebeneinander von Strafen und Maßregeln aus verschiedenen Straf-
rechtsordnungen sei (durch § 105 Abs. 2, § 31 Abs. 2 Satz 1 J G G ) überholt. Mit der zu § 32
J G G ergangenen Entscheidung BGHSt. 14, 287 hat der Bundesgerichtshof die Einbezie-
hung einer früher verhängten Jugendstrafe in eine wegen einer Erwachsenem^ verhängte
Freiheitsstrafe mit einer Begründung abgelehnt, die durch die Begründung zu dem einen
ganz anderen Fall regelnden § 105 Abs. 2 J G G n. F. nicht „aus den Angeln gehoben" wird.
Auch Dingeldey a . a . O . und in ZB1JR 1981, 150 vertritt ersichtlich eine entsprechende
Anwendung des §32 J G G nur für den Fall, daß ein Heranwachsender zuerst nach
Jugendstrafrecht und dann nach allgemeinem Strafrecht verurteilt wird. Unklar insoweit
Brunner, J G G 7. Aufl. § 32 Rdn. 5. Ebenso wie in dem Hinweis im Urteil vom 21. Okto-
ber 1980, NStZ 1981, 355 (s. o.) wird auch im Schrifttum zu wenig unterschieden zwischen
den Entscheidungen, die sich mit der Frage einer einheitlichen Ahndung von Heranwach-
sendentaten befassen (dazu zählt das Urteil vom 25. Juli 1972 - 1 StR 252/72 - , auf das im
Urteil vom 21.Oktober 1980 auch hingewiesen ist (s.o.), ebenso wie das Urteil vom
21. November 1978 - 1 StR 546/78 - M D R 1979, 281), und solchen, bei denen es um die
1062 Hermann Krauth
1981, 355 siehe Fn. 15. Im Urteil vom 6. August 1986 - 3 StR 281/86 - (siehe Fn. 15 a. E.)
hat der Bundesgerichtshof neuerdings - für den dort gegebenen Fall, daß auch mehrere
Erwachsenenstrafen nicht nachträglich zu einer Gesamtstrafe hätten verbunden werden
können - die Einbeziehung einer rechtskräftigen, aber noch nicht voll verbüßten Jugend-
strafe in eine wegen einer Erwachsenentat neu verhängte Freiheitsstrafe abgelehnt. Die
Frage, ob dann, wenn die zeitlichen Voraussetzungen für eine Gesamtstrafenbildung nach
§55 StGB vorliegen, anders zu entscheiden ist, weil aus der Regelung des § 1 0 5 Abs. 2
i. Verb. m. § 31 Abs. 2 Satz 1 J G G Argumente für eine entsprechende Anwendung des § 32
J G G hergeleitet werden können, ist, als entscheidungsunerheblich, offen gelassen worden.
Diese Frage ist m. E. klar zu verneinen.
Mehrere Straftaten in verschiedenen Alters- und Reifestufen 1063
III.
1. Die Bedeutung der von der Rechtsprechung entwickelten Formeln
zur Auslegung dessen, was unter dem „Schwergewicht" zu verstehen
sei16, das bei den nach Jugendstrafrecht zu beurteilenden Straftaten liegen
muß, um dieses Recht zur einheitlichen Geltung zu bringen, liegt
vornehmlich in der Klarstellung, daß es bei der Bestimmung des Schwer-
gewichts nicht allein auf die Zahl und das Unrecht der vor oder nach
dem maßgeblichen „Reifezeitpunkt" begangenen Straftaten ankommt,
wie der Wortlaut der Vorschrift zunächst nahelegt. Damit, daß auf die
Genese der Straftaten zu achten ist, auf eine etwaige auslösende Bedeu-
tung der Jugendtaten für die späteren Straftaten und darauf, ob sich
etwa, umgekehrt, die früheren Taten als Ausdruck einer abgeschlosse-
nen Entwicklung darstellen, von denen die spätere kriminelle Entwick-
lung unabhängig ist, wird aber im Grunde nur gesagt, daß solche
Umstände und Tatsachen für die Entscheidung der Frage, bei welchen
Straftaten das Schwergewicht liegt, überhaupt beachtlich sind. Dem
Hinweis auf ihre Relevanz ist damit noch wenig für die Bewertungsrich-
tung zu entnehmen, also für die Beantwortung der Frage, für die
Anwendung welcher Strafrechtsordnung die Feststellung der einen oder
der anderen Tatsache spricht und welche materiellen Gesichtspunkte für
die Bewertung dieser Tatsachen dabei maßgebend sind17.
haben, aber auch das Ergebnis einer inzwischen abgeschlossenen Altersentwicklung sein,
sie können persönlichkeitsentsprechend oder -fremd sein. Diese Ausführungen . . . wollen
dartun, welche interdisziplinären Bereiche helfen und erschweren, das Schwergewicht
festzustellen und wie unerläßlich es ist, für die Gesamtheit der Taten die Persönlichkeits-
entwicklung, den Tathintergrund aufzuhellen und die kriminalpolitischen Zielvorstellun-
gen des J G G einzubeziehen." Dabei wird mit dem Hinweis auf die kriminalpolitischen
Zielvorstellungen des J G G der in erster Linie zu beachtende Maßstab angesprochen.
18 J G G 2. Aufl., 1965, § 3 2 R d n . l l .
" So Bruns, Das Recht der Strafzumessung, 2. Aufl., 1984, S. 129.
20 a . a . O . (Fn. 17) S.247/248.
Mehrere Straftaten in verschiedenen Alters- und Reifestufen 1065
IV.
1. Dem Wortlaut des §32 J G G , in dessen Mittelpunkt der Begriff des
„Schwergewichts" steht, ist jedenfalls zu entnehmen, daß Zahl und
Gewicht des verschuldeten Unrechts der Straftaten bei der Auslegung
eine wesentliche Rolle spielen. Außerdem ergibt sich aus ihm, daß, wenn
das Schwergewicht zweifelhaft bleibt, das allgemeine Strafrecht gilt22; es
ist auch dann anzuwenden, wenn das Gewicht der beiden Tatgruppen
etwa gleich ist23.
2. Der Zweck des §32 J G G ist auf das Ziel ausgerichtet, mehreren
Straftaten eines Angeklagten auch dann eine - auch im Vollzug -
einheitliche staatliche Reaktion folgen zu lassen, wenn sie in verschiede-
21
Hierzu unten VI 2.
22
So h.M., vgl. BGHSt. 12, 129, 134; Daliinger/Lackner a . a . O . (Fn. 18) §32
Rdn. 12; Eisenberg, J G G 2. Aufl., 1985, §32 Rdn. 13.
23
Dallinger/Lackner a . a . O . (Fn.22).
1066 Hermann Krauth
nen Alters- und Reifestufen begangen worden sind. Das Neben- und
Durcheinander verschiedener strafrechtlicher Einwirkungsmittel auf den
Täter soll vermieden werden. Die Vorschrift knüpft an § 15 R J G G 1943
an, der ebenfalls vorschrieb, daß bei mehreren, in verschiedenen Alters-
stufen begangenen Straftaten je nach dem Schwergewicht entweder
ausschließlich Jugendstrafrecht oder ausschließlich das allgemeine Straf-
recht anzuwenden war24. Nicht nur im Blick auf die Rückfallvoraus-
setzungen25, sondern auch auf „kaum erträgliche Vorteile . . . in der
Strafbemessung", wurde für das Zusammentreffen von Jugend- und
Erwachsenenstraftaten die Bildung einer Einheits-(Jugend-)Strafe auf
den Fall gleichzeitiger Aburteilung beschränkt26. Das macht deutlich,
daß der vom Gesetzgeber erkannten Gefahr einer zu günstigen
(Ungleich-)Behandlung, die sich aus einer Anwendung von Jugendstraf-
recht auf Taten eines Erwachsenen ergeben kann, entgegengewirkt
werden sollte. Während der Zweck der Vorschrift, eine Einheitlichkeit
der strafrechtlichen Reaktion zu gewährleisten, allein für die Beantwor-
tung der Frage, ob die eine oder die andere Strafrechtsordnung Anwen-
dung finden soll, nichts hergibt, ist dem Willen, ungerechte Bevorzu-
gungen der bezeichneten Art nach Möglichkeit zu vermeiden, ein Ausle-
gungshinweis zu entnehmen. In Verbindung mit dem Grundsatz, daß im
Zweifel das allgemeine Strafrecht anzuwenden ist (vgl. oben Ziff. 1),
erscheint die Deutung dahin angebracht, daß die Mittel des Jugendstraf-
rechts nur dann eingesetzt werden sollen, wenn die mit ihnen verfolgba-
ren besonderen Zwecke dies gebieten oder wenn überwiegende Gründe
aus dem Bereich des Schuldausgleichs dazu drängen.
Strafrechts die Bildung einer Einheitsstrafe vorsah, beschränkt § 32 JGG die Einheitsstrafe
auf den Bereich der Anwendung des Jugendstrafrechts. Grund für die Abschaffung der
Einheitsstrafe bei Anwendung von allgemeinem Strafrecht war die Erwägung, daß sie sich
nur schwer in das geltende Strafrechtssystem und das Strafverfahren einfüge, auch müsse
vermieden werden, daß Frühkriminelle in der Rückfallfrage und bei der Feststellung der
Voraussetzungen des § 20 a Abs. 1 StGB aF (gefährlicher Gewohnheitsverbrecher) begün-
stigt würden (Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drucks. Nr. 3264, S.43; Ände-
rungsvorschläge des Bundesrates, BT-Drucks. a. a. O. S. 55 f ; Potrykus, JGG 4. Aufl.,
1955, §32 Bern. 1.
25 Vgl. Fn. 24.
s o w i e G e n e r a l p r ä v e n t i o n 2 7 . I m J u g e n d s t r a f r e c h t steht der E r z i e h u n g s -
z w e c k i m V o r d e r g r u n d (vgl. § 1 8 A b s . 2 J G G ) . D i e s gilt a u c h d a n n ,
w e n n J u g e n d s t r a f e 2 8 w e g e n d e r S c h w e r e der Schuld v e r h ä n g t w i r d . D e r
E i n s a t z j u g e n d s t r a f r e c h t l i c h e r M i t t e l dient aber a u c h der R e a k t i o n auf
die S c h u l d des J u n g t ä t e r s , also d e m Schuldausgleich 2 '. D i e s e r S t r a f z w e c k
k a n n selbst d a n n eine h o h e J u g e n d s t r a f e rechtfertigen, w e n n sie in dieser
H ö h e aus e r z i e h e r i s c h e n G r ü n d e n n i c h t n o t w e n d i g wäre 3 0 . D a s Ziel d e r
A b s c h r e c k u n g a n d e r e r d a r f m i t der J u g e n d s t r a f e nicht v e r f o l g t werden 3 1 .
In d e m S t r a f z w e c k eines g e r e c h t e n Schuldausgleichs s t i m m e n das
allgemeine S t r a f r e c h t w i e das J u g e n d s t r a f r e c h t g r u n d s ä t z l i c h überein 3 2 .
In u n s e r e m Z u s a m m e n h a n g , in d e m - gleich w i e die E n t s c h e i d u n g n a c h
§ 3 2 J G G ausfällt - auf T a t e n , die, für sich g e n o m m e n , d e r einen der
beiden S t r a f r e c h t s o r d n u n g e n unterfallen w ü r d e n , das jeweils andere
S t r a f e n s y s t e m a n g e w a n d t w i r d , ist v o n b e s o n d e r e r B e d e u t u n g , daß die
Schuld das S t r a f m a ß s o w o h l n a c h o b e n w i e n a c h unten b e g r e n z t 3 3 ; das
27 Vgl. Bruns a.a.O. (Fn. 19) S. 82, 89 ff; derselbe in Strafzumessungsrecht, 2. Aufl.,
1974, S. 314-317, 322 f.; Lackner, StGB 16. Aufl., 1985, §46 Anm.3.
2 ' Die Möglichkeit eines bloßen Einsatzes von Erziehungsmaßregeln und Zuchtmitteln
(ohne Jugendstrafe) bei Anwendung von Jugendstrafrecht wird im Rahmen dieser Unter-
suchung deswegen nicht erwogen, weil sie in den Fällen schwerer Kriminalität, die im
Vordergrund der hier angestellten Erwägungen stehen, gegenüber dem Erwachsenen oder
dem „reifen" Heranwachsenden nicht praktisch wird.
29 Zum Ganzen Bruns (a.a.O.) Fn. 19 S. 117ff; Miehe, Die Bedeutung der Tat im
Jugendstrafrecht, 1964, S.51, 60 ff; Hellmer, Erziehung und Strafe, 1957 S. 170; Schaff-
stein in Festschrift für Heinitz, 1972 S. 461 ff. Im Beschluß vom 1. Dezember 1981 - 1 StR
634/81 (MDR 1982, 339) hat der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs klargestellt, daß der
Erziehungszweck nicht das allein ausschlaggebende Kriterium ist - in diesem Sinne
konnten einige frühere Entscheidungen dieses sowie des 2. Strafsenats verstanden werden
(vgl. auch BGHSt. 15, 224, 226; 16, 261, 263 - kritisch dazu Miehe a.a.O. S.60,
Schaffstein a.a.O. - sowie BGH, Beschl. v. 19.Januar 1982 - 5 StR 765/81 = StV 1982,
173). Daß eine „reine Schuldstrafe " unzulässig wäre, wie in der bezeichneten Entscheidung
des 1. Strafsenats unter Hinweis auf sein Urteil vom 14. September 1971 - 1 StR 305/71 -
gesagt ist, wird von diesem zitierten Urteil nicht gedeckt. Eine solche Aussage hat der
Senat dort allein für die wegen schädlicher Neigungen verhängte Jugendstrafe gemacht. Bei
der Bemessung der gegen einen Erwachsenen verhängten Jugendstrafe werden ohnehin
Gesichtspunkte einer (jugendspezifischen) Erziehung ganz in den Hintergrund treten,
sofern sie überhaupt eine Rolle spielen können - vgl. unten Buchst, b.
30 BGH, Urteil vom 22. April 1980 - 1 StR 111/80 (StV 1981, 26).
51 BGH NStZ 1982, 332; BGH MDR 1982, 339, je mit weiteren Nachweisen.
1971 - 1 StR 691/70; BGH NJW 1977, 1247; 1978, 174, 175; Bruns (Fn. 19) S. 82, 91.
Allerdings nicht verbunden mit der Forderung nach vollem Schuldausgleich auch für die
Jugendstrafe; vgl. hierzu Miehe a.a.O. (Fn.29) S.60, Schaffstein, Jugendstrafrecht
8. Aufl., 1983, S. 107. Diese Frage wird, wie sich aus dem folgenden ergibt, hier nicht
berührt.
1068 Hermann Krauth
einen Heranwachsenden aburteilenden Gerichts dieser zur Zeit des Urteils in seiner
Entwicklung einem Jugendlichen gleichsteht, zur Zeit einer der abzuurteilenden Straftaten
aber über diesen Reifegrad bereits hinausgewchsen war, ist nicht denkbar.
37 Dallinger/Lackner a. a. O. (Fn. 18) Rdn. 10; Eisenberg a. a. O. (Fn. 22) Rdn. 18, je zu
§ 3 2 JGG.
38 Vgl. Asbrock ZRP 1977, 191, 192 mit Fn. 10.
Mehrere Straftaten in verschiedenen Alters- und Reifestufen 1069
" Sie ließe sich sachlich dann wohl allein damit begründen, daß das Schwergewicht des
Verschuldens in solchem Maße bei den Jugendtaten liege, daß die für solche Taten
typischerweise geringere Schuld durch Anwendung des mit enger begrenzten Höchststra-
fen arbeitenden Jugendstrafrechts Berücksichtigung finden müsse.
40 Damit, daß das Gesetz für die Straftat eines Erwachsenen (abgesehen von den Fällen
V.
Die hier entwickelten Grundlinien für eine teleologische Auslegung
des §32 J G G führen nicht zu einer so starken Zurückdrängung der
Anwendbarkeit des Jugendstrafrechts, wie das im Hinblick auf die
Berücksichtigung des geringeren Gewichts des Erziehungsgedankens
zunächst den Anschein haben mag. Der Erziehungszweck46 wird näm-
lich in den praktisch häufigsten Fällen, in denen die insgesamt abzuurtei-
lenden Straftaten in zeitlicher Nähe zu dem maßgeblichen Alters- bzw.
Reifezeitpunkt begangen worden sind, häufig durchaus noch Gewicht
haben.
Nicht gelten lassen möchte ich den denkbaren Einwand, das Berück-
sichtigen der Sanktionswirkung mit Blick auf das Alter des Angeklagten
zur Zeit des Vollzugs beziehe Erwägungen in die Entscheidung nach § 32
J G G mit ein, die erst nach dieser Entscheidung bei der Bemessung der
Sanktionen eine Rolle spielen dürften. Läßt der Wortlaut des § 32 J G G
es nach allgemeiner Meinung zu, Gesichtspunkte, wie das Aufdecken
früher Wurzeln der Erwachsenentat sowie der Persönlichkeitsentwick-
41 Vgl. Fn. 2 8 .
42 Andere Mittel jugendstrafrechtlicher Einwirkungen, wie Verwarnung und Jugendar-
rest (§§ 1 4 , 1 6 J G G ) und Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe (§ 27 J G G ) scheiden
in dem hier vornehmlich behandelten Zusammenhang von Fällen der Schwerkriminalität
aus (vgl. Fn. 28).
43 Vgl. Fn. 39.
Mehrere Straftaten in verschiedenen Alters- und Reifestufen 1071
VI.
" H i e r kann nur der Versuch eines groben Musters gemacht werden. Ich sehe daher
von den Besonderheiten ab, die sich ergeben, wenn - wie in dem vom B G H entschiedenen
Fall (siehe oben I I 1) - Gründe vorliegen, die zu einer Strafmilderung nach § 4 9 S t G B
führen. Das gilt auch für die nachfolgenden Beispielsfälle.
1072 Hermann Krauth
b) Nicht anders als die zuletzt genannten Fälle wären die zu bewerten,
bei denen der Täter als Erwachsener oder als Heranwachsender, bei dem
die Voraussetzungen des §105 Abs. 1 J G G nicht vorliegen, eine mit
mindestens zehn Jahren Freiheitsstrafe bedrohte Straftat begangen hat45.
Eine oder mehrere zugleich abzuurteilende Jugendtaten sollten aus den
oben bezeichneten Gründen im allgemeinen nicht zur Anwendung des
Jugendstrafrechts für alle Straftaten führen können.
c) Schwieriger kann die Frage, ob Jugendstrafrecht angewandt werden
darf, zu beantworten sein, wenn die vom Angeklagten im Erwachsenen-
alter (oder als Heranwachsender ohne Vorliegen der Voraussetzungen
des § 105 Abs. 1 JGG) begangene Straftat nach allgemeinem Strafrecht
mit einer mindestens fünfjährigen Freiheitsstrafe bedroht ist und wenn
zugleich eine oder mehrere Straftaten abzuurteilen sind, die er als
45
§§80, 81 Abs. 1, §229 Abs. 2, § 2 3 9 a Abs. 2, §§251, 307, 310 b Abs. 3 i.V. m Abs. 1;
§311 a A b s . 3 i . V . m A b s . 2 ; §§312, 3 1 6 c A b s . 2 , §319 StGB.
Mehrere Straftaten in verschiedenen Alters- und Reifestufen 1073
e) Auch in anderen Fällen ist zu bedenken, daß immer dann, wenn ein
Vergleich der Strafen, welche für die in verschiedenen Alters- und
Reifestufen begangenen Straftaten, jeweils isoliert gesehen, zu verhängen
wären, zu dem Ergebnis führt, daß der Unrechtsgehalt der Erwach-
senentat(en) bei Anwendung von Jugendstrafrecht nicht mehr ausrei-
chend berücksichtigt werden könnte, nur gewichtige Gründe einer - im
Alter bis zu 24 Jahren (vgl. § 92 Abs. 2 Satz 3 J G G ) noch möglichen -
spezialpräventiven Einwirkung durch eine in der Jugendstrafanstalt zu
vollziehende Jugendstrafe eine Anwendung von Jugendstrafrecht nach
§ 3 2 J G G rechtfertigen könnten. O b solche Gründe einem Bedürfnis
nach ausreichendem Schuldausgleich überhaupt entgegengesetzt werden
46 Wenn in solchem Zusammenhang, also bei einer Einwirkung auf den bereits erwach-
senen Täter, von Erziehung die Rede ist, dann im Sinne einer spezialpräventiv intendierten
Strafmaßnahme, die unter den besonderen Bedingungen des Jugendstrafvollzugs steht und
gegebenenfalls durch zusätzliche jugendstrafrechtliche Einwirkungsmittel ergänzt wird
(vgl. oben IV 3 b zu Fn.41, 42).
" Vgl. Eisenberg a . a . O . (Fn.22) § 1 7 Rdn.29. Das gilt selbstverständlich für alle hier
erörterten Fälle, in denen es um die Frage geht, welche Strafrechtsordnung auf einen
Erwachsenen oder einen Heranwachsenden, auf den §105 Abs. 1 JGG nicht zutrifft,
angewandt werden soll.
" Vgl. Fn.28 sowie oben IV 3 b zu Fn.41, 42.
1074 Hermann Krauth
der Tat gesetzten Rechts aus (vgl. Dreher/Tröndle, StGB 42. Aufl., 1985, §1 Rdn. 11 ff;
Lackner, a. a. O. (Fn. 27) § 1 Anm. 1 c; vgl. auch Tröndle in Festschrift für Dreher, 1977,
S. 117, 118). §32 J G G regelt aber die Rechtsanwendung von vornherein. Die Problematik
der Berücksichtigung später eintretender zusätzlicher Umstände (nämlich der Begehung
weiterer Straftaten als Erwachsener) ist also nicht eine solche der Rückwirkung später
gesetzten Rechts, sondern eine der Bestimmtheit und Berechenbarkeit der Sanktionsvor-
schriften im Sinne eines damit gleichzeitig gewährten „Bestandsschutzes" nach begangener
(Jugend-)Tat.
51 Vgl. hierzu Krahl, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des
Bundesgerichtshofs zum Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht (Art. 103 Abs. 2 GG),
1986, S.56, 127 bis 130, 150 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des Bundesverfas-
sungsgerichts. Vgl. auch oben III a. E. sowie IV 3 a.
Mehrere Straftaten in verschiedenen Alters- und Reifestufen 1075
" Die Problematik liegt qualitativ anders als bei der in § 46 Abs. 2 StGB vorgesehenen
Berücksichtigung des „Verhaltens nach der Tat". Sie kann in dem hier gesetzten Rahmen
nicht weiter vertieft werden.
53 Also ohne Berücksichtigung der zugleich abzuurteilenden Erwachsenenstraftat(en).
55 Ein Sonderproblem ergibt sich dann, wenn Straftaten aus verschiedenen Altersstufen
gleichzeitig abzuurteilen sind und wenn für die Jugendtaten die Voraussetzungen einer
einheitlichen Festsetzung jugendstrafrechtlicher Rechtsfolgen zusammen mit bereits rechts-
kräftig erkannten, aber noch nicht erledigten, vorliegen (§31 Abs. 2 Satz 1 J G G ) . Eine
Lösung sollte in der Richtung liegen, daß bei einer Entscheidung nach § 32 J G G , die zur
Anwendung allgemeinen Strafrechts führt, die im Falle der Anwendung von Jugendstraf-
recht grundsätzlich (Ausnahme: §31 Abs. 3 J G G ) vorgeschriebene Einbeziehung rechts-
kräftig verhängter Rechtsfolgen (§31 Abs. 2 Satz 1 J G G ) berücksichtigt, wird, wenn es um
die Prüfung geht, ob durch die Festsetzung einer Freiheitsstrafe die nach Jugendstrafrecht
höchstens zulässige Jugendstrafe überschritten werden würde. Eine nachträgliche Einbe-
ziehung rechtskräftig erkannter Rechtsfolgen gemäß §31 Abs. 2 Satz 1, allein oder in
Verbindung mit § 105 Abs. 2 J G G , wird nicht in Betracht kommen, da diese Vorschrift die
Anwendung von Jugendstrafrecht voraussetzt. Nicht nur zulässig, sondern geboten ist sie
dann, wenn die Entscheidung nach § 32 J G G zur Anwendung von Jugendstrafrecht führt.
56 Im Urteil vom 29. Januar 1954 - 1 StR 632/53 - (JR 1954, 271) hatte der B G H keinen
Anlaß, sich dazu zu äußern. In dem besonders interessanten Fall, der dieser Entscheidung
zugrunde lag, waren die Taten noch unter der Herrschaft des R J G G begangen und in erster
Instanz abgeurteilt worden; zur Zeit der Revisionsentscheidung war das J G G 1953 bereits
(am 1. Oktober 1953) in Kraft getreten. Hier hatte der eine Angeklagte als Jugendlicher
einen versuchten Mord sowie einen vollendeten Mord begangen, vier bis fünf Jahre später,
als Erwachsener, einen versuchten Raub, einen schweren Raub sowie einen versuchten
1076 Hermann Krauth
VII.
§ 3 2 J G G s e t z t v o r a u s , d a ß die in v e r s c h i e d e n e n A l t e r s s t u f e n b e g a n g e -
n e n Straftaten g e m e i n s a m abgeurteilt werden 5 7 3 . D a z u k o m m t es n u r
d a n n , w e n n die V e r f a h r e n w e g e n dieser Straftaten m i t e i n a n d e r v e r b u n -
d e n sind. D i e v e r s c h i e d e n e n R e c h t s f o l g e n , die sich ergeben, je n a c h d e m ,
ob § 3 2 J G G eingreift o d e r nicht, h ä n g e n also e n t s c h e i d e n d v o n der
Frage ab, wann eine Verbindung von mehreren gegen denselben
B e s c h u l d i g t e n g e r i c h t e t e n V e r f a h r e n w e g e n s o l c h e r Straftaten z u erfol-
gen hat. D i e r ä u m l i c h e B e g r e n z u n g des v o r l i e g e n d e n B e i t r a g s erlaubt es
nicht, diese i m G e s e t z n i c h t a u s d r ü c k l i c h geregelte F r a g e hier z u vertie-
fen. Lackner38 ist v o n v o r n h e r e i n für eine V e r f a h r e n s v e r b i n d u n g in
besonders schweren Raub. Das Schwurgericht war davon ausgegangen, daß nach §15
RJGG bei Anwendung allgemeinen Strafrechts eine Einheitsstrafe zu bilden war und hatte
die höchste zeitige Zuchthausstrafe von 15 Jahren verhängt. Mit der Frage, ob lebenslange
Zuchthausstrafe in Betracht komme, hatte es sich nicht auseinandergesetzt. Ihr hatte es
sich (unausgesprochen) im Hinblick auf die festzusetzende Einheitsstrafe, die eine Verhän-
gung von Einzelstrafen für jede Straftat entbehrlich machte, entzogen. Damit wurde das
eigentliche Problem - mit zutreffendem Ergebnis - verdeckt. Der BGH hatte danach
keinen Anlaß, auf diese Frage einzugehen. Er bemerkte (insoweit in J R 1954, 271 nicht
abgedruckt), die - zur Zeit seiner Entscheidung gemäß §32 J G G nicht mehr mögliche -
Einheitszuchthausstrafe könne bestehen bleiben, weil sie den Angeklagten nicht
beschwere. Ein anderer Mitangeklagter, der keine Revision einlegte, war wegen zweier
vollendeter Morde, von denen er den einen als Jugendlicher, den anderen im Alter von 18
Jahren begangen hatte, sowie wegen zahlreicher weiterer schwerer Straftaten verurteilt
worden. Diesen Angeklagten hatte das Schwurgericht schon im Hinblick auf den Mord,
den er als 18jähriger begangen hatte (auf den nach § 1 Abs. 1 R J G G dieses Gesetz nicht
anzuwenden war), zu lebenslanger Zuchthausstrafe verurteilt und unter Hinweis darauf,
daß gemäß §15 RJGG eine Einheitsstrafe auszusprechen sei, zu weiteren Ausführungen
wegen der Strafbemessung keinen Anlaß gesehen. Da dieser Angeklagte Revision nicht
einlegte, konnte der BGH sich zu der Frage nicht äußern, welche Folgen die Ausdehnung
des J G G 1953 auf Heranwachsende sowie die Abschaffung der Einheits-Erwachsenen-
strafe auf diesen Fall habe. Eine Anwendung des § 357 StPO (im Hinblick darauf, daß er
die Verurteilung eines weiteren Mitangeklagten im Strafausspruch aufhob) lehnte der Senat
ab.
57 Vgl. Eisenberg a.a.O. (Fn.22), §106 Rdn.2.
571 Vgl. oben II 1 zu F n . l 5 a .
5« In Daliinger/Lackner, J G G 1. Aufl., 1955, §32 Rdn. 17; 2. Aufl., 1965, §32 Rdn. 16.
Mehrere Straftaten in verschiedenen Alters- und Reifestufen 1077
solchen Fällen eingetreten und hält sie im Hinblick auf die damit
verbundene Änderung des materiellen Rechts in jedem Fall für geboten,
in dem ihr nicht Gründe von größerem Gewicht entgegenstehen 5 '. Mit
großem Nachdruck hat auch Dallinger die Auffassung vertreten, daß
eine Verbindung „soweit irgend möglich" vorgenommen werden sollte,
und hat die entsprechende Anwendung des §103 Abs. 2 JGG a. F.
empfohlen 60 . Eingehend auseinandergesetzt mit diesem Fragenkreis
haben sich Brunner61 und MieheDer Kürze halber sei auf die dortigen
Ausführungen, die dort wiedergegebene Rechtsprechung sowie auf die
Auseinandersetzung der genannten Autoren mit ihr verwiesen. Ergän-
zend sei bemerkt:
Mit Recht heben beide Autoren die Bedeutung hervor, die der Ver-
bindung von Verfahren für die Rechtsfolgeentscheidung zukommt,
sowie auf das daraus erwachsende Bedürfnis, Verbindung und Trennung
von Verfahren nicht dem freien Ermessen von Staatsanwaltschaft und
Gericht zu überlassen. Das gilt um so mehr, als die Frage getrennter
Aburteilung oder Verfahrensverbindung auch den gesetzlichen Richter
berührt". Miehe betont diesen Umstand und ist der Auffassung, die
Voraussetzung für eine Verbindung sei allein dann gegeben, wenn
anzunehmen ist, daß die Jugendtaten sowie die Erwachsenentaten des
Beschuldigten in einem inneren Zusammenhang miteinander stehen, daß
sie sich also „wechselseitig erklären" 64 . Unter dieser Voraussetzung hält
er die Verbindung dann aber auch für geboten. Demgegenüber dürfte
der Auffassung Brunners65 der Vorzug zu geben sein, der immer dann,
wenn eine Entscheidung nach § 32 JGG überhaupt in Betracht kommt,
die Verfahrensverbindung für geboten hält. Liegt beispielsweise das
Schwergewicht des Unrechts und des Verschuldens eindeutig bei den
Jugendtaten, so wird auch ohne den von Miehe geforderten inneren
Zusammenhang einer späteren Erwachsenentat des Beschuldigten mit
seinen Jugendtaten die gemeinsame Aburteilung über § 32 JGG zu einer
wesentlich anderen Rechtsfolgeentscheidung führen können, als ohne
solche Verbindung. Für den Fall, daß zuerst die Jugendtaten und danach
59 a . a . O . (Fn.58) 2 . A u f l . , 1965.
60 In M D R 1955, 181, 182 sowie in Dallinger/Lackner, 2. Aufl., 1965, § 1 0 3 Rdn. 14.
61 JR 1974, 429; 1980, 262; ders. in J G G 7. Aufl., 1984, § 3 2 Rdn. 6.
62 In Festschrift für Stutte (Fn.17), S. 237 ff, 240 bis 245, 248.
63
Brunner in JR 1980, 262; Miehe a. a. O. (Fn. 17), S. 241. Seit mit der Neufassung des
§ 1 0 3 Abs. 2 J G G durch das S t V Ä G 1979 in den Fällen der sachlichen Verbindung von
Verfahren gegen mehrere Beschuldigte unabhängig von der Frage des Schwergewichts
regelmäßig Jugendgerichte zuständig sind, dürfte diese Regelzuständigkeit auch in den
Fällen der persönlichen Verbindung, um die es in den Fällen des § 3 2 J G G stets geht,
anzunehmen sein (Miehe a . a . O . S.240/241; Eisenberg a . a . O . (Fn.22) § 1 0 3 Rdn.30).
" Miehe a . a . O . (Fn.17), S . 2 4 1 , 244/245.
65 JR 1974, 429, 430; 1980, 262, 263.
1078 Hermann Krauth
VIII.
Der vorliegende Versuch, einige Gedanken zu entwickeln, wie in die
Handhabung des §32 J G G sowie in Fragen der Strafzumessung bei
Anwendung einer Strafrechtsordnung - auf Straftaten eines Täters in
verschiedenen Alters- und Reifestufen - etwas mehr Rechtssicherheit
und Rationalität gebracht werden kann, ist sicherlich recht unvollkom-
men. Die Aufgabe könnte reizen, anhand bestimmter Grundkonstella-
tionen68 aufzuzeigen, welche Lösungsmöglichkeiten sich aus dem
Zusammenspiel und dem Gegeneinander von Strafzwecken sowie aus
den Einwirkungen des Verfassungsrechts jeweils ergeben. In dem hier
gegebenen Rahmen wäre sie nicht zu bewältigen. Dem Versuch einer
Systematisierung müßte außerdem eine weitere Vertiefung der Proble-
matik im einzelnen vorangehen. Sie würde möglicherweise wiederum zu
einzelnen Korrekturen der angestellten Erwägungen führen.
Unrechts liegt bei den Jugendtaten. Welche Gesichtspunkte (wie: notwendiger Schuldaus-
gleich für die ebenfalls gewichtigen Erwachsenentaten) können dennoch zur Anwendung
des allgemeinen Strafrechts führen? Oder: Angenommen, eine „erzieherische" Einwirkung
mit Mitteln des Jugendstrafrechts verspricht bei dem Angeklagten keinen Erfolg. Unter
welchen Voraussetzungen kommt dennoch die Anwendung des Jugendstrafrechts in
Betracht?
Mehrere Straftaten in verschiedenen Alters- und Reifestufen 1079
II. Festschriftbeiträge
1. § 13 StGB - eine Fehlleistung des Gesetzgebers?
Festschrift für Wilhelm Gallas zum 70. Geburtstag.
Berlin 1973, S. 117-136.
2. Eduard Dreher zum 70. Geburtstag.
Festschrift für Eduard Dreher zum 70. Geburtstag.
Berlin, New York 1977, S. 1-7.
3. Zur rechtlichen Behandlung der Mehrfachtäter bei Aussetzung des Restes
einer lebenslangen Freiheitsstrafe.
Festschrift für Heinz Leferenz zum 70. Geburtstag.
Heidelberg 1983, S. 609-628.
4. Neuorientierung der Rechtsprechung im Bereich des Vollrauschtatbe-
standes ?
Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag.
Berlin 1985, S. 645-664.
5. Prävention und Schuldunfähigkeit.
Festschrift für Theodor Kleinknecht zum 75. Geburtstag.
München 1985, S. 245-266.
6. Zu den Grenzen der richterlichen Befugnis, mangelhafte Strafgesetze zu
berichtigen.
Richterliche Rechtsfortbildung, Festschrift der Juristischen Fakultät zur
600-Jahr-Feier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.
Heidelberg 1986, S. 39-63.
52. Erfahrungen aus einem Seminar über die Reform der Strafvorschriften zum
Schutze des Lebens.
Juristenzeitung 1977, S. 502-505.
53. Empfiehlt es sich, die Straftatbestände des Mordes, des Totschlags und der
Kindestötung (§§211-213, 217 StGB) neu abzugrenzen?
Verhandlungen des 53. Deutschen Juristentages, Band II (Sitzungsbe-
richte), München 1980, S.M25-M46.
(Referat beim 53. Deutschen Juristen tag, Berlin 1980).
54. Über die Geltung der §§ 131, 184 StGB und des §21 GjS für Rundfunksen-
dungen.
Expertenkommission Neue Medien - EKM Baden-Württemberg,
Abschlußbericht, Band II, Stuttgart 1981, S. 189-190.
55. Zum Vermögensschaden bei betrügerischen Manipulationen mit Warenter-
minoptionen.
Monatsschrift für Deutsches Recht 1983, S. 969-979 (mit Christian Imo).
56. Verfassungsrechtliche und strafrechtliche Aspekte der §§218 ff. StGB und
ihrer Vorgeschichte.
Schriftenreihe der Juristenvereinigung Lebensrecht, Nr. 1, Köln 1985,
S. 13-27.
(Referat bei der Mitgliederversammlung der Juristen-Vereinigung Lebens-
recht am 27.12%. April 1985 in Köln).
IV. Entscheidungsanmerkungen
1. LG Wiesbaden, Beschluß vom 21.6.1951 - 9 Qs 133/51. §94 StPO, §§40 ff.
StGB.
Monatsschrift für Deutsches Recht 1951, S. 631-632.
2. BGH, Urteil vom 14.3.1952 - 2 StR 625/51. § 176 Nr. 3 StGB.
Monatsschrift für Deutsches Recht 1952, S. 375.
3. OLG Stuttgart, Beschluß vom 18.7.1952 - Ws 146/52. Art.35 GG, §41
PStG, VO ZJA vom 12.5.1947.
Monatsschrift für Deutsches Recht 1952, S. 760-761.
4. LG Mannheim, Beschluß vom 6.3.1953 - Qs 28/52. § 111 a StPO.
Monatsschrift für Deutsches Recht 1953, S. 375-376.
5. OlG Celle, Urteil vom 16.9.1953 - Ss 168/53. §§ 3 Abs. 1, 4 StVO.
Goltdammer's Archiv für Strafrecht 1954, S. 379.
6. BGH, Urteil vom 8.2.1955 - 5 StR 591/54. §§244, 245, 250 Nr. 5, 261, 264
StGB; §§14, 12, 55 RJGG, §31 JGG 1953.
Monatsschrift für Deutsches Recht 1956, S. 624-625.
7. BGH, Urteil vom 29.11.1956 - 4 StR 350/56. §§9, 52 III, 89 JGG.
Juristenzeitung 1957, S. 316-318.
8. BGH, Urteil vom 4.4.1957 - 4 StR 86/57. §23 III Nr. 2 StGB.
Juristenzeitung 1957, S. 498-499.
9. BGH, Beschluß vom 6.6.1957 - 2 ARs 109/57. §24 StGB; §453 II StPO.
Juristenzeitung 1957, S. 757-758.
10. BGH, Urteil vom 4.11.1958 - 5 StR 441/58. §122 Abs.3 StGB; §20a
Abs. 1 StGB; §§17-19 JGG; §4 RJGG.
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Neue Zeitschrift für Strafrecht 1985, S. 503-505 (mit Gerhard Werle).
1088 Bibliographie
V. Buchbesprechungen
1. Gerhard Potrykus: Kommentar zum Jugendgerichtsgesetz, Nürnberg, Düs-
seldorf 1952.
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2. Fritz Müller: Straßenverkehrsrecht, 21. Aufl., Berlin 1959.
Monatsschrift für Deutsches Recht I960, S. 962-963.
3. Reinhard Maurach: Deutsches Strafrecht, Besonderer Teil, 3. Aufl., Karls-
ruhe 1959.
Goltdammer's Archiv für Strafrecht 1960, S.355.
4. Joachim Hellmer: Die Strafaussetzung im Jugendstrafrecht, Versuch einer
Grundlegung des Strafaussetzungsgedankens für die gerichtliche und fürsor-
gerische Praxis, Berlin-Spandau o.J.
Goltdammer's Archiv für Strafrecht 1961, S. 64.
5. Hans-Heinrich Jescheck: Pressefreiheit und militärisches Staatsgeheimnis.
Berlin 1964.
Juristische Rundschau 1964, S. 318-319.
6. Schönke/Schröder: Strafgesetzbuch, Kommentar, 12. Aufl., München und
Berlin 1965; Schwarz/Dreher: Strafgesetzbuch, Kurzkommentar mit
Nebengesetzen und Verordnungen, 27. Aufl., München und Berlin 1965.
Juristenzeitung 1965, S. 510-511.
7. Mezger/Blei: Strafrecht I, Allgemeiner Teil, Ein Studienbuch von Prof. Dr.
Edmund Mezger, fortgeführt von Prof. Dr. Hermann Blei, 12. Aufl.,
München 1967.
Neue Juristische Wochenschrift 1968, S. 834.
8. Hans Welzel: Das Deutsche Strafrecht, 10. Aufl., Berlin 1967.
Goltdammer's Archiv für Strafrecht 1968, S. 286-287.
9. Erich Goehler: Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, München 1968.
Neue Juristische Wochenschrift 1969, S. 224-225.
10. Werner Full, Wolfgang Möhl und Karl Rüth: Straßenverkehrsrecht (Müller)
Bd. I, 22. Aufl., Berlin 1969.
Monatsschrift für Deutsches Recht 1969, S. 769.
11. Kurt Rebmann, Werner Roth und Siegfried Herrmann: Gesetz über O r d -
nungswidrigkeiten, Stuttgart und Köln 1968;
Hans Meier: Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, Frankfurt 1968;
Rolf Gross und Erwin Trapp: Handbuch zum Ordnungswidrigkeitenrecht.
Wiesbaden-Dotzheim 1968 ff;
Erich Haniel: Gesetz über Ordnungswidrigkeiten. München 1968.
Neue Juristische Wochenschrift 1970, S. 745-746.
12. Werner Full, Wolfgang Möhl und Karl Rüth: Straßenverkehrsrecht (Müller)
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13. Eberhard Schmidhäuser: Strafrecht, Allgemeiner Teil, Lehrbuch, Tübingen
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15. Festschrift für Richard Lange zum 70. Geburtstag, hrsg. von Günter Warda,
Heribert Waider, Reinhard von Hippel und Dieter Meurer, Berlin 1976.
Neue Juristische Wochenschrift 1976, S. 2298-2299.
16. Festschrift für Ernst Heinitz zum 70. Geburtstag, hrsg. von Hans Lüttger in
Verbindung mit Hermann Blei und Peter Hanau, Berlin, N e w York 1972.
Juristische Rundschau 1977, S. 260-263.
17. Erich Haniel und Martin Geiger, fortgeführt von Willi Schmutterer: Gesetz
über Ordnungswidrigkeiten, Loseblattausgabe, Lieferung 8-15 (Stand
1.6.1977), München 1974 ff.
Neue Juristische Wochenschrift 1977, S.2347.
18. Eberhard Schmidhäuser: Strafrecht, Allgemeiner Teil, Lehrbuch, 2. Aufl.,
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Juristenzeitung 1978, S. 210-212.
19. Erich Haniel und Martin Geiger, fortgeführt von Willi Schmutterer: Gesetz
über Ordnungswidrigkeiten, Loseblattausgabe, Lieferung 16-20 (Stand
1.4.1981), München 1978 ff.
Neue Juristische Wochenschrift 1982, S.220.
20. Festschrift für Hanns Dünnebier zum 75. Geburtstag, hrsg. von Ernst-
Walter Hanack, Peter Rieß und Günter Wendisch, Berlin, N e w York 1982.
Neue Zeitschrift für Strafrecht 1983, S. 254-255.
VII. Verschiedenes
1. Mit dem Gasfuß im Gefängnis? Ein Sonntagsblatt-Gespräch.
Sonntagsblatt Nr. 6 vom 7. Februar 1965, S. 10.
2. Denkschrift über die Behandlung von kriminell stark gefährdeten jungen
Tätern in Vollzugsanstalten.
Denkschrift einer vom Geschäftsführenden Ausschuß der Deutschen Ver-
einigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e.V. eingesetzten
Kommission unter Leitung von Karl Lackner, Hamburg 1970.
3. Fragen der Verfassungsmäßigkeit des OWiG im Hinblick auf die Vorlagebe-
schlüsse zweier Amtsgerichte. Fachgespräch mit Prof. Dr. Karl Lackner,
Heidelberg.
Kraftfahrt und Verkehrsrecht 1969, S. 201-207.
4. Herausgeber (mit Heinz Leferenz, Eberhard Schmidt, Jürgen Welp, Ernst
Amadeus Wolff): Festschrift für Wilhelm Gallas zum 70. Geburtstag, Berlin,
New York 1973.