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Recht – Philosophie – Literatur

Festschrift für Reinhard Merkel zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von

Jan Christoph Bublitz, Jochen Bung, Anette Grünewald,


Dorothea Magnus, Holm Putzke und Jörg Scheinfeld

Duncker & Humblot . Berlin


Recht – Philosophie – Literatur
Festschrift für Reinhard Merkel zum 70. Geburtstag
Schriften zum Strafrecht
Band 355
Recht – Philosophie – Literatur
Festschrift für Reinhard Merkel zum 70. Geburtstag

Teilband I

Herausgegeben von

Jan Christoph Bublitz, Jochen Bung, Anette Grünewald,


Dorothea Magnus, Holm Putzke und Jörg Scheinfeld

Duncker & Humblot · Berlin


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ISBN 978-3-428-55566-6 (E-Book)
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Vorwort
Am 12. April 2020 wird Reinhard Merkel siebzig Jahre alt. Mit den Beiträgen zu
dieser Festschrift ehren die Autoren einen Wissenschaftler von besonderem Rang.
Dem Leser seiner Werke begegnet ein begnadeter Analytiker und Feuilletonist,
der gleichermaßen in der Welt der Wissenschaft reüssiert wie er geschätzt wird
als wortgewandter Autor. Es gibt kaum einen anderen Rechtswissenschaftler, der
sich ähnlich häufig und mit frischer Sicht in öffentliche Debatten einmischt. Er
ist, wie er selber sagt, ein „renitenter Denker“, der es dem Üblichen selten erlaubt,
unwidersprochen das Feld zu behaupten.
Geboren wurde Reinhard Merkel 1950 in Hof, wo er die Schulzeit durchlebte und
1969 das Abitur am Humanistischen Jean-Paul-Gymnasium ablegte. Obwohl sein
geisteswissenschaftliches Wirken den weitaus größeren Teil seines Lebens betrifft,
wird der Jubilar immer wieder auf ein bestimmtes Ereignis seines Lebens angespro-
chen, das nunmehr über ein halbes Jahrhundert zurückliegt: seine Teilnahme an den
Olympischen Spielen in Mexiko City im Jahre 1968 – mit einem sechsten Platz im
Finale des 400-Meter-Lagenschwimmens. Diese sportliche Höchstleistung hat im
Leben von Reinhard Merkel Spuren hinterlassen. Als Sportler erhielt er nach dem
Abitur ein Stipendium an der University of Southern California in Los Angeles,
wo er in den Jahren 1970/71 die Fächer Englisch, Amerikanische Geschichte und
Ökonomie belegte. Das Studium der Rechtswissenschaft nahm er 1971 an der
Ruhr-Universität in Bochum auf und schloss es, nach einer Zwischenstation in Hei-
delberg, im Jahr 1977 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München ab.
In den Jahren 1977 bis 1979 hatte Reinhard Merkel am Max-Planck-Institut für
internationales und vergleichendes Sozialrecht bei Hans F. Zacher eine Stelle als wis-
senschaftlicher Mitarbeiter inne. Gleichzeitig studierte er bis 1982 Philosophie und
Literaturwissenschaft an der LMU, wo insbesondere die Vorlesungen von Wolfgang
Stegmüller sein Bild der Philosophie prägten. Nach dem Rechtsreferendariat in Mün-
chen, das er 1980 mit dem zweiten juristischen Staatsexamen abschloss, arbeitete der
Jubilar als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Arthur Kaufmann am Institut für
Rechtsphilosophie der Universität München, wo er später als Akademischer Rat
a. Z. beschäftigt wurde. Der German Marshall Fund ermöglichte ihm eine sechswö-
chige Gesprächsreise zu den Größen der amerikanischen Philosophie: unter anderem
zu Hilary Putnam, Richard Rorty, Donald Davidson, Thomas Kuhn und John Searle.
Diese teilweise vom Bayrischen Rundfunk ausgestrahlten Gespräche schärften sein
Verständnis für die analytische Philosophie, insbesondere ihre Methodik der begriff-
lichen Klarheit und die Abneigung vor sweeping claims, was sein Denken nachhaltig
prägte.
VI Vorwort

Während seiner Zeit am Münchener Institut übersetzte der Jubilar Allen Janiks
und Stephen Toulmins Studie „Wittgensteins Wien“, die als Klassiker der Kulturge-
schichte gilt. Wien sollte ein fester Bezugspunkt im Merkel’schen Denken bleiben.
Zugleich schrieb er Essays und Rezensionen für den „Merkur“ und auch den „Spie-
gel“. Seine Texte weckten die Aufmerksamkeit der Wochenzeitung „Die Zeit“, die
ihm 1981 unvermittelt das Angebot einer Stelle als Redakteur unterbreitete. Für sie
zog Merkel nach Hamburg. Zwei seiner Dossiers fanden große Resonanz. Die aus-
gewogen-wohlwollende Besprechung der Thesen des Bioethikers Peter Singer, des-
sen Auftritte aufgrund von Gegenprotesten mehrfach abgebrochen werden mussten
(„Singer-Affäre“), rief Kritik hervor. Einen Coup hingegen landete der Jubilar mit
einem Dossier zum hundertsten Geburtstag Wittgensteins, für das er gemeinsam
mit dem Brenner-Archiv der Universität Innsbruck bis dato unbekannte Briefwechsel
Wittgensteins erschloss. Für seine Schriften wurde Reinhard Merkel 1991 mit dem
Jean-Améry-Preis für Essayistik ausgezeichnet.
Als ihm „Die Zeit“ die zuvor erwünschte dauerhafte Stelle im Feuilleton anbot,
lehnte Merkel ab. Er wollte Texte anderer Art schreiben. So beendete er die Arbeiten
an seiner Dissertation, die seine Interessen paradigmatisch spiegelt: „Strafrecht und
Satire im Werk von Karl Kraus“. In ihr behandelt der Jubilar eine Fülle von Streit-
fragen rund um das liberale Strafrecht und den liberalen Strafprozess – unter voll-
ständiger Auswertung der Kraus’schen Schriften und sämtlicher Bände der von
ihm herausgegebenen satirischen Zeitschrift „Die Fackel“ (1899 – 1936). Merkels
herausragende Schrift wurde 1993 von der LMU als Dissertation angenommen,
von Suhrkamp verlegt und 1996 als eines der juristischen Bücher des Jahres ausge-
zeichnet. Die Auseinandersetzung mit Kraus – auch in stilistischer Hinsicht – be-
schäftigt ihn bis heute.
Habilitiert worden ist Merkel bei Klaus Lüderssen an der Goethe-Universität in
Frankfurt am Main (1997) mit seiner Habilitationsschrift „Früheuthanasie – Rechts-
ethische und strafrechtliche Grundlagen ärztlicher Entscheidungen über Leben und
Tod in der Neonatalmedizin“. Der Verleihung der Venia Legendi für Strafrecht, Straf-
prozessrecht, Rechtsphilosophie und Kriminologie folgten bis 1999 Rufe auf Straf-
rechtsprofessuren der Universitäten Bielefeld und Rostock, ferner Erstplatzierungen
auf Berufungslisten in Köln und Regensburg. Schon lange Wahl-Hamburger, ent-
schied Merkel sich für die Annahme des Rufes der Universität Hamburg, wo er ab
April 2000 Strafrecht und Rechtsphilosophie lehrte und von 2011 bis 2015 Ge-
schäftsführender Direktor des Instituts für Rechtsphilosophie war.
Merkels Habilitationsschrift steht als eindrucksvolles Beispiel für die Neigung
des Jubilars, normative Dilemmata unter Anwendung rechtsprinzipieller Erwägun-
gen neu zu durchdenken – neben der Früheuthanasie etwa: Sterbehilfe im Allgemei-
nen, Schwangerschaftsabbruch, embryonale Stammzellenforschung, Klonen, Not-
wehrfolter, „Kopftransplantation“, Rationierung in der Medizin, klinische Interven-
tionen ins Gehirn sowie militärische Interventionen, von Jugoslawien bis Libyen. All
diese Themen hat der Jubilar in Aufsätzen, Kommentaren, Monographien und Zei-
Vorwort VII

tungsartikeln behandelt. Gemein ist diesen Texten, dass Merkel seine Thesen vertei-
digt gegen Argumentationen, die „Gewissheiten … aus wohlfeilen Weltanschauun-
gen beziehen“, und dass er stets beharrt auf einer rationalen und ideologiefreien Ar-
gumentation. Dem aufgeklärten Geist mag das selbstverständlich erscheinen, zumal
es sowohl das Grundgesetz als auch die Wissenschaftlichkeit ohnehin gebieten. Des-
halb wird zwar vorderhand niemand eine andere Herangehensweise propagieren,
was aber am Ende die Dinge verkompliziert, weil es nicht selten zu einer verschlei-
ernden Argumentation führt, die sich bloß den Mantel der Rationalität überstreift.
Dass Merkel vielfach die Inkonsistenzen solcher Argumentationen entlarvt und
ihren Kern – ideologisch-parteiisch motivierte Haltungen – offengelegt hat, ist
nicht sein geringstes Verdienst als Strafrechtler und Rechtsphilosoph. Erinnert sei
an das Luftsicherheitsgesetz, dessen Erlaubnis zum Töten Unschuldiger der Jubilar
als einer der ersten in einem Beitrag in der „Zeit“ als „Jenseits des Rechts“ verortete.
Oder an die Debatte um die Knabenbeschneidung, über die es 2012 erst auf das ar-
gumentative Intervenieren Merkels hin überhaupt zu einer eingehenderen Diskussi-
on im Ethikrat gekommen ist.
Überzeugungskraft und Unabhängigkeit seines Denkens mögen sich auch an dem
eher ungewöhnlichen Umstand erweisen, dass Merkel von verschiedenen Parteien –
erst der FDP, dann der SPD – als Mitglied für den Deutschen Ethikrat nominiert
wurde. Von 2003 bis 2005 war er Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen
Bundestags („Recht und Ethik der modernen Medizin“), von 2012 bis 2020 dann
Mitglied des Deutschen Ethikrats. Gerade dort war Merkels freiheitliches Denken
gefordert. Zeugnis davon geben einige eloquent ausbuchstabierte Minderheitsvoten,
in denen er die Stellungnahme der Mehrheit beleuchtet, durchaus erneut im Stile zeit-
kritischer, aufklärerischer Essays. Es war dann nur folgerichtig, dass er sich seit 2017
institutionell engagiert für eine säkulare Rechtspolitik, und zwar als Beirat sowohl in
der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) als auch in deren Ableger, dem Institut für Welt-
anschauungsrecht (ifw).
Aus den Publikationen des Jubilars hervorgehoben seien nur die folgenden Schrif-
ten: „Reinhard Merkels Abhandlung zur Willensfreiheit“, schreibt Rolf Herzberg,
„ragt aus dem einschlägigen Schrifttum weit heraus. Sie beleuchtet die Problematik
scharfsinnig und kenntnisreich von allen Seiten.“ Die Schrift „Willensfreiheit und
rechtliche Schuld – Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung“ wurde 2008 als
eines der „Juristischen Bücher des Jahres“ ausgezeichnet. – Merkels Erläuterungen
im Nomos Kommentar zu den Vorschriften des Schwangerschaftsabbruchs bieten
eine tiefschürfende Aufarbeitung der rechtsethischen, verfassungsrechtlichen und
strafrechtlichen Aspekte dieser besonders umstrittenen Rechtsmaterie. Der Kom-
mentator spürt darin Fragen nach, die vielen, auch Kennern der Materie, zuvor
noch nicht untergekommen sein dürften. Mit der Kommentierung in einem gewissen
Zusammenhang steht die Schrift „Forschungsobjekt Embryo – Verfassungsrechtli-
che und ethische Grundlagen der Forschung an menschlichen embryonalen Stamm-
zellen“ (2002). Die drei genannten Schriften weisen das Charakteristische des Mer-
kel’schen Denkens aus: In Anwendung einer verfassungstreuen Methodik, die auf
VIII Vorwort

dem Boden einer freiheitlichen, nicht ideologischen Philosophie steht, entfaltet er die
Probleme und findet durch eine nicht selten zuspitzende, aber gleichwohl austarierte
Dogmatik zu Lösungen, die insbesondere auf dem Gebiet der Bioethik und des Me-
dizinrechts beklemmende Unbarmherzigkeiten vermeiden.
Die Wertschätzung seines Schaffens drückt sich darin aus, dass Reinhard Merkel
in einige renommierte Forschergemeinschaften aufgenommen wurde: Er war 2008
und 2009 Fellow am Wissenschaftskolleg (Institute for Advanced Study) zu Berlin;
seit Januar 2011 ist der Jubilar Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaf-
ten – Leopoldina, Sektion Wissenschaftstheorie; von 2013 bis 2014 war er Fellow am
Wissenschaftskolleg Greifswald; 2016 wurde er Fellow an der Kolleg-Forscher-
gruppe „Theoretische Grundfragen der Normenbegründung in Medizinethik und
Biopolitik“ in Münster. Auch im Ausland wird Merkel wahrgenommen, etwa im
Rahmen internationaler Gremien und think tanks, von der „Hinxton Group“ zur
Stammzellforschung zu Fachgesellschaften für Leitlinien zum medizinischen Ein-
satz der Tiefenhirnstimulation. 2016 hielt er die Max Weber Lecture an der New
York University.
Mit der Emeritierung im Jahr 2015 hat die Universität Hamburg einen hochkarä-
tigen Rechtslehrer verloren. Merkels Vorlesungen, so erfuhr man 2012 bei Spiegel-
Online, sind „ein erlesener Denksport“, „rasant, elegant, kraftvoll“, „nichts für Ler-
ner, was für Denker“: „Für Merkel ist jeder Fall eine Ansammlung hochinteressanter
Probleme, für die es ebenso faszinierende Lösungen gibt.“ Dies wird unumwunden
bestätigen, wer schon einmal einen Vortrag des Jubilars gehört hat: Ein sezierender
analytischer Blick verbindet sich mit der Kunst, noch die vertracktesten Dinge der
Rechtsphilosophie und der Rechtsdogmatik hochanschaulich zu transportieren.
Wer nur einige der Merkel’schen Schriften oder Vorträge kennt, weiß zudem um
seine Vorliebe, Argumentationen mit Gedankenexperimenten zu illustrieren und zu
garnieren. Sind gewisse Gegenstände seines Denkens schon phantastisch genug und
muten – jedenfalls aus der Ferne – an wie Science Fiction-Szenarien, etwa klinische
Interventionen ins menschliche Gehirn (wiewohl derlei Eingriffe längst Realität
sind), so fordert Merkel seinen Leser und Zuhörer auf, sich auch (derzeit) Unreali-
sierbares vorzustellen, etwa den Einsatz eines Teletransporters zu erwägen, um Fra-
gen zur personalen Identität des Menschen zu klären. Im persönlichen Gespräch hat
der Jubilar einmal den Mangel an Bereitschaft der Juristen beklagt, Gedankenexpe-
rimente ernsthaft zu erwägen: Bei den Philosophen, so Merkel augenzwinkernd,
könne man sagen: „Stellen wir uns vor, der Mond sei aus gelbem Käse!“ Dann
komme als Reaktion ein: „Gut – bitte!“ Bei manchen Juristen stoße schon auf Ab-
lehnung, wer einen nicht alltäglichen Fall zur Erprobung unterbreite. Dass diese Hal-
tung eher eine Immunisierungsstrategie des Meinungsgegners ist, wird man nicht
allein deshalb annehmen dürfen, weil die Rechtswirklichkeit zum Teil bizarre Sach-
verhalte zu beurteilen einfordert. Denn unabhängig vom Realitätsgehalt vermögen
Gedankenexperimente, auch im Juristischen, normative Probleme auf ihre Essentia-
lia zuzuspitzen. Verwickelte Strukturen auf diese Weise aufzuhellen, das gelingt
Vorwort IX

Reinhard Merkel immer wieder besonders ideenreich. Wir möchten es daher – was
Gedankenexperimente angeht – mit Aristoteles halten, der bekanntlich für Meta-
phern und gute Philosophie reklamiert hat, dass, in weit Auseinanderliegendem
das Gemeinsame zu erkennen, besonderen Scharfsinn verrät.
Die Herausgeber der Festschrift bedanken sich für vielfältige Unterstützung: zu-
nächst beim Verlag Duncker & Humblot, insbesondere bei Regine Schädlich für die
exzellente verlegerische Betreuung. Für das Gewähren großzügiger Druckkostenzu-
schüsse gilt unser Dank der Giordano-Bruno-Stiftung sowie der Hamburger Stiftung
zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Die Autoren der Festschrift haben ihr
Mitwirken durchweg unverzüglich zugesagt. Dafür und für ihre Beiträge danken wir
ihnen ganz besonders. Viele haben an das Werk Reinhard Merkels angeknüpft und
dürfen einem weiteren Austausch mit dem Jubilar freudig entgegensehen. Zu nennen
ist ferner Barbara Fisz. Als Sekretärin am Lehrstuhl von Reinhard Merkel hat sie den
Jubilar über viele Jahre unterstützt; mittlerweile tätig bei seinem Nachfolger, Jochen
Bung, hat sie das Entstehen der Festschrift in jeder Phase umsichtig betreut. Dafür
danken wir ihr sehr. – Von Herzen danken wir schließlich Reinhard Merkel selbst,
dem Lehrer, Vorbild, Förderer und Freund.
Hamburg, im April 2020 Die Herausgeber
Inhaltsverzeichnis

TEILBAND I

I. Literarisches
Jochen Bung
Vom Recht, sich betasten zu lassen, von wem man will. Bemerkungen zu Kraus
und Adorno . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
Sigurd Paul Scheichl
Prozesse als Bestandteil des Werks von Karl Kraus – Prozessakten als Quellen
zu seinem Wirken. Am Beispiel des Prozesses Pisk gegen Kraus (1929 – 1931) 13
Jan Philipp Reemtsma
Das Vergleichen als eigenartige intellektuelle Tätigkeit betrachtet. Ein Ge-
spräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
Birgit Recki
Eine Poetik der Menschenwürde. Stil als weiche Normativität bei Ferdinand
von Schirach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
Heinz Müller-Dietz
Warum schreiben Schriftsteller über Recht und Justiz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Alfred Nordmann
Die rechten Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

II. Politische Philosophie und Rechtsphilosophie


Michael Pauen
Eine kontraktualistische Rechtfertigung von Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Julian Nida-Rümelin
Zur Legitimität von Staatlichkeit. Eine kosmopolitische Kritik offener Grenzen 87
Daniela Demko
Demokratie im Kontext von Globalisierung und Kosmopolitismus. Philoso-
phische Reflexionen zur Begründung und zum Wesen einer Weltgemeinschaft
als einer freiheitlichen Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
Anton Leist
Gleichheit und/oder Verdienst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
XII Inhaltsverzeichnis

Jan C. Joerden
Kant und Hegel zur Gewaltenteilung im Staat – Skizze eines Vergleichs . . . . . 153
Kurt Bayertz und Thomas Gutmann
Thomas Dunson und Ethan Edwards im Lichte von Immanuel Kant und Carl
Schmitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
Matthias Mahlmann
Politische Verbrechen und europäische Kultur – Joseph Conrads „Heart of
Darkness“ und die Gegenwelten der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
Eric Hilgendorf
Kritischer Rationalismus und das Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
Martin Hein
Dogmatik und Hermeneutik als Leitbegriffe in Rechtswissenschaft und Theo-
logie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
Christian Becker
Rechtswissenschaft, positives Recht und politischer Protest. Überlegungen an-
lässlich der Campus as Safe Space-Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
Benno Zabel
Handeln, Entscheiden, Zurechnen. Wie der Einsatz intelligenter Technik die
deontologische Deutung des Rechts verändert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
Till Zimmermann
Vom Leid und Eigeninteresse künstlicher Rechtsträger: Juristische Personen als
moralische Subjekte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

III. Grundlagen des Strafrechts


Bettina Walde
Zum normativen Charakter menschlicher Freiheit und der Frage nach dem
objektiven Fundament des Schuldprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
Christian Fahl
Das schlechte Gewissen des Strafrechtlers und die Willensfreiheit . . . . . . . . . . 335
Urs Kindhäuser
Setzt Unrecht Schuld voraus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351
Rolf Dietrich Herzberg
Das Anderskönnen in der strafrechtlichen Schuldlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371
Thomas Fischer
Zur Feststellung schwerer seelischer Abartigkeit, oder: Wieviel Selbstreferen-
tialität verträgt die Schuld? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
Volker Haas
Schuldfähigkeit als Fertigkeit. Zu denkbaren Konsequenzen im Erwachsenen-
strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413
Inhaltsverzeichnis XIII

Wolfgang Wohlers
Das tradierte Schuldstrafrecht – ein Auslaufmodell? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
Luís Greco
Identität, Authentizität und Schuld – Reflexionen anlässlich der jüngsten Pro-
zesse gegen „alte Nazis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443
Jan Christoph Bublitz
Die Genealogie der Vergeltung, oder warum retributiven Überzeugungen nicht
zu trauen ist. Ein Beitrag zu einer neuropsychologisch informierten Straf-
rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459
Gerhard Seher
Wert und Grenzen der expressiven Theorie der Strafe. Zugleich eine Skizze
über Begriff und Zweck staatlicher Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493
Tatjana Hörnle
Das Ideal des Bürgerstrafrechts vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Frag-
mentierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511
Michael Kubiciel
Das Strafrecht einer fragmentierten Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529
Tonio Walter
Zur Demokratisierung des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545
Kai Ambos
Strafrecht und Verfassung: Gibt es einen Anspruch auf Strafgesetze, Strafver-
folgung, Strafverhängung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565
Martin Böse
Der EuGH und die Strafrechtsdogmatik. Grund und Grenzen einer Harmoni-
sierung des Allgemeinen Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589

IV. Strafrecht Allgemeiner Teil


Peter Mankowski
Auslandsrechtsanwendung, Auslandsrechtsprüfung, Auslandsrechtsberück-
sichtigung und Auslandsrechtsermittlung im deutschen Strafverfahren . . . . . . 609
Hans Kudlich
Die Expansion des Strafens durch § 9 II 2 StGB. Drohende Friktionen und
vorsichtige Einhegungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625
Günther Jakobs
Garantenstellung bei tätiger Verletzung negativer Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . 639
Ralf Stoecker
Der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen und die Bedeutung von
Handlungssphären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649
Sebastian Simmert und Joachim Renzikowski
Causa efficiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667
XIV Inhaltsverzeichnis

Ingeborg Puppe
Über einige Probleme des Kausalitätsbegriffs im Strafrecht und Merkels Leh-
ren dazu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681

Kurt Seelmann
Zurechnung zu künstlicher Intelligenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695

Lorenz Schulz
Der Irrtum als Seismograph des Strafrechts. Ein Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . 707

Heinz Koriath
Was für ein Irrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 717

Uwe Murmann
Tatentschluss und Legitimation der Versuchsstrafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 727

Horst Schlehofer
Strafbarkeitseinschränkende Alternativen zur hypothetischen Einwilligung im
Arztstrafrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745

Susanne Beck
Fiktion vs. Realität. Warum nicht alle Fälle der „hypothetischen Einwilligung“
gleich zu behandeln sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761

Rainer Keller
Nothilfe für Tiere als Anthropozentrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 779

Ulfrid Neumann
Rechtspositionen, Rechtsgüter und Rettungsinteressen in der aktuellen Dis-
kussion zu Problemen des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) . . . . . . . . . 791

Andreas Hoyer
Das Grundrecht auf Leben als Tötungsverbot für den Staat und als Schutzan-
spruch gegen den Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 813

Wolfgang Mitsch
Die Weigerung ein menschlicher Schutzschild zu sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 827

Volker Erb
Der Lebensnotstand bei siamesischen Zwillingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 845

Elisa Hoven
Tötung im Notstand? – Überlegungen zur Reichweite des Notstandsrechts
insbesondere im Völkerstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 857

Milan Kuhli
Roboterprogrammierung im Dilemma. Neue Verhaltensnormen für tödliche
Notstandssituationen mit Unbeteiligten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 887

Thomas Rönnau
Die Haftungsfreistellung des „Whistleblowers“ nach § 5 Nr. 2 GeschGehG –
eine gelungene Regelung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 909
Inhaltsverzeichnis XV

TEILBAND II

V. Strafrecht Besonderer Teil

Carl-Friedrich Stuckenberg
Digitaler Hausfriedensbruch? Von trügerischen Analogien zur analogen Welt 931

Gereon Wolters
Das gesetzliche Merkmal „gegen den erkennbaren Willen“ in der Neufassung
des § 177 Abs. 1 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 951

Claus Roxin
§ 184 j StGB im Streit der Meinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 973
Armin Engländer
Politische Tötungsmotive als niedrige Beweggründe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 983

Peter Singer
The Challenge of Brain Death for the Sanctity of Life Ethic . . . . . . . . . . . . . . 1001
Dieter Birnbacher
„Hirntod und kein Ende“ – nach zwanzig Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1015
Dietmar von der Pfordten
Menschenwürde und Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1031
Carl Friedrich Gethmann
Ethische Fragen der Selbsttötung angesichts der aktuellen deutschen Diskus-
sion um ärztliche Sterbehilfe und um Sterbehilfevereine . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1045
Frank Saliger
Zur prozeduralen Regelung der Freitodhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1063
Friedhelm Hufen
Weiterleben als Schaden? – Weiterleiden als Schaden! Grundrechtsschutz
gegen Übertherapie vor dem Tode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1079
Thomas Hillenkamp
Abgestufte Anforderungen an selbstbestimmtes Sterben? . . . . . . . . . . . . . . . . . 1091

Christoph Sowada
Die Tatherrschaft als Zurechnungsinstrument im Spannungsfeld von Selbst-
und Fremdtötung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1109
Thomas Weigend
Teilnahme am nicht freiverantwortlichen Suizid? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1129
Véronique Zanetti
Verhältnismäßigkeit und Kompromisse am Beispiel des deutschen Abtrei-
bungsgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1141

Thomas Rotsch
Zur Täterschaft der Schwangeren beim Schwangerschaftsabbruch . . . . . . . . . . 1163
XVI Inhaltsverzeichnis

Klaus Rogall
§ 219a StGB in neuer Gestalt. Anmerkungen zu einem Lehrstück zeitgenössi-
scher Rechtspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1181
Anette Grünewald
Intersexualität und Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1203
Detlev Sternberg-Lieben
Verletzungen beim Fußballsport – strafbare Körperverletzung? . . . . . . . . . . . . 1223
Martin Heger
Strafrechtliche Grenzen von Enhancements im Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1245

VI. Strafverfahrensrecht
Matthias Jahn und Sascha Ziemann
Frankfurter Strafprozessunordnung. Der Kaufhausbrandstifterprozess von 1968
als epochemachender Schauplatz politischer Inszenierung . . . . . . . . . . . . . . . . 1265
Karsten Gaede
§ 81g StPO – Musterbeispiel für die schöne neue Welt der Strafverfolgungs-
vorsorge? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1283
Henning Rosenau und Carina Dorneck
Die Rolle der forensischen Molekulargenetik im Strafprozess . . . . . . . . . . . . . 1301
Guido Britz
Die „formlose Einziehung“: Kritische Anmerkungen zu einem Phänomen . . . 1321

VII. Völkerrecht
Claus Kreß
Die Anfänge des Völkerstrafrechts im Spiegel von Reinhard Merkels Völker-
strafrechtsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1345
Bernd Schünemann
Von den trüben Quellen und seichten Mündungen des Völkerstrafrechts . . . . . 1361
Dorothea Magnus
Verfolgung und Anklage von Völkerrechtsverbrechen nach deutschem Recht:
wie weit zulässig und geboten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1375
Ulrich Steinvorth
Kollateraltötungen und Optimierungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1395
Albin Eser
Tödliche „Kollateralschäden“ durch militärische Aktionen: zu deutscher Mit-
verantwortung für ausländische Drohneneinsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1409
Inhaltsverzeichnis XVII

Stefanie Bock
Individuelle Verantwortlichkeit für staatliche Angriffshandlungen. Überlegun-
gen zum Verbrechen der Aggression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1433
Georg Meggle
Zum „Terrorismus“ im Sicherheitsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1453

VIII. Recht und Ethik der Medizin


und Biowissenschaften
John Harris
Gene Editing in Humans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1463
Gunnar Duttge
Moderne Pränataldiagnostik: Legitimer Freiheitsgebrauch fern von „Diskrimi-
nierung“ und „Selektion“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1473
Thomas Schramme
Manipulation und mentale Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1489
Ingmar Persson and Julian Savulescu
No Matter, Never Mind: The Bodily Basis of Mental Integrity . . . . . . . . . . . . . 1501
Neil Levy
Nudge, Nudge, Wink, Wink: Nudging is Giving Reasons . . . . . . . . . . . . . . . . . 1507
Jonathan Glover
Privacy, Neuroscience and the Inner Life . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1531
Bettina Schöne-Seifert und Marco Stier
Zur Autorität von Demenzverfügungen: Merkels Vorschlag einer notstands-
analogen Interessenabwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1545
Ulrich Schroth
Zur Legitimation der gesetzlichen Regelungen der Nierenlebendspende . . . . . 1565
Holm Putzke und Jörg Scheinfeld
Zur Widerspruchsregelung bei der Leichenorganspende. Gedanken zur Dis-
kussion im Ethikrat und im aktuellen Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1579
Nikolaus Knoepffler
Die Widerspruchsregel bei der Organspende – Überlegungen zu Reinhard
Merkels Position . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1603

IX. Varia
Wolfram Höfling
„Eine Zensur findet … statt“. Schlaglichter auf die Filmkontrolle in der frühen
Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1619
XVIII Inhaltsverzeichnis

Jacqueline Neumann
Von der Formung des Rechts auf Weltanschauungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . 1633

Publikationen Reinhard Merkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1651


Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1669
I. Literarisches
Vom Recht, sich betasten zu lassen,
von wem man will
Bemerkungen zu Kraus und Adorno

Von Jochen Bung

1964 schreibt Adorno einen Aufsatz über Karl Kraus. Der seiner Freundin Lotte To-
bisch gewidmete Text erscheint nicht selbständig, sondern ein Jahr später im Zusam-
menhang der Sammlung Noten zur Literatur III bei Suhrkamp. Anlass des Aufsatzes ist
die Neuedition der Schrift Sittlichkeit und Kriminalität als elfter Band der Kraus-Werk-
ausgabe des Münchener Kösel-Verlags. Adorno greift die Bemerkung des Herausge-
bers Heinrich Fischer auf, „kein Buch von Karl Kraus sei aktueller als dies vor bald
sechzig Jahren publizierte“1 und bekräftigt, dies sei „die pure Wahrheit“2. Es war in
der Tat die Wahrheit. Die radikale Kritik an einem moralisierenden Sexualstrafrecht,
welche die Texte des Bandes wesentlich bestimmt, traf den Nerv einer rechtspoliti-
schen Diskussion, die acht Jahre nach dem Erscheinen von Adornos Text in das 4. Straf-
rechtsreformgesetz mündete, das als augenfälligsten Reformschritt die Abschaffung
der Überschrift des 13. Abschnitts des Strafgesetzbuches, Straftaten gegen die Sittlich-
keit, und dessen Umbenennung in Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung be-
wirkte. Dieser Schritt und die damit verbundenen Umgestaltungen des Sexualstraf-
rechts lassen sich bruchlos mit den Überlegungen von Kraus in Verbindung bringen,
dessen Schrift nichts Geringeres als eine Theorie legitimer und illegitimer Rechtsgüter
im Strafrecht liefert und vehement die Restriktion des Sexualstrafrechts auf das Rechts-
gut der sexuellen Selbstbestimmung fordert.3
Wie sieht es heute aus? Heute firmiert Sittlichkeit und Kriminalität in der von
Christian Wagenknecht herausgegebenen Werkausgabe bei Suhrkamp als Band 1.
Das Sexualstrafrecht hat sich als Dauerbaustelle erwiesen, die zeigt, dass das Inter-
esse am Zusammenhang von „Sexualität und Wahrheit“4 ungebrochen ist, indem die

1
Theodor W. Adorno, Sittlichkeit und Kriminalität. Zum elften Band der Werke von Karl
Kraus, in: ders., Noten zur Literatur, Frankfurt am Main 1981, S. 367.
2
Ebd.
3
Zum Begriff der sexuellen Selbstbestimmung Karl Kraus, Sittlichkeit und Kriminalität,
hrsg. v. Christian Wagenknecht, Frankfurt am Main 1987, S. 326. Kraus nennt daneben noch
den Minderjährigen- und den Gesundheitsschutz als legitime Aufgaben des Sexualstrafrechts,
ebd., S. 15, 69, 182.
4
Zu diesem Zusammenhang Michel Foucault, Der Wille zum Wissen, Sexualität und
Wahrheit Bd. 1, Frankfurt am Main 1983.
4 Jochen Bung

psychologisch vielschichtige und nicht selten ambivalente sexuell motivierte Inter-


aktion zwischen Menschen am Muster veritativer Diskurse, ganz konkret am Muster
von Ja/Nein-Stellungnahmen, ausgerichtet und verrechtlicht werden soll.5 Die im
19. Jahrhundert vom Erfinder der Kriminologie, Cesare Lombroso, ausgesprochene
Prophezeiung, dass die Strafgesellschaften der Zukunft sich hauptsächlich mit Wirt-
schafts- und Sexualdelinquenz beschäftigen werden6, hat sich als zutreffend erwie-
sen. Das Interesse der bürgerlichen Gesellschaft an einer Juridifizierung des Sexuel-
len hat alle historischen Formationen des Bürgertums überdauert. Kann man also
auch heute noch sagen, dass kein Buch von Kraus aktueller ist als dieses vor nun
mehr als hundert Jahren publizierte? Ich zögere ein wenig mit der Antwort und
sehe mich nicht in der Lage, Adornos Diktum, das sei die „pure Wahrheit“, heute
einfach zu wiederholen. Ganz zweifellos gibt es in Kraus’ Werk Anmerkungen
zur Sexualität und zum Sexualstrafrecht auf der Höhe der Zeit, Passagen für die
gilt, was Reinhard Merkel, einer der profundesten Kraus-Kenner in seiner Untersu-
chung Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus in Anknüpfung an die Bemer-
kung Adornos gesagt hat, dass sie „eine bis in die Gegenwart reichende Aktualität
[demonstrieren]“7. Andererseits gibt es Passagen, über die die Zeit hinweggegangen
ist, in denen Kraus sich in den Geschlechterstereotypen seiner Zeit verheddert und
schließlich sogar in eine Art von „Sexualmetaphysik“8 verfällt.
Dieser merkwürdigen Ambivalenz möchte ich eine Weile nachgehen und zwar
nicht in erster Linie aus Interesse an einem Beitrag zur Literaturwissenschaft, son-
dern weil sie uns über den Autor (Kraus) und seinen Interpreten (Adorno) hinaus
etwas über das spannungsvolle Verhältnis von Sexualität und Strafrecht vermittelt.
Und natürlich tue ich es in diesem Zusammenhang auch in der Absicht, Reinhard
5
Vgl. BT-Drs. 18/9097 (sog. Nein-heißt-Nein-Gesetz), die Diskussionen dazu und zur
Reform des Sexualstrafrechts sind kaum mehr zu überblicken, sie sollen auch nicht Gegen-
stand dieses Beitrags sein. Nur als Anhaltspunkte: Fünfzigstes Gesetz zur Änderung des
Strafgesetzbuches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung (BGBl I
2016, 2460). Als ambivalent bewertet von Joachim Renzikowski, Nein! – Das Neue Sexual-
strafrecht, NJW 2016, S. 3353 ff.; s. auch Tatjana Hörnle, Das Gesetz zur Verbesserung des
Schutzes sexueller Selbstbestimmung, NStZ 2018, S. 13 ff., die das Gesetz zwar für grund-
sätzlich überzeugend hält, aber die Fassung für „schlecht durchdachte, zu schnell auf öffent-
liche Empörung reagierende Gesetzesänderung“ in den Einzelheiten kritisiert. Kritisch zum
Entstehungsprozess des Gesetzes und mit dem Aufruf an die Strafrechtswissenschaft, sich
stärker an der öffentlichen Diskussion zu beteiligen Elisa Hoven, Das neue Sexualstrafrecht –
Der Prozess einer Reform, KriPoZ 2018, S. 2 ff. (mit Kommentar von Tatjana Hörnle, ebd.,
S. 12 ff.). Zum Muster von Ja/Nein-Stellungnahmen im Sexualstrafrecht Jochen Bung, Das
Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung, in: Philipp Thiee (Hg.), Menschen Handel. Wie
der Sexmarkt strafrechtlich reguliert wird, Berlin 2008, S. 49 ff.
6
Cesare Lombroso, Criminal Man, hrsg. von Mary Gibson und Nicole Hahn Rafter, Duke
University Press (Durham und London) 2006, S. 332 f.
7
Reinhard Merkel, Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus, Frankfurt am Main
1998, S. 398.
8
So zutreffend Merkel (Fn. 7), S. 360, der freilich richtigerweise hervorhebt, „dass sie
[diese Metaphysik] für die Kritik des Satirikers am Sexualstrafrecht keine entscheidende lo-
gische Rolle spielt“, ebd., S. 361.
Vom Recht, sich betasten zu lassen, von wem man will 5

Merkel zu ehren, dessen Untersuchungen zu Karl Kraus nicht nur zu den unverzicht-
baren Beiträgen zur Kraus-Forschung, sondern auch zu den bemerkenswertesten
Hervorbringungen einer methodisch aufgeschlossenen, interdisziplinären Straf-
rechtswissenschaft gehören, die gerade auch Impulse aus der Literatur aufnimmt
und produktiv verarbeitet.

I. Geschlecht und sexuelles Selbstbestimmungsrecht


In Sittlichkeit und Kriminalität, das Artikel aus der von Karl Kraus herausgege-
benen Zeitschrift Die Fackel versammelt, führt Kraus einen Angriff auf das geltende
Sexualstrafrecht seiner Zeit. Vor allem ist es eine Kritik der Strafjustiz in Sittlich-
keitsprozessen. Die Texte sind zwischen 1902 und 1907 verfasst. Neben der Justiz-
kritik geht es Kraus darum, die legitimen Grenzen des Sexualstrafrechts zu bestim-
men. Kraus formuliert, seiner Zeit weit voraus, das Thema „Geschlecht und Selbst-
bestimmungsrecht“9, er spricht vom „Selbstverfügungsrecht der Frauen“10, der Aus-
druck „sexuelles Selbstbestimmungsrecht“ findet sich explizit11, und dieses Recht
wird – ganz modern und in erstaunlicher Vorwegnahme heutiger Verständnisse – be-
stimmt als „das Recht des Individuums, sich betasten zu lassen, von wem es selbst
betastet sein will“12.
Diese Bestimmung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts entwickelt Kraus in
der Darstellung einer historischen Episode, die am 16. November 1906 in einem
Zoologischen Garten in New York spielt. Hier soll der weltberühmte Tenor Caruso
eine Frau durch unerwünschte Berührungen bedrängt haben, woraufhin er festge-
nommen und ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet wurde.13
Kraus geht mit der heimischen kritischen Berichterstattung über diesen Vorgang
hart ins Gericht: „Nur die Flachköpfe unserer liberalen Presse halten es für Prüderie,
wenn die amerikanischen Frauen einen Angriff auf ihr sexuelles Selbstbestimmungs-
recht zurückweisen. Ich weiß nicht, nach welchem Gesetz Herr Caruso verurteilt
wurde, aber ich vermute, dass nicht die öffentliche Schamhaftigkeit, sondern das
Recht des Individuums, sich betasten zu lassen, von wem es selbst betastet sein

9
Kraus (Fn. 3), S. 36.
10
Ebd., S. 37.
11
Ebd., S. 151, 326. Ob Kraus diesen Begriff als erster geprägt hat, wäre eine Untersu-
chung wert. Dass er einer der ersten war, halte ich nach – freilich unvollständigen – Recher-
chen für einigermaßen sicher. Ich danke Thomas Jänicke für empirisch fundierte Hinweise auf
die Richtigkeit dieser Vermutung. Sensibilisiert war Kraus womöglich durch den Sprachge-
brauch bei Franz von Liszt, der von der „freie[n] Selbstbestimmung über den geschlechtlichen
Verkehr“ spricht, vgl. Franz von Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 10. Aufl., Berlin
1900, S. 347.
12
Kraus (Fn. 3), S. 326.
13
S. ebd., S. 325 f.
6 Jochen Bung

will, gegen die Zärtlichkeit des großen Mannes geschützt werden sollte.“14 Tatsäch-
lich lautete der Vorwurf auf disorderly conduct15, was aber auch individuelle und
nicht-öffentliche Beeinträchtigungen erfasste. Gegen alteuropäische Selbstüberhe-
bungen gegenüber der neuen Welt vermerkt Kraus scharf: „In Amerika wahrt man
den sexuellen Anspruch der Frau, indem man sie vor sexueller Ansprache schützt.
Bei uns dürfen bloß die Herren der Schöpfung ihre Geilheit auf der Straße spazieren
führen, dürfen Frauen anpöbeln, die von ihnen nicht beglückt sein wollen, und ein
unbeteiligtes Publikum an den Exhibitionen ihrer Luchsaugen teilnehmen lassen.“16
Er hält es für „Idiotie“, wie die mitteleuropäische Betrachtung des transatlantischen
Vorgangs, „eine Frage der Freiheit als eine Frage der Moral auffasst“17.

II. Pathos und Beobachtung


Liest man heute Kraus, trifft man, wie aus den vorstehenden Passagen ersichtlich,
auf eine unserer Zeit nicht mehr ganz geläufige Leidenschaftlichkeit des Ausdrucks.
Bereits Adorno thematisiert diese Leidenschaft bei Kraus, er vermerkt über Sittlich-
keit und Kriminalität: „Die aufsteigende Kurve des Buches fällt zusammen mit dem
Fortschritt seines Pathos.“18 Adorno sympathisiert mit dem Pathos, greift sogar dem
Einwand vor, es sei altmodisch19, zu behaupten, „die Passagen, in denen seine
[Kraus’] Stimme donnert, [seien] so frisch, wie am ersten Tag“20. Adorno hat in sei-
ner Wiener Zeit Lesungen von Kraus besucht, und er war, wie er in dem Aufsatz
selbst andeutet21, tief beeindruckt von Kraus’ Dramaturgie. Ob wir das heute noch
so erleben könnten, möchte ich bezweifeln. Allerdings muss man, was Kraus betrifft,
sehen, dass Dramatisierung und Eruption nur eine (wenn auch häufig gewählte) rhe-
torische Variante darstellen. Das Buch enthält auch ganz unpathetische und sachliche
Teile, Analysen und Beobachtungen. Sie gehören zum Besten in dem Werk. Die wir-
kungsvollsten Passagen sind nicht jene, in denen Kraus donnert, sondern die, in
denen er beobachtet und dokumentiert und allenfalls knapp kommentiert oder das
Ganze kommentarlos stehen lässt:
„Bezirksgericht. Der Richter redet einer des Diebstahls angeklagten Frau ins Gewissen:
Hab’n S’ was g’stohl’n? – Angekl.: I hab’ nix g’stohl’n. – Richter: Wie kommen denn
dann die fremden Sachen in Ihren Koffer? – Die Angeklagte erwidert, sie besitze einen
Teil dieser Sachen schon seit zwei Jahren. Sie habe sie angeschafft, als sie mit einem
Kinde niederkam. – Richter: Sie sind ja gar net verheiratet, wie kann ma denn da a Kind

14
Ebd., S. 326.
15
www.blog.insidetheapple.net/2010/11/enrico-caruso-and-monkey-house-incident.html.
16
Kraus (Fn. 3), S. 326.
17
Ebd.
18
Adorno (Fn. 1), S. 385.
19
Ebd., S. 386.
20
Ebd.
21
S. ebd., S. 372.
Vom Recht, sich betasten zu lassen, von wem man will 7

kriegen! – Angekl. (kurz): Ledige Leute kriegen aa Kinder. – Richter: Ja, leider! Schamen
S’Ihna! …“22

In seinem Theaterstück Die letzten Tage der Menschheit hat Kraus die hier zu
Tage tretende menschenfeindliche Arroganz und Dummheit namentlich von Funk-
tionären der Gesellschaft zu einer panoptischen Dimension gesteigert. Das Grauen,
der zwischenmenschliche Abgrund, tut sich gerade in der Banalität des alltäglichen,
durch dialektale Färbungen keineswegs gefühlsvermittelteren, sondern eher noch be-
drohlicheren Sprechens auf. Hier erweist sich womöglich die wahre, zeitlose Moder-
nität der Texte, die auch Adorno erkannte: „Er [Kraus] ist vom Schlimmsten nicht
überholt, weil er im Mäßigen das Schlimmste erkannte, und indem er es spiegelte,
es enthüllte.“23
In Sittlichkeit und Kriminalität geht es ganz überwiegend um Spiegelungen und
Enthüllungen von Sittlichkeitsprozessen der Zeit um die vorvergangene Jahrhundert-
wende. Schauplatz ist Österreich, die Provinz sowie die Hauptstadt Wien. Dass man
die Namen der Akteure überwiegend nicht mehr kennt, tut dem Text keinen Abbruch,
im Wesentlichen geht es nicht um sie als Personen, als Individuen, sondern als Träger
von Rollen, als Repräsentanten von Institutionen. Im Wesentlichen geht es darum,
was Richter im Gerichtssaal mit Menschen machen, was sie sich anmaßen, wie
sie diejenigen, die ihnen ausgeliefert sind, demütigen und vernichten. Einer
wegen Kindstötung angeklagten Frau hält der Vorsitzende, als sie, vor der Verkün-
dung des Todesurteils zu weinen anfängt, entgegen: „Wollen Sie ruhig sein, sonst laß
ich sie abführen! Machen S’ nicht solche G’schichten!“24 Kraus ist da am stärksten,
wo er solche Szenen einfach festhält, die Vorgänge für sich selbst sprechen lässt, al-
lenfalls durch die Überschrift des Artikels – Katastrophen – stichpunktartig kom-
mentiert.

III. Immanente Kritik der bürgerlichen Gesellschaft?


Adorno interpretiert die Spiegelungen und Enthüllungen in Sittlichkeit und Kri-
minalität als eine immanente Kritik der bürgerlichen Gesellschaft.25 Er will damit
sagen, dass Kraus keine abstrakt-theoretische, von außen kommende Kritik der Ge-
sellschaft seiner Zeit liefert, sondern, dass er, indem er bestimmte Vorgänge zeigt,
bestimmte Szenen noch einmal in Szene setzt, dieser Gesellschaft die Augen darüber
öffnet, was sie anrichtet und ihr so ihre eigene Fragwürdigkeit vermittelt.
Auffällig ist dabei, dass Adorno mit einem Pathos formuliert, das mit Leichtigkeit
alles übertrifft, was man in Kraus an pathetischer Rede finden kann:

22
Kraus (Fn. 3), S. 307 (Kursivierungen im Original gesperrt).
23
Adorno (Fn. 1), S. 381.
24
Kraus (Fn. 3), S. 41 (Kursivierungen im Original gesperrt), s. auch S. 105.
25
Adorno, a.a.O. (Fn. 1), S. 370.
8 Jochen Bung

„Trotz allem Geschwätz vom Gegenteil hat in der Grundschicht der bürgerlichen Gesell-
schaft nichts sich geändert. Böse hat sie sich vermauert, als wäre sie so naturgesetzlich-
ewig, wie sie es ehedem in ihrer Ideologie positiv behauptete. Sie lässt die Verhärtung
des Herzens, ohne welche die Nationalsozialisten nicht unbehelligt Millionen hätten morden
können, so wenig sich abmarkten wie die Herrschaft des Tauschprinzips über die Menschen,
den Grund jener subjektiven Verhärtung. Flagrant wird das Bedürfnis, zu bestrafen, was
nicht zu bestrafen wäre.“26

Dies gelte insbesondere für das Feld des Sexuellen, denn:


„Je geschickter das fortdauernde soziale Unrecht unter der unfreien Gleichheit der Zwangs-
konsumenten sich versteckt, desto lieber zeigt es im Bereich nicht-sanktionierter Sexualität
seine Zähne und bedeutet den erfolgreich Nivellierten, dass die Ordnung im Ernst nicht mit
sich spaßen lässt. Geduldetes Freiluftvergnügen und ein paar Wochen mit einteiligem Bikini
haben womöglich nur eine Wut gesteigert, die hemmungsloser als je die von ihr verfolgten
sogenannten Laster, sich zum Selbstzweck wird, seitdem sie auf die theologischen Recht-
fertigungen verzichten muss, die zuzeiten auch für Selbstbesinnung, und Duldung, Raum
gewährten.“27

Was will Adorno hier sagen? Dass die Marktgesellschaft am Ende repressivere
Effekte generiert als traditionelle Gesellschaftsformen? Dass die Zulassung des Bi-
kinis den Hass auf den Bikini fördert? Dass die bürgerliche Gesellschaft die Verhär-
tung des Herzens bedingt und damit den organisierten Massenmord erst möglich
macht? Und dass es diese Verhärtung ist, die sich in besonderer Weise darin Bahn
bricht, das Feld der Lust mit dem Instrument des Strafrechts zu bestellen? Indem
Adorno sich völlig dem Pathos hingibt, nur noch donnert, statt zu argumentieren,
ist es nicht leicht, die für die Kraus-Deutung brauchbaren von den unbrauchbaren
Teilen zu trennen.

IV. Sexualität als Freiheitsreservat


In einem Punkt trifft Adorno allerdings etwas Wichtiges. Der Autor von Sittlich-
keit und Kriminalität ist im Kern eher ein Konservativer als ein Liberaler. Kraus
spricht das selbst an einer Stelle unmissverständlich aus: „[E]in Konservatismus,
der das Glück aller raubt, ist ein würdigerer Feind als ein Liberalismus, der dem
Glück der Räuber dient“28. Kraus plädiert entschieden für eine staatliche Regulierung
der ökonomischen Sphäre. Er hebt hervor, „dass ich den Standpunkt des Staats-
freunds, der von der Gesetzgebung immer wieder das verlangt, was der manchester-
liche Schwindelgeist ,Bevormundung‘ nennt, […] dann beziehe, wenn ich das Gel-
tungsgebiet ökonomischer Werte betrachte.“29 Hier scheint ihm „strengste Überwa-

26
Ebd., S. 367.
27
Ebd.
28
Kraus, a.a.O. (Fn. 3), S. 275.
29
Ebd., S. 12.
Vom Recht, sich betasten zu lassen, von wem man will 9

chung geboten“30 und er betont, dass er „den neuen Formen neue Paragraphe an den
Hals wünsche“31. Eine kritische Theorie des Kapitalismus (wie bei Adorno) steckt
darin allerdings nicht, Kraus ist einfach moralisch entrüstet über die systembedingte
Gier nach Profit.
Dabei fällt allerdings auf, dass er kein Problem damit hat, die Kommerzialisierung
zwischenmenschlicher Beziehungen im Sexuellen zu verteidigen. Er möchte, dass
die freie Entscheidung, sich zu prostituieren, als selbstbestimmte „Geschlechtskar-
riere“32 anerkannt wird, er meint – im Rahmen seiner wiederkehrenden bösartigen
Invektiven gegen die „Frauenrechtlerinnen“33 und „Tugendmegären, bei denen
sich verhinderte sexuelle Notwendigkeiten in Sozialpolitik umgesetzt haben“34 –
dass die Mädchen, die bei der Bekämpfung des Mädchenhandels gerettet werden sol-
len, die „Bordellhyänen“ den „Samariterinnen“ vorziehen würden35. Kraus unter-
stellt diese mutmaßliche Entscheidung als selbstbestimmt, dass Unerfahrenheit
hier schnell zu existentieller Abhängigkeit und Ausbeutung führen kann, wird
nicht thematisiert.
Kraus ist aufgeklärt konservativ und deswegen residual-liberal: Er möchte, dass
das „bisschen Vergnügen“36 „im stillen Kämmerlein“37 unbehelligt bleibt von justi-
zieller Einmischung oder der Bedrohung durch „die unsterbliche Wandlungsfähig-
keit des Polizeigeistes“38. Schlüsselt man das historisch auf anhand seiner Kritik
an strafrechtlicher oder polizeilicher Verfolgung von Ehebruch, Homosexualität
und Kuppelei („Gelegenheitsmacherei“), ist das aus heutiger Sicht geschenkt. Was
aus heutiger Sicht nicht mehr so einfach nachzuvollziehen ist, ist das bei Kraus of-
fenbar naiv zugrunde liegende Schema einer normativen Dichotomie des Öffentli-
chen und des Privaten. Wieso sollen nicht gerade im stillen Kämmerlein jene Beschä-
digungen des sexuellen Selbstbestimmungsrechts passieren, die auch Kraus straf-
rechtlich geschützt wissen möchte?
Adorno analysiert diesen Umstand zutreffend, jetzt wird auch klarer, was imma-
nente Kritik der bürgerlichen Gesellschaft heißen soll: „Die bürgerliche Gesellschaft
lehrt den Unterschied des öffentlichen und beruflichen Lebens vom privaten und ver-
spricht dem Individuum, als der Keimzelle ihrer Wirtschaftsweise, Schutz. Die Me-
thode von Kraus fragt […] eigentlich nicht mehr, als wie weit die Gesellschaft, in der
Praxis ihrer Strafgerichtsbarkeit, dies Prinzip anwende, dem Individuum den ver-
sprochenen Schutz gewähre und nicht vielmehr, im Namen fadenscheiniger Ideale,
30
Ebd.
31
Ebd.
32
Ebd., S. 245.
33
Ebd., S. 253.
34
Ebd., S. 255.
35
Ebd., S. 246.
36
Ebd., S. 263.
37
Ebd., S. 14.
38
Ebd., S. 260.
10 Jochen Bung

auf dem Sprung stehe, auf es sich zu stürzen, sobald es wirklich von der verheißenen
Freiheit Gebrauch macht. Mit Scheuklappen als Brille insistiert Kraus auf dieser
einen Frage. Darüber wird der gesellschaftliche Zustand insgesamt verdächtig.
Die Verteidigung der privaten Freiheit des Einzelnen gewinnt paradoxen Vorrang
vor der einer politischen, die er wegen ihrer Unfähigkeit, privat sich zu realisieren,
als im weiten Maße ideologisch verachtet.“39
So viel ist jedenfalls richtig an Adornos Beobachtung: Freiheit der Sexualität ist
für Kraus die Probe aufs Exempel in der Freiheitsfrage überhaupt. Ob paradox oder
nicht paradox, politische Freiheit interessiert Kraus eigentlich gar nicht, sogar Ver-
achtung lässt er, wie im Fall der Frauenrechtsbewegung, durchblicken. Sexualität
wird an keiner Stelle des Buches auf ihre politische Bedeutung hin angesprochen,
darin übrigens in auffälligem Unterschied zu einschlägigen Diskursen zur Zeit Ador-
nos, in denen über die Befreiung von Triebimpulsen auch eine andere Gesellschaft
angestrebt wurde. Kraus’ Wunschvorstellung eines Freiheitsreservats für unbeauf-
sichtigtes Sexualvergnügen unter Einschluss der Dienstleistungssexualität entspricht
am ehesten Helmut Schelskys konservativer Deutung von Prostitution als gesell-
schaftlicher Ventilsitte.40 Dass die „Freigabe des Glücks Bedingung richtigen Lebens
ist“41, ist bei Kraus keineswegs an eine Philosophie von der Möglichkeit des richtigen
Lebens im Falschen geknüpft.

V. Rechtskritik oder Justizkritik?


Wegen dieser Ausblendung des Politischen ist die Rechtskritik bei Kraus, im Ge-
gensatz zur Rechtskritik Adornos, nicht wirklich Kritik am Recht selbst, nicht Kritik
an der Form des Rechts als einer Verdichtung des gesellschaftlichen Gesamtzusam-
menhangs, in der sich die Normierungsmacht des Tauschprinzips reproduziert. Ge-
hört bei Adorno das Recht schon aufgrund seiner Form und Methode zum „Verblen-
dungszusammenhang“ , wird es bei Kraus – bürgerlich durch und durch – als Schutz-
macht angerufen, bis hin zu – auch von Adorno bemerkten42 – Forderungen nach Ver-
schärfungen des Strafrechts.43 Der Angriff aufs Recht findet nicht bei Kraus statt,
sondern bei Adorno. In der Negativen Dialektik heißt es:
„Recht ist das Urphänomen irrationaler Rationalität […]; nachlebender Mythos inmitten
einer nur zum Schein entmythologisierten Menschheit. Die Rechtsnormen schneiden das
nicht Gedeckte, jede nicht präformierte Erfahrung des Spezifischen um bruchloser Systema-
tik willen ab und erheben dann die instrumentale Rationalität zur zweiten Wirklichkeit sui

39
Adorno (Fn. 1), S. 376.
40
Helmut Schelsky, Soziologie der Sexualität, Hamburg 1955.
41
Adorno (Fn. 1), S. 377.
42
Ebd., S. 374.
43
S. etwa die Argumentation gegen Volltrunkenheit oder Angetrunkenheit als Entlas-
tungsgründe, Kraus (Fn. 3), S. 216. Vgl. dazu auch Merkel (Fn. 7), S. 160.
Vom Recht, sich betasten zu lassen, von wem man will 11

generis. […] Dies Gehege, ideologisch an sich selbst, übt durch die Sanktionen des Rechts
als gesellschaftlicher Kontrollinstanz, vollends in der verwalteten Welt, reale Gewalt aus.“44

Im Gegensatz zum Willkürregime des Unrechtsstaats, konserviere, so Adorno,


„das Recht in der Gesellschaft den Schrecken, jederzeit bereit auf ihn zu rekurrieren
mit Hilfe der anführbaren Satzung“45. Eine derartige Fundamentalkritik am Recht ist
bei Kraus nicht zu finden. Einige wenige Stellen finden sich zwar auch bei ihm, die in
die von Adorno gewiesene Richtung eines unheilvollen Mechanismus deuten: „Die
Menschheit verblutet unter dem trostlosen Scharfsinn einer Wissenschaft, die ope-
riert und nicht verbindet.“46 An einer Stelle spricht er vom „Gesetzeswahnsinn“47.
Doch artikuliert sich Rechtskritik bei Kraus fast ausschließlich als Justizkritik, vor
allem als Kritik an monströsen Justizfunktionären, an jenen „Kreaturen, die […] be-
rufen [sind], über Menschen zu richten.“48 Im Gegensatz zu Adorno, der dies im Üb-
rigen genau erkennt, ist das Schreiben von Kraus selbst von juridischem Interesse
geprägt und zwar nicht nur in dem direkten Sinne, dass er sich, wie im Fall des Nö-
tigungsstrafrechts, auf ziselierte dogmatische Begriffsanalysen einlässt, sondern,
ganz allgemein, in dem Anspruch des Richtens und Rechtbehaltenwollens – bis in
jene Steigerung von Unfehlbarkeit hinein, in der jegliche Allgemeinverbindlichkeit
des Urteils durch Geschmacksurteile ersetzt wird, deren Legitimität Kraus wie folgt
begründet: „Man ist lange genug Prediger in der Wüste gewesen, um sich schließlich
mit der Befugnis einer ästhetischen Wertung der Menschen und der Dinge zu beloh-
nen.“49 Das Gesamturteil über die Menschen fällt dabei denkbar ungünstig aus,
indem, so Kraus wörtlich, „ich mich beschieden habe, die meisten meiner Mitmen-
schen als traurige Folgen einer unterlassenen Fruchtabtreibung zu betrachten“50.

VI. Dekonstruktion der Lust und Sexualmetaphysik


Ist der konservative Misanthrop Kraus also weit davon entfernt, sich die Triebbe-
freiung als politisches Projekt zur Verbesserung der Gesellschaft und der Menschen
vorzustellen, so entpuppt sich Sexualität im Rahmen des von ihm abgesteckten Frei-
heitsreservats gleichwohl als Spielwiese sektoraler Dekonstruktion.
Kraus misstraut robusten Vorstellungen von sexueller Identität. Er verachtet und
spottet über die psychiatrischen und juristischen Versuche, im Feld sexueller Erfah-
rung und sexueller Experimente normative Taxonomien zu etablieren, wie etwa die
Unterscheidung von angeborener und erworbener Homosexualität oder überhaupt
44
Adorno, Negative Dialektik, 3. Aufl. Frankfurt am Main 1982, S. 304.
45
Ebd., S. 303.
46
Kraus (Fn. 3), S. 287.
47
Ebd., S. 303.
48
Ebd., S. 287.
49
Ebd., S. 99.
50
Ebd., S. 282.
12 Jochen Bung

die Unterscheidung von Homo- und Heterosexualität: „Die Dummheit einer ganzen
Welt stellt sich das Geschlechtsleben als eine Sache der Einteilung oder als die ge-
radlinige Resultante ethischer Entschließungen vor.“51 Da alle Erotik, so Kraus, auf
der Überwindung von Hemmungen beruhe52, kann erotische Erfahrung und Kompe-
tenz nur gewonnen werden, wenn man die Hemmung überwindet. Um kompetent lie-
ben zu können, so Kraus’ Vorstellung eines erotischen kompetenten Akteurs, den er
als „vollen Mann“53 bezeichnet, muss er erweisen, dass ihm die „Möglichkeiten der
doppelgeschlechtlichen Naturanlage nie versperrt sind und [er] die Lust am Weibe
nicht nur beweist, sondern vermehrt, wenn er die Lust am Mann versucht“54.
Freilich ist Kraus’ Ansatz auch hier im Grunde konservativ, es geht ihm um Be-
wahrung oder Wiederfindung einer ars erotica55, um „Nuancierung der Lust“56, und
die „Erweiterung der Genußfähigkeit“57, nicht um „Neosexualitäten“ im Sinne von
Volkmar Sigusch58. Kraus schreibt aus der Perspektive des Mannes und dabei gerät
ihm der Blick auf „das Weib“ in zum Teil trivialste Stereotype, wie sie gerade um die
vorvergangene Jahrhundertwende verbreitet waren. Der Mann braucht Phantasie,
Gestaltung, um Lust zu empfinden, die Frau ist von Natur aus Lust. Wenn sie zu
viel Gestaltungswillen hat, wird sie hysterisch59, „der Strom weiblichen Genießens
hat vom Ursprung bis zur Mündung keine Nebenflüsse“60. In solchen Bemerkungen
fällt Kraus weit zurück, erhalten seine im Grunde progressiven Deutungen des sexu-
ellen Feldes eine rückständige Grundierung.

VII. Ausblick
Freilich wäre es nicht fair, nur die Passagen herauszulesen, über die die Zeit hin-
weggegangen ist. Auch wenn es nicht länger die pure Wahrheit ist, dass kein Buch
von Kraus aktueller ist als dieses (Adorno), weist uns Sittlichkeit und Kriminalität in
ungebrochener Aktualität darauf hin, dass die Frage, in welchem Umfang eine Ge-
sellschaft die in ihr stattfindende Sexualität der Normierungsmacht des Rechts, na-
mentlich des Strafgesetzes, unterwirft, nicht irgendeine Frage unter anderen ist, son-
dern uns unmittelbar mit dem verbindet, was die Gesellschaft im Innersten bewegt.
Neben der Wirtschaft wird das, wohl unabsehbar, immer auch der Sex sein.

51
Ebd., S. 304.
52
Ebd., S. 303.
53
Ebd., S. 304.
54
Ebd., S. 304.
55
Vgl. Foucault (Fn. 4), S. 61.
56
Kraus (Fn. 3), S. 302.
57
Ebd.
58
Volkmar Sigusch, Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perver-
sion, Frankfurt am Main 2005.
59
Kraus (Fn. 3), S. 304.
60
Ebd.
Prozesse als Bestandteil des Werks von Karl Kraus –
Prozessakten als Quellen zu seinem Wirken
Am Beispiel des Prozesses Pisk gegen Kraus (1929 – 1931)

Von Sigurd Paul Scheichl

Die von Hermann Böhm herausgegebenen Prozessakten der Kanzlei Oskar


Samek1 sind eine wertvolle Ergänzung des Werks von Karl Kraus, sind doch die zahl-
reichen von ihm geführten Prozesse dessen integraler Bestandteil. Wohlgemerkt: die
Prozesse, nicht die Prozessakten. Nicht wenige Verfahren wurden von Kraus gerade-
zu provoziert, um sozusagen aus der Reaktion des/der von ihm satirisch oder pole-
misch Angegriffenen einen Bestandteil der Polemik zu machen, oder, anders ausge-
drückt, die (erwartete) Reaktion des Gegners war von vornherein in die Polemik oder
Satire eingebaut.2
Böhms Edition, die standardisierte Texte zum Teil in Regestenform darbietet und
die abgedruckten Dokumente nicht näher beschreibt, ist nun ergänzt und präzisiert
durch die (vor allem Katharina Prager zu dankende) digitale Veröffentlichung der
Samek-Akten aus der Wien Bibliothek im Rathaus3, die die Formate der Papiere, Vor-
drucke und Briefköpfe, ihren Erhaltungszustand und überhaupt ihre Materialität
sehen lässt, uns dadurch ganz eng an die vergangene Realität heranführt.
Dadurch ist es zum Beispiel möglich zu sehen, dass Kraus an der Formulierung
solcher Schriftstücke unmittelbar beteiligt war. Im Ehrenbeleidigungsprozess, den
der Musikkritiker der Arbeiter-Zeitung, Paul A. Pisk, 1929 gegen ihn anstrengte
(1929 – 1931; B 134; Band 2, S. 372 – 417)4, gibt es zum Beispiel die ,Ausführung
der Berufung des Beschuldigten‘5 (also Kraus’), die als handschriftlich verbessertes
Typoskript im Akt liegt; eine Notiz hält fest, dass die Reinschrift dieses Schriftstücks

1
Hermann Böhm (Hg.), Karl Kraus contra … Die Prozeßakten der Kanzlei Oskar Samek in
der Wiener Stadt- und Landesbibliothek. Band 1: 1922 – 1927. Wien: Wiener Stadt- und
Landesbibliothek 1995; Band 2: 1927 – 1929. Ebenda, 1995; Band 3: 1930 – 1933. Ebenda,
1996; Band 4: 1934 – 1936. Ebenda, 1997. = Publikationen aus der Wiener Stadt- und Lan-
desbibliothek 2.
2
Vgl. zu dieser Strategie Dirk Rose, Polemische Transgression. Karl Kraus zwischen
Schrift und Aktion. In: Studia theodisca 21. 2014. S. 5 – 29.
3
https://www.kraus.wienbibliothek.at/die-rechtsperson.
4
Die in Anm. 1 angegebene Edition wird zitiert mit Jahr; B und Nummer des Aktenstücks;
Band, Seite. In der digitalen Ausgabe findet man sich leicht zurecht.
5
http://www.kraus.wienbibliothek.at/content/paul-amadeus-pisk-ca-karl-kraus.
14 Sigurd Paul Scheichl

im Akt fehlt. Die umfangreichen handschriftlichen Korrekturen, die von Samek oder
einer Sekretärin stammen könnten, erwecken den Eindruck, bei einem gemeinsamen
Durchgehen des Dokuments diktiert worden zu sein, vielleicht von Kraus. Auf jeden
Fall – ich bin nicht die ganze ,Ausführung‘ textkritisch durchgegangen – stehen an
zumindest zwei Stellen Wörter in Kraus’ Handschrift, die von der die Korrekturen
einarbeitenden Person übernommen worden sind. Es handelt sich um das Einfügen
von „wortgetreu“ und den Ersatz von ,vollkommen unwahr‘ durch das stärkere
„handgreiflichste Unwahrheit“ auf Blatt 9 des Dokuments (B 134.47; Band 2,
S. 396 – 409, hier S. 399). Solchen Eingriffen des Satirikers selbst wäre nachzuge-
hen, denn gewiss sind manche dieser in Zusammenhang der Prozesse entstandenen
Texte – nämlich als ganz (z. B. das undatierte Gedächtnisprotokoll 134.10; Band 2,
S. 378 f.) oder teilweise von ihm formuliert – im engsten Sinn Bestandteil des Werks
von Kraus, im weiteren sind sie es ohnehin. Bei dieser ,Ausführung der Berufung‘ ist
denkbar, dass der Satiriker schon am ergänzten Typoskript mitgearbeitet hat, mit sei-
nem Anwalt Samek.
Aber nicht darum soll es hier gehen, zumindest nicht in erster Linie. Es soll viel-
mehr gezeigt werden, wie Texte von Kraus in ein Netz von Texten eingebunden sind.
Das ist bei allen seinen Schriften der Fall, die ja durchwegs verflochten sind mit dem,
was in den Zeitungen steht, mit politischen Aussagen, mit Theaterprogrammen, mit
zeitgenössischer und älterer Literatur und ganz besonders mit dem, was bisher in der
Fackel gestanden ist, wie mit dem, was im aktuellen Heft steht. Bei den juristischen
Texten ist diese Verflechtung besonders augenfällig, weil, den Regeln der Verfahren
vor Gericht folgend, jeder von Kraus oder unter seinem Einfluss formulierte Text un-
mittelbar auf – zum Teil vom Gericht vorgegebene – ,Prätexte‘ reagiert, reagieren
muss, wobei aber das Verfahren seinerseits schon eine Reaktion auf gesprochene
und gedruckte Texte von Kraus ist. Manche Texte aus dem Umfeld von Prozessen
sind ja dann auch in der Fackel erschienen.
Um die Vielfalt der Texte, um dieses Zusammenspiel von gesprochenem (und
nachher gedrucktem) oder geschriebenem Wort des Satirikers, Texten des Gerichts
und der Prozessgegner, Reaktionen Kraus’ darauf, Texten dritter (wie Zeugenaussa-
gen und Zeitungsartikeln), von Kraus mitformulierten Texten seines Anwalts usw.
beispielhaft vorzuführen, bleibe ich beim Pisk-Prozess. Der dank Samek erhaltene
Akt umfasst insgesamt 71 Dokumente, es ist denkbar, dass einige weitere verloren
gegangen sind. Im Akt befinden sich die Privatanklage Pisks vom 15. Juli 1929,
die sich ihrerseits auf Texte bezieht, die der Satiriker in seiner Offenbach-Vorlesung
(Blaubart) am 7. Juni 1929 (V 511)6 zum Vortrag gebracht hatte, Artikel aus Zeitun-
gen, (von beiden Seiten vorgelegte) Zeugenaussagen, Briefe Sameks an (potentielle)
Zeugen und Briefe an Samek, ein Gedächtnisprotokoll von Kraus, Anträge auf La-
6
https://www.kraus.wienbibliothek.at/der-vorleser. Auf dieser Seite sind alle Programme
der Vorlesungen zugänglich, die sich vom Abdruck in der Fackel doch etwas unterscheiden.
Die Nummerierung der Vorlesungen folgt wie üblich: Christian Wagenknecht: Die Vorle-
sungen von Karl Kraus. Ein chronologisches Verzeichnis. In: Kraus-Heft 35/36. 1985. S. 1 –
30.
Prozesse als Bestandteil des Werkes von Karl Kraus 15

dung von Zeugen, Abschriften aus Dialektwörterbüchern zum Wort ,schliefen‘


(wegen des von Kraus verwendeten Schimpfworts ,Schlieferl‘)7, sogar ein Auszug
aus dem Strafregister von Karl Kraus8 usw. Viele dieser Dokumente sind Gerichts-
routine, ausgefüllte Formulare, doch die Gesamtheit gibt – in den Facsimilia im In-
ternet noch mehr als im notwendiger Weise mit Regesten arbeitenden Buch – einen
Einblick in die Komplexität der Auseinandersetzungen Kraus’ mit seinen Gegnern
und in deren immer auch literarischen Charakter.
In Zusammenhang mit der Klage Pisks (aufgrund deren Kraus, endgültig am
21. März 1931, schließlich zu einer empfindlichen Geldstrafe verurteilt worden
ist) sind im Übrigen mindestens sieben weitere Verfahren eingeleitet worden
(B 147, B 148, B 149, B 150, B 152, B 157, B 162; Band 3, S. 79 – 85, S. 87 – 91,
S. 97 f., S. 134 – 137), mit insgesamt 42 weiteren Texten. Die meisten davon betref-
fen die Berichterstattung von Zeitungen über den Prozess.
Unter den von Samek bewahrten Dokumenten befinden sich Briefe von wichtigen
Persönlichkeiten des damaligen kulturellen Lebens, im Fall Pisk beispielsweise von
Hanns Eisler. Es dürfte sich lohnen, die Samek-Akten auch einmal unter diesem As-
pekt durchzusehen. Auf jeden Fall wird durch die Prozessakten das Geflecht, das
Netzwerk sichtbar, in dem Kraus wirkte. Besonders interessant und aufschlussreich
sind die Kontakte in Berlin, die in diesen Verfahren deutlicher fassbar werden als in
der Fackel.
Zurück zum Pisk-Prozess, der insofern atypisch ist, als er nicht von Kraus ange-
strengt worden ist und als ihn dieser durch seine Äußerungen in der Vorlesung vom
7. Juni 1929 wohl auch nicht bewusst provoziert hat, eher in seiner einleitenden Rede
vom 10. Juni (V 513). In Kraus’ Zeitschrift ist von diesem Prozess nur wenig die
Rede, was freilich bei vielen der von Samek geführten Prozesse der Fall ist, von
denen einige in der Fackel überhaupt nicht vorkommen.
Paul Amadeus Pisk (1893 – 1990), Musiker, Komponist und Musikwissenschaft-
ler, hatte unter anderem Kompositionsunterricht bei Arnold Schönberg genossen. In
den 20er Jahren schrieb er Musikkritiken für die Wiener Arbeiter-Zeitung und war
gleichzeitig Wiener Mitarbeiter der rechts stehenden Berliner Börsen-Zeitung. Mit
Kraus hatte er auf jeden Fall 1924 persönlichen Kontakt, als er die musikalische Lei-
tung der von der sozialdemokratischen Kunststelle veranstalteten Aufführung von
Traumtheater und Traumstück innehatte (F 649 – 56, 1924, S. 128).9 Diese Bekannt-
schaft erwähnt Pisk in seiner Privatanklage (B 134.1; Band 2, S. 372), Kraus will ihn
1924 nur „flüchtig gesehen“ haben (B 134.32, ebenda, S. 383); Pisk wendet dagegen
in einer ergänzenden Sachverhaltsdarstellung vom 29. 9. 1930 (B 134.32; Band 2,
7
Leider geht aus dem maschinschriftlichen Zettel B 134.69 (mit wenigen händischen
Korrekturen) nicht hervor, wer in den Wörterbüchern recherchiert hat.
8
Der Strafregisterauszug vom 6. 7. 1930 verzeichnet 6 Verurteilungen aus den Jahren 1901
bis 1904, eine von 1917, durchwegs mit eher geringen Geldstrafen.
9
Kraus’ Zeitschrift Die Fackel wird mit „F“, der Angabe der Nummer und der des Jahres
zitiert.
16 Sigurd Paul Scheichl

S. 390 – 393, hier S. 391 f.) durchaus glaubhaft ein, die Zusammenarbeit zwischen
ihm und Kraus von 1924 sei intensiver gewesen. Es ist jedenfalls nicht auszuschlie-
ßen, dass damals entstandene Vorbehalte bei Kraus oder bei Pisk oder auch bei beiden
Auswirkungen auf die publizistische und dann gerichtliche Auseinandersetzung hat-
ten (vgl. die Anspielung in F 811 – 19, 1929, S. 89).
1929 war Pisk dann das Ziel eines heftigen Angriffs. Kraus’ in den Anfangsjahren
der Republik sehr positives Verhältnis zur österreichischen Sozialdemokratie, das
sogar zu einer gewissen Zusammenarbeit geführt hatte, war in kritische Distanz
und Polemik umgeschlagen; einer von mehreren Gründen dafür war die Kulturpolitik
der Partei, die sich in den Augen Kraus’ zu sehr an bürgerlichen Vorstellungen ori-
entierte.10 Auf den vom Satiriker am 22. September 1928 (V 461) gesprochenen „Re-
chenschaftsbericht“ (F 795 – 99, 1928, S. 1 – 66) reagierte die besonders heftig ange-
griffene Arbeiter-Zeitung mit einem Artikel „Auseinandersetzung mit Karl Kraus“11,
in dem, was für die Ablehnung Pisks durch Kraus vor allem den Ausschlag gibt, die
der Arbeiter-Zeitung von Kraus vorgeworfene Zurückhaltung gegenüber seinen Of-
fenbach-Vorlesungen damit gerechtfertigt wird, dass man „diese Kunst aus dem
Geiste des dritten Kaiserreiches [für] verklungen und vertan“ halte.12 (Die Ausführ-
lichkeit dieses vom Chefredakteur – der freilich Kraus persönlich nahe stand – ver-
fassten Beitrags zeigt, dass das Verhältnis zu dem Satiriker für die Partei und ihr Zen-
tralorgan von großer Wichtigkeit gewesen ist.)
Dieses „verklungen und vertan“ empfand Kraus als besonders empörende Absage
an seine Bemühungen um eine Rettung der Theatertradition gegen das kommerzia-
lisierte Musiktheater seiner Zeit. Wohl auch aufgrund von Insiderwissen über die Ar-
beiter-Zeitung verband er dieses ablehnende Urteil über Offenbach mit deren Musik-
kritiker Pisk. Die erste Reaktion auf den Artikel der Arbeiter-Zeitung steht auf dem
Programm zu V 484 (17. Februar 1929), nimmt allerdings – durch Abdruck einer Be-
richtigung der Roten Hilfe (F 806 – 809, 1929, S. 16 – 22) – auf ein anderes Thema der
Auseinandersetzung Bezug. „Verklungen und vertan“ kommt einen Tag später, am
18. Februar 1929 (Die Briganten, V 485), dann aber fast leitmotivisch auf den Vor-
lesungsprogrammen vor, in einer Zeit, in der Kraus besonders viele Offenbach-Vor-
lesungen hielt; auf den Programmen von V 507 (3. Juni 1929) und V 510 (6. Juni)
wird der betreffende Absatz aus der „Auseinandersetzung“ wörtlich zitiert, hervor-
gehoben durch Sperrdruck. Am 7. Juni (V 511) fügte Kraus in den Blaubart eine
Zeitstrophe ein, die mit dem Zitat „verklungen und vertan“ spielt und vor der er
eine Figur der Operette von einem „Schlieferl“ im Saal und von der sozialdemokra-
tischen Zeitung sprechen lässt (gedruckt in F 811-19, 1929, S. 83).

10
Einen Überblick über Kraus’ Verhältnis zur Sozialdemokratie bietet Alfred Pfabigan,
Karl Kraus und der Sozialismus. Wien: Europa 1976.
11
F. A. [Friedrich Austerlitz]: Auseinandersetzung mit Karl Kraus. In: Arbeiter-Zeitung
23. 12. 1928, S. 7 – 9; 25. 12. 1928, S. 5 – 8.
12
Ebenda, 23. 12. 1928, S. 7.
Prozesse als Bestandteil des Werkes von Karl Kraus 17

In F 811-19 (August 1929) wird der Offenbach-Zyklus in Erinnerung gerufen, wie


üblich durch Nachdruck der Programme, einschließlich des Zitats aus der Arbeiter-
Zeitung. „Verklungen und vertan“ steht hier auch in einer Zeitstrophe, zur Prinzessin
von Trapezunt (F 811-19, S. 68). Am 9. Juni erschien in der Arbeiter-Zeitung der
Kraus-kritische Artikel „Vorgelesene Operetten“ von Pisk, auf den der Angegriffene
am 10. Juni in V 513 (Fortunios Lied und Die Insel Tulipatan) mit der offenbar sehr
schnell geschriebenen kurzen Ansprache „Bekenntnis zum Tage“ reagierte („Ver-
klungen und vertan“, F 811-19, 1929, S. 75 – 93); dort ist Pisks Artikel nachgedruckt.
Kraus’ Text ist ein vernichtender Angriff auf die sozialdemokratische Zeitung und
den Verrat des in ihr überhand nehmenden „Schlieferl- und Tinterltums“ (S. 76)
an den linken Idealen, viel mehr als eine Polemik gegen ihren Musikkritiker und des-
sen „kümmerliches Fachwissen“ (S. 79).
In diesem Vorspruch zur Vorlesung wird Pisk zunächst (bis S. 85) nicht genannt;
doch ist ziemlich (S. 83 f.) klar, dass mit dem häufig gebrauchten Wort „Schlieferl“13
niemand anderer als er gemeint ist. Am Ende des ersten Teils dieses „Bekenntnisses
zum Tage“ (S. 83 f.) steht die Aufforderung Kraus’, ihn zu klagen: er werde auch eine
allfällige „Niederlage vor der bürgerlichen Justiz“ (S. 84) nicht verschweigen. Es fol-
gen der Abdruck von Pisks erwähntem Referat aus der Arbeiter-Zeitung und eine
scharfe Polemik gegen den nun genannten Rezensenten, dem er unterstellt „Rache
als Fachwissen zu verkleiden“ (S. 88). Kraus schließt mit einem aus Anlass von
Pisks Kritik geschriebenen Brief von Eduard Steuermann, dem wichtigsten Pianisten
des Schönberg-Kreises, der die musikalischen Wirkungen von Kraus’ Offenbach-
Vorlesungen rühmt (S. 91 – 93).14 Dem Heft ist ein Beiblatt angefügt, in dem steht,
„der Fachmann“ habe nach der Drucklegung der Fackel-Nummer beim Bezirksge-
richt die Klage gegen Kraus eingebracht.
Diese Vorinformationen zum Prozess sind notwendig. Einmal zeigen sie, dass den
Gerichtsakten viele (zum Teil vor dem Druck gesprochene) Texte Kraus’ und einige
aus der Arbeiter-Zeitung vorangehen, die alle in der Fackel gedruckt bzw. nachge-
druckt worden sind. Wichtiger noch ist der Kontext, in den diese Texte den Prozess
stellen: Es geht einerseits um das Eintreten Kraus’ für die literarische und für die
Theatertradition, um sein Bemühen, Offenbach (und nicht nur ihn) für den Kanon
zu retten oder wiederzugewinnen; es geht andererseits um den sich verschärfenden
Gegensatz zwischen der Sozialdemokratie und Kraus. Dass dieser der Partei Versa-
gen gegenüber dem Bürgertum und Verbürgerlichung, ihrem Zentralorgan die An-
passung an die bürgerliche Kommerzpresse, insbesondere die Förderung der zeitge-
nössischen Kitsch-Operette vorwarf, umgekehrt die Zeitung sich gegen diese Vor-
13
Werner Welzig (Hg.), Schimpfwörterbuch zu der von Karl Kraus 1899 bis 1936 heraus-
gegebenen Zeitschrift Die Fackel. 3 Bände. Wien: Akademie 2008 ist für das Wort ,Schlieferl‘
nicht ergiebig. Der Erstbeleg für das Wort in F 208, 1906, S. 10, ist ein Zitat (fiktiver?)
mündlicher Rede, der zweite Beleg steht in F 400 – 403, 1914, S. 55. Möglicherweise ist es ein
eher neues Schimpfwort; bei Nestroy scheint es nicht belegt zu sein.
14
Die Pisk-Satire „Die Wohnbaukantate“ (F 820 – 26, 1929, S. 57 – 64) und einige spätere
Seitenhiebe auf den Rezensenten bleiben hier außer Betracht.
18 Sigurd Paul Scheichl

würfe wehrte, stellt den Prozess in einen politischen und kulturpolitischen Rahmen,
der ihn weit über die persönliche Beleidigung Pisks durch das Wort ,Schlieferl‘ hin-
aushebt. Der Musikkritiker hat vermutlich im Einvernehmen mit sozialdemokrati-
schen Politikern gegen Kraus geschrieben und dann Kraus geklagt.
Der erste Text im Akt ist die von Pisk und/oder seinem Anwalt verfasste Privat-
anklage vom 15. Juli 1929 (B 134.1; Band 2, S. 372 – 374), auf die Kraus in der Pisk-
Satire „Die Wohnbaukantate“ (F 820 – 26, 1929, S. 57 – 64) mehrfach anspielt, die
also wiederum in einen literarischen Text eingeht. Sie bezieht sich auf die Offen-
bach-Vorlesungen vom 7. und vom 10. Juni und besteht vor allem auf dem beleidi-
genden Gebrauch des Worts ,Schlieferl‘. Pisk erklärt abschließend entschieden, dass
er nicht bereit sei an einer „Sühneverhandlung beim Gemeindevermittlungsamt“ teil-
zunehmen, legt also Wert auf das Stattfinden eines öffentlichen Prozesses, was wohl
ebenfalls für politische Absichten spricht.
Es folgen Zeugenaussagen von Freunden Pisks (B 134.3 – 134.5; Band 2, S. 372 –
374. B 162; Band 3, S. 134 – 137). An denen ist dreierlei interessant. Dass in Kraus-
Vorlesungen mitgeschrieben, ja mitstenografiert worden ist, wenn auch in diesem
Fall wohl auf Bitte einer Person, war bisher kaum bekannt. Dass solche Mitschriften
dem Kläger sofort zur Verfügung standen, lässt den Schluss zu, dass Pisk, vielleicht
auf Grund von Gerüchten, mit Angriffen gerechnet und von vornherein an einen Pro-
zess gegen Kraus gedacht hat. Dafür spricht auch, dass die jahrelang als Stenografin
tätige und daher besonders glaubwürdige Herta Gropper (1931; B 162.1; Band 3,
S. 134) anwesend war und als Zeugin aussagte. Die Abweichungen der Zeugenaus-
sagen15 von Kraus’ gesprochenem Text sind vor allem deshalb interessant, weil sie
zeigen, wie sehr man beim Hören wahrnimmt, was zu hören man erwartet. Das ver-
dient über den spezifischen Prozess hinaus Aufmerksamkeit. Für die Verurteilung
Kraus’ sollte es schließlich den Ausschlag geben, dass er mit der Erklärung, seine
Äußerungen seien nie improvisiert, sondern stimmten immer mit seinen Manuskrip-
ten und den gedruckten Texten überein, vor Gericht keinen Glauben fand.
Im Akt Sameks finden sich dann Briefe an und von Personen, von denen man sich
entweder Urteile über Kraus’ Offenbach-Vorlesungen erwartete oder Informationen
über Pisk und speziell über dessen Schreiben für das rechtsbürgerliche Berliner Blatt,
sollte diese Tätigkeit für Berlin im Schriftsatz des Verteidigers (1930; B 134.22;
Band 2, S. 381 – 388, hier S. 387 f.) doch ein wichtiges Argument für die Berechti-
gung der Bezeichnung ,Schlieferl‘ werden, dass Pisk zugleich in Wien in einem lin-
ken und in Berlin in einem rechten Blatt publizierte sowie seine Berichterstattung
dem Ort der Veröffentlichung anpasste; wichtige Informationen dazu verdankte
Samek einem Brief von Herbert Mildner (1930; B 134.12; Band 2, S. 379 f.).
Auch Kraus selbst stellte mehr oder minder kriminalistische Recherchen zu Pisk
und seinen Besprechungen an und ließ Samek durch den Verlag ein von ihm verfass-
tes „Gedächtnisprotokoll“ (134.10; Band 2, S. 378 f.) zugehen, in dem Rezensionen

15
Diese sind nur in Kraus-online zugänglich.
Prozesse als Bestandteil des Werkes von Karl Kraus 19

Pisks zu aktuellen Operettenpremieren zum „Beweis des Schlieferltums“ (S. 379)


miteinander verglichen werden; der Anwalt hat diese Mitteilung in seinem Schrift-
satz jedoch nicht verwertet. Abgesehen von der genauen Beobachtung des Wirkens
von Pisk verdient der Text, dem eine geradezu journalistische, freilich genaue und auf
sprachliche Fragen achtende Recherche vorausgegangen ist, aus einem ganz anderen
Grund Interesse: Es ist ein Gebrauchstext, der auf jede Stilisierung verzichtet, ob-
wohl z. B. die Entgegensetzung im vorletzten Satz durchaus Fackel-würdig wäre.
Da heißt es aber auch „der Pisk“ und „wäre Hinweis auf das Beiliegende wichtig“
– hier spielt das amtliche Umfeld hinein –, Formulierungen, die in der Zeitschrift
so unvorstellbar wären wie der fehlende Beistrich. Solche Alltagstexte von Kraus
haben wir nur wenige. Ein Blick auf sie ist aufschlussreich für seine Arbeitsweise,
für die Stilisierung der Fackel.
Die die Formalien des Verfahrens betreffenden Dokumente berühren den Leser
der Samek-Akten aus anderen Gründen: Sie zeigen Kraus als Menschen, der in
den Alltag eingebunden ist und den man über dem stilisierten satirischen Ich der Fa-
ckel zu vergessen droht. In dem Protokoll seiner Zeugeneinvernahme in der Ange-
legenheit der Zeugin Gropper (1932; B 162.4; Band 3, S. 135) – mit zahlreichen
wohl von Kraus stammenden handschriftlichen Korrekturen16 – tritt der Staatsbürger
vor Gericht in Erscheinung; die Ladung, Dokumente bei Gericht persönlich abzuho-
len (B 162.9; Band 3, S. 136), führt uns in den Alltag von Karl Kraus, der eben auch
solche Dinge zu erledigen hatte.
Für den Prozess ist gewiss der Schriftsatz der Verteidigung zur Vorbereitung der
Hauptverhandlung einer der wichtigsten Texte; schwer vorstellbar, dass Kraus an
dessen Ausarbeitung nicht beteiligt gewesen sein sollte (1930; B 134.22; Band 2,
S. 381 – 388). Der Satz „und erfuhr er sie erst aus der Behauptung des Referats“
(S. 382) dürfte freilich vom Anwalt allein stammen. Wichtig ist gleich am Beginn
die pauschale Zurückweisung der von Pisk benannten Zeugen:
Da Herr Karl Kraus niemals frei spricht sondern immer vorliest, ist der Abdruck die einzige
verlässliche Wiedergabe dessen, was bei dem Vortrag vorgefallen ist. Über die wörtliche
Kongruenz des tatsächlich Gesprochenen und des später Gedruckten gibt es keinen Zweifel.
(1930; B 134.22; Band 2, S. 381)

Die Richter haben daran offenbar gezweifelt, was man aufgrund der Lebenserfah-
rung sogar verstehen kann.17 Die völlige Übereinstimmung von gelesenem und ge-
drucktem Wort ist in diesem Prozess ein sehr wichtiges Thema; aber sie ist für Kraus
weit über den Fall Pisk hinaus18 zentral, einerseits wohl aus juristischen Gründen, vor

16
Das Protokoll und die Korrekturen sind nur in Kraus-online zugänglich.
17
Vgl. Kraus’ Aussage im Prozess gegen die Zeugin Herta Gropper, in der er sein Ver-
halten als Vortragender genau beschreibt (1932; B 162.4; Band 3, S. 135 bzw. Kraus-online) –
eine wichtige Quelle zu seinen Vorlesungen.
18
Man vgl. „Vor neunhundert Zeugen“ (F 706 – 711, 1925, S. 101 – 120, gesprochen am
14. November 1925), ein Text gegen Békessy.
20 Sigurd Paul Scheichl

allem aber aufgrund seiner Sprachauffassung, die nichts dem Zufall des Mündlichen
überlassen wollte.
Die Widerlegung von Argumenten in Pisks Privatanklage ist juristisch interessant,
aber weniger gewichtig. Hingegen ist sicher die folgende, höchstwahrscheinlich im
Einvernehmen mit Kraus folgende Erklärung zentral für das Denken des Satirikers:
[…] weil damals Herrn Karl Kraus lediglich bekannt war, dass „ein Schlieferl“ an einer Zu-
satzstrophe Anstoss genommen habe, als welches ihm überhaupt keine konkrete Person,
sondern nur der Vertreter des journalistischen Typus gegenwärtig war. Nichts liegt dem Be-
schuldigten ferner als die bekannte Methode einer Verteidigung, man habe den Kläger „nicht
gemeint“. Gemeint ist jeder, der zum Typus gehört und sich als Vertreter vorstellt; aber nicht
jeder ist das polemische Objekt, dessen Erkennbarkeit auch die juristische Voraussetzung
herstellt. (S. 383)

Selbst für den Nicht-Juristen ist einsichtig, dass diese Differenzierung zwischen
Typ und Individuum für einen Richter schwer in ein Urteil umsetzbar ist, zumal das
Individuum Pisk doch recht eindeutig als Repräsentant des Typus vorgeführt wird.
Auf die weitere Argumentation Sameks im Sinne eines Wahrheitsbeweises gehe
ich hier nicht ein; nur ein Zitat soll zeigen, wie sehr in diesen Akten Grundsätzliches
über Kraus zur Sprache kommt. In den Passagen über die Kritik an der Arbeiter-Zei-
tung heißt es ausdrücklich: „Herr Karl Kraus, der dem Sozialismus gefühlsmässig
nahesteht […].“ (1930; B 134.22; Band 2, S. 385) Samek stellt die ,Schlieferl‘-Be-
merkungen in das Umfeld der Polemiken gegen das sozialdemokratische Blatt; Pisks
Abwertung der Kraus’schen Offenbach-Pflege sei in Wahrheit keine irgendwie fun-
dierte Musikkritik, sondern ein aus „Liebedienerei für die Redaktion und für die Par-
tei“ (S. 387), also eben ,schlieferlhaft‘ geschriebener indirekter Angriff auf den Kri-
tiker der Partei.
Der nächste Text mit wichtigen Aussagen zu Kraus ist die „Ausführung der Be-
rufung“ (1931; B 134.47; Band 2, S. 396 – 409), an der, wie oben ausgeführt, Kraus
nachweislich beteiligt war. Wieder wird die Identität von geschriebenem und gespro-
chenem Wort betont. Die daran anschließenden langen Ausführungen über die Wi-
dersprüche in den Angaben der von Pisk benannten Zeugen brauchen hier nicht er-
örtert werden. Über weite Strecken greift dieser Schriftsatz die aus der Fackel be-
kannten Positionen Kraus’ in der Auseinandersetzung mit der österreichischen So-
zialdemokratie auf; von Grundsätzlichem ist hier weniger die Rede. Freilich
zeigen die Parallelen zwischen Sameks Ausführungen und der Fackel neuerlich,
wie eng bei Kraus die Inhalte seiner öffentlichen Aussagen und die von ihm geführten
oder (wie im Fall Pisk) provozierten Prozesse zusammenhängen.
Dass Kraus in diesem Prozess verurteilt und seine Berufung abgewiesen worden
ist, sei der Vollständigkeit halber noch einmal gesagt. Einer juristischen Bewertung
des Urteils muss ich mich selbstverständlich enthalten. In seiner Zeitschrift kommt,
abgesehen von den Anspielungen auf die Privatanklage in der „Wohnbaukantate“
(F 820 – 826, 1929, S. 57 – 64), der Prozess nur in Andeutungen vor: In F 834 –
837, 1930, S. 17 f., ist die Rede von der Vorladung zu einem Gerichtstermin in der
Prozesse als Bestandteil des Werkes von Karl Kraus 21

causa Pisk, in F 847 – 851, 1931, S. 43, wird eher nebenbei die Verurteilung in erster
Instanz erwähnt; auf den Journalisten wird nur angespielt, sein Name nicht genannt.
Die zu erwartende Polemik gegen die Sozialdemokratie, die die bürgerliche Justiz
gegen den Revolutionär Kraus bemüht, bleibt aus. Vielleicht weniger wegen der Nie-
derlage des Satirikers in beiden Instanzen als wegen des großen zeitlichen Abstands
zwischen den angezeigten Vorfällen und dem endgültigen Urteil.
Auch in der gewichtigsten Erinnerung an diesen Prozess, immerhin in einem so
bedeutenden Text wie „Hüben und drüben“ (F 876 – 884, 1932, S. 1 – 31), wird, Aus-
druck der Verachtung, Pisk nicht namentlich genannt. Hier kommt es einerseits im
Sinne dieser Abwehr gegen die deutschnationalen Tendenzen der österreichischen
Sozialdemokratie auf die Mitarbeit Pisks sowohl an der Arbeiter-Zeitung als auch
an der Berliner Börsen-Zeitung an; andererseits unterstreicht Kraus auch in dieser
politischen Ansprache erneut eines der wichtigsten Themen im Ehrenbeleidigungs-
prozess: die vollkommene Identität des gesprochenen mit dem im Nachhinein ge-
druckten Wort.
Mir ist es hier darauf angekommen, am Beispiel dieses Prozesses auf die knappen
grundsätzlichen Aussagen hinzuweisen, zu denen der Kontext eines Prozesses Kraus
veranlasst hat, auch wenn die entsprechenden Schriftsätze von seinem Anwalt Samek
unterschrieben sind. Eine Auswertung der gesamten Akten unter diesem Gesichts-
punkt wird sich lohnen.
Diese Dokumente machen auch Details des Wirkens von Kraus sichtbar, die der
Fackel nicht entnommen werden können oder in ihr untergehen. Einmal ist den Tex-
ten eine gewisse Freude an der rechtlichen Auseinandersetzung zu entnehmen, die
gewiss nicht nur die des ,verbündeten‘ Anwalts ist. Auch Details werden erkennbar,
so die im Zusammenhang mit den Zeugenaussagen mehrfach erwähnte völlige Ver-
dunklung des Saals während der Vorlesung (z. B. Band 2, S. 382). Von großem Inter-
esse ist die Liste der Zeugen, deren Ladung von Kraus vorgeschlagen wird (1930;
B 134.31; Band 2, S. 389): Sie bietet einen Einblick in das Umfeld Kraus’, in den
Kreis der dem Vorlesenden bekannten regelmäßigen Besucher seiner Veranstaltun-
gen. Bemerkenswert für die Vielfalt der polemischen Verfahren von Kraus ist das
Auflegen von „vielfachen Exemplaren“ der Nummer der Arbeiter-Zeitung mit
Pisks Kritik in der Vorlesung vom 10. Juni (1930; B 134.32; Band 2, S. 391). Ähn-
liche Ergänzungen unseres Wissens über Kraus sind auch aufgrund der Materialien
zu anderen Verfahren möglich.

Die komplizierte theoretische Frage nach dem Status der Prozess-Texte kann ich
hier nur andeuten: Wenn Kraus einen – nicht redigierten – Prozesstext in die Fackel
aufnimmt, dann macht er ihn durch den Ort der Veröffentlichung zu einem literari-
schen Text. Die Samek-Akten sind aber größtenteils unveröffentlicht geblieben; sie
gehören zwar zur satirischen Arbeit, ihr Status ist aber wohl doch ein anderer als jener
der veröffentlichten Prozesstexte (wie im Fall Kerr), ganz unabhängig davon, ob
Kraus an ihrer Formulierung beteiligt war oder nicht. Das gilt etwa auch für das „Ge-
dächtnisprotokoll“ (134.10; Band 2, S. 378 f.), das von Kraus stammt, aber von ihm
22 Sigurd Paul Scheichl

offensichtlich nicht als literarischer Text geformt worden ist. Dass es gerade deshalb
Aufmerksamkeit verdient, habe ich oben zu begründen versucht.

Eine Nachbemerkung: Zum Werk von Kraus gehören selbstverständlich nicht nur
jene Prozesse, deren Akten dank Oskar Samek erhalten geblieben oder die in der Fa-
ckel dokumentiert worden sind, sondern auch eine vermutlich nicht ganz geringe
Zahl von Verfahren, die von Kraus vor 1922 angestrengt wurden oder in die er ver-
wickelt war.19 Von einigen geht in der Fackel die Rede, die dort nicht dokumentierten
haben wohl keine Spur hinterlassen, die Akten sind längst skartiert; dass die Justiz
auf die Literaturgeschichte keine Rücksicht nimmt, wird man ihr schwerlich zum
Vorwurf machen können. Uns bleibt nur die Vermutung, dass Kraus öfter, als wir wis-
sen, nicht nur als Satiriker, sondern auch mit Hilfe der Gerichte versucht hat, die Welt
in Ordnung zu bringen.

19
Vgl. https://www.kraus.wienbibliothek.at/die-rechtsperson/fruehe-prozesse.
Das Vergleichen als eigenartige
intellektuelle Tätigkeit betrachtet
Ein Gespräch

Von Jan Philipp Reemtsma

A: Worüber wollen wir heute reden? Schlagen wir die Zeitung aufs Geratewohl
auf … wir lesen, daß die nigerianische Kunsthistorikerin Peju Layiwola zum Thema
afrikanische Kunstwerke in europäischen Museen gesagt oder geschrieben hat …
B: Kolonialistische Raubkunst …
A: Das Feld ist für heute zu weit. Ich meine nicht, was sie zum Thema gesagt hat,
sondern wie sie es gesagt hat. So: „Was gestohlen wurde, muß zurückgegeben wer-
den. Es ist, als gehöre mir ein Auto, aber ein anderer fährt es.“1 Unsere Frage für
heute: ist das ein triftiges Argument …
B: Fragen, nämlich zweitens: ist das ein triftiger Vergleich?
A: Und wenn der Vergleich nicht triftig ist, was ist dann mit dem Argument, das
doch etwa heißen soll: wer etwas gestohlen hat, kann doch nicht damit machen, was
er will, bloß weil er es jetzt in seiner Verfügungsgewalt hat.
B: Und wenn wir zustimmen, können wir fragen, was der Vergleich soll. Macht er
das Argument einsichtiger? Beschädigt er es, wenn er, wie man so sagt: hinkt?
A: Ja, darüber wollen wir heute reden – vielleicht lassen wir Layiwola erstmal.
Erinnern Sie sich an Ulrich Wickert?
B: Klar, wieso?
A: Na, der trat als Frankreich-Kenner auf und sagte, vom Brie esse man ebenso-
wenig die Rinde, wie man von der Banane die Schale esse.
B: Erinnert mich an Asterix, der Obelix mahnt, er solle es mit den Austern machen
wie mit den Walnüssen: ohne Schale essen, und Obelix antwortet, er mache es mit
den Walnüssen wie mit den Austern, er esse sie mit Schale.
A: Vergleich akzeptiert, Argument nicht – können wir es so zusammenfassen?
Wenn wir das Argument nicht akzeptieren und den Vergleich nicht, könnten wir

1
Zitiert aus Jörg Häntzschel, Dieb in Deutschland, Süddeutsche Zeitung Nr. 271, 24./
25. 11. 2018, S. 17.
24 Jan Philipp Reemtsma

einem imaginären Wickert antworten: Wieso Banane? Das ist doch was ganz ande-
res!
B: Bananenschalen kann man nicht essen …
A: Schimpansen können das, glaube ich …
A: Nein, auch nicht, tun das jedenfalls nicht, Elefanten müßten Sie sagen.
B: Meinethalben: Elefanten also, wir jedenfalls nicht …
A: Mögen nicht, können vielleicht …
B: Spielt doch keine Rolle. Bananenschalen ißt man nicht, die Rinde vom Ca-
membert …
A: … ißt man auch nicht, würde Ulrich Wickert sagen.
B: Darum geht doch der Streit – wenn man sich um sowas streitet …
A: Tut man eben, wenn einer in den Ring springt. Eben Wickert. Er will den Deut-
schen beibringen, wie man ißt wie ein Franzose, kultivierter eben, und also sagt er:
Man solle die Rinde vom Camembert ebensowenig essen wie die Schale der Banane.
Thou shalt not!
B: In Thomas Manns Moses-Erzählung: „Wer wird denn die Blindschleiche essen
und den Molch!“
A: „Wer wird denn bei seiner Tante liegen!“, gewiß, aber das geht doch – ich
meine argumentativ – anders. Wenn wir Wickert mit einem Mosaischen Speise-
(und sonstigen) Gebot vergleichen, vergleichen wir eine einzuführende Norm mit
einer anderen, und die Einführung wird mit einem Pathosverstärker versehen.
Manns Moses sagt: „Das ist ein Greuel vor dem Herrn!“, aber er sagt nicht, den
Molch zu essen sei etwas wie …
B: Doch, die Blindschleiche essen.
A: Nein – hier kommt etwas durcheinander. Man soll weder Molch noch Blind-
schleiche essen, weil sie (zu essen) vor dem Herrn ein Greuel ist – das gilt für
beide …
B: Und insofern sind sie einander ähnlich –
A: Kann man das so sagen? Die Norm „Du sollst das nicht essen!“ gilt für beide.
Das schon, aber es gilt nicht, weil Molch und Schleiche einander ähnlich wären, ich
meine außerhalb der Ähnlichkeitsbeziehung, die durch die, Sartre würde sagen: Se-
rialität, die durch die Norm hergestellt wird. Wickert nun stellt keine Speisevorschrift
auf, die eine solche Serie zur Folge hätte à la: „Ich sage euch, ihr sollt meiden die
Rinde vom Camembert, die Schale von der Banane, die …“ und so weiter – das
ist doch ein Unterschied. Darüber die Norm, darunter die Serie – die Verbindung
ist, wenn man so will, vertikal.
B: Stiftet eine solche vertikale Beziehung eine horizontale – denn „Ähnlichkeit“
scheint mir eine horizontale zu sein – ?
Das Vergleichen als eigenartige intellektuelle Tätigkeit betrachtet 25

A: Ja, tut es. Wenn du zu der normkreierten Speisegemeinschaft gehörst, kannst


du sagen: Igitt, du ißt eine Schleiche? Einen Molch ißt du doch auch nicht!
B: Aber du sagst nicht „weil“. Das ist der Unterschied. Du ißt die Schleiche und
den Molch nicht, weil beide verboten sind, die Schleiche ist nicht verboten, weil der
Molch verboten ist und beide einander in anderer Hinsicht ähnlich sind und also das
Verbot des einen plausiblerweise auf das der anderen übertragen wird. Wie das Wi-
ckert mit seinem Camembert/Banane-Vergleich macht.
A: Was machte man, wenn man widersprechen wollte? Im einen Fall sagte man
vielleicht nur: „Ach ja, ist die Schleiche auch verboten?“ und die Antwort könnte
lauten: „Aber gewiß doch, frag Moses.“ Im anderen Fall etwa so: „Ich esse die
Rinde beim Camembert immer mit!“ „Ja, das ist ebenso unkultiviert, als wenn du
die Schale der Banane mitäßest.“ „Aber das ist doch etwas ganz anderes!“ „Ist es
nicht!“ Und das Spiel ist aus, will sagen: da kommen beide nicht weiter. Wickert be-
gründet seine Speisenorm mit einem Vergleich, und wenn man den nicht akzeptiert,
dann akzeptiert man die Norm nicht.
B: Wieso? Man könnte doch sagen: „Vielen Dank für die Belehrung, ich will mich
in einem Pariser Restaurant ja nicht blamieren, aber Ihr Vergleich mit der Banane ist
doch Quatsch!“
A: Ja, also übertragen wir’s: Klar müssen wir koloniale Raubkunst zurückgeben,
aber der Vergleich mit dem geklauten Auto …
B: Wieso denn? Wir müssen nur erkennen, wo die Pointe des Vergleichs liegt. Es
geht doch nicht um Kunst-gleich-Auto, sondern um die Frage nach der Unverschämt-
heit einer Präsentation …
A: Kann sein, aber müßten wir nicht erst einmal ein wenig grundsätzlich-abstrak-
ter vorgehen? Was heißt eigentlich „ähnlich“?
B: „AäX“ – Sie meinen, was da …
A. Was „gleich“ bedeutet, ergibt sich aus „A=A“ und aus „A=B -> B=A“ und
aus „A=B u B=C -> A=C“: interessant, daß das alles für „ähnlich“ nicht gilt.
B: Wieso nicht? Für „ähnlich“ gilt doch wohl „AäB u BäC -> AäC“. Wie denn
nicht?
A: Wenn Sie eine Serie einander ähnlicher Gesichter hintereinander zeigen, ist
jedes Gesicht dem folgenden ähnlich (das macht ja die „Serie“ aus), und nun ist
das erste und letzte der Reihe kaum mehr „ähnlich“ zu nennen – diese Überraschung
ist ja die Pointe solcher Spiele.
B: Nur ähnlich dem folgenden? Doch wohl auch dem davor, denn „AäB -> BäA“.
A: In der Reihe schon, aber wenn Sie sagen, XY sehe mit seiner Haarmähne aus
wie ein Löwe, werden Sie doch nicht sagen, wenn Sie einen Löwen sehen, der sehe
aus wie XY.
B: Unter Umständen …
26 Jan Philipp Reemtsma

A: Mag sein, mag sein, aber dann gehen Sie mit „ähnlich“ anders um. Wenn Sie als
Tertium nur die „Mähne“ meinen, geht die Umkehrung nicht. Übrigens ist auch
nichts sich selber ähnlich.
B: Normalerweise wird Ähnlichkeit aber durchaus durch Reflexivität, Symme-
trie, Transitivität bestimmt. Na, jedenfalls habe ich das mal entschieden behauptet
gelesen.
A: Dabei kommt aber nur Unsinn heraus. Siehe Scholastik: der Mensch ist Gott
ähnlich, aber doch nicht Gott dem Menschen!
B: Wieso eigentlich nicht?: eritis sicut deus scientes bonum et malum – wenn das
stimmt, müßte man auch sagen können, Gott sei in dieser Hinsicht dem Menschen
ähnlich.
A: Müßte man? Also wenn ich mich auf dieses Denken einließe, so würde ich
doch sagen: wohl ähnelt der Mensch in seinem Wissen um Gut und Böse Gott,
aber Gottes Wissen von Gut und Böse ist von so anderer, umgreifenderer Art, daß
zu sagen, Gott ähnele dem Menschen in dieser Hinsicht, die Gottesidee vollkommen
verfehlte.
B: Ich nehme das mal hin, denn in diesen Gedankenwegen wollen wir uns nicht
verirren. Halten wir fest: „ähnlich“ läßt sich wahrscheinlich nicht regelhaft forma-
lisieren. Nun gut. Trotzdem kann man „ähnlich“ doch so terminologisch eingrenzen,
daß wir bestimmen können, was wir als Basis für einen Vergleich verwenden können.
Wann ist ein Etwas etwas anderem ähnlich und in welcher Hinsicht kann ich es
also …
A: … vergleichen –? Klingt sonderbar, nicht wahr? Sie vergleichen A mit B nicht,
weil A B ähnlich ist, sondern indem Sie vergleichen, machen Sie auf eine Ähnlichkeit
aufmerksam.
B: Aber wie soll ich einen Vergleich kritisieren, wenn ich sein Fundament, die
Ähnlichkeitsbeziehung, nicht kritisieren kann? Man sagt doch: „Das kann man
nicht vergleichen!“
A: Und man weiß doch, daß das nichts weiter heißt als: „Ich akzeptiere diesen
Vergleich in der-und-der Hinsicht nicht!“ So, wie „Es kann nicht sein, daß …“,
was jeder Politiker, der etwas auf sich hält, sagt, nur heißt: „Das sollte meiner Mei-
nung nach so nicht sein.“ Die Leute dekretieren eben gern, das ist alles. So, wie der
Zoo-Besucher im Witz, der zum ersten Mal eine Giraffe sieht und sagt: „So ein Tier
gibt es nicht!“
B: Aber was heißt: auf eine Ähnlichkeit aufmerksam machen? – Und: wozu?
(Aber zunächst das eine.)
Das Vergleichen als eigenartige intellektuelle Tätigkeit betrachtet 27

A: Wir müssen wohl Searle zitieren – und dann diesbezüglich resignieren: „Ähn-
lichkeit ist ein nichtssagendes Prädikat. Zwei beliebige Dinge ähneln einander in der
einen oder andren Hinsicht.“2
B: Und „auf eine Ähnlichkeit aufmerksam machen“ – heißt dann was?
A: Wenn etwas an sich nichtssagend ist, ist das Operieren mit ihm nicht notwen-
digerweise nichtssagend. Ich kann von allem behaupten, daß es in der einen oder an-
dren Weise einem anderen ähnlich sei, aber hier und jetzt behaupte – nun, genauge-
nommen behaupte ich es ja nicht, weil niemand diese Behauptung auch nur bestreiten
kann – ich weise, so sagten wir ja eben, darauf hin: „Achten Sie mal hierauf, und
dann …“
B: Und dann?
A: Dann führe ich das eben aus. Kommt drauf an.
B „Wirkliche Privatsphäre im Netz ist etwa so selten wie ein Einhorn im zoolo-
gischen Garten.“3 Schreibt ein Leserbriefschreiber im „Spiegel“. Was will er uns
damit sagen?
A: Daß wirkliche Privatsphäre im Netz so selten ist wie ein Einhorn im Zoo – die
gibt es nämlich ebensowenig wie ein Einhorn im Zoo. So etwa.
B: Schon-schon, aber was will er uns damit sagen, daß er es uns so sagt? Warum
sagt/schreibt er nicht „Privatsphäre im Netz gibt es nicht!“ – Na, vielleicht nimmt er
eine Art Halbeinwand vorweg à la „Wirklich nicht, meinst du?“ und- „Na, glaub mir
mal – so wenig wie ein Einhorn im zoologischen Garten!“
A: Wieso eigentlich: „Im zoologischen Garten“?
B: Klingt mehr nach spöttischen Mundwinkeln als „im Zoo“.
A: Meinetwegen, aber „ebensowenig wie ein Einhorn“ reichte doch.
B: Stimmt. Klänge aber anders.
A: Wo geraten wir hin? Ist das eine Art Steigerung (wovon auch immer): gibt es
nicht – gibt es ebensowenig wie ein Einhorn – gibt es ebensowenig wie ein Einhorn
im Zoo – gibt es ebensowenig wie ein Einhorn im zoologischen Garten –? Nehmen
wir es als solche: was würde „gesteigert“?
B: Was ich eben mit „spöttischen Mundwinkeln“ meinte. Demjenigen, der meint,
Privatheit im Netz gebe es, wird als weltfremd vorgeführt, wird … früher gab es mal
das Wort „verhohnepiepelt“.
A: Gibt’s immer noch.

2
John R. Searle, Metapher, in: ders., Ausdruck und Bedeutung. Untersuchungen zur
Sprechakttheorie, Frankfurt am Main 1982, S. 116.
3
Raffaele Schacher, in: Der Spiegel 4, 19. 1. 2019, S. 120 (Leserbrief).
28 Jan Philipp Reemtsma

B: Sagt aber keiner, na, ich sag’s gerade. Verhohnepiepelt also. Also etwa so: „Sie
glauben mir das nicht? In welcher Welt glauben Sie eigentlich zu leben, Sie Traum-
tänzer? Süß irgendwie. Privatheit im Netz … ich meine, wo und wie … und wie stel-
len Sie sich das eigentlich vor? Glauben Sie noch an den Weihnachtsmann? Oder an
Einhörner vielleicht? Mal eins gesehen? Im Zoo neulich? Nein, ich sage Ihnen, Pri-
vatsphäre im Netz ist etwa so selten wie ein Einhorn im zoologischen Garten.“
A: Also wird wieder verglichen. Nicht die Privatheit mit dem Einhorn (im Zoo),
sondern der, der an Privatheit im Netz glaubt, mit dem, der nicht nur an Einhörner
glaubt, sondern auch noch für möglich hält, sie mal im Zoo anzutreffen.
B: Verzeihen Sie, aber ist das alles unser Ernst? Im Ernst dergleichen zu – ja: ist’s
„analysieren“? Oder überhaupt: ernstzunehmen?
A: Wenn wir unser Gespräch in Essayform umgössen – nichts leichter als das! –,
könnten wir’s in jeder „philosophy today“ unterbringen. Was, jetzt bin ich boshaft,
Ihre Frage natürlich keineswegs beantwortet. Aber – vielleicht doch interessant. In-
teressant nämlich, wenn wir uns dadurch wieder intellektuell satisfaktionsfähig ma-
chen, daß wir unser Herumrätseln um das Ähnliche suspendieren.
B: Erstmal dies. Aber was soll das heißen? Nicht mehr drüber reden?
A: Nicht mehr so, als unterstellten wir eine Behauptung, die zutrifft oder nicht. Es
ist ja platterdings nicht möglich, einer solchen Behauptung zu widersprechen. Siehe
Searles Statement. Aus dem folgt doch nur, daß man auf eine Ähnlichkeitsbehaup-
tung – nein, auf einen Satz à la „Das ist so ähnlich wie jenes“ nur antworten kann:
„Was möchtest du uns damit sagen?“
B: Eine Antwort „Na, daß das-und-jenes eben einander ähnlich ist!“ wäre unzu-
lässig?
A: This is a free country, isn’t it? Aber wir könnten uns darauf verständigen, daß
eine solche Antwort irgendwie ungebildet ist, von – wie soll man sagen: verknapptem
Nachdenken zeugt.
B: Also gut. Das Gespräch geht irgendwie weiter. Aber die Antwort auf das „Was
wollen Sie mir damit sagen?“ kann doch nicht ganz beliebig ausfallen? Kommen Sie
mir nicht wieder mit „This is a free …“
A: Gespräche setzen sich nie auf ganz beliebige Weise fort. Nicht einmal die unter
Verrückten – man muß nur die Verrücktheiten kennen. Nein, der mit dem … – wie
nennen wir’s übrigens?
B: … Ähnlichkeitsinterjektion?
A: So nennen wir’s bitte nicht! Egal. Wer damit angefangen hat, muß so fortfah-
ren, als hätte er eine einsichtige Behauptung aufgestellt, die der andere gebilligt hätte,
gespannt, welche Folgerungen der Behauptende nun daraus zieht. Wenn der andere
diesen Folgerungen nicht beistimmen mag, tut er nur das, bestreitet aber nicht die
Ähnlichkeitsbehauptung, weil niemand das kann und es außerdem gar keine Behaup-
tung gewesen ist, sondern nur eine Art wortkolorierten Atemholens, das der andere
Das Vergleichen als eigenartige intellektuelle Tätigkeit betrachtet 29

hingehen läßt aus Contenance, weil man das eben so macht, weil er sich mit dem
Kram nicht ewig aufhalten will. – Und zweitens? Daß wir den Vergleichen ebenfalls
den Laufpaß geben?
B: Und den Vergleichenden dann, sie möchten sich vom Acker machen.
A: So würde es der Übersetzer von Davidson formulieren. Ganz so weit können
wir doch wohl nicht gehen. Mit Schrot schießen sollten wir nicht. Nehmen wir einen
Vergleich, den wir, ohne mutwillig zu sein, nicht anzweifeln können.
B: Jemand sagt: „Du sollst dein Kind ebenso gegen Masern impfen lassen wie
gegen YXZ.“ Der Vergleich, wörtlich genommen, sagt, daß die eine Krankheit eben-
so schlimm sei wie die andere, und man also ein Kind gegen beide schützen solle …
A: Würden die beiden sich um diesen Vergleich streiten? „Nein, Masern sind doch
weniger schlimm!“ Und dann stritten sie sich um „schlimm“ und „weniger
schlimm“? So wird das doch nicht ablaufen. Die Replik wird doch sein: „Ich möchte
mein Kind nicht gegen Masern impfen lassen, weil …“ was-weiß-ich, wie das dann
weitergeht. Und wenn der Vergleichende sagt: „Solltest du aber, unterschätze Masern
nicht!“, dann will er das sagen, ob nun ein Vergleich einleuchtet oder nicht.
B: Sein Vergleich leuchtet ein, wenn …
A: Da leuchtet nichts ein. Der Vergleich wird hingenommen, wenn der beredete
Impfgegner der Tirade zustimmt. Ich nehme es so: Einem Vergleich zustimmen, be-
deutet: eine Emphase akzeptieren.
B: Klingt wie fürs Lehrbuch formuliert: „Einem Vergleich zustimmen, bedeutet:
eine Emphase akzeptieren.“ – Aber wie ist es mit den Lehrbeispielen, mit denen man
Juristerei lernt? Ich meine bekannte Späße wie: Cordula tut ihrem Freund Süßstoff in
den Kaffee, weil sie meint, es sei Strychnin. Ist das ein Mordversuch? Ja, weil es dar-
auf ankommt, daß jemand das Mittel für tauglich hielt. Ist das nicht auch ein Ver-
gleich? Ich meine, ein Vergleich mit einem tatsächlichen Geschehen, und der Folge-
rung: wenn du hier so urteiltest, müßtest du dort auch so urteilen?
A: Ein Vergleich? Ich glaube nicht. Es geht doch um das Schulen des Regelver-
stehens. Was sagt die Regel? Fällt das Beispiel unter die Regel? Ergo … Nicht: weil
das so ist und dieses „so ähnlich“, muß das eine wie das andere behandelt werden,
sondern weil die Ableitung korrekt ist. Tatsächlich würde man Fälle, die sich tatsäch-
lich ereignet haben, zwar zunächst danach beurteilen, unter welche Regel sie zu sub-
sumieren sind, aber über sie urteilen je-nachdem. Das ist dann, was man Urteilskraft
nennt. Siehe Kant, „Kritik der Urteilskraft“, siehe Wieland, „Geschichte der Abde-
riten“. Da kömmt es auf die Unterschiede an. – Mit vergleichen und Vergleichen hat
das nichts zu tun.
B: Vergleiche sind also nichts als old-school-emojis?
A: Ich habe eine Aversion gegen alle Sätze mit „nichts als“. Aber sagen wir doch:
bis auf Weiteres.
30 Jan Philipp Reemtsma

B: Sind wir da nicht in der Nähe der alten Metaphernkritiker gelandet, die in ihnen
nichts sahen als Rhetorik …
A: … was kein Einwand erstmal …
B: Eben. In dem damaligen Sprachgebrauch Beiwerk, der vom eigentlichen – wir
würden sagen: Argument ablenkte und also irgendwie in verführerischem Unernst …
A: Vielleicht doch irgendwie so. Wenn wir die Analogie zur Metapher nicht nur
obenhin verwendet haben, sondern sie ernstnehmen, wird es aber noch kompliziert
werden, ergo cave!
B: Wollen wir zurückgehen zu Layiwola? „Was gestohlen wurde, muß zurückge-
geben werden. Es ist, als gehöre mir ein Auto, aber ein anderer fährt es.“ Wir halten
uns also beim Vergleich-als-Vergleich nicht weiter auf – na, tun wir’s übungshalber:
ein Raubkunstwerk ähnelt einem Auto in jeder Hinsicht, die man bemühen will –
etwa: kann bunt sein –, in diesem Falle ist das Tertium deutlich das Gestohlensein.
Worin besteht die nahegelegte Folgerung? Mit Gestohlenem soll man nicht herum-
fahren – Raubkunst soll man nicht in den falschen Museen zeigen?
A: Das Tertium, folgen wir mal dieser Durchmusterung weiter, wäre wohl: das
eine sollte dich so empören wie das andere, denn das Herumfahren mit gestohlenen
Autos wird dich doch ganz gewiß empören, und ebenso solltest du mit einem „Das
geht gar nicht!“ auf das andere reagieren.
B: Was man tun wird, wenn man in der Raubkunstfrage sowieso entsprechend
Stellung bezieht. Dann wird man bei dem nunja-Vergleich mit dem Kopf nicken
und „Genau so isses!“ sagen. Auch hier ein Emoji …
A: Ach, sagen wir doch: Rhetorikon.
B: Einverstanden: ein Rhetorikon für Einverstandene.
A: Sie kennen den Witz mit Adenauer und dem Papst? Nein? Adenauer hat eine
Audienz bei Pius XII. Weil die so lange dauert, guckt einer seiner mitgebrachten
Staatssekretäre, die natürlich vor der Tür warten müssen, durchs Schlüsselloch. Er
sieht den Papst vor Adenauer knien: „Bitte, Herr Bundeskanzler, ich bin doch
auch katholisch!“ In dem Sinne.
B: Sind wir für heute fertig?
A: Ich fürchte nicht. Wir haben den landläufigen Ebenso-wie- bzw. Obenhin-Ver-
gleich, der uns dauernd vor Ohren und Augen kommt, mit dem schönen Wort Rhe-
torikon bedacht, aber es gibt Vergleiche, die zwar auch rhetorischen Wert haben (das
allein soll sie nicht zum bloßen Rhetorikon machen), die aber wesentlich ernsthafter
mit dem Anspruch auftreten Argumentwert zu haben. Wir müßten eines von denen
mal ansehen.
B: Ich hätte eins bei der Hand. Der Verfasser ist rhetorisch versiert und argumen-
tativ einer der Trainiertesten im Lande. Ich bin nicht immer seiner Meinung gewesen,
kenne aber nichts von ihm, das nicht bedenkenswert gewesen wäre. Wenn man ihn
Das Vergleichen als eigenartige intellektuelle Tätigkeit betrachtet 31

liest, kann man nur klüger werden. Ich zitiere mal: „Wohl erscheint Hilfe für jeden
einzelnen Armutsmigranten, löst man sie aus ihrem Zusammenhang, zunächst mo-
ralisch verdienstlich. Aber die Abstraktion ist falsch. Man stelle sich einen wohlha-
benden Gutsbesitzer vor, um dessen Anwesen sich tausend Hilfsbedürftige drängen:
Zehn von ihnen, die es über die Mauer bis an die Haustür geschafft haben, gewährt er
Einlaß, dauerhafte Wohnung und Unterhalt. Das erschöpft seine Mittel bis ans Limit.
Verteilte er sie an alle Tausend, wäre allen geholfen. So aber verbleibt ihm für die 990
draußen Gebliebenen beim besten Willen kaum noch etwas. Ihrer Not bietet es nicht
mehr als einen Tropfen auf den heißen Stein. So ungefähr das Sinnbild für die Mo-
ralität der deutschen Flüchtlingspolitik.“4
A: Wie sagt der Computer „Deep Thought“ bei Douglas Adams: „Tricky!“ Es ist
ja nicht getan mit einem reflexhaften „Die Probleme eines bedrängten Hauswirts –
die zudem so doch nie vorkommen – kannst du doch nicht mit den politischen Ent-
scheidungen, die ein Gemeinwesen treffen muß, vergleichen.“
B: Bzw. das liegt so sehr auf der Hand, daß man sich scheut …
A: Wir fanden es doch schon bei Enzensberger sonderbar, wie sehr er sich auf die
Suggestivität seines Bahnabteil-Gleichnisses zur Illustration der Migrationsproble-
matik verließ …
B: Er verließ sich auf die Gemeinde der Fellow-Katholiken.
A: Nehmen wir es doch auch so. Wie wären wir als – ach, nennen wir doch den
Namen: Reinhard Merkels Fellow-Katholiken beschaffen, um bei seinem Vergleich
überzeugt zu nicken?
B: Wir müßten zunächst sagen, daß der Vergleich-als-Vergleich zwar nicht hin-
haut, aber trotzdem …
A: „Haut“ er denn nicht „hin“? – ich übernehme mal Ihr saloppes …
B: Jede Frage, die mit Phänomenen wie Migration, Einwanderung, Flucht und so
weiter zu tun hat, hat es mit dem Umgang mit Menschenmassen zu tun – ob die nun
als „Masse“ im Canettischen Sinne auftreten oder erst in der Statistik zu solchen wer-
den – und ebenfalls mit sehr zahlreichen, wie wollen wir sie nennen: Zielbevölkerun-
gen. Alle Probleme, die sich da stellen – antizipierend stellen oder schon praktisch
auftreten –, lassen sich nicht durch reduzierende Modelle veranschaulichen. Sie tre-
ten ja gerade auf, wenn es um eine Anzahl geht, für die die Bewältigungsformen, die
es für kleine Mengen schon gibt, nicht mehr funktionieren.
A: Oder wenn es Leute gibt, die meinen, es funktioniere nicht mehr.
B: Ja, das Modell unseres Vergleichs verkleinert gewissermaßen, aber doch nicht
so sehr. Es ist ja nicht die Rede von einem Hauswirt, vor dessen Tür sich fünf oder
sechs Leute drängeln und er hätte für eine komfortable Übernachtung nur für zwei

4
Reinhard Merkel, Wir können allen helfen. Kosten der Migrationspolitik, FAZ NET,
21. 11. 2017.
32 Jan Philipp Reemtsma

Platz, sondern der Vergleich schildert bereits eine Art Fluchtszenario: ein Gut mit
Mauern, tausend Schutzsuchende … was los ist, wissen wir nicht …
A: Ist es nicht gerade wichtig, daß es darauf nicht ankommt?
B: In der Wirklichkeit käme es genau darauf an, wenigstens auch. Die moralische
Situation des Gutsbesitzers würden wir doch immer auch dadurch definieren, was
denen-da-draußen droht. Eine ungemütliche Nacht oder ein paar ungemütliche
Nächte – und haben sie Kranke dabei, denen eine kalte, regnerische Nacht schlecht
bekommt? – oder, naja, es gibt solche Filme – es drohen ihnen Zombies … verzeihen
Sie meinen scheinbaren Unernst.
A: Schon gut – es gibt Zombiefilme, in denen gerade solche moralischen Proble-
me modellhaft diskutiert werden, man verachte das ebensowenig wie die morali-
schen Kasuistiken in Dickens’ „Bleakhouse“. Aber schön. Es sollen die moralischen
Fragen angesprochen werden, die sich ergeben, wenn wir mal die beiseite lassen, die
sich aus den sogenannten „Fluchtursachen“ ergeben. Betrachten wir die Wirklichkeit
und sehen dabei davon ab, was sie zur Wirklichkeit macht. Manchmal besteht das
Geheimnis philosophischen Räsonnements genau darin. Aber, einverstanden, weiter.
B: Der Vergleich mit der im Grunde irrealen Situation – wo soll denn solch ein Hof
liegen, vor dessen Mauern plötzlich so etwas sich ereignet …
A: … und tausend Leute den Hof nicht etwa stürmen, sondern brav auf Einlaß
warten und zulassen, daß zehn von tausend eingelassen werden … –
B: … mit der im Grunde irrealen Situation nötigt uns etwas auf – ich meine den
Hinweis, daß eine Entscheidung getroffen werden muß, die nicht getroffen werden
kann.
A: Sie kann getroffen werden. In der Phantasiesituation, in der Wirklichkeit.
B: Sie kann nicht in befriedigender Weise getroffen werden, Befriedigend nicht
für den Gutsbesitzer, nicht für die 990 – vielleicht nicht einmal für die zehn – für die
Moral auch nicht.
A: Welche auch immer wir hier für maßstabsetzend halten. Aber ist das die Poin-
te? Die liegt doch wohl darin, daß eine Moral vorausgesetzt wird, die die Wahl un-
möglich macht. Und die heißt nicht: hilf, wem du kannst, und ultra posse …, sondern
moralisch ist, allen zu helfen, und zwar zu gleichen Teilen à la Speisung der 5000,
und wenn du kein diesbezüglicher Magier, kein Christus oder Agathodämon bist,
dann allerdings …
B: … dann mußt du niemandem helfen? Will Merkel uns das damit sagen? Ich
glaube kaum. Wir müssen dann doch wohl den Aufsatz ansehen, in dem der vertrack-
te Vergleich steht.
A: Nein, ums Vergleichen geht es uns, nicht um Merkels Meinung zur Flüchtlings-
politik. Kennen Sie übrigens das Gedicht „Die Nachtlager“? Brecht.
Das Vergleichen als eigenartige intellektuelle Tätigkeit betrachtet 33

B: Natürlich.5 Wir haben in der Schule fleißig debattiert, was sich im Gedicht än-
derte, wenn die Reihenfolge der Strophen anders wäre.
A: Ein emotionsleitendes Rhetorikon vertritt ein Argument? Zugegebenermaßen
liegt der Fall bei den „Nachtlagern“ ein wenig anders. Hier wird gefragt, ob das ca-
ritativ eingesetzte Geld nicht besser an den Vietcong oder das damals landesübliche
magnum bonum flösse, aber – jetzt machen wir selber einen Vergleich – hier wie dort
geht es darum, das Helfen, das wenigen zugute kommt, in Frage zu stellen, weil nicht
in größtem Maßstabe geholfen werden kann. – Man könnte sagen, daß solches Rä-
sonieren geradewegs in den Zynismus führt. Ein Bettler sagt zu Rothschild: Du bist
so reich, gib mir meinen Teil von deinem Reichtum. Rothschild gibt ihm einen Sous
mit der Bemerkung, das dürfte in etwa stimmen. – So?
B: Nein, Sie haben nicht genau gelesen. Im Gleichnis wäre, anders als bei dem
Rothschild-Beispiel, „für alle genug da“. Ich zitiere noch mal: „Verteilte er sie an
alle Tausend, wäre allen geholfen. So aber verbleibt ihm für die 990 draußen Geblie-
benen beim besten Willen kaum noch etwas. Ihrer Not bietet es nicht mehr als einen
Tropfen auf den heißen Stein.“ Wie möchte das Gleichnis das haben? Das Haus resp.
Gut hat nicht genug Platz, und hätte es, wie wäre es mit der Versorgung der Leute?
Und hätten sie alle ein Nachtlager – und ein Nachtlager mit Kost –, was wäre in den
nächsten Tagen? Müßte das Gleichnis sagen, daß nun auf der Tagesordnung des
Gutsbesitzers stünde, seinen Betrieb in eine Genossenschaft umzubauen, die den tau-
send Arbeit, sanitäre und gesundheitliche Versorgung, Erziehung, Bildung etc. bietet
und sich darum kümmert, daß dies aus eigenen Kräften finanziert werden kann, denn
eine Auflösung der Sparguthaben des Gutsbesitzers wird nicht ausreichen?
A: Ja, eigentlich müßte man das Rhetorikon beiseite legen und eine Geschichte
erzählen, ein utopisches Märchen etwa – wenn man darauf hinauswollte, daß das
Flüchtlings- oder, wenn man will: Migrationsproblem nur durch eine radikale Ände-
rung der Eigentums- und Produktionsverhältnisse …
B: Könnte man. Erstens will das heute ernstlich niemand mehr erzählen und noch
weniger hören – wollen wir „leider“ sagen? –, und zweitens wirft das mehr Probleme
auf, als in einer solchen Geschichte unterzubringen wären. Auch wollten wir nicht

5
„Ich höre, daß in New York / An der Ecke der 26. Straße und des Broadway / Während
der Wintermonate jeden Abend ein Mann steht / Und den Obdachlosen, die sich ansammeln /
Durch Bitten an Vorübergehende ein Nachtlager verschafft. // Die Welt wird dadurch nicht
anders / Die Beziehungen zwischen den Menschen bessern sich nicht / Das Zeitalter der
Ausbeutung wird dadurch nicht verkürzt / Aber einige Männer haben ein Nachtlager / Der
Wind wird von ihnen eine Nacht lang abgehalten / Der ihnen zugedachte Schnee fällt auf die
Straße. // Leg das Buch nicht nieder, der du das liesest, Mensch. // Einige Menschen haben ein
Nachtlager / Der Wind wird von ihnen eine Nacht lang abgehalten / Der ihnen zugedachte
Schnee fällt auf die Straße / Aber die Welt wird dadurch nicht anders / Die Beziehungen
zwischen den Menschen bessern sich dadurch nicht / Das Zeitalter der Ausbeutung wird
dadurch nicht verkürzt.“ (Bertolt Brecht, Die Nachtlager, Gesammelte Werke, Gedichte,
Frankfurt am Main 1967, S. 373 f.)
34 Jan Philipp Reemtsma

darüber reden, sondern über den argumentativen oder eben nur rhetorischen Umgang
mit Vergleichen.
A: Trotzdem: läßt der Verfasser eigentlich durchblicken, wie er sich den Umgang
mit seinem Vergleich wünscht?
B: Ja, er folgt seinem Gleichnis. Keine Aufnahme/Hilfe für Flüchtlinge welcher
Art auch immer und: „Das wäre eine gewaltige Aufgabe; und möglich wäre sie
nicht.“
A: Und meint nicht, das wäre eine Geste à la Rothschild?
B: Wohl nicht: „die hunderte von Milliarden, die dadurch eingespart würden, ohne
Abstriche an die wirkliche Behebung des Elends der Welt zu wenden“ ist sein Vor-
schlag … – obwohl er ja nicht sagt, wie …
A: Ist doch ganz wuchtig: Wenn ihr’s ernst meint und moralisch weiter ernstge-
nommen werden wollt, dann … – man müßte allerdings nicht über eine Umvertei-
lung der bzw. aus vorhandenen Kassen reden, sondern über Produktionsmodi, poli-
tische nicht nur „Rahmen“-Bedingungen hier und dort und dort, und …
B: Früher hätte man gesagt, daß das im Kapitalismus nicht geht.
A: Oder Imperialismus, oder Spät- oder …
B: „Spät-“ war ja immer lustig, oder melancholisch, oder – na, wie man will. Je-
denfalls die gute alte „Systemfrage“.
A: Wollen Sie das Gleichnis ein Nostalgikon nennen?
B: Nein.
A: Wie nun weiter?
B: Bleiben wir bei „Rhetorikon“ und „Emotikon“, wenn ich „Emoji“ mal rück-
übersetzen darf. Der Vergleich ist eine Kaschierung der emotionserzeugenden Poin-
te, der Trick der Verkürzung bzw. Kompliziertheitsreduktion.
A: Herbert Wehner?
B: Wieso der denn jetzt?
A: Er hat mal gesagt, man schreibe erst eine hundertseitige Analyse der Verhält-
nisse, dann fasse man die in ein zehnseitiges Manifest, aus ihm mache man ein Flug-
blatt und aus dem die Parole: „Hautse!“
B: Oh, so … naja, meinetwegen. Aber gut. Drehen wir’s um. Das Flugblatt zielt
auf die Parole als Effekt, aber es wird gerechtfertigt dadurch, daß man sagt, eigentlich
stecke im Flugblatt doch die ganze Analyse. Der Vergleich als rhetorisches Einsatz-
mittel zur Erzeugung von Vorab-Zustimmung ersetzt die Argumentation.
A: Und beides stimmt hinten wie vorne nicht?
B: Lassen Sie mich mal probeweise diesen Gedanken formulieren: der Vergleich
ist sich seiner Nichtstichhaltigkeit …
Das Vergleichen als eigenartige intellektuelle Tätigkeit betrachtet 35

A: Also nichts wird ernstlich mit irgendwas verglichen, und das Argument wird
sich auch als nicht triftig erweisen?
B: Der Vergleich ist die resignierende Vorwegnahme der Kritik am Argument.
Wer vergleicht, kapituliert.
A: Sie wissen, was Sie damit alles abräumen?
B: Ich folge, glaube ich, David Hume, der alle Vergleiche, die die Welt mit einem
wohlersonnenen Artefakt verglichen und so auf einen Grand Designer schlossen,
höflich veralberte. Und zwar die Vergleiche ebenso wie die Idee, die vergleichend
gestützt werden sollte. Und aufs freundlichste andeutete, wer so argumentativ ope-
riere, sei ernstlich nicht mehr ganz bei Trost.
A: Ja, gut, diese Vergleiche – aber übers Vergleichen an sich hat er sich doch kaum
geäußert.
B: Wo beginnen. Am besten doch bei Platon. Wie verabschiedet sein Sokrates sich
von seinen Anklägern und Richtern? Vergleichend. Die Anklage war unter anderem,
daß er die Jugend verderbe. Sokrates fragt den Ankläger Meletos, ob er wisse, wer sie
denn, wenn er, Sokrates, sie verderbe, bessere. Meletos zählt nach Ermunterung des
Sokrates auf: die Richter, die Zuhörer, schließlich alle Athener überhaupt, Ausnahme
Sokrates. Und nun der Einwand: „Dünkt es dich bei den Pferden auch so zu stehen,
daß alle Menschen sie bessern und nur einer sie verdirbt? Oder ist nicht ganz im Ge-
genteil nur einer geschickt, sie zu bessern, oder wenige, die Zureiter, die meisten
aber, wenn sie mit den Pferden umgehen und sie gebrauchen, verderben sie? Verhält
es sich nicht so, Meletos, bei den Menschen und allen anderen Tieren?“6 Hat er ge-
dacht, er käme mit diesem Vergleich mit dem Leben davon?
A: Sie haben recht. Da hat er, ohnedies im Verdacht, der Mentor einer prosparta-
nischen Fronde zu sein, im Angesicht einer radikaldemokratischen Versammlung
sich selbst mit Fleiß den Giftbecher angemischt.
B: Vergleiche, lehrte er uns, benutzt man, wenn man verloren hat. Und der Welt
eine Nase drehen will.
A: Wollen wir damit enden?
B: Für heute.

6
Platon, Apologie des Sokrates 25a–b, übersetzt von Friedrich Schleiermacher, in: ders.,
Sämtliche Werke übersetzt von Friedrich Schleiermacher, Reinbek 2015, S. 22.
Eine Poetik der Menschenwürde
Stil als weiche Normativität bei Ferdinand von Schirach

Von Birgit Recki

„Eine Antwort auf die Frage, wie der Mensch möglich sei, könnte
daher lauten: durch Distanz.“
Hans Blumenberg1

I. Recht und Literatur


Die Affinität von philosophischem und juridischem Denken dürfte unbestritten
sein. Die Eigenart einer methodischen, allemal von Problemen ausgehenden und
in Begriffen reflektierten, an Prinzipien orientierten, in Begründungen fundierten
und in Urteilen kulminierenden Einstellung auf die Wirklichkeit, mithin deren kon-
sequente Selektion oder auch Konstruktion durch argumentative Verfahren: Darin
liegt eine Gemeinsamkeit, die an der Idee einer als begriffliche Rechtfertigung
und praktische Urteilskraft qualifizierten Rationalität orientiert ist. Lässt sich eine
gleichermaßen starke und genuine, nicht auf die biographische Zufälligkeit von in-
dividuellen Vorlieben und Begabungen gegründete Affinität von literarischem und
juridischem ,Diskurs‘ ebenfalls behaupten? Welche Evidenz kann das Beispiel für
sich reklamieren, das so unterschiedliche Schriftsteller wie Heinrich von Kleist,2 No-
valis, Goethe, Marcel Proust, Franz Kafka, Karl Kraus,3 Louis Begley zu geben
scheinen?
Längst ist der ästhetische Blick, ist überhaupt die ästhetische Aufmerksamkeit
nicht mehr auf die Künste fixiert; das zeitgenössische Bewusstsein zeigt sich insbe-
1
Beschreibung des Menschen. Aus dem Nachlass hg. von Manfred Sommer, 2006, S. 570.
2
Der dichtende Jurist Kleist ist insofern ein besonders interessanter Fall, als er sich zu-
gleich stark beeindruckt zeigte von der zeitgenössischen, insbesondere der Kantischen Philo-
sophie. Das zählebige Gerücht, das seine ,Nihilismus-Krise‘ auf den Schock zurückführt(e),
den ihm Kants vermeintlich absoluter, in Wahrheit transzendentaler Idealismus versetzt haben
soll, hat indessen Ernst Cassirer zurückgewiesen, indem er Kleists Demoralisierung in einer
beispielhaften philologischen Detektivarbeit auf die Lektüre von Fichtes Bestimmung des
Menschen zurückführt. Ernst Cassirer, „Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie“,
in: ders., Idee und Gestalt (1921), Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit
Recki (ECW), Bd. 9, S. 389 – 435.
3
Siehe vom hochgeschätzten Adressaten dieses Bandes: Strafrecht und Satire im Werk von
Karl Kraus, 1998.
38 Birgit Recki

sondere sensibilisiert für die Omnipräsenz der narrativen und theatralischen Modi
ästhetischer Gestaltung in den Wirklichkeiten, in denen wir leben. Ohne damit die
Funktion und Autorität des Rechts der Gefahr einer Relativierung oder Missachtung
auszusetzen, sind wir heute imstande, in den formalen Verfahren eines Strafrechts-
prozesses neben dem Element der Rhetorik auch elementare Formen des Narrativen
wie des Theatralischen (Performativen)4 zu identifizieren, durch deren Gewärtigung
an der normativen Dimension menschlicher Praxis, ja an der rationalen Konstitution
gesellschaftlicher Wirklichkeit eine Dimension mehr erkennbar wird. Das kann der
Philosophie in ihrem Interesse an Konstitutionsbedingungen menschlicher Wirklich-
keit nicht gleichgültig sein. Thematisch ist mit dem Fokus auf diese Formen aber
immer auch die basale Affinität von Recht und Literatur.

II. Die Prosa der Strafverteidigung


Auf dieser Folie ziehen die Prosa-Texte eines Juristen,5 der auf zwei Jahrzehnte
erfolgreicher Berufserfahrung als Strafverteidiger zurückblickt und die abgründigen
Erfahrungen bei der methodischen Auseinandersetzung mit der Kriminalität als Re-
servoir seiner Erzählungen nutzt, ein mehrfach motiviertes Interesse auf sich.6 Dass
die Bücher Ferdinand von Schirachs in den Buchhandlungen unter Krimis eingeord-
net werden, muss den Leser, der sich auch nur in der Lektüre von einem oder zweien
seiner Bände auf das Erzählprogramm dieses Aufklärers eingelassen hat, im ersten
4
Für die zunehmend intensive transdisziplinäre Forschung in diesem Feld seien hier ohne
Anspruch auf Vollständigkeit und nähere Auseinandersetzung exemplarisch genannt Heinrich
Triepel, Vom Stil des Rechts. Beiträge zu einer Ästhetik des Rechts (1947), mit einer Einlei-
tung von Andreas von Arnauld und Wolfgang Durner, 2007; Andreas von Arnauld, „Was war,
was ist – und was sein soll. Erzählen im juristischen Diskurs“, in: Christian Klein/Matías
Martínez (Hg.), Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen
Erzählens, 2009, S. 14 – 50; Sabine Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung. Eine theo-
retische Annäherung, Weilerswist 2012; Eva Schürmann, „Das Recht als Gegenstand der
Ästhetik? Über ein kritisches Verhältnis“, in: Zeitschrift für Grundlagen des Rechts 2015,
S. 1 – 12; Joachim Lege, „Ästhetik als A und O ,juristischen Denkens‘“, in: a.a.O., S. 28 – 36;
Klaus F. Roehl/Hans Christian Roehl, „Zur Ästhetik des Rechts“ („Law and Aesthetics“),
2018 [Internet-Beitrag].
5
Ferdinand von Schirach, Verbrechen. Stories, München/Zürich 2009; ders., Schuld.
Stories, München/Zürich 2010; ders., Strafe. Stories, München/Zürich 2018; ders., Der Fall
Collini, München/Zürich 2011; ders., Tabu, München/Zürich 2016.
6
In der kritischen Auseinandersetzung mit der Prosa von Schirachs hat der ausdrückliche
Rekurs auf die Berufserfahrung des Strafverteidigers naive Einwände ermutigt, in denen das
Elend des zeitgeistigen Authentizitätsfetischs als neue Variante der Verkennung von Literatur
offenbar wird. Der Nachweis, dass derselbe Autor, dessen Autorität offenbar in den Augen
vieler Leser allein durch den professionellen Hintergrund beglaubigt ist, sich in seinen Er-
zählungen nicht auf eigene Fälle beschränkt, sondern auch andere markante Prozesse zum
Anlass fiktionaler Bearbeitung macht, schien einigen Kritikern Anlass der Beschwerde wegen
unredlicher Übergriffe. Wer so argumentiert und eine Qualitätseinbuße vermutet, wo der frü-
here Rechtsanwalt den Horizont der eigenen Praxis überschreitet, hat offenbar übersehen, dass
es alles in allem Literatur ist, was der Autor schreibt.
Eine Poetik der Menschenwürde 39

Zugriff amüsieren. Offenkundig werden hier keine Geschichten nach dem klassi-
schen Modell des Whodunnit erzählt. Allein – die Spannung, die der Autor in seinen
Stories zu erzeugen versteht, ist auch dann enorm, wenn sie sich zumeist um etwas
ganz Anderes drehen als um den Auftrag, durch die Ermittlung des Täters Verbrechen
aufzuklären. Der Täter steht in vielen Fällen fest – oder er scheint festzustehen.
Hitchcocks Methode des Suspense kommt so in der Literatur zu Ehren. Dabei in-
szeniert von Schirach häufig eine Erzählhaltung, die einen entscheidenden Reiz sei-
ner Prosa ausmacht: Die Texte setzen ein mit der im objektiven Gestus gehaltenen
Schilderung vom Hergang der Tat bis zur Festnahme und Beschuldigung des als
Täter exponierten Protagonisten – mit einer unter Umständen lange durchgehaltenen
scheinbar unpersönlichen Erzählung, in der die Erzählposition unthematisch bleibt,
bis der Rechtsanwalt, an den der Auftrag zur Verteidigung des Angeklagten ergeht,
uno actu mit dessen Übernahme als Erzähler aus dem Off tritt.7 Häufig ergeht der
Verteidigungsauftrag ohne jeden finanziellen Anreiz – als notgedrungene Übernah-
me einer Pflichtverteidigung; regelmäßig führt er ins Dickicht menschlich-allzu-
menschlicher und unmenschlicher Handlungsverstrickungen. Nicht selten handelt
es sich um Fälle, die extreme Herausforderungen an die methodische Rationalität
des Juristen mit sich führen – an diejenige methodische Rationalität, die sich in letz-
ter Instanz, wenn Art und Ausmaß der Schuldverstrickung das anwaltliche Selbstver-
ständnis auf die Zerreißprobe stellen, daran zu erweisen hat, dass der advocatus von
seiner Befindlichkeit: seiner Betroffenheit, seiner Antipathie und Sympathie, seinem
Entsetzen, kurz und gut: von seinem Wissen über die Schuld und ihr Ausmaß zu ab-
strahieren vermag.
Worum es in dieser Prosa letztlich geht, ist bei aller individuellen Konkretheit
nicht der Kriminalfall als solcher. Es geht in letzter Instanz um das normative Skelett
des Menschen; um die Normativität des humanen Selbstverständnisses, das in der
Haltung des professionellen Juristen exemplarisch wird: mit dem Blick in das,
was man die Abgründe der menschlichen Natur nennen mag, bewährt sich das Stand-
halten nicht anders als in der elementaren Kulturtechnik der Abstraktion. Es geht um
kognitive und emotionale Distanz und den guten Willen zur Sachlichkeit, die uno
actu mit der Fähigkeit zur Abstraktion kultiviert werden: Abstraktion durch episte-
mische Unterscheidung und methodische Trennung der Gesichtspunkte, mit denen
einer an eine Wirklichkeit oder vermeinte Wirklichkeit herangeht, Abstraktion als
Ursprung einer Distanz, deren Wahrung die formale Garantie des fairen Verfahrens
– und eben damit: der Humanität – enthält: Um diese Idee und ihren Bedarf in der
Wirklichkeit, um die Schwierigkeit auch im Zweifelsfall an ihr festzuhalten, drehen

7
Das Modell sei exemplarisch an drei Beispielen belegt: „Fähners Schwester, die mich um
die Verteidigung ihres Bruders gebeten hatte, saß im Zuschauerraum“, heißt es in „Fähner“,
in: von Schirach, Verbrechen, S. 7 – 19; Zitat: S. 17. – Desgleichen: „Die drei jungen Männer
erzählten mir die Geschichte“, heißt es nach deren Erzählung in „Tanatas Teeschale“, in:
a.a.O., S. 21 – 42; Zitat: S. 36. – In der Erzählung von einem Mord aus Barmherzigkeit: „Nach
zwei Stunden stieg sie aus der kalten Wanne, legte ein Handtuch über ihren toten Bruder und
rief mich an“, in: „Das Cello“, in: a.a.O., S. 43 – 58; Zitat: 56.
40 Birgit Recki

sich die Erzählungen des Ferdinand von Schirach.8 Sie leisten an extremen Fällen
anschauliche Aufklärung über die Funktion des Rechts als Medium der menschli-
chen Kultur. Das ist selbst mit Blick auf die monströsen Verbrechen, die dabei zur
Darstellung kommen, und bei aller Spannung noch etwas anderes als Krimi-Literatur.
Indessen gibt es ein regelmäßig instrumentiertes Element der Spannungssteige-
rung: Immer dann, wenn es unerlässlich wird, dass der Strafverteidiger in konsequen-
ter Erfüllung seiner genuinen Aufgabe, das Interesse seines Mandanten wahrzuneh-
men,9 zu eigener, selbstständiger Ermittlung des Tatbestandes übergehen muss,
kommt doch eine Affinität dieser anschauungsgesättigten Traktate auf die juridische
Rationalität zur Struktur der Kriminalstory zur Geltung. Der Strafverteidiger als true
detective10 – das ist die versteckte Pathosformel dieser Texte, in der dem trockenen
auf methodische Abstraktion und das ihr entsprechende Quantum an Nüchternheit
und Illusionslosigkeit verpflichtenden Recht seine charismatische Dimension zu-
wächst.
Immer wieder geraten die Protagonisten in von Schirachs Erzählungen durch die
Zumutungen, die der Umgang mit extremen Verbrechen und der kaltblütigen Un-
empfindlichkeit der Täter, die zu deren Extremen beiträgt, mit sich bringt, in eine
Lage, in welcher ein überzeugter Jurist seinem Gegenüber (einem unerfahrenen Be-
rufs-Anfänger, einer zartbesaiteten Kollegin, notfalls auch sich selbst) das grundle-
gende Ethos des Rechts noch einmal ausbuchstabieren muss: die Unparteilichkeit in
Ansehung der Rechte eines jeden, auch des nicht mehr bloß verdächtigen, sondern
offensichtlich schuldigen Individuums – und die Parteilichkeit des Anwalts für sei-

8
Max Weber hat die unverzichtbaren Eigenschaften des Politikers in Augenmaß, Ausdauer
(zum Bohren ,dicker Bretter‘) und Leidenschaft gesehen, und diese – nur auf den ersten Blick
verblüffend – mit Sachlichkeit gleichgesetzt; siehe Max Weber, „Der Beruf zur Politik“
(1918). Diese Gleichsetzung darf als Modell für die Dialektik von Engagement und Distanz
herangezogen werden, von der die Erzählungen von Schirachs immer auch handeln.
9
„Der Verteidiger ist Partei. Er darf nur die Interessen seines Mandanten vertreten – nicht
die des Staatsanwalts, nicht die der Richter und schon gar nicht die der Öffentlichkeit. Er muss
„der Gegenspieler von Gericht, Staatsanwaltschaft und anderen staatlichen Einrichtungen“
sein, wie die Richterin am Europäischen Gerichtshof Renate Jäger einmal schrieb. […] Nur
wenn er alles tut, nur wenn er für seinen Mandanten mit allen zulässigen Mitteln kämpft,
erfüllt er seinen Auftrag. Und nur so entsteht Gerechtigkeit, auch wenn das Urteil im Ein-
zelfall ungerecht erscheint.“ von Schirach, „Die Würde der Fürchterlichsten“, in: ders., Die
Würde ist antastbar. Essays, München 2017, S. 109 – 125; Zitat: S. 115.
10
Ich verwende diesen Terminus absichtsvoll in Anspielung darauf, dass es in der ersten
Staffel der gleichnamigen HBO-Serie (2014) ein überzeugter Schopenhauerianer ist, der sich
den Ehrentitel erwirbt, dem die Serie insgesamt ihren Titel verdankt: ein Mann, der die bis
zum Mystischen gesteigerte Fähigkeit zu (mitleidender) Einfühlung mit methodisch ge-
schulter Kälte zu nutzen versteht, um von den Schwerverbrechern, die er verhört, so gut wie
jedes Geständnis zu bekommen. Eine ganz ähnliche Melange der Motive und Befindlichkeiten
scheint es mir auch zu sein, was in von Schirachs Hauptfiguren – allerdings ohne das Motiv
der Instrumentalisierung von Empathie – produktiv wird.
Eine Poetik der Menschenwürde 41

nen Mandanten; die Bereitschaft, von eigenen Präferenzen abzusehen zugunsten der
Durchführung dieses Prinzips.11

III. Tabu und Trauma – Schönheit und Statistik I


Darum geht es selbst noch in dem Roman, der sich in Handlung und Duktus vom
bis dahin variierten Modell des rechtspragmatischen und rechtsidealistischen Um-
gangs mit Schwerstkriminalität augenscheinlich weit entfernt.12 In Tabu jedenfalls
scheint in der Unübersichtlichkeit biographischer und psychischer Komplikationen,
die der Protagonist im Feld der technologisch instrumentierten Gegenwartskunst
ausleben kann, das juridische Leitmotiv aus dem Blick zu geraten. Doch das sieht
in den rätselhaften Tropismen einer Psychologie und Ästhetik der Selbstrettung
nur solange so aus, bis es zur Inszenierung des Verschwindens einer Person
kommt, das für die äußeren Betrachter alle Züge einer Gewalttat aufweist. Ferdinand
von Schirach bezieht das Bewusstsein von der Geltung des formalen Anspruchs auf
das uneingeschränkte Recht auf Korrektheit eines fairen Verfahrens hier auf den
skurrilen Fall eines mordverdächtigen Künstlers, der ein raffiniertes Vexierspiel
mit der Grenze von Realität und Fiktion inszeniert. In der Handlung des Romans
stellt er zwei Protagonisten auf gleicher Augenhöhe gegenüber. Nachdem sich in
der ersten Hälfte der Handlung alles um den mit synästhetischer Imagination begab-
ten und geschlagenen Künstler Sebastian gedreht hat, der als ambitionierter Photo-
graph in seinen verrätselnden Installationen und Performances die traumatischen Er-
lebnisse seiner Kindheit und frühen Jugend zu bewältigen sucht, rückt in der zweiten
Hälfte der kauzige Strafverteidiger Konrad Biegler in den Fokus, der imstande sein
könnte, dem in seine Bewältigungsstrategien verstrickten Künstler aus der Not der
Strafverfolgung herauszuhelfen. Aus der Perspektive beider so ungleicher Charakte-
re und Positionen drängt sich die exemplarische Reflexion auf die Abgründigkeit des
Verhältnisses der menschlichen Psyche zur Wirklichkeit auf. Was ist Wahrheit? Wel-
che Schicht der Wirklichkeit ist wahrheitsfähig, und welchen methodischen Verfah-
ren ist sie zugänglich?
Intuitiv erwartet man von einem Roman mit dem Titel Tabu die Auseinanderset-
zung mit einem Tabubruch. Doch verlangt die Erfüllung dieser Erwartung vom Leser
zumindest ein Höchstmaß an eigener Reflexion. Es ist nicht mit eindeutiger Gewiss-
heit auszumachen, welches Tabu es eigentlich sein soll, das der Titel des Romans in

11
Ein Beispiel für viele: „Sie haben mir Ihre Abscheu gegen Ihren Mandanten deutlich
gemacht – das könnte ich als Verstoß gegen Ihre Anwaltspflichten werten. Ich werde das nicht
tun, weil es Ihr erster Fall ist. […] Ich erwarte von Ihnen, dass Sie Ihren Mandanten weiter
ordentlich und umfassend verteidigen. Er hat einen Anspruch darauf, wie jeder Angeklagte“,
erwidert die Richterin in einem Strafprozess gegen einen gewalttätigen Frauenhändler und
Mörder der jungen Anwältin, die ihr Mandat niederlegen möchte, in „Subotnik“, in: von
Schirach, Strafe, S. 138 – 168; Zitat: S. 163.
12
Ferdinand von Schirach, Tabu, München/Zürich 2016.
42 Birgit Recki

Aussicht stellt; und: Wird hier überhaupt ein Tabu gebrochen, oder wird es gewahrt?
Im Text fällt der Ausdruck „Tabu“ (oder „tabu“) an keiner Stelle. Es gibt indessen in
der Erzählhandlung mehrere Ereignisse, die als Kandidaten von gebrochenen Tabus
in Betracht kommen. Im Zentrum der juristischen Aktion, in der die Handlung kul-
miniert, dem großen Auftritt des Verteidigers in einem Prozess um einen Mord ohne
Leiche, steht in Tabu die Befragung eines Polizeiwachtmeisters, der dem Angeklag-
ten durch die Androhung von Folter ein – wie sich herausstellt: falsches – Geständnis
abgenötigt hatte. Durch ein geschicktes rhetorisches Manöver gelingt es dem Vertei-
diger, den vom Kreuzverhör ausgeschlossenen Wachtmeister im Zeugenstand zum
Reden zu bringen. Auf dem Höhepunkt der sachlichen Zuspitzung schlägt die Befra-
gung um in eine Belehrung des Zeugen durch den Anwalt: Die Idee der Menschen-
würde darf auch mit Blick auf einen Terroristen, aus dem man sich zutraut, entschei-
dende Informationen herauszubekommen, nicht zur Disposition stehen.13 – Ist damit
das Tabu benannt, das dem Roman seinen Titel gibt: Folter?
Wenn es so gedacht sein sollte, wäre an dieser Stelle ein unterkomplexer Begriff
von der Rationalität des Rechts zu beklagen.14 Dagegen spricht indessen die rationale
Argumentationshaltung, die der Autor in allen Fragen des Rechts bis hin zur Mensch-
würde stets erkennen lässt. Und der Text hat auch einschlägigere Referenzen zu bie-
ten: Der Vater des kleinen Jungen, der der Künstler einmal war, schlitzt vor dessen
Augen einem erlegten Wild den Bauch auf und entnimmt die Eingeweide. Das Ge-
räusch des Aufbrechens der Bauchdecke unter dem Schnitt des Messers wird dem
Jungen in Erinnerung bleiben. Jahre später, als der Junge im Internat ist und die
Schulferien im Haus der Eltern verbringt, begeht der Vater in einer Nacht, in der
er weiß, dass sein halbwüchsiger Sohn der Erste sein kann, der ihn findet, Suizid
durch Kopfschuss. Tatsächlich findet ihn sein Sohn, der von dem Schuss geweckt
wird, mit zerschossenem Kopf in seinem Blute liegend. Die frühe verstörende Erfah-
rung einer Gewalttat gegen die physische Integrität eines der Lebewesen, von denen
wir Menschen uns ernähren, und der einige Jahre später erlebte martialische Suizid
des geliebten Vaters zeitigen traumatische Effekte der Art, wie sie vom Tabubruch
ausgehen. Sie belasten den Jungen schwer. Er zieht sich zurück in seine eigene
13
Auf der Folie dieser Textaussage via Figurenrede ist m. E. auch das umstrittene inter-
aktive Theaterstück und Fernsehspiel „Terror“ (2015) zu verstehen, dessen Intention man
entgegen dem Augenschein nicht in der frohen Botschaft vom Nutzen und Vorteil plebiszitärer
Verfahren der Rechtsprechung, sondern in der Befragung, Aufdeckung und Problematisierung
des Rechtsbewusstseins des Publikums zu sehen hat; Ferdinand von Schirach, Terror, Mün-
chen/Zürich 2016. – Für diese Lesart spricht explizit die Rede des Autors in erster Person: „Ich
mag Volksentscheide nicht, sie scheinen unserer Demokratie fremd. Es gibt keine Schwarm-
intelligenz bei politischen Einzelabstimmungen, jedenfalls hat es sie früher nie gegeben.“
Ferdinand von Schirach, „Reine Menschen, reine Luft. Über Raucher und Nichtraucher“, in:
ders., Die Würde ist antastbar, S. 89 – 97; Zitat: S. 92.
14
Dann müsste die Lektüre-Empfehlung an den Autor lauten: Bijan Fathe-Moghadam/
Thomas Gutmann/Michael Neumann/Thomas Weitin, Säkulare Tabus. Die Begründung der
Unverfügbarkeit, Berlin 2015. Die Autoren argumentieren überzeugend und luzide dafür, dass
der mit mythischer Emotionalität operierende Tabu-Begriff die auf diskursive Rationalität,
d. h. auf Argumente gegründete Unverfügbarkeit der Menschenwürde nur verfehlen kann.
Eine Poetik der Menschenwürde 43

Welt, eine aus synästhetischen Halluzinationen gespeiste Welt der Imagination; er


fällt den Lehrern in seinem Internat auf, weil er in lebhafte Gespräche vertieft ist,
ohne dass irgendeine andere Person anwesend wäre. Er wird untersucht, seine Ver-
fassung als ein harmloser Fall wohl von kindlichem Irresein eingestuft, und er über-
lässt sich seinen Imaginationen fortan mit mehr Vorsicht vor dem Entdecktwerden.
Als junger Mann lässt er sich zum Photographen ausbilden und entwickelt seine Fä-
higkeiten bis zu jenem Grad an künstlerischer Selbstständigkeit, der es ihm erlaubt,
seine Traumata in therapeutischer Produktivität zu bearbeiten. Nach einem großen
Erfolg erleidet er jedoch durch eine existentielle Konfrontation (die Begegnung
mit seiner Halbschwester, von deren Existenz er bis zum Augenblick des Kennenler-
nens nichts wusste) einen Zusammenbruch. In der selbstgewählten Einsamkeit pro-
duziert er ein Kunstwerk, eine digitale Video-Installation, mit deren provozierender
Inszenierung er eines der „Tabus“ unserer Welt bricht: Er überschreitet die Grenze
zwischen Kunst und Wirklichkeit in einer für ihn selbst existenzbedrohenden Weise.
Im letzten Drittel des Romans wird der Leser derart zum Zeugen einer Inszenie-
rung, mit der der Protagonist die Absicht zu verbinden scheint, die geliebte Person,
die er durch seine Unzugänglichkeit in die Flucht geschlagen hatte, durch öffentli-
chen Skandal zu erreichen – und dazu zu bewegen, zu ihm zurückzukehren. Im Zen-
trum dieser Video-Installation steht indessen das Trauma der unglücklichen Mutter-
bindung. Die Wahrheit über die Schönheit, die er als Kind an seiner Mutter erlebt hat,
führt er sich als Erwachsener nach Bibliotheksrecherche über einen der Pioniere des
wissenschaftlichen Photographierens: Sir Francis Galton (1822 – 1911) in jener com-
puterbasierten Video-Installation vor Augen: „Er war überzeugt, alle Verbrecher hät-
ten sichtbare Merkmale, die sie von anderen Menschen unterschieden. Galton hatte
lange überlegt, wie er diese Merkmale zeigen könnte, dann stellte er seinen Fotoap-
parat im Gefängnis von London auf und ließ sich Gefangene vorführen. Er fotogra-
fierte alle Gesichter übereinander auf eine einzige Fotoplatte. Galton wusste nicht,
wie das Böse aussieht – es hätten die Augen, die Stirn, die Ohren oder die Münder
sein können. Galton war erstaunt, als er das Foto zum ersten Mal sah: Es gab keine
außergewöhnlichen Merkmale – das Gesicht aus den vielen Verbrechern war
schön.“15
Wie sich bei dem Forscher Galton das synthetische Bild der Schönheit im Effekt
der nivellierenden Vielfach-Projektion der verschiedensten individuellen Physio-
gnomien ergibt, so stellt sich in dem Kunstwerk, dass Sebastian nach seiner Recher-
che inszeniert, durch die Übereinander-Projektion der verschiedensten Farbphotos
schöner Frauen die Farbe Weiß – und damit das mentale Bild der geliebten Mutter
ein. Als kleinem Jungen war dem Künstler seine Mutter so erschienen, als wäre
sie farblos: „Nur seine Mutter hatte keine Farbe“, resümiert die Erzählung die syn-
15
von Schirach, Tabu, S. 114. – In zwei denkwürdigen künstlerischen Projekten wird die
Photographie im Zeitalter ihrer Digitalisierung in diesem Roman noch einmal als Medium der
Erkenntnis exponiert – als Medium der realitätsbezogenen Reflexion auf Anschauungen, die
erst in der bedeutsamen artifiziellen Konstellation – und damit im Modus der Reflexion – die
Chance zu (auch kathartischer und therapeutischer) Einsicht bieten.
44 Birgit Recki

ästhetische Impressionierbarkeit des Kindes, das an allen Menschen vor allem eine
Farbempfindung erlebte. „Lange Zeit glaubte Sebastian, sie bestehe aus Wasser, und
erst wenn er in ihr Zimmer komme, nehme sie die Gestalt an, die alle kannten. Er
bewunderte die Schnelligkeit, mit der ihr jedes Mal die Verwandlung gelang.“16
Für den Leser des Romans, der den Protagonisten interessant genug findet, um
auf die Andeutungen und Hinweise in der Vernetzung der Geschichte zu achten,
lautet der Schlüsselsatz der Passage, in der die Projektion digitaler Bilder beschrie-
ben wird, denn auch: „Die künstliche Frau war nun fast weiß.“ Die höchst signi-
fikante Farbe Weiß, die sich in der Video-Projektion als Mischungsprodukt aus
allen anderen Farben ergibt, beschwört das mentale Bild der Mutter wieder herauf
– diesmal als Medium der Seelenruhe. Kein Zweifel: Auch hier wiederum geht es
um eine Technik des Distanzgewinns. In dieser Geschichte ist es die fortgeschrit-
tene Technologie der Bild-Projektion, durch die im rein atmosphärischen Erinne-
rungs„bild“ Distanz erwächst. Das gleichsam statistische Verfahren und seinen Ef-
fekt, die der Künstler-Protagonist im ultimativen Projekt seiner Video-Installation
zur Anwendung bringt, stellt er unter das Motto einer Gedichtzeile von Friedrich
Nietzsche: Glatt liegt Seele und Meer.17 Dass die ultimative Hommage an das schon
früh entrückte Bild der Mutter im Modus seiner Relativierung durch die ernüch-
ternde Einsicht in das statistische Durchschnittsverfahren der Evokation von
Schönheit, auch ihrer Schönheit, daherkommt: Der Reflexion auf diese Ambiguität
ist keine objektive Grenze gesetzt.

IV. Die „Normalidee der Schönheit“ und das „ästhetische Ideal“ –


Schönheit und Statistik II
In ideengeschichtlicher Perspektive ist darüber hinaus etwas Anderes bemer-
kenswert. Der im Roman erwähnte Francis Galton mag zwar der erste Operateur
des hier beschriebenen statistischen Bildgewinnungsverfahrens sein. Sein Erfinder
ist er nicht. Und es ist auch nicht die Photographie, auf deren Erfindung man erst
warten musste, bis der Gedanke der nivellierenden Überblendung individueller
Züge in einem idealen Bild der Schönheit fassbar wurde. Lange vor der Erfindung
der ersten photographischen Verfahren, in einem philosophischen Text von 1790,
wird das Publikum mit diesem Gedanken vertraut gemacht.18 Der Autor setzt sich
im ersten Teil des Buches mit dem Begriff von Schönheit auseinander und fragt
nach der Analyse der Bedingungen ihrer Möglichkeit, die er gemäß seiner generel-
16
A.a.O., S. 15.
17
A.a.O., S. 124. Vollständig lautet der Text, dessen letzten Satz von Schirach übernimmt:
„Rings nur Welle und Spiel. / Was je schwer war, / sank in blaue Vergessenheit, / müssig steht
nun mein Kahn. / Sturm und Fahrt – wie verlernt er das! / Wunsch und Hoffnung ertrank, glatt
liegt Seele und Meer.“ (Friedrich Nietzsche, Die Sonne sinkt, Dionysos-Dithyramben [1888]).
18
Immanuel Kant, Kritik der Urtheilskraft (1790), Akademie-Ausgabe Bd. V [im Folgen-
den zitiert als KU].
Eine Poetik der Menschenwürde 45

len, bereits in anderen elementaren Fragen der Einstellung auf Wirkliches in Gel-
tung gesetzten Intuition in den kognitiven Aktivitäten des wahrnehmenden Sub-
jekts erkennt,19 schließlich ob es auch ein Maximum (Ideal) der methodisch so re-
konstruierbaren Schönheit gäbe.20 Es ist mit einiger Komplikation verbunden, die
ein ganz eigenes Thema ausmacht, dass die Antwort in unerwartetem Epochen-
sprung mit derjenigen Platons kongruiert, mit dem dieser Autor sonst nur wenig
im Sinn hat: Das Ideal der Schönheit ist (wie denn auch anders für den ästhetisch
affizierten Menschen?) der schöne Mensch.
An dem damit gegebenen Begriff unterscheidet er zwei Dimensionen: die „Ver-
nunftidee“ und die „ästhetische Normalidee“ vom Menschen. Die letztere aber ist
genau der statistische Durchschnitt, den man unter Berücksichtigung einer maximal
verfügbaren Bezugsmenge an Bildern zu ermitteln hätte. Und es ist nicht die Photo-
graphie, der diese Ermittlung zugetraut wird, sondern die menschliche Einbildungs-
kraft.
„Es ist anzumerken: daß auf eine uns gänzlich unbegreifliche Art die Einbildungskraft […]
wenn das Gemüth es auf Vergleichungen anlegt, allem Vermuthen nach wirklich, wenn
gleich nicht hinreichend zum Bewußtsein, ein Bild gleichsam auf das andere fallen zu lassen
und durch die Congruenz der mehrern von derselben Art ein Mittleres herauszubekommen
wisse, welches allen zum gemeinschaftlichen Maße dient. Jemand hat tausend erwachsene
Mannspersonen gesehen. Will er nun über die vergleichungsweise zu schätzende Normal-
größe urtheilen, so läßt (meiner Meinung nach) die Einbildungskraft eine große Zahl der
Bilder (vielleicht alle jene tausend) auf einander fallen; und wenn es mir erlaubt ist, hiebei
die Analogie der optischen Darstellung anzuwenden, in dem Raum, wo die meisten sich ver-
einigen, und innerhalb dem Umrisse, wo der Platz mit der am stärksten aufgetragenen Farbe
illuminirt ist, da wird die mittlere Größe kenntlich, die sowohl der Höhe als Breite nach von
den äußersten Gränzen der größten und kleinsten Staturen gleich weit entfernt ist; und dies
ist die Statur für einen schönen Mann. […] Diese Normalidee ist nicht aus von der Erfahrung
hergenommenen Proportionen, als bestimmten Regeln, abgeleitet; sondern nach ihr werden
allererst Regeln der Beurtheilung möglich. Sie ist das zwischen allen einzelnen, auf man-
cherlei Weise verschiedenen Anschauungen der Individuen schwebende Bild für die
ganze Gattung […].“21

Auch für Kant ist das empirisch-hyperempirische Zentrum der Schönheit ein Ide-
albild, das nicht anders als durch den statistischen Mittelwert definiert ist – doch das
Haben dieses Bildes ist nach seiner Erklärung nicht die Angelegenheit technischer
Lichtprojektion und Überblendung, sondern beruht auf einer genuinen Leistung –
einem „dynamischen Effect“ – der Imagination: der bloßen intelligenten, mit Sinn
und Verstand betätigten Vorstellungskraft. Und an diesem empirisch gewonnenen äs-
thetischen Bild vollzieht sich unter der Wirkung der „Vernunftidee“ eine ethisch-äs-

19
KU, S. 203 – 231.
20
KU, S. 231 – 236.
21
KU, S. 234.
46 Birgit Recki

thetische Bewusstseinserweiterung22 – die eigentliche Idealisierung, die in nicht we-


niger als dem Bewusstsein besteht, dass der Mensch anders als alle anderen in Frage
kommenden ästhetischen Objekte (und es kommen nach diesem Ansatz im Prinzip
alle Objekte auch als ästhetische in Frage) niemals bloß Objekt ist, sondern immer
auch Person. Die zweite Formel des Kategorischen Imperativs hatte dies als norma-
tiven Anspruch artikuliert: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Per-
son, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß
als Mittel brauchst.“23 Es ist dieses normative Bewusstsein, das sich nach Überzeu-
gung des Autors des Kategorischen Imperativs dem Betrachter eines Menschen auch
im Medium des ästhetischen Gefallens jederzeit mitteilt.
Dem Forscher Sir Francis Galton, der sich – wie von Schirach in seiner geistes-
geschichtlichen Intarsie paraphrasiert – die Frage nach der ästhetischen Wahrnehm-
barkeit des Bösen gestellt hatte, könnte sich somit, wenn es nach Kant ginge, ange-
sichts seines Befundes („das Gesicht aus den vielen Verbrechern war schön“) die In-
tuition mitgeteilt haben, die dieser in der zweiten Formel des Imperativs artikuliert
hatte: dass die Menschheit in der Person eines jeden zu achten sei. Es könnte sich ihm
die Einsicht in die Menschheit in der Person auch des Verbrechers mitgeteilt haben.
Kongruiert nicht die Botschaft dieses ästhetischen Lehrstücks in ebenso verblüffen-
der wie beglückender Weise mit der tragenden Intention der Prosa von Schirachs?

V. Ethos des Rechts – Poetik der Menschenwürde


Der Subtext dessen, was in Tabu in der Auseinandersetzung mit der Liquidität di-
gitaler Bilder vorgestellt wird, richtet sich tatsächlich auf eine Poetik der personalen
Distanz, die als die gemeinsame Botschaft aus den Texten von Schirachs emergiert.
In der langen Flucht dieser Texte kann nicht verborgen bleiben, dass im Horizont der
Handlung allemal das essential des Rechtsgedankens steht: die Menschenwürde.
„Würde ist nichts, was verliehen wird, sie kann nicht entzogen werden“, heißt es pro-
grammatisch in einem seiner Essays.24 Damit ist der Rahmen gesteckt, in dem sich

22
Zum Verhältnis des Ästhetischen und Ethischen siehe Birgit Recki, Ästhetik der Sitten.
Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant, Frankfurt am Main
2001.
23
Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), Akademie-Ausgabe
Bd. IV [im Folgenden zitiert als GMS], S. 429.
24
Ferdinand von Schirach, „Vergessene Gummistiefel. Das Straßburger Urteil zur Siche-
rungsverwahrung“, in: ders., Die Würde des Menschen ist antastbar, S. 99 – 107; Zitat: S. 105.
– Der Titel verweist auf den Skandal, der darin besteht, dass Menschen wie Sachen behandelt
werden. Auch darin darf eine Anspielung auf die zweite Formel von Kants Kategorischem
Imperativ gesehen werden (siehe oben, Fußnote 23). von Schirach erwähnt ausdrücklich: „Die
Idee [der Menschenwürde, B.R.] geht auf Kant zurück. Der Mensch, sagte Kant, könne sich
seine eigenen moralischen Gesetze geben und nach ihnen handeln, das unterscheide ihn von
allen anderen Wesen.“ von Schirach: „Die Würde ist antastbar“, S. 10. Seine Ausrichtung am
Denken Schopenhauers (siehe oben, Fußnote 10) kommt in der unmittelbar folgenden Über-
Eine Poetik der Menschenwürde 47

auch das Ethos der Anwalt-Erzählerfigur in den Prosatexten artikulieren muss. Doch
mit der narrativen und diskursiven Thematisierung der Menschenwürde ist es nicht
getan;25 das Interesse an der Qualität literarischer Texte bliebe unbefriedigt, wenn es
nur beim Inhalt der Botschaft bliebe.
Auf die Form kommt es an. Was die Erzählungen Ferdinand von Schirachs litera-
risch auszeichnet: Aus der Idee der Menschenwürde geht scheinbar unmittelbar das
Momentum ihrer impliziten Poetik hervor. Die Menschenwürde findet in der Perfor-
manz dieser Texte auch ihre corporate identity – ihre formale Repräsentation. Denn
von Schirach gehört zu den Autoren, die ihren Figuren ausnahmslos nicht zu nahe
treten. Unabhängig davon, ob es ein Täter, ein Opfer, ein Jurist – und dabei: der Ver-
teidiger mit seinem berechtigten Anspruch auf die Wahrung der Interessen seines
Mandanten oder sein Gegner, der Staatsanwalt, oder der Richter – ist, den der Erzäh-
ler vor sich hat: Er behandelt seine Figuren mit allem Respekt.
Auch dazu, vielleicht vor allem dazu dient die so häufig hervorgehobene Sach-
lichkeit der direkten, nicht-expressiven und schnörkellosen Sprache, durch die
sich seine Texte auszeichnen. Dabei hat es von Kritikern auch gereizte Reaktionen
auf das gegeben, was ihnen wie eine Rückkehr zur neuen Sachlichkeit eines Heming-
way und von daher wie ein epigonaler Manierismus erscheint. Doch nur bei vorder-
gründigem Zugriff wird man übersehen, dass literarische Stilmittel wie der Primat
des kurzen Satzes, die lineare Erzählstruktur und der Verzicht auf schmückende Ad-
jektive unter historisch und sachlich individuierten Bedingungen nicht dasselbe ist:
Der impact, die indirekte Botschaft im Verzicht auf Komplikationen der Syntax und
auf andere Maßnahmen der Expressivität ist eine ganz andere je nachdem, ob der
Erzähler wie bei Hemingway sich in einer Welt des Krieges und der existentiellen
Schiffbrüche im heroisch standhaltenden Blick auf gesellschaftliche Katastrophen
und ungerührte Natur seiner Ich-Stärke und Virilität als letzter Instanz zu vergewis-
sern sucht – oder ob er sich wie bei von Schirach in einer Welt des globalen Marktes,
der postmodernen Desintegration von Kulturen und Subkulturen und der Erosion re-
gionaler Werte darauf verpflichtet fühlt, an der befreienden Disziplin des Rechts fest-
zuhalten, vor dem alle gleich zu sein und unter dessen Schutz alle gleichermaßen zu
stehen haben. Selbst der Verzicht auf Adjektive erweist sich mit Blick auf diese Dif-
ferenz als eine abhängige Variable. Die klaren, linearen, schnörkellosen Sätze des

nahme der Position Schopenhauers zum Ausdruck – in der verblüffenden Einschätzung, Kant
hätte den Begriff „nicht hinreichend bestimmt.“ Dass hier undeutlich bleibt, ob der Begriff der
Person oder der Würde gemeint ist, macht nichts, da die Würde nach Kant ohnehin Merkmal
der Person ist. Entscheidend ist indessen, dass Kant den Begriff der Person nicht durch die
epistemischen Leistungen bestimmt, die den Subjektbegriff qualifizieren sollen, so dass Per-
sonalität und Würde nicht schon an Erkennen und Selbstbewusstsein gebunden sind, sondern
erst an das spezifizierende Merkmal der Selbstgesetzgebung im Handeln (siehe GMS S. 428 –
432), das von Schirach in seiner Eingangsparaphrase klar und deutlich erwähnt, ohne dass er
darin offenbar Kants Bestimmung der personalen Würde erkennt.
25
Siehe auch die Essays „Die Würde ist antastbar“ und „Die Würde der Fürchterlichsten.
Die Menschenrechtsklage des Kindermörders Gäfgen“ in: Ferdinand von Schirach, Die
Würde ist antastbar, S. 5 – 17 und S. 109 – 116.
48 Birgit Recki

Ferdinand von Schirach, in denen noch einmal das (hier indessen nicht wissen-
schaftstheoretisch, sondern juristisch informierte) Ideal des Protokollsatzes aufzu-
schimmern scheint, können manche Funktion erfüllen, manchen Effekt begünstigen.
Prima facie scheinen sie im Dienst der Konzentration auf die Transparenz des Hand-
lungsverlaufs wie des darin entwickelten Sachproblems zu stehen; in der Zurückhal-
tung von Expressivität nehmen sie aber ebenso sehr Rücksicht auf das expressive Ei-
genleben des Lesers wie sie seine selbsttätige Imagination begünstigen.
Dieser Aspekt ist besonderer Beachtung wert: Gelungene Kunstwerke zeichnen
sich durch die Gewährung eines Interpretationsspielraums aus, der es (ohne die Ge-
fahr einer bloß subjektiven Beliebigkeit) erlaubt, eine Vielfalt an Deutungen in Be-
tracht zu ziehen. Kant spricht über diese Eigenschaft des ästhetischen Objekts mit
dem Terminus der „ästhetischen Idee“. Die den Künstler auszeichnende Fähigkeit
ist das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen, und eine ästhetische Idee ist
eine „Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr
doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, völlig adäquat sein kann, die folg-
lich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.“26 Man kann dies
als einen spezifischen Modus von Vagheit begreifen, der von Ungenauigkeit zu un-
terscheiden wäre. von Schirach erzielt diesen Effekt, den spätere Autoren als Ambi-
guität oder als die essentielle Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstandes beschrie-
ben haben, in seinem Roman Tabu nicht allein dadurch, dass im Duktus der Handlung
mehrfach Kunstwerke gerade eben so eingehend beschrieben werden, dass sie ihrer-
seits als Appell an die Interpretation fungieren. Hier wie in seinen anderen Prosa-
Texten ist es vor allem der Verzicht auf expressives Ausschmücken, durch den
dem Leser ein Spielraum, ja geradezu eine produktive Herausforderung seiner Ein-
bildungskraft eröffnet wird.
Darüber hinaus aber ist in der nicht allein auf den Handlungsverlauf, die Situati-
onsschilderung und die Objektbeschreibung, sondern auch auf die handelnden Per-
sonen ausgedehnten Sachlichkeit, in der Enthaltung von aller Expressivität, insbe-
sondere aller Bewertungen, das Element einer Poetik der Menschenwürde zu
sehen: In der indirekten Botschaft des Stils formiert sich gleichsam ein Manifest
gegen die Übergriffigkeit des alles relativierenden Psychologismus, unter dem das
Zeitalter so sehr leidet. Performativ geht von Schirach darin auf Distanz zu dem of-
fenkundig verführerischsten Laster der Solidargemeinschaft kritisch versierter Zeit-
genossen: Er psychologisiert nicht in seine Figuren hinein. Selbst die als schuldig
Erwiesenen und strafrechtlich Verurteilten werden hier weder verurteilt – noch pa-
thologisiert. Und im Extrem der Enthaltung von der Beurteilung der Täter kulminiert
im Gestus objektiver Sachlichkeit überhaupt der Verzicht auf jegliche Indiskretion.
Dieser Erzählgestus, in dem sich das methodische Abstrahieren und der gute Wille
zur Urteilsenthaltung auch gegenüber den dunklen Motive des Handelns verschrän-
ken, hebt in der Instrumentierung der literarischen Mittel, deren wichtigstes die Zu-
rückhaltung von so gut wie allen Methoden der Expressivität und der Introspektion

26
KU, S. 314.
Eine Poetik der Menschenwürde 49

ist, das Ethos der Achtung vor der Würde des Menschen ohne Ansehung der indivi-
duellen Person auf die Ebene einer impliziten Poetik – einer Poetik der Menschen-
würde. von Schirach macht derart den denkbar weiten und produktiven Gebrauch von
der Funktion des Stils als weiche Normativität.27

27
Siehe auch Birgit Recki, „Stil im Handeln oder Die Aufgaben der Urteilskraft“, in:
Kunst, Ästhetik, Philosophie. Im Spannungsfeld der Disziplinen, hg. von Hans Friesen und
Markus Wolf, Münster 2013, S. 221 – 244.
Warum schreiben Schriftsteller
über Recht und Justiz?
Von Heinz Müller-Dietz

I. Von Gemeinsamkeiten zwischen dem Jubilar und mir


In meiner relativ umfangreichen Sekundär-Bibliothek über Karl Kraus nimmt ein
Werk einen Ehrenplatz ein. Es ist Reinhard Merkels profunde und fulminante habi-
litationsreife Studie „Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus“, die mir der Ju-
bilar im November 1994 dediziert hat. Ich habe sie damals buchstäblich verschlun-
gen und sie – wie die 1998 erschienene, um ein Namenregister ergänzte Suhrkamp-
Ausgabe – gleichsam als kulturgeschichtliches Nachschlagewerk für das literarische
Wirken und die Lebenszeit von Karl Kraus benutzt. Reinhard Merkels Studien und
Erkenntnisse über die Schriften des Wiener Satirikers haben mich tief beeindruckt –
auch wenn etliches davon keinen expliziten Ausdruck in meinen Arbeiten über die-
sen Autor und die Literatur schlechthin gefunden hat.
Das damalige Werk des heutigen Jubilars hat in seiner Widmung zugleich an den
1991 in Jerusalem verstorbenen Schriftsteller und exzellenten Kraus-Kenner Werner
Kraft erinnert, dem sich Merkel ja eng verbunden fühlte.1 Kraft gehörte zu jenen Au-
toren, die mir noch vor Reinhard Merkels Buch und seinen anderen Schriften über
Kraus durch zwei seiner literaturgeschichtlichen Darstellungen den Wiener Autor
nahegebracht hatten.2 Ich wurde kürzlich an Kraft erneut anlässlich einer Lesung er-
innert, die Auszüge aus einem in seiner Gestalt wohl einzigartigen, 37 Jahre andau-
ernden Briefwechsel über Literatur zwischen zwei Schriftstellern vermittelte.3 Die
beiden Autoren waren Werner Kraft und der Naturlyriker und Essayist Wilhelm Leh-
mann.4 Sie sind sich freilich nur wenig – etwa in der Endphase der Weimarer Repu-
blik und später nach dem Zweiten Weltkrieg – begegnet. Ihr brieflicher Kontakt, der
trotz der Verschiedenheit der literarischen Themen und Schwerpunkte fruchtbar und
reich an kulturellen Erkenntnissen gewesen ist – hat nur mit Ausnahme der Kriegs-
jahre bis zum Tod Lehmanns 1968 angedauert.
1
Über Kraft Jörg Drews, Marbacher Magazin, 75/1996.
2
Es waren: Kraft, Karl Kraus. Beiträge zu seinem Werk. 1956, und ders., Das Ja des
Neinsagers. Karl Kraus und seine geistige Welt, 1974.
3
Zur Veranstaltung Dorothee Philipp, Bad. Zeitung Nr. 85 v. 13. 4. 2018, S. 39.
4
Über Lehmann etwa Albert Soergel/Curt Hohoff, Dichtung und Dichter der Zeit. Vom
Naturalismus bis zur Gegenwart, 2. Bd., 1964, S. 622 – 631.
52 Heinz Müller-Dietz

Für mich – und auch Reinhard Merkel – hat Karl Kraus natürlich danach nicht
mehr im Zentrum des Schaffens gestanden. Ich habe mich in zunehmendem Maß an-
deren Schriftstellern zugewandt, unter denen wohl Robert Musil mit seinem Jahrhun-
dertroman „Der Mann ohne Eigenschaften“ der prominenteste ist. Eine bedeutsame
Rolle spielte in diesem Kontext begreiflicherweise die Darstellung des Strafprozes-
ses gegen den Prostituiertenmörder Moosbrugger. Das nicht abgeschlossene, Frag-
ment gebliebene Werk Musils – an dem ich mir keineswegs allein die Zähne ausge-
bissen habe –,5 hat mein einschlägiges Wirken bis 2013 begleitet.6 Darüber hinaus hat
die Beschäftigung mit einer Vielzahl weiterer Schriftsteller – namentlich unter der
Prämisse, wie Literatur und Recht sich zueinander verhalten – nicht zuletzt aufgrund
einschlägiger Seminare in einer Reihe von Festschriftbeiträgen ihren Ausdruck ge-
funden.
Dass Reinhard Merkels literarische Interessen und Kenntnisse sich in der geschil-
derten Weise mit den meinigen gekreuzt haben, hat mich dazu ermutigt, ihm zum
runden Geburtstag einen Beitrag zu einem banal erscheinenden Thema zu widmen,
der Recht und Literatur miteinander verbindet. Wohl wissend, dass dieses Projekt
seine Haken und Ösen hat, denen man in einem bloßen Festschrift-Beitrag schwer-
lich gerecht werden kann. Die Frage, weshalb Schriftsteller sich in ihren Werken so
oft – und vielfach mit Emphase – mit Recht und Justiz befassen, ist meines Wissens
bisher nicht in dieser expliziten Form thematisiert worden. Obgleich sich seit der li-
terarischen Moderne eine kaum noch überschaubare rechts- und literaturwissen-
schaftliche Literatur mit dem Verhältnis von Literatur und Recht in seinen verschie-
densten Facetten beschäftigt.7 Wobei natürlich eine Vielzahl von Aspekten etwa her-
meneutischer, kommunikativer und sprachtheoretischer Provenienz eine Rolle
spielt.8 Nicht zuletzt hat die US-amerikanische Bewegung „Law and Literature“
maßgeblich zu dieser Entwicklung beigetragen.9

II. Beziehungen zwischen Literatur und Recht


Manches könnte dafür sprechen, dass sich die Beschäftigung vieler Schriftsteller
mit Recht und Justiz in ihren Werken in aller Kürze auf einen recht einfachen Nenner
bringen ließe. Immerhin weisen nicht weniger als drei Aspekte auf einen Zusammen-
hang zwischen Literatur und Recht hin: Zum einen haben Recht und Literatur die
5
Zum heutigen Diskussionsstand vgl. nur die exzellente Studie von Inka Mülder-Bach,
Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Versuch über den Roman, 2013.
6
Vgl. z. B. Müller-Dietz, Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ als Essay über
Kultur und Recht, 2012.
7
Vgl. z. B. Klaus Lüderssen, Produktive Spiegelungen. Recht in Literatur, Theater und
Film, 2. Aufl. 2002.
8
Siehe etwa Thomas Weitin, Recht und Literatur, 2010.
9
Vgl. z. B. Richard Weisberg, Rechtsgeschichten, 2013 und den in diesem Werk auf
S. 275 – 289 wiedergegebenen Beitrag Bernhard Schlinks „Das Bilderbuch des Rechts“.
Warum schreiben Schriftsteller über Recht und Justiz? 53

Sprache gemeinsam, zum anderen rekurrieren Schriftsteller in ihren Werken allemal


auf kulturelle Phänomene, zu denen ohne Frage Recht und Justiz gehören. Schließ-
lich existieren seit eh und je Schriftsteller, die über rechtliche Kenntnisse verfügen –
sei es, dass sie zumindest (zeitweilig) Jurisprudenz studiert haben, sei es, dass sie
aufgrund ihrer Ausbildung – neben ihrem literarischen Wirken – einen juristischen
Beruf ausüben.
Recht ist – das bedarf keiner näheren Begründung – ebenso wie Literatur auf Spra-
che angewiesen.10 Wenngleich sich im Laufe der Zeit eine eigene Juristensprache
herausgebildet hat, was namentlich Divergenzen in hermeneutischer Hinsicht zur
Folge hat. Recht steht – wie etwa der Literaturwissenschaftler Bernhard Greiner dar-
gelegt hat – mit Literatur in einem engen, ja unmittelbaren Zusammenhang. Ist es
doch wie diese auf Sprache angewiesen – ja „in einem wesentlichen Sinne selbst Li-
teratur“ – „was jede Kodifikation von Recht beweist“.11 Dieser Zusammenhang oder
gar die Abhängigkeit des Rechts von Literatur war in Zeiten der schriftlichen Fixie-
rung von Recht noch enger, als es gerade Sache der Literatur war, Rechtsdenken zu
vermitteln und Rechtsfragen zu verhandeln.
Zum anderen befassen sich Schriftsteller in ihren Arbeiten allemal mit kulturellen
Phänomenen und Aspekten von Bedeutung. Dass Recht und Justiz von gewichtiger
gesellschaftlicher Relevanz sind, steht außer Frage. Der Übertreibungskünstler Tho-
mas Bernhard hat sich in seiner frühen Prosa, die namentlich aus seinen Erfahrungen
mit Gerichtsberichterstattung hervorgegangen ist, zu einer Äußerung verstiegen, die
immer wieder zitiert, aber nicht weiter hinterfragt worden ist. Hat er doch bei der
Wiedergabe eines Gesprächs seinem Gesprächspartner die Worte in den Mund ge-
legt: „Die Welt ist eine ganz und gar, durch und durch juristische. […] Die Welt
ist eine einzige ungeheuere Jurisprudenz.“12 Viele gesellschaftliche Konflikte und
Auseinandersetzungen weisen Rechtscharakter auf oder rufen zumindest das
Recht auf den Plan. Unzählige Autoren der Literaturgeschichte – von denen sich
nur einige wenige im Rahmen eines begrenzten Beitrags zitieren lassen – haben
sich in ihren Werken mit Recht und Justiz auseinandergesetzt.
Seit der Antike bis in die unmittelbare Gegenwart hinein har sich eine schwerlich
fassbare Vielzahl von Schriftstellern aufgemacht, sich in ihren Werken mit der kul-
turellen Bedeutung von Recht und Justiz zu beschäftigen. Wobei natürlich stets die
Frage eine Rolle gespielt hat, welchen Einfluss fiktionale und realistische Elemente
auf die geschichtliche und gegenwartsbezogene Darstellung in solchen Werken ge-
nommen haben. Dass Schriftsteller, die über keinerlei juristische Vorkenntnisse ver-
fügen, sich auch in einer für Juristen diskutablen oder gar akzeptablen Weise mit Fra-
gen des Rechts und der Justiz auseinandersetzen können, selbst wenn sie sich einer

10
Vgl. z. B. Müller-Dietz, Recht und Kriminalität im literarischen Widerschein, 1999,
S. 7 – 45.
11
Greiner, Das Forschungsfeld „Recht und Literatur“, in: Recht und Literatur. Interdiszi-
plinäre Bezüge. Hrsg. von Bernhard Greiner u. a., 2010, S. 7.
12
Bernhard, Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie?, in: Prosa, 1967, S. 44.
54 Heinz Müller-Dietz

ironischen oder gar satirischen Schilderung des Romangeschehens bedienen, haben


so manche Beispiele gezeigt. Ein Musterbeispiel für die Verflechtung von zeitgenös-
sischen und fiktionalen Aspekten in diesem Sinne stellt der fast schon zu Tode ana-
lysierte Strafprozess gegen den Prostituiertenmörder Moosbrugger in Wien vor dem
Ersten Weltkrieg in Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ dar. Bei der iro-
nisierenden Schilderung dieser Gerichtsverhandlung hat sich der Autor ja auf eine
Reihe von Recherchen stützen können, die er nicht zuletzt ausgiebigen Berichten
in der Gerichtsberichterstattung der Presse zu verdanken hatte.13
Der 2010 verstorbene Münchner Literaturwissenschaftler Walter Müller-Seidel
hat in einem von ihm selbst als „Rechtsbuch“ betitelten, leider erst posthum erschie-
nenen Werk sich eigens mit „Rechtsdenken im literarischen Text“ (2017) anhand
einer ganzen Reihe bedeutender Autoren von der Weimarer Klassik bis zur Weimarer
Republik befasst. Er hat – nicht zuletzt unter Rekurs auf rechtsgeschichtliche Wis-
senschaftler – in diesem nicht nur für Juristen lesenswerten Sammelband von einer
fachübergreifenden Position aus dargetan, dass etwa Schillers Dramen durch die Er-
örterung staats- und verfassungsrechtlicher Fragen zur Legitimität von Verschwö-
rung, Widerstandsrecht und Tyrannenmord in aussagekräftiger Weise juristische
Themen zur Diskussion gestellt hat. Ein Kernproblem ist demnach – wie er es
nicht nur, doch vor allem in seinem „Wilhelm Tell“ diskutiert hat – die Rechtsfrage,
wann und unter welchen Voraussetzungen unterdrückte und terrorisierte Bürger
(oder Untertanen) berechtigt sind, sich die ihnen zustehende Freiheit durch einen Ty-
rannenmord zu verschaffen. Die unverändert aktuell gebliebene juristische Frage-
stellung hat – wie erinnerlich – namentlich die Widerständler des „Dritten Reiches“
umgetrieben.14
Müller-Seidel hat sich ferner mit Heinrich Manns Werk auseinandergesetzt, das
durch Justizkritik gekennzeichnet ist, und an seinem Beispiel gezeigt, wie es um die
nicht nur moralische, sondern auch juristische Rechtfertigung der Todesstrafe be-
stellt ist oder doch sein kann. Ferner hat er an Alfred Döblins Schrift „Die beiden
Freundinnen und ihr Giftmord“ (von 1924) erinnert, die in einer geradezu modern
erscheinenden Weise aktuelle Rechts- und Justizprobleme erörtert. Die Weimarer
Zeit war ja, was das Verhältnis von Literatur und Justiz anlangt, durch eine nachhal-
tige justizkritische Phase gekennzeichnet, an der zahlreiche zeitgenössische Schrift-
steller – wie z. B. Kurt Tucholsky, Jakob Wassermann, Lion Feuchtwanger und Ödön
von Horváht – partizipiert haben.15

13
Vgl. Müller-Dietz, Strafrechtliche, strafprozessuale und kriminologische Aspekte in
Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“, GA 160, Jg. 2013, S. 49 – 68.
14
Vgl. z. B. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und
der Widerstand gegen Hitler, hrsg. von Jürgen Schmädeke/Peter Steinbach, 1985, S. 1003 ff.,
2021 ff.; Gerd Überschär, Für ein anderes Deutschland. Der deutsche Widerstand gegen den
NS-Staat 1933 – 1945, 2006, S. 240 ff.; neuerdings Thomas Karlauf, Stauffenberg: Porträt
eines Attentäters, 2019.
15
Vgl. namentlich Klaus Petersen, Literatur und Justiz in der Weimarer Zeit, 1988,
S. 133 – 193; Müller-Seidel, Justizkritik und moderne Literatur, 1989.
Warum schreiben Schriftsteller über Recht und Justiz? 55

Doch müssen es keineswegs nur Kardinalfragen und Staatsaktionen des Rechts


sein, die in literarischen Texten – insbesondere in Romanen und Erzählungen – be-
handelt werden. Es können durchaus auch Alltagsprobleme des Rechts und der Justiz
sein, die literarisch zur Sprache gebracht werden. Der Weg, den Autoren dieser Pro-
venienz zumeist einschlagen, besteht zumeist darin, dass sie sich im Rahmen ihrer
schriftstellerischen Tätigkeit spezielle juristische Kenntnisse zu verschaffen suchen.
Einen solchen Versuch, die Alltagswelt unserer Zeit in juristischer Hinsicht – nicht
zuletzt auf der Grundlage berliner Erfahrungen – abzubilden, hat etwa Martin C.
Schröder in einem leicht lesbaren Werk unternommen.16 In der Vorbereitung ihres
Romans „Justizpalast“ von 2017 deutlich weitergegangen ist die gelernte Theater-
wissenschaftlerin Petra Morsbach, die für ihr mit dem Wilhelm-Raabe-Preis ausge-
zeichnetes Werk neun Jahre recherchiert hat. Sie hat erklärtermaßen mit etwa 50 Ju-
risten, darunter 30 Richtern der Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, Ge-
spräche über ihre Arbeit geführt und ist von manchen mit Rat, Kritik und Korrekturen
unterstützt worden.17
Eine dritte enge Verbindung zwischen Literatur und Recht wird auch durch Au-
toren literarischer Werke hergestellt. So geht auf ihr Konto ein nicht unerheblicher
Anteil von Autoren, die wenigstens teilweise eine universitäre juristische Ausbil-
dung genossen haben oder sogar nach ihrem Jurastudium einen juristischen Beruf
ausgeübt haben oder weiterhin ausüben. Dies wird namentlich an der Vielzahl von
„Dichterjuristen“ deutlich, die in der Vergangenheit literarische Werke vorgelegt
haben oder dies bis in die unmittelbare Gegenwart hinein noch tun. Eugen Wohl-
haupter hat diesem beachtlichen Kreis von Schriftstellern ja in seinem monumenta-
len dreibändigen Werk unter eben dem Titel „Dichterjuristen“ – das leider posthum
erscheinen musste – ein literaturwissenschaftliches Denkmal gesetzt, das in Größen-
ordnung und Bedeutung bisher unerreicht geblieben ist. H. G. Seifert hat durch seine
Bearbeitung dafür gesorgt, dass diese Bände 1952, 1955 und 1957 erscheinen konn-
ten. Sie befassen sich mit einer Vielzahl von bedeutenden Autoren, die sich in der
Vergangenheit literarisch betätigt haben, beziehen aber gewiss nicht sämtliche
Schriftsteller ein, die man zu den „Dichterjuristen“ rechnen kann. Immerhin werden
im dritten Band des umfangreichen Werkes noch weitere „Juristen als Künstler“ in
Form von Kurzporträts präsentiert, die sich gleichfalls (seit dem 15. Jahrhundert) li-
terarisch betätigt haben (S. 403 – 459).
Im Kreis der „Dichterjuristen“ waren und sind so gut wie alle juristischen Berufe
vertreten. Im Kaiserreich und in der Weimarer Republik haben sich vor allem Rechts-
anwälte als Schriftsteller hervorgetan. Ein neueres Beispiel bildete etwa der 1995
verstorbene österreichische Schriftsteller Albert Drach, der seine Erkenntnisse
und Erfahrungen als Rechtsanwalt – die er namentlich in Strafprozessen gewonnen
hatte – literarisch ausgiebig zu verwerten gewusst hat. So hat er in verschiedenen Ro-

16
Schröder, Allgemeine Geschäftsbedingungen. Roman, 2002.
17
Vgl. ihren Dank an die Helfer nach dem Ende des Romans, ferner die Rezension von
Hermann Weber, NJW 71. Jg. 2018, S. 762 f.; vgl. auch Morsbach, in: NJW Nr. 5 / 2018.
56 Heinz Müller-Dietz

manen, in denen strafprozessuale Ermittlungen eine zentrale Rolle spielen, eine


sprachliche Form der Darstellung praktiziert, die mich in einem Versuch seiner Wür-
digung dazu veranlasst hat, sein Werk unter das Rubrum „Vom Kriminalprotokoll
zum literarischen Protokoll“ zu stellen.18
Inzwischen hat das Beispiel Wohlhaupters Schule gemacht. So hat Yvonne Nilges
2014 einen weiteren Sammelband unter dem Titel „Dichterjuristen“ herausgegeben,
der „Studien zur Poesie des Rechts vom 16. bis zum 21. Jahrhundert“ von Germanis-
ten und Juristen aufweist. Hier begegnet man neben älteren Schriftstellern, die gro-
ßenteils schon von Wohlhaupter gewürdigt worden sind, auch neuen Autoren wie
Kafka, Carl Schmitt (mit Frühwerken), Nikos Katzantzakis, Bernhard Schlink,
Georg M. Oswald, Juli Zeh und Ferdinand von Schirach. Unter den literarisch
tätig gewesenen Juristen wäre noch Herbert Rosendorfer zu nennen, der neben seiner
beruflichen Tätigkeit als Richter eine beachtliche Vielzahl von Romanen und ande-
ren literarischen Texten hervorgebracht hat. Er ist etwa in dem von Michael Kilian
herausgegebenen Sammelband „Jenseits von Bologna“19 mit einem Beitrag „Über
Gerechtigkeit und Literatur“ (S. 1 – 16) vertreten.

III. Themen, die Literatur und Recht miteinander verbinden


Unter der Vielzahl von Themen, die Literatur und Recht gleichermaßen beschäf-
tigen, ragen drei mit deutlichem Abstand vor anderen heraus. Es ist zum einen die
Gerechtigkeit, die als Rechtswert von fundamentaler Bedeutung für das Recht ist,
aber ebenso im Mittelpunkt von einer Vielzahl von Romanen steht, die sich mit ge-
sellschaftlichen Konflikten und ihrer Lösung auseinandersetzen. Verwandt mit dem
Thema der Gerechtigkeit ist aber auch das vielfach von Diskrepanz gekennzeichnete
Verhältnis von Recht und Rechtsgefühl, das in Rechtspraxis und Rechtstheorie eine
gewichtige Rolle spielt, zugleich aber Lesern immer wieder in Romanen begegnet.
Nicht minder bedeutsam erscheinen schließlich auch die zumeist als Parallelen oder
Ähnlichkeiten beschriebenen Vorgänge, die sich in den auf der Theaterbühne gezeig-
ten Prozessen und den im Gerichtssaal stattfindenden Verhandlungen abspielen.
Nicht wenige Schriftsteller haben sich anheischig gemacht, die Gerechtigkeit in
den Mittelpunkt ihrer Romane oder Erzählungen zu rücken – und damit die zentrale
Rechtsidee20 zum Gegenstand ihrer Analysen zu erheben21. Das gilt etwa für promi-
nente Autoren wie Heinrich von Kleist, Georg Büchner, E. T. A. Hoffmann, Annette
von Droste-Hülshoff, Franz Kafka oder für eine ganze Reihe von Schriftstellern der

18
Vgl. Müller-Dietz (Fn. 10), S. 190 – 218.
19
Kilian (Hrsg.), Jenseits von Bologna – Jurisprudenz literarisch. Von Woyzeck bis Wei-
mar – von Hoffmann bis Luhmann, 2006.
20
Vgl. nur Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1997, S. 152 – 164.
21
Vgl. z. B. Rosendorfer, a.a.O.; Müller-Dietz, Die Gerechtigkeitsfrage in der Literatur, in:
Gerechtigkeit – eine Illusion?, hrsg. von Kai Horstmann u. a., 2004, S. 103 – 124.
Warum schreiben Schriftsteller über Recht und Justiz? 57

Weimarer Zeit wie Arnold Zweig, Jakob Wassermann und Lion Feuchtwanger.
Zumal das Publikum gerade von belletristischen Werken, die sich mit Rechtsproble-
men auseinandersetzen, in aller Regel – ebenso wie von realen Prozessen – gerechte
Lösungen des juristischen Konflikts erwartet.
Freilich hat Robert Musil in der ihm eigenen ironischen Weise in seinem perspek-
tivenreichen Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ konstatiert: „Es ist schwer, der
Gerechtigkeit in Kürze Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.“22 Hans Erich Nossack
hat einen Essay über „Das Verhältnis der Literatur zu Recht und Gerechtigkeit“ von
1968 zwar mit der Feststellung eingeleitet: „Als Thema interessieren sich Literatur
und Literaten niemals direkt für Recht und Gerechtigkeit“ (S. 3). Er hat aber zum
Ausdruck gebracht, dass das Problem der Gerechtigkeit von Kleist in seiner Erzäh-
lung „Michael Kohlhaas“ gültig abgehandelt worden sei (S. 12). „So dass das Le-
bensschicksal des Rosshändlers [für ihn] gleichsam zum Symbol dafür geworden
ist, wie sich die Majestät des Rechts in Gestalt der Gerechtigkeit auch und gerade
allen Übersteigerungen des Rechtsgefühls gegenüber zu behaupten weiß.“23 Es
mag sein, dass Schriftsteller aus guten ästhetischen Gründen in ihren Werken eine
direkte Bezugnahme auf Gerechtigkeit meiden und deshalb – wie eben Nossack –
sich allenfalls essayistisch zu diesem ebenso schwierigen wie anspruchvollen
Thema äußern. In diesem Sinne könnte denn auch Friedrich Dürrenmatts weitaus-
greifender „Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht“ von 1969 verstanden
werden. Durch den ganzen Vortrag zieht sich ein Gedanke, den man gewissermaßen
als das Fazit des Schriftstellers begreifen könnte: „Die Welt ist durch unsere Unge-
rechtigkeit gerechterweise ungerecht, und erst dann könnte die Welt gerechterweise
gerecht sein, wenn wir selbst gerecht wären.“ (S. 94) „Der Schriftsteller“ – so meint
Rosendorfer – „zitiert die Realität, in der fast nie die Gerechtigkeit zum wahren Sieg
gelangt, vor die Schranken einer höheren, selbsternannten Instanz, und das ist ver-
mutlich der innerste Zusammenhang der Literatur mit der Jurisprudenz und der
Grund dafür, dass sich so viele Juristen in der Literaturgeschichte tummeln.“24
Oft genug haben Schriftsteller ein feines Gespür für die Anwendung und Durch-
setzung von Recht, das diese Bezeichnung verdient. Dementsprechend setzen sich
etliche Werke mit der Frage auseinander, wie das jeweils in einem Gemeinwesen gel-
tende Recht vom Publikum, namentlich aber von den unmittelbar Betroffenen erlebt
wird. Wie die Beispiele von Nossack und Dürrenmatt zeigen, verbinden Schriftsteller
in der Regel mit Recht die Vorstellung von Gerechtigkeit. Und das gilt normalerweise
für das Publikum gleichermaßen. Gleichwohl konstatiert man schon aus Gründen der
Rechtsgeltung, also Rechtsdurchsetzung, einen mehr oder minder tiefgreifenden
Zwiespalt zwischen Recht und Rechtsgefühl. Er stellt beileibe nicht nur ein rechts-
soziologisches und rechtsphilosophisches Problem für die Rechtsanwendung und

22
Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 2, 1978, hrsg. von Adolf Frisé, S. 537.
23
Müller-Dietz (Fn. 21), S. 106.
24
In: Kilian (Fn. 19), S. 2.
58 Heinz Müller-Dietz

-durchsetzung dar. Vielmehr wird er auch von vielen Schriftstellern als Problem emp-
funden und deshalb in ihren Werken diskutiert.
Wie Autoren sich mit der „Diskrepanz zwischen Recht und Rechtsgefühl“ aus-
einandergesetzt haben, hat etwa Katharina Döderlein auf literaturwissenschaftli-
cher Grundlage – natürlich unter Heranziehung juristischer Erkenntnisse und Stel-
lungnahmen zu diesem Konflikt – anhand einer Reihe von Romanen und Erzählun-
gen untersucht.25 Sie hat sich in ihrer überaus beachtlichen Studie mit fünf ein-
schlägigen literarischen Texten – die freilich nur eine Auswahl aus der Vielzahl
einschlägiger Werke darstellen – befasst. Unter ihnen befinden sich Texte,
denen man zumindest Klassizität zusprechen möchte. Im Einzelnen handelt es
sich um die folgenden Romane und Erzählungen: Heinrich von Kleists „Michael
Kohlhaas“, Annette von Droste-Hülshoffs „Judenbuche“, Theodor Fontanes
„Grete Minde“, Werner Bergengruens „Feuerzeichen“ und Martin Walsers
„Finks Krieg“. Es ist schwerlich ein Zufall, dass ich mich gleichfalls in einem Bei-
trag unter dem Vorzeichen einer ähnlichen Fragestellung mit den hier zitierten
Werken von Kleist und Walser auseinandergesetzt habe.26 Ich habe freilich in dieser
kleinen Arbeit die einschlägige Thematik keineswegs in dieser tiefschürfenden und
weit ausgreifenden Weise ausschöpfen können, wie es Katharina Döderlein in ihrer
grundlegenden Studie vermocht hat.
Hat sie doch „Geltendes Recht und Rechtsgefühl“ als „zwei Schalen einer
Waage“ begriffen, deren Sockel „die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, Freiheit
und Demokratie“ darstellen, „auf die sowohl das gesamte Rechtswesen als auch
das individuelle und kollektive Selbstverständnis der Bürger aufbaut und die
dem Gebilde Halt und Substanz verleihen“ (S. 286). Im Regelfall geht die Autorin
von einem relativen Gleichgewicht zwischen beiden Seiten aus. Zu einer „struktu-
rellen Bedrohung“ wächst sich ein Ungleichgewicht zwischen geltendem Recht
und subjektivem Rechtsgefühl aus, wenn das Rechtswesen seine allgemeine Ak-
zeptanz zu verlieren oder nachhaltig gestört zu werden droht. Doch ist das ein Sze-
nario, das Döderlein zufolge in Deutschland schwerlich eintreten kann (S. 287).
Mit einem solchen Fall hatten wir es – wie sie des Näheren ausführt (S. 289 f.) –
aufgrund des nationalsozialistischen Unrechtssystems im „Dritten Reich“ zu
tun, das ja zur gerichtlichen Anerkennung der legendären Radbruch’schen Formel
in seinem 1946 erschienenen Beitrag „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches
Recht“ von 1946 geführt habe.27
Nur in solchen Extrem-Fällen, in denen das Recht nicht mehr den für es verbind-
lichen Wertmaßstäben der Gerechtigkeit genügt, nämlich die „strikte Trennung

25
Döderlein, Die Diskrepanz zwischen Recht und Rechtsgefühl in der Literatur. Ein dra-
matischer Dualismus von Heinrich von Kleist bis Martin Walser, 2017.
26
Müller-Dietz, Rechtsbehauptung und Rechtsdurchsetzung in literarischen Diskursen, in:
Festschrift für Winfried Hassemer, 2010, S. 121 – 141.
27
Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie III, bearb. von Winfried Hassemer, 1990, S. 83 –
93.
Warum schreiben Schriftsteller über Recht und Justiz? 59

von Recht und Macht“, die „für ein demokratisches, soziales und gerechtes Rechts-
system unabdingbar“ ist, hat nach Döderlein das geltende Recht seine Legitimation
zur Durchsetzung verloren (S. 290). Genügt das geltende Recht den normativen
Anforderungen an eine Rechtsordnung, müsse der trotz seines abweichenden
Rechtsgefühls – wie stark er sich durch dieses Recht auch verletzt fühle – dessen
Anwendung hinnehmen. Zumeist geschehe dies bei vernünftig reagierenden Bür-
gern aufgrund gesunden Menschenverstandes und sozialen Verantwortungsbe-
wusstseins auch. Doch sei eben nicht jeder Bürger bereit, sich dem geltenden,
von ihm aber als ungerecht empfundenen Recht unterzuordnen, so dass „das funk-
tionale Gleichgewicht zwischen Rationalität und Emotionalität“ gestört sei und
deshalb „zu impulsiven Affekthandlungen, pathologischem Verhalten und, im
Ernstfall, zu Selbstjustiz führen“ könne. (S. 294) Konflikte zwischen Recht und
Rechtsgefühl könnten jederzeit – auch in beliebigen Alltagssituationen – auftreten.
Sie seien keineswegs von revolutionären Situationen oder von einschneidenden po-
litischen, gesellschaftlichen oder religiösen Wertumbrüchen abhängig (S. 300).
Katharina Döderlein rückt ans Ende ihrer eindrucksvollen und weitgehend über-
zeugenden Analyse – die hier nur fragmentarisch wiedergegeben worden ist –
als Fazit das Statement: „Den Schriftstellern ist in der Regel nicht daran gelegen,
die Ideen und Gefühle des Individuums den Prinzipien der die Gemeinschaft si-
chernden Rechtsordnung vorzuordnen und damit ein gewisses ,Davidtum, das
den Goliath schlug‘, durch die gesamte Weltgeschichte“ (Theodor Fontane) vor
den idealisierenden Kulissen der literarischen Bühne zu etablieren (S. 303 f.).
Über die bisher erwähnten Beziehungen hinaus gibt es noch einen weiteren As-
pekt, der auf Verknüpfungen, ja sogar auf Ähnlichkeiten oder gar Parallelen zwi-
schen Literatur und Recht verweist. Er besteht im Prozess, der seit der Antike,
etwa seit dem „König Ödipus“ von Sophokles auf der Bühne des Theaters gezeigt
wird und im Gerichtssaal seinen juristischen Ausdruck findet. Theateraufführung
und Gerichtsverhandlung laden zum Vergleich buchstäblich ein.28 Seine geradezu
unvergängliche Klassizität ist an und in Kleists Komödie „Der zerbrochne Krug“
in besonderer Weise deutlich geworden. Hier hat es der Dichter verstanden, an
einem exceptionellen Beispiel einen Gerichtsprozess auf der Bühne vorzuführen.29
Natürlich gibt es noch eine weitere Vielfalt von Exempeln, an denen man verfah-
rensrechtliche und inhaltliche Parallelen zwischen Prozessen auf der Theaterbühne
und im Gerichtssaal studieren kann. Ein prominentes Beispiel bildet etwa Shake-
speares „Kaufmann von Venedig“, dessen – literarisch-juristische Gestalt gleichfalls
reiche Beachtung von Literaturwissenschaftlern und Juristen erfahren hat.30 Der
1995 verstorbene österreichische Schriftsteller Albert Drach etwa hat seine Kennt-

28
Vgl. z. B. Müller-Dietz, Literarische Strafprozessmodelle, GA 150, 2003, S. 269 – 292.
29
Vgl. Cornelia Vismann, Medien der Rechtsprechung, 2011, S. 38 – 64; Müller-Dietz, Der
zerbrochne Krug, in: Justiz und Komödie, hrsg. von Heike Jung u. a., 2014, S. 49 – 82.
30
Vgl. z. B. Theodor Wolpers, in: Literatur und Recht, hrsg. von Ulrich Mölk, 1996,
S. 150 – 185; Uwe Diederichsen, a.a.O., S. 186 – 228.
60 Heinz Müller-Dietz

nisse und Erfahrungen als Rechtsanwalt – die er namentlich in Strafprozessen ge-


wonnen hat – literarisch ausgiebig zu verwerten gewusst. So hat er in verschiedenen
Romanen, in denen strafprozessuale Ermittlungen eine zentrale Rolle spielen, eine
sprachliche Form der Darstellung praktiziert, die mich in einem Versuch der Würdi-
gung dazu veranlasst hat, sein Werk unter das Rubrum „Vom Kriminalprotokoll zum
literarischen Protokoll“ zu stellen.31

IV. Ein zentraler Unterschied zwischen Literatur


und Recht
Ein gewichtiger Unterschied zwischen Literatur und Recht besteht freilich hin-
sichtlich der Lösungen und Lösungsmöglichkeiten gesellschaftlicher Konflikte:
Recht ist an übergeordnete normative Wertungen gebunden. Zwar ist umstritten,
ob und inwieweit es dem Wertekanon eines wie immer abgeleiteten und verstan-
denen Naturrechts unterliegt. Wohl aber sind die nachgeordneten Gesetze und nor-
mativen Lösungen an die an der Spitze der Rechtsordnung stehende Verfassung ge-
bunden. Verkörpert diese doch die rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens.
Literatur hingegen unterliegt grundsätzlich keinerlei normativen Bindungen.
Kunst und Wissenschaft sind nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes frei. Dem-
entsprechend ist literarisches Schreiben als künstlerische Betätigung autonom, von
Bindungen frei. Ausnahmen stellen lediglich verfassungsrechtlich gezogene Schran-
ken dar – etwa Persönlichkeitsrechte, die durch literarische Texte betroffen werden
oder strafrechtliche Grenzen, die durch ihrerseits verfassungskonforme Gesetze ge-
zogen werden. „Kunst ist autonom.“32
Aus alledem resultiert eine Freiheit des literarischen Schreibens, die die Wirklich-
keit ebenso übersteigen kann, wie sie an rechtliche Regelungen – etwa Gesetze –
nicht gebunden ist. Dieser fundamentale Unterschied eröffnet dem Schriftsteller
Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, aber auch fiktionaler
Darstellungen, wie sie nicht annähernd dem Juristen zu Gebote stehen. So fehlt es
denn auch nicht an literarischen Beispielen für Lösungen gesellschaftlicher Konflik-
te, wie sie Juristen aus rechtlichen Gründen verwehrt sind.
Dementsprechend wird denn auch Literatur in literaturwissenschaftlicher Per-
spektive schlechthin utopischer Charakter zugeschrieben. So hat etwa Gert Ueding
in dem von ihm 1978 herausgegebenen Sammelband ,Literatur ist Utopie‘ die
Gleichsetzung von Literatur und Utopie gleichsam programmatisch vollzogen und
ihr mit der Feststellung Ausdruck gegeben: „Literatur als Utopie ist ja generell Vor-
griff der Einbildungskraft auf neue Erlebniswirklichkeiten, bedeutet planvoll phan-
tasiereiches Entdecken und Aktivieren schöpferischen Vermögens des Menschen im

31
Müller-Dietz (Fn. 10), S. 190 – 218.
32
Weitin (Fn. 8), S. 81 – 87.
Warum schreiben Schriftsteller über Recht und Justiz? 61

ästhetischen Bild und kritische Absage an eine hemmende Wirklichkeit.“33 In diesem


Sinn hat sich auch der „Dichterjurist“ Rosendorfer geäußert: „Literatur ist Utopie.
Der Schriftsteller schafft Welten.“34
Literarische Exempel dieser Darstellungsart bieten vor allem jene bis in die un-
mittelbare Gegenwart erschienenen Romane, die utopischen Charakter aufweisen.
Freilich stellen solche Werke, die verschiedentlich zugleich philosophischer und po-
litischer Natur sind, keine Erfindung der Neuzeit dar. Ausgangspunkt bildet vielmehr
Platons „Politeia“ („Staat“). Von dessen Entwurf eines Idealstaates führt der Weg
über den „Gottesstaat“ („De civitate Dei“) Augustins zum staatsphilosophischen
Dialog des Thomas Morus von 1516. Morus gab mit seinem Titel „Utopia“ der gan-
zen literarischen Gattung den Namen. Auf sein Werk folgte 1623 „Sonnenstaat“, das-
jenige des Dominikaners Tommaso Campanella, das in lateinischer Fassung „Civitas
solis idea republicae philosophiae“ hieß, aber in sprachlicher und origineller Form
zurückblieb.
In der literarischen Moderne traten indes zunehmend an die Stelle solcher utopi-
scher Romane, die ideale Gemeinwesen zum Gegenstand hatten, deren Gegenteile,
sog. Dystopien. Dies gilt namentlich für das 20. Jahrhundert, dessen Verlauf durch
eine weitgehende Abdankung des Fortschrittsgedankens, vor allem aber durch die
Entstehung totalitärer Diktaturen gekennzeichnet war. Beispiele für derartige
„schwarze Utopien“ bilden namentlich der 1920 entstandene Roman „Wir“ des rus-
sischen Schriftstellers Jewgenin Samjatin, Aldous Huxleys Roman „Brave New
World“ von 1932 und George Orwells Roman „1984“ von 1949. Aus der Gegen-
wartsliteratur verdient insbesondere Juli Zehs Roman „Corpus Delicti“ von 2009
als Exempel für eine Dystopie hervorgehoben zu werden.35 In allen diesen Werken
ist von Staatssystemen oder -formen mit totalitärem Charakter die Rede. In ihnen ist
für Menschenrechte und Menschenwürde kein Platz mehr, steht doch die Durchset-
zung der ideologischen Vorstellungen des Systems um jeden Preis im Zentrum des
Geschehens. Ob und inwieweit die Pflichten, die den in solchen Zwangssystemen
lebenden Menschen auferlegt sind, Rechtscharakter haben, ist irrelevant. Jedenfalls
kommt den dort geltenden Regelungen keinerlei moralische Qualität zu.
Eine weitere Dystopie, – die von Ferne an aktuelle politische Ereignisse wie den
Brexit und das Vorhaben des US-Präsidenten erinnert, eine Mauer an der Grenze zu
Mexiko zu errichten – hat der Globalisierungskritiker John Lanchester inzwischen in
seinem Roman „Die Mauer“ (2019) vorgelegt. Das Werk schildert eine von der Kli-
makatastrophe befallene Erde, in der ganze Teile von Unbewohnbarkeit bedroht sind.
Im Zentrum des Romans steht eine 10.000 Kilometer lange, fünf Meter hohe, von
100.000 Verteidigern bewachte Mauer, mit der sich das britische Volk vor der „Über-

33
Zit. nach Müller-Dietz, Literatur, Recht und Staat, GA 156, 2009, S. 699 – 720 (715).
Vgl. auch Literarische Utopie-Entwürfe, hrsg. von Hiltrud Gnüg, 1982.
34
In: Kilian (Fn. 19), S. 2.
35
Vgl. Müller-Dietz, Zur negativen Utopie von Recht und Staat etc., JZ 66, 2011, S. 85 –
95.
62 Heinz Müller-Dietz

flutung“ durch die „Anderen“ – die außerhalb der britischen Insel leben – zu schützen
sucht.36

V. Epilog
Die hier referierten Beziehungen zwischen Literatur und Recht (II. – III.) verwei-
sen in der Tat auf enge Beziehungen zwischen Literatur und Recht. Sie greifen frei-
lich aus der Vielzahl struktureller Annäherungen und Überschneidungen wohl nur
die bedeutsamsten und ins Auge stechendsten heraus. Auf der anderen Seite trennen
und unterscheiden die beiden Kulturphänomene Literatur und Recht die im IV. Ab-
schnitt erörterten auseinandergehenden Räume freier Erörterung und Auseinander-
setzung gesellschaftlicher Konflikte. Sie zeigen, dass ungeachtet aller Beziehungen
zwischen Literatur und Recht doch eine kulturell stark ins Gewicht fallende Diffe-
renz zwischen beiden kulturellen Phänomenen besteht.

36
Vgl. etwa die Rezensionen von Burkhard Müller, Eine Mauer um die ganze Insel, in: Die
Zeit Nr. 6 vom 31. 1. 2019, S. 41; Martin Halter, Wir oder die Anderen, in: Bad. Zeitung
Nr. 26 vom 31. 1. 2019, S. 11.
Die rechten Dinge
Von Alfred Nordmann

Wenn von rechten Dingen die Rede ist, dann meist sorgenvoll, ob es hier wohl
mit rechten Dingen zugeht oder ob nicht irgendein Spuk, womöglich Zauber am
Werk ist. Mit rechten Dingen geht es offenbar dann zu, wenn mit offenen Karten
gespielt wird, wenn sich alles in der natürlichen Ordnung vollzieht. In nur fünf
Spielen hat er jetzt schon zum dritten Mal vier Asse – nach den Gesetzen der Wahr-
scheinlichkeit zwar nicht unmöglich, aber bei so viel Glück kann es eigentlich nicht
mit rechten Dingen zugehen. Auch in Abwesenheit jeglichen Beweises erhebt sich
der Verdacht, dass wir taschenspielerisch getäuscht wurden. Dabei geht es hier nur
um die Alltagserscheinung des Glücksspiels. Aber was, wenn der zuletzt glücklose
Jägerbursche Max plötzlich die erstaunlichsten Treffer erzielt – mit Kugeln, die er
womöglich in der verwunschenen Wolfsschlucht geschmiedet hat? Mit rechten
Dingen geht da im Haushalt seiner Agathe gar nichts mehr zu. Die Bilder fallen
von der Wand, eine Taube entpuppt sich als Raubvogel und der Jungfernkranz
ist eine Totenkrone.
Wer nach den rechten Dingen fragt, will wissen, was am Werk ist. Herrschen
hier rechtmäßige Kräfte und geordnete Verhältnisse oder geschieht den verwun-
schenen, verbogenen, verzerrten Dingen ein Unrecht? Surren die Zahnräder im
Uhrwerk gut aufeinander abgestimmt leicht dahin und zeigen die Zeiger ihre Stun-
den und Minuten mit zwanglosem Eifer – oder geschieht ihnen Gewalt, werden sie
in ihre Position gezwungen auf die Gefahr hin, dass sie biegen oder brechen und die
Räder sich verzahnen? Der gut funktionierende Mechanismus, die natürliche Ord-
nung der Dinge, das wohl verrichtete Werk sind angesichts dieser Fragen nicht ein
schlicht gegebenes Sein, das kein Sollen impliziert. Sie stellen vielmehr ein nor-
matives Schema dar, nach dem sich der zwanglose Zwang eines unangestrengten,
den Dingen gemäßen Geschehens bemisst. Und so ergibt sich provokativ die weit-
reichendere rechtsphilosophische Frage, ob wir es auch schon mit rechtmäßigen
Verhältnissen zu tun haben, wenn es nur mit rechten Dingen zugeht, insofern näm-
lich das gewaltfreie Zusammenspiel von Menschen und Dingen ein Maß für Ge-
rechtigkeit wäre? Dies mag als Sozialutopie oder als Maschinendystopie gelten.
Wie dem auch sei – die Verführungskraft derartig wohl geordneter soziotechni-
scher Systeme gründet in einer ästhetischen Erfahrung technischen Gelingens,
der es trotz aller politischen Vorbehalte nachzugehen lohnt.
64 Alfred Nordmann

I.
„Seid Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt“ forderte Günter Eich vor gut 70 Jahren
unter dem Eindruck historischer Katastrophen, die sich einer allzu großen Anpas-
sungsbereitschaft an die maschinellen Vorgaben totalitärer Regime verdanken.1
Aber wenn alle Rädchen heiß laufen, ins Stocken geraten und sich festfressen,
geht es gar nicht mehr zu – und schon gar nicht mit rechten Dingen. Darum verschafft
inzwischen und angesichts etwa des 100jährigen Bauhaus-Jubiläums ein durchaus
erhebendes, zumindest tröstliches Gefühl, dass wir als Teile eines technisches Funk-
tionszusammenhangs wunderbar aufgehoben sind, auch oder gerade wo kulturelle
und politische Identitätsstiftung nicht greift. So schreibe ich diese Zeilen im fremden
China als hoffnungslos verlorener Ausländer, der seinen europäischen Tablet Com-
puter nur dazu bringen muss, einen QR-Code zu generieren, um innerhalb von ge-
fühlten Zehntelsekunden meine spottbillige Zahnbürste von einem chinesischen
Bankkonto aus zu bezahlen – ein vollwertiger Kunde, sprachlos glücklich eingebun-
den in einen undurchsichtigen, aber irgendwie gelingenden Zusammenhang. Als
Beispiel mag auch ein Europa gelten, das als politische Union von einer Krise in
die nächste stolpert, während uns die technische Union stillschweigend verbündet.
In derart glücklichen Momenten vergewissern wir uns, dass ein gelingendes Zu-
sammenspiel von Menschen und Dingen möglich ist. Ein durchaus komplizierter
Vollzug ist technisch geglückt. So flüchtig sie sein mögen, sind diese Momente An-
zeichen, Vorboten oder „Theologen des Glücks“ – eine Bezeichnung Alexander Klu-
ges für die „kleinen“ Gefühle der Ab- und Einstimmung in Zusammenhänge, die wir
als freundlich oder unfreundlich, warm oder kalt, zwanglos oder gewaltsam erfahren.
Diese auf Ausgleich und Abstimmung, durchaus auch an Passung und somit Ange-
messenheit orientierten, harmoniesüchtigen Gefühle glauben daran, dass es einen
glücklichen Ausgang der Geschichte geben und mit rechten Dingen zugehen kann.2
Kluges Bedeutung als Schriftsteller, Filmemacher, politischer und Technikphilo-
soph beruht darauf, dass er seinen juristisch geschärften Blick auf den besonderen
Fall richtet, in dem sich Recht und Unrecht abspielen, in dem es um gelingende
und misslingende Begegnungen geht, geglückte und missglückte Lebensläufe, um
die Wechselwirkung kleiner, naher Kräfte und nicht um die Fernwirkung der Prinzi-
pien, Rechtsnormen und Staatslehren. Gegenstand und Methode seiner Arbeit ist die
zärtliche Kraft der Sachlichkeit, somit die Aufmerksamkeit für die Dinge als verhär-
teter Geist und tödlich erstarrter Lebendigkeit.3 Nichts schlimmeres kann dem Men-
schen passieren, als zum Ding zu werden, gerade auch dann, wenn sie nur noch Ge-
genstand sind der großen Gefühle, patriotischen Leidenschaften oder erbarmungslos
todesverliebten Operndramaturgien (Macht der Gefühle). Und darum gilt es auch,

1
Eich, Günter, Träume, Frankfurt: Suhrkamp, 1953.
2
Kluge, Alexander, Die Macht der Gefühle, Frankfurt: 2001, 1981.
3
Nordmann, Alfred, Das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes: Sachlichkeit, Zeitschrift
für Kulturphilosophie, Band 8:1, 2014, S. 89 – 99.
Die rechten Dinge 65

die Dinge zum Leben zu erwecken, zur Sprache zu bringen, in gelingende Werkzu-
sammenhänge einzuordnen, als Mit- und Gegenspieler sichtbar zu machen.

II.
Die Dinge sagen uns, ob es mit rechten Dingen zugeht. Darauf lässt sich Kluges
ästhetisch-politisches Programm gewiss nicht verkürzen, aber es ist ein zentrales
Motiv, ein Attraktor oder Gravitationszentrum, das er immer wieder umkreist, kürz-
lich in einem wenig rezipierten Buch, das in Zusammenarbeit mit dem amerikani-
schen Dichter Ben Lerner entstand, dem Autor der Lichtenbergfiguren. Der gemein-
sam und im Austausch mit Gerhard Richter und Thomas Demand 2018 entstandene
Band trägt den Titel Schnee über Venedig und ist gewiss nicht Kluges bestes Buch. Zu
selbstverliebt ist es in die transatlantische Intellektuellenfreundschaft, zu prätentiös
erscheinen die vielfältigen Querverbindungen zwischen den kryptisch anregenden
Sonetten Lerners und der trockenen, gerade darin ungemein aufschlussreichen Kurz-
prosa Kluges. Wenn Lerner in einem Gedicht aus den Lichtenbergfiguren ein musea-
les Himmelsgemälde besingt und dabei auf die unbehandelte Leinwand stößt, die der
Weite und Tiefe des Himmel eher gerecht wird als es der malerische Glanz vermag,
hat er das Scheitern seines poetischen Anspruchs benannt angesichts der Kunst Klu-
ges, mittels der bloßen Aufzählung karger, lückenhafter Alltagsspuren Verwundun-
gen sichtbar zu machen, die sich der sprachlichen Eingemeindung und Aneignung
entziehen. Immerhin ist sich Lerner dessen ganz bewusst:
Das poetische Establishment hat Widerspruch eingemeindet.
Das poetische Establishment hat Widerspruch nicht eingemeindet.
Sind diese Gedichte einfach nur lahmarschig [cumbersome]
Oder sind diese Gedichte eine Kritik der Lahmarschigkeit [cumbersomeness]?
Der Himmel hört auf zu malen und wendet sich der Kritik zu.
Wir beneiden den Himmel um seine Widersprüche. Wir beneiden den Himmel
um seine offene Stellen, unbehandelte Leinwand,
ihre stumme Kritik an gemaltem Glanz.
[…]4

Insofern sich hier so etwas wie eine Wertschätzung der politischen Poetik Kluges
ankündigt, greift dieser die Idee einer Kritik durch oder seitens des Himmels in sei-
nen „Vierzehn Geschichten zu Versen von Ben Lerners Lichtenbergfiguren“ auf –
und widmet eine dieser Geschichten dem Luftangriff auf Halberstadt. In seinem
Werk dient dieses historisch-biografische Ereignis immer wieder als Sinnbild für
die Unverhältnismäßigkeit der antogonistisch aufeinander abgestimmten techni-
schen Strategien des himmlischen Bombengeschwaders einerseits, der auf ihr Über-

4
Kluge, Alexander/Lerner, Ben, Schnee über Venedig, Leipzig, 2018, S. 46, 48.
66 Alfred Nordmann

leben bedachten Keller- und Straßenbewohner andererseits. Hier geht es nicht mit
rechten Dingen zu und wird die Unmöglichkeit der Versöhnung zwischen den Tech-
niken Oben und den Techniken Unten zu einer Chiffre der Kritik:
[…] – und dann sind immer noch Nester von Menschengeist im Gange, die sich zu retten und
neu einzurichten suchen. Der Angriff der Flugzeuge, eine solche Einwirkung BEWAFFNE-
TER INDUSTRIE, INGENIEURSZENTRIERTER HIMMELSMACHT, enthält einen star-
ken SCHUB VON KRITIK.
Im Luftschutzkeller gefragt: Wo war die letzte Abzweigung für mich und meine Kinder,
wenn es darum geht, dem Verhängnis, das in zwei Meilen über uns hereinbricht, zu entge-
hen? Vor zwanzig Jahren? Hätte ich gestern noch entkommen können? Wohin ausweichen?
Kenntnis der sicheren Orte ist der Anfang der Philosophie.
[…] Wäre mein Körper aus Stahl und so biegsam wie eine junge Pappel, ich könnte das
Bombenfragment, das mich treffen wird, abfedern. So kritisiert der SICH VERÄNDERN-
DE HIMMEL OBEN, den Körper, die Sinne und den Geist und fordert dringlich den Homo
Novus, wie er zuletzt 1917 von den Biokosmisten der russischen Revolution ins Auge ge-
fasst wurde. Wo Brüder seid Ihr jetzt in meiner Not? Es war genug Zeit, mit Euch in Ver-
bindung zu treten, aber ich war beschäftigt. Ich habe die kristallenen Farben des Himmels
abzuzählen versucht. Der Himmel in der Frühe und der Abenddämmerung ist in unseren
Breiten ein begabter Maler. […] (Schnee über Venedig, S. 76 f.)

So biegt Kluge die poetologische Wendung Lerners auf den Boden der Geschichte
zurück und zur Frage nach den rechten Dingen und der Möglichkeit eines gelingen-
den Lebens. Lerner wiederum antwortet darauf mit seinen „Langsamen Sonetten für
Alexander Kluge“. Hier verbindet er das Motiv des langsam erzählten Luftangriffs
mit der auf einer Halberstädter Kirchenorgel auf mehrere Jahrhunderte angelegten
Aufführung eines von John Cage komponierten Orgelstücks mit der Tempovorschrift
„As SLow aS Possible“. So heißt es in dem Sonett „Halberstadt brennt oder die lang-
samste Musik der Welt“:
Musik berührt ein Gebiet, keinen Punkt
Sie steigt an einem Bein hoch und hält das Herz an.
[…]
Körper qualmen zwischen blauen Blumen
Die Klangstrukturen bersten oder entstellen
[…]
Der Traum wählt den Schläfer
Wie ein Tornado aufsetzt. (S. 128)

Trotz ihrer spezifischen Kalkuliertheit bleiben die Wirkungen von Kunst und
Musik, ihre „agency“ unbestimmt. Das allemal wohl-komponierte, wohl-temperierte
Zusammenspiel der Dinge nimmt die menschlichen Mitspieler in sich auf und kann
sie in einen Wirbel versetzen, der die betuliche Rede von den rechten Dingen unter-
läuft. Jetzt ginge es erst einmal darum, diesen Wirbel zu verlangsamen, analytisch
still zu stellen, aufzuwachen – und hier kommt nun wieder die Kunst ins Spiel,
Die rechten Dinge 67

aber endlich vielleicht auch Lichtenberg und die Lichtenbergfiguren, wie sie sich
manchen Opfern von Blitzschlägen in die Haut schreiben (Schnee über Venedig,
S. 347):
„Nie wecke ein kollektives Bewusstsein“
Spannung flackert über die Kopfhaut (S. 128)

III.
Der etwas merkwürdige, oft ratlos stimmende Verlauf des intellektuell-künstleri-
schen Dialogs von Lerner und Kluge verdeutlicht die, elektrostatisch gesprochen,
Grundspannung des Buchs. Einerseits wird die Zusammenkunft Lerners und Kluges
auf einer poetologischen Metaebene angesiedelt – und darum wird andererseits im
Gegenzug Nähe und Konkretion behauptet, unter anderem durch Bezugnahme auf
die Lichtenbergfiguren. Damit sind nicht etwa rhetorische Figuren und Denkbewe-
gungen gemeint, wie sie Georg Christoph Lichtenberg vollzogen haben könnte. Tat-
sächlich kommen das Sprachdenken Lichtenbergs, seine Sudelbücher, seine Philo-
sophie bei Kluge und Lerner fast gar nicht oder nur implizit vor – und gehörte ja Lich-
tenberg bislang ohnehin nicht zu den Referenzautoren Kluges. Wie eine eigens den
Lichtenbergfiguren gewidmete „Insel“ im Buch5 und wie es die zahlreichen Abbil-
dungen verdeutlichen, geht es um die experimentelle Technik des Physikers Georg
Christoph Lichtenberg, die Spuren elektrischer Entladungen und gewissermaßen die
Elektrizität selbst sichtbar zu machen. Aber auch hier fällt zunächst auf, wie wenig
Kluge und Lerner eigentlich mit Lichtenberg und den Lichtenbergfiguren anzufan-
gen wissen, als fehle den durchaus akribischen Autoren die detailreiche Kenntnis des
Problemzusammenhangs, der spielerischen Entwicklung und symbolischen Bedeu-
tung der Lichtenbergfiguren.6
Insbesondere Kluges den Band beschließenden 9 Geschichten über „Lichtenberg
und die Elektrizität“ strapazieren die Geduld von Lichtenberg-Kennern und Wissen-
schaftshistorikern: Darf der ästhetisch rätselhafte Unterschied von „positiven“ und
„negativen“ Figuren wirklich so ganz verschenkt werden, auch der Vergleich zu Eis-
blumen oder ihre Verwandtschaft zu Chladnis Klangfiguren? Ist nicht das Lesen mit
dem durch Elektrizität erzeugten Licht etwa ganz anders als die Lesbarkeit elektri-
scher Ereignisse. Kluge vermengt beides heillos, wenn er nahtlos übergeht von der
„Sichtbarkeit der Elektrizität“ in Glühbirnen und Kinoprojektoren zur Sichtbarma-
chung „elektrischer Bewegungen,“ bzw. Entladungserscheinungen.
Aber all diese Vorwürfen sollten nicht zu schnell gemacht werden, dürfen nicht
schon das letzte Wort sein. Dafür werden zu viele Spuren gelegt, die sich als anregend
5
Lerner, Ben, The Lichtenbergfigures, Port Townsend: Copper Canyon Press, 2004; Die
Lichtenbergfiguren, übersetzt von Steffen Popp, Wiesbaden: Lux, 2011, 337 – 355.
6
Hamanaka, Haru, Erkenntnis und Bild: Wissenschaftsgeschichte der Lichtenbergischen
Figuren um 1800, Göttingen: Wallstein, 2015.
68 Alfred Nordmann

erweisen können. Gerade Kluges und Lerners reduzierte, nur bruchstückhafte, im


Wortsinn zerstreute Aufmerksamkeit für die Lichtenbergfiguren verschafft ihnen
Raum, die Fragen der Sichtbarkeit, der Beständigkeit, der Nah- und Fernwirkungen,
der unschlüssigen Zugänge und des technischen Gelingens permanent zu umkreisen.
Kluges neun Geschichten lassen sich nicht wirklich auf ein Narrativ reduzieren. Wer
es dennoch versuchen wollte, stößt aber vielleicht auf eine Geschichte technischen
Gelingens dort, wo intellektuelle Bestrebungen scheitern – und somit auf elektrische
Figuren, die die vergebliche Bemühung um ihr Verstehen ästhetisch überdauern und
überstrahlen.7
Lichtenbergs intellektuelle Problemlage erscheint bei Kluge in etwa so8 : Hier ist
ein Denker, der darum weiß, wie willkürlich es ist, den Gesichtssinn gegenüber dem
Tasten und Schmecken zu privilegieren, der dennoch frustriert ist, dass elektrische
Phänomene nur im Dunkeln zu sehen seien und dem Gesichtssinn nichts Beständiges
bieten – und der darum glücklich ist, mit dem Elektrophor ein Aufzeichnungsgerät
gefunden zu haben, das die Spur eines Blitzes festzuhalten vermag, der aber gleich-
zeitig unglücklich sein müsste, weil er zwar Buchstaben erzeugen kann, die sich einer
gelenkten Entladung verdanken, der diese Spuren aber dennoch nicht lesen kann.
Was Kluge an dieser Stelle gewinnbringend hätte einbeziehen können: Dass Lichten-
berg diesen unauflösbaren Zwiespalt auch im so genannten Physiognomik-Streit klar
benannt hat. In der Welt der Dinge ist jede Spur bedeutungsvoll – die Staubspur der
elektrischen Entladung, der Kratzer auf dem metallenen Essgeschirr, das kleinste
Fältchen im Gesicht des Menschen.9 Dies sind die Spuren, für die sich auch Lerner
und Kluge interessieren. Jede hat ihre Ursache oder ihren Grund, aber wir können sie
nicht lesen. Der Physiognom Lavater hat Recht, dass dem Menschen ins Gesicht ge-
schrieben steht, wer er war und wer er ist, aber er hat Unrecht, wenn er sich anmaßt,
diesen hieroglyphischen Text lesen zu wollen. Er kann und soll dies nicht, so wenig
wie Lichtenberg seine Staubfiguren zu entziffern verstand. Zunächst geht also alles
mit rechten Dingen zu, es gibt kein Mysterium des Gesichts, nur die unterhaltendste
Fläche der Erde.10 Aber es geht längst nicht mehr mit rechten Dingen zu, wenn ein
Lavater sie zu zwingen sucht, wenn Spuren und Zeichen zurechtgebogen und ausge-
presst werden, damit sie sich in allein dem Leser bequeme Deutungsmuster fügen.
Dem Misslingen der intellektuellen Anspannung steht das technische Gelingen
gegenüber und die entspannte Leichtigkeit des fallenden Staubs, der rätselhaft schö-
ne Muster bildet und sogar dem Verlauf eines auf den Elektrophor gelegten Kettchens
folgt, wodurch er ganz unangestrengt auch zeichenhafte Muster hervorbringen kann.
7
Vgl. Nordmann, Alfred, Vor-Schrift – Signaturen der Visualisierungskunst, in: Wolfgang
Krohn (Hrsg.), Ästhetik in der Wissenschaft: Interdisziplinärer Diskurs über das Gestalten und
Darstellen von Wissen, Hamburg: Meiner, 2006, S. 117 – 129. Zum Halberstädter Orgelprojekt
siehe www.aslsp.org.
8
Kluge, Alexander/Lerner, Ben, Schnee über Venedig, Leipzig, 2018, S. 337 – 355.
9
Lichtenberg, Georg Christoph, Über Physiognomik, in: Wolfgang Promies (Hrsg.),
Schriften und Briefe, Dritter Band, Darmstadt: WBG, 1972, 265.
10
Lichtenberg, Georg Christoph, Sudelbücher, München: Hanser, 1973, F 88.
Die rechten Dinge 69

Die ästhetische Produktivität seines Elektrophors hat Lichtenberg durchaus gewür-


digt, aber wahrhaft zelebriert und als Technik entwickelt hat sie Adolph Traugott von
Gersdorf, aus dessen Görlitzer Werkstatt die meisten Bilder in Schnee über Venedig
stammen.11 Und wieder hätte Kluge an dieser Stelle gewinnbringend Lichtenberg zi-
tieren können, wenn dieser nämlich die angespannt gewaltsame amerikanische Re-
volution und Entmachtung des englischen Königs kontrastiert mit der entspannt ge-
lingenden Leichtigkeit, die den Namenszug des Königs als Lichtenbergische Staub-
figur erzeugt. Mit Anspielung auf den von ihm bewunderten amerikanischen Aufklä-
rer und blitzesammelnden Elektriker berichtet er in einem Brief von einer
öffentlichen Vorführung seiner elektrostatischen Schreibkunst: „Als ich sagte ich
wolte nun, in einem Zug, ein GR [Georgius Rex] schreiben, das selbst Franklin re-
spektiren würde, da hätten sie sehen sollen, wie alles drückte und als es mir ohne An-
stoß gelang, so legten einige die Hände vor Verwunderung zusammen.“12
Und schon wieder geht es auch darum, was es politisch heißen könnte, sich nicht
der gewaltsamen Ästhetik des Manifests, der Revolution, des dramaturgischen Ent-
wurfs zu fügen, sondern die ästhetischen Bedingungen des technischen Gelingens
„ohne Anstoß“ aufzusuchen und am Lauf der Dinge und des Lebens zu partizipieren.

IV.
Im Zusammenhang seiner Kritik an Goethes Werther und der spektakulären In-
szenierung amorpher, aber todessehnsüchtig großer Liebesgefühle, formuliert Lich-
tenberg ein ästhetisches Gegenprogramm der Sachlichkeit, das Alexander Kluge in
für sich abgewandelter Form verfolgt und das sich auch durch das dialogisch mit Ler-
ner verfasste Buch zieht:
[…] Jedes Gefühl unter dem Mikroskop betrachtet läßt sich durch ein Buch durch vergrö-
ßern. Ist es nötig oder ist es gut? es ist genug, wenn nur jene dunklen Gefühle uns zum Guten
stärken, und dann kann man die Entwickelung Müßiggängern überlassen. Meine Hand im
Schlaf auf eine Falte eines seidenen Vorhangs geschlagen, diese Empfindung kann zu einem
Traum aufwachsen und blühen dessen Beschreibung ein Buch erfordert. [F 500]

So vielleicht spüren wir den rechten Dingen nach und ob es mit rechten Dingen
zugeht in der Welt. Angesichts des Anspruchs auf große Gefühle und starke Bilder
entspricht dieses Verfahren einer im Gespräch von Kluge und Lerner entwickelten
negativen Theologie: „Vielleicht muss man mit einer Intensität lesen, welche die
Kunstgriffe wegbrennt,“ erklärt Lerner und huldigt den Moment, in dem im Kino
die Lichter ausgehen und elektrische Spannung über die Kopfhaut zu flackern be-

11
Vgl. Herrmann, Constanze, Das physikalische Kabinett zu Görlitz und das wissen-
schaftliche Vermächtnis des Adolph Traugott von Gersdorf, Görlitz: Gunter Oettel, 2016.
12
Lichtenberg, Georg Christoph, Brief an Schernhagen, Februar 1778, in: Ulrich Joost/
Albrecht Schöne (Hrsg.), Briefwechsel Band 1, München: Beck, 1983, Nr. 450.
70 Alfred Nordmann

ginnt: „es gibt etwas in diesem Moment der reinen Möglichkeit … Es ist der Schim-
mer einer anderen Ordnung, einer anderen Welt“ (Schnee über Venedig, S. 163, 176):
Du hörst nicht zu. Tut mir leid. Ich dachte daran
Wie die Schönheit deines Singens die Hoffnung
Wieder einträgt, deren Tod es verkündet. (S. 200)

Wenn es mit rechten Dingen zugehen soll, müsste sich aus dem Spiel möglicher
Ordnungen ein Modus der Teilnahme und des glücklichen Mitvollzugs ergeben, der
nicht auf Darstellung oder Nachahmung zielt – dann darf nicht der letzte Funke Ver-
stand an Abbildung verschwendet werden (vgl. Schnee über Venedig, S. 50 und 163).
Und eben dies leisten die Lichtenbergfiguren bezüglich des Phänomens der Elektri-
zität: Was nicht abgebildet werden kann, kann doch eine Bewegungsspur erzeugen,
die ein Lichtenberg mit-erzeugt, moduliert, nachvollzieht, ohne Anstoß und mit
Leichtigkeit. Das letzte Wort hierzu soll Kluge haben und sein Bericht aus einem Fri-
seursalon, in dem ein erzählendes Ich Modemagazine durchblättert mit der zerstreut
kritischen Aufmerksamkeit eines Kinogängers. Dabei gelangt Kluge zu einer er-
staunlichen Wendung wie so oft, wenn er seine Leser kompositorisch zu beglücken
vermag:
Die Lippe des Models auf Seite 13 würde auf das Gesicht des sehr ernsten Mädchens (eines
Modells, das für Uhren wirbt) auf Seite 24 passen. Sie alle können nicht konkurrieren mit
dem unsichtbaren Bild einer Frau, das ich in mir trage und vermutlich selbst bin. Nochmals
schaue ich auf die Linie des Modells von Seite 64. Schon kommt die Haarwäscherin. Mit
winzigen Skalpellen oder Magneten haben die Abbildungen „Verstand“ aus mir herausge-
zogen. Das, was das unsichtbare Bild wie ein Brettergestell, von dem aus die Redner spre-
chen, stützt. Das innere Bild liegt durcheinander da. Spielzeug, das verlorenging. Magda
wird es finden. (Schnee über Venedig, S. 163 f.)

Die andere Ordnung als reine Möglichkeit muss immerhin eine Ordnung sein, in
der es irgendwie zugeht, der Lauf der Dinge und des Lebens in Bretter gestellt, damit
wir mit Herz und Hand, Glück und Verstand teilnehmen können an Vollzügen, von
denen wir dann sagen können, ob sie gelingen und wie, und ob es zwanglos zugeht
und leicht, mit rechten Dingen.
II. Politische Philosophie und Rechtsphilosophie
Eine kontraktualistische Rechtfertigung
von Freiheit
Von Michael Pauen

I. Einleitung
Zwar hat sich die Diskussion um das Problem der Willensfreiheit in der letzten
Zeit etwas beruhigt, doch das ist wohl eher ein Zeichen von Ermüdung als ein
Indiz für echte Fortschritte in der Sache. Im Gegenteil: Verfechter und Gegner der
Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus stehen einander so unerbittlich gegen-
über wie seit jeher. Ich bin sicher, dass sehr starke Argumente für diese Vereinbarkeit
sprechen: Die Abwesenheit von Determination führt nicht zu einem Mehr an Frei-
heit, sondern zu einem Weniger an Kontrolle.1 Aber um die vorherrschende Ermü-
dung nicht durch die Wiederholung dieser primär begrifflichen Überlegungen weiter
zu verstärken, möchte ich hier einen anderen Weg gehen. Ich werde zur Rechtferti-
gung eines kompatibilistischen Begriffs von Freiheit auf ein kontraktualistisches Ar-
gumentationsmuster zurückgreifen, das sich schon bei den Theoretikern des Sozial-
vertrags im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, also bei Hobbes, Locke und
später bei Rousseau findet.
Diese Autoren haben versucht zu zeigen, dass ein Vertrag, der Sicherheit garan-
tiert und im Gegenzug Rechtssysteme einschließlich der mit ihnen verbundenen Frei-
heitseinschränkungen einführt, im wohlverstandenen Interesse aller Beteiligten
liegt. Selbst ein Volk von Teufeln, so Kant in der Schrift Zum ewigen Frieden, würden
trotz seiner bösartigen Absichten letztlich in einem Staat enden, solange es rational
seine eigenen Interessen verfolgt.2 Der allgemein unterstellte Grund ist, dass ein
staatliches Rechtssystem für alle Bürger attraktiv ist, weil es ihrem Leben, ihrer Ge-
sundheit und ihren Gütern einen Schutz bietet, der im Naturzustand unerreichbar ist.
Ich möchte im Folgenden zeigen, dass man mit dieser Argumentationsstrategie
auch zur Rechtfertigung einer kompatibilistischen Theorie von Freiheit gelangt.
Mit den klassischen Vertragstheoretikern gehe ich davon aus, dass Gesellschaften
Regeln benötigen und diese Regeln durch Sanktionen gestützt werden müssen.

1
Vgl. hierzu: Pauen, Michael, Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen
der Hirnforschung, Frankfurt/M. 2004.
2
Kant, Immanuel, Zum ewigen Frieden, in: ders., Gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Kö-
niglich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff., Bd. VIII, S. 366.
74 Michael Pauen

Mein entscheidender Punkt ist, dass diese Sanktionen wiederum nur dann wirkungs-
voll und akzeptabel sind, wenn sie ausschließlich gegen diejenigen verhängt werden,
die in einem kompatibilistischen Sinne frei gehandelt haben. Anders ausgedrückt:
Eine kompatibilistische Freiheitsvorstellung liefert Kriterien, die sicherstellen,
dass staatliche Sanktionen bei Normverletzungen einerseits wirksam und für die Bür-
ger, die mit solchen Sanktionen rechnen müssen, andererseits auch annehmbar sind.
Ich werde ein solches System von Sanktionen im Folgenden als „qualifiziert“ be-
zeichnen.
Meine These lautet also, dass es für die Bürger sinnvoll ist, einen Vertrag einzu-
gehen, der einerseits ihre substantiellen Interessen an Leben, Leib und Eigentum
schützt, sie auf der anderen Seite aber einem System von Sanktionen unterwirft,
die notwendig sind, um die Wirksamkeit der Regeln sicherzustellen. Bedingung
dafür ist, dass es sich um ein qualifiziertes System handelt, welches normverletzende
Handlungen nur dann sanktioniert, wenn die Urheber im kompatibilistischen Sinne
frei gehandelt haben.
Die skizzierte kontraktualistische Argumentation dient wie gesagt nicht dem
Nachweis, dass ein kompatibilistischer Freiheitsbegriff einer inkompatibilistischen
Konzeption begrifflich oder normativ überlegen ist. Gezeigt wird vielmehr, dass es
aus Sicht von Bürgern und staatlichen Autoritäten schon allein aus rein pragmati-
schen Gründen sinnvoll ist, eine solche Konzeption bei der Zumessung von staatli-
chen Sanktionen zugrunde zu legen.

1. Ein kompatibilistischer Freiheitsbegriff

Zunächst möchte ich kurz den kompatibilistischen Freiheitsbegriff skizzieren, um


dessen kontraktualistische Rechtfertigung es im Folgenden gehen soll. Ausgangs-
punkt ist die weithin akzeptierte Annahme, dass freie Handlungen nach zwei Rich-
tungen abgegrenzt werden müssen: Zum einen gegenüber erzwungenen oder von
außen determinierten Handlungen. Erzwungene oder sonstwie nicht durch den Ak-
teur selbst bewirkte Handlungen sind nicht frei; man kann den Akteur für solche
Handlungen auch nicht verantwortlich machen. Freiheit, so kann man diese Forde-
rung auch umschreiben, erfordert Autonomie.
Zum zweiten müssen freie Handlungen auch zufälligen Geschehnissen abge-
grenzt werden. Freiheit begründet Verantwortung, doch wie will man eine Person
für ein Geschehnis verantwortlich machen, das ganz unabhängig von ihr zustande
gekommen ist? Freiheit, so kann man diese Forderung umschreiben, erfordert
auch Urheberschaft.
Beiden Forderungen, der nach Autonomie und der nach Urheberschaft, kann man
sehr einfach dadurch gerecht werden, dass man Freiheit als Selbstbestimmung ver-
steht. Selbstbestimmung wird zum einen der Forderung nach Autonomie gerecht,
denn wer gezwungen oder von außen gelenkt wird, der ist nicht selbst-, sondern
Eine kontraktualistische Rechtfertigung von Freiheit 75

fremdbestimmt. Gleiches gilt für die Forderung nach Urheberschaft. Wer sie verletzt,
der ist nicht selbst-, sondern überhaupt nicht bestimmt.
Positiv gesprochen, verlangt Selbstbestimmung, dass man Wünsche und Über-
zeugungen besitzt, an denen sich das eigene Handeln orientieren kann. Allerdings
taugt nicht jeder Wunsch, den man besitzt, zu selbstbestimmtem Handeln. Jemand,
der aufgrund einer Alkoholabhängigkeit ständig den Wunsch nach Alkohol verspürt,
handelt sicher nicht frei, wenn er diesem Wunsch folgt. Von einem eigenen Wunsch
oder einer eigenen Überzeugung kann daher nur bei solchen Wünschen und Überzeu-
gungen gesprochen werden, die der eigenen Kontrolle unterliegen. Und das soll hier
bedeuten, dass man die Wünsche und Überzeugungen aufgeben kann, sofern man
dies will. Genau dies gilt bei einem Abhängigen für den Wunsch nach der Droge
nicht.
Halten wir also fest, dass dieser Konzeption zufolge von einer freien bzw. selbst-
bestimmten Handlung dann die Rede sein kann, wenn die eigenen Wünsche und
Überzeugungen eines Akteurs erklären, warum dieser sich für eine Handlung x
und gegen die Handlung y entscheidet. Dabei gilt für die eigenen Wünsche und Über-
zeugenden, dass sie der Kontrolle des Akteurs unterliegen. Verletzt eine Person mit
einer in diesem Sinne selbstbestimmten Handlung eine rechtliche oder moralische
Norm, so kann sie hierfür verantwortlich gemacht und gegebenenfalls auch bestraft
werden.

2. Pragmatische statt metaphysischer Fragen

Der vorliegende Beitrag wird diese Konzeption nicht mit begrifflichen oder nor-
mativen, sondern mit pragmatischen Argumenten verteidigen. Gezeigt werden soll
also, dass die für eine Gruppe konstitutiven Regeln durch ein System von Sanktionen
gestützt werden müssen, damit das Zusammenleben in der Gruppe funktioniert.
Diese Sanktionen wiederum sind nur dann wirksam und akzeptabel, wenn sie nur
auf selbstbestimmte Normverletzungen angewandt werden.
Der wichtigste Vorteil des vorliegenden Ansatzes ist dabei, dass er hartnäckigen
Problemen aus dem Weg geht, die aus metaphysisch oder religiös begründeten Intui-
tionen stammen und sich z. T. seit langem erhalten haben. Hierzu gehört z. B. die Vor-
stellung dass, Freiheit weder in einer deterministischen noch in einer indeterminis-
tischen Welt möglich sei; eine Vorstellung, die u. a. von Galen Strawson vertreten
worden ist.3

3
Strawson, Galen, Consciousness, Free Will, and the Unimportance of Determinism, in:
Inquiry 32, 1989: S. 3 – 27.
76 Michael Pauen

II. Voraussetzungen
1. Allgemeine Voraussetzungen

Wie bereits erwähnt, basiert der vorliegende Ansatz auf zwei Voraussetzungen,
die, soweit ich das sehen kann, wenig umstritten sind. Die erste Voraussetzung
teilt mein Vorschlag mit den klassischen Sozialvertragstheorien. Er lautet, dass Grup-
pen Regeln – im weitesten Verständnis des Wortes – benötigen, um die Interessen
ihrer Mitglieder zu schützen. Natürlich kann man diese Interessen nicht allgemein
festlegen, schließlich halten unterschiedliche Personen unterschiedliche Dinge für
unverzichtbar. Zumindest bei Staaten und staatsähnliche Gemeinschaften, auf die
ich mich im Folgenden konzentrieren werde, zählen Leben, Leib und Besitz der Bür-
ger zu den Gütern, die unter staatlichem Schutz stehen. Seit der Antike geschieht dies
in zunehmendem Maße durch formale Rechtssysteme mit festgelegten Sanktionen.
Angesichts der Tatsache, dass Menschen diese Interessen anderer nicht von Natur
aus respektieren, benötigen wir Regeln, um sie zu schützen. Regeln also, die verbie-
ten, dass die Mitglieder einer Gruppe einander umbringen, einander verletzen oder
einander um ihr Eigentum bringen. Es wäre widersinnig, würde ich mich einem Staat
anschließen, in dem ich damit rechnen müsste, getötet zu werden, in der meine kör-
perliche Integrität nicht geschützt würde, oder in der sich jeder meinen Besitz aneig-
nen könnte. Die bedeutet nicht, dass ich vollkommene Sicherheit gegenüber derar-
tigen Risiken erwarten kann. Aber eine Gruppe, die noch nicht einmal ernsthafte Ver-
suche zu meinem Schutz unternimmt, wäre für mich sicherlich äußerst unattraktiv.
Die zweite Voraussetzung lautet, dass Regeln durch Sanktionen bewehrt sein müs-
sen, um wirksam zu werden. Es reicht also nicht einfach aus, irgendwelche Regeln
zu verkünden, vielmehr muss eine Gruppe sich auch darum kümmern, dass sie ein-
gehalten werden. Und dazu gehört, dass eine Gruppe deutlich macht, welche Sank-
tionen zu erwarten sind, wenn jemand die Regeln verletzt.
Dies erscheint nicht nur an sich plausibel, es wird durch die Geschichte bestätigt,
und seit einiger Zeit gibt es auch empirische Belege für diese Annahme. So konnten
Fehr und Gächter zeigen, dass die Bereitschaft, Beiträge für eine Gemeinschaftskas-
se zu leisten, drastisch anstieg, sobald die Möglichkeit bestand, Verweigerer zu be-
strafen, und zwar auch dann, wenn das Strafen aufwendig war. Gingen die Verwei-
gerer dagegen straffrei aus, dann sank die Bereitschaft immer weiter ab, bis schließ-
lich nur noch eine kleine Minderheit ihre Beiträge leistete.4
Sanktionen können unterschiedliche Formen annehmen. Man kann einfach seine
Missbilligung äußern, Mitbürger können informelle Vorwürfe erheben, man kann
einen Regelverletzer lächerlich machen, oder ihm die Gefolgschaft verweigern.
Auf diese Weise stellten z. B. steinzeitliche Horden sicher, dass ihre Führer sich

4
Fehr, Ernst/Gächter, S., Altruistic punishment in humans, in: Nature 415 (2002) S. 137 –
40.
Eine kontraktualistische Rechtfertigung von Freiheit 77

nicht zu viel Macht aneigneten.5 In formalisierten Rechtssystemen gibt es dann im


Allgemeinen vorher festgelegte Strafen, die in Geldbeträgen, Arbeitsleistungen,
dem Entzug von Freiheit, dem Ausschluss aus der Gruppe, in eher archaischen Sys-
temen auch in der Tötung des Regelverletzers bestehen können.
Doch ganz egal, wie die Sanktionen im Einzelnen aussehen; der entscheidende
Punkt ist, dass es nur schwer möglich ist, eine Regel ohne Sanktionen zu etablieren.
Dies gilt auch außerhalb von Staaten: Bei Fußballspielen tritt dies schon dann zutage,
wenn ein Schiedsrichter nur etwas zögerlich bei der Verhängung von Strafen ist. Und
selbst auf akademischen Konferenzen kann man beobachten, dass Redner die fest-
gelegten Zeiten immer weiter überziehen, sofern der Sitzungsleiter nicht einschrei-
tet.
In staatlichen Verbänden spielt hier das Gewaltmonopol eine zentrale Rolle, das
für Max Weber ein Definitionskriterium von Staatlichkeit ist.6 Existiert ein solches
Monopol nicht, dann schränkt dies die Fähigkeit des Staates massiv ein, Leben, Ge-
sundheit und Eigentum seiner Bürger zu schützen. Steven Pinker hat gezeigt, dass die
Einführung des staatlichen Gewaltmonopols in Europa zu einem dramatischen Rück-
gang der Gewaltkriminalität geführt hat: So hat sich z. B. die Zahl der Mordopfer in
England seit dem 15. Jh. von 24 auf 0,6 pro 100.000 Einwohner verringert.7 Umge-
kehrt droht ein Staat, der diesen Schutz nicht gewährleisten kann, auf die Dauer zu
scheitern.8

2. Individuelle Voraussetzungen

Regeln und Sanktionen können die substantiellen Interessen von Gruppenmitglie-


dern allerdings nur dann schützen, wenn die Gruppenmitglieder ihrerseits in der Lage
sind, den Regeln zu folgen und auf die Sanktionen zu reagieren. Konkret bedeutet das
zunächst, dass sie die Regeln verstehen, dass sie also wissen, was sie tun dürfen und
was nicht, wenn sie die Regeln einhalten wollen. Während viele der basalen Regeln
einfach zu verstehen sind, mag dies z. B. bei der Steuergesetzgebung schwierig sein.
In jedem Falle bedeutet die Forderung, dass man gewisse kognitive Voraussetzungen
erfüllen muss, um sich den Regeln entsprechend zu verhalten.
Aber es reicht nicht, dass man weiß, was zu tun ist. Notwendig ist außerdem, dass
die Mitglieder einer Gruppe dieses Wissen in die Tat umsetzen und tatsächlich den

5
Boehm, Christopher, Egalitarian Behavior and Reverse Dominance Hierarchy, in: Current
Anthropology 34 (1993) S. 227 – 254.
6
„Staat ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Ge-
bietes … das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht.“
Weber, Max, Gesammelte politische Schriften. Hrsg. von Johannes Winckelmann. 5. Auflage,
Tübingen 1988 (1. Auflage 1921), S. 506.
7
Pinker, Steven, A History of Violence, in: The New Republic, 19. 3. 2007.
8
Stewart, Patrick, ,Failed‘ States and Global Security: Empirical Questions and Policy
Dilemmas, in: International Studies Review 9, 2007, S. 644 – 662.
78 Michael Pauen

Regeln entsprechend handeln können. Ein typischer Fall für eine Person, die dieser
Voraussetzung nicht gerecht wird, ist ein nikotinabhängiger Raucher, der weiß, dass
er in einem bestimmten Raum nicht rauchen darf, aber aufgrund seiner Sucht nicht
davon ablassen kann. Einigen Philosophen zufolge leiden solche Personen unter
einer „Willensschwäche“. Aber wie auch immer man die Regelverletzungen dieser
Person beschreiben will: Es scheint klar, dass die Unfähigkeit dieser Person primär
keine kognitive, sondern eine volitionale Ursache hat. Halten wir also fest, dass zur
Befolgung von Regeln neben kognitiven auch volitionale Fähigkeiten erforderlich
sind. Man muss nicht nur erkennen, was man tun sollte, sondern man muss auch im-
stande sein, das Erkannte in die Tat umzusetzen.

3. Schuld, Vorwürfe und Strafe

Die skizzierten Voraussetzungen liefern die Basis für das zentrale Argument die-
ses Beitrags, nämlich dass es starke pragmatische Gründe für einen kompatibilisti-
schen Begriff von Willensfreiheit gibt.
Warum ist das so? Sprechen wir zuerst darüber, warum wir jemanden für verant-
wortlich halten, warum wir jemanden beschuldigen und bestrafen, nachdem er eine
Regel gebrochen hat.9 Folgt man einer retributiven Theorie der Strafe, wie sie vor
allem deontologischen Ansätzen in der Ethik entspricht,10 dann stellt Strafe einen
Ausgleich für Schuld dar. Die Erwartung, dass Strafe von weiteren Normverletzun-
gen abhalten könnte, spielt diese Theorie zufolge keine Rolle für die Rechtfertigung
von Strafe. Solche Erwartungen stehen dagegen im Zentrum präventiver Straftheo-
rien: Sie rechtfertigen Strafen mit dem Hinweis darauf, dass auf diese Weise zukünf-
tige Normverletzungen verhindert werden können. Dabei soll die Strafe nicht nur den
Bestraften selbst, sondern auch andere Mitglieder seiner Gruppe von zukünftigen
Normverletzungen abschrecken.
Wie nicht anders zu erwarten, weisen beide Theorien eine Reihe von Problemen
auf: Die Retributionstheorie hat z. B. damit zu kämpfen, dass das Verhältnis zwischen
Normverletzung und Strafe oft sehr unklar ist. Wenn die Schuld sich auf materielle
Güter bezieht, dann kann man durch die Zahlung einer bestimmten Summe einen
Ausgleich erzielen – doch inwiefern kann man von einem Ausgleich oder von Ver-
geltung sprechen, wenn eine Vergewaltigung durch eine bestimmte Zeit im Gefäng-
nis bestraft wird? Ich werde im Folgenden ausschließlich Gebrauch von präventiven
Gesichtspunkten machen, dennoch glaube ich, dass das Ergebnis auch für Vertreter
retributiver Theorien akzeptabel sein sollte.

9
Vgl. hierzu: Kaiser, Hanno, Widerspruch und harte Behandlung. Zur Rechtfertigung von
Strafe, Berlin 1999.
10
Kant, Immanuel, Metaphysik der Sitten, in: ders., Gesammelte Schriften. Hrsg. v. d.
Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff. Bd. VI, 332.
Eine kontraktualistische Rechtfertigung von Freiheit 79

III. Das kontraktualistische Argument


Mein zentrales Argument lautet nun, dass es unter den genannten Voraussetzun-
gen für jeden Bürger rational ist, einen Vertrag mit dem Staat zu akzeptieren, sofern
dieser Vertrag einerseits Schutz von basalen Gütern wie Leben, Gesundheit und Ei-
gentum bietet, andererseits aber eine Verpflichtung auf diejenigen Regeln enthält, die
für den Schutz dieser Güter erforderlich sind. Und da dieser Schutz nur gewährleistet
werden kann, wenn die Regeln durch Sanktionen gestützt werden, muss der Vertrag
auch die Unterwerfung unter diese Sanktionen umfassen.
Rational11 ist diese Unterwerfung allerdings nur solange, wie die Sanktionen tat-
sächlich effektiv und zielgenau sind, was wiederum voraussetzt, dass sie den wahren
Urheber der Normverletzung treffen: Kein Bürger hat ein Interesse daran, sich einem
ineffektiven System von Sanktionen zu unterwerfen, genauso wenig kann er Sank-
tionen akzeptieren, von denen er befürchten muss, dass sie ihn auch dann treffen kön-
nen, wenn er nicht der wahre Urheber einer Rechtsverletzung ist.
Ich werde im weiteren Verlauf zu zeigen versuchen, dass eine kompatibilistische
Theorie der Willensfreiheit ein Kriterium für die Verhängung von Sanktionen liefert,
welches genau diese Anforderungen erfüllt: Es sorgt einerseits dafür, dass die wahren
Urheber einer Normverletzung bestraft werden können, und macht das Sanktionssys-
tem damit effektiv. Auf der anderen Seite schützt es alle diejenigen vor Sanktionen,
die sich ernsthaft um die Einhaltung der Normen bemühen. Dies ist eine entscheiden-
de Voraussetzung für die rationale Zustimmung der Bürger und führt zu einer wei-
teren Steigerung der Effektivität der Sanktionen.

1. Effektivität

Dem oben skizzierten kompatibilistischen Freiheitsbegriff zufolge ist eine Hand-


lung frei, wenn sie selbstbestimmt ist, was wiederum bedeutet, dass die Wünsche und
Überzeugungen des Urhebers eine Erklärung dafür liefern, dass er diese und keine
andere Handlung ausgeführt hat, also z. B. die Norm gebrochen und nicht eingehalten
hat. Eine Sanktionierung solcher Handlungen ist vor allem deshalb effektiv, weil der
Urheber bei der Entscheidung für die Normverletzung die Sanktionsdrohung berück-
sichtigen kann, schließlich betrifft diese Drohung seine basalen Bedürfnisse nach
Freiheit und Eigentum. Dies gilt insbesondere, wenn er sich – selbstbestimmt –
für die Normverletzung entscheidet. Es ist anzunehmen, dass die tatsächliche Erfah-

11
Diese Rationalitätsforderung ist wichtig, weil es durchaus möglich ist, dass ein dikta-
torisches Regime die Bürger zu einer Zustimmung zu terroristischen Praktiken veranlasst, die
den skizzierten Forderungen nicht entsprechen. Eine Zustimmung der Bürger wäre in diesem
Falle faktisch möglich, doch sie wäre nicht rational. Insofern enthält der vorliegende Ansatz
ein gewisses normatives Moment, das jedoch keinerlei ethische Implikationen hat. Auch
Kants Teufel können über diese Rationalität verfügen, weil sie einsehen, dass sie ihre teufli-
schen Interessen am besten unter dem Schutz eines Staates mit einem durch qualifizierte
Sanktionen bewehrten Rechtssystem realisieren können.
80 Michael Pauen

rung der Sanktion in zukünftigen Fällen selbstbestimmter Handlungen noch einen


stärkeren Einfluss auf seine Entscheidungen haben wird als die bloße Drohung. In
jedem Falle kann man sagen, dass ein ein selbstbestimmter Urheber ansprechbar
für Sanktionen ist und, da er nach seinen Überzeugungen handelt, auch für die Be-
gründung der Normen, die betroffen sind – schließlich geht es bei solchen Begrün-
dungen darum, die Normen aus möglichst allgemein geteilten Überzeugungen abzu-
leiten.
Umgekehrt wäre eine Sanktionierung nicht-selbstbestimmter Handlungen schon
allein deshalb nicht effektiv, weil es in diesem Falle qua Voraussetzung nicht von den
Wünschen und Überzeugungen des Urhebers abhing, ob dieser die Handlung ausfüh-
ren würde oder nicht. Grund dafür kann z. B. sein, dass der Urheber unter physischen
oder psychischen Zwängen stand. Es ist daher nicht zu erwarten, dass eine Sanktio-
nierung Normverletzungen in zukünftigen vergleichbaren Fällen verhindert: Weder
die Drohung noch der Vollzug der Sanktion kann an den Zwängen etwas ändern.
Auch mögliche Überzeugungen des Urhebers z. B. bezüglich der Rechtfertigung
der Normen würden hier keine Rolle spielen. Was die fragliche Handlung angeht,
ist der Urheber also weder für rechtfertigende Argumente noch für Sanktionsdrohun-
gen ansprechbar.12 Effektiv wäre ggfs. nur eine Therapie innerer Zwänge oder aber
eine Sanktionierung des wahren Urhebers der äußeren Zwänge.
Ein System, das auf die Qualifikation durch den skizzierten Freiheitsbegriff ver-
zichtet, wäre aber auch deshalb weniger effektiv, weil es die Motivation untergräbt:
Wenn ich trotz ernsthafter Bemühungen damit rechnen müsste, bestraft zu werden,
warum sollte ich diese Bemühungen dann noch auf mich nehmen? Schließlich würde
damit auch die Akzeptabilität des Sanktionssystems leiden: Warum sollte ich ein
System akzeptieren, das mich für Normverletzungen bestraft, deren Vermeidung
gar nicht in meiner Macht lag? Die Beschränkung der Sanktionen auf selbstbestimm-
te Handlungen stellt also nicht nur sicher, dass das Sanktionssystem effektiv ist, viel-
mehr gibt es mir immer die Möglichkeit, einer Strafe zu entgehen, und steigert damit
die rationale Akzeptabilität des Systems, bzw. des Vertrags, der das System etabliert.

2. Funktion des kompatibilistischen Freiheitsbegriffs

Damit zeichnet sich in der Tat ab, dass sich ein kompatibilistischer Freiheitsbe-
griff pragmatisch rechtfertigen lässt. Man kann sich also nicht nur darauf berufen,
dass es ungerecht ist, jemanden für Handlungen zu bestrafen, für die er oder sie
gar nicht verantwortlich war. Natürlich ist das ungerecht. Aber hier kommt es darauf
an, dass die Forderung nach Freiheit und Verantwortung gerechtfertigt werden kann,
ohne sich auf diese Ungerechtigkeit zu berufen. Ausreichend sind die pragmatischen

12
Ob dies generell für den betreffenden Urheber gilt, hängt davon ab, wie spezifisch die
Einschränkung seiner Freiheit ist. Ein momentan wirkender physischer Zwang schließt nicht
aus, dass der Urheber ansonsten für Argumente und Sanktionsdrohungen ansprechbar ist, eine
dauerhafte psychiatrische Störung könnte dies sehr wohl tun.
Eine kontraktualistische Rechtfertigung von Freiheit 81

Notwendigkeiten einer Gesellschaft, die die basalen Interessen ihrer Mitglieder


schützen will, und dazu ein Sanktionssystem benötigt. Ein solches System muss
wirksam und für die Mitglieder dieser Gesellschaft akzeptabel sein. Wirksam
kann es nur sein, wenn es die wahren Urheber einer Handlung trifft. Die Bestrafung
Unschuldiger dagegen wäre kontraproduktiv, schließlich könnte man sich dann nicht
mehr durch die Beachtung von Normen vor Strafe schützen. Das würde nicht nur die
Wirksamkeit, sondern auch die Akzeptabilität des Sanktionssystems untergraben.
Sanktionsdrohungen dagegen, die durch den Bezug auf einen kompatibilistischen
Freiheitsbegriff qualifiziert sind, wären nicht nur wirksam, sondern auch akzeptabel,
da sie einerseits den Schutz substantieller Interessen der Gruppenmitglieder gewähr-
leisten, auf der anderen Seite den Gruppenmitgliedern die volle Kontrolle darüber
geben, ob sie von den Sanktionen getroffen werden: Die Mitglieder müssen nur
das Ihre dazu beitragen, dass sie die Regeln einhalten, die notwendig zu ihrem eige-
nen Schutz sind. Angesichts eines solchen Systems von Regeln und Sanktionen läge
es also im substantiellen, wohlverstandenen Interesse der Bürger, einen Vertrag ein-
zugehen, der dieses System und die damit verbundenen Freiheitsverluste gegen ein
Schutzversprechen etabliert.
Dies bedeutet gleichzeitig, dass sich auch die zentralen Kriterien des kompatibi-
listischen Freiheitsbegriffs pragmatisch rechtfertigen lassen: Die Forderung nach
Selbstbestimmung stellt sicher, dass die Sanktionen den wahren Urheber treffen,
dass sie effektiv sind und dass die Bürger durch ausreichende Anstrengungen den
Sanktionen entgehen und nicht zuletzt deshalb das Sanktionssystem akzeptieren kön-
nen.
Natürlich liefert diese Theorie nur relativ abstrakte Kriterien, aus denen sich noch
keine direkten Maßgaben für die Anwendung und praktische Überprüfung von
Selbstbestimmung ergeben. Wie sollen wir also feststellen, ob eine Person tatsäch-
lich selbstbestimmt gehandelt hat? Naheliegend wäre hier das bereits etablierte Vor-
gehen nach dem Ausschlussprinzip: Ob eine Handlung selbstbestimmt ist oder nicht,
ließe sich durch den Ausschluss der wichtigsten Gegengründe feststellen. Dazu ge-
hören z. B. psychische und physische Abhängigkeiten, die Selbstbestimmung beein-
trächtigende psychiatrische Störungen und natürlich äußere Zwänge, wie sie z. B.
von anderen Personen ausgehen können.

IV. Einwände
1. Schuldprinzip

Man könnte indes einwenden, dass die hier vorgelegte Argumentation offene Tore
einrenne. Sie rechtfertige mit großem argumentativem Aufwand nur einen klassi-
schen Bestandteil des Strafrechts, nämlich das Schuldprinzip. Diesem Prinzip zufol-
ge sind Normverletzungen einem Akteur nur dann zurechenbar, wenn sie schuldhaft
erfolgen. Im strafrechtlichen Schuldbegriff „sind die Voraussetzungen dafür formu-
82 Michael Pauen

liert, das tatbestandsmäßige Strafunrecht dem Subjekt als seine Tat zuzurechnen und
den dadurch eingetretenen objektiv-subjektiven Geltungswiderspruch, die Verlet-
zung des Rechts ,als Recht‘, strafend aufzuheben.“13 Dabei gilt sogar – ganz ähnlich
wie hier behauptet – „normative Ansprechbarkeit“ als eine der zentralen Implikatio-
nen.14
Wird hier also nur Altbekanntes in neuen Worten wiederholt? Dies ist nicht der
Fall. Entscheidend ist dabei, dass der Anspruch dieses Beitrags nicht darin besteht,
einen neuen Begriff von Freiheit, Verantwortung oder Schuld einzuführen, neu ist
vielmehr die Rechtfertigungsstrategie, also der Versuch, eine aus den Sozialvertrags-
theorien bekannte kontraktualistische Rechtfertigungsstrategie für einen kompatibi-
listischen Begriff der Willensfreiheit in Anspruch zu nehmen. Dieser Begriff liefert
daneben aber auch konsistente kompatibilistische Kriterien für die Anwendung des
Schuldprinzips.15

2. Andere Freiheitsbegriffe

Doch warum lässt sich aus den obigen Überlegungen ausgerechnet die Rechtfer-
tigung eines kompatibilistischen, noch dazu eines ganz bestimmten kompatibilisti-
schen Freiheitsbegriffes ableiten? Könnte ein inkompatibilistischer Freiheitsbegriff
oder ein anderer kompatibilistischer Ansatz nicht die gleichen Leistungen erbringen?
Nehmen wir zur Beantwortung dieser Frage zunächst einen inkompatibilistischen
Ansatz wie die u. a. von Taylor und Chisholm16 entwickelte Theorie der Akteurskau-
salität. Dieser Theorie zufolge muss es in einem Entscheidungsprozess mindestens
einen Schritt geben, der nicht durch physische Prozesse und damit durch die Natur-
gesetze determiniert wird, sondern ausschließlich dem Akteur zuzurechnen ist. Chis-
holm führt zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen dem Akteur und seiner Ent-
scheidung einen eigenen Kausalitätsbegriff ein. Im Gegensatz zur üblichen „transe-
unten“ Kausalität, wie sie das Verhältnis von Ursache und Wirkung in der physischen
Welt beherrscht, haben wir es lt. Chisholm hier mit einem Akt der „immanenten“
Kausalität seitens des Akteurs zu tun. Er zeichnet sich vor allem dadurch aus,
dass der Akteur damit eine neue Kausalkette beginnt, ohne selbst von anderen Ursa-
chen abzuhängen. Dies schließt in den Augen Chisholms Unabhängigkeit nicht nur
von äußeren Einflüssen, sondern auch von den eigenen Wünschen und Überzeugun-
gen ein. Genau dies hat allerdings zur Folge, dass meine Überzeugungen ihren Ein-
fluss auf meine Entscheidungen verlieren können. Auch wenn ich also fest von be-

13
Köhler, Michael, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Berlin Heidelberg 1997, S. 349.
14
Roxin, Claus, Strafrecht. Allgemeiner Teil. Band I. Grundlagen. Der Aufbau der Ver-
brechenslehre, München 1994, S. 715.
15
Pauen, Michael, Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirn-
forschung, Frankfurt/M. 2004.
16
Chisholm, Roderick M., Human Freedom and the Self, in: Gary Watson (Hrsg.), Free
Will, Oxford 1982, S. 24 – 35.
Eine kontraktualistische Rechtfertigung von Freiheit 83

stimmten Normen überzeugt bin, nicht an Willensschwäche leide und auch die rele-
vanten Sanktionen unbedingt vermeiden möchte, kann es passieren, dass ich mich
plötzlich für eine schwerwiegende Verletzung der fraglichen Normen entscheide.
Es kommt hinzu, dass aus ganz ähnlichen Gründen auch der Einfluss äußerer Fak-
toren wie der Sanktionsdrohungen auf meine Entscheidungen in Frage gestellt wird.
Auch wenn die Bewahrung meiner Freiheit für mich einen wesentlich höheren Rang
hat als bestimmte Verlockungen durch Gesetzesverstöße, könnte ich mich unter den
von der Akteurskausalität beschriebenen Bedingungen also unvermittelt für eine
schwerwiegende Gesetzesverletzung entscheiden, die mit einer Freiheitsstrafe sank-
tioniert ist.
Die Wirksamkeit von Sanktionen würde unter den Bedingungen der Akteurskau-
salität also ebenfalls signifikant reduziert. Selbst wenn der Begriff der Akteurskau-
salität ein höheres Maß an Freiheit oder eine plausiblere Analyse unseres vorwissen-
schaftlichen Freiheitsbegriffs liefern würde, fiele er aus pragmatischer Perspektive
hinter den skizzierten kompatibilistischen Begriff von Freiheit als Selbstbestimmung
zurück. Tatsächlich wirft der Begriff der Akteurskausalität aus den bereits genannten
Gründen aber auch schwerwiegende normative und begriffliche Fragen auf: Freiheit
besteht sicherlich nicht darin, dass ich im Widerspruch zu meinen Wünschen und
Überzeugungen handle, doch genau diese Gefahr wirft die Akteurskausalität auf.
Wie steht es mit anderen kompatibilistischen Ansätzen? Nehmen wir als Beispiel
die von Frankfurt vertretene Konzeption der Volitionen zweiter Ordnung.17 Ihr zufol-
ge handelt eine Person dann frei, wenn sie ihren faktischen Willensakt einem Wil-
lensakt zweiter Ordnung gutheißt, die Person ihren faktischen Willensakt auch
haben will. Auch wenn Frankfurt auf diese Weise einige typische Schwächen kom-
patibilistischer Ansätze ausräumen zu können glaubt, so gibt es schon auf der theo-
retischen Ebene eine Reihe bekannter Einwände gegen seine Theorie. Besonders gra-
vierend ist das Regressproblem: Wenn man die Freiheit eines Willensaktes erster
Ordnung in Frage stellen kann, dann gilt dasselbe auch für einen Willensakt zweiter
Ordnung. Doch wie sollte ein Willensakt erster Ordnung frei sein, wenn er einem
Willensakt zweiter Ordnung entspricht, dessen Freiheit ebenfalls in Frage steht? Na-
heliegend wäre hier der Rückgriff auf einen Willensakt dritter Ordnung, doch gegen
den lässt sich derselbe Einwand vorbringen. Offenbar entsteht hier ein Regress, und
es ist schwer zu sehen, wie dieser Regress zum Stillstand gebracht werden sollte.
Möglich wäre allenfalls ein unabhängiges Kriterium für Freiheit, doch das könnte
man gleich auch auf den Willensakt erster Ordnung anwenden.
Entscheidend ist hier jedoch die Frage, inwieweit Frankfurts Ansatz geeignet ist,
pragmatisch sinnvolle Kriterien für die Sanktionierung einer Handlung zu liefern.
Doch auch das ist mehr als zweifelhaft, Frankfurts Theorie scheint gleich in mehre-
ren Fällen zu kontraintuitiven Resultaten zu führen. Stellen wir uns vor, ein Rausch-

17
Frankfurt, Harry G., Freedom of the Will and the Concept of the Person, in: The Journal
of Philosophy 68 (1971) S. 5 – 20.
84 Michael Pauen

giftsüchtiger würde eine illegale Droge nehmen. Nach einem sehr weit verbreiteten
Verständnis wäre diese Person nur in einem eingeschränkten Sinne frei und verant-
wortlich. Dazu passt, dass Sanktionen hier nicht sonderlich wirksam sind; Rausch-
giftsüchtige lassen sich durch Sanktionsdrohungen nur schwer von ihrem Handeln
abhalten, andernfalls wären sie vermutlich gar nicht süchtig geworden.
Doch Frankfurts Theorie läuft diesen ebenso weit verbreiteten wie plausiblen Vor-
stellungen geradewegs zuwider. Wenn der Rauschgiftsüchtige seine Sucht billigt, gilt
er Frankfurt zufolge als frei, egal wie stark der Zwang ist, den die Sucht auf sein Ver-
halten ausübt. Umgekehrt wäre ein Süchtiger, der seine Probleme erkannt hat und
seine Sucht daher nicht mehr billigt, Frankfurt zufolge unfrei – auch wenn er
dabei ist, sich von seiner Sucht zu lösen und für Sanktionen viel eher ansprechbar
wäre. All dies weckt große Zweifel, ob Frankfurts Theorie wirklich pragmatisch an-
gemessene Kriterien für ein wirksames Sanktionssystem liefern kann.
Natürlich bedeutet dies nicht, dass es keine pragmatisch angemessenen Alterna-
tiven zu dem obigen Vorschlag geben kann. Hierzu wäre eine umfangreiche Ausein-
andersetzung mit den wichtigsten gegenwärtig zur Diskussion stehenden Theorien
der Willensfreiheit notwendig, die die Grenzen dieses Beitrags bei weitem sprengen
würde. Doch die obigen Bemerkungen sollten zumindest gezeigt haben, dass die
skizzierte Theorie der Willensfreiheit besonders gute Voraussetzungen für einen
kontraktualistischen Ansatz aufweist, selbst wenn offen bleiben muss, ob sie der ein-
zig denkbare pragmatisch sinnvolle Ansatz ist.

V. Fazit
Fassen wir zusammen. Ich habe versucht zu zeigen, dass man einen kompatibilis-
tischen Begriff von Willensfreiheit mit pragmatischen, kontraktualistischen Argu-
menten rechtfertigen kann, so wie sie ganz ähnlich auch in den klassischen Theorien
des Sozialvertrags verwendet werden. Die Grundüberlegung ist hier, dass jedes Mit-
glied eines Staates oder einer staatsähnlichen Gruppe ein substantielles Interesse am
Schutz seiner wichtigsten Güter, also von Leben, Leib und Eigentum hat. Der Schutz
setzt nicht nur Regeln voraus, sondern auch ein Sanktionssystem, das diese Regeln
durchzusetzen hilft. Doch Sanktionen dürfen nicht einfach blind jede Normverlet-
zung treffen, vielmehr müssen sie auf die verantwortlichen Urheber von Normver-
letzungen zielen: Andernfalls verfehlen sie ihre Wirkung und sind für die Bürger
nicht akzeptabel. Doch wie kann man sicherstellen, dass die Sanktionen ihr Ziel tref-
fen?
Ich habe argumentiert, dass ein kompatibilistisches Verständnis von Willensfrei-
heit als Selbstbestimmung genau dies leisten kann: Die Beschränkung auf selbstbe-
stimmte Handlungen stellt einerseits sicher, dass die Sanktionen effektiv sind, denn
selbstbestimmungsfähige Personen sind ansprechbar für die Rechtfertigung von Nor-
men und für Abschreckung, die von Sanktionsdrohungen ausgeht. Gleichzeitig
Eine kontraktualistische Rechtfertigung von Freiheit 85

macht die Beschränkung der Sanktionen auf selbstbestimmte Handlungen das Sys-
tem für die Bürger attraktiv. Zum einen, weil das System effektiv ist und die Bürger
schützt. Zum anderen aber auch, weil die Bürger vor Sanktionen halbwegs sicher sein
können, sofern sie sich ernsthaft um die Einhaltung der Normen bemühen. Wenn sie
dagegen gezwungen werden oder einer psychiatrischen Krankheit zum Opfer fallen
und dabei Normen verletzen, brauchen sie keine Angst vor Strafe zu haben, denn ihr
Handeln gilt dann auch nicht mehr als selbstbestimmt. Eine kompatibilistische Theo-
rie der Willensfreiheit ist daher nicht nur pragmatisch sinnvoll, sondern auch gerecht-
fertigt, schließlich haben die Bürger gute Gründe, diesen Begriff als Kriterium der
Verantwortlichkeit zu akzeptieren. Von wichtigen konkurrierenden Theorien wie
der inkompatibilistischen Theorie der Akteurskausalität oder Frankfurts kompatibi-
listischer Second Order Volition Theorie kann man dies dagegen nicht sagen. Dies
schließt nicht aus, dass es andere Begriffe von Freiheit gibt, die sich ebenfalls prag-
matisch rechtfertigen lassen. Doch abgesehen davon, dass solche Theorien schwer zu
finden sein dürften, ändert dies nichts daran, dass die skizzierte kompatibilistische
Theorie ein guter Kandidat für eine solche pragmatische Rechtfertigung ist. Und
genau das sollte hier gezeigt werden.
Zur Legitimität von Staatlichkeit
Eine kosmopolitische Kritik offener Grenzen

Von Julian Nida-Rümelin

I. Einleitung
Meine Erinnerungen an Reinhard Merkel reichen sehr weit zurück, nämlich in un-
sere Jugendzeit. Für einige lange Jahre waren wir beide Leistungsschwimmer, er in-
tensiver und auf höherem Niveau als ich. Aber Sport spielte und spielt in unser beider
Leben eine nach wie vor wichtige Rolle. Und wie das sich für einen Jüngeren ge-
ziemt, er schaut auf die Älteren – hier bei rund fünf Jahren Unterschied – aber
diese schauen nicht zurück. Er wird sich aus dieser Zeit nicht an den Jüngeren erin-
nern. Er ist mir dagegen in lebhafter Erinnerung als eigenwilliger Typ, der, wenn ich
es richtig im Kopf habe, mit einem VW-Bus zu Wettkämpfen anreiste und dort zum
Erstaunen mancher Sportsfreunde sich in die Lektüre vertiefte. Ein cooler Typ, auch
ein homme á femmes, muskulös und zugleich intellektuell.1 Viele Jahre später, seine
Schwimmkarriere war längst mit dem Höhepunkt der Teilnahme an den Olympi-
schen Spielen 1968 und einem sechsten Platz über 400 m Lagen beendet, meine
war, nach der Aufnahme eines Doppelstudiums Physik und Philosophie, ausgelau-
fen, wieder bei Hochschulmeisterschaften begegnet, diesmal, es war wohl das ein-
zige Mal, war ich schneller als er. Er studierte Jurisprudenz, aber interessierte sich
auch intensiv für die – analytische – Philosophie, vor allem aber für Karl Kraus.
Ich studierte in den ersten Semestern ganz überwiegend Physik, definierte mich
als analytischer Philosoph, hatte aber dafür untypische philosophische Interessen,
zum Beispiel für Platon und Aristoteles oder die Stoa. Gelegentlich kreuzten sich un-
sere Wege in Seminaren am Stegmüller-Institut in München, das Seminar II für „Phi-
losophie, Logik und Grundlagenforschung“. Er machte auf mich einen scharfsinni-
gen Eindruck, wenn er sich an Diskussionen beteiligte, nahm er jeweils ungewöhn-
liche Positionen ein, zugleich tat er sich aber mit den Werkzeugen der analytischen
Philosophie ein wenig schwer. Aber allein die Tatsache, dass ein junger Jurist sich so
konsequent auf philosophische Debatten einließ und zudem einen immensen allge-

1
Vgl. Schmidt, Caroline, „Nichts für Lerner, was für Denker“, Spiegel-Online, 19. 09.
2012, online verfügbar: https://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/professoren-der-extraklas
se-der-hamburger-jurist-reinhard-merkel-a-843998.html.
88 Julian Nida-Rümelin

meinen Bildungshintergrund mitbrachte, beeindruckte mich. Und das bei einem


Typen, der so gar nicht dem Gelehrten-Klischee entsprach.
Als es Jahre später, Anfang der 1990er, darum ging die Freiheit der Wissenschaft
gegen Ideologen zu verteidigen, setzte sich Reinhard Merkel zusammen mit vielen
anderen analytischen Philosophen für den australischen Bio-Ethiker Peter Singer ein
oder genauer für dessen Rede- und Wissenschaftsfreiheit. Der Konflikt eskalierte auf
einem Wittgenstein-Kongress in Kirchberg am Wechsel in Österreich als die Veran-
stalter unter dem Druck der veröffentlichten Meinung und angekündigter Protestak-
tionen die Einladung an Peter Singer wieder zurückzogen und dies wiederum auf den
Wiederstand vieler schon eingeladener Referentinnen und Referenten aus der analy-
tischen Philosophie weltweit stieß.2
Den meisten ging es dabei nicht nur um die Verteidigung der Rede- und Wissen-
schaftsfreiheit, sondern auch um die Seriosität der inhaltlichen Positionen von Peter
Singer, der im angelsächsischen Raum zwar auch nicht unumstritten ist, aber als an-
erkannte Autorität in der Bioethik und generell in applied ethics gilt. Meine eigene
Position in diesem Streit war ambivalent: Einerseits konsequente Verteidigung des
Primats epistemischer Rationalität gegenüber anderen pragmatischen und politi-
schen Erwägungen in der Wissenschaft, andererseits meine grundsätzliche und un-
versöhnliche Kritik an den inhumanen Konsequenzen konsequentialistischer und uti-
litaristischer Ethik.3 Das Entsetzen über einzelne Handlungsempfehlungen, die Peter
Singer glaubte aus einem Präferenz-Utilitarismus des Hare’schen Typs ableiten zu
können einerseits und die Zurückweisung des meist aus dem Feuilleton-Katholizis-
mus, aber auch aus den Kirchen und sozialen Bewegungen im linken Spektrum her-
rührenden, teilweise gewalttätigen Protestes gegen Peter Singer, schien für Außen-
stehende schwer vereinbar zu sein4.
Als Zeit-Redakteur hat er dann zwischen 1988 und 1990 ein größeres Forum ge-
funden, nicht immer zur Freude der Zeit-Redaktion selbst und das führte wohl auch
zu der Beendigung dieser Rolle.5 Fürderhin war Reinhard Merkel aber nicht nur ein
ausgewiesener Rechtswissenschaftler und Rechtsphilosoph, sondern auch ein public
intellectual, der sich immer wieder auch mit provokativen Stellungnahmen zur Bio-
ethik und zur Rechtsentwicklung zu Wort meldete.6
2
Merkel, Reinhard, „Der Streit um Leben und Tod“ Die ZEIT Nr. 26/1989, 23. Juni 1989.
3
Nida-Rümelin, Julian, Kritik des Konsequentialismus, 2. Aufl., Oldenburg 2013.
4
Vgl. Nida-Rümelin, Julian, Kritik des Konsequentialismus, München 1995 und Nida-
Rümelin, Julian, Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung.
Ein Handbuch (Hrsg.), Stuttgart: Kröner 1996, 22005.
5
Vgl. Ahmann, Martina, „Was bleibt vom menschlichen Leben unantastbar? Kritische
Analyse der Rezeption des praktisch-ethischen Entwurfs von Peter Singer aus praktisch-
theologischer Perspektive“, Theologie und Praxis, hg. von Prof. Dr Collet, Prof. Dr. Mette,
Prof. Dr. Schmälzle, Prof. Dr. Steinkamp, Münster 2001, S. 224 ff.
6
Vgl. Merkel, Reinhard, Forschungsobjekt Embryo, München 2002 oder Merkel, Rein-
hard, Willensfreiheit und rechtliche Schuld: Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung,
Baden-Baden 2008.
Zur Legitimität von Staatlichkeit 89

Politisch versteht sich Reinhard Merkel von jeher als Liberaler, die kommunita-
ristischen, früher auch links-sozialistischen Positionen seines jüngeren Bruders, des
Politikwissenschaftlers Wolfgang Merkel, sind ihm bis heute fremdgeblieben. Dies
hat sich als eine interessante Gemeinsamkeit zwischen ihm und mir im Hinblick auf
die Ethik und die Politik der Migration herausgestellt. Üblicherweise gibt es die Ge-
genüberstellung von Kosmopolitismus einerseits und Kommunitarismus anderer-
seits, wobei der Kommunitarismus oft genug in einen Nationalismus umschlägt
und der Kosmopolitismus in einen universalistischen, oft libertär begründeten, Libe-
ralismus. In zwei gemeinsam von uns vorbereiteten Kooperationsveranstaltungen
der Leopoldina und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
zur Migration7 wurde aber sehr deutlich, dass Merkels Position, auch in dieser
Frage deutlich radikaler als meine eigene, seine Ablehnung einer Politik der offenen
Grenzen, nicht kommunitaristisch oder nationalistisch begründet wird, sondern de-
mokratietheoretisch und politisch. Ich selbst spreche in diesem Zusammenhang von
einem „kosmopolitischen Republikanismus“, wonach politische Identität voraus-
setzt, dass der kollektive Akteur, in der Demokratie kontrolliert von der Bürgerschaft
dieses Staates, handlungsfähig bleibt. Eine Welt offener Grenzen würde diese essen-
tielle Bedingung von Demokratie und Staatlichkeit nicht erfüllen und damit kollek-
tive Autorschaft unterhöhlen oder sogar unmöglich machen.
Von daher fand ich es passend den Herausgebern der Festschrift zum Siebzigsten
von Reinhard Merkel einen Text zum Wiederabdruck anzubieten, der in der Deut-
schen Zeitschrift für Philosophie 2017 publiziert wurde und der auf einem Vortrag
beruht, den ich am 19. Dezember 2016 in Berlin an der Berlin-Brandenburgischen
Akademie der Wissenschaften gehalten habe.

II. Zur Legitimität von Staatlichkeit:


Eine kosmopolitische Kritik offener Grenzen
Abstract: Borders are a constitutive feature of states. Political agency would, therefore,
come into conflict with a practice of open borders. This is equally true for the dynamics of un-
leashed global financial and commodity markets as well as of a global labour market. An un-
regulated mobility of capital, goods, and people would erode the agency of states and diminish
politics to a mere location factor. In the following, I argue in favor of the legitimacy of (state)
borders and the political control over migratory movements, however, not from a communitar-
ian or even nationalist, but from a cosmopolitan perspective. Political cosmopolitanism differs
from a sociological, economic, or cultural one with regard to the role of politics. While other
variants of cosmopolitanism generally understand globalisation as weakening the agency of
states, political cosmopolitanism strives for the establishment of a global institutional order,
which allows for democratically legitimised political agency beyond the nation-state. There-
fore, the question is which institutional governance of migration is legitimate in a cosmopolitan

7
Als Keynote Speaker bei „Normative Criteria of Migration“ am 31. Januar 2019 und
„Normative Kriterien der Integration von Migrantinnen und Migranten in Deutschland“ am
12. April 2019 in Berlin.
90 Julian Nida-Rümelin

framework. The following text discusses the political theory (part 1) and some preliminary phil-
osophical-ethical aspects (part 2) of this topic.8
Grenzen sind ein konstitutives Merkmal von Staatlichkeit.9 Politische Gestal-
tungskraft gerät daher in Konflikt mit einer Praxis offener Grenzen. Dies gilt für
die Globalisierungsdynamik im Zeichen entfesselter globaler Finanz- und Waren-
märkte ebenso wie für den globalen Arbeitsmarkt. Eine ungebremste Mobilität
von Kapital, Waren und Menschen ließe Staatlichkeit erodieren und degradierte
die Politik zum bloßen Standortfaktor. Im Folgenden argumentiere ich für die Legi-
timität von (Staats-)Grenzen und die politische Kontrolle von Migrationsbewegun-
gen, allerdings nicht aus einer kommunitaristischen oder gar nationalistischen, son-
dern aus einer kosmopolitischen Perspektive. Der politische Kosmopolitismus unter-
scheidet sich von einem soziologischen, ökonomischen oder kulturellen vor allem
hinsichtlich der Rolle der Politik. Während andere Kosmopolitismus-Varianten10
die Globalisierung als Schwächung von Staatlichkeit generell verstehen, setzt der po-
litische Kosmopolitismus auf die Etablierung einer globalen institutionellen Ord-
nung, die demokratisch legitimierte politische Gestaltungskraft auch jenseits der Na-
tionalstaaten zulässt. Es stellt sich die Frage danach, welche institutionelle Steuerung
der Migration im kosmopolitischen Rahmen legitim ist.11 Der folgende Text stellt
politiktheoretische (Teil 1) und philosophisch-ethische (Teil 2) Vorüberlegungen
zu dieser Thematik zur Diskussion.

1. Politische Aspekte

Die meisten Philosophen – zumindest diejenigen, die zu dieser Frage Stellung be-
ziehen – sind für offene Grenzen. Einige argumentieren entweder aus kommunitaris-
tischen oder aus nationalistischen Gründen für geschlossene Grenzen (wobei einige
Vertreter einer nationalistischen Position Republikaner sind, andere Kommunitaris-
ten). Kosmopoliten sind meistens für offene Grenzen, Anti-Kosmopoliten dagegen.
Ich halte mich selbst für einen kosmopolitischen Philosophen, dennoch bin ich gegen
offene Grenzen. Ich bin der Überzeugung, dass eine sinnvolle Fassung des Kosmo-
8
Keywords: communitarianism, cosmopolitanism, global constitutionalism, migration,
neoliberalism, open borders.
9
Dieser Artikel entspricht inhaltlich meinem Vortrag „On the ethical legitimacy of (state)
borders“, gehalten auf dem Workshop „Justice, State, Migration“ an der Berlin-Brandenbur-
gischen Akademie der Wissenschaften am 19. Dezember 2016. Er folgte auf den Vortrag von
David Miller „Immigrants, refugees, and the liberal state“, ebenfalls in diesem Heft der
Deutschen Zeitschrift für Philosophie. Christine Bratu danke ich für die Übersetzung des
ersten Teils („Politische Aspekte“) aus dem Englischen.
10
Vgl. Nida-Rümelin, Julian, „Zur Philosophie des Kosmopolitismus“, Zeitschrift für in-
ternationale Beziehungen,13. H. 2, 2006, S.13, 231 – 238.
11
Dies ist eines der Themen, mit denen sich die von mir geleitete Interdisziplinäre Ar-
beitsgruppe „Internationale Gerechtigkeit und institutionelle Verantwortung“ der Berlin-
Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften seit Juli 2016 befasst; vgl. http://www.ge
rechtigkeit.bbaw.de (16. 6. 2017).
Zur Legitimität von Staatlichkeit 91

politismus gegen offene Grenzen argumentieren und stattdessen die Legitimität


staatlicher Grenzen akzeptieren muss. Im Folgenden werde ich versuchen, dies zu
zeigen.
Kosmopoliten betrachten die Welt aus einer globalen Perspektive. Ihre Analyse
beginnt mit der Frage „Was wäre eine legitime und gerechte Weltordnung?“. Ausge-
hend von dieser Frage diskutieren sie dann Implikationen für die Migrationspolitik.
Die Prämissen für die Diskussion sind je nach Standpunkt verschieden: Nationalisten
betrachten die Welt aus der Perspektive nationaler Interessen, Kommunitaristen hin-
gegen sehen die Werte und Normen der Gemeinschaft, der sie angehören, als unhin-
tergehbaren Ausgangspunkt. Republikaner nehmen schließlich einen dezidiert poli-
tischen Standpunkt ein, da sie annehmen, dass sich normative Rechtfertigung nur im
Rahmen politischer Partizipation ergibt. Dementsprechend beschreiben sie die insti-
tutionellen Elemente, die für Partizipation konstitutiv sind. Einige Republikaner
(aber nicht alle) sind in einem noch zu klärenden Sinne nationalistisch, ebenso
wie einige (aber nicht alle) Kommunitaristen nationalistisch sind. Republikaner
sind dagegen niemals kommunitaristisch, da sie im demos und nicht im ethnos die
Quelle der Legitimität des Staates sehen.
Der Kosmopolitismus dreht sich um Fragen der globalen politischen Ordnung.12
Er diskutiert Kriterien einer gerechten Weltordnung und besteht auf dem Primat des
Politischen. Zudem betrachtet er die Menschheit und ihr Interesse als Ganze und
rückt dadurch die Interessen von Staaten und Gemeinschaften in den Hintergrund.
Kosmopoliten sind Universalisten. Sie behaupten, dass die grundlegenden ethischen
Regeln für alle Erdenbewohner gelten, unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft,
ihrer Hautfarbe, ihrer Muttersprache oder anderen partikulären Zugehörigkeiten.
Einige Kosmopoliten argumentieren gegen den Nationalstaat. Sie behaupten, dass
eine gerechte Weltordnung, ausgehend von allgemeinen ethischen Prinzipien, Natio-
nalstaaten insgesamt abschaffte. Wenn man den Nationalstaat als die politische In-
stitution definiert, die die Nation ernst nimmt – d. h. ein Volk, das ein Zugehörigkeits-
gefühl verbindet, das historisch gewachsen ist, Ausgleichhandlungen rechtfertigt
und nach staatlicher Verfasstheit strebt13 –, so sind wahrscheinlich die meisten der
existierenden Staaten in der Welt keine Nationalstaaten: denn entweder leben
jene, die sich dem Staatsvolk durch ein Zugehörigkeitsgefühl verbunden fühlen,
zum Teil nicht im Staat oder sind Bürger anderer Staaten, oder aber die Bürgerschaft
umfasst mehr als eine Nation im oben dargestellten Sinne.
Die im 19. Jahrhundert aufkommende Idee, dass Staaten Nationalstaaten sein
sollten, hat zu vielen Konflikten geführt. Einige davon eskalierten zu Kriegen und
Bürgerkriegen, die sich bis in die Gegenwart ziehen. Diese Konflikte gingen zum
Teil darauf zurück, dass Staatsgrenzen traditionellerweise nationalen Strukturen
12
Zugegebenermaßen gibt es verschiedene Formen des Kosmopolitismus, unter anderem
soziologische, wie sie Ulrich Beck, „The Cosmopolitan Perspective: Sociology of the Second
Age of Modernity“, British Journal of Sociology 51, 2000, S.78 – 105 entwickelt hat.
13
Vgl. Miller, David, Citizenship and National Identity, Oxford 2000.
92 Julian Nida-Rümelin

keine Rechnung getragen haben oder dass das Zugehörigkeitsgefühl ambivalent war
oder sich gewandelt hat. Der Nationalstaat ist ursprünglich ein kommunitaristisches
Konzept und basiert auf der Idee, dass es außerpolitische Entitäten gibt, die versu-
chen, sich als Staaten zu organisieren.
Republikaner sind keine Kommunitaristen. Ihrer Ansicht nach wird die Republik
durch das Erleben gemeinsamen politischen Handelns gestiftet. Ein kommunitäres
Zugehörigkeitsgefühl kann für dieses Erleben hilfreich oder hinderlich sein, aber
in jedem Fall ist es hierfür nicht konstitutiv. Der Republikanismus betrachtet den
demos als die Quelle der Legitimität des Staates, nicht die kulturelle Gemeinschaft,
selbst wenn diese versucht, politisch zu werden.
Kommunitär ausgerichtete Nationalisten halten dagegen das ethnos für die Quelle
der Legitimität des Staates. Aus pragmatischen Gründen mögen Republikaner Staa-
ten bevorzugen, die nur eine Sprachgemeinschaft umfassen, denn für sie ist politi-
sches Deliberieren wichtig und dies geschieht einfacher, wenn alle Beteiligten die-
selbe Muttersprache sprechen. Frankreich ist hierfür ein interessantes geschichtli-
ches Beispiel. Die Französische Revolution wurde von republikanischen und nicht
von kommunitären Idealen getragen. Diese republikanischen Ideale waren eng ver-
knüpft mit universellen, kosmopolitischen Prinzipien: Freiheit, Gleichheit, Brüder-
lichkeit. Dennoch stieß die Französische Revolution im Weiteren Prozesse der kul-
turellen Vereinheitlichung an, die in der Marginalisierung von kulturellen und
sprachlichen Minderheiten resultierten.
Für einen republikanischen Kosmopoliten ist die Frage der staatlichen Organisa-
tion eine pragmatische: Wie sollten Staaten verfasst sein, damit politisches Handeln,
z. B. die Rahmengebung für die Gemeinschaft durch politische Institutionen, Diskus-
sionen und Entscheidungen, möglich und effektiv durchführbar ist? Mir scheint, dass
Immanuel Kant mit seiner Annahme Recht hatte, dass ein solches Modell in globa-
lem Maßstab nicht möglich wäre.14 Der Weltstaat würde wahrscheinlich despotisch.
Nach Kant ist der Grund hierfür, dass politische Kontrolle durch die Bürgerschaft
ausgeübt werden muss; dafür muss diese aber in der Lage sein, effektiv zu interve-
nieren und Meinungen und Entscheidungen so zu artikulieren, dass sie für die Ge-
meinschaft als Ganze relevant sind.
Föderalismus im Sinne von dezentralisierten politischen Strukturen kann sowohl
auf kommunitaristische oder republikanische Überlegungen zurückgehen. Aus kom-
munitaristischen Gründen spricht man sich im Lichte verschiedener Sprachen sowie
verschiedener kultureller und ethnischer Gruppen für föderale Strukturen aus. Aus
republikanischen Gründen spricht man sich dagegen für eine staatliche Organisation
aus, die politisches Handeln auf allen Ebenen effektiv ermöglicht. Hier ist es also
nicht die Zugehörigkeit zu einer außerpolitischen Gemeinschaft, die für einen dezen-
tralen föderalen Staat spricht, sondern die Komplexität politischer Entscheidungen
und Handlungen. Dezentralisierung wird als ein Mittel angesehen, politische Kon-

14
Vgl. Kant, Immanuel, Zum Ewigen Frieden, Erstausgabe 1785.
Zur Legitimität von Staatlichkeit 93

trolle und politisches Handeln effektiv zu gestalten. Zwar können sich auch Republi-
kaner dafür aussprechen, kommunitäre Strukturen ernst zu nehmen, aber nicht, weil
diese Strukturen selbst Quelle politischer Legitimität wären. Vielmehr gehen Repu-
blikaner davon aus, dass die Erfahrung gemeinsamen politischen Handelns mit kom-
munitärem Zugehörigkeitsgefühl überlappen kann und sollte. Ein Staat, der sich
selbst lediglich als ein Bündel kommunitärer Entitäten versteht, würde auf einen
modus vivendi reduziert, dessen Legitimität sich aus den kommunitären Strukturen
zöge. Es würde unmöglich, eine gemeinsame normative Basis für politisches Han-
deln zu entwickeln, wenn diese Gemeinschaften zu stark in ihren Normen, Werten
und Lebensformen differierten. Republikaner sprechen sich daher dafür aus, die po-
litische Gemeinschaft statt der überlappenden kommunitären Strukturen zu stärken.
Die Weltgemeinschaft umfasst ein breites Spektrum von verschiedenen Lebens-
formen, Religionen, Werten und Normen. Ein globales politisches System, das auf
Repräsentanten dieser Unterschiede aufbaute, würde auf den minimalen Konsens
eines modus vivendi reduziert. Das ist zwar sicher besser als die gegenwärtige Situa-
tion, die in manchen Weltregionen eher dem Hobbes’schen bellum omnium contra
omnes und in anderen dem langen Krieg der christlichen Konfessionen im 17. Jahr-
hundert ähnelt. Aber der Kosmopolitismus beschränkt sich nicht auf einen bloßen
globalen modus vivendi: Kosmopoliten sollten Republikaner sein, sie sollten sich
dafür aussprechen, die Möglichkeit politischen Handelns von der Ebene des Natio-
nalstaats auf die kontinentale und globale Ebene zu heben.
Die Globalisierung hat zu einem sich immer weiter spinnenden weltweiten Netz-
werk von ökonomischen, sozialen und kulturellen Verflechtungen geführt, as die
Welt in ein globales System der Kooperation und des Konflikts verwandelt. Da
der moderne Nationalstaat die Antwort auf ein sich immer weiter spinnendes Netz-
werk von Kooperation und Konflikt jenseits der kommunitären Ebene war, sollte eine
kosmopolitische politische Ordnung als Antwort auf die Entwicklungen jenseits des
Nationalstaats etabliert werden. Vor zweihundert Jahren reichte die lokale Herrschaft
feudaler Familien in Europa nicht mehr. Heute reicht die lokale Herrschaft der Na-
tionalstaaten nicht mehr. Der gegenwärtige Kosmopolitismus ist dabei, politisches
Handeln und politische Institutionen jenseits des Nationalstaats zu etablieren.
Dem Kosmopolitismus geht es nicht darum, das gegenwärtige System der Staaten
abzuschaffen, sondern darum, dieses um eine föderale Struktur zu ergänzen, die
von Städten und Regionen bis hin zu Nationalstaaten reicht und die regionale Struk-
turen wie die Europäische Union genauso umfasst wie globale Institutionen (auch
wenn letztere noch auf wenige, schlecht organisierte Beispiele wie den Internationa-
len Strafgerichtshof oder den Internationalen Währungsfonds beschränkt sind). Der
Kosmopolitismus zielt darauf, eine föderale Weltordnung mit institutionellen Struk-
turen zu erschaffen, die effektives politisches Handeln und Entscheiden auf allen
Ebenen ermöglichen. Wie im Falle des einzelnen republikanischen Staates wird
eine republikanische oder kosmopolitische Ordnung zur Entwicklung politischer
Identitäten führen, die die bestehenden kommunitären Identitäten überlappen. Da-
durch wird sie dabei helfen, eine zivile Weltgesellschaft zu etablieren.
94 Julian Nida-Rümelin

Kommen wir nun aus einer kosmopolitischen und republikanischen Perspektive


auf einige Aspekte der Ethik der Migration zu sprechen. Da es dem Kosmopolitismus
nicht darum geht, einzelne Staaten abzuschaffen, sondern sie um eine föderale Welt-
ordnung zu ergänzen, spricht er sich für die Existenz von staatlichen Grenzen aus.
Eine allgemeine Politik der offenen Grenzen nicht nur für Güter und Leistungen, son-
dern auch für Arbeitskräfte und Migranten im Allgemeinen wäre mit der institutio-
nellen Struktur eines republikanischen Kosmopolitismus nicht vereinbar. Der repu-
blikanische Kosmopolitismus setzt die Möglichkeit voraus, kollektiv zu handeln, um
politische Ziele zu verwirklichen. Im Allgemeinen ist ein Freihandelssystem dem po-
litischen Handeln abträglich. Es vereinzelt das Individuum, es zerstört Strukturen der
Kooperation und degradiert politische Entscheidungen zu Standortfaktoren im öko-
nomischen Wettbewerb. Wenn eine politische Entität versucht, im Wettbewerb mit
anderen politischen Entitäten die besten Bedingungen für ökonomische Investitionen
zu etablieren, verliert sie dadurch die Fähigkeit, geleitet von politischen Gründen zu
handeln und gemeinsame politische Werte und Ideen zu realisieren. Politik wird zu
einem bloßen Mittel ökonomischer Ziele. Wenn es für die Politik nichts mehr zu tun
gibt, weil der freie Markt die Verteilung aller Güter, Leistungen, Werte, Normen und
Praktiken übernimmt, werden politische Institutionen inhaltsleer. Politisches Han-
deln wird Teil eines großen Illusionstheaters, das den Eindruck vermittelt, es gäbe
politisch noch etwas zu entscheiden, wenn dies doch längst nicht mehr der Fall
ist. Stattdessen sollte politisches Handeln, d. h. politische Entscheidungen innerhalb
etablierter Institutionen, dazu in der Lage sein, das Spielfeld als Ganzes zu gestalten.
Ohne den Primat des Politischen gibt es keine republikanische Ordnung.
Eine Migrationspolitik, die sich für offene Grenzen ausspricht, steht in der Tra-
dition der Freihandelsideologie und des Libertarismus. Eine solche Politik würde
es politischen Institutionen unmöglich machen, eine gerechte soziale Ordnung zu er-
schaffen. Jede Maßnahme zum Arbeitnehmerschutz oder zur Umverteilung von
Wohlstand innerhalb einer Gesellschaft würde von Migrationsbewegungen unmög-
lich gemacht, die durch diese Anreize ausgelöst würden. Ein weltweites Freihandels-
system der Arbeitskräfte hätte zerstörerische Auswirkungen auf entwickelte Sozial-
staaten.
In dieser Hinsicht ist Migration sehr ambivalent. Für jene, die aus armen Regionen
auswandern, stellt dies meist einen ökonomischen Fortschritt dar. Empirische Studi-
en belegen aber, dass ein beträchtlicher Anteil der erfolgreichen Migranten insge-
samt gesehen verliert, wenn man auch psychologische und kulturelle Aspekte einbe-
zieht. Wichtiger noch: Die Regionen, aus denen die meisten Migranten stammen,
verlieren deutlich mehr, wenn ein Großteil ihrer Bevölkerung auswandert. Globale
Migration ist kein effektives Mittel im Kampf gegen globale Armut. Da ungefähr
zwei Milliarden Menschen auf der Welt unter extremer Armut, d. h. unter anderem
unter chronischer Unterernährung, Mangel an Trinkwasser, sozialer Exklusion, kei-
nem oder unzureichendem Zugang zu Bildung, Arbeitslosigkeit und anderen Entbeh-
rungen leiden, kann globale Migration in die reichen Länder das Problem der globa-
len Armut nicht lösen. Die Kosten der Integration von Migranten hängen stark vom
Zur Legitimität von Staatlichkeit 95

Sozialsystem des jeweiligen reichen Staates ab.15 Mit Subventionen in derselben


Größenordnung ließe sich Armut weit effektiver in den Ursprungsländern bekämp-
fen. Migration ist in der Tat kein geeignetes Mittel, um globale Armut zu bekämpfen.
In vielen Fällen leistet sie eher einen Beitrag zur globalen Armut. Wenn arme Staaten
einen großen Teil ihres Haushalts in Bildung und Qualifizierungsmaßen investieren,
dann aber damit konfrontiert sind, dass die Personen, die von diesen Maßnahmen
profitiert haben, auswandern, führt das zum Kollaps dieser Entwicklungsstrategie.
Daher sollten reiche Staaten, die von der Einwanderung hochqualifizierter Arbeits-
kräfte profitieren, dazu verpflichtet werden, die Ursprungsstaaten zu kompensie-
ren.16
Im Falle von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen ist es Aufgabe der Weltge-
meinschaft, die Anrainerstaaten, die den Flüchtlingen Obhut gewähren, finanziell
zu unterstützen. Die Integration von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen in Länder,
die Tausende von Meilen entfernt sind, macht die Situation in vielen Fällen schlim-
mer. Wenn der Krieg vorbei ist, werden die Flüchtlinge zurückkehren, um Häuser,
Wirtschaft und die Gesellschaft als Ganze wiederaufzubauen. Wenn jene, die über
finanzielle Mittel verfügen, nicht zurückkehren, weil sie mittlerweile ökonomisch
und sozial in eine reiche Gesellschaft wie die USA oder einige der nördlichen und
mitteleuropäischen Staaten integriert sind, wird es für die Ursprungsregionen
noch schwieriger, sich vom Kriegsgeschehen zu erholen.
Reiche Länder, die die Kosten von groß angelegter Migration tragen, sollten
zudem bedenken, dass die Kosten hierfür meistens von jenem Teil der Bevölkerung
getragen werden, der relativ arm ist. Dieser Bevölkerungsteil leidet, weil er ökono-
misch mit den Migranten auf dem Arbeitsmarkt konkurrieren muss, weil die Mieten
steigen und weil er schnellen kulturellen und sozialen Wandel erlebt, den seine Mit-
glieder als anstrengend empfinden könnten. Reiche Bevölkerungsgruppen profitie-
ren dagegen von Migration aus armen Ländern: Sie können Hausmädchen und Gärt-
ner einstellen und diesen sogar noch niedrigere Löhne zahlen als unausgebildeten
heimischen Arbeitskräften. Auch wenn es gute ökonomische Argumente für die Im-
migration gut ausgebildeter Fachkräfte in die wohlhabenden westlichen Länder gibt,
sind die kulturellen und sozialen Kosten doch ungerecht verteilt.

2. Ethische Aspekte

Als ich in der Frühe in mein Wohnzimmer komme, um zu frühstücken, muss ich
zu meinem Erstaunen feststellen, dass dort schon eine Person sitzt. Die Person ist
15
Die Bundesrepublik Deutschland zahlt ca. 250.000 Euro pro Migrant an die Türkei,
damit sie diese Personen wieder zurück nimmt. Daher kann angenommen werden, dass die
Kosten für die Integration dieser Personen in die deutsche Gesellschaft höher liegen.
16
Die praktische Umsetzung dieses Vorschlags ist zweifellos kompliziert. Sinnvoll er-
scheint ein System, bei dem sowohl das Unternehmen und der Staat, als auch die Migranten
Ausgleichszahlungen erbringen. Gillian Brock hat hierzu einen detaillierten Vorschlag unter-
breitet, vgl. Brock, Gillian, Global Justice: a Cosmopolitan Account, Oxford 2009.
96 Julian Nida-Rümelin

freundlich, sympathisch, aber auch sehr bestimmt: Sie hat sich, wie sie erzählt, mit
einem Dietrich Zutritt zu meiner Wohnung verschafft, sie ist obdachlos und bittet
mich nun um Zustimmung, diese Wohnung in Zukunft mit mir zu teilen. Obwohl
ich die schwierige Situation des Obdachlosen durchaus nachvollziehen kann und
er mir keineswegs unsympathisch ist, bitte ich ihn, meine Wohnung umgehend zu
verlassen. Die meisten Leserinnen und Leser werden mir darin zustimmen, dass
dies nicht nur mein juridisches, sondern auch mein moralisch begründetes Recht
ist. Besteht dieses (moralische) Recht und, wenn ja, aus welchen Gründen?
Um die Situation noch ein wenig zu konkretisieren: Ich bin davon überzeugt, dass
der Obdachlose nicht mit dem Tod bedroht ist, wenn ich ihn aus meiner Wohnung
weise. Ich bin aber zugleich davon überzeugt, dass sich die Lebenssituation des Ob-
dachlosen deutlich verbessern würde, wenn ich seinem Begehren nachgekommen
wäre. Zudem steht völlig außer Frage, dass meine Lebenssituation eine weit bessere
ist als die des Obdachlosen, und dass sich die Nachteile, die sich aus einer Kohabi-
tation für mich ergäben, in Grenzen hielten, dass die Vorteile, die der Obdachlose von
einer Kohabitation hätte, meine Nachteile bei weitem überwiegen würden. Denkbar
wäre auch, dass ich in eine Verhandlung einträte; das Ergebnis könnte sein, dass wir
uns auf einen Aufenthalt von zum Beispiel einer Woche einigten, mit Vorteilen für
ihn, Nachteilen für mich, aber für beide akzeptabel. Verpflichtet wäre ich dazu aller-
dings offenkundig nicht.
Die legitime Grenze ist in diesem Fall durch meine Wohnung gezogen. Ich kon-
trolliere als Wohnungseigentümer oder Mieter den Zutritt zu dieser Wohnung und
mein Status als Eigentümer oder Mieter gibt mir individuelle Rechte, darunter das
Recht, den Zutritt oder den Aufenthalt zu verweigern, auch im Falle, dass die Person
gute Gründe hat, sich den Zutritt oder den Aufenthalt zu wünschen, wie in diesem
Fall. Verletzen die individuellen (juridischen und ethischen) Rechte des Wohnungs-
eigentümers ein Gleichbehandlungsprinzip? Muss nicht jede Person gleichermaßen
Zutritt zu dieser Wohnung haben? Und sollten wir den Zutritt zu der Wohnung nach
Bedürftigkeit regeln? Die Antwort lautet ganz offenkundig: Nein. Und zwar deswe-
gen, weil wir uns gemeinsam wünschen, dass wir unter Normalbedingungen die
Möglichkeit haben sollten, die eigene Wohnung, einschließlich des Zutritts und
des Aufenthalts, zu kontrollieren.
Dieses individuelle moralische Eigentumsrecht verletzt nicht universelle Prinzi-
pien der Gleichbehandlung. Diese sind mit legitimen Grenzen, hier den Grenzen mei-
ner Wohnung, vereinbar. Individuelle (Eigentums-)Rechte dieser und anderer Art
sind nicht absolut, wie Libertäre17 meinen, sie können und müssen gegen andere mo-
ralische Gründe abgewogen werden. In unserem Fall könnte ich zum Beispiel eine
moralische Pflicht zur Aufnahme des Obdachlosen dann haben, wenn es sich um eine
klirrend kalte Winternacht handelte und zu befürchten wäre, dass der schon kränkeln-
de Obdachlose eine Nacht im Freien mit dem Leben bezahlen müsste. In Kriegs- und
Nachkriegszeiten wurden die Vorrechte von Wohnungseigentümern eingeschränkt,
17
Vgl. Nozick, Robert, Anarchy. State. Utopia, New York 1974.
Zur Legitimität von Staatlichkeit 97

etwa in Gestalt von Zwangsbelegungen für ausgebombte Familien oder Flüchtlinge


nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Die bloße Tatsache, dass es von Seiten des Staa-
tes eine allgemeine, durch gesetzliche Regelungen oder zumindest behördliche An-
weisungen gestützte Praxis gibt, ist ethisch relevant. Eine solche allgemeine Praxis
löst das Problem der ethischen Unterbestimmtheit (Wer hat in welchem Maße welche
moralischen Verpflichtungen gegenüber den Flüchtlingen oder Ausgebombten?) und
erfolgt nach – im günstigsten Fall – nachvollziehbaren und gerechten Kriterien
(Größe der Wohnung, bisherige Belegungsdichte, Bedürftigkeit der Unterzubringen-
den etc.). Entscheidungen von dazu Befugten (im Rahmen zum Beispiel staatlicher
Gesetze oder staatlicher institutioneller Praxis) haben eine stärker legitimierende
Wirkung als die individuelle Entscheidung einer Person, Grenzen (hier die Grenzen
einer Wohnung) zu überschreiten.
Betrachten wir ein anderes Analogiebeispiel, das im Anschluss an Peter Singer18
gelegentlich angeführt wird, um für eine sehr weitgehende Aufnahmepflicht gegen-
über Migranten zu argumentieren: Jemand kommt an einem Teich vorbei und sieht,
dass eine Person zu ertrinken droht. Dann ist es offenkundig seine Pflicht, den Ertrin-
kenden zu retten, auch, wenn dies bedeutet, dass seine Kleidung dabei nass wird. Die
wohlhabenden Länder haben eine moralische Pflicht, ihre Grenzen jedenfalls so
lange offen zu halten, bis die Belastungen durch die Aufnahme unzumutbar groß
werden. Peter Singer und zahlreiche philosophische Befürworter offener Grenzen19
fügen die empirische und wohl auch meist zutreffende Einschätzung hinzu, dass die
Unzumutbarkeitsgrenzen, also die Grenze, ab der die Belastungen der aufnehmenden
Gesellschaft unerträglich werden, angesichts des unterdessen etablierten Wohlstan-
des in den Reichtumsregionen der Welt sehr hoch angesetzt werden kann. Auch eine
Verdoppelung oder Verdreifachung der Wohnbevölkerung in einem überschaubaren
Zeitraum sollte dann nicht als unzumutbar gelten.20

18
Vgl. Singer, Peter, One World: The Ethics of Globalization, New Haven 2004.
19
Vgl. Carens, Joseph, The Ethics of Immigration, Oxford 2013 oder Andreas Cassee in
seiner soeben als Buch erschienenen Dissertation Cassee, Andreas, Globale Bewegungsfrei-
heit. Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen, Berlin 2016. Cassee kritisiert kom-
munitaristische (Walzer) und nationalistische (Miller, Kymlicka) Thesen gegen „open bor-
ders“ unter Rückgriff auf libertäre und liberalistische Argumente; vgl. dazu Miller, David,
Strangers in Our Midst: The Political Philosophy of Immigration, Cambridge MA. London
2016 u. Kymlicka, Will, Multicultural Citizenship: A Liberal Theory of Minority Rights,
Oxford 1995. Eine Zusammenstellung von Beiträgen zu dieser Debatte findet sich in Cassee,
Andreas/Goppel, Anna, Migration und Ethik, in: Frank Dietrich (Hrsg.), Münster 2012.
20
Hier gehen die Kalkulationen natürlich stark auseinander. Wenn man den Familien-
nachzug für Immigranten zulässt (schon aus Gründen der sozialen und der Geschlechter-
Balance, aber auch aus Gründen der Humanität liegt dies nahe), müsste mittelfristig damit
gerechnet werden, dass je nach Zusammensetzung der einwandernden Gruppe in den Folge-
jahren zwei bis vier weitere Personen für jeden Migranten nachziehen. Bei einer Einwande-
rung im monatlichen Umfang, wie er sich zwischen der Öffnungsentscheidung der deutschen
Bundeskanzlerin und der Schließung der Balkanroute durch die Visegrád-Staaten zeigte,
würde sich die in Deutschland lebende Bevölkerung in den nächsten zehn Jahren in etwa
verdoppeln. Auch wenn dies eine massive Belastung der sozialen Sicherungssysteme und der
98 Julian Nida-Rümelin

Damit scheinen zwei Analogie-Argumente vorzuliegen, die zu gegensätzlichen


ethischen Konsequenzen führen. Bevor wir versuchen, dieses Dilemma zu lösen,
sei ausdrücklich angemerkt, dass ich solche Analogie-Argumente für zulässig
halte. Der einfachste Weg wäre ja zu sagen, dass die unterschiedlichen Bereiche
der Praxis jeweils von ganz unterschiedlichen Regeln geleitet sind und daher solche
Analogien in die Irre führen. Ich bin deswegen der Auffassung, dass Analogieargu-
mente dieser Art zulässig sind, weil die menschliche Praxis als Ganze kohärent zu
sein hat. Man kann sich nicht lediglich darauf berufen, dass es sich um eine andere
Praxis handelt, sondern man muss zusätzlich sagen, warum diese andere Praxis nach
anderen ethischen Prinzipien geregelt werden sollte, um Analogieargumente abzu-
wehren.
Wenn jemand zu ertrinken droht, ist er mit dem Tode bedroht. Wenn der Obdach-
lose in einer klirrenden Winternacht mit dem Tode bedroht ist, wenn ich erwarten
muss, dass er stirbt, wenn ich ihn aus der Wohnung weise, dann habe ich eine mo-
ralische Pflicht, ihn zu beherbergen. Selbst diese Pflicht scheint aber begrenzt zu
sein. Wenn es sich zum Beispiel um einen schweren Alkoholiker handelt, der nur
durch meine Fürsorge davon abgehalten werden kann, sich zu Tode zu trinken,
kann daraus keine zeitlich unbegrenzte Pflicht zur Beherbergung abgeleitet werden.
Selbst dann, wenn die Todesfolgen nicht eigenem Handeln (hier Alkoholgenuss),
sondern den Umständen geschuldet sind, ist eine unbegrenzte Beherbergungspflicht
nicht gerechtfertigt.
Es gibt ein berühmtes Argument für die Legitimität der Abtreibung, das folgende
Analogie heranzieht: Eine Frau hat sich für eine Operation in eine Klinik begeben,
und als sie aus der Narkose aufwacht, muss sie feststellen, dass ihr Blutkreislauf
künstlich mit dem einer anderen Person (über Schläuche) verbunden wurde, und
es stellt sich heraus, dass es sich dabei um einen weltberühmten Geiger handelt,
der stürbe, wenn er nicht weiterhin von der Vitalität ihres Herz-Kreislauf-Systems
profitieren könnte. Judith Jarvis Thomson21 hält es auch unter diesen Umständen
für zulässig, dass die Frau entscheidet, nach Hause zu gehen und den Musiker sterben
zu lassen. Das Recht auf Selbstbestimmung wird nicht einmal durch das Interesse
einer erwachsenen, zudem der Menschheit nützlichen („weltberühmter Geiger“) Per-
son am Weiterleben aufgewogen. Ich, hier die schwanger gewordene Frau, kann mich
gegen das werdende Leben in Gestalt einer Abtreibung entscheiden, unabhängig
davon, welchen moralischen Status der Embryo hat. Selbst dann, wenn die Personen-
eigenschaft mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle etabliert wären, selbst
dann, wenn die Identität der Person ab diesem Zeitpunkt feststünde, selbst dann,
wenn der Embryo die gleiche Würde hätte wie ein geborenes menschliches Wesen
oder – hier in der Geiger-Analogie – ein Erwachsener, hat das Selbstbestimmungs-

wirtschaftlichen Leistungskraft pro Kopf bedeuten würde, ist anzunehmen, dass auch nach
einer derart massiven Veränderung der Lebensstandard in Deutschland weit höher wäre als in
den Ursprungsländern der Zugewanderten.
21
Vgl. Thomson, Judith Jarvis, „A Defense of Abortion“, Philosophy & Public Affairs 1,
1976, S. 47 – 66.
Zur Legitimität von Staatlichkeit 99

recht ein größeres Gewicht als das Überlebensinteresse des Wesens, das von meinen
Körperfunktionen abhängig ist.
Die Grenzen, die hier gezogen werden, sind andere als die der Wohnung, es sind
Grenzen in Gestalt von Interventions-Verboten. Niemand hat das Recht, in dieser
Weise in die persönliche Autonomie der Frau einzugreifen, selbst dann, wenn dieser
Eingriff das Leben eines Menschen rettet. Man kann die vorrangige Rolle individu-
eller Rechte in demokratischen Verfassungen als Grenzsetzungen dieser Art interpre-
tieren: Was immer die Gründe sein mögen, die für eine Praxis sprechen – wenn sie
individuelle Rechte einer Person verletzen, ist diese Praxis unzulässig. Natürlich
kann sich die Trägerin individueller Rechte dazu entschließen, eine Intervention
zu akzeptieren; in dem beschriebenen Fall kann sie sich entscheiden, für, sagen
wir, neun Monate das Bett zu hüten und das Leben des bis dahin soweit Genesenen
retten, der dann, ohne an das Herz-Kreislauf-System der Frau angedockt zu sein,
überleben kann. Vom Geiger ist zu hoffen, dass er dann autonom leben kann; vom
Neugeborenen ist das nicht zu erwarten. Es ist allerdings die Frau, die darüber ent-
scheidet, weil sie das Recht hat, ein Leben nach eigenen Vorstellungen zu leben.
Die Analogie zur Migrationsthematik liegt auf der Hand: Es gehört zum kollek-
tiven Selbstbestimmungsrecht einer Bürgerschaft, die sich in einem Staat organisiert
hat, zu entscheiden, wie sie leben möchte, mit wem sie leben möchte, ob sie kultu-
relle, soziale und ökonomische Veränderungen akzeptiert oder nicht22. Es gibt keine
moralischen Gründe, die sie zwingen könnten, dieses Selbstbestimmungsrecht auf-
zugeben. Natürlich kann sie sich dafür entscheiden, die Veränderungen zu akzeptie-
ren, die Grenzen zu öffnen, bislang nicht Beteiligte an der politischen Meinungsbil-
dung teilhaben zu lassen, neue Kooperationsformen zu etablieren, Wohlfahrtsverlus-
te hinzunehmen. Wenn ich den Ertrinkenden retten kann und mir dabei die Kleider
nass mache, habe ich die Pflicht dazu. Wenn ich den Ertrinkenden nur retten kann,
wenn ich meine individuelle Selbstbestimmung aufgebe, mein gesamtes Leben än-
dere, die Kontrolle über das verliere, was mir wertvoll ist, dann habe ich diese mo-
ralische Pflicht nicht mehr. Wenn wir das Elend der unteren beiden Milliarden der
22
Hier liegt der Einwand nahe, dass eine (Staats-)Bürgerschaft kein freiwilliger Zusam-
menschluss, sondern eine Zwangsgemeinschaft sei, die sich die allermeisten, die ihr angehö-
ren, nicht ausgesucht haben. Dies gilt aber nur hinsichtlich der Staatsangehörigkeit bei Geburt.
Die demokratische Staatsbürgerschaft als eine Form politischer Gemeinschaft und geteilter
Praxis bezieht ihre Legitimation aus einem Konsens höherer Ordnung, einem geteilten Ge-
rechtigkeitssinn. Dies ist jedenfalls der Kern der sogenannten vertragstheoretischen Recht-
fertigung demokratischer Institutionen und Herrschaftsformen. Erst die faktische, implizite
oder jedenfalls hypothetische Zustimmung aller Bürgerinnen und Bürger stiftet demokratische
Legitimation. Diese (vertragstheoretische) Denkfigur aus dem 17. und 18. Jahrhundert (Hob-
bes, Locke, Rousseau, Kant) wurde 1971 von John Rawls mit seinem epochalen Werk A
Theory of Justice erneuert, was weitere – konkurrierende – vertragstheoretische Konzeptionen
in der politischen Philosophie anregte, u. a. Buchanan, John, James McGill, The Limits of
Liberty. Between Anarchy and Leviathan, Chicago 1974; Nozick, Robert, Anarchy. State.
Utopia, New York 1974 und Gauthier, David: Morals By Agreement, Oxford, 1986; vgl. dazu
auch meine Überlegungen in Nida-Rümelin, Julian, Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken
und ihre theoretische Fundierung. Ein Handbuch (Hrsg.), Stuttgart: Kröner 1996.
100 Julian Nida-Rümelin

Weltbevölkerung durch offene Grenzen, durch Aufnahme diesseits des gerade noch
Erträglichen bekämpften, wären Staat, Gesellschaft und Kultur, in denen wir leben,
nicht mehr wiederzuerkennen. Man kann das wollen, aber man muss es nicht, es ist
legitim, Grenzen zu setzen.
Dieses Argument für die Legitimität von Grenzen – unterschiedlichster Art – ist,
wohlgemerkt, nicht partikular oder kommunitaristisch. Hier wird nicht der Interes-
senstandpunkt eines Staates oder einer Gemeinschaft oder einer Person den Interes-
senstandpunkten anderer Staaten oder Gemeinschaften oder Personen vorgeordnet.
Ich argumentiere nicht dafür, dass kollektive Loyalität nur möglich ist, wenn man das
Eigene höher bewertet als das Fremde wie MacIntyre in „Ist Patriotismus eine Tu-
gend?“,23 ich argumentiere für ein universelles Recht auf individuelle und kollektive
Selbstbestimmung, das allen (Individuen, Kollektiven, Staaten) gleichermaßen zu-
kommt. Ohne Grenzen gibt es keine individuelle, kollektive, staatliche Selbstbestim-
mung und keine individuelle, kollektive oder staatliche Verantwortung, sondern die
Strukturen der Verantwortungszuschreibung und der Akteure lösen sich auf. Ohne
Grenzen werden die Lebensformen amorph, sie haben dann keine erkennbare Gestalt
mehr, wir wissen dann nicht, wer welcher Akteur ist, wer wofür verantwortlich ist,
welche Normen und Werte die jeweiligen Praktiken repräsentieren. Eine Gesell-
schaft aus perfekten Utilitaristen, die je für sich die Nutzensumme im Universum ma-
ximierten, bestünde nicht mehr aus Einzelpersonen, die Individuen wären nämlich
ununterscheidbar, sie hätten keine eigenen Projekte, keine Normen und Werte,
keine Identität. Es ist die – deontologische – Idee der individuellen Verantwortlich-
keit, geschützt durch individuelle Rechte und Freiheiten und durch negative Pflichten
der anderen, das heißt, durch moralische Gebote, die bestimmte Interventionen un-
tersagen, die meine Autonomie gefährden könnten, die individuelle Autorschaft, die
Fähigkeit, Autorin oder Autor des eigenen Lebens zu sein, sichert.24
Zu dieser Deontologie der Grenzen gehören nicht nur die Abwehrrechte der In-
dividuen gegen Interventionen von Seiten des Staates, sondern auch von Seiten an-
derer Personen, eben auch die konstitutiven Bedingungen kollektiver Autorschaft in
Gestalt politischer Institutionen, Staaten, kultureller und anders verfasster Gemein-
schaften. Ohne Struktur, ohne legitime und akzeptierte Grenzen keine Autorschaft,
keine Zurechenbarkeit, keine Verantwortlichkeit, kein Respekt und keine Würde.
Das so sympathische Plädoyer für Grenzenlosigkeit, die These, dass Grenzen grund-
sätzlich illegitim seien, weil sie Unterschiede aufrechterhielten25, lässt sich bei ge-
nauer Betrachtung ethisch nicht legitimieren.

23
Vgl. MacIntyre, Alasdair, „Ist Patriotismus eine Tugend?“, Kommunitarismus. Eine
Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, in: Axel Honneth (Hrsg.),
Frankfurt am Main/ NY, 1993.
24
Vgl. Nida-Rümelin, Julian, Kritik des Konsequentialismus, München 1995 und Williams,
Bernard/Smart, J. J. C. (Hrsg.), Utilitarianism: For and Against, Cambridge 1973.
25
Vgl. z. B. Moses, Jonathan, International Migration: Globalization’s Last Frontier, Lon-
don 2006.
Zur Legitimität von Staatlichkeit 101

Wie steht es aber um die Ungerechtigkeiten, die durch die Grenzen entstehen? Ist
es nicht ungerecht, dass Menschen, die in einem bestimmten Land geboren sind, des-
wegen geringere Chancen auf Wohlergehen haben als andere? Verlangt nicht das
Prinzip des Ausgleichs natürlicher oder zufälliger Unterschiede, um Chancengleich-
heit sichern zu können, dass Grenzen verschwinden?
Auch innerhalb einer nationalstaatlich verfassten Gesellschaft bestehen massive
Ungleichheiten als Folge der Tatsache, dass man in eine bestimmte Familie hinein-
geboren wird, von einem bestimmten soziokulturellen Milieu umgeben ist, mögli-
cherweise ungünstigen elterlichen Entscheidungen den eigenen Bildungsweg betref-
fend ausgesetzt war, etwas erbt oder nicht, genetisch begünstigt oder benachteiligt ist
usw. Diese Unterschiede, in der englischsprachigen Philosophie der Gegenwart oft
als natural luck bezeichnet, sollten in einer gerechten Gesellschaft so weit als mög-
lich ausgeglichen werden: Den sozial Benachteiligten sollten besondere Mittel zur
Verfügung stehen, um ihren Konkurrenznachteil ausgleichen zu können, Kinder
mit Behinderungen sollten mehr staatliche Ressourcen binden dürfen, um sich gut
entwickeln zu können, als Kinder ohne Behinderungen usw. Es gibt jedoch auch
hier enge Grenzen des Zulässigen egalitaristischer Praxis. So wäre es ethisch unzu-
lässig, Kinder auf die Familien umzuverteilen, Kinder mit genetischen Nachteilen in
Familien mit sozioökonomischen Vorteilen zu verpflanzen und umgekehrt. Es wäre
unzulässig, Heranwachsende mehrfach aus ihren Familienbezügen herauszunehmen
und sie mit ungünstigeren beziehungsweise günstigeren Lebensbedingungen zu kon-
frontieren, um eine Gleichheit der Startbedingungen herzustellen. Diese und andere
hyperegalitaristische Maßnahmen wären deswegen unzulässig, weil sie die wün-
schenswerten Strukturen einer humanen Gesellschaft, der Zusammengehörigkeit,
der Verantwortlichkeit der individuellen und kollektiven Selbstbestimmung zerstö-
ren würden. Eine humane Gesellschaft ist von der Balance zwischen Gleichheit und
Differenz geprägt. Differenzen ergeben sich aus dem individuellen und kollektiven
Recht auf Selbstbestimmung; sie vollkommen zu eliminieren hieße, inhumane, indi-
viduelle und kollektive Verantwortlichkeit zerstörende Maßnahmen zu ergreifen.
Der Egalitarismus im Sinne des Gebots der Gleichbehandlung und der Gleichver-
teilung – es sei denn, es gäbe Gründe für eine Ungleichverteilung – muss mit den
Differenzen der individuell und kollektiv gestalteten Lebensformen und ihren Zufäl-
ligkeiten vereinbar sein, sonst schlägt er in eine inhumane Praxis um. Wenn wir aber
die Auflösung von Familienstrukturen, das Auseinanderreißen von Freundschaften
und Nachbarschaften im Dienste gleicher Chancen ablehnen, dann akzeptieren
wir die ethische Relevanz von Strukturen, von Zugehörigkeiten und Abgrenzungen.
Auch dann, wenn es der sozialen Emanzipation eines Individuums zuträglich wäre,
wenn es zum Freundeskreis eines einflussreichen anderen Individuums gehörte, gibt
es keine moralische Pflicht der Aufnahme in diesen Freundeskreis. Das Recht, seine
Freunde selbst zu bestimmen, ist ein wesentliches Merkmal autonomer Lebensfüh-
rung, es hat Vorrang gegenüber der Realisierung von Gleichheitspostulaten. Erst
recht gilt dies für Eheschließungen. Über viele Jahrzehnte hinweg wurde soziale Mo-
bilität teilweise dadurch gesichert, dass insbesondere Frauen über eine Eheschlie-
102 Julian Nida-Rümelin

ßung ihre sozioökonomische Situation verbesserten bzw. die soziale Schicht, der sie
entstammten, hinter sich ließen. Dies ist heute weitgehend zum Erliegen gekommen.
Soziologen sprechen von Endogamie, im Sinne einer Einheirat in dieselbe soziale
Schicht, was vermutlich damit zusammenhängt, dass die Abstiegsängste größer ge-
worden sind und die Absicherung gegen diesen Abstieg durch vergleichbare ökono-
mische Leistungskraft zumindest unbewusst eine Rolle bei Eheschließungen spielt.
Aber auch, wenn die Heirat über unterschiedliche sozioökonomische Milieus hinweg
ein wichtiger Beitrag für eine egalitärere und sozial mobilere Gesellschaft wäre,
könnte niemand darauf verpflichtet werden. Das individuelle und hier auch das kol-
lektive (ein Kollektiv, das zwei Personen umfasst) Selbstbestimmungsrecht hat Vor-
rang.
Wir sollten uns das Zusammenleben der menschlichen Gesellschaft diesseits und
jenseits nationaler Grenzen und über die Zeiten der Menschheitsgeschichte hinweg
wie eine Ansammlung unterschiedlicher Dichte von Myriaden von Teilchen in einer
bewegten Flüssigkeit vorstellen. An manchen Stellen formen sich diese Teilchen zu
dichten Klumpen, an anderen dünnen sie aus, manche bleiben über längere Zeiträu-
me hinweg in enger räumlicher Nähe, andere entfernen sich voneinander und begeg-
nen sich nie wieder, andere sind hoch mobil und nähern sich der einen oder anderen
Verklumpung nur vorübergehend an, um dann zu einer anderen zu wechseln. Die
Ströme der Flüssigkeit werden von Gefäßen strukturiert, zwischen denen es mehr
oder weniger starken Austausch gibt. Die Bewegungs- und Interaktionsmuster än-
dern sich nicht nur von Gefäß zu Gefäß, sondern auch zwischen den unterschiedli-
chen Verklumpungen.
Der Vorzug dieser Metapher ist, dass sie das Graduelle, die permanent fließenden
Übergänge, das Wechselverhältnis von Struktur (der Gefäße) und Strömungsbild vor
Augen führt. Den jeweiligen Verklumpungen entsprechen soziale Nahbereiche und
kulturelle Gemeinschaften verschiedenster Art. Dem Wechsel der Teilchen von der
einen zur anderen Verklumpung und die Überlagerung unterschiedlicher Verklum-
pungen im Strömungsgeschehen entsprächen die Kreolisierungsprozesse und die
Kosmopolitisierung der Weltgesellschaft.26 Die einzelnen Gefäße sind nicht herme-
tisch voneinander abgeschlossen, sie sind miteinander verbunden, aber im unter-
schiedlichen Ausmaß. Nur sehr wenige Staaten der Welt können sich gegenüber
der globalen Migration abschließen.
Die einzelnen Verklumpungen sind durch spezifische Formen von Interaktion ge-
prägt, die an den Rändern ausdünnen und oft in fließendem Übergang zu anderen
Strukturen der Interaktion und der damit einhergehenden normativen Stellungnah-
men stehen. Es lassen sich jedoch auch gemeinsame Muster über alle Verklumpungs-
und Gefäßstrukturen hinweg erkennen. Man mag dies als das Bild einer globalen Zi-
vilgesellschaft interpretieren. Diese entsteht nicht durch einen besonderen Status,

26
Vgl. Beck, Ulrich, Der kosmopolitische Blick oder: Krieg ist Frieden, Frankfurt am Main
2004 sowie Beck, Ulrich/Grande, Edgar, Das kosmopolitische Europa, Frankfurt am Main
2004.
Zur Legitimität von Staatlichkeit 103

sondern in Fortsetzung bestehender Bindungen und Interaktionen, die im globalen


Maßstab ephemerer werden und eine Normativität voraussetzen, die partikulare Bin-
dungen überwölbt.
Wir haben in diesem Bild Gefäßstrukturen, Interaktionsstrukturen, institutionell
verfestigte kollektive Identitäten, etwa in Gestalt einer verbindlichen und sanktio-
nierten Rechtsordnung über alle kulturellen und regionalen Gemeinschaften hinweg,
und eine weiche Strukturbildung, meist ohne oder nur mit einer schwach ausgepräg-
ten institutionellen Verfestigung: das, was üblicherweise als kulturelle Identität be-
zeichnet wird. Diese beiden strukturbildenden Merkmale sind nicht unabhängig von-
einander, aber man darf sie nicht identifizieren. Das ethnizistische Missverständnis
des Nationalstaates identifiziert diesen mit einer partikularen, kulturell bestimmten
Lebensform und empfindet daher jede Vervielfältigung kultureller und regionaler
Gemeinschaften als eine Bedrohung. Diese ethnizistische Fassung des Nationalstaa-
tes tendiert zu einer Planierung und Nivellierung, im Konfliktfalle zur Unterdrü-
ckung partikularer (genauer: partikularerer) Gemeinschaften und provoziert dadurch
wiederum Revolten, die sich über ethnische Identität legitimieren. Dieses Muster
prägt den Kurdenkonflikt in der Türkei ebenso wie die separatistischen Bewegungen
etwa der Katalanen oder der Schotten in Europa. Das, was durch Nivellierung und
Assimilation zum Verschwinden gebracht werden soll, formiert sich als seinerseits
„national“ interpretierter Widerstand neu. Statt als „Bergtürken“ die Differenzen
der Lebensform langsam abklingen zu lassen, wie es der türkische Nationalismus er-
wartete und forderte, formiert sich eine virtuelle kurdische Nation, die nicht nur die
Türkei, sondern drei weitere Staaten um ihre territoriale Integrität fürchten lässt.
Auch der Umgang mit religiösen Gemeinschaften folgt demselben Muster: Sol-
che Gemeinschaften, die sich marginalisiert fühlen, die ihre eigenen Gotteshäuser
nicht errichten dürfen, die sich ins Private zurückziehen müssen, die sich gewisser-
maßen den Blicken der Mehrheitskultur entziehen müssen, um ihren religiösen Bräu-
chen und spirituellen Praktiken nachzugehen, sind vor die Alternative gestellt, sich
zu assimilieren und einen Teil ihrer Identität aufzugeben, oder gerade das Verdrängte
zum Zentrum einer wie auch immer imaginierten oppositionellen Identität zu ma-
chen. In dieser Hinsicht scheint mir die amerikanische Praxis in einer im hohen
Maße von religiösen Empfindungen und Praktiken geprägten Gesellschaft geradezu
vorbildlich zu sein: Gotteshäuser unterschiedlichster Provenienz, nicht nur christli-
che, stoßen – bislang – nicht auf Widerstand, und die Vielfalt christlicher Konfessio-
nen lässt die christliche Mehrheitsgesinnung für andere Religionsgemeinschaften
nicht als bedrohlich erscheinen.
In den nichtmonotheistischen Religionen ist die Kombination unterschiedlicher
religiöser Traditionen, ja, die multireligiöse Nutzung derselben Tempelanlagen aus-
geprägter. Shintoistische und buddhistische, auch taoistische und konfuzianische
Glaubensinhalte und -riten werden nicht als unvereinbar empfunden. Die Missionie-
rung der Angehörigen anderer Glaubensrichtungen ist in diesen Kulturregionen un-
üblich. Auch die mit der religiösen Identität verbundene kulturelle Abschließung ist
104 Julian Nida-Rümelin

in den monotheistischen Religionsgemeinschaften verbreiteter und reicht bis zur


massiven Sanktionierung, die sich in einigen Rechtsordnungen islamischer Staaten
als Todesstrafe für die Abkehr vom muslimischen Glauben gehalten hat (Apostasie).
Aber auch die Praxis der Endogamie, also die Praxis der Verheiratung innerhalb einer
Religionsgemeinschaft, ist eine historische Gemeinsamkeit der drei monotheisti-
schen Wüstenreligionen.27
Die gesellschaftliche Konvivialität unterschiedlicher Religionsgemeinschaften
setzt bei allen Differenzen der Lebensformen und der Bewertungen einen Konsensus
höherer Ordnung voraus, der sich auf den Umgang mit Religion und kulturellen Dif-
ferenzen bezieht. Erst dieser Konsensus höherer Ordnung stiftet Zivilität, einen zi-
vilen Umgang über Wertungsdifferenzen hinweg. Aber auch diese zivile Praxis an-
gesichts religiöser Differenzen muss in der Alltagskultur verankert sein. Eine religiös
motivierte Apartheid mit separaten Orten der Begegnung, des Amüsements, der Frei-
zeit und der Arbeit, wäre mit dieser Form der Zivilität unvereinbar. Auch die Sepa-
rierung in religiös einheitliche Viertel in den Großstädten mag manche Konflikte erst
gar nicht entstehen lassen, ist aber ein Hindernis für eine gemeinsame, bürgerschaft-
liche (politisch verfasste) Identität.
Die Hoffnung liberaler Philosophen, dass sich das Politische und das Kulturelle
sorgsam trennen lassen, trügt. Wir sind mit einem Kontinuum von kleinen Partiku-
laritäten des Nahbereichs über kulturelle und religiöse Gemeinschaften bis zu den
normativen Konstitutiva ziviler Staatlichkeit und globaler Bürgerschaft konfrontiert.
Die Praxis politischer Partizipation, also eine republikanisch verfasste Demokratie,
kann in der Tat zur Befriedung kultureller und religiöser Konflikte einen wesentli-
chen Beitrag leisten; sie über den Nationalstaat auszudehnen, ist ein – kosmopoliti-
sches – Postulat.

27
Diese Bezeichnung spielt auf die gleiche Ursprungsregion an, die ihre Gemeinsamkei-
ten, aber auch Unverträglichkeiten erklärt.
Demokratie im Kontext von Globalisierung
und Kosmopolitismus
Philosophische Reflexionen zur Begründung und zum Wesen
einer Weltgemeinschaft als einer freiheitlichen Konstruktion

Von Daniela Demko

Weder der Begriff der Globalisierung noch sich stellende Fragen zum Bedeu-
tungs- und Inhaltsverhältnis zwischen Globalisierung und Kosmopolitismus sind bis-
her umfassend beantwortet. Ist der Kosmopolitismus mit seiner Ideengeschichte und
gegenwärtigen Ausformung bereits seit langem Gegenstand der Philosophie, so fehlt
es bis heute an einer in all ihren Einzelaspekten vollständig erarbeiteten Philosophie
der Globalisierung. Der vorliegende Beitrag widmet sich anknüpfend an die Frage
nach einem Weltdemos einem ausgewählten Aspekt einer Philosophie der Globalisie-
rung und des Kosmopolitismus. Anliegen der nachfolgenden Ausführungen ist es
aufzuzeigen, dass und in welcher Weise sich gerade das Freiheitsmoment – mit
dem mit ihm einhergehenden freiheitlichen Konstruieren von Ich und Wir – und
das freiheitlich konstruierte Relationsmoment als entscheidend erweisen für die Be-
gründung und Wesensbestimmung einer (normativen) Weltgemeinschaft.

I. Gemeinschaft und die Bedeutungen des Freiheitsmoments


und Relationsmoments
Normatives Kernelement der Demokratie ist das Moment der Freiheit und an-
knüpfend an die Formulierung des ehemaligen US-amerikanischen Präsidenten
Abraham-Lincoln zum Verständnis der Demokratie als Regierung des Volkes,
durch das Volk und für das Volk gestaltet sich dieses Freiheitsmoment in dreifacher
Hinsicht aus.1 Bezieht sich das Freiheitsmoment bei der Regierung durch den Demos
auf das Wie (d. h. auf die Wege, Verfahren bzw. Mittel, mittels welcher der Demos
selbst bestimmen möchte), so betrifft das Freiheitsmoment bei der Regierung für
den Demos das Was (d. h. die vom Demos selbstbestimmten Inhalte, Werte und

1
Siehe hierzu u. a. Neyer, Jürgen, Globale Demokratie, Baden-Baden 2013, S. 40 ff., 47 ff.;
Marschall, Stefan, Demokratie, Opladen, Toronto 2014, S. 12 ff., 15 ff.; siehe hierzu des
Weiteren u. a. Kirste, Stephan, Das Menschenrecht auf Demokratie, in: Stekeler-Weithofer,
Pirmin/Zabel, Benno (Hrsg.), Philosophie der Republik, Tübingen, 2018, S. 463 ff., 486 ff.,
491 ff.
106 Daniela Demko

(u. a. Rechts-)Güter für das (Zusammen-)Leben).2 Verbunden mit der Selbstbestim-


mung des Wie und Was und dieser als „Home base“3 und grundlegende Ausgangs-
frage vorausgehend ist die ebenfalls aus dem Freiheitsmoment folgende Selbstbe-
stimmung des Wer, mit welcher die sich in Bezug auf den einzelnen Menschen
und sein Ich stellende Frage nach dem „Wer bin ich und wer möchte ich sein“?
und die sich in Bezug auf das Wir stellende Frage nach dem „Wer sind wir und
wer möchten wir sein?“ angesprochen sind.4
Das die Freiheit grundlegend kennzeichnende Element ist das Element des Kon-
struierens,5 wonach sich als frei verstehende und verstanden wissen wollende und

2
Siehe hierzu u. a. Reder, Michael, Globalisierung und Philosophie. Eine Einführung,
Darmstadt 2009, S. 59 ff.; Ottmann, Henning, Vier Modelle globaler Ordnung, in: Ottmann,
Henning/Barišić, Pavo (Hrsg.), Kosmopolitische Demokratie, Baden-Baden 2018, S. 165 ff.;
Marschall, Demokratie, S. 16 f.; Neyer, Globale Demokratie, S. 49 ff.
3
Jonas, Klaus/Stroebe, Wolfgang/Hewstone, Miles (Hrsg.) Sozialpsychologie, Berlin/
Heidelberg, 2014, S. 192.
4
Siehe hierzu u. a. Thome, Helmut, Soziologie und Solidarität: Theoretische Perspektiven
für die empirische Forschung, in: Bayertz, Kurt (Hrsg.), Solidarität. Begriff und Problem,
Frankfurt am Main 1998, S. 231 ff. mit Hinweis auf Tugendhat: „Konstruktion einer perso-
nalen Identität erwächst aus dem Bemühen des Menschen, sich selbst die (immer wieder neu
zu stellende) Frage zu beantworten: ,Was für ein Mensch bin ich und was für ein Mensch will
ich sein?‘ (Tugendhat)“ (S. 231); Benhabib, Seyla, Kosmopolitismus und Demokratie,
Frankfurt am Main 2008, S. 39: „We the People … definieren uns im Akt der Selbstgesetz-
gebung zugleich unmittelbar als ein Wir.“ (Hervorhebung im Original); Marschall, Demo-
kratie, S. 16: „Was und wer genau ist unter „demos“ zu verstehen …?“; Alkemeyer, Thomas/
Bröckling, Ulrich, Jenseits des Individuums. Zur Subjektivierung kollektiver Subjekte. Ein
Forschungsprogramm, in: Alkemeyer, Thomas/Bröckling, Ulrich/Peter, Tobias (Hrsg.), Jen-
seits der Person, Bielefeld 2018, S. 17 ff.
5
Siehe zum Konstruktionsmoment u. a. Delitz, Heike, Kollektive Identitäten, Bielefeld
2018, S. 11, 23 ff., 29 ff., 43 ff.: „konstruiert“ (S. 11); Jureit, Ulrike, Imagination und Kol-
lektiv. Die „Erfindung“ politischer Gemeinschaften, in: Jureit, Ulrike (Hrsg.), Politische
Kollektive, Münster 2001, S. 7 ff.: „Konstruktion … Konstruktionsleistung“ (S. 12); Herken-
rath, Die Globalisierung der sozialen Bewegungen, Wiesbaden 2011, S. 53 ff.; Thome, in:
Bayertz (Hrsg.), Solidarität. Begriff und Problem, S. 231: „Konstruktion einer personalen
Identität“; Leidner, Bernhard/Tropp, Linda R./Lickel, Brian, Politische Psychologie von
Gruppen, in: Zmerli, Sonja/Feldmann, Ofer (Hrsg.), Politische Psychologie, Baden-Baden
2015, S. 236 ff.: „wechselseitig wahrgenommenen Beziehungen zueinander“ (S. 236),
„Gruppenkategorisierung“ (S. 237, Hervorhebung im Original), „psychologisch verbunden
fühlen“ (S. 237); siehe im Zusammenhang mit dem rekonstruktiven und reflektiven Denken
des Menschen näher Mead, George, Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt am Main
2013, S. 28 f.; Nida-Rümelin, Julian, Humanistische Reflexionen, Berlin 2016, S. 361, 412,
429: „permanentes wertendes Stellungnehmen“ (S. 361), „Gemeinschaftsstiftung … stiften
politische Identität“ (S. 412), „Die politische Gemeinschaft wird durch die Praxis kollektiver
Entscheidungen gestiftet.“ (S. 429, Hervorhebung im Original); Nussbaum, Martha, Politische
Emotionen, Berlin 2016, S. 188: „Erzeugung einer universellen Verbundenheit aller Men-
schen“; Alkemeyer/Bröckling, in: Alkemeyer/Bröckling/Peter (Hrsg.), Jenseits der Person,
S. 17 ff.: „Ein Subjekt ist man nicht, man wird dazu gemacht und muss sich selbst dazu
machen. Subjekte sind … Effekte von Subjektivierungspraktiken“ (S. 17); Schweitzer, Doris,
Die Subjektwerdungen der juristischen Person. Subjektivierungstheoretische Überlegungen
zur rechtlichen Personalisierung von Kollektiven, in: Alkemeyer, Thomas/Bröckling, Ulrich/
Demokratie im Kontext von Globalisierung und Kosmopolitismus 107

normativ sollende Menschen als Autoren ihres Lebens6 ihr Ich und Wir (sowie daran
anschließend das Wie und Was ihres (Zusammen-)Lebens) in einem Selbstreflexions-
prozess unter Einbezug von Vernunfts-, emotionalen und moralischen Komponenten
und unter Loslösung von äußerer und innerer Fremdbestimmung selbst bestimmen
wollen und normativ sollen.7 Zur Freiheit gehört hierbei – sonst wäre es keine Frei-
heit – der mit dem Grundelement des Konstruierens verbundene Aspekt des Immer-
wieder-neu-Konstruierens, womit zugleich zwei zusammengehörende Gesichts-
punkte, zum einen der des Konstruktionsprozesses und zum anderen der des aus
dem Konstruktionsprozess (dem Konstruieren) hervorgehenden Konstruktionser-
gebnisses,8 mitangesprochen sind. Menschen befinden sich während ihres gesamten
(Zusammen-)Lebens in einem fortlaufenden Konstruktionsprozess bezüglich ihres
Wer (ihres Ich und Wir) sowie ihres Wie und Was ihres (Zusammen-)Lebens, d. h.
erfinden, erschaffen, kreieren, entwickeln sich – was gerade Ausdruck ihrer Freiheit
ist – ständig neu. Bei den im Konstruktionsprozess erschaffenen Konstruktionsergeb-
nissen handelt es sich (zum Ersten) nicht um objektive Gegebenheiten und erst recht
nicht um dauerhaft feststehende und unveränderliche objektive Gegebenheiten, son-
dern um vom/von Menschen subjektiv-intersubjektiv Konstruiertes, Erfundenes,
Kreiertes, Erschaffenes. Hiermit ist (zum Zweiten) verbunden, dass es diese erschaf-
fenen Konstruktionsergebnisse in ihrem Charakter als „fluide und permanent vorläu-
fig“,9 d. h. in ihrem flüchtigen, temporären, stets vorläufigen und mit der Möglichkeit
von permanenten Veränderungen und Neuerfindungen eines immer wieder neu kon-

Peter, Tobias (Hrsg.), Jenseits der Person, Bielefeld 2018, S. 178, 181 f.; Sen, Amartya, Die
Identitätsfalle, München 2015, S. 9 f.: „entscheiden, welche Bedeutung wir unseren einzelnen
Bindungen und Zugehörigkeiten zumessen“ (S. 9), „nachdenken und eine Wahl treffen“
(S. 9); Sakai, Naoki, Der Ort von Vergleich und Transnationalität. Ein Plädoyer für verglei-
chende Geisteswissenschaften, in: Bhatti, Anil u. a. (Hrsg.), Ähnlichkeit. Ein kulturtheoreti-
sches Paradigma, Konstanz 2015, S. 136, 140 mit Ausführungen (u. a.) zur Grenzziehung
(bordering): „eine Grenze (ist) immer etwas Menschengemachtes“; Hörning, Karl, Was
fremde Dinge tun. Sozialtheoretische Herausforderungen, in: Hahn, Hans Peter (Hrsg.), Vom
Eigensinn der Dinge, Berlin 2015, S. 166 f.; Rauhut, Andreas, Gemeinsam gegen Armut?,
Leipzig 2015, S. 79; Reder, Michael, Philosophie pluraler Gesellschaften, Stuttgart 2018,
S. 34.
6
Siehe hierzu u. a. Nida-Rümelin, Humanistische Reflexionen, S. 379 ff.: „Menschen sind
Autorinnen und Autoren ihres Lebens“ (S. 379), „im Zentrum eines humanistischen Ethos
steht“ (S. 381, Hervorhebung im Original).
7
Siehe u. a. Herkenrath, Die Globalisierung der sozialen Bewegungen, S. 54; Leidner/
Tropp/Lickel, in: Zmerli/Feldmann (Hrsg.), Politische Psychologie, S. 246; Reder, Philosophie
pluraler Gesellschaften, S. 33 f.; Kirste, in: Stekeler-Weithofer/Zabel (Hrsg.), Philosophie der
Republik, S. 486 ff., 491 ff.
8
Siehe u. a. Herkenrath, Die Globalisierung der sozialen Bewegungen, S. 55: „Prozess und
Resultat“ (Hervorhebung im Original), „beide Aspekte (müssen) analysiert werden“; „doch
nehmen außenstehende Dritte in der Regel nicht den Prozess der Identitätsbildung wahr,
sondern die Erscheinungsformen des gerade aktuellen Resultats“.
9
Herkenrath, Die Globalisierung der sozialen Bewegungen, S. 55; siehe zudem u. a.
Jonas/Stroebe/Hewstone (Hrsg.) Sozialpsychologie, S. 192: „Raum für eine Veränderung des
Selbst“; Stürmer, Stefan/Siem, Birte, Sozialpsychologie der Gruppe, München 2013, S. 17:
„nicht als statische Konzepte …, sondern als dynamisch und kontextabhänig“.
108 Daniela Demko

struierten Wer (sowie Wie und Was) zu erkennen gilt.10 Die im Rahmen des – während
des gesamten (Zusammen-)Lebens fortlaufenden – Konstruktionsprozesses erschaf-
fenen Konstruktionsergebnisse zum Wer (sowie Wie und Was) stellen sich (zum Drit-
ten) als erschaffene Zwischenkonstruktionsergebnisse zu dem jeweils aktuell gewoll-
ten und normativ gesollten Wer (sowie Wie und Was) dar: Es sind Konstruktionser-
gebnisse, welche von den sie konstruierenden Menschen mit Bezug auf den jeweils
aktuellen zeitlichen, räumlichen, sozialen usw. Kontext normativ als richtig angese-
hen werden und welchen – u. a. um Handlungsorientierung im (Zusammen-)Leben
zu finden – (zum Vierten) die Bedeutung, Geltung und/oder sogar Verbindlichkeit
eines Objektiven zugeschrieben wird: D. h., im und trotz Bewusstsein(s), dass das
konstruierte Wer (sowie Wie und Was) keine objektive und erst recht keine auf
Dauer feststehende objektive Gegebenheit ist, wird dieses konstruierte Wer (sowie
Wie und Was) „als objektiv“ und „als objektiv verbindlich“ für das (Zusammen-)
Leben gesetzt.
Dieses freiheitliche (Immer-wieder-neu-)Konstruieren ist nicht nur mit Bezug auf
das Ich, sondern auch auf das Wir von zentraler Bedeutung: Eine Gemeinschaft ist
keine objektive Gegebenheit, welche der Mensch „lediglich zu ,entdecken‘
braucht“.11 Vielmehr wird das (normative) Wir von Menschen gerade als Ausdruck
ihrer Freiheit subjektiv-intersubjektiv konstruiert, d. h. der sich als frei verstehende
und verstanden wissen wollende und normativ sollende Mensch ist als Ausgangs- und
Mittelpunkt für das in seiner Selbstbestimmung liegende Ent-/Bestehen einer Ge-
meinschaft anzusehen.12 Dieses für die Begründung einer Gemeinschaft (und auch
einer Weltgemeinschaft) maßgebende Freiheitsmoment ist mit Bezug auf die

10
Siehe u. a. Reder, Michael/Pfeifer, Hanna/Cojocaru, Mara-Daria, Was hält Gesellschaf-
ten zusammen? Eine Einführung, in: Reder, Michael/Pfeifer, Hanna/Cojocaru, Mara-Daria
(Hrsg.), Was hält Gesellschaften zusammen?, Stuttgart, 2013, S. 13: „Idee der Menschheit, die
ständig neu von allen Mitgliedern der Gesellschaft zu verwirklichen ist“ (S. 13), „in einem
fortlaufenden Prozess der Selbst- und Neuerfindung“ (S. 13); Reder, Philosophie pluraler
Gesellschaften, S. 129; Delitz, Kollektive Identitäten, S. 11: „… stets konstruiert. Sie ist
imaginär und muss daher permanent diskursiv und symbolisch aktualisiert werden“ (S. 11);
Herkenrath, Die Globalisierung der sozialen Bewegungen, S. 55; Thome, in: Bayertz (Hrsg.),
Solidarität. Begriff und Problem, S. 231: „immer wieder neu“; Nida-Rümelin, Humanistische
Reflexionen, S. 363 f., 411: „die eine oder andere Einstellung aufgeben“ (S. 362); Assmann,
Aleida, Ähnlichkeit als Performanz. Ein neuer Zugang zu Identitätskonstruktionen und Em-
pathie-Regimen, in: Bhatti, Anil u. a. (Hrsg.), Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma,
Konstanz 2015, S. 170 f.: „Was ihr Selbstbild angeht, so bleiben sie durchaus … die Subjekte
eigener Wahlfreiheit in konkreten und kontingenten Situationen“ (S. 170), „können etablierte
Schranken und Abgrenzungen immer wieder neu ,verhandelt‘ werden“ (S. 170).
11
Sen, Die Identitätsfalle, S. 21.
12
Siehe hierzu u. a. Eigmüller, Monika, Der duale Charakter der Grenze. Bedingungen
einer aktuellen Grenztheorie, in: Eigmüller, Monika/Vobruba, Georg (Hrsg.), Grenzsoziolo-
gie. Die politische Strukturierung des Raumes, Wiesbaden 2006, S. 63 ff. mit Ausführungen
(u. a.) zum Raum und zur Grenze: „konstruierte Realität“ (S. 66), „gesellschaftliche(r) Inter-
aktionsraum(s)“ (S. 67, Hervorhebung im Original), „(inter)subjektive(r) Sinnbesetzung“
(S. 68), „die Grenze selbst (ist) … nichts, sondern die Grenze wird erst durch die Menschen
und ihre Beziehungen in Bezug auf die Grenzziehung real“ (S. 70).
Demokratie im Kontext von Globalisierung und Kosmopolitismus 109

Frage, was genau das Wesen einer Gemeinschaft und den eine Gemeinschaft (und
auch eine Weltgemeinschaft) grundlegend charakterisierenden Wesenskern be-
stimmt, mit dem Relationsmoment zu verbinden, hierbei anknüpfend an das sog. Zwi-
schen zwischen dem einen Ich und dem anderen Ich, wie es sich in verschiedenen
Auffassungen zur Gemeinschaft und/oder Grenze – u. a. von Nancy und Simmel –
wiederfindet.13 Mit Blick auf die Wesensbestimmung einer normativen Gemein-
schaft ist hierbei (zum Ersten) nicht an ein sog. überindividuelles Wir, sondern an
das unmittelbare Verhältnis von Mensch zu Mensch anzuknüpfen und unter Anknüp-
fung an dieses direkt-horizontale Verhältnis zwischen Mensch und Mensch (zum
Zweiten) danach zu fragen, ob und in welcher Weise sich die Menschen zueinander
in Beziehung bzw. in Relation setzen und welche Bedeutungen und Inhalte sie hierbei
dem zwischen ihnen bestehenden Relationsmoment – d. h. dem Zwischen zwischen
dem einen individuellen Ich und dem anderen individuellen Ich – freiheitlich kon-
struierend zuschreiben und zuerkennen wollen und normativ sollen. Das Relations-
moment mit Blick auf eine normative Gemeinschaft mithin (nicht auf die Seins-, son-
dern) auf die Sollensebene beziehend und mit dem Freiheitsmoment verknüpfend –
und damit das Relationsmoment in seinem für eine normative Gemeinschaft ent-
scheidenden Verständnis als freiheitlich konstruiertes Relationsmoment erkennend
– ent-/besteht eine normative Gemeinschaft als eine freiheitliche Konstruktion
(zum Dritten) dann und solange, wenn und solange die individuellen Ich dem zwi-
schen ihnen bestehenden Relationsmoment die Bedeutungen und Inhalte eines Sich-
Verbindens in einem Mit-und Füreinander zuschreiben und zuerkennen wollen und
normativ sollen.14

13
Siehe hierzu auch die vertiefenden Ausführungen und Nachweise unter III.2.; siehe
zudem u. a. Nancy, Jean-Luc, Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988, siehe dort die
Ausführungen u. a. auf den S. 16 ff., 60 ff., 65 ff.: „Sie besteht im Erscheinen des Zwischen als
solchem: du und ich (das Zwischen-uns) …“ (S. 65, Hervorhebung im Original); Simmel,
Georg, Soziologie, Berlin 2013, S. 11 ff.: „Wechselwirken und … Zusammenwirken“ (S. 11),
„Wechselwirkung“ (S. 12); Gertenbach, Lars/Henning, Laux/Rosa, Hartmut/Strecker, David,
Theorien der Gemeinschaft zur Einführung, Hamburg 2010 mit Ausführungen u. a. zu den
dekonstruktiven Positionen zu Gemeinschaft und zu Nancy, S. 158 ff.; Milà, Natàlia Cantó,
Die Grenze als Relation. Spanische Grenzrealität und europäische Grenzpolitik, in: Eigmüller,
Monika/Vobruba, Georg (Hrsg.), Grenzsoziologie. Die politische Strukturierung des Raumes,
Wiesbaden 2006, S. 189 ff. mit Ausführungen u. a. zu Simmel und seiner Auffassung von der
Gesellschaft und Grenze: „Relationalismus (Relativismus)“ (S. 191); Herrmann, Steffen, Ich-
Andere-Dritte. Eine Einführung in die Sozialphilosophie, Freiburg, München 2018, mit Aus-
führungen u. a. zu Simmel auf den S. 133 ff: „Wechselwirkung“ (S. 134); Moebius, Stephan,
Simmel lesen, Stuttgart 2002, S. 50 ff.: „Wechselwirkung“ (S. 52, Hervorhebung im Original),
„Netzwerk von Wechselwirkungen“ (S. 53).
14
Siehe u. a. Simmel, Soziologie, S. 11 ff.: „das isolierte Nebeneinander der Individuen zu
bestimmten Formen des Miteinander und Füreinander gestalten“ (S. 13, Hervorhebung durch
die Verfasserin); Sen, Die Identitätsfalle, S. 9 f., 21, 33 f. mit Ausführungen u. a. dazu, dass die
„Freiheit, über unsere Loyalitäten und die Rangfolge der Gruppen, denen wir angehören,
selbst zu entscheiden, … eine besonders wichtige Freiheit (ist), die anzuerkennen, zu schätzen
und zu verteidigen wir allen Grund haben“ (S. 21 (Hervorhebung durch die Verfasserin),
„entscheiden, welche Bedeutung wir unseren einzelnen Bindungen und Zugehörigkeiten zu-
messen“ (S. 9), „nachdenken und eine Wahl treffen“ (S. 9), „beigemessen wird“ (S. 33); Beck,
110 Daniela Demko

Das mit dem freiheitlich konstruierten Zwischen angesprochene freiheitlich kon-


struierte Relationsmoment erweist sich mithin als zentral mit Bezug auf die Frage
nach dem normativen Zusammenleben von Menschen, und zwar in zweifacher Hin-
sicht. Zum einen, wie bereits oben aufgezeigt, ist das freiheitlich konstruierte Rela-
tionsmoment relevant mit Bezug auf die Begründung und das Wesen einer normati-
ven Gemeinschaft als solcher – und ist damit von wichtiger Bedeutung auch für eine
normative Weltgemeinschaft – mit der hierfür wichtigen Bezugnahme auf die von
Menschen freiheitlich konstruierte Relation zwischen dem einen Ich und dem ande-
ren Ich.15 Zum anderen ist das freiheitlich konstruierte Relationsmoment – und auch
dies ist mit Blick auf eine normative Weltgemeinschaft und ihr Verhältnis zu und ihr
Zusammenwirken mit partikularen Gemeinschaften von wichtiger Bedeutung – re-
levant mit Bezug auf die Frage nach dem normativen Verhältnis zwischen und dem
normativen Zusammenwirken von mehreren Gemeinschaften mit der hierfür wich-
tigen Bezugnahme auf die ebenso von Menschen freiheitlich konstruierte Relation
zwischen dem einen Wir und dem anderen Wir: Ist in freiheitlicher Konstruktion
eine Gemeinschaft bzw. – da Menschen nicht nur eine Gemeinschaft, sondern meh-
rere Gemeinschaften erschaffen können – sind in freiheitlicher Konstruktion mehrere
Gemeinschaften erschaffen worden, dann liegt es in der ebenso freiheitlichen Kon-
struktion der Menschen zu entscheiden, welche Bedeutungen und Inhalte sie dem
Relationsmoment zwischen dem einen Wir und dem anderen Wir zuerkennen wollen
und normativ sollen.16

II. Globalisierung und Kosmopolitismus


im Lichte des Relationsmoments
Sich stellende Fragen zum genauen Verhältnis zwischen Kosmopolitismus und
Globalisierung, einschließlich der zwischen ihnen bestehenden Gemeinsamkeiten
und Unterschiede, sind bisher nicht umfassend und nicht übereinstimmend beant-
wortet. Zu lesen ist in Bezug auf die Globalisierung u. a. von einer „neuerliche(n)
Renaissance der Kosmopolitanismus-Diskussion …“, einem „… erweiterte(n) kos-
mopolitische(n) Bewusstsein“17 und davon, dass „Kosmopolitismus und Weltbürger-

Ulrich, Was ist Globalisierung?, Frankfurt am Main 1997, S. 55 f.: „Konzept“ (S. 55, Her-
vorhebung im Original), „tatsächlich aber erfunden wurde“ (S. 56, Hervorhebung im Origi-
nal); Schellhaas, Fabian, Die „internationale Gemeinschaft“ im 21. Jahrhundert – Ein Ge-
spenst geht um …, in: Tomuschat, Christian (Hrsg.), Weltordnungsmodelle für das 21. Jahr-
hundert, Baden-Baden 2009, S. 36: „Bekenntnisse“; Gertenbach/Henning/Rosa/Strecker,
Theorien der Gemeinschaft zur Einführung, S. 160: „Denken in Relationen (statt in Substan-
zen)“ (S. 160); Milà, in: Eigmüller/Vobruba (Hrsg.), Grenzsoziologie. Die politische Struk-
turierung des Raumes, S. 189 ff. mit Ausführungen u. a. zu Simmel und seiner Auffassung von
der Gesellschaft und Grenze: „Vergesellschaftung“ (S. 190).
15
Siehe hierzu zudem die vertiefenden Ausführungen unter III. 1. und 2.
16
Siehe hierzu die vertiefenden Ausführungen unter II., III. und IV.
17
Hartmann, Martin/Offe, Claus, Politische Theorie und Politische Philosophie, München
2011, S. 239.
Demokratie im Kontext von Globalisierung und Kosmopolitismus 111

tum … geradezu die „normative Seite der Globalisierung“ zu sein (scheinen)“18 und
„die verschiedenen Traditionen des Kosmopolitismus … als Philosophie der Globa-
lisierung ante litteram verstanden werden“19 können. Auch wenn es bis heute an einer
allgemein verbindlichen Definition für die Globalisierung und einer umfassend er-
arbeiteten Philosophie der Globalisierung, einschließlich einer vollständigen Beant-
wortung aller Fragen zum Verhältnis zwischen Kosmopolitismus und Globalisie-
rung, fehlt,20 so lässt sich dennoch das Relationsmoment als das den Kosmopolitis-
mus und die Globalisierung prägende Moment erkennen und für sowohl die Seins-
ebene als auch die Sollensebene betreffende Untersuchungen zum Kosmopolitismus
und zur Globalisierung, einschließlich einer Philosophie des Kosmopolitismus und
der Globalisierung, fruchtbar machen. Dieses auf das Zwischen Bezug nehmende Re-
lationsmoment findet sich im Kontext der Globalisierung in Bezeichnungen, wie
z. B. Netzwerk oder Vernetzung21 wieder, auch als „Relation“22 bezeichnet, welche

18
Ottmann, Henning, Einleitung, in: Ottmann, Henning/Barišić (Hrsg.), Kosmopolitische
Demokratie, Baden-Baden 2018, S. 9.
19
Cheneval, Francis, Philosophie, in: Niederberger, Andreas/Schink, Philipp (Hrsg.),
Globalisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2011, S. 142 (Hervorhebung im
Original).
20
Siehe hierzu u. a. Niederberger, Andreas/Schink, Philipp, Einleitung: Phänomene,
Theorien und Kontroversen der Globalisierung, in: Niederberger, Andreas/Schink, Philipp
(Hrsg.), Globalisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2011, S. 5: „keine Defi-
nition (hat sich) bislang als allgemein verbindlich durchsetzen können“; Cheneval, in: Nie-
derberger/Schink (Hrsg.), Globalisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch, S. 142: „Im
strengen Sinn gibt es keinen philosophischen Begriff ,Globalisierung‘“.
21
Siehe u. a. die Ausführungen in Niederberger, Andreas/Schink, Philipp (Hrsg.), Globa-
lisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2011, und den dortigen verschiedenen
Beiträgen, z. B. S. 1 ff. („globale(n) wechselseitige(n) Verbundenheit“ (S. 2), „,globale(r) In-
terdependenz‘ … globale(r) Zusammenhänge“ (S. 3)), S. 142 ff., 251 f.; Emmerich-Fritsche,
Angelika, Vom Völkerrecht zum Weltrecht, Berlin 2007, S. 63 f.: „Globale Vernetzung ver-
schiedener Lebensbereiche“ (S. 64); Habermas, Jürgen, Politische Theorie, Frankfurt am
Main 2009, S. 407 f.; Herkenrath, Die Globalisierung der sozialen Bewegungen, S. 121 f.;
Stichweh, Rudolf, Der Zusammenhalt der Weltgesellschaft: Nicht-normative Integrations-
theorien in der Soziologie, in: Beckert, Jens u. a. (Hrsg.), Transnationale Solidarität, Frankfurt
am Main 2004, S. 239 ff.: „strukturelle Vernetzungen“ (S. 241); Held, David, Kosmopolita-
nismus – Ideal und Wirklichkeit, Freiburg, München 2013, S. 9, 15, 39 ff.: „Netzwerke …
Verkettung“ (S. 9), „immer stärker vernetzte(n) Welt“ (S. 15), „miteinander verwoben“
(S. 40), „Grad der Vernetzung gegenseitiger Abhängigkeiten steigt stetig an“ (S. 42); Reder,
Globalisierung und Philosophie. Eine Einführung, S. 7 ff., 29 ff., 37 ff. mit Ausführungen zu
Vernetzungen in verschiedenen Bereichen, z. B. „räumlich-geographische Vernetzungen“
(S. 8), „transnationale(n) Kooperationsnetzwerke“ (S. 10), „transnationale(n) Vernetzung“
(S. 10)), „Netzwerktheorie“ (S. 32) mit globalen Prozessen, die „durch ein komplexes Zu-
sammenspiel verschiedener Akteure im öffentlichen Raum geprägt sind. Sie bilden auf un-
terschiedlichen Ebenen Netzwerke miteinander und versuchen, durch diese globales Leben zu
beeinflussen“ (S. 32), „Netzwerkgesellschaft“ (S. 32), „Das, was Globalisierung ausmacht,
sind die Vernetzungen …“ (S. 37); Küchler, Susanne, Wenn Dinge Netzwerke sind, in: Hahn,
Hans Peter (Hrsg.), Vom Eigensinn der Dinge, Berlin 2015, S. 127 ff.: „Das Netzwerk ist die
neue soziale Sphäre“ (S. 127); Hörning, in: Hahn (Hrsg.), Vom Eigensinn der Dinge,
S. 163 ff.: „dem Dazwischen, den Vermittlungen, Vernetzungen, Verknotungen, dem dyna-
112 Daniela Demko

„philosophisch betrachtet zur Grundkategorie einer überzeugenden Globalisierungs-


theorie“23 werde. Mit dem Konzept der Globalisierung werden weltweit grenzüber-
greifende bzw. weltweit grenzenlose Vernetzungen, Verflechtungen, Interaktionen
beschrieben, die eine Vielzahl von verschiedenen, sich wechselseitig beeinflussen-
den Bereichen – z. B. Wirtschaft, Politik, Recht, Kultur, Kommunikation, Krimina-
lität, Umwelt – betreffen, weshalb auch von der Globalisierung als einem „multidi-
mensionale(n) Phänomen“,24 den „Globalisierungen im Plural“25 bzw. der „Vielzahl
von globalen Interaktionen“26 zu lesen ist. Die Zunahme, Verdichtung und Beschleu-
nigung dieser weltweit grenzüberschreitenden/grenzenlosen Vernetzungen lässt
(entgegen einem reduzierten, einseitigen und fehlerhaften Container- und Schubla-
den-Bild27) die an sich große Welt immer mehr, und zwar nicht nur in Bezug auf das
äußere, sondern gerade auch auf das innere – die Wahrnehmung und das damit ver-
bundene wiedererstarkte und gestiegene Bewusstsein28 sowie damit einhergehend die

mischen Beziehungsgeflecht“ (S. 163), „ließen sich nicht von Grenzen abhalten“ (S. 164),
„Die – aus westlicher Sicht – vorgeblich völlig isolierten Gesellschaften waren nie allein auf
der Welt, immer hatten sie Nachbarn, die auch wieder Nachbarn hatten, mit denen sie in ein
Netz von Austauschbeziehungen verwickelt waren“ (S. 164 f.); Sen, Die Identitätsfalle,
S. 190 ff.: „Werte(n) … Ethik … Zugehörigkeitsgefühl, die unsere Wahrnehmung der globalen
Welt prägen“ (S. 192), „Wir müssen … dafür sorgen, daß unser Geist nicht durch einen Ho-
rizont halbiert wird“ (S. 193); Rauhut, Gemeinsam gegen Armut?, S. 38: „Netzwerke“,
„Vernetzungen“; Reder/Pfeifer/Cojocaru, in: Reder/Pfeifer/Cojocaru (Hrsg.), Was hält Ge-
sellschaften zusammen?, S. 19; Reder, Philosophie pluraler Gesellschaften, S. 118 ff.;
Brunkhorst, Hauke, There Will Be Blood. Konstitutionalisierung ohne Demokratie?, in:
Brunkhorst, Hauke (Hrsg.), Demokratie in der Weltgesellschaft, Baden-Baden 2009, S. 114:
„Netzwerk“ (Hervorhebung im Original); Schellhaas, in: Tomuschat (Hrsg.), Weltordnungs-
modelle für das 21. Jahrhundert, S. 36: „miteinander vernetzt sind“.
22
Reder, Globalisierung und Philosophie. Eine Einführung, S. 37.
23
Reder, Globalisierung und Philosophie. Eine Einführung, S. 37, siehe zudem: „Das, was
Globalisierung ausmacht, sind die Vernetzungen – der Philosoph nennt diese auch Relationen“
(S. 37).
24
Herkenrath, Die Globalisierung der sozialen Bewegungen, S. 113.
25
Herkenrath, Die Globalisierung der sozialen Bewegungen, S. 113 (Hervorhebung im
Original).
26
Sen, Die Identitätsfalle, S. 134.
27
Siehe hierzu zudem die vertiefenden Ausführungen unter IV.; siehe des Weiteren u. a.
Beck, Was ist Globalisierung?, S. 49 ff. zur „Container-Theorie der Gesellschaft“ (S. 49);
Delitz, Kollektive Identitäten, S. 50: „jegliche kollektive ,Container‘ aufzubrechen“.
28
Siehe u. a. Callicott, J. Baird, Die begrifflichen Grundlagen der land ethic, in: Krebs,
Angelika (Hrsg.), Naturethik, Frankfurt am Main 1997, S. 220: „Wahrnehmung – wie vage
und unklar sie auch immer sei –, daß die Menschheit weltweit eine Gesellschaft, eine Ge-
meinschaft darstelle, sei sie auch noch so unbestimmt oder institutionell unorganisiert“; Hei-
nonen, Reijo, E., Globale Ethik. Auf der Suche nach einer neuen Weltorientierung, in: You-
sefi, Hamid Reza/Seubert, Harald (Hrsg.), Ethik im Weltkontext, Wiesbaden 2014, S. 315 ff.:
„Bewusstseinsänderung“ (S. 315), „neue Bewusstseinsänderung in Richtung planetarische
Verantwortlichkeit“ (S. 322); Schellhaas, in: Tomuschat (Hrsg.), Weltordnungsmodelle für
das 21. Jahrhundert, S. 36 f.; Rauhut, Gemeinsam gegen Armut?, S. 38 f.: „Bewusstsein …
anwächst“ (S. 39); Held, Kosmopolitanismus – Ideal und Wirklichkeit, S. 22 f.: „wiederer-
starktes Bewusstsein“ (S. 22), „wachsendes Bewusstsein“ (S. 23); Brunkhorst, in: Brunkhorst
Demokratie im Kontext von Globalisierung und Kosmopolitismus 113

Vernunfts-, emotionalen und moralischen Komponenten betreffende – Zusammenle-


ben weltweit aller Menschen als eine kleine Welt (zu lesen ist hier auch u. a. von der
Welt als einem globalen Dorf29) erscheinen.30 Es entsteht (z. B. durch das Kommu-
nikationsmittel des Internets) bzw. genauer, es wird konstruiert ein Weltbild von einer
Welt als einem weltweiten Raum sozialer Lebens-, Handlungs- und Kommunikati-
onszusammenhänge und von den in ihr (zusammen-)lebenden Menschen, welche
(zum Ersten) sich und ihr (Zusammen-)Leben als ein weltweit Zeitgleich-Hier
und Dort31 und als ein weltweit natürliche und künstliche Grenzen Überschreiten-
des32 oder sogar weltweit Grenzenloses sowie (zum Zweiten) sich selbst hierbei in
ihrem aktiven und unmittelbar von Mensch zu Mensch weltweit miteinander Inter-
agieren und Sich-Verbinden-Können wahrnehmen.33
Der Gedanke eines Weltbezugs ist hierbei kein erst mit der Globalisierung ent-
standener neuer Gedanke, sondern prägte bereits die Philosophie des Kosmopolitis-
mus.34 Kennzeichen des Kosmopolitismus und der Globalisierung ist ihre die gesam-
te Welt und die gesamte Menschheit zum maßgebenden und primären Referenzpunkt
wählende universalistische Ausrichtung mit Blick auf eine Welt(gemeinschaft) und

(Hrsg.), Demokratie in der Weltgesellschaft, S. 110; Delitz, Kollektive Identitäten, S. 43;


Schellhaas, in: Tomuschat (Hrsg.), Weltordnungsmodelle für das 21. Jahrhundert, S. 36:
„wahrgenommen“.
29
Siehe u. a. Callicott, in: Krebs (Hrsg.), Naturethik, S. 220: „in ein ,globales Dorf‘
(,global village‘) verwandelt“.
30
Siehe u. a. Dietrich, Frank/Zanetti, Veronique, Philosophie der internationalen Politik,
Hamburg 2014, S. 127: „In der durch die Globalisierung der Wirtschafts- und Kommunikati-
onswege klein gewordenen Welt“.
31
Siehe u. a. Beck, Was ist Globalisierung?, S. 58: „Hier-wie-Dort, ein Sowohl-als-Auch“.
32
Siehe u. a. Beck, Was ist Globalisierung?, S. 174: „über Grenzen hinweg“ (Hervorhe-
bung im Original).
33
Siehe u. a. Beck, Was ist Globalisierung?, S. 178: „aktive, gleichzeitige und gegenseitige
Kontaktaufnahme zwischen einzelnen Akteuren über alle Grenzen … hinweg“; Hörning, in:
Hahn (Hrsg.), Vom Eigensinn der Dinge, S. 165 f.: „gedehnte(n) Gegenwart“ (S. 165, Her-
vorhebung im Original); Reder, Globalisierung und Philosophie. Eine Einführung, S. 7 ff.,
30 ff. mit Ausführungen u. a. dazu, dass Globalisierung „nicht mehr nur ein Prozess von
Staaten, sondern von Individuen, Institutionen und Organisationen unterschiedlichster Art“
(S. 10) ist, „globale Zivilgesellschaft“ (S. 31); Herkenrath, Die Globalisierung der sozialen
Bewegungen, S. 114: „horizontales und interaktives Medium“, Auflösung der „Grenzen zwi-
schen der öffentlichen Außen- und der bewegungsinternen Binnenkommunikation“; Emme-
rich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht, S. 62 f.: Anknüpfung an die „vielfältigen
menschlichen Lebensbeziehungen“ (S. 62).
34
Siehe hierzu u. a. Schellhaas, in: Tomuschat, Christian (Hrsg.), Weltordnungsmodelle für
das 21. Jahrhundert, S. 30 ff.; Benhabib, Seyla, Kosmopolitismus ohne Illusionen, Berlin
2016, S. 23 ff.; Reder, Globalisierung und Philosophie. Eine Einführung, S. 7 ff., 13 ff.; Em-
merich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht, S. 197 ff.; siehe zudem die Beiträge in
Lutz-Bachmann, Matthias/Niederberger, Andreas/Schink, Phillip (Hrsg.), Kosmopolitanis-
mus, Weilerswist, 2010; Demko, Daniela, Zur Entwicklung einer kosmopolitisch-pluralisti-
schen Weltrepublik, in: Stekeler-Weithofer, Pirmin/Zabel, Benno (Hrsg.), Philosophie der
Republik, Tübingen, 2018, S. 494 ff.
114 Daniela Demko

eine weltweite Verbundenheit aller Menschen kraft ihres Menschseins.35 Anerkannt


ist hierbei zugleich, dass Menschen zusätzlich zu ihrer Zugehörigkeit zur Welt(ge-
meinschaft) als dem umfassendsten Zugehörigkeitskreis auch partikularen (etwa fa-
miliären, lokalen, nationalen und regionalen) Gemeinschaften angehören können –
d. h. dass Mehrfachzugehörigkeiten zu mehreren Gemeinschaften möglich sind36 –,
und es wird zudem nach Antworten zur Frage des als richtig anzusehenden Verhält-
nisses und Zusammenwirkens zwischen partikularen Gemeinschaften und der
Welt(gemeinschaft) gesucht.37
Das freiheitlich konstruierte Relationsmoment erweist sich im Kontext der Glo-
balisierung und des Kosmopolitismus in zweifacher Hinsicht als wichtig: Mit der
den Kosmopolitismus und die Globalisierung kennzeichnenden Hervorhebung der
maßgebenden und primären Zugehörigkeit der Menschen zur Welt(gemeinschaft)
ist die Bedeutung des sich auf die Begründung und Wesensbestimmung einer norma-

35
Siehe u. a. Hartmann/Offe, Politische Theorie und Politische Philosophie, S. 238 ff.;
Schellhaas, in: Tomuschat, Christian (Hrsg.), Weltordnungsmodelle für das 21. Jahrhundert,
Baden-Baden 2009, S. 29: „ganzheitlich-globale Ausrichtung der Gemeinschaft, die „Aufhe-
bung“ der Nationalitäten“ (S. 29), „kraft ihres Menschseins miteinander verbunden“ (S. 30,
siehe zudem S. 36), „also auch heute die nach wie vor gültige Idee, dass zwischen allen
Menschen eine gewisse Verbundenheit kraft ihrer Menschennatur besteht“ (S. 52); Held,
Kosmopolitanismus – Ideal und Wirklichkeit, S. 10: „was allen Menschen gemeinsam ist …
uns alle als zu einer Spezies gehörig bestimmen“; Hartmann/Offe, Politische Theorie und
Politische Philosophie, S. 306; siehe auch u. a. Stürmer/Siem, Sozialpsychologie der Gruppe,
S. 104.
36
Siehe u. a. Höffe, Otfried, Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung, München
2004, S. 101: „neuartig mehrfachen Staatsbürgerschaft“; Schellhaas, in: Tomuschat, Christian
(Hrsg.), Weltordnungsmodelle für das 21. Jahrhundert, S. 30 f.; Sen, Die Identitätsfalle,
S. 8 ff., 26 ff., 35, 50; Delitz, Kollektive Identitäten, S. 39 ff.: „Individuelle Identität setzt sich
stets aus mehreren kollektiven Identitäten zusammen“ (S. 39).
37
Siehe u. a. Köhler, Benedikt, Soziologie des Neuen Kosmopolitismus, Wiesbaden, 2006,
S. 22 ff.; Albert, Mathias, Zur Politik der Weltgesellschaft. Identität und Recht im Kontext
internationaler Vergesellschaftung, Weilerswist, 2002, S. 103 ff., 192 ff.: „… gleichzeitig ein
Umbau nationalstaatlicher kollektiver Identitäten und ein Auffalten alternativer Formen der
Konstruktion grobräumiger kollektiver Identitäten in Gestalt der verschiedenartigen transna-
tionalen Gemeinschaften …“ (S. 199, kursive Hervorhebung des gesamten Zitats im Original;
hier vorgenommene kursive Hervorhebungen durch Verfasserin); Höffe, Otfried, Demokratie
im Zeitalter der Globalisierung, München, 1999, S. 230 ff., 335 ff.; Broszies, Christoph/Hahn,
Henning, Die Kosmopolitismus-Partikularismus-Debatte im Kontext, in: Broszies, Christoph/
Hahn, Henning (Hrsg.), Globale Gerechtigkeit. Schlüsseltexte zur Debatte zwischen Partiku-
larismus und Kosmopolitismus, Berlin, 2010, S. 10 ff., 26 ff., 42 ff.; Höffe, Gerechtigkeit. Eine
philosophische Einführung, S. 101 f.: in der „neuartig mehrfachen Staatsbürgerschaft“
(S. 101) sei man „(P)rimär … Staats- oder Europabürger, und sekundär das andere, folglich in
gestufter Weise beides zusammen, und tertiär ist man Weltbürger“ (S. 101 f.); dazu ebenso
Höffe, Otfried, Vision Weltrepublik. Eine philosophische Antwort auf die Globalisierung, in:
Brugger, Winfried u. a. (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, Frankfurt am Main,
2008, S. 395 f.; Höffe, Otfried, Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger. Politische Ethik
im Zeitalter der Globalisierung, München, 2004, S. 170 f.: „Weltbürger, aber nicht im exklu-
siven, sondern komplementären Verständnis“ (S. 170 f.), „komplementäre Weltrechtsord-
nung“ (S. 171), „Mehrfachbürgerschaft“ (S. 171).
Demokratie im Kontext von Globalisierung und Kosmopolitismus 115

tiven Weltgemeinschaft als solcher beziehenden Relationsmoments im Sinne eines


freiheitlich konstruierten Sich-Verbindens, Sich-Vernetzens bzw. Sich-in-Bezie-
hung-Setzens weltweit aller Menschen angesprochen. Zudem verweisen Kosmopo-
litismus und Globalisierung mit ihrer die gesamte Welt und Menschheit ins Zentrum
stellenden Ausrichtung und ihrem Vorrang des kosmopolitischen/globalisierten
Kontextes vor partikularen Kontexten – in einer Antithese zu einem Primat partiku-
larer Gemeinschaften38– auf das Erfordernis der Beantwortung der Frage nach der
Bedeutung und Sinnhaftigkeit von bisher als Primat anerkannten partikularen Ge-
meinschaften in einer kosmopolitischen/globalisierten Welt und der Frage nach
dem für das Zusammenleben in einer kosmopolitischen/globalisierten Welt als rich-
tig anzusehenden funktionellen Zusammenwirken von partikularen Gemeinschaften
und der Weltgemeinschaft.39 Die freiheitliche Konstruktion einer Weltgemeinschaft
als solcher mit der für diese relevanten Frage nach dem weltweit alle Menschen ein-
beziehenden Relationsmoment zwischen dem einen Ich und dem anderen Ich sowie
die freiheitliche Konstruktion des Relationsmoments zwischen den partikularen Ge-
meinschaften und der Weltgemeinschaft gehören zu den zentralen Fragen, welche im
Rahmen einer Philosophie des Kosmopolitismus und der Globalisierung zu beant-
worten sind, wobei – zusätzlich zur wichtigen Bedeutung der einzelnen Einheiten
(Ich und Wir) – gerade auch dem mit dem Zwischen angesprochene Relationsmoment
selbst eine wichtige Bedeutung für sowohl rechtstheoretische als auch rechtsethische
Untersuchungen zum Kosmopolitismus und zur Globalisierung zukommt.40

III. Zur normativen Weltgemeinschaft


als einer freiheitlichen Konstruktion
Anknüpfend an die vorangehenden Ausführungen (zu I. und II.) soll nachfolgend
vertieft werden, in welcher Weise und gestützt auf welche Gründe sich auf der
Grundlage des hierfür entscheidenden Freiheitsmoments und freiheitlich konstruier-
ten Relationsmoments eine normative Weltgemeinschaft begründen und in den ihr
Wesen kennzeichnenden Einzelelementen bestimmen lässt.

38
Siehe u. a. Hartmann/Offe, Politische Theorie und Politische Philosophie, S. 238: „An-
tithese zum Primat der Mitgliedschaft in einer exklusiven partikularen Gemeinschaft und zum
Vorrang nationaler, territorialer oder ethnischer Bindungen …“.
39
Siehe hierzu zudem die vertiefenden Ausführungen unter IV.; siehe des Weiteren u. a.
Hartmann/Offe, Politische Theorie und Politische Philosophie, S. 238: „gegebene und aner-
kannte kollektive parochiale Bindungen von Bürgern herauszufordern“; Demko, in: Stekeler-
Weithofer/Zabel (Hrsg.), Philosophie der Republik, S. 495 ff., 501 ff., 506 ff., 512 ff.
40
Siehe u. a. Reder, Globalisierung und Philosophie. Eine Einführung, S. 37, wonach dies
philosophisch bedeute, dass bei der Globalisierungsbeschreibung „nicht einzelne substanzielle
Wesensbeschreibungen von Akteuren oder Systemen, … sondern die Vernetzung zwischen
diesen“ wichtig sind; siehe hierzu zudem die oben angeführten Darstellungen und Nachweise
zu dem den Kosmopolitismus und die Globalisierung prägenden Relationsmoment.
116 Daniela Demko

1. Freiheitsmoment als Ausgangs- und Mittelpunkt


einer normativen Weltgemeinschaft

Ausgangs- und Mittelpunkt für das Ent- und Bestehen einer jeden normativen Ge-
meinschaft – auch einer normativen Weltgemeinschaft – ist die Freiheit des Men-
schen, womit sich anknüpfend an das Subjektmodell des Liberalismus das ins-Zen-
trum-Stellen des Menschen verbindet, und zwar des freiheitlich konstruierenden
Menschen, welcher sein Wer (einschließlich Ich und Wir) sowie das Wie und Was sei-
nes (Zusammen-)Lebens selbst bestimmt. Eine „liberale Gesellschaft hat kein Ideal
außer Freiheit“,41 heißt es zutreffend bei Rorty, und auch die Konstruktion der nor-
mativen Weltgemeinschaft hat „ihren Anfang bei der Freiheit“42 zu nehmen. Hierbei
ist nicht von dem Bild eines isolierten, vollkommen abgegrenzten und bindungslosen
atomistischen Menschen43 auszugehen, wie es der Kommunitarismus dem Liberalis-
mus kritisch entgegenhält.44 Zugrunde zu legen ist vielmehr – gerade als Ausdruck
der Freiheit des Menschen – das Bild eines Menschen, der das gleichzeitige45 Beste-
hen beider Gesichtspunkte erkennt: einerseits seine (die Seinsebene betreffende)
Einbettung in äußere und innere soziale Kontexte und aber andererseits zugleich
seine Fähigkeit, sich zu dieser Einbettung in äußere und innere soziale Kontexte
in Distanz, in Abstand, in Ablösung, in ein Verhältnis zu setzen, einschließlich der
(u. a. auch für die Sollensebene relevanten) in der Selbstbestimmung des Menschen
liegenden Fähigkeit des Konstruierens und Immer-wieder-Neu-Konstruierens seines
Wer (und Wie und Was seines Lebens).46 Ein normatives Welt-Wir (und dies gilt für

41
Rorty, Richard, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt am Main 1999, S. 110;
siehe zudem u. a. Wihl, Tim, Freiheit als Unwert? Verwandlungen des Völkerrechts aus libe-
raler Perspektive, in: Tomuschat, Christian (Hrsg.), Weltordnungsmodelle für das 21. Jahr-
hundert, Baden-Baden 2009, S. 67.
42
Wihl, in: Tomuschat, Christian (Hrsg.), Weltordnungsmodelle für das 21. Jahrhundert,
S. 67; siehe zudem u. a. Held, Kosmopolitanismus – Ideal und Wirklichkeit, S. 43: „Dieser
umfassenden Gemeinschaft liegt das zugrunde, was für alle Menschen wesentlich ist – dass
Vernunft und Menschlichkeit in jeder Person gleichen Wert haben“.
43
Siehe u. a. Vesting, Thomas, Staatstheorie, München 2018, S. 145; Özmen, Elif, Politi-
sche Philosophie zur Einführung, Hamburg 2013, S. 105 ff.; Bayertz, Kurt, Begriff und Pro-
blem der Solidarität, in: Bayertz, Kurt, Solidarität. Begriff und Problem, Frankfurt am Main
1998, S. 13 f.
44
Siehe zur Kommunitarismus-Liberalismus-Diskussion u. a. Özmen, Politische Philoso-
phie zur Einführung, S. 105 ff.; Hartmann/Offe, Politische Theorie und Politische Philosophie,
S. 43.
45
Siehe u. a. Vesting, Staatstheorie, S. 105: „die Logik der naturrechtlichen Individual-
rechte (darf) nicht von ihrer kollektiven Seite gelöst werden“; Thome, in: Bayertz (Hrsg.),
Solidarität. Begriff und Problem, S. 231 f.: „Austausch mit anderen“ (S. 231), „Selbst-Wahr-
nehmung und … wahrgenommene(n) Wahrnehmung der anderen“ (S. 231 f.).
46
Siehe u. a. Hartmann/Offe, Politische Theorie und Politische Philosophie, S. 41, 44:
„Liberalismus muss nicht leugnen, dass menschliche Subjekte immer schon soziale Bindun-
gen eingehen; aber er zeichnet das Vermögen aus, diese Bindungen … auch wieder auflösen
zu können“ (S. 44); Nida-Rümelin, Humanistische Reflexionen, S. 417; Sen, Die Identitäts-
falle, S. 21 f., 48 f.: „grundlegende kulturelle Einstellungen und Anschauungen (mögen) zwar
Demokratie im Kontext von Globalisierung und Kosmopolitismus 117

jede Gemeinschaft) ist keine objektive Gegebenheit und kein dem/den Menschen von
außen auferlegter Seinsaspekt, sondern vielmehr eine von Menschen subjektiv-inter-
subjektiv bewusst und gewollt geschaffene und ausgeformte freiheitliche Konstruk-
tion.47 Es ist das freiheitliche Konstruieren (einschließlich des hierfür erforderlichen
Konstruktionswillens) des/der Menschen als der „legitimatorische(n) Instanz“48
sowie als des „nicht nur … Adressat(s), sondern auch … Absender(s) von legitimie-
renden Begründungen“,49 das konstitutiv ist für das Ent- und Bestehen einer jeden
normativen Gemeinschaft, d. h. auch einer normativen Weltgemeinschaft.50 In Be-
griffen, wie z. B. dem Begriff der Vergemeinschaftung oder Vergesellschaftung, fin-
det sich dieser auch für eine normative Weltgemeinschaft entscheidende Aspekt wie-
der, dass eine normative Gemeinschaft von Menschen bewusst und willentlich er-
schaffen, erfunden, kreiert, gestiftet, definiert (usw.) wird,51 d. h. eine von Menschen

die Art unseres Denkens beeinflussen, aber das heißt nicht, daß sie diese vollständig deter-
minieren … Einfluß ist nicht gleichbedeutend mit vollständiger Determination und trotz der
Existenz – und Wichtigkeit – kultureller Einflüsse bleibt die Wahlfreiheit doch bestehen“
(S. 48, Hervorhebung im Original); Held, Kosmopolitanismus – Ideal und Wirklichkeit, S. 24:
Anerkennung jeder Person „als autonomen moralischen Akteur“; Jureit, in: Jureit (Hrsg.),
Politische Kollektive, S. 11: „Konstruiert wird nicht im luftleeren Raum, sondern im Kontext
der jeweiligen Bezugssysteme“; Alkemeyer/Bröckling, in: Alkemeyer/Bröckling/Peter
(Hrsg.), Jenseits der Person, S. 17, 21, 23: Subjekte „beziehen sich reflexiv auf sich selbst und
ihre Umwelt“ (S. 17), Subjektivierung als ein „reflexiver Vorgang bzw. der Vorgang des Re-
flexiv-Werdens“ (S. 21), einerseits Beeinflussung durch die „sozio-materiellen Strukturen
…“, andererseits Einhergehen „mit einer konstruktiven Aneignung oder Subversion dieser
räumlichen Strukturen“ (S. 23).
47
Siehe zum Konstruktionsmoment zudem die Ausführungen und Nachweise unter I.;
siehe hierzu des Weiteren u. a. Morgenroth, Claas, Einleitung. Zur Politik der Gemeinschaft,
in: Böckelmann, Janine/Morgenroth, Claas (Hrsg.), Politik der Gemeinschaft, Bielefeld 2008,
S. 9 ff.; Delitz, Kollektive Identitäten, u. a. S. 55 ff., 84 ff.; Stürmer/Siem, Sozialpsychologie
der Gruppe, S. 103: „soziale(n) Konstruktion“ (S. 103), „soziale(n) Identitätskonstruktion“
(S. 103); Thome, in: Bayertz (Hrsg.), Solidarität. Begriff und Problem, S. 231: „Konstruktion“
(S. 231), „Leistung des Subjekts“ (S. 232), „konstruieren“ (S. 239); Jureit, in: Jureit (Hrsg.),
Politische Kollektive, S. 7 ff.: „Konstruktion … Konstruktionsleistung“ (S. 12).
48
Özmen, Politische Philosophie zur Einführung, S. 46.
49
Özmen, Politische Philosophie zur Einführung, S. 47.
50
Siehe u. a. Özmen, Politische Philosophie zur Einführung, S. 46 f.: „sein Wille (ist)
konstitutiv für die Legitimität der ,künstlichen‘, nicht auf objektiven Prinzipien gründenden,
politischen Ordnung“ (S. 46).
51
Siehe u. a. Milà, in: Eigmüller/Vobruba (Hrsg.), Grenzsoziologie. Die politische Struk-
turierung des Raumes, S. 189 ff. mit Ausführungen u. a. zu Simmel: „Vergesellschaftung“
(S. 190); Moebius, Simmel lesen, S. 50 ff.: „prozesshafte(n) Vergesellschaftung“ (S. 52),
„Vergesellschaftungsprozesse“ (S. 53, Hervorhebung im Original); Simmel, Soziologie,
S. 11 ff.: „Vergesellschaftung“ (S. 13); Schellhaas, in: Tomuschat, Christian (Hrsg.), Welt-
ordnungsmodelle für das 21. Jahrhundert, S. 36: „Bekenntnisse“; Sen, Die Identitätsfalle,
S. 9 f., 21 f.: „entscheiden, welche Bedeutung wir unseren einzelnen Bindungen und Zuge-
hörigkeiten zumessen“ (S. 9), „nachdenken und eine Wahl treffen“ (S. 9), „Wir selbst können
über unsere Prioritäten entscheiden“ (S. 10); Stürmer/Siem, Sozialpsychologie der Gruppe,
S. 103 f. zur Definition, Redefinition und Kategorisierung von Gruppen und Gruppengrenzen
sowie zur „subjektive(n) Sicht …“ der Gruppenmitglieder als dem „… zentralen Definiti-
118 Daniela Demko

subjektiv-intersubjektiv bewusst und gewollt erschaffene und ausgeformte freiheitli-


che Konstruktion darstellt.

2. Normative Weltgemeinschaft als ein weltweit freiheitlich konstruiertes


Sich-Verbinden in einem Mit- und Füreinander:
Das freiheitlich konstruierte Relationsmoment und
die mit ihm verbundenen Einzelelemente

Hinsichtlich der Frage nach den eine normative (Welt-)Gemeinschaft ausmachen-


den grundlegenden Charakteristika ist es das sich auf das unmittelbare Verhältnis von
Mensch zu Mensch beziehende freiheitlich konstruierte Relationsmoment, welches
sich als für die Bestimmung des Wesens einer normativen (Welt-)Gemeinschaft ent-
scheidend erweist.52 Eine Bezugnahme auf ein sog. Zwischen bzw. Zwischenraum
findet sich in verschiedenen Gemeinschaftskonzepten, u. a. von Nancy und Simmel,
wenn auch jeweils mit anderen inhaltlichen Ausformungen und Schwerpunktsetzun-
gen53 wieder.54 Es ist diese Anknüpfung an das Zwischen zwischen den sich verge-

onskriterium“ (S. 11); Bierhoff, Hans W./Küpper, Beate, Sozialpsychologie der Solidarität, in:
Bayertz, Kurt, Solidarität. Begriff und Problem, Frankfurt am Main 1998, S. 265 ff.; Meffert,
Michael F., Informationsverarbeitung und Entscheidungsfindung, in: Zmerli, Sonja/Feld-
mann, Ofer (Hrsg.), Politische Psychologie, Baden-Baden 2015, S. 87 im Zusammenhang mit
dem „(politische[n]) Gedächtnis als assoziative Wissensstruktur“, „menschliche(s) Gedächtnis
… als ein assoziatives Netzwerk“; Sen, Die Identitätsfalle, S. 9 f.
52
Siehe hierzu u. a. Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, siehe dort die Ausführungen
u. a. auf den S. 16 ff., 60 ff., 65 ff.: „Sie besteht im Erscheinen des Zwischen als solchem: du
und ich (das Zwischen-uns); in dieser Formulierung hat das und nicht die Funktion des Ne-
beneinandersetzens, sondern die des Aussetzens … du Mit-Teilung ich“ (S. 65, Hervorhebung
im Original); Dallmayr, Fred, Eine ,undarstellbare‘ globale Gemeinschaft? Reflexionen über
Nancy, in: Böckelmann, Janine/Morgenroth, Claas (Hrsg.), Politik der Gemeinschaft, Biele-
feld 2008, S. 106 ff.; Marchart, Oliver, Die politische Ontologie der Gemeinschaft. Politik und
Philosophismus bei Jean-Luc Nancy, in: Böckelmann, Janine/Morgenroth, Claas (Hrsg.), Po-
litik der Gemeinschaft, Bielefeld 2008, S. 133 ff.: Gemeinschaft entsteht „in dem Zwischen
des Mit-Seins“ (S. 143, Hervorhebung im Original); Schellhaas, in: Tomuschat, Christian
(Hrsg.), Weltordnungsmodelle für das 21. Jahrhundert, S. 54 mit Bezug auf bestehende
„grundlegende Bande“ zwischen allen Menschen und allen Staaten, „Zusammengehörig-
keitsgefühl“ und „internationale Solidarität“; Bayertz, in: Bayertz, Solidarität. Begriff und
Problem, S. 23.
53
Siehe hierzu u. a. Gertenbach/Henning/Rosa/Strecker, Theorien der Gemeinschaft zur
Einführung, S. 158 ff., wonach nach Ansicht von Nancy „die fundamentale menschliche Ge-
meinschaft … weder etwas (ist), das erzeugt oder hergestellt werden kann, noch etwas, das
bedroht oder im Verfall begriffen ist“ (S. 164, Hervorhebung im Original).
54
Siehe hierzu u. a. Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, S. 16 ff., 60 ff., 65 ff.; Sim-
mel, Soziologie, S. 11 ff.; Gertenbach/Henning/Rosa/Strecker, Theorien der Gemeinschaft zur
Einführung, S. 158 ff.: „Denken in Relationen (statt in Substanzen)“ (S. 160), „Gemeinschaft
als das Zwischen … bzw. als dasjenige, was zwischen den Individuen ist“ (S. 167, Hervorhe-
bung im Original), „dieser verbindende Zwischenraum … das eigentliche Wesen der Ge-
meinschaft ist“ (S. 167 f.); Milà, in: EigmüllerVobruba (Hrsg.), Grenzsoziologie. Die politi-
sche Strukturierung des Raumes, S. 189 ff. mit Ausführungen u. a. zu Simmel und seiner
Demokratie im Kontext von Globalisierung und Kosmopolitismus 119

meinschaftenden Ich unter Abstellen auf das unmittelbare Verhältnis von Mensch zu
Mensch, welche mit Blick auf die Wesensbestimmung einer Gemeinschaft zu befür-
worten ist und welche es – mit Bezug auf eine Wesensbestimmung einer normativen
Weltgemeinschaft unter Hinzunahme des für die Begründung einer normativen Welt-
gemeinschaft entscheidenden Freiheitsmoments – in ihrer Bedeutung als freiheitlich
konstruiertes Relationsmoment näher zu vertiefen gilt: Nicht der die Seinsebene be-
treffende Gesichtspunkt der sozialen (äußeren und inneren) Kontextualisierung eines
jeden Menschen lässt eine normative Gemeinschaft ent- und bestehen, sondern viel-
mehr ist auf der Sollensebene für eine Gemeinschaft als freiheitliche Konstruktion
entscheidend, welche Bedeutungen und Inhalte freiheitlich konstruierende Men-
schen diesem zwischen ihnen bestehenden Zwischen zuschreiben, zumessen, zuer-
kennen wollen und (normativ) sollen:55 D. h., wichtig ist die von freiheitlich konstru-
ierenden Menschen subjektiv-intersubjektiv bewusst und willentlich zu treffende
Entscheidung, ob und in welcher Weise, Tiefe, Form und verbunden mit welchen in-
haltlichen Ausformungen sie sich für ihr Zusammenleben in ein inneres und dann
auch im Außen gelebtes (Vernunfts-, emotionales und moralisches) Beziehungs-,
Verbindungs- bzw. Zugehörigkeitsverhältnis setzen wollen und normativ sollen.56
Anknüpfend an dieses Zwischen zwischen den Ich ent- und besteht ein normatives
Wir dann nicht und solange nicht, wenn und solange diesem Zwischen zwischen
den Ich die Bedeutungen eines Ohne-Einander, Isoliert-Nebeneinander oder gar
Gegen-Einander zugeschrieben werden. Ein normatives Wir und auch ein normatives
Welt-Wir ent- und besteht vielmehr anknüpfend an das für das Wesen einer Gemein-
schaft zentrale freiheitlich konstruierte Relationsmoment zwischen den Ich erst und
nur bei einer von freiheitlich konstruierenden Menschen subjektiv-intersubjektiv be-
wusst und willentlich getroffenen Entscheidung zu einem Sich-Verbinden in einem

Auffassung von der Gesellschaft und Grenze; Herrmann, Ich-Andere-Dritte. Eine Einführung
in die Sozialphilosophie, mit Ausführungen u. a. zu Simmel auf den S. 133 ff.: „Wechselwir-
kung“ (S. 134), „Gesellschaft als einen Prozess zu verstehen, der sich zwischen den Individuen
abspielt“ (S. 134, Hervorhebung im Original); Moebius, Simmel lesen, S. 50 ff.: „Wechsel-
wirkung“ (S. 52, Hervorhebung im Original).
55
Siehe hierzu zudem u. a. Demko, in: Stekeler-Weithofer/Zabel (Hrsg.), Philosophie der
Republik, S. 496 ff., 499 f.; Gertenbach/Henning/Rosa/Strecker, Theorien der Gemeinschaft
zur Einführung, S. 160 ff. zu Nancy und der „Formel der Ontologie des Mit-Seins“ (S. 160,
Hervorhebung im Original) und der „grundlegenden (ontologischen) Frage der Gemein-
schaftlichkeit“ (S. 162).
56
Siehe u. a. Bayertz, in: Bayertz, Solidarität. Begriff und Problem, S. 23 ff. im Zusam-
menhang mit Ausführungen zur Solidarität und zu den unterschiedlichen Formen von sozialen
Verbindungen zwischen Menschen unter Hinweis u. a. auf Ferdinand Tönnes (und seine Un-
terscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft) und Emile Durkheim: „Inbegriff jener
inneren Bindemittel“ (S. 23), „Bindungskräfte“ (S. 26); Khushf, George, Solidarität als mo-
ralischer und politischer Begriff. Jenseits der Sackgasse von Liberalismus und Kommunita-
rismus, in: Bayertz, Kurt, Solidarität. Begriff und Problem, Frankfurt am Main 1998, S. 132;
siehe mit Bezug auf das Relationsmoment zudem u. a. Gertenbach/Henning/Rosa/Strecker,
Theorien der Gemeinschaft zur Einführung, S. 160: „Denken in Relationen (statt in Substan-
zen)“ (S. 160).
120 Daniela Demko

Mit-und Füreinander,57 d. h. erst und nur dann, wenn dem Zwischen zwischen den Ich
die Bedeutungen und Inhalte eines Sich-Verbindens in einem Mit-und Füreinander
zugeschrieben und zuerkannt werden.
Bei einem solchen, hier von der Verfasserin vorgeschlagenen Verständnis einer
normativen Weltgemeinschaft – welche richtigerweise als Weltvergemeinschaftung
zu bezeichnen ist – als eines weltweit freiheitlich konstruierten Sich-Verbindens in
einem Mit- und Füreinander setzen sich die sich weltweit vergemeinschaftenden
Menschen in ein Verhältnis eines normativen Um-Seins und zugleich eines norma-
tiven Mit-Seins:58 Mit dem normativen Um-Sein ist der Gesichtspunkt angesprochen,
dass die sich vergemeinschaftenden Ich auch im Rahmen eines von ihnen freiheitlich
konstruierten Welt-Wir nicht ihre Einzigartigkeit und damit einhergehende Verschie-
denheit als jeweils individuelle Einheit (d. h. als individuelles Ich) verlieren; viel-
mehr bleiben sie auch in dem von ihnen freiheitlich konstruierten Welt-Wir als jeweils
individuelles Ich bestehen und treten sich in Bezug auf ihre jeweilige Einzigartigkeit
und damit einhergehende Verschiedenartigkeit als das eine Ich und das andere im
Sinne von verschiedene Ich gegenüber.59 Diese zu wahrende und zu schützende Bei-
behaltung des individuellen Ich bedeutet aber nicht ein Sich-absolut-Isolieren und
Sich-absolut-Verschließen gegenüber den anderen individuellen Ich; vielmehr ist
mit dem normativen Mit-Sein – welches zugleich mit dem normativen Umsein vor-
liegt – der Gesichtspunkt angesprochen, dass sich die individuellen Ich wechselsei-
tig, und zwar gerade mit und trotz ihrer gewahrten und geschützten Einzigartigkeit
und Verschiedenartigkeit, füreinander öffnen und sich einander zuwenden.60 Das

57
Siehe hierzu u. a. Simmel, Soziologie, S. 11 ff., 13: „Miteinander und Füreinander“
(S. 13, Hervorhebung durch die Verfasserin).
58
Siehe hierzu u. a. Simmel, Soziologie, S. 11 ff., 13; siehe im Zusammenhang mit ver-
schiedenen Fragestellungen aus dem Bereich u. a. der Umwelt- und Naturphilosophie/-ethik
u. a. Kather, Regine, Die Wiederentdeckung der Natur, Darmstadt 2012, S. 99 ff., 144 ff.,
166 ff., 187 ff., 193 f., 228 ff.: u. a. wird hier angeführt mit Bezugnahme auf Meyer-Abich „…
im Mitsein mit der natürlichen Mitwelt insgesamt“ (S. 228); Meyer-Abich, Klaus Michael,
Vom Baum der Erkenntnis zum Baum des Lebens, München 1997, S. 27 ff.: „… in ihrem
Mitsein mit uns Menschen, d. h. als natürlicher Mitwelt …“ (S. 27, Hervorhebung im Origi-
nal), „natürliche Mitwelt“ (S. 31, Hervorhebung im Original); Meyer-Abich, Klaus Michael,
Praktische Naturphilosophie, München 1997, S. 257 ff.: „natürliche(s) Mitsein“ (S. 260);
Meyer-Abich, Klaus Michael, Aufstand für die Natur. Von der Umwelt zur Mitwelt, München/
Wien 1990, S. 35 ff.: „… natürliche Mit-Welt, so wie Menschen in der menschlichen Allge-
meinheit, der Menschheit, unsere Mit-Menschen sind“ (S. 48, Hervorhebung im Original).
59
Siehe hierzu zudem u. a. Clark, Stephen, Gaia und die Formen des Lebens, in: Krebs,
Angelika (Hrsg.), Naturethik, Frankfurt am Main 1997, S. 160: „Wir sind … befähigt, uns
selbst als verschieden von der Umwelt und anderen Bewohnern dieser Umwelt wahrzuneh-
men“; Alkemeyer/Bröckling, in: Alkemeyer/Bröckling/Peter (Hrsg.), Jenseits der Person,
S. 17: Subjekte „begreifen sich als Einheiten und werden auch von ihrer Umwelt als Einheiten
wahrgenommen“; Nida-Rümelin, Humanistische Reflexionen, S. 393: „Individualismus und
Atomismus nicht miteinander verwechseln“.
60
Siehe hierzu u. a. Hartmann/Offe, Politische Theorie und Politische Philosophie, S. 304;
Clark, in: Krebs (Hrsg.), Naturethik, S. 160; Nida-Rümelin, Humanistische Reflexionen,
S. 393.
Demokratie im Kontext von Globalisierung und Kosmopolitismus 121

normative Mit-Sein verweist mithin darauf, dass sich die individuellen Ich bewusst
und willentlich verbinden in einem Mit- und Füreinander,61 und zwar ohne hierbei
sich selbst – d. h. ohne hierbei ihre individuelle Identität, einschließlich ihrer jewei-
ligen Grenze im Sinne von Linie, durch welche die Individualität eines jeden Ich
sowie damit einhergehend die Einzigartigkeit jedes individuellen Ich und die Ver-
schiedenartigkeit zwischen den individuellen Ich markiert wird62 – aufzulösen
bzw. zu verlieren.63
Damit einher geht – hierbei die Unterscheidung aufgreifend64 zwischen dem Sich-
Identifizieren mit einer Gemeinschaft (unter Beibehaltung der Individualität und Ein-

61
Siehe u. a. Benhabib, Seyla, Gleichheit und Differenz, Tübingen 2013, S. 95 zur „,er-
weiterten Denkungsart‘“ (S. 95), siehe zudem: „die Welt mit den Augen des Anderen erbli-
cken; und zwar nicht durch unmögliche Erwartungen vollständiger Empathie, die alle zwi-
schenmenschliche Distanz hinwegzaubert, sondern durch ein verhandelbares Dazwischen-
Sein, durch welches ich Dich als gleichwertig respektieren lerne, als Träger einer gemeinsam
geteilten Menschenwürde; durch welches ich Dich aber auch als den konkreten Anderen
erlebe, der Du bist“ (S. 93, Hervorhebung im Original); Hartmann/Offe, Politische Theorie
und Politische Philosophie, S. 304 im Zusammenhang mit Solidarität: „verhaltenswirksame
Bereitschaft, sich für die Durchsetzung von Zielen einzusetzen, die das eng verstandene Ei-
geninteresse übersteigen“; Clark, in: Krebs (Hrsg.), Naturethik, S. 160: „uns vernünftiger-
weise nicht für genuin unabhängige Wesen halten … nicht glauben, daß wir … abgeschlossene
Monaden sind“; Keller, Heidi, Entwicklung als kulturspezifische Lösung universeller Ent-
wicklungsaufgaben, in: Rauh, Andreas (Hrsg.), Fremdheit und Interkulturalität, Bielefeld
2017, S. 93 f. zum independenten und interdependenten Selbstkonzept.
62
Siehe hierzu u. a. Eigmüller, in: Eigmüller/Vobruba (Hrsg.), Grenzsoziologie. Die poli-
tische Strukturierung des Raumes, S. 63 ff. mit Ausführungen u. a. zur Grenze: „Das bedeutet
zunächst einmal nicht mehr, als dass das, was nicht innen ist, außen ist, beziehungsweise das,
was nicht außen ist, innen ist“ (S. 65), „Differenzierungsmarke“ (S. 65), „Membran“ (S. 65),
„Linie“ (S. 70).
63
Siehe u. a. Waldenfels, Bernhard, Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen, Frankfurt am
Main 2009, S. 115 ff.: „… eine(r) ,moralische(n) Gemeinschaft‘ …, die als rein ,inklusive
Gemeinschaft‘ allen Menschen offensteht und niemanden von sich ausschließt“ (S. 116), „Die
Grenzen werden … zwar nicht aufgehoben durch Einfügung in ein Ganzes, sie werden jedoch
neutralisiert …“ (S. 115 f.), „Anschlußfähigkeit bedeutet dann das höchste Lob; sie ist die
Netztugend schlechthin“ (S. 116), „Innerhalb des Netzes kann von Eigenheit und Fremdheit
nicht mehr gesprochen werden, geschweige denn von Eigen- und Fremdorten“ (S. 116),
„durchgängige(n) Ordnung, in der es Verschiedenheiten gibt, aber keine Fremdheiten“
(S. 116); „Binnenraum ohne Außen“ (S. 117, Hervorhebung im Original), „Gemeinort ohne
Fremde“ (S. 117, Hervorhebung im Original); siehe zudem die Ausführungen von Dübgen,
Franziska, Global Sisterhood Revisited. Möglichkeiten und Fallstricke grenzüberschreitender
Solidarität, in: Hostettler, Karin/Vögele, Sophie (Hrsg.), Diesseits der imperialen Geschlech-
terordnung, Bielefeld 2014, S. 309 ff. zu einem „reflexive(n) ,Wir‘“ (S. 310) und einer „,re-
flexive(n) Solidaritäts‘-Konzeption“ (S. 311); Özmen, Politische Philosophie zur Einführung,
S. 116 f.; Heinonen, in: Yousefi/Seubert (Hrsg.), Ethik im Weltkontext, S. 318: „bedeutet aber
nicht ein Verschwinden der Unterschiede, sondern im Gegenteil eine Differenzierung durch
die Zusammenarbeit der Kulturen“.
64
Siehe zu dieser Unterscheidung Leidner/Tropp/Lickel, in: Zmerli/Feldmann (Hrsg.),
Politische Psychologie, S. 238 ff.: Unterscheidung zwischen der „Identifikation mit einer
Gruppe (d. h. der psychologischen Verbundenheit mit der Gruppe) und der Identifikation als
ein Gruppenmitglied (d. h. der Erkenntnis, dass man Teil einer Gruppe ist)“ (S. 238, Hervor-
122 Daniela Demko

zigartigkeit des Ich und der Verschiedenartigkeit der individuellen Ich) einerseits und
dem Sich-Identifizieren als Gemeinschaftsmitglied andererseits – der weitere für
eine normative Weltgemeinschaft wichtige Gesichtspunkt, dass das Wesen einer Ge-
meinschaft nicht in einem sich über die individuellen Ich erhebenden und sie über-
wölbenden überindividuellen Kollektivsubjekt, welches zusätzlich zu den Menschen
als den Individualsubjekten hinzutrete, liegt. Zwar wird eine Gemeinschaft regelmä-
ßig mit der Vorstellung eines solchen überindividuellen Kollektivsubjekts verbun-
den,65 jedoch wird hiermit nicht der für die Wesensbestimmung einer Gemeinschaft
entscheidende Punkt angesprochen: Vielmehr kommt es mit Blick auf das Wesen
einer normativen (Welt-)Gemeinschaft allein und entscheidend auf das Innen der Ge-
meinschaft mit dem hier zentralen freiheitlich konstruierten Zwischen zwischen den
individuellen Ich und ihrem von Mensch zu Mensch freiheitlich konstruierten Sich-
Verbinden in einem Mit- und Füreinander an.66 Weder (zum Ersten) ein überindivi-
duelles Kollektivsubjekt noch (zum Zweiten) ein Sich-Auflösen(-Müssen) der indi-
viduellen Ich in einem überindividuellen Wir noch (zum Dritten) ein Sich-vollkom-

hebung im Original); siehe zudem u. a. Herkenrath, Die Globalisierung der sozialen Bewe-
gungen, S. 54: „individuelle Identifikation mit einem kollektiven Akteur“; Mead, Geist,
Identität und Gesellschaft, S. 320 ff.; Jureit, in: Jureit (Hrsg.), Politische Kollektive, S. 12:
„Konstruktion bewegt sich im Spannungsfeld zwischen einem Imaginations- und einem
Identifikationsprozeß. Unter ersterem ist das nur in der Imagination der Akteure existierende
Kollektivsubjekt zu verstehen, woran sich idealtypisch ein Identifikationsprozeß anschließt, in
dem sich die Einzelmitglieder mit der vorher geschaffenen Gemeinsamkeit identifizieren“.
65
Siehe hierzu u. a. Alkemeyer/Bröckling, in: Alkemeyer/Bröckling/Peter (Hrsg.), Jenseits
der Person, S. 18 ff.: „Kollektive als Subjekte aufzufassen, ist keineswegs ungewöhnlich: Das
Rechtssystem kennt seit langem neben den natürlichen auch juristische Personen“ (S. 18),
„zum Kollektivsubjekt (gemacht) werden“ (S. 18), „Im Alltagsdiskurs wimmelt es ohnehin
von Kollektivsubjekten, seien es Sportclubs … Bildungsinstitutionen … Interessengruppen …
oder andere Zusammenschlüsse“ (S. 18); Schweitzer, in: Alkemeyer/Bröckling/Peter (Hrsg.),
Jenseits der Person, S. 175 ff.: juristische Person gehört „zu den Idealtypen der rechtlichen
Personalisierung von Kollektiven“ (S. 175).
66
Siehe u. a. Hartmann/Offe, Politische Theorie und Politische Philosophie, S. 304: „in-
tellektuelle und/oder emotionale Identifikation“; Herkenrath, Die Globalisierung der sozialen
Bewegungen, S. 53 ff. mit Bezug auf die kollektive Identität und ein „Wir“: „Konstruktion
eines handlungsfähigen überpersonellen Akteurs, mit dem sich die beteiligten Individuen …
verbunden fühlen“ (S. 53), „Vorstellung von Einheit und ein Gefühl der Zugehörigkeit …
assoziieren … die von mehreren Personen geteilte Verbundenheit mit einer größeren Ge-
meinschaft, Kategorie, Praxis oder Institution“ (S. 54); Bayertz, in: Bayertz, Solidarität. Be-
griff und Problem, S. 17 ff. im Zusammenhang mit der Solidarität; Thome, in: Bayertz (Hrsg.),
Solidarität. Begriff und Problem, S. 238 ff.; Meffert, in: Zmerli/Feldmann (Hrsg.), Politische
Psychologie, S. 94 f.; Delitz, Kollektive Identitäten, S. 25: „Vorstellung eines Zusammen-
halts“; Gertenbach/Henning/Rosa/Strecker, Theorien der Gemeinschaft zur Einführung,
S. 158 ff.: „dieser verbindende Zwischenraum … das eigentliche Wesen der Gemeinschaft ist“
(S. 167 f.); Herrmann, Ich-Andere-Dritte. Eine Einführung in die Sozialphilosophie, mit
Ausführungen u. a. zu Simmel auf den S. 133 ff.: „Gesellschaft (ist) keine eigenständige En-
tität jenseits der Individuen …, sondern (besteht) einzig und allein aus deren Bezogenheit
aufeinander“ (S. 134), „Gesellschaft als … Prozess …, der sich zwischen den Individuen
abspielt“ (S. 134, Hervorhebung im Original); Simmel, Soziologie, S. 11 ff., 13: „Miteinander
und Füreinander“ (S. 13, Hervorhebung durch die Verfasserin).
Demokratie im Kontext von Globalisierung und Kosmopolitismus 123

men-Identisch-Setzen(-Müssen) der individuellen Ich mit einem überindividuellen


Wir (mit einem damit einhergehenden Sich-Ansehen nur noch als Teil bzw. nur
noch als Mitglied eines überindividuellen Wir) sind für eine Gemeinschaft erforder-
lich; zudem ist (zum Vierten) auch ein kommunitaristisches Verständnis eines über-
individuellen Wir – nach welchem eine normative Priorität und ein normativer Vor-
rang einer Gemeinschaft vor dem Individuum sowie von Kollektivinteressen vor In-
dividualinteressen bestehe67 – abzulehnen.68
Für die Wesensbestimmung einer normativen Weltgemeinschaft ist dieses auf das
Zwischen zwischen den sich weltweit vergemeinschaftenden Menschen Bezug neh-
mende freiheitlich konstruierte Relationsmoment mit seinem bewusst und willentlich
weltweit freiheitlich konstruierten Sich-Verbinden in einem Mit- und Füreinander
zentral und ausschlagend. Hierbei ist es unter Zugrundelegung eines deontologi-
schen Verständnisses69 die Freiheit selbst, welche sich als entscheidendes normatives
Richtigkeitskriterium erweist für die Begründung und das Wesen einer normativen
Weltgemeinschaft (wie sie in den vorangehenden Ausführungen entwickelt worden
ist). Lassen sich hierfür auch ergänzend und unterstützend konsequentialistische
Richtigkeitsgründe anführen,70 so bildet anknüpfend an eine deontologische Moral-
theorie die Freiheit selbst den grundlegenden und ausschlagenden normativen Rich-
tigkeitsgrund für eine normative Weltgemeinschaft, welche die Freiheit weltweit
aller Menschen und für weltweit alle Menschen in ihr Zentrum stellt: Den Menschen
und seine Freiheit an den Anfang und in den Mittelpunkt einer normativen Weltge-
meinschaft setzend71 und eine normative Weltgemeinschaft zu erkennen zum einen
als eine in der Willensentscheidung weltweit aller Menschen liegende freiheitliche
Konstruktion und zum anderen in der ihr zukommenden Aufgabe, weltweit alle Men-
schen in ihrer Freiheit zu schützen (d. h. weltweit allen Menschen ein freiheitlich-
selbstbestimmtes Leben und Zusammenleben zu gewähren), heißt – nimmt man
das Freiheitsmoment und dessen Schutz für weltweit alle Menschen wirklich
67
Siehe zum Kommunitarismus u. a. Hartmann/Offe, Politische Theorie und Politische
Philosophie, S. 305; Sen, Die Identitätsfalle, S. 46 ff.: „Erweiterung des eigenen Ichs“ (S. 47),
„Identität mit der eigenen Gemeinschaft müsse die hauptsächliche oder dominierende (viel-
leicht sogar die einzige bedeutende) Identität sein“ (S. 47).
68
Siehe hierzu u. a. Gertenbach/Henning/Rosa/Strecker, Theorien der Gemeinschaft zur
Einführung, S. 158 ff., 166 f. mit Ausführungen u. a. zu Nancy und seinem „Vorwurf an die
meisten Theorien der Gemeinschaft …, dass diese zu sehr einem Identitätsdenken entsprin-
gen“ (S. 160).
69
Siehe u. a. Nida-Rümelin, Humanistische Reflexionen, S. 390 ff. im Zusammenhang mit
einem humanistischen Verständnis: „sind Humanisten auf ein deontologisches Verständnis
von Ethik festgelegt“ (S. 390); Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht, S. 190.
70
Siehe zudem zu den Zusammenhängen zwischen Konsequentialismus und Deontologie
u. a. Seelmann, Kurt/Demko, Daniela, Rechtsphilosophie, München, 2019, S. 178 ff.
71
Siehe hierzu u. a. Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht, S. 338 f., 1039:
„Eine universelle Rechtslehre, welche nicht von der Subjekthaftigkeit und Freiheit des Men-
schen ausgeht, ist eine Weltherrschaftslehre …“ (S. 339), „den Menschen als Ausgangspunkt
des Rechts, mithin als selbstbestimmtes Rechtssubjekt und das Prinzip der Selbstbestimmung
des Menschen als Grundlage des (Welt-)rechts … verstehen“ (S. 1039).
124 Daniela Demko

ernst –, die hiermit einhergehende enge und untrennbare Verbindung von Freiheit
und Gleichheit72 – wonach jedem Menschen Freiheit zukommt und Freiheit
immer als gleiche Freiheit anzusehen ist73 – und dem Sich-Verbinden in einem
Mit- und Füreinander zu beachten und zu wahren.74 „Handlungsfähigkeit und Unter-
stützung hängen zusammen“,75 heißt es zutreffend bei Nussbaum, und eine von welt-
weit allen Menschen in der Realität tatsächlich in Anspruch genommen und verwirk-
licht werden könnende76 gleiche Freiheit verlangt nach einem weltweiten mit- und
füreinander Zusammenleben mit über partikulare Gemeinschaften hinausgehender
grenzüberschreitender und weltweiter gegenseitiger Hilfe und Unterstützung in
einer weltweiten Werte-, Verantwortungs- und Solidargemeinschaft,77 womit zu-

72
Siehe u. a. Nida-Rümelin, Humanistische Reflexionen, S. 419 ff.: „Freiheit und Gleich-
heit aller Menschen sind die beiden Prinzipien, auf denen jede demokratische Ordnung be-
ruht.“ (S. 419); Vesting, Staatstheorie, S. 105: „impliziert … die Vorstellung ,gleicher Frei-
heit‘“.
73
Siehe u. a. Nida-Rümelin, Humanistische Reflexionen, S. 380 f., 419 ff.: „nicht als Ge-
gensatz, sondern als eine Einheit“ (S. 419), „gleiche(r) Freiheit“ (S. 421, Hervorhebung im
Original).
74
Siehe u. a. Nida-Rümelin, Humanistische Reflexionen, S. 380 f.; Held, Kosmopolitanis-
mus – Ideal und Wirklichkeit, S. 24, 43, 66 f.: „dass Individuen den ,letztlich entscheidenden
moralischen Bezugspunkt‘ darstellen“ (S. 24), Anerkennung jeder Person „als autonomen
moralischen Akteur“ (S. 24), „Dieser umfassenden Gemeinschaft liegt das zugrunde, was für
alle Menschen wesentlich ist – dass Vernunft und Menschlichkeit in jeder Person gleichen
Wert haben“ (S. 43); Ulrich, Peter, Wirtschaftsethik, in: Düwell, Marcus u. a. (Hrsg.), Hand-
buch Ethik, Stuttgart 2006, S. 300: „Moderne Antworten, die einer freiheitlichen Gesellschaft
angemessen sind, werden auf Sinn aus Freiheit setzen“ (Hervorhebung im Original); Reder/
Pfeifer/Cojocaru, in: Reder/Pfeifer/Cojocaru (Hrsg.), Was hält Gesellschaften zusammen?,
S. 7 ff.; Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht, S. 189 ff., 206 ff., 217 ff.,
244 ff., 280, 306 f., 338 ff., 482 ff., 539 ff., 542 ff.; Bierhoff/Küpper, in: Bayertz, Solidarität.
Begriff und Problem, S. 427; „Bedingungsverhältnis … Reflektionsverhältnis“, „Ort der in-
dividuellen Freiheit“; Özmen, Politische Philosophie zur Einführung, S. 60, 107 ff.: „die In-
dividuen nicht von der Gemeinschaft entfremdende Freiheit“ (S. 60).
75
Nussbaum, Politische Emotionen, S. 186, siehe zudem: „Einerseits sind die Menschen
aufeinander angewiesen, da sie viele Dinge nicht allein erreichen können … Das soll ande-
rerseits nicht bedeuten, daß Unabhängigkeit und Handlungsfähigkeit unwichtig werden“
(S. 187).
76
Siehe u. a. Ulrich, in: Düwell (Hrsg.), Handbuch Ethik, S. 300 f.: „real lebbare Freiheit
… reale(r) Freiheit“ (S. 300); Habermas, Politische Theorie, S. 415 f.: „den Weltbürgern Be-
dingungen garantiert werden, die in Anbetracht des jeweiligen lokalen Kontextes erforderlich
sind, um die formal gleichen Rechte effektiv in Anspruch nehmen zu können“ (S. 415, Her-
vorhebung im Original).
77
Siehe u. a. Ulrich, in: Düwell (Hrsg.), Handbuch Ethik, S. 300 f. zur erforderlichen Ge-
währung und Sicherung der Grundlagen für eine real lebbare Freiheit; Schellhaas, in: Tomu-
schat (Hrsg.), Weltordnungsmodelle für das 21. Jahrhundert, S. 36 ff., 45 ff.: „Zukunftsge-
meinschaft“ (S. 37), „Verantwortungsgemeinschaft“ (S. 37 Fn. 57), „internationale Wertege-
meinschaft“ (S. 38); Habermas, Politische Theorie, S. 415 f.
Demokratie im Kontext von Globalisierung und Kosmopolitismus 125

gleich die hierfür wichtigen Gesichtspunkte der globalen Ethik, globalen Gerechtig-
keit und globalen Solidarität angesprochen sind.78

IV. Erforderliche Neureflexion und freiheitliche Neukonstruktion


im Kontext von Globalisierung und Kosmopolitismus
In den obigen Ausführungen sind die Bedeutungen des Freiheitsmoments und frei-
heitlich konstruierten Relationsmoments für die Begründung und Wesensbestim-
mung einer normativen Weltgemeinschaft vertieft worden. Aufgezeigt wurde
zudem die zweifache Bedeutung des freiheitlich konstruierten Relationsmoments,
zum einen mit Bezug auf die normative Weltgemeinschaft als solche (mit der hierfür
relevanten Anknüpfung an die freiheitlich konstruierte Relation zwischen den Ich)
sowie zum anderen mit Bezug auf das normative Verhältnis und Zusammenwirken
zwischen partikularen Gemeinschaften und der Weltgemeinschaft (mit der hierfür
relevanten Anknüpfung an die freiheitlich konstruierte Relation zwischen den Wir).
Mit einer solchen, sich auf die Freiheit stützenden und die Freiheit schützenden
normativen Weltgemeinschaft, wie sie im vorliegenden Beitrag von der Verfasserin
entwickelt worden ist, und mit der nach Ansicht der Verfasserin zu befürwortenden
Anerkennung des Vorrangs und Primats dieser normativen Weltgemeinschaft vor
partikularen Gemeinschaften lässt sich in einer Art von kathartischer Wirkung zu-
gleich die Aufforderung verknüpfen zu einer erforderlichen Neureflexion – unter kri-
tischer Nachprüfung und Infragestellung von bisher als (angeblich) selbstverständ-
lich Angesehenem (z. B. in Gestalt des bisher traditionell anerkannten Primats der
nationalen Gemeinschaften)79 – sowie zu einer erforderlichen neuen Suche und Neu-
bestimmung, d. h. zu einer freiheitlichen Neukonstruktion der im Kontext von Globa-
lisierung und Kosmopolitismus als richtig anzusehenden normativen Ordnungsstruk-

78
Siehe u. a. Sen, Die Identitätsfalle, S. 132 f.: „globale(r) Solidarität … globale(n) Moral
… Gefühl globaler Zusammengehörigkeit … Sorge um die globale Ungerechtigkeit … Exis-
tenz eines Gefühls globaler Identität … globale Ethik“ (S. 132 f.); Nussbaum, Politische
Emotionen, S. 188: „Opferbereitschaft und Mitgefühl machen nicht an nationalen Grenzen
halt.“; Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht, S. 542 ff. mit Ausführungen zur
menschheitlichen Solidarität, S. 635 ff.; Nida-Rümelin, Humanistische Reflexionen, S. 380 f.,
428 ff.: „Entgrenzung der Solidaritätspflichten“ (S. 428, Hervorhebung im Original), „Hu-
manisten wollen, dass die politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen
so gestaltet sind, dass jede menschliche Person Autorin ihres Lebens sein kann“ (S. 381), „Aus
humanistischer Perspektive ist die Menschheit als ganze eine Solidargemeinschaft …“ (S. 428,
Hervorhebung im Original).
Siehe u. a. Nida-Rümelin, Humanistische Reflexionen, S. 427 f.: „Aus humanistischer
Perspektive steht im Mittelpunkt die allgemein menschliche Solidaritätspflicht.“ (S. 428).
79
Siehe u. a. Reder, Philosophie pluraler Gesellschaften, S. 115 ff.: „kritische(n) Reflexion
einer staatszentrierten Deutung der globalisierten Welt“ (S. 115); Hörning, in: Hahn (Hrsg.),
Vom Eigensinn der Dinge, S. 167: „immer weniger auf stabile Deutungsmuster und Sinnsys-
teme verlassen“.
126 Daniela Demko

turen für ein weltweites friedliches und freiheitswahrendes Zusammenleben aller


Menschen.80
Damit einher geht zum Ersten die Ablehnung des verkürzten, reduzierten, einsei-
tigen und fehlerhaften Container- und Schubladen-Bildes81 von einer Welt, welche
(angeblich) aus objektiv festgefügten, statischen, dauerhaft unveränderlichen und
isolierten, exklusorischen und sich mit absolut geschlossenen Grenzen gegenüberste-
henden (nationalen, regionalen und universalen) Gemeinschaften bestehe.82 Zum
Zweiten gilt es zu beachten, dass – da eine Gemeinschaft von Menschen freiheitlich
konstruiert wird und daher immer wieder neu konstruiert werden kann – die bishe-
rigen/aktuellen Ordnungsstrukturen lediglich Zwischenkonstruktionsergebnisse dar-
stellen, welche zwar mit Bezug auf die bisherigen/aktuellen zeitlichen, räumlichen,
sozialen usw. Kontexte als richtig angesehen wurden/werden, welche aber zugleich
mit dem Aspekt ihrer Vorläufigkeit und zukünftigen Veränderbarkeit verknüpft sind:
Die im Kontext von Globalisierung und Kosmopolitismus erforderliche Neureflexion
zu den als richtig anzusehenden normativen Ordnungsstrukturen für das weltweite
friedliche und freiheitswahrende Zusammenleben aller Menschen bedeutet mithin,
sich von den den Anforderungen der Globalisierung und des Kosmopolitismus
nicht (mehr) entsprechenden bisherigen/aktuellen Ordnungsstrukturen (z. B. von

80
Siehe u. a. Habermas, Politische Theorie, S. 421 ff.: „müssen sich sowohl Regierungen
wie Bevölkerungen neue Orientierungen zu eigen machen und in diesem Sinne ,lernen‘“
(S. 421 f.), „Lernprozeß …“, der „… auf die Überwindung einer zähen, mit der National-
staatsbildung historisch verschränkten Bewußtseinslage (zielt)“ (S. 422); Held, Kosmopoli-
tanismus – Ideal und Wirklichkeit, S. 99 ff.: „neue Übereinkünfte, Gemeinsamkeiten und
Bedeutungszusammenhänge hergestellt werden“ (S. 100), „Identitäten von bestimmten Zei-
ten, Orten und Traditionen abzulösen – bzw. zu ,entbetten‘ – … bemerkenswerte Fähigkeit der
Menschen, … neue Identitäten zu bilden“ (S. 100); Reder, Globalisierung und Philosophie.
Eine Einführung, S. 38; Delitz, Kollektive Identitäten, S. 41 f.; Stürmer/Siem, Sozialpsycho-
logie der Gruppe, S. 103 f. zu Definition, Redefinition und Kategorisierung von Gruppen und
Gruppengrenzen; Leidner/Tropp/Lickel, in: Zmerli/Feldmann (Hrsg.), Politische Psychologie,
S. 246; Rauhut, Gemeinsam gegen Armut?, S. 39 ff., 44 f.
81
Siehe u. a.: Beck, Was ist Globalisierung?, S. 49 ff. zur „Container-Theorie der Gesell-
schaft“ (S. 49); Delitz, Kollektive Identitäten, S. 50: „jegliche kollektive ,Container‘ aufzu-
brechen“; Hartmann/Offe, Politische Theorie und Politische Philosophie, S. 239, 306: „nach
wie vor fragmentierten“ (S. 239); Vesting, Staatstheorie, S. 191 zur „Fragmentierung globaler
Teilrechtsordnungen“; Stichweh, in: Beckert u. a. (Hrsg.), Transnationale Solidarität, S. 242
zum Gesichtspunkt der „Differenzierung“; Hörning, in: Hahn (Hrsg.), Vom Eigensinn der
Dinge, S. 167: „fragmentierte(n) Identitäten“; Sen, Die Identitätsfalle, S. 190: „Alles-oder-
nichts-Wettstreit“, „Entweder-oder-Form“.
82
Siehe u. a. Sen, Die Identitätsfalle, S. 8 ff., 26 ff.: „solitaristischen Deutung“ (S. 8),
„Politik der globalen Konfrontation“ (S. 8), „Keine von ihnen kann als die einzige Identitäts-
oder Zugehörigkeits-Kategorie dieser Person aufgefaßt werden“ (S. 9), „reduzieren“ (S. 27);
Nida-Rümelin, Humanistische Reflexionen, S. 393; Dübgen, in: Hostettler/Vögele (Hrsg.),
Diesseits der imperialen Geschlechterordnung, S. 310 f. zum Begreifen von „Innen und Außen
… in konventionellen Solidaritätskonzepten als statisch und exklusorisch“ (S. 311); Held,
Kosmopolitanismus – Ideal und Wirklichkeit, S. 39 ff.: „Die Welt besteht nicht mehr aus …
,voneinander getrennten Kulturen‘ oder ,voneinander getrennten politischen Gemeinschaften‘
… vielmehr ist es eine Welt sich überlappender Schicksalsgemeinschaften“ (S. 39).
Demokratie im Kontext von Globalisierung und Kosmopolitismus 127

dem bisher traditionell anerkannten Primat der nationalen Gemeinschaften) lösen


und befreien zu müssen sowie diese durch den Anforderungen der Globalisierung
und des Kosmopolitismus besser entsprechende neue Ordnungsstrukturen (z. B.
mit Blick auf ein funktionales Zusammenwirken der partikularen Gemeinschaften
und der Weltgemeinschaft) zu ersetzen.83

83
Siehe hierzu u. a. Demko, in: Stekeler-Weithofer/Zabel (Hrsg.), Philosophie der Repu-
blik, S. 506 ff., 512 ff.: „komplexe(s) funktionale(s) Mehrebenensystem“ (S. 514, Hervorhe-
bung im Original), „eng vernetztes funktionales Zusammenwirken“ (S. 514 f., Hervorhebung
im Original); Hörning, in: Hahn (Hrsg.), Vom Eigensinn der Dinge, S. 167: „keine festge-
fügten Wertmuster oder kohärente Sinnsysteme mehr“; Vesting, Staatstheorie, S. 192: „nicht
mehr als Sinngrenzen zwischen sozialen, ökonomischen und kulturellen Sphären“ (Hervor-
hebung durch Verfasserin); siehe zudem u. a. Callicott, in: Krebs (Hrsg.), Naturethik, S. 220;
Beck, Was ist Globalisierung?, S. 174, 177 ff.: „Einheit von Staat, Gesellschaft und Individu-
um … löst sich auf“ (S. 174); Held, Kosmopolitanismus – Ideal und Wirklichkeit, S. 65:
„Nationalstaaten … sollten aber nicht als ontologisch privilegiert betrachtet werden“; Rorty,
Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 310; Kersting, Wolfgang, Einleitung: Probleme der
politischen Philosophie der internationalen Beziehungen: die Beiträge im Kontext, in:
Chwaszcza, Christine/Kersting, Wolfgang, Politische Philosophie der internationalen Bezie-
hungen, Frankfurt am Main 1998, S. 47 ff. mit Ausführungen u. a. zur Frage der Zurückdrän-
gung des „partikular-exklusive(n) Ethos“ (S. 47) durch die „inklusiv-universalistischen Ver-
gesellschaftungsformen des Rechts, des Marktes und des Diskurses“ (S. 47) sowie eines „ei-
gene(n) und bleibende(n) normative(n) Rationalitätsprofil(s)“ (S. 47) der „ethisch-politi-
sche(n) Zwischenwelt des Nationalen“ (S. 47); Reder, Globalisierung und Philosophie. Eine
Einführung, S. 17 ff.: „Transformation der Rolle des Staates“ (S. 20); Stichweh, in: Beckert
u. a. (Hrsg.), Transnationale Solidarität, S. 242: „keinen zwingenden Grund, den Verfall des
Nationalstaats zu prognostizieren, wenn auch bestimmte Phänomene der Auflösung seiner
ehemals dominanten Position zu beobachten sein mögen“; Mead, Geist, Identität und Ge-
sellschaft, S. 37; Benhabib, Seyla, Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit, Frankfurt
am Main 1999, S. 29: „Im Zeitalter der Globalisierung ist eben diese integrative Leistung des
Nationalstaates, eine kohärente nationale und ethische Identität zu schaffen und zu wahren, in
Frage gestellt“; Sen, Die Identitätsfalle, S. 124 f.: „Freiheit einschließen, die automatische
Billigung alter Traditionen in Frage zu stellen“ (S. 124); Sakai, in: Bhatti (Hrsg.), Ähnlichkeit.
Ein kulturtheoretisches Paradigma, S. 143; Brunkhorst, in: Brunkhorst (Hrsg.), Demokratie in
der Weltgesellschaft, S. 111, 114; Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht,
S. 78 ff., 82: „bedeutet nicht den Abbau, sondern nur den Wandel der Staatlichkeit“ (S. 79).
Gleichheit und/oder Verdienst?
Von Anton Leist

I. Eine Herausforderung
Es ist eine unbestrittene Tatsache, dass in der kapitalistischen Welt eine Tendenz
zur zunehmenden ökonomischen Ungleichheit herrscht. Nach einer verbreiteten
ökonomischen Analyse, mit besonderer Öffentlichkeitswirkung durch T. Piketty, lie-
gen die Ursachen dieser Tendenz im gegenwärtigen Arbeitsmarkt, im Einkommen
durch Kapitalbesitz und in den übergenerationellen Weitergaben von Vermögen be-
gründet. Die Aufspaltung von Löhnen entsprechend unterschiedlicher Produktivität,
das Einkommen aufgrund von ökonomischen Renten sowie die Freiheit des Schen-
kens und Vererbens sind eng mit starken Überzeugungen zur Freiheit von Besitz, und
mit starker Skepsis gegenüber allen staatlichen und bürokratischen Eingriffen in
diese Freiheit verbunden. Andererseits hat ökonomische Ungleichheit soziale und
individuelle Ungleichheit zur Folge, aus der heraus nicht nur verbreitete persönliche
Unzufriedenheit, sondern auch steigende soziale Konflikte und Kriminalität sowie
der Aufstieg autoritärer politischer Bewegungen zu erwarten sind. Damit ist klar,
dass Korrekturen der Entwicklung zur Ungleichheit hoch wünschenswert sind. Weit-
gehend offen ist aber gegenwärtig, wie sie ansetzen sollen und wie weit sie gehen
können.
Piketty und seine Ökonomenkollegen wie Stiglitz und Atkinson haben eine Reihe
von Vorschlägen unterbreitet, wie die Zunahme von Ungleichheit gedämpft werden
könnte. In dieser sicher nötigen Diskussion geht es schnell um die ökonomisch-tech-
nischen Probleme des Konflikts zwischen Fairness und Effizienz, von Nebenkosten
und praktischen Erfahrungen.1 Wenn auch nötig, sollten diese Überlegungen jedoch
an zweiter Stelle stehen. Mit der ökonomischen Theorie geht eine gesamtgesell-
schaftliche Perspektive einher, die typisch ist für diese Wissenschaft, oder analog
für eine ihr entsprechende Superbürokratie. Allgemeine Überlegungen zu Steuern
beispielsweise, unterstellen bereits die Perspektive einer Behörde, die zwischen un-
terschiedlichen Einzelakteuren vermitteln und für sie eine übergreifende Lösung fin-
den muss. Unter den normativen Moraltheorien wurde diese Herangehensweise vor-

1
Piketty, T., Capital et Ideologie, Paris 2019, fordert eine Kapitalsteuer bis zu 90 %, Teil-
nahme der Angestellten am Firmenvermögen, ein Startgeld für Neugeborene und anderes
mehr.
130 Anton Leist

rangig vom Utilitarismus vollzogen. Seiner Verstöße gegen die Rechte von Individu-
en wegen ist er aber inzwischen als unakzeptabel anerkannt.
Für die gegenwärtigen Formen von Einkommen und Reichtum ist also, im Kon-
trast, eine Gerechtigkeitsperspektive nötig, die nicht nur empirisch informiert, son-
dern unter Rücksicht auf die sozialen Beziehungen in ihrer Wechselseitigkeit ansetzt.
Tatsächlich ist in der philosophischen Literatur zu sozialer Gerechtigkeit der letzten
50 Jahre ein großer Reichtum an scharfsinnigen Argumenten entstanden, wenn auch
ohne Konsens zum Endziel einer gerechten Verteilung. Bei einigen Teilauffassungen
zu den beteiligten Grundwerten wie Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit herrscht
im westlichen Alltag vielleicht sogar größere Übereinstimmung als im Fachdiskurs –
schon aufgrund der im Alltag verbreiteten Unklarheit über den möglichen Gehalt die-
ser Werte. Anders als die genannten Ökonomen haben die Moralphilosophen diese
auch für sie relevanten soziologischen Daten aber meist ignoriert und deshalb zu
einem vertieften Konsens wenig beigetragen.
Teilweise liegt das am großen akademischen Erfolg einiger dominanter Modelle
für Gerechtigkeit, die noch zu einer Zeit weitgehender ökonomischer Gleichheit und
sozialer Zufriedenheit entstanden sind. Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit kam 1971
zu einem Zeitpunkt an die Öffentlichkeit, als in den USA noch ein Spitzensteuersatz
von 70 % gültig war. Die Leser von Nozicks Anarchie, Staat und Utopie (1974), und
Nozick selbst, wären kaum auf den Gedanken gekommen – ein heute durchaus na-
heliegender Vergleich –, Somalia als Version des spitzfindig nahegelegten ,Nacht-
wächterstaats‘ anzusehen. Kurzum, diese moralischen Entwürfe für eine soziale
bzw. libertäre Demokratie sind unter, aus heutiger Sicht, sehr günstigen Bedingungen
entstanden, in denen es darum ging, die herrschende Gesellschaft entweder noch ein
wenig in Richtung Schweden oder in Richtung Playboy Mansion zu entwickeln.
Unter weniger günstigen Bedingungen geht es ein halbes Jahrhundert später statt des-
sen darum, einige zentrale normative Grundlagen zu überdenken – wenn auch ohne
Hoffnung, das ökonomische Gleichheitsniveau von 1971 noch einmal zu erreichen.

II. Moral zwischen Ideologie und Sozialrealität


Mit der Französischen Revolution ist eine Trias von Werten in die Welt gekom-
men, die seither zum Leitbild der Sozialpolitik geworden ist. Dass praktisch jede
reale Sozialpolitik diesen Anspruch für sich reklamieren kann, kehrt allerdings
auch die Unverbindlichkeit so abstrakter Begriffe wie Freiheit, Gleichheit und Brü-
derlichkeit hervor. Innerhalb der Spielräume dieser drei Begriffe bemühen sich Phi-
losophen, diese Ideale miteinander in Ausgleich zu bringen. Ihre Standardmethode
bei der Arbeit stützt sich auf verbreitete ,Intuitionen‘, die mithilfe von Gedankenex-
perimenten und relevanten Tatsachen korrigiert oder verfeinert werden. Der Nachteil
dieser Methode besteht darin, dass die Intuitionen auf der Motivseite unklar und auf
der Geltungsseite milieubedingt beschränkt sind. Gibt es dazu eine Alternative?
Gleichheit und/oder Verdienst? 131

Wenn wir die Trias der sozialpolitischen Werte als ,moralische‘ Werte ansehen,
dann entspringt die Schwäche der verbreiteten Methode einem generellen Modell
von Ethik, das man als das ,Lesemodell‘ bezeichnen könnte. Danach geht es in mo-
ralischen Argumenten darum, die moralischen Werte angemessen wiederzugeben,
ähnlich wie man in einem Buch liest – bei Unterstellung, dass der zu lesende Inhalt
in dem Buch festgelegt und vorgegeben ist. Analog sind nach der Institutionen-
methode die Intuitionen irgendwie vorgegeben, wenn auch zunächst in den Denkwei-
sen von Mitmenschen, von wo ausgehend sie aufgenommen und geordnet werden.
Nicht selten geht das Lesemodell jedoch eine Stufe weiter. Dabei werden nicht die
moralischen Überzeugungen gelesen, sondern deren Inhalte, etwa die Werte als Ge-
genstände der Überzeugungen. In diese Logik gerät man unweigerlich dann, wenn
der Anspruch besteht, nicht einfach mit Meinungen, also ,subjektiv‘, sondern mit In-
halten, also ,objektiv‘, zu argumentieren. Damit geht das Lesemodell von einer psy-
chologischen zu einer metaphysischen Variante über. Denn nach diesem Schritt wird
zugunsten einer objektiven, allgemein verbindlichen Argumentation angenommen,
dass einige von unseren Gefühlen und Überzeugungen unabhängige normative Inhal-
te erkannt werden können. Rawls hat sich mit der Zweideutigkeit im Begriff der In-
tuition nach dessen Einführung 1971 weiter beschäftigt und sich klar zur psycholo-
gischen Variante bekannt, ohne allerdings seine inhaltliche Argumentation dadurch
in irgendeiner Weise zu korrigieren.2
Ebenfalls offen, aber dennoch grundsätzlich alternativ kann man ein ,Handlungs-
modell‘ der Moral identifizieren. Ähnlich wie in Bezug auf das zu Lesende im Le-
semodell ist dabei offen, wer handelt und wie gehandelt wird. Um das Bild von vor-
gegebenen moralischen Inhalten aber ein für alle Mal ad acta zu legen, sollte man das
Handlungsmodell sowohl realistisch – unter Einbezug relevanter Eigenschaften der
Handelnden –, wie konstruktiv – im Sinn einer Erzeugungsmechanik – verstehen.
Die Moral ist dann nicht etwas, das möglichst getreu abgebildet werden muss, son-
dern etwas, dessen Konstruktionsdynamik als sozialer Mechanismus herauszufinden
ist. Während das Lesemodell zur bekannten Sein-Sollens-Differenz einlädt: was ge-
lesen wird, entstammt einer eigenständigen Realitätssphäre, kennt das Handlungs-
modell keinen solchen Dualismus. Die Handelnden sind empirisch situierte Men-
schen, über deren Sozialverhalten wir bereits eine Menge wissen. Dieses Wissen ent-
scheidet darüber, wann eine moralische Argumentation ,realistisch‘ ist – nicht rea-
listisch im Sinn eines metaphysischen ,moralischen Realismus‘, sondern im
homogenen alltäglich-wissenschaftlichen Sinn.
Die Geschichte der Ethik ist zu lang, als dass diese alternativen Modelle vom
Lesen/Erkennen und Handeln bei der Moral nicht bereits durchgespielt worden
wären. Eine Hauptströmung des Utilitarismus verkörpert etwa das Lesemodell,
wenn die Inhalte nicht wie bei Bentham und in der Wohlfahrtsökonomie als psycho-
logische Tatsachen, sondern, wie in klarster Form bei G. E. Moore, als Wertzustände
2
Diese metaethische Revision geschah mit Rawls, J., Justice as Fairness: Political not
Metaphysical, in: Philosophy & Public Affairs 14 (3), 1985, S. 223 – 251.
132 Anton Leist

behandelt werden. Eine Hauptströmung des Kontraktualismus entspricht dem Hand-


lungsmodell, wenn der ,Vertrag‘ in eine soziale Konstellation von Interessen bei ge-
genseitigem Handeln aufgelöst wird, wie in der Humeschen Tradition, im Gegensatz
zur Kantischen. Wie man sich bei der grundsätzlichen Alternative zwischen Lese-
und Handlungsmodell, und weiter innerhalb des Handlungsmodells, mit Gründen si-
tuiert, hängt allerdings auch davon ab, was man von moralischen Argumenten erwar-
tet. Bei unterschiedlichen Erwartungen ist ein Konsens über das Modell nicht zu er-
zwingen.
Der Eindruck wäre irreführend, eine solche Wahl könnte gleichsam moralisch
neutral vollzogen werden. Auch solche theoretischen und teilweise sehr abstrakten
Diskussionen sind unausweichlich innerhalb vorausgesetzter moralischer Valenzen
gefangen. Und das nicht deshalb, weil eine ,wahre‘ Moral im Sinn des Lesemodells
bereits vorgegeben wäre, sondern weil eine vorgegebene, immer auch moralisch im-
prägnierte soziale Realität solche Diskussionen unweigerlich bewertet. Anders als
Mathematik sind moralische Urteile nicht sozial neutral. Sie geraten unweigerlich
aufgrund ihrer praktischen Anwendbarkeit in Kontakt mit den sozialen Verhältnis-
sen, indem sie deren Beziehungen bewerten und potentiell regeln. Dadurch schwan-
ken sie unweigerlich immer zwischen Ideologieverdacht und – mit einem weniger
schlagkräftigen Begriff –,Sozialrealität‘. Ideologie bedeutet die idealisierende Ver-
klärung eines moralisch kritikwürdigen Zustands. Sozialrealität bedeutet eine eben-
falls ideale, aber realistisch-ideale Bewertung eines Zustands, eine Wahrheit auf
Basis einer angemessenen sozialen Faktenlage.
Bei der Vorstellung dessen, dass Werte zu lesen sind, wird nämlich übersehen,
dass (anders als in der Mathematik) die realen sozialen Zustände über die Wahrheit
moralischer Sachverhalte mit entscheiden. Moralische Urteile erhalten innerhalb
dieser Zustände unausweichlich eine Funktion.3 Unausweichlich deshalb, weil die
moralische Reflexion die Moral nicht erfindet, sondern – meist unbemerkt – nur
an einen Platz innerhalb der immer vorausgesetzten und ihrerseits moralisch geform-
ten sozialen Beziehungen rückt. Deshalb gerät sie unausweichlich in ein entweder
bestätigendes oder kritisches Verhältnis zu diesen Beziehungen, was aufgrund der
hohen Abstraktion leicht verborgen bleiben kann.
Ohne weitere Kritik des Lesemodells, gehe ich im Folgenden vom Handlungsmo-
dell aus.4 Denken wir die Moral nach dem Handlungsmodell, so scheinen sich unzäh-

3
Weil ein Vergleich von Moral mit Mathematik deshalb nicht nur falsch, sondern irre-
führend wirkt, ist der Vergleich selbst ideologisch. In diesem Sinn objektiv ideologisch äußert
sich ein Vertreter dieser klassischen Auffassung wie Estlund, D., Utophobia, in: Philosophy &
Public Affairs 42 (2), 2014, S. 113 – 134. Im Weiteren plädiere ich für einen Begriff von
Ideologie, der nicht realisierbare Idealisierungen umfasst, die als realisierbar behandelt wer-
den. Das trifft auf einen nicht geringen Teil der liberalen Ethik zu.
4
Zu den bekanntesten Einwänden gegen den Utilitarismus gehört eben, dass er die
,Grenzen zwischen den Individuen‘ (Rawls) ignoriert. Der neben solchen selbst moralischen
Einwänden wichtigste ,philosophische‘ Einwand wäre derjenige der Wertmetaphysik, wobei
,Metaphysik‘ nicht für alle Philosophen als discussion-stopper wirkt. Bei der ,letzten‘ Kon-
Gleichheit und/oder Verdienst? 133

lige Möglichkeiten zu eröffnen, wie soziale Beziehungen beschaffen sind, abhängig


auch von der Wahl bestimmter Sozialbereiche. Diese mögliche Fülle schränkt sich
aber dadurch ein, dass uns die folgenbewusste Anwendung der Trias von Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit auf denjenigen Bereich der Gesellschaft interessiert,
in dem ökonomische Ungleichheit entsteht. Mit dem Lesemodell der Moral ginge
tendenziell die Vorstellung einher, dass das reale Handeln durch anderweitig gewon-
nene, externe moralische Normen zu korrigieren sei, was im gesellschaftlichen Maß-
stab nur der Staat übernehmen kann.5 Wird hingegen das Handlungsmodell im Sinn
einer Erzeugungsmechanik verstanden, dann suchen wir in der realen Gesellschaft
keinen ,Vertrag‘, einen ,Urzustand‘ oder Annäherungen an diese Fiktionen, sondern
Formen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die bereits folgenreich imple-
mentiert sind und bestimmte Verhältnisse konstitutiv hervorbringen.
Die sozialliberale Trias prägt vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg das Bewusst-
sein und die Politik in liberalen Staaten. Freiheit und Gleichheit stellen darin die re-
levanteren Werte dar, abhängig von der Interessenlage, aus der man sich der Trias
nähert. Sicher ist Brüderlichkeit für Bedürftige wichtiger als Freiheit und Gleichheit;
aber wenn die weitgehende Mehrheit nicht bedürftig ist, etwa im Ausmaß von Sozi-
alhilfe, dann rückt Bedürftigkeit in der Gesamtschau hinter Freiheit und Gleichheit.
Brüderlichkeit ist auch insofern zweitrangig, als aufgrund der Vagheit der ersten bei-
den Begriffe offen bleibt, inwieweit und in welchem Ausmaß Brüderlichkeit in ihnen
bereits abgedeckt und als eigenständiger Wert damit unnötig ist. Der zentrale norma-
tive und sozialpolitische Disput betrifft also Freiheit und Gleichheit, mit der Folge
des endemischen Konflikts zwischen Forderungen zugunsten beider Werte.6
Angesichts dessen, dass diese beiden Werte in verschiedenen Sozialbereichen
eine unterschiedliche Bedeutung und unterschiedliches Gewicht haben, sind globale
Äußerungen zu ihrem Gehalt und Verhältnis wenig sinnvoll. Man denke nur an die
Bereiche der Familie, der rechtlichen Beziehungen von Bürgern, und aller in Ausbil-
dung und Beruf. Umfassende normative Ansätze wie die von Rawls (1971, vgl. Fn. 8)
oder Miller (ders., Principles of Social Justice, Oxford 1999) sortieren die normative
Diskussion entsprechend nach sozialen Bereichen. Auch dann sind freilich weniger
normative als vielmehr rekonstruktiv-kausale Annahmen dazu nötig, aus welchem
Bereich Bedrohung und Ermöglichung moralischer Beziehungen, genauer ökonomi-
scher Ungleichheit, entspringen. Ist unser zentrales Interesse ökonomische Un-
gleichheit – und was sollte moralisch gesehen in liberalen Gesellschaften ohne
Krieg wichtiger sein? – dann wird entsprechend auch die ökonomische Sphäre der-
jenige Sozialbereich sein, dem das erste Augenmerk gilt.

fliktebene in diesem Diskurs stehen sich Philosophen deshalb nicht als Repräsentanten von
Rationalität, sondern als politische Akteure gegenüber.
5
Die Vorstellung von der externen Korrektur wird verstärkt, wenn der Markt als de facto
oder idealerweise moralisch neutral angesehen wird. Der Realität entspricht diese einseitige
Rekonstruktion natürlich nicht.
6
Zur Illustration dieser klassischen Thematik: Narveson, J./Sterba, J. P., Are Liberty and
Equality Compatible? Cambridge 2010.
134 Anton Leist

Diese Behauptung ist nicht selbstverständlich und eher riskant. Meist denkt man
bei Freiheit und Gleichheit weniger an die ökonomische als an die rechtliche und po-
litische Sphäre. Die Vermutung liegt nahe, dass die gegenwärtig starke ökonomische
Ungleichheit in liberalen Gesellschaften sowieso nur akzeptiert wird, weil sie mit
einer relativ starken rechtlichen und politischen Freiheit und Gleichheit einhergeht.
Ungleichheit vor dem Recht und bei der politischen Wahl würde gegen erheblich grö-
ßere Widerstände stoßen als es bei ökonomischer Ungleichheit der Fall ist. Tatsäch-
lich sind damit viele Bürger ideologisch fehlgeleitet, denn die ökonomische Un-
gleichheit greift in der Regel in ihr alltägliches Leben nicht weniger, oft unmittelba-
rer ein als es eine rechtliche und politische vermöchte. Zwischen diesen Sphären
herrschen allerdings Abhängigkeitsbeziehungen.
Soziologische Untersuchungen zum relativen Gewicht der Interessen an Einkom-
men und Vermögen im Vergleich zu rechtlicher Sicherheit und politischer Freiheit
belegen, soweit man das so pauschal sagen kann, nach wie vor das größere Gewicht
der ersteren.7 Diese Interessen zu entzerren ist nicht einfach, weil das erste Interesse
das zweite teilweise impliziert. Ohne egalitäre Rechtsbedingungen und politische
Freiheit ist ein effektives Wirtschaften nicht möglich, so dass vorrangig materielle
Interessen, wenn sie tatsächlich weit verbreitet sind, indirekt auch Interessen an
einer liberalen staatlichen Ordnung implizieren. Wie ich im Weiteren noch zeigen
will, würde die rechtliche und politische Anerkennung der Bürger jedoch leiden,
wenn sie nur funktional auf Einkommen und Vermögen bezogen wäre und keinen
Eigenwert hätte. Und insofern sind die Sphären begrifflich doch trennbar.
Diese Bemerkungen sollen dazu einladen, Freiheit und Gleichheit in der ökono-
mischen Sphäre aufzusuchen. Da Freiheit und Gleichheit keine einfach kohärente
Menge bilden (Freiheit führt zu Ungleichheit, Ungleichheit vermeiden schränkt Frei-
heit ein), wären Gründe für den Vorrang des einen oder anderen Ideals nötig, sind
aber in pauschaler Form wenig überzeugend. Freiheit und Gleichheit können gleich-
sam nur im Paket, unter Einbezug der gegenseitigen Wirkung im Verfolgen von Frei-
heit und Gleichheit, begründet werden. Das weite Feld der dabei zu beachtenden em-
pirischen Folgen wird etwas übersichtlicher, wenn wir Freiheit und Gleichheit mit-
hilfe psychologischer Handlungsgesetze zu verstehen suchen. Dann treten nämlich
zwei miteinander verbundene psychologische Dispositionen in den Vordergrund, die
den Ideen Freiheit und Gleichheit eine realistische Basis geben können.
Diese beiden Dispositionen sind Gegenseitigkeit und Verdienst. Beide Begriffe
schwanken zwischen dem Benennen einer empirischen Verhaltenstendenz und
einem normativen Prinzip, und spielen wohl deshalb in der normativen Debatte
7
Diese Aussage erscheint im Licht der berühmten These R. Inglehardts zur Zunahme
,postmaterialistischer‘ Interessen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vielleicht etwas
riskant. Ein Konsens scheint aber inzwischen darin zu bestehen, dass die materialistischen
Interessen nur ergänzt, nicht überrundet werden. S. zu dieser kontroversen Diskussion
Thome, H., Wandel gesellschaftlicher Wertvorstellungen aus der Sicht der empirischen Sozi-
alforschung, in: B. Dietz/Ch. Neumaier/A. Rödder (Hrsg.), Gab es den Wertewandel? Neue
Forschung zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, 2013.
Gleichheit und/oder Verdienst? 135

nur eine randständige Rolle. Gegenseitigkeit wurde von Rawls als wichtiges Hinter-
grundprinzip erkannt, Verdienst hingegen als normativ nicht belastbar abgelehnt.8
Der Unsicherheit unter Moralphilosophen steht eine starke Präsenz beider Prinzipien
innerhalb der Alltagsmoral gegenüber, die in den letzten Jahren von der experimen-
tellen Literatur vor allem für Verdienst nachgewiesen wurde. T. Mulligan hat einige
Ergebnisse der verhaltenstheoretischen Literatur zu Verdienst zusammengefasst.9
Gegenseitigkeit und Verdienst sind miteinander inhaltlich verbunden. Gegensei-
tigkeit ist seit langem von Ethnologen und Biologen als universell verbreitetes Ver-
haltensmuster anerkannt. Dabei ist zunächst ein tit-for-tat Muster unter den Beteilig-
ten an einer Kooperation gemeint. Diese Muster stellen aber immer auch bereits For-
men des Belohnens und Strafens dar, so dass Gegenseitigkeit nicht ohne Verdienst als
Proportionalität auskommt. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass ein Sinn für Pro-
portionalität – und indirekt Gerechtigkeit – auch bei bestimmten Säugetieren beob-
achtbar ist und in allen menschlichen Kulturen eine Rolle spielt.10 Ohne solche bio-
logisch angebahnten Muster einfach in eine kulturell geformte soziale Gerechtigkeit
fortschreiben zu wollen, sind sie doch verhaltenstheoretisch zu bedeutsam, als dass

8
S. Rawls, J., A Theory of Justice, Cambridge/MA 1971 (Revidierte Fassung 1999), zu
Gegenseitigkeit: § 77, und zu Verdienst: § 48. Gegenseitigkeit als normatives Prinzip einsam
verteidigt hat Becker, L. C., Reciprocity, London 1986, auf typische Weise kritisiert Bucha-
nan, A., Justice as Self-Interested Reciprocity versus Subject-Centered Justice, in: Philosophy
& Public Affairs 19, 1990, S. 227 – 252. Trotz der wirkungsvollen Kritik von Verdienst durch
Rawls hat die philosophische Debatte über dieses Prinzip nie aufgehört.
9
Mulligan, T., Justice and the Meritocratic State, New York 2018, Kap. 3, verweist ins-
besondere auf experimentelle Ergebnisse der Bergener Cappelen/Tungodden Gruppe sowie
auf die Arbeiten von Konow. Ergänzend zu Gegenseitigkeit scheint mir interessant: Kolm,
S.-Ch., Reciprocity: Its Scope, Rationales, and Consequences, in: S.-Ch. Kolm/J. M. Ythier
(Hrsg.), Handbook of the Economics of Giving, Altruism and Reciprocity, vol. 1, Brüssel
2006, S. 375 – 441; Falk, A./Fischbacher, U., A Theory of Reciprocity, in: Games and Eco-
nomic Behaviour, 54 (2), 2009, S. 293 – 315; zu Verdienst: Cappelen, A. W. et al., Responsi-
bility for What? Fairness and Individual Responsibility, in: European Economic Review 54,
2010, S. 429 – 441; Cappelen, A. W. et al., The Merit Primacy Effect, NHH Dep. of Econo-
mics discussion paper, 2017; Kanngiesser, P./Warneken, F., Young Children Consider Merit
when Sharing with Others, in: Plos One 8 (8), 2012. Diese Belege ergeben sich aus einer
Menge verschiedener Szenarien und sind nicht einem bestimmten theoretischen Ansatz ver-
haftet. Eine nötige Voraussetzung ist allerdings, dass die Versuchspersonen miteinander in-
teragieren und ihre Handlungen im Vergleich mit anderen bewerten, im Unterschied zu einem
abstrakten Abfragen von Überzeugungen. Die starke Alltagsakzeptanz von Verdienst/Leistung
bestätigen Becker, R./Hadjar, A., Meritokratie – Zur gesellschaftlichen Legitimation unglei-
cher Bildungs-, Erwerbs- und Einkommenschancen in der modernen Gesellschaft, in: R. Be-
cker (Hrsg.), Lehrbuch der Bildungssoziologie, 2009, S. 48.
10
Tomasello fasst den Forschungsstand zu einer Protomoral bei nicht-humanen Primaten
so zusammen, dass sie über Sympathie und ein Gegenseitigkeitsverständnis verfügen, aber
nicht über einen Sinn für Fairness. Die vermeintlichen Belege von Fairness anhand von ulti-
matum game Experimenten lassen sich über eine fairnessfreie Ärgerreaktionen erklären (s.
Tomasello, M., A Natural History of Human Morality, Princeton 2016, S. 32 f., 71). Tomasello
bestätigt gleichwohl die Bedeutung von Gegenseitigkeit als Entstehungsbedingung für Fair-
ness und Gerechtigkeit (S. 36).
136 Anton Leist

sie bei normativen Verbindungen von Freiheit und Gleichheit ignoriert werden könn-
ten.

III. Verdienst und Wettbewerb


Die philosophische Literatur über Verdienst hat einige Unterscheidungen einge-
führt, die zu berücksichtigen empfehlenswert ist. Erstens diejenige zwischen einem
primären und einem sekundären Verdienstbegriff (oder ,Verdienst‘ und ,Berechti-
gung‘). Zweitens die zwischen vergleichendem und absolutem Verdienst. Drittens
die Unterscheidung zwischen moralischem und nicht-moralischem Verdienst. Vier-
tens die zwischen Verdienst bei verteilender und strafender Gerechtigkeit.
Die beiden letzteren Unterscheidungen klammere ich im Folgenden aus. Die Un-
terscheidung zwischen moralischem und nicht-moralischem Verdienst ist stark von
einer Definition von Moral abhängig, die ich hier nicht ausführlicher betrachten will.
Der Unterschied ist im Weiteren nicht von Bedeutung. Auch klammere ich strafende
Gerechtigkeit und die Thematik ,verdienter Strafe‘ aus praktischen Gründen aus. In-
teressant wäre aber, die Bedeutung der gemeinsamen psychologischen Grundlagen
für beide Formen von Gerechtigkeit zu verfolgen.
Verdienst im primären Sinn gesteht einer Person eine Belohnung aufgrund einer
so genannten ,Verdienstbasis‘ zu, ohne dass dabei eine rechtliche oder ,institutionel-
le‘ Norm vorausgesetzt ist. Sekundär wird der Verdienstbegriff dagegen bei Abhän-
gigkeit dieser Art angewandt. Leicht verdeutlichen lässt sich der Unterschied am bes-
ten Läufer über die ganze Saison. Vor-institutionell: eigentlich hätte er den Sieg ver-
dient, wäre er nicht am effektiven Sieg gehindert worden. Institutionell: Kraft Regeln
hat der tatsächliche Sieger den Sieg verdient.11
Bei Verdienst in primärer Anwendung entspringt die Bewertung aus der Qualität
des Handelnden oder Handelns. Das schließt nicht aus, dass die Qualität durch Ver-
gleich ermittelt werden muss. Verdienst wird dann, zweite Unterscheidung, verglei-
chend und nicht absolut verstanden.12 Bei Beiträgen zu einem kollektiven Ziel gibt es
11
Über diesen klaren, anhand der Moral/Recht-Differenz unterschiedenen Fällen übersieht
man leicht, dass auch eine inner-ethische Unterscheidung von primärer und sekundärer An-
wendung denkbar ist. Geht es um Beitragsverdienst, dann wäre ein Beitrag primär verdienst-
voll, wenn bei der Belohnung die individuelle Handlungsqualität eine Rolle spielt, er wäre
sekundär verdienstvoll, wenn nach einer generalisierenden Verteilungsnorm entschieden wird.
Ähnlich wie im Rechtsfall wird etwa bei einer grob nach Arbeitszeit beurteilten Verteilung
von den Qualitäten des Einzelbeitrags abgesehen. Dann ließe sich kraft der unterstellten Norm
dennoch sagen ,A verdient aufgrund von y einen Lohn von z‘, aber im Urteil wird nicht weiter
auf die Qualität von y eingegangen. Der Unterschied zwischen primären und sekundären
Urteilen in diesem Sinn ist fließend.
12
Es gibt meines Wissens nur einen Autor, der Verdienst nicht-vergleichend in Verbindung
mit einer absoluten Moral versteht: Kagan, S., The Geometry of Desert, Oxford 2012.
Cavanagh, M., Against Equality of Opportunity, Oxford 2002, S. 38 ff. weist allerdings darauf
hin, dass Vergleiche nur notwendig, nicht hinreichend für eine Bewertung sein können.
Gleichheit und/oder Verdienst? 137

keine absoluten Beitragsminima oder -maxima, sondern die Qualität der einzelnen
Beiträge stellt sich erst in der Realisierung heraus. Darin passt das eben bereits her-
angezogene Beispiel des Rennens – das sicher beliebteste Beispiel in der Literatur –
gut zur Illustration. In einem sportlichen Wettkampf ist nicht von vornherein klar,
welche Minima und Maxima erreicht werden können, und die Qualität einzelner Vor-
träge ergibt sich nur im Vergleich.
Nicht jeder Vergleich muss mit einem Wettkampf verbunden sein. Unterstellt man
nicht bereits jedes vergleichende Bewerten als kompetitiv, dann ist der Vergleich
zwischen zwei ältesten Bäumen ein nicht-kompetitiver, der Vergleich zwischen
zwei Bewerbern für eine Stelle ein kompetitiver. Innerhalb von vergleichendem Ver-
dienst bilden kompetitiver und nicht-kompetitiver Verdienst zwei mögliche Varian-
ten. Beide Arten von Verdienst benötigen einen Beziehungsrahmen, der Regeln und
Werte umfasst, und eine unterschiedliche Art der Kooperation unterstützt. Im kom-
petitiven Fall wird das eine kompetitive Kooperation (Kooperation weil Einhalten
von Regeln) sein, im nicht-kompetitiven Fall eine wertorientierte und tendenziell ge-
meinschaftliche Kooperation. Mischformen beider Typen sind üblich. Beide Male ist
der Zweck der Kooperation das Erreichen von Zielen, im kompetitiven Fall eher die
Verteilung von materiellen Gütern, im nicht-kompetitiven Fall eher das Herstellen
von Sicherheit und Freiheit.
In Anschluss an klassische Unterscheidungen von Weber und Habermas liegt viel-
leicht nahe, die beiden Verdienstkategorien idealtypisch voneinander zu trennen und
entsprechende Sozialbereiche zu unterscheiden. Ersteres ist einfach, letzteres nicht
sinnvoll. Das typische handwerkliche Handeln, im Arbeitsmarkt immer noch von Be-
deutung, ist sowohl von Wettbewerb wie auch von Idealen durchzogen. Handwerker,
und mit vielen Abstufungen vielleicht Arbeiter generell, verfolgen meist auch ein
Ideal des Herstellens und müssen es mit den ökonomischen Zielen in Übereinstim-
mung bringen. Soweit die Bereiche verschieden sind, liegt das nicht an der durchgän-
gig vorhandenen Wertorientierung, sondern an der Rolle des Wettbewerbs. Entschei-
dend ist die Frage, ob der Wettbewerb wesentlichen Einfluss auf Erfolg und Verdienst
hat, nicht welche Ideale ihm zugrunde liegen. Weil ,wesentlich‘ ein qualitatives Prä-
dikat ist, scheidet eine klare und einfache Bereichstrennung aus.
Die an der gesellschaftlichen Bedeutung von Verdiensturteilen interessierte Lite-
ratur bedient sich dazu des Begriffs der ,Meritokratie‘. Meritokratie bezeichnet ein
Sozialsystem, das mindestens durch Wettbewerb und Verdienst gekennzeichnet ist.
Darüber hinaus wird der Begriff in unterschiedlicher Weise aufgeladen und mora-
lisch ausgelegt. Auf diese Varianten gehe ich im nächsten Abschnitt ein. J. Littler
(Fn. 16) hat die Einführung des erst seit den 1950er Jahren gängigen Begriffs
durch die britischen Soziologen A. Fox und M. Young nachgezeichnet und seine
Ideologieanfälligkeit besonders hervorgehoben. Eine solche Anfälligkeit entsteht,
weil der ökonomische Markt als Paradigma der Kombination von Wettbewerb und
Verdienst gilt, aber gleichzeitig die nützliche Reichweite und Fairness des Markts
in der Gesellschaft umstritten und wahrscheinlich nicht völlig objektivierbar ist.
138 Anton Leist

Der offene Anspruch der Meritokratie wirft die bekannte Problematik auf, inwieweit
die Gesellschaft insgesamt der Marktlogik entsprechend organisiert ist oder, soweit
nicht, es noch werden soll. Eingeschlossen ist darin die Frage, inwieweit Verdienst
unter Wettbewerb hinreichend ist für eine gerechte Verteilung von Gütern, oder viel-
mehr der externen Korrektur bedarf. Dazu mehr im nächsten Abschnitt.
Viele Kritiker des Markts sehen die Notwendigkeit, neben dem Markt in der Ge-
sellschaft einen nicht durch ökonomischen Wettbewerb gekennzeichneten Bereich
aufrecht zu erhalten und ihn als Gegengewicht und Kontrolle zu stärken. Politik,
Recht, durch Recht orientierte Verwaltung, Religion, und ein zivilgesellschaftliches
Handeln der Bürger sowie die vielen persönlichen Nahbereiche sind soziale Sphären,
in denen nicht der Wettbewerb, sondern Interessen und Ideale – und bei entsprechen-
dem Handeln der nicht-kompetitive Verdienst – eine vorrangige Rolle spielen. Dass
diese Sphären in Gefahr sind, durch ökonomisches Denken und Wettbewerb erodiert
zu werden, ist hinlänglich bekannt. Der Konflikt des Handwerkers, der sein Berufs-
ideal mit dem ökonomischen Erfolg in Einklang bringen muss und damit einer Au-
ßenkontrolle unterliegt, wiederholt sich im Großen, wenn die idealorientierten Sphä-
ren in Konkurrenz mit dem ökonomischen Erfolg geraten.13
Für kritische Soziologen wie Littler, prospektiv bereits für Fox und Young, ent-
legitimiert die zunehmende Ökonomisierung moderner Gesellschaften weitgehend
auch die Tauglichkeit von Verdiensturteilen, insbesondere solchen unter Wettbe-
werb. Berechtigt an dieser Skepsis ist – neben der Gefahr des auswuchernden öko-
nomischen Denkens – der Vorbehalt, wie weit kompetitiver Verdienst überhaupt ge-
recht gestaltet werden kann, sowohl in idealer wie natürlich mehr noch realer Hin-
sicht. Dazu eine möglichst nüchterne, nicht bereits in politischen Vorbehalten befan-
gene Diskussion zu führen, ist deshalb nötig, weil der Markt und seine moralischen
Legitimationsmuster de facto existieren und eine vollständig nicht-kompetitive Al-
ternative unter menschlichen Bedingungen wohl völlig undenkbar ist. Realistisch ge-
sehen ist kompetitiver Verdienst unausweichlich, so dass das Ziel nur darin liegen
kann, ihn möglichst fair zu gestalten. Das dazu übliche Prinzip, um das es jetzt
gehen soll, ist Chancengleichheit.

IV. Gleichheit und Wettbewerb


Die Vertreter von normativer Meritokratie räumen mehr oder weniger bereit ein,
dass die Voraussetzungen für Verdienst in bestimmtem Ausmaß gleich sein müssen,

13
Sollte man den Strafvollzug an eine kostengünstigere Privatfirma übergeben, auch wenn
die Ideale des Strafvollzugs dabei gefährdet werden? Soll der Klimaschutz eher durch
Marktinstrumente oder durch politisch gerechtfertigte Anreize und Verbote organisiert wer-
den? Alle Bereiche der Gesellschaft sind von einem fortwährenden Verdrängungsgeschehen
zwischen kompetitiven und nicht-kompetitiven Denkweisen durchzogen.
Gleichheit und/oder Verdienst? 139

damit Verdienst ein faires Kriterium sein kann.14 Daraus entsteht die übliche Vorstel-
lung, dass Verdienst mit Chancengleichheit verbunden sein muss, damit Verdienst als
Gerechtigkeitskriterium akzeptabel wird. Betrachtet man diesen Gedankengang je-
doch genauer, entstehen vor allem zwei Fragekomplexe. Erstens, wie setzt sich die
Begründung von Chancengleichheit zusammen? Offensichtlich durch eine Kombi-
nation von Gleichheit und Wettbewerb, aber wie genauer und mit welchen Gründen?
Das erklärt sich vor allem dann nicht von selbst, wenn die Verbindung handlungsnah,
also in realistischer Nähe zu den tatsächlichen sozialen Beziehungen gedacht werden
soll. Zweitens, wie umfassend ist Chancengleichheit zu fordern und wie ist der Um-
stand zu bewerten, dass Chancengleichheit real nicht herstellbar ist? Dieser zweite
Punkt einer realistisch-idealen Chancengleichheit ist Thema des nächsten Ab-
schnitts.
Manche sind der Meinung, dass Gleichheit ebenso wie Freiheit inhärenter Be-
standteil von Wettbewerb ist, so dass Chancengleichheit aus dem kompetitiven Ver-
dienst selbst bereits folgen muss.15 Im Folgenden nenne ich das das interne Modell
der Chancengleichheit. Bei der Alternative dazu, dem externen Modell, wird Gleich-
heit als Wert unabhängig von Wettbewerb betrachtet und als externe Korrekturbasis
eingeführt. Auf den ersten Blick scheint der Unterschied zwischen beiden Einführun-
gen von Gleichheit belanglos. Bei genauerem Zusehen sind beide aber mit der Frage
verbunden, welchen Umfang Wettbewerb in menschlichen Beziehungen haben
soll.16
Das interne Modell ist nicht unverständlich. Ein Wettbewerb macht wenig Sinn
ohne eine angemessene Form von Freiheit. Wenn Wettbewerb eine Methode sein
soll, den Besten herauszufinden, dann müssen alle Beteiligten auch die Freiheit
haben, ihre geeigneten Fähigkeiten auszuüben. Und diese Freiheit muss gleich ver-
teilt sein. Sicher ist ein Wettbewerb, bei dem einige behindert werden, wohl eher die
Regel. Aber die Funktion des Wettbewerbs wird dann eingeschränkt, wenn sie eben
das genannte Entdeckungsziel hat. Aufgrund ihrer Funktion enthält die Methode des
14
Zum Begriff Meritokratie herrschen verschiedene Literaturen. Obwohl ich das Ideal
verfolge, sie zu verbinden, ist das nur annähernd möglich. Die Differenz zwischen der nor-
mativen und der empirischen Analyse spielt im Folgenden eine zentrale Rolle. Beide Litera-
turen leiden unter ihrer Einseitigkeit. Für die Empirie, neben Littler (Fn. 16) und speziell
informativ für Deutschland s. Becker, R./Hadjar, A. (Fn. 9).
15
So zustimmend Mulligan (Fn. 9), S. 72 f. Ähnlich, allerdings kritisch, Cavanagh
(Fn. 12), S. 85 und Anderson, E., Rethinking Equality of Opportunity: Comment on Adam
Swift’s How Not to Be a Hypocrite, in: Theory and Research in Education 2, 2004, S. 104. Im
Unterschied zu Mulligan lehnen beide normative Meritokratie ab.
16
Der Begriff Meritokratie wird manchmal, möglicherweise sogar typisch, mit dem in-
ternen Modell verbunden (wie bei den in Fn. 15 Genannten). Wie Littler, J., Against Meri-
tocracy, London 2018, Kap. 1, zeigt, gab es auch die ,linke‘ Meritokratie, etwa von Tawney
und Bell, ansatzweise sogar bei dem wichtigsten ersten Propagator des Begriffs, Young, M.,
The Rise of the Meritocracy, 1870 – 2033. An Essay on Education and Equality, London
(zahlreiche Auflagen) 1958, in der das externe Modell vorherrscht. Ich verwende den Begriff
hier übergreifend für beide Varianten. Von Bell s. Bell, D., On Meritocracy and Equality, in:
The Public Interest 29, 1972, S. 29 – 68.
140 Anton Leist

Wettbewerbs als solche eine Forderung nach Chancengleichheit. Allerdings hängt


diese funktionale Begründung von Chancengleichheit davon ab, um welchen Wett-
bewerb es sich handelt und natürlich auch, ob für eine bestimmte Klasse von sozialen
Beziehungen überhaupt ein Wettbewerb gelten soll. Ohne Wettbewerb kein kompe-
titiver Verdienst, und nach dem internen Modell keine Chancengleichheit.
Die mit dem externen Modell verbundene ,egalitaristische‘ Überzeugung von
Gleichheit ist dem gegenüber freistehend und maximal umfassend. Dem Egalitaris-
ten geht es in der umfassendsten Variante darum, dass alle gleiche Chancen auf ein
gutes Leben haben.17 Der maximale Rahmen für Forderungen nach Gleichheit ist
damit der nach gutem Leben im Allgemeinen. Zum Herstellen von Gleichheit
beim guten Leben im Allgemeinen einen Wettbewerb zu fingieren, wäre nicht beson-
ders plausibel. Zutreffend ist zwar, dass die Mittel für ein gutes Leben vieler insge-
samt ähnlich knapp sind wie Jobs, es also um eine Verteilung knapper Güter geht.
Unklar ist aber, was das Ziel eines Wettbewerbs sein sollte, der Lebenschancen
im Ganzen verteilt, und insbesondere welche Instanz darüber entscheiden sollte,
wer der Beste ist. Im Fall von Sportveranstaltungen oder Stellenbesetzungen ist
das klar, im Fall von Chancen für ein ganzes Leben ist es nicht nur unklar, sondern
prinzipiell nicht zu beantworten.18
Die interne Einführung von Gleichheit im Wettbewerb kann, muss freilich nicht,
mit einer Überdehnung des Wettbewerbs einhergehen. In liberalen Demokratien
herrscht das Selbstverständnis, dass rechtliche und politische Gleichheit nicht Ge-
genstand von Wettbewerb sein können, sondern relativ gesehen bedingungslos gel-
ten, während bei ökonomischer Gleichheit der Wettbewerb eine zentrale Rolle spielt.
Unter Gleichheit verstehen die meisten Bürger vorrangig den Anspruch, im Recht
gleich behandelt zu werden und eine gleiche Stimme bei der Wahl zu haben, weniger
den Anspruch nach gleichem Einkommen und Vermögen. Allen ist bewusst, dass die
realen menschlichen Ungleichheiten ökonomische Ungleichheit nach sich ziehen.
Würde Gleichheit nur wettbewerbsintern begründet, würde diese Sphärendifferenz
ignoriert. Auch wäre das Ausmaß von Chancengleichheit kaum eindeutig zu begrün-
den.
Die seit Rawls bekannte Differenz von ,formaler‘ und ,fairer‘ Chancengleichheit
setzt einen wettbewerbsunabhängigen Glauben an Gleichheit voraus. Formale Chan-
cengleichheit entspricht der rechtlichen und politischen Gleichheit, die ein Diskrimi-
nieren aufgrund von Ethnie, Geschlecht oder Religion im Wettbewerb verbietet. Ob
eine interne Begründung aus den Interessen des Wettbewerbs heraus solche Arten
von Diskriminierung ausschließen kann, ist nicht sicher. Ein Arbeitgeber hat wohl
das Interesse, den ,Besten‘ für eine Stelle zu finden, und vielleicht ist eine Frau

17
Ihn so darzustellen, dass alle tatsächlich ein gleich gutes Leben haben, wäre eine nicht
erfüllbare und nicht wünschenswerte Forderung. Sie ließe keinen Spielraum dazu, dass ver-
schiedene Vorstellungen zum guten Leben herrschen.
18
Die Annahme, dass das Leben im Allgemeinen ein Wettbewerb ist, hätte den Charakter
eines Sozialdarwinismus. Manche meritokratischen Denkweisen gehen in diese Richtung.
Gleichheit und/oder Verdienst? 141

die Beste für eine Stelle. Aber lässt sich unter dieser Bezeichnung ignorieren, dass sie
potentiell schwanger wird und dann ihre Fähigkeit nicht einsetzen kann? Hier zeigen
sich grundsätzliche Differenzen zwischen den kategorischen Gleichheitsüberzeu-
gungen und Ergebnissen beim Wettbewerb – selbst wenn der Wettbewerb idealisie-
rend als reine Entdeckungsmethode verstanden wird.
Eine ähnliche Lücke wiederholt sich bei fairer Chancengleichheit, die als kom-
pensierendes Bemühen um gleiche Ausgangsbedingungen gemeint ist. Wichtig ist
dabei zwischen verschiedenen Funktionen von Chancengleichheit (ChG) zu unter-
scheiden.19 Dann steht der Entdeckungsfunktion des Wettbewerbs durch ChG zu-
nächst gegenüber, eine bestimmte Menge von Kandidaten erst in die Lage zu bringen,
an Wettbewerben teilzunehmen. Und beiden steht gegenüber, dass Personen in ihren
Potentialen ohne Bezug bereits auf einen Wettbewerb gefördert werden. ChG im
Sinn der ersten Funktion wäre entdeckende ChG, im Sinn der zweiten Funktion aus-
bildende, im Sinn der dritten Funktion fördernde ChG. Einen Überblick zu diesen
Varianten von ChG gibt das folgende Schaubild:
Funktion der ChG Grenzen der Förderung von ChG Verhältnis zu interner
bzw. externer Gleich-
heit20
Entdecken innerhalb Keine Ausgangsförderung bei hin- Intern gleich, extern un-
von Wettbewerb reichender Menge von Kandidaten gleich
(formale ChG)
Ausbilden in Bezug Ausgangsförderung je nach Art des Intern gleich, extern un-
auf einen Wettbewerb Wettbewerbs und Kandidatenlage gleich
(faire ChG1)
Fördern ohne Bezug Ausgangs- und begleitende Förde- Intern gleich, extern (an-
zu Wettbewerb rung nähernd) gleich
(faire ChG2)

Diese Varianten machen deutlich, dass sich formale und faire ChG stark danach
unterscheiden können, wie und ob überhaupt sie mit einem Wettbewerb verbunden
sind. Ist ein Wettbewerb vorgegeben, definiert er auch die wünschenswerten Fähig-
keiten und kann dabei einseitige Vorgaben liefern. Man kann dem Vertreter der in-
ternen Begründung von Gleichheit die Möglichkeit einräumen, dass er den Wettbe-
werb möglichst umfassend und allgemein definiert, um einseitige Auswahlen und die
Einschränkung auf kontingente Zahlen von Kandidaten zu vermeiden. Dennoch
bleibt der Gleichheitsanspruch an Funktionen gebunden. Das Problem der internen
Begründung lässt sich freilich auch so darstellen, dass das konkrete Ausmaß von För-
derung bei fairer ChG mangels Wissen funktional überhaupt nicht ermittelbar ist. In-

19
Hilfreich ist dazu die Diskussion bei Cavanagh (Fn. 12), Teil 2, von dem ich die Frage
nach den Zwecken von Chancengleichheit übernehme.
20
Verstanden hier als normative Forderung, nicht als erreichbarer Zustand. S. Abschnitt 5.
142 Anton Leist

sofern bliebe die interne Begründung von Gleichheit in den konkreten Maßnahmen
willkürlich und beschränkt.
Gleichheit muss gegenüber Wettbewerb und kompetitivem Verdienst also extern
begründet werden. Attraktiv wäre die funktionale Begründung über Wettbewerb in-
sofern, als sie von einer bewährten Beziehungsform ausgeht, während Gleichheit als
solche nur eine Idee ist. Im Wettbewerbsmodell argumentiert man von vornherein
realitätsnah, im Gleichheitsmodell ist man gefordert, den realen Gehalt der Idee al-
lererst nachzuweisen. Dabei geht es – gegen das Lese- und mit dem Handlungsmo-
dell – mindestens darum, die Motivationskraft der Gleichheitsidee zu belegen und
damit indirekt auch den Ideologiecharakter von Gleichheit auszuräumen. Bekannte
rhetorische Begründungen mithilfe allgemeiner Eigenschaften wie ,Menschlich-
keit‘, ,Vernunft‘ oder ,Würde‘ sind ersichtlich untauglich.21 Deshalb muss das
Gleichheitsmodell analog wie das Wettbewerbsmodell aus einer Beziehungskonstel-
lation heraus verteidigt werden. Gleichheit wird dabei ein spezielles Profil anneh-
men.
Eine realitätsnahe Begründung wird nicht aus verbreiteten Intuitionen erfolgen,
die nicht davor gefeit sind, ideologische Muster wiederzugeben.22 Vielmehr sollte
sie die generellen Interessen im Rahmen möglichst aller Arten von sozialen Bezie-
hungen berücksichtigen. Darin nimmt sie wiederum die Form einer funktionalen Be-
gründung an, mit der Hoffnung allerdings, dass sich Einschränkungen wie beim
Wettbewerb vermeiden lassen. Hier sehr skizzenhaft, wie eine solche Begründung
lauten könnte.
Wenn wir davon ausgehen, dass Menschen nicht einfach durch Gleichheitsideen
als Ideen motiviert sind, benötigt man eine verhaltensnahe Begründung. Eine solche
Begründung wird nicht den Charakter haben, einen fiktiven Opponenten, etwa den
rationalen Egoisten, von moralischer Gleichheit zu überzeugen. Vielmehr wird sie
sich auf die nachweisbaren Dispositionen einer Mehrheit von Menschen berufen,
ohne damit alle Einzelindividuen wiederzugeben. Reale Menschen sind in ihren Ver-
haltensweisen keine rationalen Egoisten, aber ebenso wenig uneingeschränkte Al-
truisten. Ihre prosozialen Verhaltensweisen ergeben sich durch eine prosoziale
Grunddisposition und auf beziehungsspezifischen Interessen beruhenden Teilmora-
len. Die prosoziale Grunddisposition ist eine der Gegenseitigkeit: die Tendenz, Gutes
mit Gutem und Schlechtes mit Schlechtem zu beantworten. Wenn man versucht, eine
so grob benannte Disposition mit einem Prinzip wiederzugeben, sind verschiedene
Verfeinerungen möglich. Möglichst schwach wäre die folgende Wiedergabe:

21
Diese Begründung sind entweder Pseudobegründungen, wenn sie eine selbst begrün-
dungsbedürftige Eigenschaft wie Würde unterstellen, oder führen nicht zu gleichen Rechten,
wenn sie sich etwa auf ungleich verteilte Vernunft beziehen. Erklärungsbedürftig ist das
Ausmaß, in dem solche beliebten Pseudogründe wiederholt werden.
22
Man stelle sich vor, die Existenz Gottes sollte durch die Verbreitung des Glaubens an die
Existenz Gottes bewiesen werden. Je nach Auswahl der Befragten würde er existieren oder
nicht existieren.
Gleichheit und/oder Verdienst? 143

Handeln deine Kooperationspartner zu deinem Vorteil, dann handle ihnen gegen-


über ebenso; unterlasse es, wenn sie zu deinem Nachteil handeln!
Dieses ,Gegenseitigkeitsgesetz‘ enthält rudimentäre Formen von Freiheit und
Gleichheit. Es wird unterstellt, dass die Kooperation ohne Zwang erfolgt, und eben-
falls dass eine Gleichheit von Beiträgen erwartet wird. Die Anerkennung anderer als
Gleicher geht so weit, dass auf Vorteile verzichtet wird, auch wenn sie zum Nachteil
des anderen möglich wären. Mein Nachbar hilft mir beim Baumfällen, ich helfe ihm
danach bei ähnlicher Gelegenheit selbst dann, wenn ich in Kürze für immer ins Aus-
land gehe. Diese Gegenseitigkeitsgleichheit muss und kann nicht weiter begründet
werden. Weil sie anthropologisch unausweichlich und praktisch verlässlich ist,
kann man aber von ihr ausgehen.
In Frage steht dann, ob sich von ihr aus rechtliche und politische Gleichheit bzw.
ökonomische Gleichheit ergeben. Die zusätzlichen Interessen für die soziale Exis-
tenz als Bürger oder als Arbeiter in der ökonomischen Sphäre sind nicht dieselben.
Im ersten Fall geht es um die Beteiligung an einem Schutz- und Ordnungssystem,
dem Staat, im zweiten Fall um die Beteiligung an der Erwirtschaftung von Gütern
mit anderen Arbeitern.23 Stark vereinfacht unterscheiden sich die Interessen darin,
dass die Bürgerexistenz mit einem allgemein geteilten Interesse an Schutz verbunden
ist, die ökonomische Existenz mit einem individuell modifizierten Interesse an Ar-
beit. Beide Interessen sind darin verschieden, dass das Schutzinteresse unter allen
Bürgern annähernd gleich ist, das Arbeitsinteresse individuell verschieden. Alle un-
terscheiden sich stärker in ihren Fähigkeiten und Wünschen der Lebensgestaltung als
in ihrem Schutzbedürfnis. Während die rechtlich-politische Sphäre die in Gegensei-
tigkeit angelegte Tendenz zur Gleichheit unter dem Eindruck des Schutzbedürfnisses
in bedingungslose rechtliche und politische Gleichheit überführt, muss die ökonomi-
sche Sphäre eine den individuellen Verschiedenheiten angemessene Form von
Gleichheit finden.
Ich habe vornhin bereits angedeutet, dass Gegenseitigkeit Verdienst nahelegt. Ge-
genseitigkeit gilt dann nicht beim Austausch zwischen Partnern, sondern als Propor-
tionalität von Beitrag und Lohn (bzw. Schadenzufügen und Strafe). Wenn ein Ver-
haltensgesetz der Gegenseitigkeit wirkt, dann ist Verdienst ein naheliegendes Vertei-
lungsprinzip. Die Einführung des Wettbewerbs beruht auf einem Interesse an Effizi-
enz und historischer Erfahrung, und nicht unmittelbar auf Gegenseitigkeit. Wenn
aber einmal Gegenseitigkeitsgleichheit wirksam ist und Wettbewerb als effizient er-
kannt, dann stehen eben die beiden Alternativen von interner oder externer Gleichheit
(und entsprechend unterschiedliche ChG) offen. Gibt die Gegenseitigkeit dabei einen
Ausschlag?
Es scheint so, dass sich einzig über die gegenüber dem Wettbewerb externe
Gleichheit eine widerspruchsfreie Verbindung zwischen politischer und ökonomi-
23
Das Schutzbedürfnis gilt sowohl gegenüber bestimmten Mitmenschen wie gegenüber
anderen Staaten. Ohne einen Staat und den Schutz durch den Staat ist dieses Bedürfnis also
nicht zu beantworten.
144 Anton Leist

scher Sphäre herstellen lässt. Würden die Schutzrechte der politischen Sphäre nicht
auch in die ökonomische hineinreichen, dann würden die Bereiche so weit auseinan-
derfallen, dass es sich eher um zwei Teilgesellschaften handelte als um eine. Anders
gesagt wird unterstellt, dass das Schutzbedürfnis auch gegenüber der Beteiligung an
Produktion anhält und dann mit Verdienst unter Wettbewerb eine Einheit bilden
muss. Diese Einheit ergibt sich durch die Forderung nach nicht nur formaler, sondern
fairer ChG, also der durchgängigen Förderung bei unverdienten Nachteilen.24
Zusammengefasst könnte zutreffen, dass Gegenseitigkeitsgleichheit in Verbin-
dung mit zwei Interessen, an Schutz und Effizienz, zu einem ökonomischen Gerech-
tigkeitsregime führt, das Verdienst unter Wettbewerb mit weitgehender ChG verbin-
det. Ohne Schutzinteresse keine externe Gleichheit, ohne Effizienzinteresse kein
Wettbewerb, ohne Wettbewerb kein kompetitiver Verdienst, ohne Verdienst bei
ChG keine Verteilungsgerechtigkeit. Skizzenhaft ist diese Begründung darin, dass
mit diesen Stichworten einzelne Faktoren zwar benannt sind, aber diese Faktoren
weiter je in sich gewichtet werden müssten. Eine dieser Verfeinerungen betrifft
dabei die Frage nach Ausmaß und Realisierbarkeit von fairer ChG.

V. Reale Chancengleichheit oder Ideologie?


Kritiker von Meritokratie als Ideologie führen meist den irreführenden Charakter
des Slogans ChG an, der bei den Erfolglosen den Eindruck hinterlässt, sie hätten die
gleichen Chancen und ihre Erfolglosigkeit beruhe nur auf ihrem individuellen Un-
vermögen. In Reaktion auf diese Art von Vorbehalt scheinen mir zwei Punkte wich-
tig. Erstens eine Klärung dessen, was ChG eigentlich genauer fordert. Kritiker von
Meritokratie gehen nicht selten, meist implizit, von einer Forderung der Ergebnis-
gleichheit aus, an der gemessen ChG dann defizitär wirkt.25 Ein Teil der Antwort
auf diese Kritik wird darin bestehen, zu zeigen, wozu ChG in einem vorteilhaften
Sinn führen kann. Zweitens ist es aber nötig, den Hintergrund selbst zu bedenken.
Indem sie Ergebnisgleichheit fordern, erweitern die Kritiker ein Prinzip der Gleich-
heit über die rechtlich-politische Sphäre hinaus vollständig auf das Wirtschaftshan-
deln. Ich will diese unrealistische Alternative zuerst ausräumen.
G. Cohen war der Meinung, dass die Gegenseitigkeit des Markts vorrangig auf
einer Kombination von Gier und Furcht beruht. Darin sähe jeder den Mitteilnehmer
als jemand, den er maximal dazu benutzen müsse, einen für ihn größten Vorteil zu
24
Die Unterscheidung zwischen verdienten und unverdienten Nachteilen ergibt sich auf-
grund des vorausgesetzten Verdienstrahmens.
25
Andere fallen einer ungenauen Verwendung des Chancenbegriffs zum Opfer. So über-
setzt beispielsweise Becker, R., Entstehung und Reproduktion dauerhafter Bildungsungleich-
heit, in: R. Becker (Hrsg.), Lehrbuch der Bildungssoziologie, Wiesbaden 2009, durchgängig
(ebenso Becker, R./Hadjar, A. [Fn. 9]) die Ergebniskorrelationen von Abschlüssen oder Be-
such mit sozialer Herkunft direkt in Chancen. Die Ergebnisse drücken etwas aus, wenn auch
nicht direkt die Chancen.
Gleichheit und/oder Verdienst? 145

realisieren. Dem stellte er eine gemeinschaftliche Gegenseitigkeit gegenüber, die


mit einer ,sozialistischen‘ ChG, eine Art Zufallsegalitarismus, verbunden sei.26
Nun ist es immer schwierig, darüber zu urteilen, was ,der‘ Markt alles beinhalte,
wenn man den Begriff so abstrakt einführt. Worin sich Cohen aber wohl irrte,
und dabei eigenartigerweise in der Nähe der libertären Vertreter eines moralisch
neutralen Markts, ist die unausweichliche Bindung auch von materiellen Interessen
an moralische Denkweisen bei den meisten Menschen. Egalitaristen der abstrakten
Sorte, zu denen auch Cohen gehört, übersehen die Notwendigkeit, wonach auch die
Gegenseitigkeit im Markt Vertrauen erzeugende Maßstäbe enthalten muss, die
über die Motive Gier und Furcht hinausgehen. Verdiensturteile bieten solche Maß-
stäbe, die sozial effektiver sind als sowohl Gier/Furcht-Motive, wie weiter unqua-
lifizierte abstrakte Gleichheit. Aufgrund ihrer einzigartigen Kombination von
(selbstinteressierter, also nicht moralisch anspruchsvoller) Motivation und Be-
gründung unter einem Begriff, gleichzeitig als Ausdruck von Gegenseitigkeit,
ist Meritokratie jeder nichtmoralischen und jeder moralisch anspruchsvollen,
aber rein gedanklichen Art des Egalitarismus überlegen.27 Die anhaltende Über-
zeugung vieler zur Richtigkeit der meritokratischen Idee, selbst unter meritokra-
tieaversen Bedingungen, ist weniger ein Resultat von „Jahrhunderten kapitalisti-
scher Zivilisation“ (Cohen [Fn. 26], S. 41), als ein Ausdruck dieser vorteilhaften
Kombination von Begriff und Motivation.
Als Fazit scheint mir deshalb verständlich, warum auf Meritokratie nicht verzich-
tet werden kann. Die anhaltende Kritik verdeutlicht aber auch, dass das Verdienst-
denken mit dem nicht prozedural transformierten, also substanziellen Gleichheits-
denken unabschließbar in Konkurrenz steht. Das verdeutlicht auch die Kontroverse
über das interne und externe Modell – und diese Kontroverse wiederholt sich in allen
sozialen Anwendungsbereichen, so etwa in der Diskussion von Meritokratie in der
Erziehung. Dazu gleich mehr.
Nun zum ersten Punkt: was ist unter ChG konkret zu verstehen? Worauf sollen
sich, erstens, Chancen richten und inwiefern sollen sie gleich sein? Lässt sich eine
Gleichheit überhaupt beurteilen oder sogar messen? Und zweitens, werden die
mit ChG verbundenen Absichten dadurch widerlegt, dass auch mit den besten Maß-
nahmen nie reale ChG herstellbar ist? Ist das Täuschungsmoment im Begriff ChG
möglicherweise nie zu vermeiden?

26
Cohen, G. A., Why not Socialism? Princeton 2009, S. 38 – 43. Cohen hat möglicher-
weise einen Punkt gegenüber den äußerlich gesehen fair handelnden Bonobos. Sie handeln aus
Gier und Furcht.
27
Die typischen motivationalen Defizite des Sozialismus, die zu Korruption auf der Herr-
scher-, zu Apathie auf der Beherrschtenseite führen, sind deshalb erwartbare Folgen jedes
moralisch anspruchsvolleren Egalitarismus.
146 Anton Leist

In Form allgemeinster Ziele in der ökonomischen Sphäre richten sich die Chancen
auf Einkommen und Vermögen. Die Chancen auf Einkommen zerlegen sich in die,
eine Stelle für bezahlte Arbeit zu erhalten und entsprechend Verdienst bezahlt zu
werden. Die Chancen auf Vermögen beruhen in Arbeit oder Renten, um Vermögen
zu bilden. Mit anderen Worten geht es bei diesen Zielen um ein Recht auf Arbeit und
fairen Lohn auf der einen, um die Berechtigung von Einkommen aus Besitz und Erb-
schaft auf der anderen Seite. Vor allem das über Erbschaft intergenerationell ungleich
verteilte Vermögen erscheint klar als Widerspruch zu ChG. Ich kann auf diese ein-
zelnen Themen hier nicht eingehen, sondern nur die Frage zu klären versuchen, ob
sich dem Begriff ChG überhaupt eine normativ anwendbare Fassung geben lässt. Das
wäre etwa dann nicht der Fall, wenn ein Inhalt in der Verbindung von Chancen und
Gleichheit nicht mehr benennbar wäre.
Ohne weiteren Kommentar ist ChG ein extrem offener und vieldeutiger Begriff.
Das liegt vor allem daran, dass man den Begriff nicht relevant präzisieren kann, ohne
dabei die Ungleichheitsproblematik und die Möglichkeiten ihrer Korrektur bereits
im Auge zu haben. Den Begriff (wiederum Lesemodell!) als solchen abstrakt verste-
hen und daraus Forderungen ableiten zu wollen, führte in die Irre. Hat man Chancen-
gleichheit nicht als eine Norm oder einen Wert, sondern als einen Handlungsprozess
im Blick, dann ist klar, dass Chancen zunächst Angebote oder Gelegenheiten sind,
die bei den einen bereits bestehen, bei den anderen aktiv erzeugt werden müssen.
Doch herrscht darüber hinaus die Erwartung, dass diese Angebote tatsächlich zu
einem Ergebnis führen. Damit sind Chancen über Angebote hinaus Wahrscheinlich-
keiten.28 Damit aus Angeboten Wahrscheinlichkeiten werden, muss derjenige, des-
sen Chancen steigen sollen, selbst beteiligt sein. Weil er unterschiedlich beteiligt sein
wird, also aus gleichen Angeboten nie gleiche Wahrscheinlichkeiten werden, werden
die Chancen am Ende nie gleich sein können. ChG als Bemühen verringert Ungleich-
heit, erzielt aber nicht Gleichheit.
Die Eigenbeteiligung auf verschiedenen Stufen der ChG ist grundsätzlich nicht
vermeidbar, wird aber von der frühen Kindheit bis zur Beteiligung am Wettbewerb
unterschiedliche Bedeutung haben. Dabei geht grundsätzlich das Fördern dem Nicht-
behindern voraus, beide können sich aber im Lauf der Beteiligung an Wettbewerben
immer wieder abwechseln oder auch kombiniert auftreten. Chancen sind also vom
Endresultat über vier Stufen entfernt, über die Angebote, die Wahrscheinlichkeiten,
die Fähigkeiten und deren Ausübung in Freiheit, sowie die externen Umstände ihrer
Ausübung. Weil auf allen Stufen unausweichlich reale Ungleichheiten in Spiel kom-
men, könnten selbst gleiche Angebote (die real kaum gegeben sind) nicht zu gleichen
Ergebnissen führen.
Vielleicht ist der Begriff ChG darin irreführend, dass er Gleichheit und nicht ,Ver-
ringern von Ungleichheit‘ im Titel führt. Vielleicht erwarten deshalb manche, dass

28
Das entspricht im Englischen der Unterscheidung von opportunities und chances. Op-
portunities sind Gelegenheiten für, chances sind reale Wahrscheinlichkeiten für. Erstere sind
weiter vom Resultat entfernt als letztere. S. auch die Diskussion bei Cavanagh (Fn. 12), 118 ff.
Gleichheit und/oder Verdienst? 147

gleiche Wahrscheinlichkeiten oder gar die gleichen Endzustände der Inhalt von ChG
sind. Dass eine solche Gleichheit unter menschlichen Bedingungen nicht herstellbar
ist, liegt bereits daran, dass Zufall nicht auszuschalten ist, dann aber auch an unauf-
hebbaren individuellen Unterschieden. Sicher, genau genommen müsste anstatt von
ChG die Rede sein von ,Gleichheitsbemühen zum Verringern von Ungleichheit‘.29
Aber versteht das nicht jeder informiert Denkende sowieso darunter? Wichtig scheint
vielmehr, ob die sprachliche Kritik dazu dienen soll, einen substanziellen Egalitaris-
mus oder den Verzicht auf Gleichheit zu rechtfertigen. Wenn man beides nicht im
Sinn hat, ist die sprachliche Kritik folgenlos.
Aufgrund der unausweichlichen Eigenbeteiligung ,zwischen‘ Angebot und Wahr-
scheinlichkeit, unterliegt auch das Bemühen um ChG bereits unausweichlich Ver-
diensturteilen.30 Der Förderanspruch aller umfasst die beiden Aspekte Förderanlass
und Fördergrenze, und in beiden Aspekten spielt Verdienst eine Rolle. Im Anlass ist
Verdienst enthalten als unverdiente Ungleichheit, in der Fördergrenze als verdiente
Ungleichheit. Während nicht umstritten ist, dass Arbeit zum Erzielen von Einkom-
men und Vermögen die zentrale Form von ,Lebenstätigkeit‘ ist, herrscht weniger Ei-
nigkeit zu unverdienter und verdienter Ungleichheit. Gegeben die Einschränkung auf
Arbeit, konzentrieren sich diese Urteile auf die kritischen Phasen von Kindheit und
Ausbildung sowie die Willkür des Arbeitsmarkts. Ich gehe konkret hier nur auf ers-
tere ein.
Schematisch dargestellt geht es im Bildungsprozess um das Entwickeln von Fä-
higkeiten, die als entwickelte Voraussetzung für Verdienst sein können. Weil am Be-
ginn des Prozesses die Dispositionen ungleich sind – ungleich in genetischer und so-
zialer Hinsicht –, hat ChG die Aufgabe, diese ungleichen Dispositionen zu korrigie-
ren, so dass am Ende Verdiensturteile berechtigt sein sollen. Wichtige Fragen sind
dabei, erstens, ob auch die genetisch bedingten Talentunterschiede ausgeglichen
werden müssen; zweitens, wie die Förderung eingesetzt werden soll, damit sie Un-
terschiede ausgleicht; drittens, in welchem Ausmaß Förderung auf Grenzen stößt und
dies ChG als normativen Anspruch untergräbt. Daran kann sich auch die generelle
Frage anschließen, ob die Grenzen des Realisierens von ChG diesen Begriff ad ab-
surdum führen.
Erstens. In der Diskussion seit Rawls ist umstritten, ob nicht nur sozial, sondern
auch genetisch bedingte Ungleichheiten korrigiert werden sollen. Obwohl Rawls das
in seinem Verständnis von ChG ablehnt, belastet sein Differenzprinzip die natürlich
Talentierten damit, für die weniger Talentierten zu arbeiten. Insgesamt handelt es
sich dabei weitgehend um eine Scheindebatte, weil sich die genetische Bedingtheit

29
S. ähnlich bereits Coleman, J., The Concept of Equality in Educational Opportunity, in:
Harvard Educational Review 38, 1968, S. 29.
30
Das macht, wie oft bemerkt wurde, Rawls’ Kritik von Verdienst tendenziell wider-
sprüchlich, weil die von ihm befürwortete Politik der ChG ohne Verdienst undurchführbar
wird. Allerdings könnte der Verdienst auch nicht-kompetitiv verstanden werden und wird dann
substanziell egalitaristisch.
148 Anton Leist

kaum isoliert feststellen lässt, und soweit doch, sie anteilsmäßig relativ schwach ist.31
Zugunsten der geforderten Korrektur der ungleichen Fähigkeiten wird sich der gene-
tische Anteil kaum isoliert herausrechnen lassen. Soweit doch, gälte der Einwand von
Mulligan, dass ein Bestrafen der Persönlichkeit im Spiel wäre, wenn sie aufgrund
genetischer Eigenschaften belastet würde.32 Im Fazit: zu korrigieren sind die sozial
bedingten Ungleichheiten.
Zweitens. Die kompensierende Förderung steht vor zwei strukturellen Proble-
men. Einmal soll durch den Bildungsprozess die Eignung für einen fairen Wettbe-
werb erst geschaffen werden. Aber wie in der Produktion ist auch im Bildungsprozess
ein meritokratischer Geist nicht völlig auszuschließen. Die Bildungsmittel (Zuwen-
dung, Lob, Auszeichnung, Stipendien) sind wie alle Mittel knapp und müssen ge-
recht verteilt werden. Sie nur nach Bedürftigkeit zu verteilen, hätte einen demotivie-
renden Effekt, so dass Verdienst als Kriterium nicht zu umgehen ist – was aber eine
Spirale der Ungerechtigkeit in Gang setzt. Die weniger Fähigen sollen ja gerade ge-
fördert und nicht nach Verdienst behandelt werden.
Zum anderen sollte die Förderung nicht nur fair, sondern auch effizient sein. Lei-
der gibt es wenig Wissen über die längerfristige Effektivität schulischer Förderung,
und starke Hinweise darauf, dass die Bildungsinstitutionen die Einflüsse des sozialen
Milieus in Hinblick auf Ehrgeiz, Willen, Erwartung nicht aufheben können.33 Gibt es
Lösungen für diese beiden internen Probleme?
Das Problem der unausweichlich meritokratischen Bildungsphase benötigt eine
differenzierte Behandlung je nach Altersstufe. Dabei wird in zunehmendem Maß
ein teil-meritokratisches Beurteilen nötig sein, bei dem etwa die Motivation von Kin-
dern und Jugendlichen, im Unterschied zu bereits vorhandenen ungleichen Fähigkei-
31
Das gilt besonders für den IQ, während einflussreichere psychologische Eigenschaften
(kognitive und nicht-kognitive Fähigkeiten) kaum von der sozial bedingten Umgebung zu
trennen sind. Es wird häufig darauf hingewiesen, dass auch IQ-Tests im Objekt bereits psy-
chologische Tugenden einschließen, weil der Test als Aufgabe wahrgenommen wird. Tugen-
den sind nicht rein genetisch bedingt. Jencks, Ch. et al., Inequality: A Reassessment of the
Effect of Family and Schooling in America, New York 1972, gaben die Einflussstärke neben
anderen Faktoren mit 0.310, in einer späteren Untersuchung reduziert auf 0.20 an. Irwing, P./
Lynn, R., The Relation between Childhood IQ and Income in Middle Age, in: Journal of
Social, Political and Economic Studies 31 (2), 2006, S. 191 – 196, korrigieren das auf 0.368 für
Männer und 0.317 für Frauen. Aber selbst wenn man annimmt, dass der IQ ein Drittel ein-
flussreich ist, dann würden die Unterschiede im IQ, auf die es unter Gerechtigkeit ankäme,
erheblich geringer sein. Bei einer 30 % Variation des IQ käme man beispielsweise bei 0.3
Einfluss auf 0.09 Variation ,ungleicher‘ IQ-Auswirkung auf Einkommen.
32
Mulligan (Fn. 9), Kap. 7. Ich lese das Argument so, dass die realistisch vorauszusetzende
moralische Bereitschaft ein ,Vergesellschaften‘ genetischer Individualität (Rawls), typisch für
den Zufallsegalitarismus, nicht deckt. Zu beachten ist, dass ,die‘ Gesellschaft ursächlich ver-
antwortlich ist für soziale, aber nicht für genetische Unterschiede – wenn man eine staatliche
Eugenik einmal ausschließt.
33
So argumentiert Jencks, Ch., Whom Must We Treat Equally for Educational Opportunity
to Be Equal? In: Ethics 98, 1988, S. 518 – 533, gestützt auf seine früheren (1973), heute nicht
mehr gültigen Ergebnisse.
Gleichheit und/oder Verdienst? 149

ten, im Vordergrund steht. Dabei sind nicht nur die Fähigkeiten, sondern auch die
Erwartungen und der Ehrgeiz von Kindern klassenspezifisch beeinflusst. Eine kom-
petente Pädagogik sollte aber in der Lage sein, das sich herausbildende eigenständige
Wollen des Kindes und dann Jugendlichen an die Oberfläche zu bringen, und in
einem gestaffelt ansteigenden Ausmaß meritokratisch zu beurteilen, ohne dabei un-
fair zu sein.
Den Erfolg kompensatorischer Pädagogik pauschal zu beurteilen, ist weder
sinnvoll noch möglich.34 Misst man die Abnahme von Bildungsungleichheit an er-
weitertem Zugang zu höheren Bildungsangeboten, dann ist in Deutschland in den
letzten 30 Jahren ein nennenswerter Aufstieg von Arbeiterkindern in höhere Schu-
len nachweisbar, nicht aber an die Universität. Dabei ist die Zunahme einzuordnen
in eine allgemeine Bildungsexpansion, in der auch die Mittel- und Oberschichten
vermehrt Bildung nachfragen, so dass die Bildungsabstände trotz Aufstieg der Un-
terschicht nahezu gleich bleiben.35 Ungeachtet der aufholenden Effektivität kom-
pensatorischer Pädagogik, ist sie schon deshalb nötig, um zu verhindern, dass in der
laufenden Expansion des Bildungsprozesses die Unterschichten weiter abgehängt
werden.
Drittens. Die wohl wichtigste Grenze für Förderung zugunsten ChG im Bildungs-
prozess bildet die elterliche Autorität und die Autonomie der Familie. Die Familie
kann in Bildungshinsicht sowohl einschränkende wie fördernde Wirkung auf Kinder
haben, die durch die öffentliche Förderung nicht aufzuheben ist – unterstellt ein gel-
tender Vorrang von Familienautonomie. Dabei behindern manche Familien ein level-
ling up ihrer Kinder durch die Institutionen, während andere ihre Kinder überdurch-
schnittlich fördern und aus der Sicht von ChG ein levelling down benötigten. Das
Behindern der Kinder geschieht bereits durch das gesamte Binnenklima einer Fami-
lie und eines Milieus, mit dem Erwartungen, Ansprüche und Wünsche festgelegt
werden.
Ich gehe davon aus, dass ein levelling down nicht rechtfertigbar ist.36 ChG kann
auf dieser Seite nur durch Verbessern der öffentlichen Schulen angestrebt werden.
Maßnahmen gegen die ihre Kinder behindernden Eltern sind leichter zu rechtferti-
gen, weil Behindern (Schadenzufügen) leichter zu verbieten ist als Fördern (Wohl-

34
S. aber Jencks (Fn. 29); Coleman, J., Equality and Achievement in Education, New York
1990 (eine Sammlung von Artikeln von 1966 – 85), für die USA. Vergleichbare Evaluationen
für Deutschland sind mir nicht bekannt. Zunahmen an Bildungszertifikaten werden angeführt
in Becker, R. (Fn. 25), aber gleichzeitig gilt, dass Bildungsabschlüsse nicht identisch sind mit
Berufserfolg. Nach der in Becker, R./Hadjar, A. (Fn. 9), S. 44, zitierten Literatur wäre der
Zusammenhang sogar gering.
35
Für eine informierende Darstellung in diesem Sinn s. Becker, R. (Fn. 25), S. 100.
36
S. etwa die Diskussion zwischen Swift, A., How Not To be a Hypocrite: School Choice
for the Morally Perplexed Parent, London 2003 und Anderson (Fn. 15) über das Verbot von
Privatschulen. Die Tendenz einer negativ wirkenden Homogenität an Hauptschulen gibt es
vermehrt auch in Deutschland. S. Becker, R. (Fn. 25), S. 92.
150 Anton Leist

tun).37 Aus dem Bisherigen ist vielleicht einsichtig, warum die Ideen von ChG und
Verdienst das beste Begründungsszenario gegenüber den behindernden Eltern dar-
stellt. Einerseits in der Hinsicht, dass es die Verantwortungen klar verteilt, und
zum anderen deshalb, weil die Alternativen noch weniger überzeugen.
Einmal kann den Familien die Unausweichlichkeit von Verdienst in der späteren
Berufskarriere ihrer Kinder plausibel gemacht werden. Dann kann paternalistisch zu-
gunsten des Kinds argumentiert werden, wenn sich die Eltern verweigern. Schließ-
lich kann die Gesamtverantwortung nicht genutzter Chancen (als Angebote) auf die
Familie und das Kind übergehen, wenn keinerlei Maßnahmen zu irgendeinem Erfolg
führen. ChG ist dann gegeben, wird aber nicht genutzt. Insgesamt fordert ChG einen
starken, paternalistischen Eingriff in Familien, der aber die negativen Folgen der pri-
mären Sozialisation meist nicht neutralisieren wird können. Soweit er das nicht kann,
fällt – jedenfalls im Fall von guten Angeboten – die Verantwortung auf die Seite der
Eltern und nicht zu Lasten von ChG!
Die deutschsprachige pädagogische Literatur spricht gegenwärtig wenig von
ChG, und bevorzugt stattdessen Ideale der Anerkennung, Diversität und Integration.
Eine genauere ethische Analyse dieser Ziele ist hier unmöglich. Das Problem dieser
Ansätze, sehr kurzgefasst, besteht darin, dass sie entweder ein Bedürfniskriterium
zugrundelegen oder eine Fähigkeitenliste als Idealzustand präsentieren. Beides igno-
riert die Anforderung Knappheit an Gerechtigkeit und beantwortet deshalb nicht das
eigentliche Desiderat.38 Bedürfnisse und Fähigkeiten, altersgemäß und experimen-
tell entlastet, ohne einen Anreiz durch Verdienst, lassen den Förderprozess orientie-
rungslos werden. Anstatt eine Entwicklung einzuleiten, in der am Ende der zu För-
dernde selbst die Verantwortung für seine Fähigkeiten übernehmen soll, gerät dieses
Ziel zum Nachteil des Kinds aus den Augen.

VI. Fazit
Entkräftet das Eingeständnis, ChG im wörtlichen Sinn gleicher Wahrscheinlich-
keiten oder gleicher Ergebnisse sei unmöglich, nicht doch die Anwendung von Ver-
diensturteilen im Wettbewerb? Ein Rennen, bei dem einer der Läufer unpassende
37
Auch das Fördern ihrer Kinder der Mittel- und Oberschichteltern bedeutet über besagte
Homogenität ein Schadenzufügen für andere Kinder. Die Folgen sind aber zu indirekt, um ein
Verbot zu rechtfertigen.
38
Ablesbar scheint mir das am bei Pädagogen beliebten Begriff der Anerkennung. Aner-
kennung müsste immer als gegenseitig und verdienstvoll verstanden werden, kann aber leicht
auf ein einseitiges Erfüllen von Bedürfnissen reduziert werden. Gegen den Vorschlag der
Suffizienz von Fähigkeiten bzw. einer Schwellenkonzeption der Bildung (s. Stojanov, K.,
Bildungsgerechtigkeit, in: J. Drerup/G. Schweiger (Hrsg.), Handbuch der Philosophie des
Kindes, 2019; Nerowski, Ch., Leistung als Kriterium von Bildungsgerechtigkeit, in: Zeit-
schrift für Erziehungswissenschaft 21, 2018, S. 441 – 464) ist zu bedenken, dass eine Schwelle
der Bildungsexpansion direkt entgegen läuft. (Für Hinweise zur Literatur dankbar bin ich
Hans-Uwe Rösner.)
Gleichheit und/oder Verdienst? 151

Schuhe tragen muss, würde nicht akzeptiert werden. Wieso sollte man den ökonomi-
schen Wettbewerb akzeptieren, wenn ChG nicht herstellbar ist? Entkräften die Sta-
tistiken über bleibende Ungleichheit insbesondere im Bildungsbereich nicht ein
Ethos der ChG, wenn sie es nicht sogar als Ideologie entlarven? Ich denke nicht,
und zwar vorrangig aus zwei Gründen.
Erstens ist zu beachten, dass die individuell nicht kontrollierbaren Unterschiede
an genetischen Fähigkeiten – im Vergleich zu individueller Anstrengung und sozialer
Korrekturmöglichkeit – gering sind. Individuell ist es möglich, seinen Bildungs- und
Berufsweg in die Hand zu nehmen, und sozial ist es möglich, maximal (ohne Schwel-
lenkonzepte) zu fördern. Zweitens schafft der Wettbewerb den Vorteil, dass der in-
dividuelle Erfolg nicht von einer absolut gegebenen Skala, sondern von den Verhal-
tensweisen der anderen abhängt, und im Vergleich sind die Schwächen der einen die
Stärken der anderen. Auch im ökonomischen Wettbewerb, also im Markt, gibt es
viele Teilwettbewerbe und viele verschiedene Erfolgsbedingungen. Die statistisch
belegten Ungleichheiten benennen nie absolute individuelle Barrieren, weshalb
das Erfolgsstreben nicht sinnlos und Erfolg nicht ausgeschlossen ist.
Fatalistische bis zynische Diagnosen nennen ChG und Meritokratie eine integra-
tiv nützliche Illusion, aber eben eine Illusion.39 Wenn die bisherige Darstellung zu-
treffend ist, entsteht die Idee der Verdienstgerechtigkeit funktional unausweichlich.
Hat eine Gesellschaft die abstrakte Idee der Gleichheit einmal übernommen, erfüllt
Meritokratie in der ökonomischen Sphäre am ehesten die Verbindung von Motivation
und Begriff, von Anreiz und Überzeugung. Außerdem missachten solche Diagnosen
das individuelle Bedürfnis auf Selbstbewährung, Selbststeigerung und Selbstach-
tung. Zu den typischen Einwänden gegen Meritokratie seit Young gehört der Verlust
von Selbstachtung bei denen, die im Wettbewerb verlieren und in der Leistungshier-
archie nach unten rutschen. Wenn das eintritt, dann ist es eher ein Zeichen mangeln-
der ChG als ein genereller Makel einer sozial unterstützten Meritokratie. Geschenke
von Talentierteren zu erhalten (Differenzprinzip), die entsprechende Kodierung von
Sozialhilfe, wäre sicher keine Förderung von Selbstachtung. Angesichts der Unaus-
weichlichkeit des Verdienstgedankens kann es nicht darum gehen, Verdienst und
ChG durch blinde Gleichheit zu ersetzen, sondern nur darum, ChG zu radikalisieren
und Verdienst als Sozialmechanismus zu verstärken.

39
Z. B. Jencks (Fn. 33), S. 533; Becker, R./Hadjar, A. (Fn. 9), S. 55.
Kant und Hegel zur Gewaltenteilung im Staat –
Skizze eines Vergleichs1
Von Jan C. Joerden

I. Problemstellung
Zumindest seit Locke (1632 – 1704) und Montesquieu (1689 – 1755) kennt man
den Begriff der Gewaltenteilung, d. h. genauer: einer Trennung der Staatsgewalten
in Legislative, Exekutive und Judikative. Diese Trias ist in den modernen Staaten
so ins Bewusstsein eingedrungen, dass kaum noch gefragt wird, weshalb es genau
drei Gewalten sein sollen, in die sich die Staatsgewalt aufteilt, und weshalb es gerade
diese drei Gewalten sind, auf die es ankommen soll. Man könnte erwägen, z. B. auch
die Gewerkschaften oder die Presse oder die Kirchen als separate Gewalten anzu-
sprechen. Indes sind dies gerade keine Staatsgewalten, sondern gesellschaftliche Ge-
walten im Staat, die sich auch aus guten Gründen unabhängig von staatlicher Führung
entwickeln sollen.
Kant (1724 – 1804) und Hegel (1770 – 1831) äußern sich beide zur Problematik
der Gewaltenteilung in ihren dem Recht gewidmeten Büchern Die Metaphysik der
Sitten (Rechtslehre) (1797) einerseits und Grundlinien der Philosophie des Rechts
(1820) andererseits. Auf den ersten Blick stimmen sie zumindest darin überein,
dass es einer Dreiteilung dieser Gewalten im Staat bedarf, aber wie diese praktisch
werden soll, ist damit noch keineswegs gesagt. Gerade in diesem letzteren Punkt kon-
vergieren die Lehren von Kant und Hegel nicht, was einen Vergleich reizvoll macht.
Doch zunächst sei die Gewaltenteilungslehre von Kant skizziert (II.), um ihr dann
vergleichend die Lehre von Hegel gegenüber zu stellen (III.). Schließlich sollen
neben einem Fazit des Vergleichs auch offen gebliebene Fragen angesprochen wer-
den (IV.).

1
Die nachfolgenden Zeilen widme ich Herrn Kollegen Reinhard Merkel mit herzlichen
Glückwünschen zu seinem 70. Geburtstag.
154 Jan C. Joerden

II. Gewaltenteilung bei Kant


Es gibt Passagen im Werk2 von Kant, die zumindest darauf hindeuten, wie die ein-
gangs aufgeworfenen Fragen zur Trennung und Anzahl der Staatsgewalten wohl von
Kant beantwortet worden wären. Zunächst ist dabei hervorzuheben, dass Kant „jene
drei Gewalten im Staate“ als „Würden“ versteht, die „das Verhältniß eines allgemei-
nen Oberhaupts (der, nach Freiheitsgesetzen betrachtet, kein Anderer als das verei-
nigte Volk selbst sein kann) zu der vereinzelten Menge ebendesselben als Unter-
thans“3 enthalten. (RL, § 47) Daraus folgert er,4 dass „die drei Gewalten im Staate
[…] erstlich einander […] beigeordnet, […]; aber zweitens auch einander unterge-
ordnet“ seien, „so daß eine nicht zugleich die Function der anderen, der sie zur Hand
geht, usurpieren kann, sondern ihr eigenes Princip hat, d. i. zwar in der Qualität einer
besonderen Person, aber doch unter der Bedingung des Willens einer oberen gebietet;
drittens durch Vereinigung beider jedem Unterthanen sein Recht ertheilend.“ (RL,
§ 48)
Weshalb die drei Gewalten getrennt werden müssen, begründet Kant wie folgt:5
„Der Regent des Staats (rex princeps) ist diejenige (moralische oder physische) Per-
son, welcher die ausübende Gewalt (potestas executoria) zukommt […] Als mora-
lische Person betrachtet, heißt er das Direktorium, die Regierung […] Eine Regie-
rung, die zugleich gesetzgebend wäre, würde despotisch zu nennen sein, im Gegen-
satz mit der patriotischen, unter welcher aber nicht eine väterliche (regimen pater-
nale), als die am meisten despotische unter allen (Bürger als Kinder zu
behandeln), sondern vaterländische (regimen civitatis et patriae) verstanden wird,
wo der Staat selbst (civitas) seine Unterthanen zwar gleichsam als Glieder einer Fa-
milie, doch zugleich als Staatsbürger, d. i. nach Gesetzen ihrer eigenen Selbststän-
digkeit behandelt, jeder sich selbst besitzt und nicht vom absoluten Willen eines An-
deren neben oder über ihm abhängt. Der Beherrscher des Volks (der Gesetzgeber)
kann also nicht zugleich der Regent sein; denn dieser steht unter dem Gesetz und
wird durch dasselbe folglich von einem Anderen, dem Souverän, verpflichtet […]
Endlich kann weder der Staatsherrscher noch der Regierer richten. Das Volk richtet
sich selbst durch diejenigen ihrer Mitbürger, welche durch freie Wahl […] dazu er-
nannt werden […] – Es wäre auch unter der Würde des Staatsoberhaupts, den Richter
zu spielen, d. i. sich in die Möglichkeit zu versetzen, Unrecht zu thun, und so in den
Fall der Appellation […] zu gerathen. Also sind es drei verschiedene Gewalten (po-

2
Die Zitate aus Kants Werken sind hier entnommen aus: Immanuel Kant, Metaphysik der
Sitten (1797), zitiert nach der Akademie-Ausgabe (im Folgenden: AA), 1900 ff., Bd. 6, je-
weils nach Seitenzahlen. Hingewiesen wird nachfolgend auch auf die Stellen der in der Me-
taphysik der Sitten enthaltenen Rechtslehre („RL“) bzw. Tugendlehre („TL“), jeweils nach
Paragraphen.
3
Kant, AA 6:315.
4
Kant, AA 6:316.
5
Kant, AA 6:316 ff.
Kant und Hegel zur Gewaltenteilung im Staat 155

testas legislatoria, executoria, iudiciaria), wodurch der Staat (civitas) seine Autono-
mie hat, d. i. sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält […]“ (RL, § 49)
Gerade der letzte Satz dieses Zitats deutet nun aber noch auf eine hinter der Drei-
teilung der Gewalten liegende Begründung für diese hin. Man kann nämlich die
Frage stellen: Wie ist Autonomie eigentlich möglich? Wobei Kant auch hier deutlich
den Bezug zu dem Agieren des Staates nach „Freiheitsgesetzen“ herstellt, das durch
die Dreiteilung der Gewalten im Staat ermöglicht werden soll. Die Frage nach der
Möglichkeit von Autonomie (Selbstgesetzgebung) taucht aber auch schon dann
auf, wenn es nur um das individuelle Handeln einer Person geht. Man muss daher
zunächst fragen: Wie ist Autonomie (bzw. autonomes Handeln) eines Individuums
(bzw. einer Person) möglich? Die Antwort, die Kant auf diese Frage gibt, lässt
sich zwar nicht explizit aus seinen Werken entnehmen, wird aber doch allem An-
schein nach in vielen seiner Schriften vorausgesetzt. Frei handeln kann eine Person
nur dann, wenn sie Regeln anwendet, die sie sich selbst gegeben hat. Wenn sie nun
Regeln bzw. Gesetze (nach Kant insbesondere den Kategorischen Imperativ:
„[H]andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß
sie ein allgemeines Gesetz werde.“)6 anwendet, dann kann sie nicht zugleich in
der Position des Gesetzgebers sein. Vielmehr richtet sich die Person nach ihrer Ver-
nunft, durch die sie die Regeln bzw. Gesetze erkennt, die sie dann anwendet.
Fraglich bleibt aber zunächst, ob diese Regeln denn überhaupt verbindlich und
damit Pflicht sein können, da der Mensch sie doch selbst (mit seiner Vernunft) gesetzt
hat und sich deshalb auch von ihnen ebenso gut wieder selbst sollte entbinden kön-
nen. Kant beantwortet diese Frage so:7 „Der Mensch betrachtet sich in dem Bewußt-
sein einer Pflicht gegen sich selbst, als Subject derselben, in zwiefacher Qualität:
erstlich als Sinnenwesen, d. i. als Mensch (zu einer der Thierarten gehörig); dann
aber auch als Vernunftwesen […] Der Mensch nun, als vernünftiges Naturwesen
(homo phaenomenon) ist durch seine Vernunft, als Ursache, bestimmbar zu Handlun-
gen in der Sinnenwelt, und hiebei kommt der Begriff einer Verbindlichkeit noch nicht
in Betrachtung. Eben derselbe aber seiner Persönlichkeit nach, d. i. als ein mit innerer
Freiheit begabtes Wesen (homo noumenon) gedacht, ist ein der Verpflichtung fähiges
Wesen und zwar gegen sich selbst (die Menschheit in seiner Person) betrachtet.“ (TL,
§ 3) Das heißt, dass man sich allenfalls dadurch (scheinbar) von den (selbst gesetz-
ten) vernünftigen Regeln „entbinden“ kann, dass man gegen sie verstößt, aber jeden-
falls nicht dadurch, dass man sie aufhebt, weil man sich damit unvernünftig verhielte;
und natürlich erhebt Kant den Anspruch, dass ein Mensch sich stets vernünftig ver-
hält und nicht unvernünftig, also nicht gegen die selbst gesetzten (vernünftigen) Re-
geln verstößt.
Wenn die handelnde Person daher einerseits einen Gesetzgeber (Legislative) in
sich birgt, andererseits aber auch die ausführende Instanz (gleichsam die Exekutive)
ist, die die vernünftigen Regeln anwendet, so bedarf es zudem noch einer (dritten)
6
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA 4:421.
7
Kant, AA 6:418.
156 Jan C. Joerden

Instanz, die diese Anwendung der Regeln auf ihre Korrektheit hin überprüft. Diese
Aufgabe erfüllt nach Kants Auffassung das Gewissen, das er mit dem Bewusstsein
eines (inneren) Gerichtshofs vergleicht:8 „Das Bewußtsein eines inneren Gerichtsho-
fes im Menschen (,vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder ent-
schuldigen‘) ist das Gewissen. Jeder Mensch hat Gewissen und findet sich durch
einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respect […] gehalten,
und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst
(willkürlich) macht, sondern es ist seinem Wesen einverleibt. Es folgt ihm wie sein
Schatten, wenn er zu entfliehen gedenkt. […] der Handel ist hier die Führung einer
Rechtssache (causa) vor Gericht.“ (TL, § 13)
Aber Kant erkennt auch hier die Problematik des „Richters über sich selbst“. Er
schreibt dazu:9 „Daß aber der durch sein Gewissen Angeklagte mit dem Richter als
eine und dieselbe Person vorgestellt werde, ist eine ungereimte Vorstellungsart von
einem Gerichtshofe; denn da würde ja der Ankläger jederzeit verlieren. – Also wird
sich das Gewissen des Menschen bei allen Pflichten einen Anderen (als den Men-
schen überhaupt, d. i.) als sich selbst, zum Richter seiner Handlungen denken müs-
sen, wenn es nicht mit sich selbst im Widerspruch stehen soll. Dieser Andere mag nun
eine wirkliche, oder blos idealische Person sein, welche die Vernunft sich selbst
schafft.“ (TL, § 13)
Die Möglichkeit eines solchen Gerichtshofes erörtert Kant in einer Anmerkung:10
„Die zwiefache Persönlichkeit, in welcher der Mensch, der sich im Gewissen anklagt
und richtet, sich selbst denken muß: dieses doppelte Selbst, einerseits vor den
Schranken eines Gerichtshofes, der doch ihm selbst anvertraut ist, zitternd stehen
zu müssen, anderseits aber das Richteramt aus angeborener Autorität selbst in Hän-
den zu haben, bedarf einer Erläuterung, damit nicht die Vernunft mit sich selbst gar in
Widerspruch gerathe. – Ich, der Kläger und doch auch Angeklagter, bin eben derselbe
Mensch (numero idem); aber als Subject der moralischen, von dem Begriffe der Frei-
heit ausgehenden Gesetzgebung, wo der Mensch einem Gesetz unterthan ist, das er
sich selbst giebt (homo noumenon), ist er als ein Anderer als der mit Vernunft begabte
Sinnenmensch (specie diversus), aber nur in praktischer Rücksicht zu betrachten.“
(TL, § 13, Anm.)
Man kann diese Überlegungen Kants wie folgt zusammenfassen: Auch innerhalb
des Menschen, wenn er als Individuum moralisch – und d. h. bei Kant „nach Frei-
heitsgesetzen“ – handeln soll, müssen genau drei Instanzen gedacht werden: ein Ge-
setzgeber (die Vernunft als Legislative), eine die Gesetze ausführende Person
(gleichsam als Exekutive) und schließlich ein Richter (als Judikative), der die rich-
tige Anwendung des moralischen Gesetzes kontrolliert: das Gewissen. Und diese
drei „Gewalten“ müssen als voneinander getrennt gedacht werden (obwohl sie inner-
halb ein und derselben Person aktiv sind), soll es nicht zu Widersprüchen kommen.
8
Kant, AA 6:438.
9
Kant, AA 6:438 f.
10
Kant, AA 6:439 Anm.
Kant und Hegel zur Gewaltenteilung im Staat 157

Was aber für eine Person zutrifft, die „nach Freiheitsgesetzen“ handeln will, muss
erst recht auch auf den Staat zutreffen.11 Die drei Gewalten Gesetzgeber (Legislati-
ve), Regierung (Exekutive) und Gerichte (Judikative) müssen daher auch hier von-
einander getrennt werden. Da es im Unterschied zu der Situation bei einem handeln-
den Individuum aber auch möglich ist, diese drei Gewalten nicht nur gedanklich, son-
dern auch faktisch zu trennen (d. h. auf verschiedene Personen zu verteilen), muss
diese Trennung auch vorgenommen werden, damit der Staat „sich selbst nach Frei-
heitsgesetzen bildet und erhält.“ (RL, § 49)
Sogar Gott verkörpert die Trias der Gewalten, allerdings sind alle drei in ihm
selbst vereinigt, nur in ihrer Funktion differenziert. Kant formuliert dies so:12 „Näm-
lich wir nehmen an, Gott sey das Fundament unserer ganzen Moralität, er sey das
belebende moralische Wesen, in Verhältnis gegen uns als seine Geschöpfe; so
liegt ja hierin eine dreifache Zerteilung dieser idealischen Vorstellung: a) Gott als
heiliger Gesetzgeber, ist Object der Achtung. b) Gott als gütiger Erhalter und Regi-
erer, ist Object der Liebe. c) Gott als gerechter Richter, ist Object der Gottesfurcht.“13
Kant geht demnach auch hier von einer „dreifachen Zerteilung dieser idealischen
Vorstellung“ von Gott aus, aber anders als im Staat und im Menschen ist es nicht not-
wendig, den Gewalten voneinander unabhängige, getrennte Rollen zuzuweisen, weil
Gott natürlich schon von sich aus die jeweils richtige Gewalt und diese auch zutref-
fend anwenden wird.14
Diesen Überlegungen fügt Kant nun noch eine strukturierende Überlegung hinzu,
indem er die Gewaltenteilung (im Staat) mit einem praktischen Syllogismus ver-

11
Zu dieser Parallele vgl. auch Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 2007,
S. 309 ff. Weitere Nachweise bei Joerden, „Das Prinzip der Gewaltenteilung als Bedingung
der Möglichkeit eines freiheitlichen Staatswesens“, Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 1,
1993, S. 207 ff.; ders., Staatswesen und rechtsstaatlicher Anspruch, 2008, S. 33 ff., 37 ff.;
siehe auch jüngst Michael Köhler, Recht und Gerechtigkeit. Grundzüge einer Rechtsphiloso-
phie der verwirklichten Freiheit, 2017, S. 696 ff.
12
Kant, Vigilantius-Nachschrift, AA 27.2.1:721. Eine ähnliche Passage findet sich auch in
Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA 6:139; vgl. zu dieser Stelle
und allgemein zur Gewaltenteilung bei Kant auch Peter Unruh, Die Herrschaft der Vernunft.
Zur Staatsphilosophie Immanuel Kants, 2. Aufl., 2016, S. 258 ff., 267 m.w.N.
13
In seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft schreibt Kant:
„[…], daher diese dreifache Qualität des moralischen Oberhaupts des menschlichen Ge-
schlechts in einem und demselben Wesen vereinigt gedacht werden kann, die in einem juri-
disch-bürgerlichen Staate nothwendig unter drei verschiedenen Subjecten vertheilt sein
müsste.“ (AA 6:140). Er weist auch darauf hin, dass die „Idee“ der Dreiteilung („drei göttliche
Personen“) in „viele[n] alte[n] Völker[n]“ anzutreffen sei, weil sie in der „allgemeinen Men-
schenvernunft“ liege, „wenn man sich eine Volks- und (nach der Analogie mit derselben) eine
Weltregierung denken will.“ (AA 6:140 2. Anm.).
14
In der Kritik der praktischen Vernunft heißt es bei Kant über Gott u. a., dass er „denn also
auch der heilige Gesetzgeber (und Schöpfer), der gütige Regierer (und Erhalter) und der
gerechte Richter [ist]: drei Eigenschaften, die alles in sich enthalten, wodurch Gott der Ge-
genstand der Religion wird, und denen angemessen die metaphysischen Vollkommenheiten
sich von selbst in der Vernunft hinzu fügen.“ (AA 5:131 Anm.)
158 Jan C. Joerden

gleicht. Er schreibt dazu:15 „Ein jeder Staat enthält drei Gewalten in sich, d. i. den
allgemein vereinigten Willen in dreifacher Person (trias politica): die Herrscherge-
walt (Souveränität) in der des Gesetzgebers, die vollziehende Gewalt in der des Re-
gierers (zu Folge dem Gesetz) und die rechtsprechende Gewalt (als Zuerkennung des
Seinen eines jeden nach dem Gesetz) in der Person des Richters (potestas legislato-
ria, rectoria et iudiciaria) gleich den drei Sätzen in einem praktischen Vernunft-
schluß: dem Obersatz, der das Gesetz jenes Willens, dem Untersatz, der das
Gebot des Verfahrens nach dem Gesetz, d. i. das Princip der Subsumtion unter den-
selben, und dem Schlußsatz, der den Rechtsspruch (die Sentenz) enthält, was im vor-
kommenden Falle Rechtens ist.“
Offenbar geht es Kant hier darum, einerseits die durchgängige Bestimmung des
Staatsverhaltens durch Gesetze zu gewährleisten, da im Obersatz (praemissa maior)
des Syllogismus der Gesetzgeber steht und damit die (allgemeinen) Gesetze auch in
dem gesamten Syllogismus die entscheidende Rolle spielen. Souverän ist dabei das
Volk, das gerade die Gesetze über alle einzelnen Bürger gleichermaßen wirksam be-
schließt, sofern diese Gesetze von allen Bürgern prinzipiell akzeptiert werden kön-
nen, was durch ihre Übereinstimmung mit dem kategorischen Imperativ gewährleis-
tet werden soll. Die Exekutive wendet dann diese Gesetze an, wodurch die Gefahr
von reinen Willkürentscheidungen weitgehend gebannt wird. Die Exekutive steht
deshalb als Untersatz (praemissa minor) in dem hier relevanten Syllogismus. Die
Rechtsprechung schließlich prüft, ob die Gesetze auch im Einzelfall richtig ange-
wendet werden und stellt damit die Rechtmäßigkeit (bzw. Unrechtmäßigkeit) des
Staatsgebarens jeweils konkret fest. Sie hat damit gewissermaßen die Rolle des (Ver-
nunft-) Schlusses (conclusio) im besagten (praktischen) Syllogismus.
Man kann die hier skizzierten Überlegungen Kants zur Gewaltenteilung nunmehr
in einer Tabelle zusammenfassen, die in Abb. 1 wiedergegeben wird.

Handelnde Person Staat Gott


praemissa Vernunft Gesetzgeber Heiliger Gesetzgeber Legislative
maior
praemissa Anwender des Gesetzes Regierung Erhalter und Regierer Exekutive
minor
Conclusio Gewissen Gerichte Gerechter Richter Judikative
Abbildung 1: Trias der Gewalten bei Kant

15
Kant, AA 6:313; vgl. auch Zum ewigen Frieden, AA 8:352. – Dazu dass und warum der
Gedanke der Gewaltenteilung auf die Ebene des Völkerrechts (gerade unter Zugrundlegung
der Lehre Kants zum Völkerrecht) nicht einfach übertragen werden kann, instruktiv Reinhard
Merkel, „,Lauter leidige Tröster‘. Kants Friedensschrift und die Idee eines Völkerstrafge-
richtshofs“, in: ders./Roland Wittmann (Hrsg.), „Zum ewigen Frieden“. Grundlagen, Aktua-
lität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant, Frankfurt a.M. 1996, S. 309 ff., 313 f.
Kant und Hegel zur Gewaltenteilung im Staat 159

III. Gewaltenteilung bei Hegel


Hegel wendet sich demgegenüber explizit gegen die Gewaltenteilungslehre, wie
sie von Locke, Montesquieu und Kant entwickelt wurde, indem er sie der Sache nach
als Staatsauffassung im Rahmen eines „mechanischen bzw. maschinellen Zentralis-
mus“16 charakterisiert. Er fasst seine Kritik an der überkommenen Lehre wie folgt
zusammen:17 „Das Prinzip der Teilung der Gewalten enthält nämlich das wesentliche
Moment des Unterschiedes, der realen Vernünftigkeit; aber wie es der abstrakte Ver-
stand faßt, liegt darin teils die falsche Bestimmung der absoluten Selbständigkeit der
Gewalten gegeneinander, teils die Einseitigkeit, ihr Verhältnis zu einander als ein ne-
gatives, als gegenseitige Beschränkung aufzufassen. In dieser Ansicht wird es eine
Feindseligkeit, eine Angst vor jeder, was jede gegen die andere als gegen ein
Übel hervorbringt, mit der Bestimmung, sich ihr entgegenzusetzen und durch
diese Gegengewichte ein allgemeines Gleichgewicht, aber nicht eine lebendige Ein-
heit zu bewirken. Nur die Selbstbestimmung des Begriffs in sich, nicht irgend andere
Zwecke und Nützlichkeiten, ist es, welche den absoluten Ursprung der unterschie-
denen Gewalten enthält, und um deretwillen allein die Staats-Organisation als das
in sich Vernünftige und das Abbild der ewigen Vernunft ist. – Wie der Begriff,
und dann in konkreter Weise die Idee sich an ihnen selbst bestimmen und damit
ihre Momente abstrakt der Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelnheit setzen,
ist aus der Logik, – freilich nicht der sonst gäng und gäben – zu erkennen. Überhaupt
das Negative zum Ausgangspunkt zu nehmen, und das Wollen des Bösen und das
Mißtrauen dagegen zum Ersten zu machen, und von dieser Voraussetzung aus nun
pfiffigerweise Dämme auszuklügeln, die Einheit als eine Wirksamkeit nur gegensei-
tiger Dämme zu begreifen, charakterisiert dem Gedanken nach den negativen Ver-
stand und der Gesinnung nach die Ansicht des Pöbels […]. Mit der Selbständigkeit
der Gewalten, z. B. der, wie sie genannt worden sind, exekutiven und der gesetzge-
benden Gewalt, ist, wie man dies auch im großen gesehen hat, die Zertrümmerung
des Staats unmittelbar gesetzt oder, insofern der Staat sich wesentlich erhält, der
Kampf, daß die eine Gewalt die andere unter sich bringt, dadurch zunächst die Ein-
heit, wie sie sonst beschaffen sei, bewirkt und so allein das Wesentliche, das Bestehen
des Staates rettet.“ (R, § 272)
Damit bringt Hegel sinngemäß zum Ausdruck, dass eine wechselseitige Entge-
genstellung der (klassischen) drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative
für einen Staat gefährlich werden könnte, weil die drei Gewalten – stellt man sie
sich im herkömmlichen Sinne getrennt vor – in ständigem Streit über ihre Kompe-
tenzen liegen müssten, was sich zum Schaden des Staates auswirken würde. Hegel
vertraut demgegenüber einem Begriff des Staates, der sich in allen seinen Gliederun-

16
Vgl. Ludwig Siep, „Hegels Theorie der Gewaltenteilung“, in: Hans-Christian Lucas/Otto
Pöggeler (Hrsg.), Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfas-
sungsgeschichte, 1986, S. 387 ff., 406 m.w.N.
17
Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (im Folgenden:
„R“), Hauptwerke in sechs Bänden, Bd. 5, 1999, S. 234 f.
160 Jan C. Joerden

gen mit legislativen, exekutiven und judikativen Fragen beschäftigen müsse. In die-
sem Sinne ist die Gewalten„teilung“18 letztlich eine Problematik, die alle Staatsor-
gane betreffen muss. Das Staatshandeln insgesamt weist dann die unterschiedlichen
Gewalten eher als „Momente“19 bzw. als „substantielle Unterschiede“20 auf, nicht
aber mehr als getrennte Entitäten. Es geht Hegel mithin um ein (freiheitliches) Staats-
handeln, wie es sich begrifflich verstehen lässt. Er schreibt dazu im Hinblick auf die
staatlichen Gewalten:21 „Der politische Staat dirimiert22 sich somit in die substanti-
ellen Unterschiede: a) der Gewalt, das Allgemeine zu bestimmen und festzusetzen, –
der gesetzgebenden Gewalt, b) der Subsumtion der besonderen Sphären und einzel-
nen Fälle und das Allgemeine, – der Regierungsgewalt, c) der Subjektivität als der
letzten Willensentscheidung, der fürstlichten Gewalt, – in der die unterschiedenen
Gewalten zur individuellen Einheit zusammengefaßt sind, die also die Spitze und
der Anfang des Ganzen, – der konstitutionellen Monarchie, ist.“ (R, § 273)
Wie man sieht, wird von Hegel durchaus an der legislativen Gewalt (gesetzgeben-
de Gewalt) und an der exekutiven Gewalt (Regierungsgewalt) festgehalten, aber als
gewissermaßen funktionale Unterschiede des staatlichen Handelns. Die judikative
Gewalt (rechtsprechende Gewalt) allerdings tritt in den Hintergrund und wird zu
einem bloßen Teil der Regierungsgewalt.23 Als dritte Gewalt nennt Hegel vielmehr
die „fürstliche Gewalt“, die er für notwendig hält, um die „unterschiedlichen Gewal-
ten zur individuellen Einheit“ zusammen zu fassen.24 Die „fürstliche Gewalt“ ist
damit „die Spitze und der Anfang des Ganzen, – der konstitutionellen Monarchie.“25
Hier wird deutlich, dass Hegel die Verfassung des Staates eher mit einem – wie er
selbst formuliert – „organischen“26 Geschehen vergleicht als mit einer konstruierten

18
Zu Recht hebt Siep, a.a.O. (Fn. 16), S. 387, hervor, dass bei Hegel „im Grunde schon der
Begriff der ,Teilung‘ mit Vorsicht zu benutzen ist“.
19
Vgl. Hegel, a.a.O. (Fn. 17), S. 236.
20
Vgl. Hegel, a.a.O. (Fn. 17), S. 235.
21
Hegel, a.a.O. (Fn. 17), S. 235.
22
Älterer Ausdruck für: trennen, entfremden, (sich) lösen. Vgl. Duden, Bd. 5, Fremdwör-
terbuch, 1997.
23
Vgl. Hegel, a.a.O. (Fn. 17), § 287, S. 253: „Dies Geschäft der Subsumtion überhaupt
begreift die Regierungsgewalt in sich, worunter ebenso die richterlichen und polizeilichen
Gewalten begriffen sind, welche unmittelbarer auf das Besondere der bürgerlichen Gesell-
schaft Beziehung haben und das allgemeine Interesse in diesen Zwecken geltend machen.“
24
Hegel, a.a.O. (Fn. 17), § 273 c), S. 235, obiges Zitat.
25
Hegel, ebd.
26
Hegel fasst die Beziehung zwischen dem Organismus (des Staates) und der Gewalten-
teilung in folgende Worte: „Ihren besonders bestimmten Inhalt nimmt die Gesinnung aus den
verschiedenen Seiten des Organismus des Staats. Dieser Organismus ist die Entwickelung der
Idee zu ihren Unterschieden und zu deren objektiver Wirklichkeit. Diese unterschiedenen
Seiten sind so die verschiedenen Gewalten und deren Geschäfte und Wirksamkeiten, wodurch
das Allgemeine sich fortwährend, und zwar indem sie durch die Natur des Begriffes bestimmt
sind, auf notwendige Weise hervorbringt, und indem es ebenso seiner Produktion vorausge-
setzt ist, sich erhält; – dieser Organismus ist die politische Verfassung.“ R, § 269; Hegel,
Kant und Hegel zur Gewaltenteilung im Staat 161

Maschine, wobei er letztere Vorstellung wohl eher (in kritischer Absicht) der klas-
sischen Gewaltenteilungslehre zuschreiben würde. Hegels Staatskonzept erinnert
daher an die antike Vorstellung vom Staat als Körper, in dem die einzelnen „Organe“
und „Glieder“ als Teile einer Einheit funktionieren.27 Später spricht Hobbes (1588 –
1679) in Bezug auf den Staat vom „Leviathan“ (mythologisch: Drache, Ungeheuer)
im Sinne eines allmächtigen Staates, eine Version des Staatsverständnisses, der ähn-
liche Vorstellungen zugrundeliegen. Insofern passt es dann durchaus ins Bild, wenn
Hegel die These vertritt, dass die konstitutionelle Monarchie eine erbliche Monar-
chie sein müsse, indem er ausführt:28 „Dieses letzte Selbst des Staatswillens ist in
dieser seiner Abstraktion einfach und daher unmittelbare Einzelnheit; in diesem Be-
griffe selbst liegt hiermit die Bestimmung der Natürlichkeit; der Monarch ist daher
wesentlich als dieses Individuum, abstrahiert von allem anderen Inhalte, und dieses
Individuum auf unmittelbare natürliche Weise, durch die natürliche Geburt, zur
Würde des Monarchen bestimmt.“ (R, § 280) Ob diese Ableitung der Erbmonarchie
plausibel ist, muss hier offen bleiben. Die Möglichkeit einer Wahlmonarchie schließt
Hegel jedenfalls mit dieser Argumentation von vornherein aus.
In § 273 der Grundlinien der Philosophie des Rechts steht die „fürstliche Gewalt“
bei der Auflistung der Gewalten zunächst noch an dritter Stelle (nach der gesetzge-
benden Gewalt und der Regierungsgewalt), wird dann aber in den Erläuterungen ab
§ 275 als erste diskutiert. Hegel schreibt:29 „Die fürstliche Gewalt enthält selbst die
drei Momente der Totalität in sich (§ 272), die Allgemeinheit der Verfassung und der
Gesetze, die Beratung als Beziehung des Besonderen auf das Allgemeine, und das
Moment der letzten Entscheidung als der Selbstbestimmung, in welche alles Übrige

a.a.O. (Fn. 17), S. 219 f. Vgl. auch: „Die politische Verfassung ist fürs erste: die Organisation
des Staates und der Prozeß seines organischen Lebens in Beziehung auf sich selbst, in welcher
er seine Momente innerhalb seiner selbst unterscheidet und sie zum Bestehen entfaltet […]“
(R, § 271; Hegel, a.a.O. (Fn. 17), S. 233. Weitere Hinweise zur Verwendung der Organismus-
Metapher bei Hegel s. bei Ludwig Siep, a.a.O. (Fn. 16), S. 405 ff., die auch zeigen, dass Hegel
zwar von einem „ontologischen Grundbegriff des ,Lebens‘“ (Siep, S. 405) ausgeht, aber nicht
nur einen schlichten Organismus des Leibes, sondern wohl eher den natürlichen Entwick-
lungsprozess meint, bei dem die einzelnen Glieder im Staat funktional zusammenwirken und
sich dabei die Gewaltenteilung als Strukturelement dieser Zusammenarbeit ausprägt. Bei Siep,
a.a.O., auch Überlegungen zu Hegels Vorschlägen zur sog. vertikalen Gewaltenteilung, auf die
hier nicht weiter eingegangen werden kann. Vgl. außerdem zur Organismus-Metapher in
Hegels Staatsphilosophie auch Schnädelbach, Die Verfassung der Freiheit (§§ 272 – 340), in:
Ludwig Siep (Hrsg.), G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 4. Aufl., 2017,
S. 261 ff., 263 ff.
27
Erinnert sei hier an die Legende über den Auszug der Plebejer aus Rom, während dessen
der damalige Konsul eine Rückkehr der Plebejer mit Hilfe der Metapher von den verschie-
denen Gliedern des Körpers bewirkte. Er machte den Plebejern klar, dass die einzelnen
Glieder nur zusammen den Menschen (und damit ihre eigene Existenz) erhalten könnten,
weshalb die Plebejer im eigenen Interesse wieder nach Rom zurückkehren müssten. Vgl. dazu
auch Herbert Schnädelbach, a.a.O. (Fn. 26), S. 264.
28
Hegel, a.a.O. (Fn. 17), § 280, S. 247.
29
Hegel, a.a.O. (Fn. 17), S. 240. – Zur Verwendung dieser „Momente der Totalität“ bei
Hegel zur Strukturierung der Gewaltenteilung vgl. auch Siep, a.a.O. (Fn. 16), S. 412 ff.
162 Jan C. Joerden

zurückgeht, und wovon es den Anfang der Wirklichkeit nimmt. Dieses absolute
Selbstbestimmen macht das unterscheidende Prinzip der fürstlichen Gewalt als sol-
cher aus, welches zuerst zu entwickeln ist.“ (R, § 275)
Damit wird aber auch klar, dass der Satz „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“
(vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 2 Grundgesetz) jedenfalls mit der Staatskonzeption von Hegel
kaum in Einklang zu bringen sein dürfte. (Anders als bei Kants Konzeption, die nach-
gerade voraussetzt, dass der Gesetzgeber das „vereinigte Volk“ ist.30) Bei Hegel ist
der Monarch derjenige, von dem (nahezu) alle Gewalt im Staate ausgeht. Das Volk
spielt allenfalls im Rahmen der gesetzgebenden Gewalt als „ständisches Element“
eine Rolle neben dem von Hegel zunächst genannten monarchischen Moment,
„dem die höchste Entscheidung zukommt,“ und dem danach genannten Moment
der Regierungsgewalt. (R, § 301)31
Hegel erwähnt in § 27232 die für die Begriffsbildung aus seiner Sicht wichtige
Logik der Unterscheidung (und des Zusammenhangs) von „Allgemeinheit, Beson-
derheit und Einzelnheit“. Diese Momente sind nach Hegel aber nicht etwa parallel
zu den von Kant erwähnten Stufen des praktischen Syllogismus zu sehen, sondern
folgen einem eigenen Konzept, das diese Momente auch in den drei Gewalten im
Staate wirksam sein lässt: Die Gesetzgebung ist die Gewalt, die „das Allgemeine
zu bestimmen und festzusetzen“ hat (§ 273 a). Die Regierungsgewalt verbindet
nun durch Subsumtion bei der Anwendung der Gesetze das Besondere mit dem All-
gemeinen (§ 273 b).33 Der fürstlichen Gewalt kommt die „Subjektivität der letzten
Willensentscheidung“ zu, in der die „unterschiedlichen Gewalten zur individuellen
Einheit zusammengefasst sind.“ (§ 273 c) Offenkundig steht der Fürst primär für den
Aspekt der „Einzelnheit“; zugleich aber soll er alle drei der genannten Momente (All-
gemeinheit, Besonderheit und Einzelnheit) in sich vereinen, wenn er die „letzte Wil-
lensentscheidung“ trifft.
Das ist nur schwer zu verstehen; man könnte die Vorstellung Hegels aber zumin-
dest annähernd durch Vergleich mit einem Syllogismus (des Modus Barbara) inter-
pretieren, den Hegel zwar (in der Variante des praktischen Syllogismus, wie Kant ihn
bei der Gewaltenteilung verwendet; s. o.) ablehnt, aber inzident doch zu verwenden
scheint: Die erste Prämisse des Syllogismus enthält die allgemeine Aussage („Alle
Menschen sind sterblich“), die zweite Prämisse die in der allgemeinen Aussage ih-
rerseits enthaltene besondere Aussage („Alle Wissenschaftler sind Menschen“) und
schließlich die Konklusion des „Subsumtionsschlusses“ von der ersten Prämisse über
die zweite Prämisse zum Ergebnis des Syllogismus („Also sind auch alle Wissen-
schaftler sterblich“).

30
Vgl. Kant, Zitat aus RL, § 47 am Beginn des obigen Abschnitts II.
31
Vgl. Hegel, a.a.O. (Fn. 17), S. 261.
32
Hegel, a.a.O. (Fn. 17), S. 235, obiges Zitat im Haupttext bei Fn. 16.
33
Hegel, a.a.O. (Fn. 17), S. 235: „Subsumtion der besonderen Sphären und einzelnen
Fälle“.
Kant und Hegel zur Gewaltenteilung im Staat 163

Hegels Lehre der Aufgliederung der Staatsgewalten ließe sich daher wie in Abb. 2
wiedergegeben zusammenfassen.34

Staat
Allgemeinheit Gesetzgebende Gewalt Legislative
Besonderheit Regierungsgewalt Exekutive (incl. Judikative)
Einzelnheit Fürstliche Gewalt
Abbildung 2: Trias der Gewalten bei Hegel

IV. Fazit und offengebliebene Fragen


Die Lehren zur Gewaltenteilung von Kant und Hegel sind schon deshalb nur
schwer miteinander zu vergleichen, weil sie offenkundig von unterschiedlichen Vor-
aussetzungen ausgehen. Während Kant im Wesentlichen einen praktischen Syllogis-
mus hinter dem Gedanken, die Staatsgewalten zu trennen, annimmt und auf dieser
Basis zu einer strikten Trennung der Staatsgewalten – auch personell – kommt,
sieht Hegel die Gewalten, die er nur in Anlehnung an die klassische Theorie ähnlich
bezeichnet (von der so bei Kant nicht thematisierten „fürstlichen Gewalt“ abgese-
hen), demgegenüber eher als Momente des Staatsbegriffs, die in ihren spezifischen
Funktionen in allen Bereichen des Staatshandelns wiederkehren. Während die Theo-
rie von Kant relativ klar zu sein scheint, treten bei Hegel anscheinend auch Parado-
xien auf.35
Beide Autoren haben aber – neben der Verwendung von weitgehend einheitlicher,
aus der Antike überkommener Terminologie hinsichtlich der Bezeichnung der Ge-
walten – durchaus auch inhaltliche Übereinstimmungen. So etwa hinsichtlich der
Kritik an dem heute weit verbreiteten, aus dem angelsächsischen Raum stammenden

34
Da Hegel nicht weiter explizit auf den Zusammenhang der Gewaltenteilungslehre mit
dem (moralisch) handelnden Menschen und mit Gott eingeht, finden sich – anders als in
Abb. 1 – hierzu in Abb. 2 keine weiteren Hinweise. – Zu Abb. 2 ist noch anzumerken, dass die
waagerechten Linien hier (nach Hegel) gleichsam nur die begrifflichen Momente im Staats-
organismus gegen einander abgrenzen, nicht aber – wie noch in Abb. 1 zu Kants Lehre – eine
auch personelle Trennung der Gewalten symbolisieren. – Welche weiteren Schlüsse sich im
Hinblick für die Darstellung in dieser Tabelle im Hinblick auf Gott daraus ziehen lassen, dass
Hegel den Staat letztlich als den „erscheinenden Gott“ (Hegel, Phänomenologie des Geistes,
Hauptwerke in sechs Bänden, Bd. 2, 1999, S. 362) bzw. als „absoluten Geist“ versteht (vgl.
z.B. Georgi Schischkow, Hegel, in: Philosophisches Wörterbuch, 1978, S. 254), lasse ich hier
offen; vgl. auch Hegel: „Der Staat ist göttlicher Wille als gegenwärtiger, sich zur wirklichen
Gestalt und Organisation einer Welt entfaltender Geist.“ R, § 270, Hegel, a.a.O. (Fn. 17),
S. 222.
35
Vgl. auch Siep, a.a.O. (ob. Fn. 16), S. 387, der schon im Einleitungssatz seines Aufsatzes
schreibt: „Wer sich mit Hegels Theorie der Gewaltenteilung beschäftigt, sieht sich einer Reihe
von Paradoxen gegenüber.“ Vgl. weiterhin ders., S. 389 oben.
164 Jan C. Joerden

Gedanken, dass die Gewaltenteilung eher als ein nutzenorientiertes Prinzip von „ba-
lance of powers“ bzw. „checks and balances“ verstanden werden sollte. Dass ein sol-
cher primär utilitaristischer Ansatz für Kant nicht akzeptabel wäre, bedarf keiner be-
sonderen Hervorhebung; aber auch Hegel lehnt ein solches Argumentieren offenkun-
dig ab, das er als „pfiffigerweise Dämme auszuklügeln“ ironisiert und kritisiert.36 Für
beide Autoren steht die begriffliche Konstruktion des Staatshandelns im Vordergrund
der Überlegungen.
Es ist aber nun auch nicht so, dass man sich einfach für eines der beiden Gewal-
tenteilungskonzepte entscheiden könnte. Dazu lassen sie jeweils zu viele Fragen
offen, die aber immerhin durch einen Vergleich der beiden Konzepte deutlicher zu
Tage treten. So fragt sich bei Kants Konzept, wer eigentlich entscheiden soll,
wenn sich die Gewalten einmal in der Behandlung einer für die Staatsverfassung re-
levanten Frage uneins sein sollten. Scheinbar wird diese Frage bei Kant damit beant-
wortet, dass die drei Gewalten eben ganz unterschiedliche Aufgaben haben (Gesetz-
gebung, Ausführen der Gesetze, Rechtsprechung), so dass es schon deshalb gar nicht
zu dem von Hegel befürchteten Streit zwischen den Gewalten kommen kann. Denn
jede Gewalt ist ja in den Aufgaben, die sie zu erfüllen hat, letztentscheidend und im
Übrigen, d. h. bei den anderen beiden Aufgaben, den jeweils zuständigen anderen
Gewalten „untergeordnet“.37
Zu Recht macht Hegel aber darauf aufmerksam, dass z. B. der Gesetzgeber auch
schon die Subsumtion von möglichen Einzelfällen unter das Gesetz im Auge behal-
ten muss, obwohl dies eigentlich (nach Kant) eine genuine Aufgabe (nur) der Recht-
sprechung ist. Ähnliches gilt für die ausführende Gewalt, die die Gesetze ja (richtig)
anwenden soll. Hier kann es also durchaus zu inhaltlichen Konflikten zwischen den
Gewalten kommen (Wie ist etwa ein Begriff in der Verfassung auszulegen?), und bei
Kant wird – wie schon angedeutet – nicht wirklich klar, wer dann letztentscheidend
sein soll. Kant bezeichnet zwar die Legislative („das vereinigte Volk selbst“) als „Be-
herrscher des Volks (der Gesetzgeber)“38, doch wäre zu klären, wie das „vereinigte
Volk“ sich im Hinblick auf eine solche Streitfrage sollte artikulieren können; durch
einen Parlamentspräsidenten, durch einen Monarchen, durch ein Verfassungsge-
richt?39
Eine strikte Gewaltenteilung, wie Kant sie begründet, hätte zudem Probleme
damit zu erklären, weshalb ein Rechtsstaat anscheinend auch ganz gut mit gewissen
Überschneidungen der Gewalten und deren Aufgaben zurechtkommen kann. Um nur
36
Vgl. etwa das Zitat im Haupttext bei Fn. 17.
37
Vgl. Kant, a.a.O. (Zitat im Haupttext bei Fn. 4).
38
Vgl. Kant, a.a.O. (Zitate im Haupttext bei Fn. 3 und 5), wobei hier erkennbar nicht nur
die Souveränität nach außen, sondern primär die Souveränität nach innen gemeint ist.
39
Weder Kant noch Hegel kennen die Institution eines Verfassungsgerichts. Einmal ganz
abgesehen davon, dass das Verfassungsgericht seinerseits eine ambivalente Stellung im Rah-
men der Gewaltenteilungstheorie von Kant haben müsste, jedenfalls dann, wenn es – wie in
Deutschland das Bundesverfassungsgericht – zwar durchaus rechtsprechende, aber zum Teil
auch gesetzgebende Funktionen wahrzunehmen hat.
Kant und Hegel zur Gewaltenteilung im Staat 165

das Beispiel Deutschlands zu nennen, wo es etwa dadurch zu Durchbrechungen des


Gewaltenteilungsprinzips kommt, dass viele Beamte als Parlamentarier an der Ge-
setzgebung mitwirken, obwohl sie als Beamte natürlich der Exekutive zuzurechnen
sind. Zwar sind sie vorübergehend beurlaubt, ihre Loyalität gilt aber möglicherweise
doch eher der Exekutive, aus der sie kommen und in die sie nach dem Auslaufen ihres
Mandats regelmäßig zurückkehren, als der Legislative; zumindest könnte insoweit
ein Anschein von Befangenheit entstehen.
Ähnliche Probleme bei der Abgrenzung der Gewalten ergeben sich unter dem Ein-
druck und der Herausforderung sich relativ schnell ändernder Lebensverhältnisse
(man denke nur an die Entwicklungen der Medizintechnik). Hier erscheint es ange-
messen, die Exekutive in die Lage zu versetzen, auch allgemeine Regeln aufzustel-
len, zumindest dann, wenn gesetzlich dafür eine Ermächtigungsgrundlage bereitge-
stellt worden ist, weil dann schneller auf neue Entwicklungen in Umwelt und Gesell-
schaft reagiert werden kann. Im deutschen Rechtssystem gibt es bekanntlich eine sol-
che Befugnis der Exekutive (Verwaltung), allgemeine Rechtsregeln aufzustellen, wie
sie eigentlich bei klarer Gewaltentrennung nur der Legislative zustehen sollte, und
zwar (bei Vorliegen einer entsprechenden gesetzlichen Ermächtigung) im Hinblick
auf den Erlass sog. Rechtsverordnungen (z. B. Straßenverkehrsordnung) und sog.
Allgemeinverfügungen (z. B. Verkehrsschilder). Hegel könnte solche Überschrei-
tungen der Grenzen zwischen den Gewalten zweifellos besser akzeptieren als
Kant, dessen Konzept die Verlagerung von quasi-gesetzgebenden Aufgaben auf
die Exekutive kaum zulassen könnte.
Anderseits ist bei Hegel vor allem die Rolle der von ihm so genannten „fürstlichen
Gewalt“ problematisch.40 Schon systematisch leuchtet es nicht recht ein, weshalb die
fürstliche Gewalt einerseits erst als dritte der Gewalten in der (fortschreitenden)
Reihe von „Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelnheit“41 stehen und andererseits
zugleich „die Spitze und der Anfang des Ganzen“42 (gemeint ist mit dem Ganzen
wohl der Begriff des Staates bzw. der Staat selbst) sein soll. Skeptisch stimmt
auch, dass Hegel hier nur das Modell einer konstitutionellen Monarchie vor
Augen zu haben scheint und jedenfalls eine im modernen Sinne parlamentarische
Demokratie nicht mit seiner Konzeption vereinbar sein dürfte.43 Der Verdacht,
dass Hegels Modell sogar zur Strukturierung einer autokratischen Staatsverfassung
genutzt werden könnte, erhärtet sich noch, wenn man seine vehemente Verteidigung
der Erblichkeit der Monarchie in Rechnung stellt. Es mag zwar sein, dass Hegel sich
ein Modell des Staates vorgestellt hat, wie wir es heute aus Großbritannien kennen,
40
Zur kritischen Auseinandersetzung mit Hegels Konzept der „fürstlichen Gewalt“ vgl.
auch Schnädelbach, a.a.O. (Fn. 26), S. 266 ff., sowie weiterführend zu den anderen Gewalten
in Hegels Lehre auf S. 269 ff. („Regierungsgewalt“) und auf S. 271 ff. („gesetzgebende Ge-
walt“), jeweils m.w.N.
41
Vgl. Hegel, a.a.O. (Zitat im Haupttext bei Fn. 32).
42
Vgl. Hegel, a.a.O. (Zitat im Haupttext bei Fn. 25).
43
Wie schon kurz erwähnt, spielt die Bevölkerung nur im Rahmen von Ständevertretungen
eine begrenzte Rolle; vgl. Hegel, a.a.O., S. 261.
166 Jan C. Joerden

d. h. mit konstitutioneller (Erb-)Monarchie und einer nicht durchgängig gewaltentei-


ligen Staatsverfassung, doch bliebe dann unverständlich, weshalb er sich so klar
gegen ein Konzept von „balance of powers“ bzw. „checks and balances“ zu stellen
scheint, anstatt dies nach Maßgabe seiner begrifflichen Rekonstruktion des Staates
zumindest in seine Theorie zu integrieren.
Mithin bleiben in den Konzepten von Kant und Hegel zur Gewaltenteilung noch
eine ganze Reihe von Fragen offen, die der Diskussion und Beantwortung harren,
wenn eine konsistente Theorie der Gewaltenteilung entstehen soll.
Thomas Dunson und Ethan Edwards
im Lichte von Immanuel Kant und Carl Schmitt
Von Kurt Bayertz und Thomas Gutmann

Wir beginnen mit Thomas Dunson und erinnern kurz an einige wichtige Stationen
seiner Geschichte, bevor wir dann auf Ethan Edwards zu sprechen kommen. Das
Handeln beider werden wir mit Hilfe einiger Theoriestücke vor allem von Immanuel
Kant und Carl Schmitt näher beleuchten und rechtsphilosophisch würdigen.

I. Thomas Dunsons Landnahme


Im Jahre 1851 hatte sich Dunson gemeinsam mit seinem Adlatus Nadine Groot
einem großen Wagentreck angeschlossen, der von St. Louis nach Kalifornien auf-
brach. Als der Treck nach drei Wochen die texanische Nordgrenze erreicht, löst
sich Dunson aus der sich westwärts bewegenden langen Wagenkolonne und biegt
nach Süden ab, um sich in Nordtexas niederzulassen und eine Rinderfarm zu grün-
den. Schon bald werden sie gewahr, daß der Treck, den sie eben verlassen haben, von
Indianern überfallen wurde; wie (fast) alle anderen wird auch Dunsons Verlobte, die
er im vermeintlich sicheren Schutz des Trecks zurückgelassen hatte, getötet. Wäh-
rend sie am Red River, dem texanischen Grenzfluß, lagern, werden auch er und
Groot von einer kleinen Gruppe von Indianern angegriffen; doch der Kampf geht
hier zuungunsten der Indianer aus: Dunson tötet sie. Zu ihnen stößt am folgenden
Tag Matthew Garth, ein Junge, der bei dem Überfall auf den Treck seine Eltern ver-
loren hat. Er folgt nun Dunson und Groot, die den Red River überqueren und in den
texanischen Weiten bald einen Platz finden, an dem sie sich niederlassen. Sie binden
den Stier los, der Dunson geblieben war, und die Kuh, die der Junge mitgebracht
hatte: „Laß sie los,“ erklärt Dunson, „wo immer sie weiden, wird mein Land sein.“
Schon bald tauchen zwei Reiter auf. Sie sind Abgesandte des Don Diego, dem der
König von Spanien seinerzeit das Land, auf dem Dunson seine Ranch errichten
möchte, vermacht hatte; unter Verweis auf diesen Eigentumsanspruch fordern sie
Dunson und die Seinen auf, weiterzuziehen. Nach einem kurzen Disput erschießt
Dunson einen der beiden und fordert den anderen auf, seinem 600 Kilometer entfernt
wohnenden Don Diego auszurichten, daß er (Dunson) dieses Land nun in Besitz ge-
nommen habe und verteidigen werde. Auch spätere Versuche, ihn von dem in Besitz
genommenen Land zu vertreiben, enden zugunsten Dunsons, der auf diese Weise in-
nerhalb eines Zeitraums von weniger als anderthalb Jahrzehnten eine riesige Ranch
mit über 9.000 Rindern aufbauen wird.
168 Kurt Bayertz und Thomas Gutmann

Dies ist die Geschichte Thomas Dunsons, soweit wir sie in diesem Beitrag disku-
tieren werden. Es handelt sich bei ihr natürlich nicht um eine realhistorische Ereig-
nisfolge, sondern um den Anfang eines Films: um den Anfang des von Howard
Hawks gedrehten Films Red River, der 1948 in die Kinos kam und zu den klassischen
Exemplaren des Western-Genres gehört. Er ist in der einschlägigen Literatur oft in-
terpretiert worden;1 dies allerdings in erster Linie bezüglich der späteren und länge-
ren Teile der Handlung (an die wir einleitend noch nicht erinnert haben). Auf sie wer-
den wir zwar später noch kurz eingehen, möchten in diesem Beitrag aber den Haupt-
akzent auf einige rechtsphilosophische Fragen konzentrieren, die in dem referierten
ersten Teil des Films aufgeworfen werden.
Es liegt auf der Hand, daß dieser erste Teil das schildert, was gemeinhin als eine
Landnahme bezeichnet wird. Ebenso liegt auf der Hand, daß solche Landnahmen in
Westernfilmen eine zentrale Rolle spielen, da sie für jene große Landnahme stehen,
aus der schließlich auch die Vereinigten Staaten von Amerika hervorgehen sollten.
Das Thema ,Landnahme‘ hat im Fall der USA (ähnlich wie im Falle Israels) eine
staatskonstituierende und -legitimierende Dimension, auf die wir in diesem Beitrag
aber nicht näher eingehen werden. Wir werden uns auf das Handeln Thomas Dunsons
und seine Legitimationsgrundlagen konzentrieren; wobei allerdings offensichtlich
ist, daß die Gesichtspunkte, die sich aus der Betrachtung dieses (individuellen) Han-
delns ergeben, nicht ohne Konsequenzen für die große (kollektive) Landnahme blei-
ben werden.

II. Immanuel Kant über die Bemächtigung von Gegenständen


Auszugehen ist von der naheliegenden Frage, ob es sich bei der Inbesitznahme des
Bodens, wie sie uns in der Geschichte von Thomas Dunson präsentiert wird, um
einen bloß faktischen Akt handelt oder ob ihm zugleich eine normative Potenz inne-
wohnt. Tatsächlich ist ihm eine solche normative Potenz in der rechtsphilosophi-
schen Literatur von prominenter Seite zugesprochen worden. So von den in der frü-
hen Neuzeit von Hugo Grotius und Samuel Pufendorf vertretenen Spielarten der (bis
in die Antike zurückverfolgbaren) Okkupationstheorie, der zufolge der ursprüngli-
che Eigentumserwerb auf der faktischen Inbesitznahme eines herrenlosen Gutes be-
ruht. John Locke gibt dieser Theorie eine folgenreiche Wendung, indem er die Ok-
kupation als Arbeit deutet: Aus dem ursprünglich gemeinsamen Besitz der Erde ent-
steht privates Eigentum dadurch, daß ein Individuum durch seine Arbeit irgendeinen
Teil herauslöst und sich zu eigen macht.2 Ausdrücklich soll das nicht nur für die
1
Um nur einige zu nennen: Gerald Mast, Howard Hawks, Storyteller. New York/Oxford
1982; Josef Früchtl, Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne. Frankfurt/
M. 2004: 84 – 95; Robert B. Pippin, Hollywood Westerns and American Myth. The Impor-
tance of Howard Hawks and John Ford for Political Theory. New Haven and London 2010:
26 – 60.
2
John Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung. (Kommentiert von Ludwig Siep).
Frankfurt/M. 2007: §§ 27 ff.
Th. Dunson und E. Edwards im Lichte von I. Kant und C. Schmitt 169

Früchte der Erde und die Tiere, die auf ihr leben, gelten, sondern auch für „die Erde
selbst als das, was alles übrige enthält und auf sich trägt“.3 Und auf seine spezielle
Weise bestätigt auch Jean-Jacques Rousseau die Schlüsselrolle der Landnahme,
wenn er den zweiten Teil seines zweiten Discours mit den berühmten Worten begin-
nen lässt: „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu
sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben,
war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft.“4
Auch Immanuel Kant steht in dieser Tradition: Der ursprüngliche Erwerb eines
beliebigen Gegenstandes kann ihm zufolge „nur durch Bemächtigung (occupatio)
geschehen“, d. h. durch einen einseitigen Akt der Willkür.5 Dabei bleibt es bei
Kant aber nicht. Ohne an dieser Stelle auf seine Rechts- und Eigentumstheorie
näher eingehen zu können, wenden wir uns zunächst zwei Aspekten zu, die (bei krea-
tiver Interpretation) Dunsons Zustimmung gefunden hätten. Erstens hätte ihm zwei-
fellos Kants These gefallen, daß der Landnahme insofern eine besondere Bedeutung
zufällt, als der Boden die Substanz darstellt, zu der sich alles Bewegliche auf ihm als
eine Gesamtheit von Akzidenzen verhält. Da Akzidenzen nicht unabhängig von Sub-
stanzen existieren können, „so kann im praktischen das Bewegliche auf dem Boden
nicht das Seine von jemandem sein, wenn dieser nicht vorher als im rechtlichen Be-
sitz desselben befindlich (als das Seine desselben) angenommen wird.“ (§ 12) Mit
einem Wort: Alles Eigentum existiert nur unter der Voraussetzung des Eigentums
am Boden. – In einer eigenwilligen Radikalisierung dieses Gedankens wird Dunson
in einer späteren Episode des Films alle Rinder, die sich auf seinem Boden befinden
als ,seine‘ Rinder beanspruchen, auch wenn sie offensichtlich aus den Herden ande-
rer Rancher stammen. Die sich daraus ergebenden Konflikte werden erstaunlich
leicht beigelegt; auf sie kam es dem Regisseur und seinem Drehbuchschreiber offen-
bar nicht an.
Zweitens hätte auch Kants Antwort auf die Frage, wie weit die Befugnis der In-
besitznahme des Bodens reicht, Dunsons Zustimmung gefunden. Diese Befugnis er-
streckt sich nämlich „so weit, als das Vermögen ihn in seiner Gewalt zu haben, d.i. als
der, so ihn sich aneignen will, ihn vertheidigen kann; gleich als ob der Boden spräche:
wenn ihr mich nicht beschützen könnt, so könnt ihr mir auch nicht gebieten.“ (§ 15)6
– In einer unorthodoxen Anwendung dieser Auffassung hätte Dunson wohl geltend

3
Ibid. § 32.
4
Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l’inégalité. (Hg.,
übersetzt und kommentiert von Heinrich Meier). Paderborn etc. 1984: 173.
5
Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Erster Theil: Metaphysische Anfänge der
Rechtslehre, in: Kants Werke, Akademie-Textausgabe Bd. VI. Berlin 1968, 203-372: § 14.
Zitate aus Kants Rechtslehre werden nachfolgend im Text durch die Angabe des jeweiligen §
nachgewiesen.
6
Bei Locke liest sich die analoge These so: „Soviel Land ein Mensch bepflügt, bepflanzt,
bebaut, kultiviert und soviel er von dem Ertrag verwerten kann, soviel ist sein Eigentum“
(Locke [Fn. 2], § 32).
170 Kurt Bayertz und Thomas Gutmann

gemacht, daß Don Diego es (als es noch das Seine war) eben nicht hatte verteidigen
können, während ihm das über die Jahre hinweg offenbar durchaus gelungen sei.
Mit zwei weiteren Punkten hätte Dunson allerdings Schwierigkeiten gehabt. Nach
Kant wird mit der „Bemächtigung“ des Bodens zwar echtes, gültiges Eigentum ge-
schaffen, aber nur provisorisches. Endgültiges, gesichertes, „peremtorisches“ Eigen-
tum ist nur unter den Bedingungen einer bürgerlichen Gesellschaft möglich, „denn
durch einseitigen Willen kann Anderen eine Verbindlichkeit, die sie für sich sonst
nicht haben würden, nicht auferlegt werden.“ (§ 15) Dies ist nicht nur so zu verste-
hen, daß eine effektive Sicherheit des Besitzes erst durch staatliche Institutionen, die
eine bürgerliche Gesellschaft voraussetzen, gewährleistet werden kann. Die philoso-
phische Grundfrage besteht vielmehr darin, wie der Übergang vom „empirischen“
zum „rechtlichen“ Besitz, vom Reich der Fakten in das Reich der Normen also, kon-
zipiert werden kann. Kants Theorieziel besteht in dem, was er eine „Deduktion des
Begriffs des bloß rechtlichen Besitzes eines äußeren Gegenstandes (possessio nou-
menon)“ (§ 6) nennt. Die Filiationen dieser Deduktion können hier nicht nachver-
folgt werden. Nur so viel: Der ersten Erwerbung beliebiger Sachen, den Boden ein-
geschlossen, geht nach Kant ein Zustand des gemeinsamen Besitzes aller Menschen
voraus: „ein ursprünglicher Gesammtbesitz“, der allerdings nicht als empirisch auf-
gefasst werden dürfe, sondern als ein „praktischer Vernunftbegriff, der a priori das
Princip enthält, nach welchem allein die Menschen den Platz auf Erden nach Rechts-
gesetzen gebrauchen können“. (§ 13) Die auf diesen Zustand folgende „erste Besitz-
nehmung“ (§ 14) ist zwar empirisch, aber (wie wir gesehen haben) nur provisorisch.
„Der Vernunfttitel der Erwerbung aber kann nur in der Idee eines a priori vereinigten
(nothwendig zu vereinigenden) Willens Aller liegen, welche hier als unumgängliche
Bedingung (conditio sine qua non) stillschweigend vorausgesetzt wird; denn durch
einseitigen Willen kann Anderen eine Verbindlichkeit, die sie für sich sonst nicht
haben würden, nicht auferlegt werden.“ (§ 15) Peremtorisches Eigentum kann
also nur im bürgerlichen Zustand erworben werden, der seinerseits natürlich nicht
auf einen empirischen Gründungsakt zurückgehen kann, sondern eine Vernunftbasis
haben muß. – Dieser Gedankengang wäre Dunson wohl fremd geblieben; die Idee
eines bürgerlichen Zustandes und einer staatlichen Ordnung hätten außerhalb seiner
Vorstellungswelt gelegen. Darauf werden wir am Schluß dieses Beitrages kurz zu-
rückkommen.
Selbst wenn wir von diesem bürgerlichen Zustand und der Idee eines „rechtlichen
(intelligiblen)“ Besitzes abstrahieren, bleibt zu konstatieren, daß sich die bisher re-
ferierten Ansichten Kants auf die erste Erwerbung des Bodens bezogen, mithin auf
der Voraussetzung beruhen, daß er von niemandem bereits in Besitz genommen
wurde. – Genau diese Voraussetzung besteht im Film nicht: Dunson nimmt kein her-
renloses Land, sondern nimmt das Land jemandem ab, der es bis dahin besessen
hatte: Don Diego. Für Kant wäre seine Landnahme daher kein rechtsbegründender
Akt gewesen; und insofern handelt es sich bei den in Red River geschilderten Ereig-
nissen nicht um einen Anwendungsfall der Kantischen Theorie des ersten Eigen-
tumserwerbs. Über die Reaktion Dunsons auf diese Feststellung wollen wir nicht
Th. Dunson und E. Edwards im Lichte von I. Kant und C. Schmitt 171

spekulieren. Ob er sich genötigt gesehen hätte, anderweitig nach Legitimationsres-


sourcen Ausschau zu halten, darf bezweifelt werden. Bei Carl Schmitt hätte er sie
aber finden können.

III. Carl Schmitt und der bodenhafte Urgrund,


in dem alles Recht wurzelt
Schmitt kennt natürlich die Ansichten Kants. In seinem Buch Der Nomos der Erde
zitiert er sie kurz, um sie aber sofort hinter sich zu lassen. Er bescheinigt Kant zu-
nächst, „mit großer Klarheit dargelegt“ zu haben, daß die Landnahme (im Unter-
schied zu Kant kennt Schmitt diesen Ausdruck und verwendet ihn gern) die Voraus-
setzung und Basis allen weiteren Rechts sei: Sie sei „der erste Rechtstitel, der allem
folgenden Recht zugrunde liegt. Landrecht und Landfolge, Landwehr und Land-
sturm setzen Landnahme voraus. Die Landnahme geht auch der Unterscheidung
von privatem und öffentlichem Recht vorher. Sie schafft überhaupt erst die Bedin-
gungen dieser Unterscheidung. Insofern hat die Landnahme einen, wenn man es
so nennen will, in rechtlicher Hinsicht kategorialen Charakter.“7 Dann aber trennen
sich die Theoriewege und weisen in divergierende Richtungen.
Zum einen behandeln beide nicht genau denselben Gegenstand. Während es Kant
um eine metaphysische Begründung der Rechtsphilosophie allgemein zu tun gewe-
sen war und seine bisher referierten Ansichten die Grundlagen des Privatrechts, ge-
nauer: des Sachenrechts8 betreffen, steht bei Schmitt das Völkerrecht im Vorder-
grund, insbesondere die Aufteilung der Erde zwischen verschiedenen Völkern.
Wichtiger als diese Differenz ist, daß Schmitt die Idee einer „Deduktion des Begriffs
des bloß rechtlichen Besitzes eines äußeren Gegenstandes“ als abwegig ansah.
Gegen Kant macht er zwei Punkte geltend: „Wir müssen erstens die Landnahme
als eine rechtsgeschichtliche Tatsache, als großes historisches Ereignis und nicht
als eine bloß gedankliche Konstruktion erkennen … Und wir müssen zweitens im
Auge behalten, daß dieser nach Innen und Außen grundlegende Vorgang einer Land-
nahme auch der Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht, von Herr-
schaft und Privateigentum, von Imperium und Dominium vorausgeht.“ (17) In
einem ersten Schritt kassiert Schmitt also die kantische Unterscheidung zwischen
provisorischem und peremtorischem Eigentum; die empirisch-faktische Inbesitz-
nahme des Bodens ist die einzige Quelle des legitimen Eigentums. Und mehr
noch: Sie ist die Basis des Rechts überhaupt, der „bodenhafte Urgrund, in dem
alles Recht wurzelt und Raum und Recht, Ordnung und Ortung zusammentreffen“
(17).
7
Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. Berlin
1950: 17. Im Folgenden werden Zitate aus diesem Buch durch Angabe der Seitenzahlen im
Text nachgewiesen.
8
Vgl. allerdings die Anmerkung B zu § 49, in der der Landesherr als „Obereigenthümer“
des Bodens erscheint, wenn auch nicht als Privateigentümer.
172 Kurt Bayertz und Thomas Gutmann

Zweitens kassiert er die Unterscheidung zwischen Herrschaft und Privateigentum


zwar nicht; relativiert sie aber deutlich, indem er die (faktische) Landnahme als einen
der Unterscheidung von Imperium und Dominium vorausliegenden Akt charakteri-
siert. Daß die faktische Inbesitznahme des Bodens nicht nur privates, sondern auch
öffentliches Recht begründet, hängt bei Schmitt auch damit zusammen, daß er we-
niger die individuelle Inbesitznahme à la Thomas Dunson im Auge hat, als kollektive
Landnahmen durch ganze Völker. „Am Anfang der Geschichte jedes seßhaft gewor-
denen Volkes, jedes Gemeinwesens und jedes Reiches steht also in irgendeiner Form
der konstitutive Vorgang der Landnahme. Das gilt auch für den Anfang einer ge-
schichtlichen Epoche. Die Landnahme geht der ihr folgenden Ordnung nicht nur lo-
gisch, sondern auch geschichtlich voraus. Sie enthält die raumhafte Anfangsordnung,
den Ursprung aller weiteren konkreten Ordnung und allen weiteren Rechts. Sie ist
das Wurzelschlagen im Sinnreich der Geschichte.“ (19) Im Film verschwimmt die
Differenz zwischen individueller und kollektiver Landnahme. Er rückt das Handeln
Dunsons stark in den Vordergrund, lässt aber – in Gestalt des anfänglichen Trecks, in
der Person Groots, dann Matts – die kollektive Dimension dieses Handelns zumin-
dest anklingen. Schon hier wird deutlich, daß es (ungeachtet gegenläufiger Ideolo-
gien) eine rein individuelle Landnahme nicht geben kann; in den späteren Teilen
des Films wird die soziale Dimension dann direkt zum Thema.
Daß die Differenz zwischen einer faktischen „Anfangsordnung“ und einer norma-
tiv verbindlichen Ordnung auf diese Weise zum Verschwinden gebracht wird, hat
Schmitt offenbar nicht als einen Verlust, sondern als einen Gewinn angesehen: als
einen Gewinn an Verwurzelung im „Sinnreich der Geschichte“. Es ist natürlich
schwer bestreitbar, daß in diesem Sinnreich Eroberungen de facto häufig genug
zum „Ursprung aller weiteren konkreten Ordnung und allen weiteren Rechts“ gewor-
den sind. Ob sich die Frage nach der Legitimität dieser konkreten Ordnung und dieses
weiteren Rechts damit bereits erledigt hat, ist eine ganz andere Frage. – Wie Schmitt
hätte Dunson sie durch den Verweis auf den tatsächlichen Verlauf der Ereignisse für
beantwortet angesehen. Der Film zeigt eindringlich, daß seine Landnahme tatsäch-
lich auf einer „realhistorischen Tatsache“ fußt: auf seiner Fähigkeit, den Revolver
schneller zu ziehen als die Abgesandten Don Diegos. In einer späteren Szene
kann der Zuschauer bemerken, daß das Grab des Reiters Don Diegos sich um
sechs weitere vermehrt hat: Ein kleiner Friedhof ist entstanden, der Schmitts
These illustriert, daß Landnahmen „in der geschichtlichen Wirklichkeit bisher
etwas tumultarisch zugehen“ (17).
Damit ist die Landnahme nach Außen hin abgeschlossen. Die rechtskonstitutive
Rolle von Landnahmen reduziert sich für Schmitt aber nicht auf den Ausschluß der
Fremden; sie ist rechtskonstituierend zugleich auch nach Innen: Sie begründet näm-
lich eine Boden- und Eigentumsordnung innerhalb des landnehmenden Volkes. Der
terminus technicus, den er dafür wiederbeleben möchte, ist der griechische Ausdruck
Nomos. „Dieses Wort, in seinem ursprünglichen, raumhaften Sinn verstanden, ist am
besten geeignet, den grundlegenden, Ortung und Ordnung in sich vereinigenden Vor-
gang zum Bewusstsein zu bringen.“ (36) Entscheidend sei dafür, diesen griechischen
Th. Dunson und E. Edwards im Lichte von I. Kant und C. Schmitt 173

Ausdruck nicht in einem normativen Sinne als ,Gesetz‘ oder ,Setzung‘ mißzuverste-
hen; er habe seine Wurzel vielmehr in ,nemein‘, einem Wort, das sowohl ,Teilen‘ als
auch ,Weiden‘ bedeuten könne. „Der Nomos ist demnach die unmittelbare Gestalt, in
der die politische und soziale Ordnung eines Volkes raumhaft sichtbar wird, die erste
Messung und Teilung der Weide, d. h. die Landnahme und die sowohl in ihr liegende
wie aus ihr folgende konkrete Ordnung … Nomos ist das den Grund und Boden der
Erde in einer bestimmten Ordnung einteilende und verortende Maß und die damit
gegebene Gestalt der politischen, sozialen und religiösen Ordnung. Maß, Ordnung
und Gestalt bilden hier eine raumhaft konkrete Einheit.“ (39 f.) Wir erkennen hier
unschwer die bereits charakterisierte Tendenz wieder, die Differenz von Faktizität
und Normativität einzuebnen. Wie und aufgrund wovon eine „erste Messung und
Teilung der Weise“ zum „Maß“, d. h. zu etwas Normativem werden kann, wird
nicht nur nicht erklärt; schon die Frage selbst wird mit der Auskunft beiseite gescho-
ben, es sei darauf zu achten, „daß das Wort seine Verbindung mit einem geschicht-
lichen Vorgang, mit einem konstituierenden Raumordnungsakt nicht verlieren darf.“
(40)
In seinen Ausführungen zu ,Nomos‘ wird das Vertrauen sichtbar, das Schmitt der
Sprachgeschichte für die Lösung rechtstheoretischer Sachfragen entgegenbringt.
Wenn ,Nehmen‘, ,Teilen‘ und ,Weiden‘ (im Griechischen) aus der Sprachwurzel
,Nomos‘ erwachsen sind, fallen sie damit eo ipso und auf ewig auch sachlich zusam-
men; einer darüber hinaus gehenden Begründung bedarf es nicht mehr. Die Sprache
spinnt ihre Bedeutungsfäden hinter dem Rücken der Individuen und stattet ihr ,Neh-
men‘, ,Teilen‘ und ,Weiden‘, sowie alles daraus Folgende mit einer (sprach)ge-
schichtlichen Legitimation aus; denn sie „tradiert auf ihre Weise die weiterwirkenden
konstituierenden Vorgänge und Ereignisse, auch wenn die Menschen sie vergessen
haben.“9
Das von Schmitt behauptete Zusammenfallen von Abteilung nach Außen und Tei-
lung im Inneren hat seine Entsprechung in Red River. Für Dunson steht von vornher-
ein fest, daß er das Land genommen hat und daß alles, was sich darauf befindet ihm
gehört. Auch seine beiden Begleiter scheinen keine Zweifel an diesem Anspruch zu
haben. Groot erscheint von vornherein als ein bloßes Anhängsel Dunsons (auch wenn
er in späteren Filmepisoden eine gelegentliche Distanz zu ihm erkennen lässt), als ein
freiwilliger Knecht, dem keine Ansprüche zugestanden werden, der aber auch keine
erhebt. Das Unterordnungsverhältnis zu Dunson hat seine Basis also nicht darin, daß
die Landnahme ausschließlich das Werk des letzteren ist; denn zum einen bestand es

9
Carl Schmitt, Nomos – Nahme – Name, in: Stadt, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den
Jahren 1916 – 1969. Herausgegeben, mit einem Vorwort und mit Anmerkungen versehen von
Günter Maschke. Berlin 1995: 582. In einem anderen Text gelingt es Schmitt, seinen Ety-
mologie-Fimmel zur Karikatur zu steigern. Anlaß dafür ist ein anderes Grundwort seines
Denkens, das auch im hier vorliegenden Zusammenhang einschlägig ist: „Raum ist ein Wort,
an dem die Sprache sich als eine Ursprache erweist. Es ist ein Urwort der Ursprache … Ich bin
sicher, daß Raum und Rom dasselbe Wort ist. / Von dort entwickeln sich weitere, teils sachlich-
nüchterne, oft aber auch gesteigert-herrliche Bedeutungen“ (ebenda: 491).
174 Kurt Bayertz und Thomas Gutmann

bereits vorher und zum anderen kann man bezweifeln, daß Dunson die Landnahme
allein hätte bewerkstelligen können.10 Bei Matt liegen die Dinge etwas anders. Zu-
nächst ist er noch ein Kind, dessen sich Dunson annimmt und dadurch in eine ,na-
türlicherweise‘ übergeordnete Position kommt. Daß Matt eine Kuh mitgebracht
hatte, ohne die Dunson keine Herde hätte aufbauen können; daß er damit von vorn-
herein einen Anspruch auf Miteigentum an der späteren Ranch und Herde haben
könnte, wird eher beiläufig abgetan. Erst ganz am Ende des Films, nach Zwist
und Versöhnung, billigt ihm Dunson die Rolle eines Miteigentümers zu. Dessen Be-
wusstsein, alleiniger Nehmer und Verteidiger des Landes zu sein und damit auch al-
leiniger Besitzer der Ranch und der Herde wird durch diese Schlußszene also eher
bekräftigt als dementiert: Er beteiligt Matt (aber nicht Groot) an seiner Ranch und
seiner Herde. – Daß die Idee einer individuellen Landnahme (wie sie auch Kant ver-
anschlagt hatte) auf einer Illusion beruht: Zu dieser Einsicht gelangt Dunson nicht;
und der Film deutet sie bestenfalls in weiter Ferne an.

IV. Ethans Edwards’ Kampf gegen die tellurischen Kräfte


der Selbstverteidigung
Im Hinblick auf den Film stellt sich nun die Frage, wem Dunson das Land eigent-
lich abgenommen hat: Nicht den Indianern, sondern dem spanisch-mexikanischen
Großgrundbesitzer Don Diego. Die Indianer repräsentieren noch das Stadium des
Gemeinbesitzes. Sie gelten kaum als Menschen (Dunson spricht nicht mit ihnen),
sondern gehören noch der Natur an. Mit den Abgesandten Don Diegos hingegen
gibt es eine vergleichsweise ausführliche Konversation, in der Argumente ausge-
tauscht werden – bis der Colt Dunsons das letzte Argument vorbringt und die Dis-
kussion beendet.
Die Landnahme der Spanier ging der Dunsons voraus. Doch in einem waren sich
Dunson und Don Diego als Schmittianer avant la lettre einig: Die Eroberung Ame-
rikas durch die europäischen Mächte und Siedler war im Schmittschen Sinn „Land-
nahme freien kolonialen Bodens“ (171) und Ausdruck des behaupteten Rechts eines
auf einer höheren Stufe stehenden Volkes auf die Annexion von Gebieten mit auf
niedrigerer Stufe stehenden Einwohnern (vgl. 108 f.). Die Landnehmer brauchten,
so Schmitt, hinsichtlich der Rechte am Boden, die sie innerhalb des erworbenen Lan-
des vorfanden, keine Rücksichten zu nehmen, weil die Nutzung dieses Bodens durch

10
Philosophische Hilfe (wenn er sie denn gesucht hätte) hätte Dunson bei Locke gefunden,
der eine recht großzügige Deutung von dem zugrunde legte, was „meine Arbeit“ ist: „Das
Gras, das mein Pferd gefressen, der Torf, den mein Knecht gestochen … werden ohne An-
weisung und Zustimmung von irgend jemandem mein Eigentum. Es war meine Arbeit, die sie
dem gemeinsamen Zustand, in dem sie sich befanden, enthoben hat und die mein Eigentum an
ihnen bestimmt hat“ (Locke [Fn. 2], § 28). Die Existenz sozialer Ungleichheit ist (nicht nur)
bei Locke eine selbstverständliche Voraussetzung, die weder einer Thematisierung noch einer
Legitimation bedarf. Dunson hätte dem zugestimmt.
Th. Dunson und E. Edwards im Lichte von I. Kant und C. Schmitt 175

die Eingeborenen kein Eigentum darstellte. Sie konnten „das genommene koloniale
Land hinsichtlich des Privateigentums […] als herrenlos behandeln“ (171). Zugleich
wurden die autochthonen Einwohner des Landes, soweit sie den Akt der Landnahme
selbst überlebten, zu „Objekte[n] der Organisierung durch höherstufige Völker“
(108), natürlich ohne daß man mit ihnen gemeinsam in einen bürgerlichen Zustand
eingetreten wäre.11
Es ist nun eine besondere Pointe, daß es wiederum Schmitt ist, der beschreibt, daß
und auf welche Weise die koloniale Landnahme bereits besiedelter Gebiete Wider-
stand produziert. 1963 veröffentlicht er seine aus zwei im Jahr zuvor in Spanien ge-
haltenen Vorträgen entstandene „Theorie des Partisanen“, die das „Nomos“-Buch
fortschreibt. Schmitt entwickelt hier vier charakteristische Kennzeichen des „klassi-
schen“ Partisanen (20 ff.)12. Man muss sie nur nennen, um zu sehen, daß auch die
amerikanische Landnahme, im Film wie in der Wirklichkeit, in Gestalt der Indianer
mit Partisanen konfrontiert wird:
(a) Der Partisan kämpft, nach den Maßstäben des Landnehmers, irregulär. Er un-
terläuft für sich und beim Gegner die Tradition der Unterscheidung zwischen regu-
lären Soldaten und Zivilisten, er ist nicht in Konventionen von regelhafter Kriegsfüh-
rung oder gar eines Kriegsvölkerrechts eingebunden. Was Schmitt am Partisanen fas-
ziniert, ist seine Teilhabe am genuin „Politischen“, weil er für ihn die Kategorie der
„wirklichen Feindschaft“ (93) repräsentiert – einen zugleich irregulären und unbe-
grenzten Widerstand gegen die Ordnung der Landnahme, der auf einer Unterschei-
dung von Freund und Feind beruht, die sich nicht mehr normativ einhegen lässt. (b)
Den Partisanen kennzeichnet gesteigerte Mobilität. Es geht um „Bewegung und
Schnelligkeit und überraschenden Wechsel von Angriff und Rückzug“ (23) in der
Taktik einer Guerilla, die das Land zu nutzen weiß. (c) Er agiert „intensiv“ (21),
in einem gesteigerten politischen Engagement und einer inneren Haltung, die in
einer unbedingten Einsatzbereitschaft sowie einer außergewöhnlichen Kampfmoral
zum Ausdruck kommt. Und vor allem: (d) Sein Charakter ist „tellurisch“ (26), er
kämpft aus Erd- und Heimatverbundenheit, also prinzipiell defensiv. Der Partisan
steht für eine andere Ordnung des Raums, aber seine Feindschaft ist insoweit, räum-
lich und motivational, begrenzt. Er kämpft nicht für abstrakte oder universalistische
Prinzipien. Er ist konservativ und verteidigt, wenngleich mit allen Mitteln, nur das
11
So ähnlich hat es auch Kolumbus gesehen. In einem unmittelbar nach seiner Rückkehr
geschriebenen, auf den 14. März 1493 datierten Brief heißt es: „Dreiunddreißig Tage nachdem
ich von Cádiz ausgelaufen war, erreichte ich das Indische Meer und fand dort mehrere Inseln,
auf denen unzählige Menschen leben. Von allen diesen Inseln habe ich im Namen unseres
durchlauchtigsten Königs nach feierlicher Verlautbarung und dem Hissen der Fahne Besitz
ergriffen, ohne daß mir irgendjemand widersprochen hätte.“ Christoph Kolumbus, Der erste
Brief aus den Neuen Welt: 13. (Wir danken Niko Strobach für den Hinweis auf dieses Zitat,
sowie für seine kritische Durchsicht einer früheren Fassung des hier vorliegenden Textes –
K.B. und Th.G.).
12
In diesem Abschnitt werden Zitate aus der „Theorie des Partisanen“ durch Angabe der
Seitenzahlen im Text nachgewiesen. Siehe Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischen-
bemerkung zum Begriff des Politischen. Berlin 1963.
176 Kurt Bayertz und Thomas Gutmann

eigene Territorium gegen die landnehmenden und normsetzenden Eindringlinge.


Schmitt spricht deshalb von der „defensive[n], tellurische[n] Kraft der […] Selbst-
verteidigung“ gegen einen fremden Eroberer (59) und vom engen Zusammenhang
zwischen Partisanentum und antikolonialistischem Krieg (27). Es geht um Wider-
stand gegen die Inbesitznahme des Bodens.
Daß die Indianer schon in Red River Urbild des autochthon-tellurischen Partisa-
nen sind, zeigen schon der – für die weitere Erzählung des Films allerdings eigenartig
folgenlose – Überfall der Indianer auf den Treck, den nahezu kein Mitglied der Sied-
lerfamilien überlebt, und ihr Angriff auf Dunson und Groot am texanischen Grenz-
fluß. Noch deutlicher wird die Dialektik von Landnahme und Widerstand, Wider-
stand und Rache in dem 17 Jahre später, im Texas des Jahres 1868 einsetzenden
Film The Searchers von John Ford (1956), in dem die das Gesicht Thomas Dunsons
(John Waynes) tragende Hauptfigur, Ethan Edwards, zu einem siebenjährigen Ra-
chefeldzug gegen einen Stamm von Comanche aufbricht, die eine texanische Sied-
lerfamilie getötet und ihre Tochter, die Nichte Ethans, entführt haben.
Die asymmetrische Kriegsführung des autochthonen Widerstands gegen die
Landnahme in Nordamerika von Anfang des 17. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts13
war, wie wir wissen, historisch nicht erfolgreich. Sie endete in der Unterjochung,
Vertreibung oder Ausrottung des größten Teils der indianischen Urbevölkerung
Nordamerikas. Schmerzhaft für die Einwanderer war sie jedoch, blickt man bei-
spielsweise auf die guerrilla-style warfare-Überfälle der Apache unter Cochise
auf Mexikaner und Amerikaner, bei denen allein zwischen 1820 und 1835 über
5.000 Soldaten und Siedler starben und 100 Siedlungen zerstört wurden. Die kriege-
rischen Auseinandersetzungen zwischen texanischen Siedlern und Comanche, von
denen sowohl Red River als auch The Searchers erzählen, entwickelten sich zum
wahrscheinlich „langwierigsten Konflikt, der je auf amerikanischem Boden statt-
fand, einer vierzig Jahre währenden Blutfehde zwischen zwei fremden Zivilisatio-
nen“.14 Daß Filme wie Red River und The Searchers – anders als etwa Delmer
Daves’ Broken Arrow aus dem Jahr 1950 – die Gegner der weißen Siedler nicht
als gute Menschen und edle Wilde zeigen, sondern als Ureinwohner eines besetzten
Landes, die sich der Landnahme und ihrer eigenen Auslöschung mit Gewalt und

13
Vgl. nur Spencer C. Tucker, The Encyclopedia of North American Indian Wars, 1607 –
1890: A Political, Social, and Military History. Santa Barbara: ABC-CLIO 2012: xxv: „The
Native Americans introduced the Europeans to a new type of warfare – the so-called skulking
way of war – that emphasized stealth, the bow and arrow, the tomahawk and knife at close
quarters, and hit-and-run raids“.
14
Glenn Frankel, The Searchers. The Making of an American Legend. London 2013: 103
(eBook). Und weiter: „Indians and settlers were intimate enemies. When they waged war
against each other, they killed with rifles, pistols, tomahawks, and bows and arrows – at close
range, often while looking into the faces of their victims. There were no boundaries or rules
and no noncombatants. It was truly a war of populations: destroying a man’s family was as
important as killing the man himself. Part of any victory was to inflict the maximum amount of
suffering and humiliation on the other side“.
Th. Dunson und E. Edwards im Lichte von I. Kant und C. Schmitt 177

Grausamkeit15 und nicht selten in „wirklicher Feindschaft“ (Schmitt) zur Wehr set-
zen16, ist nicht weit von der Wirklichkeit entfernt. Auch das Bild des Indianers als
Vergewaltiger, Schlächter und Entführer tugendhafter, angelsächsischer Siedlerfrau-
en und -mädchen ist keine reine Imagination, wenn man zeitgenössische Berichte
liest wie etwa die den Film The Searchers inspirierende Geschichte der 1836 im
Alter von neun Jahren von Comanchen entführten Cynthia Ann Parker, deren Familie
vor ihren Augen abgeschlachtet worden war.17
The Searchers verhandelt nun den Moment, in dem der asymmetrische Wider-
stand der Indianer gegen jene große Landnahme, aus der die United States of Ame-
rica hervorgegangen sind, den Rassismus der Landnehmer zum Vorschein bringt. Der
Film konfrontiert den Zuschauer „mit der Tatsache, daß der Ursprung der territoria-
len Vereinigten Staaten auf einem virulenten Rassismus und einem genozidalen
Krieg gegen die Ureinwohner beruht“.18 In seinem Feldzug gegen die Indianer
lässt Ethan Edwards nicht nur keine Gelegenheit aus, seinen Gegner rassistisch her-
abzusetzen, seine Kultur zu verachten, seine Toten zu schänden und seine Lebens-
grundlagen zu zerstören, er beschließt in seinem Reinheitswahn schließlich auch,
seine mittlerweile 16-jährige Nichte („She ain’t white“) lieber zu töten als sie zu ret-
ten und mit dem Gedanken einer möglichen Rassenschande leben zu müssen.19
Daß die Landnahme bereits besiedelter Gebiete durch militärisch überlegene und
sich kulturell für höherwertig haltende Invasoren in der Dialektik von Eroberung und
Widerstand in Säuberungskriegen endet, die von einem eliminatorischen Rassismus
getragen werden, ist die Geschichte, die, in der Zusammenschau, nicht nur von Red
River und The Searchers erzählt wird, sondern auch von Carl Schmitt.20 Ethan Ed-

15
„Still, by the mid-eighteenth century the Comanches had become the most relentless and
feared war machine in the Southwest. They butchered their prisoners – torturing, amputating,
eviscerating, mutilating, decapitating, and scalping – for entertainment, for prestige as
warriors, and for the belief that to destroy the body of an enemy was to doom his soul to
eternal limbo“ (so Frankel [Fn. 14], 113 f. [eBook]).
16
Pippin (Fn. 1), 105.
17
Hierzu Frankel (Fn. 14), ch. I.
18
Pippin (Fn. 1), 104.
19
Vgl. Arthur M. Eckstein, Incest and Miscegenation in The Searchers (1956) and The
Unforgiven (1959), in: Arthur M. Eckstein and Peter Lehman (Hrsg.), The Searchers. Essays
and Reflections on John Ford’s Classic Western. Detroit 2004, 197 – 221. Siehe zur Rechts-
geschichte der amerikanischen Obsession mit ,gemischtrassigem‘ Sex und ,gemischtrassigen‘
Ehen post Ethan Edwards: Peggy Pascoe, What Comes Naturally: Miscegenation Law and the
Making of Race in America. New York 2009; zu John Fords Haltung Arthur M. Eckstein,
Darkening Ethan: John Ford’s „The Searchers“ (1956) from Novel to Screenplay to Screen.
Cinema Journal 38/1 (1998), 3 – 24.
20
Es gibt hier verschlungene Subtexte. Es sind nach Schmitt ja nicht zuletzt die Deutschen
die wahren Partisanen, die sich in einer Tradition, die von Arminius’ Vietkong-Taktik im
Teutoburger Wald bis zum preußischen Edikt über den Landsturm vom 21. April 1813 (47)
reicht, gegen die landnehmende und rechtssetzende römische und romanische Zivilisation
gewehrt haben. Der Schmittsche Partisanenbegriff zeigt so eine Wahlverwandtschaft, ja
178 Kurt Bayertz und Thomas Gutmann

wards, das alter ego Thomas Dunsons, steht – auch wenn er am Ende des Films, nach
vielen toten Frauen, Kindern und Männern der Comanche, die verlorene Nichte
schließlich doch in die Arme nimmt, statt ihr „eine Kugel ins Hirn zu jagen“ – für
jene Ausmerzungspolitik, die in dem (von Schmitt als vorbildhaft bezeichneten) Par-
tisanenbegriff der deutschen Wehrmacht so deutlich wird: Harte Terrormaßnahmen
gegen einen nicht nur waffentechnisch, sondern angeblich auch zivilisatorisch und
rassisch unterlegenen Feind, der ebendiese Unterlegenheit durch regellose, also
heimtückische, Kriegsführung zu kompensieren sucht. Hierbei dient die These
Schmitts, daß sich der Kampf gegen den Partisanen genauso wenig durch Normen
zähmen lasse wie dessen eigenes Handeln (38 – 43), dem Mythos von der ,sauberen‘
deutschen Wehrmacht21 und einem recht durchsichtigen Schönfärben der systemati-
schen Ermordung zahlloser, von der Wehrmacht kurzerhand als Partisanen bezeich-
neter Zivilisten in den Bloodlands Osteuropas.22
1858 ist nicht 1940, doch hätte Ethan Edwards der Schmittschen These, daß sich
die Vernichtung des rassisch unterschiedenen Feinds nicht durch moralische oder
rechtliche Normen bremsen lasse und lassen dürfe, sicher zugestimmt: „Er [der
Feind] ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in
einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes ist, so
daß im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind, die weder durch eine im voraus
getroffene generelle Normierung, noch durch den Spruch eines ,unbeteiligten‘ und
daher ,unparteiischen‘ Dritten entschieden werden können. Die Möglichkeit richti-
gen Erkennens und Verstehens und damit auch die Befugnis mitzusprechen und zu
urteilen ist hier nämlich nur durch das existenzielle Teilhaben und Teilnehmen ge-
geben. Den extremen Konfliktsfall können nur die Beteiligten selbst unter sich aus-
machen; namentlich kann jeder von ihnen nur selbst entscheiden, ob das Anderssein
des Fremden im konkret vorliegenden Konfliktsfalle die Negation der eigenen Art
Existenz bedeutet und deshalb abgewehrt oder bekämpft wird, um die eigene, seins-
mäßige Art von Leben zu bewahren.“23 Der Kampf gegen die Indianer, die sich gegen
die Landnahme und die „eigene, seinsmäßige Art von Leben“ der Siedler wehren,
kann auch für Ethan Edwards keine Regeln kennen. So wie das bloße Faktum
einer erfolgreichen Landnahme für Thomas Dunson die Frage nach ihrer normativen
Rechtfertigung verdrängt, ist Ethan Edwards davon überzeugt, daß schon der Um-
stand, daß er seinen Konflikt mit den ethnisch und kulturell fremden, sich asymme-

Blutsbrüderschaft zwischen Indianern und Deutschen. Das ist der heimliche Karl May in Carl
Schmitt.
21
Reinhard Mehring, Carl Schmitt: Denker im Widerstreit. Werk – Wirkung – Aktualität,
Freiburg/München 2017: 388.
22
Vgl. Timothy Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. München 2011,
und Hannes Heer, Die Logik des Vernichtungskrieges – Wehrmacht und Partisanenkampf, in:
Hannes Heer/Klaus Naumann (Hrsg.), Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht 1941
bis 1944. Hamburg: Hamburger Edition, 2. Auflage 1995, 104 – 131.
23
Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei
Collarien. 3. Aufl. der Ausg. von 1963. Berlin 1991: 27.
Th. Dunson und E. Edwards im Lichte von I. Kant und C. Schmitt 179

trisch zur Wehr setzenden Verlierern der Landnahme als existentiellen erlebt, alle
Fragen nach der Legitimität seines Handelns erledigt. Beide sind sie gute Schmittia-
ner.
Trifft der landnehmende Nomos auf Widerstand, so wird der Partisan zum Feind
im Sinne Schmitts, zu dessen Wesen es gehört, „daß er in einem besonders intensiven
Sinne existentiell etwas anderes und Fremdes ist“.24 Wir sehen hier den idealtypi-
schen Rassismus kolonialer Landnehmer, der sich der Idee eines bürgerlichen Zu-
standes mit dem Anderen verweigert.

V. Die Maßgaben des Rindermarktes, der Eisenbahn


und der Frau
Die von uns bisher besprochenen Episoden des Films Red River bilden seinen Be-
ginn und beanspruchen knapp 20 Minuten von insgesamt mehr als zwei Stunden Ge-
samtdauer. Was folgt, lässt sich so zusammenfassen: Innerhalb der folgenden
14 Jahre ist aus Dunsons Ranch ein gewaltiges Imperium geworden. Matt, inzwi-
schen erwachsen, kommt aus dem Bürgerkrieg auf die Ranch zurück und findet
eine Krisensituation vor. Das Problem ist jetzt nicht mehr die Nahme des Landes,
sondern der Zusammenbruch des Viehmarktes nach dem Bürgerkrieg: Dunson
kann seine vielen Rinder nicht mehr in Texas verkaufen und beschließt daher, sie
nach Missouri zu treiben. Während dieses langen (1.000 Meilen) und gefährlichen
Trails kommt es zu heftigen Konflikten zwischen den immer erschöpfter und unwil-
liger werdenden Cowboys und einem immer misstrauischer und despotischer wer-
denden Dunson. Als die Nachricht eintrifft, daß eine neue Eisenbahnlinie nach Abi-
lene gebaut ist, eröffnet sich die Möglichkeit, von der ursprünglich geplanten Route
abzuweichen und den Weg abzukürzen. Matt rebelliert gemeinsam mit den Cowboys
gegen Dunson, der an der geplanten Route festhalten will, und übernimmt das Kom-
mando und die Herde. Dunson bleibt verletzt zurück, heuert dann Männer an, um die
Herde zurückzuerobern. Nachdem Matt die Herde mit großem Gewinn in Abilene
verkauft hat, trifft Dunson wütend ein; es kommt zu einem Kampf mit Matt, den des-
sen Freundin dann allerdings beendet; den Kampfhähnen bleibt nur noch die Mög-
lichkeit der Versöhnung.
Da diese Haupthandlung des Films oft interpretiert worden ist, können wir uns mit
einigen wenigen Bemerkungen begnügen. Es geht in ihr um ein Thema, an dem sich
viele Western-Filme abarbeiten: Um den Übergang von dem ursprünglichen, vorzi-
vilisatorischen Zustand der frontier in einen geordneten ,bürgerlichen Zustand‘, vom
Recht des Stärkeren zur Herrschaft des Gesetzes.25 In Red River spiegelt sich dieser
Übergang darin, daß sich die Haupthandlung des Films gänzlich in der Wildnis unter
24
Schmitt (Fn. 23), Der Begriff des Politischen: 27.
25
Vgl. dazu: Kurt Bayertz, Zur Ästhetik des Western, in: Zeitschrift für Ästhetik und
allgemeine Kunstwissenschaft 2003, S. 69 – 82.
180 Kurt Bayertz und Thomas Gutmann

freiem Himmel abspielt, daß sie aber in einer Stadt mit Eisenbahnanschluß endet.26
Ein Aspekt dieses Übergangs besteht darin, daß bestimmte Tugenden, Charaktere,
Einstellungen und Lebensweisen durch ihn obsolet werden. Dunson verkörpert
genau diese Eigenschaften. Unter den zu Beginn des Films geschilderten Umständen
haben sich sein Charakter und seine Einstellung praktisch bewährt: er hat allen Ge-
fahren getrotzt und ein gigantisches Rinderimperium aufgebaut. Nun haben sich die
Umstände geändert: Nicht mehr die Indianer und die Pistoleros des Don Diego be-
drohen die Existenz Dunsons, sondern die ökonomischen Verwerfungen des Rinder-
marktes. Damit werden die Tugenden, die zuvor seinen Erfolg begründet haben, dys-
funktional. Durch sein despotisches Verhalten während des Trails gerät er ins mora-
lische Abseits und gefährdet zugleich sein gesamtes Aufbauwerk. Er ist unfähig ein-
zusehen, daß neue Bedingungen neue Verhaltensweisen erfordern. In seinem Fall
sind das neue Methoden der (politischen) Führung; an die Stelle seines autokrati-
schen und rücksichtslosen Führungsstils müßte ein ,moderner‘, konsensbasierter
und rücksichtsvoller Führungsstil treten, um den post-frontier Bedingungen gerecht
zu werden.27 Im Film ist es Matt, der dies einsieht und den neuen Stil politischer Füh-
rung verkörpert. Der Konflikt zwischen ihm und Dunson ist daher nicht bloß ein Ge-
nerationenkonflikt; er ergibt sich auch nicht bloß aus divergierenden Charakteren: Er
steht für den Übergang in ein neues Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung, in
der nicht mehr gewaltsame Eroberungen im Vordergrund stehen, sondern ökonomi-
sche Schwierigkeiten zu überwinden sind.
Kant thematisiert diese politisch-psychologische Dimension der gesellschaftli-
chen Entwicklung nicht; aber er betont die Differenz zwischen dem ursprünglichen
und dem bürgerlichen Zustand, aus der sich die Notwendigkeit eines Wandels auch
der Einstellungen und Charaktere ergibt. Für Kant ist die Notwendigkeit des Über-
gangs vom Naturzustand zur bürgerlichen Gesellschaft im Akt der ersten, einseitigen
Inbesitznahme bereits angelegt und implizit anerkannt. Denn indem ich erkläre, daß
ich etwas als mein Eigentum beanspruche (und damit allen anderen die Pflicht auf-
erlege, sich seines Gebrauchs zu enthalten), bekenne ich nach Kant eo ipso, „jedem
Anderen in Ansehung des äußeren Seinen wechselseitig zu einer gleichmäßigen Ent-
haltung verbunden zu sein; denn die Verbindlichkeit geht hier aus einer allgemeinen

26
Auf die eindrucksvollen Naturschilderungen des Films konnten wir in dem hier vorlie-
genden Text nicht eingehen. Sie sind nicht nur filmästhetisch bedeutsam, sondern haben auch
eine symbolische Funktion: Nach Mast hat Hawks ihnen nicht ohne Bedacht große Auf-
merksamkeit geschenkt. Der von Texas nach Abilene, Kansas führende Chisholm Trail, den
Dunsons Herde im Hauptteil des Films bewältigt, führt durch einen weiten und leeren Na-
turraum, der für die historisch anstehende Landnahme gleichsam bereit liegt. „That trail re-
presents the crossing of a vast space, in effect the conquest of the nation’s vast spaces them-
selves. Hawks mentioned that the reason for the film’s vast visual spaces is that its historical
subject is the conquest of those spaces“ (Mast [Fn. 1], 332).
27
Vgl. Mast (Fn. 1), 333, sowie ausführlich Pippin (Fn. 1), 40 ff. Daß der Film „etwas
unmotiviert, aber geschichtlich passend, mit dem Erscheinen der Frau am Beginn ihrer
Emanzipation“ endet (Enno Patalas, Red River., Filmkritik 3/1965: 133), ist da nur folge-
richtig.
Th. Dunson und E. Edwards im Lichte von I. Kant und C. Schmitt 181

Regel des äußeren rechtlichen Verhältnisses hervor.“ (§ 8) Kurz: Mit der einseitigen
Inbesitznahme des Bodens (sowie anderer Gegenstände) wird der Übergang zu einer
bürgerlichen Gesellschaft als eine Notwendigkeit anerkannt.
Bei Dunson ist davon nichts zu sehen. So wie für Schmitt jede Rechtsordnung in
einer Landnahme „wurzelt“ und damit zugleich auch die bloße Verlängerung und
Ausdifferenzierung der mit ihr gesetzten Verhältnisse sein kann, so vermag sich Dun-
son den zivilisatorisch-bürgerlichen Zustand nur als eine Verlängerung der frontier
vorstellen. Er ist Schmittianer – bis er durch den Fortgang der Geschichte eines an-
deren belehrt wird. Gegen den Rindermarkt, die Eisenbahn und die Frau kommt er
mit seinem Colt nicht an.
Politische Verbrechen und europäische Kultur –
Joseph Conrads „Heart of Darkness“ und
die Gegenwelten der Gerechtigkeit
Von Matthias Mahlmann

I. Das „Böse“ – ein metaphysischer Witz?


Eine rechtsphilosophisch nicht unbedeutende Frage lautet: Was ist eigentlich das
Gegenteil von moralisch gutem und gerechtem Handeln und dem Wollen, das ihm
unterliegt? Darauf soll das Recht ja Antworten geben und verhindern, dass die
Gegenwelt der Gerechtigkeit das menschliche Leben beherrscht.
In der Vergangenheit wies diese Frage direkt auf das Problem des Ursprungs und
des eigentlichen Gehalts des Bösen. Dieses hat in religiösen Zusammenhängen einen
festen und einigermaßen wohldefinierten Ort – so sehr wie die Theorie des Guten und
Gerechten, deren Kehrseite es ist. Das Böse ist in solchem religiösen Rahmen zumin-
dest in bestimmten Teilen genau bestimmt, beispielsweise aufgegangen in einem
Sündenregister, das von Gott festgelegt worden ist. Ein entscheidendes Element
ist im christlichen Rahmen die Auflehnung gegen Gott, der Sündenfall, eine Tat,
die mit der Verbannung aus dem Paradies eine strenge Strafe für den menschlich
ja nicht sehr überraschenden Wunsch, zu verstehen, nach sich zog.
Das Böse als Begriff und Idee ist ein wenig anrüchig geworden. Es mag eine vor
Spannung den Puls angenehm hochtreibende Rolle spielen, wenn es um charmante
Geschichten über im Kampf mit dunklen Kräften erwachsen werdende Zaubererjun-
gen mit Brille geht, die davon schon früh eine ehrenvolle Narbe auf der Stirn davon-
getragen haben. Manche mögen es auch goutieren, wenn schwülstiger Fantasy-
Kitsch über den Bildschirm flimmert, in dem die Einhörner wiehern, auf Scheiter-
haufen die Unschuldigen pittoresk braten und die gezähmten Drachen über dunklen
Festen ihre Loopings machen, während die Soldaten der Armeen der guten Königin
mit falschen blonden Zöpfen in kernig knarrenden ledernen Wamsen und kriegerisch
scheppernden Rüstungen mit der kämpferischen Miene schlecht bezahlter Kompar-
sen zum Kampf gegen das Böse ziehen.
In anderen Zusammenhängen aber scheint die Zeit dieser Idee lange abgelaufen
zu sein. Der Begriff erregt den Verdacht einer Substantiierung, die mit pompösem
Klang ihre Gehaltlosigkeit ohne Erfolg kaschiert. Mit Wagner-Akkorden tritt eine
Worthülse auf, die längst schon hohl klingt. Moralisierung, nicht kritisch überprüfte
184 Matthias Mahlmann

Moral und Ethik, hat ihren Auftritt. Denn das angeblich Böse hat sich zu häufig als
etwas erwiesen, das nicht unter Rückgriff auf moralisch verpflichtende Prinzipien,
die nüchterner Reflexion standhalten, identifiziert wird, sondern aus vorurteilsgela-
denen Setzungen geboren wird, die mit dem Mantel und hohen Ton des Verpflich-
tenden auf einer Bühne zu spielen versuchen, für die sie ungeeignet sind.
Veraltet wirkt der Begriff auch, weil er als ein Kind von Zeitaltern erscheint, die
alles Schlechte in der Brust der Individuen wachsen sahen und nichts begriffen hatten
von der gesellschaftlichen Wurzel der Verletzung der Rechte von Menschen, der Un-
gerechtigkeiten und der kleinen und großen politischen Verbrechen. Der Begriff
riecht verdächtig nach falscher Subjektivierung, nach Äugen in die Menschenbrust
in der Illusion hier und nicht im „stahlharten Gehäuse“1, das durch Sozialstrukturen
gebildet wird, seien die Wurzel der Übel, die menschliche Gesellschaften plagen,
aufzuspüren. Spätestens mit der Gesellschaftstheorie des 19. Jahrhunderts und der
Herausarbeitung der Bedeutung von sozialen Strukturen, die in klassischen Theorien
von Individuen sogar unabhängig sind, ist derartiges bei vielen verpönt.
Auf der anderen Seite hat das Phänomen, um das es geht, in der Zeit seiner theo-
retischen Verabschiedung unübersehbar sein Haupt erhoben. Es sind nicht die einzi-
gen Monstrositäten des letzten Jahrhunderts, aber der Holocaust, wie auf andere Art
die Massenmorde des Stalinismus, haben sehr deutlich gemacht, warum sich hier ein
Problem nicht leicht abschütteln lässt.
Diese historischen Ereignisse haben viele Gründe, die in gesellschaftlichen Struk-
turen ebenso liegen wie in konkreten historischen Entwicklungen. Der Antisemitis-
mus fiel nicht vom Himmel, er wuchs und gor über viele Jahrhunderte hinweg. Er
musste aber in die Form von Rassismus transformiert werden, der für Millionen Men-
schen zur tödlichen Falle wurde. Und in diesem Zusammenhang wird man um eine
Analyse auch der subjektiven Haltungen und damit der Frage nach der Verantwor-
tung von Menschen für ihre Taten nicht herumkommen. Es wäre eine unerträgliche
Weißwäscherei der Geschichte, wenn die vielen Täter und Täterinnen, aber auch an-
dere Beteiligte von dieser Verantwortung entlastet würden. Nicht Systeme und Struk-
turen haben in Babi Jar die Läufe auf die Menschen vor den Massengräbern gerichtet,
die Befehle gegeben, die Truppen versammelten, die tausend Handlungen vollzogen,
die nötig waren, um die Schüsse denkbar, praktisch möglich und schließlich wirklich
werden zu lassen, sondern Subjekte, die so, aber auch anders handeln konnten.2

1
Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Wolfgang
Schluchter (Hrsg.), Max Weber Gesamtausgabe I/18, 2016, S. 486 f.
2
Diese Feststellung ist für verschiedene Analysen des Holocausts wichtig. Vgl. z. B.
Hannah Arendts Einschätzung zur Lage der Juden in Deutschland nach 1933: „[I]hre fast
vollkommene Isolierung von der übrigen Bevölkerung war eine Angelegenheit von Wochen,
noch nicht einmal von Monaten gewesen – eine Folge des Terrors, aber auch der außerge-
wöhnlichen Bereitschaft ihrer Mitbürger, sie im Stich zu lassen.“ Diese „außergewöhnliche
Bereitschaft ihrer Mitbürger, sie im Stich zu lassen“ ist eine sehr wichtige Kategorie für die
Analyse der Möglichkeit des Holocausts. Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem, 2006,
S. 114.
Politische Verbrechen und europäische Kultur 185

Und damit lässt sich das Problem, um das es geht, ohne den Ballast falscher Me-
taphysik und banaler Moralisierung, einigermaßen genau fassen: Was hat es mit der
Fähigkeit und Bereitschaft von Menschen auf sich, jede Art von Unheil anderen Men-
schen anzutun? Das ist die nüchterne Frage, die vom Problem des Bösen dauerhaft
bleibt. Das 20. Jahrhundert hat dabei Anschauungsunterricht geliefert, wie radikal
die Verachtung moralischer Grundprinzipien die menschliche Lebenswelt verändert.
Konzentrationslager und was in ihnen mit Menschen als Opfer, als Täter geschieht,
sind keine welthistorische Kleinigkeit.
Das Ganze führt in Bereiche der menschlichen Psyche, die wissenschaftlicher
Analyse nicht leicht zugänglich sind. Man muss nach Schlüsseln, Hinweisen,
Wegen in dieses tiefe Dunkle suchen, auch solchen, die vielleicht nicht sofort ins
Auge fallen, weil sie überwuchert sind von dichtem ideologischem Gestrüpp. Die
historischen Zeugnisse sind offensichtlich zentral, gerade auch zur Tätergeschichte,
aber auch die Versuche, die sozialpsychologischen Entwicklungen, die den Ereignis-
sen zugrunde liegen, fassbar zu machen. Diese sind aber so schwer zu begreifen, dass
man nach weiteren Erkenntnismöglichkeiten suchen wird. Eine solche Möglichkeit
besteht darin, die ästhetische Repräsentation im Kunstwerk als Heuristik zu benut-
zen. Die Kunst kann auch in Bezug auf das Verständnis des Ursprungs und Kerns des
Schrecklichen mit dem die Täter und Mitläufer das Bild dessen, was Menschsein
heißt, für immer verändert haben, einen Schlüssel der Erkenntnis bieten.
Ein klassischer Text soll hier deswegen mit kritischem Blick befragt werden:
Heart of Darkness von Joseph Conrad. Der Text ist zu einem Meilenstein der litera-
rischen Moderne geworden, weil er nach den Wurzeln der großen Übel sucht, die die
europäische Kultur hervorgebracht hat. Auch das zeigt – das Thema, um das es geht;
die radikale Negation von menschlichen Prinzipien des guten Handelns und der Ge-
rechtigkeit ist kein Nebenschauplatz des Nachdenkens, sondern ein Phänomen, das
die Epoche definiert, in der wir immer noch leben. Die Geschichte hat auch nach dem
Ende von Nationalsozialismus und Stalinismus genug Bestätigungen dafür geliefert,
dass diese Epoche auf eine sehr beunruhigende Weise fortdauert – von Großkatastro-
phen wie dem Genozid in Ruanda bis hin zu der kleineren, schäbigen Münze der
Wahlerfolge von Rechtsradikalen, die sie sogar, nach allem was geschehen ist,
auch in der Gegenwart wieder in Regierungsämter nicht nur in Europa gespült
haben. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist eine Schädelstätte. Das 21. Jahrhun-
dert kann es sicher noch werden.
Diese Feststellung wirft die zweite Frage auf, um die es hier gehen soll: Was kann
man tun, dass es nicht geschieht?
186 Matthias Mahlmann

II. Die verschiedenen Reisen des Charlie Marlow


1. Fallen für Leserinnen und Leser

In Heart of Darkness lässt Joseph Conrad den auch aus anderen Werken vertrauten
Kapitän Charlie Marlow, der einmal mit einer Götzenfigur,3 einmal mit einem Bud-
dha4 verglichen wird, und der – anders als andere Seemänner, die eigentlich sesshaft
seien – ein Wanderer sei,5 über seine Reise den Kongo hinauf zu einer entlegenen
Handelsstation in rauem, trocken sarkastischem Ton berichten. Seine Zuhörer sind
ein Kreis von Freunden, die bis auf einen alle einmal zur See gefahren sind. Zusam-
men haben sie auf einer Jolle eine Ausfahrt gemacht und sich in der Themsemündung
vor Anker gelegt, um den Tidenwechsel abzuwarten. Es ist Abend geworden und eine
merkwürdige Stimmung liegt über der Hauptstadt eines Weltreichs: „The air was
dark above Gravesend, and farther back still seemed condensed into a mournful
gloom, brooding motionless over the biggest, and the greatest, town on earth.“6
Einer der Zuhörer berichtet von diesem Abend und den Erinnerungen, die Marlow
mit seinen Freunden teilt, während diese trauernde Düsternis über der Stadt London
liegt. Der Erzähler wird von dem Anblick der ins Meer mündenden Themse mitge-
zogen, seine Gedanken wandern in die Vergangenheit und beschreiben, wie die Ent-
decker und Eroberer von hier aus in die Welt aufgebrochen seien, fahrende Ritter der
See: „Hunters for gold or pursuers of fame, they all had gone out on that stream, bea-
ring the sword, and often the torch, messengers of the might within the land, bearers
of a spark from the sacred fire. What greatness had not floated on the ebb of that river
into the mystery of an unknown earth! […] The dreams of men, the seed of com-
monwealths, the germs of empires.“7
Marlow beginnt seinen Bericht in einer anderen Tonlage: Er durchbricht das
Schweigen mit der nüchternen Feststellung: „And this also has been one of the
dark places of the earth.“8 Eine beruhigende zeitliche Distanz bestehe nicht: „Dark-
ness was here yesterday.“9
Die beschriebene Düsternis über London hat für diese Bemerkung bereits den
Boden bereitet und sogleich zu Beginn der Erzählung deutlich gemacht, dass die be-
richteten Ereignisse auf eine im Mehrdeutigen verglimmende Art symbolisch aufge-
laden sind.10 Aber auch in die Gedanken des Erzählers sind schon Fallstricke einge-
3
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 18.
4
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 20.
5
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 18.
6
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 15.
7
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 17.
8
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 18.
9
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 19.
10
„Conradian narrative demands, then, the close attention usually reserved for poetry“,
Allan H. Simmons, Reading Heart of Darkness, in: John H. Stape (Hrsg.), The New Cambridge
Companion to Joseph Conrad, 2015, S. 20.
Politische Verbrechen und europäische Kultur 187

zogen: Die fahrenden Ritter der See umfassen etwa Sir Francis Drake, der nicht erst
in der Gegenwart nicht nur mit der ersten Weltumsegelung, sondern auch mit Plün-
derung in Verbindung gebracht wird, und Sir John Franklin, dessen Expedition mit
dem Ziel, die Nord-West-Passage zu finden, scheiterte und schon zeitgenössischen
Berichten zu Folge zu Kannibalismus der Überlebenden führte11 – eine Andeutung,
die man in Erinnerung haben sollte, wenn in der Erzählung auch in Afrika Kanniba-
len auftauchen – „fine fellows“ übrigens. Die Erwähnung der Schiffe Franklins, die
nach dem griechischen Gott der Finsternis benannte Erebus und die Terror, lassen die
langsam entstehende Atmosphäre der Bedrohung, des Schrecklichen, das sich wie
ein Strudel immer schneller dreht und alles in seinen Schlund zieht, dichter und dich-
ter werden.
Marlow erinnert an die barbarische Vergangenheit der Insel, bedauert die zivili-
sierten römischen Besatzer, gewöhnt an guten Wein, und stellt sich vor, wie es für sie
gewesen sein könnte in dieser Zeit die Themse hochzufahren, durch dieses unheim-
liche, dunkle, unzivilisierte, von Wilden bewohnte Land mit einem schrecklichen
Klima. Mit diesen Bemerkungen wird begonnen, den Europäern auf eine wirkungs-
voll hinterlistige Art einen Spiegel vorzuhalten.
Die Eroberung, die Kolonisation, so fasst Marlow seine Beobachtungen zusam-
men, sei aus der Nähe gesehen keine besonders attraktive Angelegenheit; es handle
sich um nackte Gier, Raublust, die sich auslebe aufgrund von zufälliger Überlegen-
heit der Gewaltmittel: „The conquest of earth, which mostly means the taking it away
from those who have a different complexion or slightly flatter noses than ourselves, is
not a pretty thing when you look into it too much“.12 Was Kolonialismus rette, sei
Effizienz, die Idee, die dieser zugrunde liege; eine Idee, die das Unternehmen ver-
edle, „not a sentimental pretence but an idea; and an unselfish belief in the idea –
something you can set up, and bow down before, and offer a sacrifice to […].“13
Als Marlow diese Aussage macht, stockt er und verstummt. Dieses Stocken ist ein
entscheidender Moment, denn es markiert den Beginn der zweiten Reise, die Marlow
unternimmt. Die erste hat ihn den Kongo hochgeführt und dabei seine Vorstellung
von dem, was europäische Kultur und Menschsein heißt, auf eine neue, einigermaßen
unerträgliche Grundlage gestellt. Aber auch das Erzählen, das jetzt einsetzt, lässt ihn
nicht unverändert zurück. In ihm verwandelt sich das Verständnis der Ereignisse er-
neut: Marlow beginnt mit einer Haltung, die mit der Apologie des Kolonialismus in
England noch nicht gebrochen hat. Sobald er ihre Kernthese aber ausspricht und in
ihm die Erinnerung an das aufflammt, was er gesehen hat und ihm bewusst wird, was
Effizienz tatsächlich im kolonialen Alltag bedeutet, wer vor welchem Götzen nieder-
11
Vgl. Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, note 12, S. 127.
Conrad spielt vermutlich darauf an, wenn er über die Franklin-Expedition schreibt: „The end
of the darkest drama perhaps played behind the curtain of Arctic mystery“, Joseph Conrad,
Geography and Some Explorers, in: Harold Ray Stevens/J. H. Stape (Hrsg.), Last Essays, The
Cambridge Edition of the Works of Joseph Conrad, 2010, S. 10.
12
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 20.
13
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 20.
188 Matthias Mahlmann

kniet und welche Opfer ihm dabei gebracht werden, hält er inne und in diesem Mo-
ment fällt dieses Kartenhaus des Selbstbetrugs zusammen und die eigentliche Reise
ins Herz der Dunkelheit beginnt.
Die politische Tendenz von Conrads Werk ist nicht einfach zu bestimmen.14 Ein
Grundthema ist die Verteidigung des Wertes von persönlicher Freiheit und die Kritik
von Despotie und ihrer zerstörerischen Wirkungen, bis in die persönlichsten Verhält-
nisse hinein.15 Er schildert das korrumpierende Regiment von „material values“,
selbst für hochstehende politische Ziele strategisch eingesetzt,16 unterstreicht die Be-
deutung eines Ethos von hingebungsvoller Arbeit als Weg, sich selbst als Mensch
treu zu bleiben,17 von Pflichterfüllung, Solidarität und Respekt vor Rechten von Men-
schen ohne Sentimentalität,18 den Egoismus, die tragischen Folgen, aber auch noblen
Züge eines romantisierenden Selbstentwurfs19 oder die Selbstzerstörung terroristi-
scher Bewegungen durch Gewalt.20 Viele Aspekte dieser Werke hat die Realität
der Gegenwartsepoche als flackernde Vorgriffe auf das Kommende beglaubigt.
Alles dies ist unterlegt mit tiefer Skepsis, dass mit der menschlichen Natur viel
Staat zu machen ist. Conrad schreibt an Bertrand Russell: Der Mensch könne fliegen,
was ganz nett sei. Er fliege aber nicht wie ein Adler, sondern wie ein Käfer: „And you
must have noticed how ugly, ridiculous and fatuous is the flight of a beetle.“21
Die ästhetische Idee wird aus der tief bewegten Anschauung der ohne ethisches
Ziel entstandenen Welt gewonnen, einer Welt „purely spectacular: a spectacle for
awe, love, adoration or hate, if you like, but in this view, and in this view alone –
14
Vgl. z. B. Brief an R. B. Cunninghame Graham, in: Frederick R. Karl/Laurence Davies
(Hrsg.), The Collected Letters of Joseph Conrad, Vol. 2 1898 – 1902, 1986, S. 157 ff., mit
Skepsis gegenüber der Demokratie und politischem Fortschrittsglauben. Seine Haltung zur
Demokratie hat sich wohl verändert, vgl. Zdzislaw Najder, Joseph Conrad. A Life, 2007,
S. 242 ff., 255 ff., 549, etwa zu seiner Befriedigung über den Sieg der Labour Party nach dem
ersten Weltkrieg. Die Kritik von Autokratien war durchweg unerbittlich.
15
Vgl. z. B. Joseph Conrad, Under Western Eyes, Penguin Classics Edition, 2007. Vgl. mit
dieser Haltung die Äusserungen zur Demokratie im zitierten Brief, s. o. Fn. 14.
16
Vgl. Joseph Conrad, Nostromo, Penguin Classics Edition, 2007.
17
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 52.
18
Vgl. zu ihn begleitenden Kindheitserinnerungen Joseph Conrad, A Personal Record, in:
Zdzislaw Najder/J. H. Stape (Hrsg.), A Personal Record, The Cambridge Edition of the Works
of Joseph Conrad, 2008, S. 6: „An impartial view of humanity in all its degrees of splendour
and misery together with a special regard for the rights of the unprivileged of this earth, not on
any mystic grounds but on the grounds of simple fellowship and honourable reciprocity of
services, was the dominant characteristic of the mental and moral atmosphere of the houses
which sheltered my hazardous childhood: – matters of calm and deep conviction both lasting
and consistent, and removed as far as possible from that humanitarianism that seems to be
merely a matter of crazy nerves or a morbid conscience“.
19
Joseph Conrad, Lord Jim, Penguin Classics Edition, 2007.
20
Joseph Conrad, Under Western Eyes, Penguin Classics Edition, 2007; ders., The Secret
Agent, Penguin Classics Edition, 2000.
21
Joseph Conrad, Brief an Bertrand Russell, 23. 10. 1922, in: Bertrand Russell, Autobio-
graphy, 2000, S. 396.
Politische Verbrechen und europäische Kultur 189

never for despair!“22 Diesem Weltverhältnis entspricht ein Existenzentwurf, in dem


die Aufmerksamkeit auf das in der Subjektivität der Menschen wiedergespiegelte
Weltgeschehen, mit klarer Sicht, unverstellt durch das eigene Selbst, einen Lebens-
zweck bildet: „[T]he unwearied self-forgetful attention to every phase of the living
universe reflected in our consciousness may be our appointed task on this earth.“23
Anteilnahme, die die Einzelnen vom Welterlebnis ergriffen werden lässt, eröffnet
einen Lebenssinn.
Das unaufgesetzte Bewusstsein menschlicher Gemeinschaft ist die Wurzel des äs-
thetischen Impulses: Denn warum sollte die manchmal nur noch schattenhafte Erin-
nerung an Menschen „demand to express itself in the shape of a novel, except on the
ground of that mysterious fellowship which unites in a community of hopes and fears
all the dwellers on this earth?“24 Der Übertritt in den ästhetischen Raum der Kunst
setzt voraus, dass man die eigene Welt anderer Menschen in ihrer ganzen Wirklich-
keit so nachdrücklich empfindet, dass diese Erfahrung die Erarbeitung eines Kunst-
werkes tragen kann: „And what is a novel if not a conviction of our fellow men’s
existence, strong enough to take upon itself a form of imagined life clearer than rea-
lity and whose accumulated verisimilitude of selected episodes puts to shame the
pride of documentary history?“25
Der Effekt ist, wohl entgegen Conrads eigener Selbsteinschätzung, ein ethischer:
Diese Entstehungsbedingungen von Kunst vertiefen durch die Arbeiten, die sie er-
möglichen, die menschliche Gemeinschaft, die ihr Ursprung ist.
In Conrads Werk finden sich viele Spuren der Vorurteile seiner Zeit. Es fehlt nicht
an nationalistischen Tönen, wie schon sein früher Roman, The Nigger of the Narcis-
sus, illustriert, in dem die Besonderheit seiner Wahlheimat Großbritannien hervor-
gehoben wird. Der Titel, aber auch die Beschreibung eines zentralen Charakters
schlägt rassistische Töne an.26 Pauschale Urteile über Menschengruppen sind auch
anderswo zu finden. Solche Passagen sollte man aber nicht mit andauernden rassis-
tischen Ansichten des Autors gleichsetzen.27 Es gibt diverse Äußerungen, auch schon

22
Joseph Conrad, A Personal Record, in: Zdzislaw Najder/J. H. Stape (Hrsg.), A Personal
Record, The Cambridge Edition of the Works of Joseph Conrad, 2008, S. 86 f.
23
Joseph Conrad, A Personal Record, in: Zdzislaw Najder/J. H. Stape (Hrsg.), A Personal
Record, The Cambridge Edition of the Works of Joseph Conrad, 2008, S. 87.
24
Joseph Conrad, A Personal Record, in: Zdzislaw Najder/J. H. Stape (Hrsg.), A Personal
Record, The Cambridge Edition of the Works of Joseph Conrad, 2008, S. 23 f.
25
Joseph Conrad, A Personal Record, in: Zdzislaw Najder/J. H. Stape (Hrsg.), A Personal
Record, The Cambridge Edition of the Works of Joseph Conrad, 2008, S. 27 f.
26
Vgl. Joseph Conrad, The Nigger of the Narcissus, in: ders., The Secret Sharer and Other
Stories, 2014, S. 17 wo Wait wie folgt beschrieben wird: „a face pathetic and brutal: the tragic,
the mysterious, the repulsive mask of a nigger’s soul“. Allerdings wird der Tod von Wait mit
großer Empathie dargestellt.
27
Ein anderes Beispiel sind Bemerkungen zu Frauen, die Conrads Werk durchziehen, die
man ebenfalls nicht vorschnell auf eine Bedeutungsebene reduzieren sollte. Vgl. z. B. Joseph
Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 28: „It is queer how out of
190 Matthias Mahlmann

zur Zeit des Verfassens des Niggers of the Narcissus, in denen sich Conrad gerade
einer Kritik von Rassismus anschloss.28 Außerdem ist eine solche Einschätzung
schwer mit den Bedeutungsebenen von Conrads Werk vereinbar, die sich unüberseh-
bar entwickeln. Auch im Nigger of the Narcissus ist der moralisch zweifelhafteste
Charakter Donkin, ein Weißer. In der ersten Verarbeitung von Conrads Erlebnissen
im Kongo wird festgehalten: „We talk with indignation or enthusiasm; we talk about
oppression, cruelty, crime, devotion, self-sacrifice, virtue, and we know nothing real
beyond the words. Nobody knows what suffering or sacrifice mean – except, perhaps,
the victims of the mysterious purpose of these illusions.“29
Conrad ist ein abgründiger Autor, der bewusst Leserfallen stellt.30 Dies gilt erst
recht für Heart of Darkness. Man geht Conrad auf den Leim, wenn man Marlows
zweifache Reise übersieht und solche Passagen wie die anfänglichen Rechtferti-
gungsversuche Marlows und spätere Anklänge an diese Ideen31 oder gar das Nach-

touch with truth women are. They live in a world of their own, and there had never been
anything like it, and never can be. It is too beautiful altogether, and if they were to set it up it
would go to pieces before the first sunset.“ In Anbetracht der Tatsache, dass die Erzählung
Marlows darauf hinausläuft, zu zeigen „how out of touch“ das Bild des Kolonialismus der
europäischen Männer mit der Realität war, ist auch diese Passage durchaus doppelbödig.
Maya Jasanoff, The Dawn Watch. Joseph Conrad in a Global World, 2017, S. 225, kommen-
tiert solche Passagen: „It sounds in itself like a piece of unexamined sexism, but as with
Marlow’s racist descriptions of Africans, Conrad embedded it in a story that subverted pre-
judices as much as it reinforced them“. Eine Anregung, bei der gendertheoretischen Analyse
von Conrad nicht selbst in stereotype Gender-Kategorien zu verfallen, findet sich bei Debra
Romanick Baldwin, Conrad and Gender, in: J. H. Stape (Hrsg.), The New Cambridge Com-
panion to Joseph Conrad, 2015, S. 132 ff.
28
Vgl. den Brief an R. B. Cunninghame Graham, 15. 6. 1898, in: C. T. Watts (Hrsg.),
Joseph Conrad’s Letters to R. B. Cunninghame Graham, 1969, S. 89, in dem er zu dessen
Kritik am Rassismus im Artikel „Bloody Niggers“ in der Zeitschrift Social-Democrat ge-
genüber dem Autor (einem seiner engen Freunde) festhält: „very good, very telling“. 1903
schreibt er: „And the fact remains that in 1903, seventy five years or so after the abolition of
the slave trade (because it was cruel) there exists in Africa a Congo state, created by the act of
European Powers where ruthless systematic cruelty towards the blacks is the basis of admi-
nistration, and bad faith towards all the other states the basis of commercial policy“, Joseph
Conrad, Letter to R. Casement, 21. 12. 1903, in: Paul B. Armstrong (Hrsg.), Joseph Conrad,
Heart of Darkness, 2006, S. 271. Vgl. auch wie Almayer das Opfer seiner eigenen rassisti-
schen Vorurteile wird, Joseph Conrad, Almayer’s Folly, The Modern Library, 2002, oder die
Haltung von MacWhirr gegenüber derartigen Einstellungen, Joseph Conrad, Typhoon, in:
ders., Typhoon and other Stories, Penguin Classics, 2007.
29
Joseph Conrad, An Outpost of Progress, in: ders., The Secret Sharer and Other Stories,
Penguin Classics Edition, 2007, S. 248.
30
Vgl. Brief an R. B. Cunninghame Graham, in: Frederick R. Karl/Laurence Davies
(Hrsg.), The Collected Letters of Joseph Conrad, Vol. 2 1898 – 1902, 1986, S. 157 zu Heart of
Darkness: „The idea is so wrapped up in secondary notions that You – even You! – may miss
it.“. Vgl. auch die Analyse von Ian Watt, Conrad in the Nineteenth Century, 1980, S. 175 f. zu
„delayed decoding“.
31
Marlow sieht in Brüssel eine Landkarte mit unterschiedlichen Farben – Englands Ko-
lonien sind rot eingezeichnet und kommentiert: „Good to see at any time, because one knows
Politische Verbrechen und europäische Kultur 191

denken des Erzählers über die Größe Großbritanniens und die Gründung seines Rei-
ches für Conrads bare Münze hält. Teil seiner Technik des Romans ist die Bindung
der Erzählung an eine historische Situation. Für den Romanschreiber gelte: „[T]he
first virtue is the exact understanding of the limits traced by the reality of his time to
the play of his invention.“32 Conrad schrieb für ein Publikum, dessen Ideologie tief
durch Imperialismus und Rassismus geprägt war. Er löste die Aufgabe, wie man über
Imperialismus und Rassismus zu Imperialisten und Rassisten spricht, indem sein Er-
zähler bei den Rechtfertigungsphrasen einsetzt, die die Leser selbst teilten, die aber
seinen Erzähler Marlow stocken lassen und beim Erzählen allmählich zu Staub zer-
fallen – vermutlich nicht anders als Conrads eigene Vorstellungen von europäischer
Zivilisation und der Natur der Menschen während seiner Reise im Kongo und insbe-
sondere seiner eigenen zweiten beim Schreiben der Geschichte, die nach der Wahr-
heit dessen sucht, was er erlebt hat.33 Wenn auch andere wie Marlow bei rassistischen
Phrasen stocken, nachdem sie die Geschichte gelesen haben, haben sie etwas von
ihrer subversiven Kraft gespürt.
Man kann durchaus gewarnt sein, denn der Erzähler hält fest, welche Besonder-
heit Marlows Geschichten hatten: „To him the meaning of an episode was not inside
like a kernel but outside, enveloping the tale which brought it out only as a glow
brings out a haze, in the likeness of one of these misty halos that sometimes are
made visible by the spectral illumination of moonshine.“34 Dies gilt auch für die Ge-
schichte, die Conrad einen der Zuhörer auf der Jolle von Marlows Bericht erzählen
lässt: Bereits diese doppelt in ihren Perspektivnahmen gebrochene Erzählstruktur
sollte davon abhalten, die Äußerungen, Gedanken oder Erlebnisse einzelner Perso-
nen für den Schlüssel zur tiefsten Bedeutungsschicht des Textes zu halten. Marlow
stellt fest, dass schon seine Zuhörer mehr sehen als er selbst: „You see me, whom you
know […].“35
Conrad stand mithin mit seinem Werk nicht über den Ideologien seiner Zeit. Er hat
aber mit ihm allmählich, nicht in allen, aber sehr wichtigen Hinsichten, einige dieser
ideologischen Schleier unerbittlich wie kaum ein anderer zerrissen. Die ethische Po-
sition, die dieser Radikalität die moralische Selbstverständlichkeit gibt, die ihr ge-
bührt, entspringt der Achtung vor der Gleichheit der Menschen, vereint in Größe,
Glück, Leid und tröstendem, zerstörerischen Wahn: „I am content to sympathize
with common mortals, no matter where they live; in houses or in tents, in the streets

that some real work is done in there“, Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics
Edition, 2000, S. 25.
32
Joseph Conrad, A Personal Record, in: Zdzislaw Najder/J. H. Stape (Hrsg.), A Personal
Record, The Cambridge Edition of the Works of Joseph Conrad, 2008, S. 88 f.
33
Vgl. vermutlich zutreffend Zdzislaw Najder, Joseph Conrad. A Life, 2007, S. 163: „[H]e
was aware of having been only a step from himself becoming one of the gang of plunderers.
His frequently expressed mistrust of human nature had, I suspect, not only an intellectual but
also a personal basis.“
34
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 18.
35
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 50.
192 Matthias Mahlmann

under a fog, or in the forests behind the dark line of dismal mangroves that fringe the
vast solitude of the sea. For, their land – like ours – lies under the inscrutable eyes of
the Most High. Their hearts – like ours – must endure the load of the gifts of heaven:
the curse of facts and the blessing of illusions, the bitterness of our wisdom and the
deceptive consolation of our folly“.36

2. Eine Stadt wie ein Grab

Marlow hat unter Vermittlung einer wohlmeinenden Verwandten eine Komman-


dantur auf einem Dampfboot angenommen, das den Kongo befährt. Als Kind hatte er
eine Leidenschaft für Landkarten: Der weiße Fleck im Inneren von Afrika zog ihn
besonders an.37 Das Kommando ist frei geworden, weil sein Vorgänger in einem
Streit mit den eingeborenen afrikanischen Menschen getötet wird. Als Marlow
den Ort erreicht, wächst hohes Gras durch seine Rippen. Der Vorgänger war
schon lange im Kongo und spürte auf einmal den Wunsch, sich durch Durchsetzen
in einem Streit mit den Kolonisierten Selbstrespekt zu verschaffen:38 Kolonisator zu
sein zehrt an der Selbstachtung.
Marlows Unternehmen beginnt in Brüssel, eine Stadt wie ein „whited sepulchre“39,
von wo aus die Ausbeutung des Kongo zur Zeit Conrads als Privatunternehmen des
Königs mit großer Grausamkeit und enormen Menschenopfern betrieben wird. Ge-
genwärtige Schätzungen gehen von 10 Millionen Toten aus, die während dieser Zeit
direkt oder indirekt das Opfer der Kolonialherrschaft geworden sind.40 Die Einstel-
lung hat Züge der Aufnahme in eine verbrecherische Verschwörung – wie Parzen stri-
cken die Vorzimmerdamen eines hohen Angestellten der Gesellschaft ihre schwarze
Wolle.41 Er muss sich einer ärztlichen Untersuchung unterziehen, in der sich der Arzt
aus wissenschaftlicher Neugier für die psychischen Veränderungen bei den Koloni-
satoren interessiert. Marlow erinnert sich daran, als er das erste Mal mit solchem
Wandel konfrontiert wird – als ein Reisebegleiter plötzlich auf einem Fußmarsch
das Bedürfnis nach einem Massenmord verspürt.42 Er verabschiedet sich von seiner

36
Joseph Conrad, Author’s note to Almayer’s Folly, The Modern Library, 2002, xxviii.
37
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 21. Das verar-
beitet eine Kindheitserinnerung Conrads, vgl. ders., Geography and some Explorers, in: Ha-
rold Ray Stevens/J. H. Stape (Hrsg.), Last Essays, The Cambridge Edition of the Works of
Joseph Conrad, 2010, S. 14.
38
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 23 f.
39
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 24.
40
Vgl. Adam Hochschild, King Leopold’s Ghost, 2006, S. 233. Zu zeitgenössischen Be-
richten vgl. z. B. Roger Casement, The Congo Report (1904), in: Paul B. Armstrong (Hrsg.),
Joseph Conrad, Heart of Darkness, 2006, S. 131 ff.; Edmund D. Morel, King Leopold’s Rule
in Africa, 1905. Excerpts, in: Paul B. Armstrong (Hrsg.), Joseph Conrad, Heart of Darkness,
2006, S. 160 ff.
41
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 24 f.
42
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 27, 32, 40.
Politische Verbrechen und europäische Kultur 193

Tante, die ihn mit den politischen Märchen einer menschenfreundlichen Mission der
Kolonisatoren beglückt – „there had been a lot of such rot let loose in print and talk
just about that time“ – bis er entnervt daran erinnert, „that the Company was run for
profit.“43 Der Aufbruch ist auch aus seiner Perspektive keiner zu einer gewöhnlichen
Reise: „[F]or a second or two, I felt as though, instead of going to the centre of a con-
tinent, I were about to set off for the centre of the earth.“44
Die Reise nach Afrika nimmt schnell surreale Züge an, „a weary pilgrimage
amongst hints for nightmares.“45 Marlow beobachtet ein französisches Schiff, das
in den Kontinent hineinschießt, auf Feinde, wie es hier heißt – später sind es Verbre-
cher oder Rebellen – eine traurige, klägliche und doch tödliche Posse, auch für die
französischen Soldaten, die unbeachtet in der Brandung bei der Landung ersaufen.
Das einzig Reale, das ihm begegnet, sind die eingeborenen Menschen: „Now and
then a boat from the shore gave one a momentary contact with reality. It was paddled
by black fellows. You could see from afar the white of their eyeballs glistening. They
shouted, sang; their bodies streamed with perspiration; they had faces like grotesque
masks – these chaps; but they had bone, muscle, a wild vitality, an intense energy of
movement, that was as natural and true as the surf along their coast. They wanted no
excuse for being there. They were a great comfort to look at.“46
Diese Beobachtungen beinhalten keinerlei Romantisierungen des Zusammentref-
fens mit den eingeborenen Menschen, im Gegenteil, dass er ihre Gesichter als „gro-
teske Masken“ empfindet, unterstreicht nur wie fremd sie Marlow (der nicht Conrad
ist) zunächst sind. Eine andere Schilderung – „Ich erkannte gleich – sie sind meine
Brüder!“ – wäre keine sehr überzeugende Darstellung des ersten Kontakts eines See-
manns des Zeitalters des „scramble for Africa“ mit schwarzafrikanischen Menschen.
Sie bliebe sicher nicht der eigenen Maxime treu, die Grenzen, die die Realität der
eigenen Zeit dem Spiel der eigenen Vorstellungskraft zieht, zu beachten.47 Das Ge-
fühl in eine schwermütige Farce geraten zu sein, verlässt ihn nicht mehr bei seinem
genaueren Verständnis der Schritte des speziellen Tanzes, der von den Europäern den
afrikanischen Menschen aufgezwungen wurde: „[T]he merry dance of death and
trade goes on in a still and earthy atmosphere as of an overheated catacomb.“48

43
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 28.
44
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 29.
45
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 31, 50: „It seems
to me I am trying to tell you a dream – making a vain attempt, because no relation of a dream
can convey the dream-sensation, that commingling of absurdity, surprise, and bewilderment in
a tremor of struggling revolt, that notion of being captured by the incredible which is of the
very essence of dreams […]. We live, as we dream – alone […].“.
46
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 30.
47
Vgl. o. Fn. 32.
48
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 31.
194 Matthias Mahlmann

3. Der schäbige Teufel der habgierigen Dummheit

Nach seiner Ankunft an der Mündung des Kongo macht er sofort Bekanntschaft
mit der rechtfertigenden Effizienz der Kolonisation: sinnlose Arbeiten, verfallendes
Material.
Marlow trifft auf eine Gruppe von versklavten Menschen, die verhungert und apa-
thisch49 an ihm in Ketten vorbeiziehen, „raw material“ eines großen und gerechten
Projekts, wie Marlow grimmig festhält.50 Er sucht Schatten und tritt unvermittelt
unter einigen Bäumen in den „gloomy circle of some Inferno“.51 Eine Anzahl Ster-
bender hat sich in den Schatten von Bäumen geschleppt, um dort ihrem Ende entge-
gen zu dämmern – verlorene Seelen, die in den Feuern einer Vorhölle vergehen, die
aus der Verachtung der Kolonisatoren für ihr Leben unentrinnbar gespeist werden.
Einem gibt er von den Keksen, die er besitzt. 15 Meter entfernt sorgt ein in makel-
loses Weiß gekleideter Buchhalter für fehlerlose Bilanzen der Station.52
Mehr als solche Szenen vor Augen zu rufen, kann man nicht tun, um gegen das
Geschehen zu rebellieren. Die geschilderte Menschenverachtung, organisiert
durch Bürokraten, die auf die eigene reinliche Erscheinung achten, ist ein erstes
Beispiel für die Antizipation anderer, späterer Formen solcher Höllenkreise, die
Conrads Erzählung aufgrund ihrer Treffsicherheit zunehmend unheimlich durch-
zieht.53
Marlow muss an den Stromschnellen entlang wandern, die unbeschiffbar sind, ins
Innere des Landes, wo ihm tote Träger am Wegesrand weiteres Anschauungsmaterial
von der Eigenart des Zivilisationsprojektes liefern, das hier betrieben wird. Ein Leit-
motiv der Erzählung ist die Anwendung der kolonialistischen Vorurteile auf die ko-
lonisierende Zivilisation. Dazu gehört schon der mächtige Auftaktakkord von Mar-
low, der an die Vergangenheit Englands erinnert, in der seine Bewohner in der Lage
der Menschen in Afrika waren und sich den zivilisierten Eroberern aus Rom gegen-
über sahen. Dazu zählt auch, dass Marlow darauf hinweist, dass die Weißen ja aus der
Ferne alle gleich aussähen54 – ein rassistisches Stereotyp, auf die Kolonisatoren ge-
spiegelt. Gleiches gilt schließlich für seine Anmerkung zu den verlassenen Land-
schaften, die er passiert, dass Ähnliches wohl auch in England der Fall sein

49
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 33: „They passed
me within six inches, without a glance, with that complete, deathlike indifference of unhappy
savages“. Eine solche Passage sollte man wieder lesen, wenn man zur Kenntnis genommen
hat, was „savage“ im Zusammenhang der Geschichte bedeutet.
50
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 33.
51
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 34.
52
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 38.
53
Zu einer unkonventionellen, aber interessanten Reflexion des Zusammenhangs von
Kolonialgeschichte und Völkermord, Sven Lindqvist, ,Exterminate all the Brutes‘: One Man’s
Odyssey into the Heart of Darkness and the Origins of European Genocide, 1996.
54
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 33.
Politische Verbrechen und europäische Kultur 195

würde, wenn bewaffnete Invasoren es überfallen und die Bewohner als Träger pres-
sen würden.55
Marlow macht nähere Bekanntschaft mit den Kolonialherren, dessen Paradeex-
emplar ein Pappmaché-Mephistopheles ist: „[I]t seemed to me that if I tried I
could poke my forefinger through him, and would find nothing inside but a little
loose dirt, maybe.“56 Er begreift schnell: In diesem Unternehmen der Kolonialherren
erhebt keine noble Idee, sondern ein niedriger Teufel sein Haupt: „The flabby, pre-
tending weak-eyed devil of a rapacious and pitiless folly.“57

4. Die Bande der Tugend

Marlow stellt fest: Sein Schiff ist gesunken, er muss es reparieren und ist deswe-
gen gezwungen, wochenlang auf dieser Station auszuhalten. Hier hört er das erste
Mal von Kurtz, einem Wunderkind, Teil der „gang of virtue“.58 Ströme von Elfenbein
hat er den Fluss hinuntergeschickt. Er sieht auch ein Bild, das Kurtz gemalt hat: Eine
Frau mit verbundenen Augen, die eine Fackel trägt, eine Mischung aus Abbildern der
Gerechtigkeit, Freiheit und Aufklärung, aber mit wenig ermutigender Bedeutung:
„The movement of the woman was stately, and the effect of the torchlight on the
face was sinister.“59 Denen, die behaupten, Licht zu bringen, ist selbst die Sicht ge-
nommen.
Die Natur, die Marlow umgibt, empfindet er mal als gleichgültig, mal als bedroh-
lich, mal als bedrückend: „The silence of the land went home to one’s very heart – its
mystery, its greatness, the amazing reality of its concealed life.“60 Schließlich fährt er
den Kongo hoch, um mit anderen Angehörigen der Gesellschaft herauszufinden,
warum man von Kurtz länger nichts gehört hat. Dabei werden weitere Tiefenschich-
ten der Erzählung freigelegt: „Going up that river was like travelling back to the ear-
liest beginnings of the world, when vegetation rioted on the earth and the big trees
were kings.“61 Trommeln erinnern Marlow immer wieder an die Präsenz von anderen
Menschen. Er hört sie ohne Herablassung: Sie können vieles bedeuten, Krieg, Frie-
den, Gebete, ja so sinngeladen sein wie Kirchenglocken.62
Die Fahrt ist wie die erste Inbesitznahme der Welt durch Menschen, eine zwie-
spältige Gabe, eine verfluchte Erbschaft: „We were wanderers on a prehistoric
earth, on an earth that wore the aspect of an unknown planet. We could have fancied

55
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 39.
56
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 48.
57
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 34.
58
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 47.
59
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 46 f.
60
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 48.
61
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 59.
62
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 62.
196 Matthias Mahlmann

ourselves the first men taking possession of an accursed inheritance, to be subdued at


the cost of profound anguish and of excessive toil.“63
Die Erde begegnet ihnen nicht als kultivierte und den menschlichen Bedürfnissen
anverwandelte, sondern in ihrer ganzen ursprünglichen, unbezwungenen Gewalt.
Auch die Begegnung mit „prehistoric man“, als eine Gruppe von eingeborenen Men-
schen den Dampfer entdeckt, hält eine Herausforderung bereit: „The earth seemed
unearthly. We are accustomed to look upon the shackled form of a conquered mons-
ter, but there – there you could look at a thing monstrous and free. It was unearthly,
and the men were – No, they were not inhuman. Well, you know, that was the worst of
it – this suspicion of their not being inhuman. It would come slowly to one. They
howled, and leaped, and spun, and made horrid faces; but what thrilled you was
just the thought of their humanity – like yours – the thought of your remote kinship
with this wild and passionate uproar.“64
Die große Fremdheit, die sich hier erneut in Marlows Bericht spiegelt, die Art, wie
über die Konfrontation mit der dortigen Kultur erzählt wird, hat den Verdacht wie
andere derartige Passagen erregt, hier werde die koloniale, rassistische Wahrneh-
mung nicht überwunden, sondern befestigt – was aber nicht nur die Stellungnahme,
die sich in der Geschichte insgesamt findet, mit der von ihm selbst erzählten eines
Charakters verwechselt, sondern diese Perspektive selbst völlig unzureichend rekon-
struiert. Marlow gewinnt eine erste Ahnung gemeinsamen Menschseins, die zu
einem zweifelnden Moment der Selbstentfremdung führt. Sie erzwingt ein anderes
als gewohntes Selbstbild, weil sie eine zwiespältige eigene Natur, aber eine von allen
Menschen geteilte Natur betrifft. In seiner weiteren Überlegung wird die Überra-
schung, aber auch die Fremdheit geringer und gibt neuen Einsichten Raum: „And
why not? The mind of man is capable of anything – because everything is in it,
all the past as well as all the future. What was there after all? Joy, fear, sorrow, de-
votion, valour, rage – who can tell? – but truth – truth stripped of its cloak of time.“65
Die Konfrontation mit der Lebensweise der eingeborenen Menschen baut am
Ende eine Brücke zu ihnen. „Joy, fear, sorrow, devotion, valour, rage“ sind sehr ver-
traute und keineswegs notwendig niedrige humane Empfindungen. Die Begegnung
als Schlüssel zu einer Wahrheit über Menschen ohne den Mantel der Zeit zu verste-
hen, ist das Gegenteil einer hierarchischen Unterscheidung verschiedener Menschen-
gruppen, weil es das Gemeinsame der menschlichen Welt unterstreicht. Auszusagen,
dass der menschliche Geist alles schon umfasse, die Vergangenheit und Zukunft, ver-
bindet die Geschichte zur Einheit einer Geschichte der Formen des Menschseins –
von den Kulturen des Kongo bis zur großen Stadt, die die Männer auf dem Boot
auf der Themse in der Ferne sehen und zu dem Reich, für das sie steht.

63
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 62.
64
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 62.
65
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 63.
Politische Verbrechen und europäische Kultur 197

Schließlich spürt Marlow sogar selbst wegen des vermuteten Todes von Kurtz
genau eine solche Empfindung wie er sie bei den eingeborenen afrikanischen Men-
schen beobachtet hat, womit jede angenommene Kluft zwischen ihm und ihnen end-
gültig verschwindet: „[M]y sorrow had a startling extravagance of emotion, even
such as I had noticed in the howling sorrow of these savages in the bush.“66
Die Antwort auf den ungezügelten Ausdruck der Gefühle könne nur „inner
strength“ sein, findet Marlow.67 Es gibt nun Reisebegleiter, die genau diese innere
Stärke gegenüber anderen Antrieben zeigen. Das Schiff wird unter anderem durch
eine Gruppe von Kannibalen bemannt – „fine fellows […] men one could work
with, and I am grateful to them“68 – die Hunger leiden, weil sie nur ein paar Teigklum-
pen in Blättern und stinkendes Nilpferdfleisch mit sich führen, das die Kolonisatoren,
Marlow nennt sie mit grimmiger Verachtung, „faithless pilgrims“,69 über Bord wer-
fen, aus allerdings verständlichen Gründen, wie er betont: „You can’t breathe dead
hippo waking, sleeping, and eating, and at the same time keep your precarious grip on
existence.“70 Von den Drahtstücken, die sie als Bezahlung bekommen (dies aller-
dings mit einer der sie beschäftigenden Gesellschaft würdigenden Regelmäßigkeit,
wie Marlow anerkennt), können sie sich nichts kaufen, was aber natürlich niemanden
interessiert. Sie leiden Hunger und das ist keine Kleinigkeit: Hunger ist eine andere
Antriebe schnell überwältigende Plage, unterstreicht Marlow. Zu seinem großen Er-
staunen sind die Kannibalen dennoch fähig, ihre eigenen Antriebe, sogar den archai-
schen, eigentlich unbezähmbaren des Hungers, zu kontrollieren und nicht das zu tun,
was eigentlich das Naheliegendste ist, nämlich die zahlenmäßig unterlegenen Euro-
päer zu töten, um sich einmal satt zu essen: „I looked at them as you would on any
human being, with a curiosity of their impulses, motives, capacities, weaknesses,
when brought to the test of an inexorable physical necessity. Restraint! What possible
restraint?“71 Es ist ihre „inborn strength“,72 die sie befähigt, ihren Hunger zu über-
winden, also genau jene Kraft, die Marlow dem ungezügelten Gefühlsausdrücken
der „prähistorischen Menschen“ entgegenzusetzen nötig erschien. Er sieht – es ist
nicht die europäische Zivilisation, die sie dazu befähigt, sie können es selbst. Und
nicht nur das unterminiert die im eben noch im Raum stehende Diskrepanz zwischen
enthemmten Wilden und selbstbeherrschten Zivilisierten: Die Kannibalen haben
damit eine Fähigkeit, die die „Pilger“ gerade nicht teilen – der Manager der Gesell-
schaft, der mitreist, bringt es nur zu „restraint“, zur Bewahrung des äußeren An-
scheins73 – ein ganz entscheidender moralischer Vorzug der Kannibalen, weil sich

66
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 79.
67
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 63.
68
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 61.
69
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 44.
70
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 70.
71
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 71.
72
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 71.
73
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 72.
198 Matthias Mahlmann

die Zügellosigkeit, das Fehlen von „restraint“ allmählich als ein Kern der kolonialen
Tragödie herausschält.
Marlow mustert bei seinen Beobachtungen die Erscheinung der „Pilger“ und
wünscht sich in einer, wie er selbst findet, etwas überraschenden Anwandlung,
dass er auf die Kannibalen wenigstens appetitanregender wirke als diese Gestalten.74
Diese Empfindung besonderer kulinarischer Sensibilität war sicher keine leichte
Kost für die Leserinnen und Leser seiner Zeit, die in ihrem Selbstbild wie die „Pilger“
immerhin einer überlegenen Rasse anzugehören meinten, die berechtigt die Welt un-
terwarf, nicht aber einer Menschengruppe, die sogar hungrigen Kannibalen den Ap-
petit verdirbt.
Die Gruppe wird angegriffen, nicht aus Aggression, sondern zur Selbstverteidi-
gung, aus Trauer, die sich in Gewalt entlädt, wie Marlow vermutet75 und auf Befehl
von Kurtz, wie sich später herausstellt. Marlow verliert dabei den einzigen Men-
schen, zu dem er eine echte Bindung empfand – seinen nicht sehr talentierten einge-
borenen Steuermann: „I missed my late helmsman awfully.“76 Er wird von einem
Speer getroffen und Marlow fängt die letzten Blicke des Sterbenden auf, die er
nicht vergessen kann: „I declare it looked as though he would presently put to us
some question in an understandable language; but he died without uttering a
sound, without moving a limb, without twitching a muscle“.77 Marlow nimmt die an-
genommene Haltung seiner Zuhörer als Angehörige einer Kolonialmacht vorweg,
wenn er anmerkt, dass sie das vielleicht überrasche, da das Leben eines solchen ein-
geborenen Menschen keinen großen Wert habe – „a grain of sand in a black Saha-
ra“.78 Die gemeinsame Arbeit hatte aber eine menschliche Beziehung gestiftet und
der letzte Blick, die unausgesprochene Frage in einer verstehbaren, also gemeinsa-
men Sprache, seine intime Tiefe, hatte das gemeinsame Menschsein unterstrichen:
„And the intimate profundity of that look he gave me when he received his hurt re-
mains to this day in my memory – like a claim of distant kinship affirmed in a su-
preme moment“.79
Wohlgemerkt – Marlow schildert wiederum keine grenzenlose Verbrüderung,
sondern eine Annäherung, eine entfernte Verwandtschaft, aber von intimer Tiefe,
deren Restdistanz dem Bericht die Phrasenhaftigkeit nimmt.

74
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 71.
75
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 73.
76
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 84.
77
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 78.
78
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 84.
79
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 84 f.
Politische Verbrechen und europäische Kultur 199

5. Lichtlose Regionen des Schreckens

Nachdem sie auf einen russischen Abenteurer und letzten Jünger von Kurtz ge-
stoßen sind, kommen sie an Kurtz’ Station an. Auf Pfähle gespießte Menschenköpfe
sind die Hoheitszeichen von Kurtz’ Herrschaft, die ihre Art und Methoden mit ge-
schlossenen Augen und vertrockneter Haut bündig zusammenfassen. Der junge
Russe klärt Marlow, der von Kurtz immer noch als Menschen mit moralischen Zielen
denkt, über Kurtz’ Unternehmen auf. Marlow versteht nun auch den Grund für Kurtz’
Erfolg: Kurtz hat das Land ausgeplündert, unterworfen, zerstört und sich selbst zu
einem Fürsten erhoben, den die beherrschten Menschen verehrten und fürchteten,
weil er über sie mit dem Donner und Blitz seiner Waffen kam, und den sie bei seinen
Raubzügen unterstützten:80 „He had taken a high seat amongst the devils of the
land“,81 „unspeakable rites“ wurden zelebriert.82 Die Häuptlinge mussten zu ihm
kriechen.83 Marlow will von diesen Ritualen nichts hören. Die Lust an Erniedrigung
darin empfindet er als schrecklicher als die offene Verwerflichkeit der aufgespießten
Köpfe: „After all, that was only a savage sight, while I seemed at one bound to have
been transported into some lightless region of subtle horrors, where pure, uncompli-
cated savagery was a positive relief, being something that had a right to exist – ob-
viously – in the sunshine“.84 Das ist eine wichtige Passage. Warum ist dieser Wunsch,
die eingeborenen Menschen nicht nur zu unterwerfen und auszubeuten, sondern auch
zu erniedrigen, so scheußlich? Man kann das schwer erklären, wenn der Respekt vor
ihnen, vor ihrer Würde, nicht ein herausragend wichtiges Gut wäre.
Die Bedeutung von „savage“ wird so durch Kurtz’ Charakter und Handlungen ge-
nauer ausbuchstabiert, der dabei über „love, justice, conduct of life“ monologisiert.85
Kurtz fehlt wie den anderen „Pilgern“, was die Kannibalen auszeichnet: „restraint in
the gratification of his various lusts“.86 Seine Lebenssituation in der Station hat seine
Haltlosigkeit offengelegt: „But the wilderness had found him out early, and had taken
on him a terrible vengeance for the fantastic invasion. I think it had whispered to him
things about himself which he did not know, things of which he had no conception till
he took counsel with this great solitude – and the whisper has proved irresistibly fas-
cinating. It echoed loudly within him because he was hollow at the core“.87

80
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 92 f.
81
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 81.
82
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 83.
83
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 95. Zur kolonia-
len Praxis der Unterwerfung, vgl. die Beispiele besiegter, vor den kolonialen Siegern zum
Kriechen gezwungener Häuptlinge aus illustrierten Nachrichten der Zeit, wiedergegeben in
Sven Lindqvist, ,Exterminate all the Brutes‘: One Man’s Odyssey into the Heart of Darkness
and the Origins of European Genocide, 1996, S. 55 f.
84
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 95.
85
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 96.
86
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 95.
87
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 95.
200 Matthias Mahlmann

Kurtz ist krank und dem Tod nahe: „an animated image of death carved out of old
ivory“.88 Er hat den Angriff auf das Schiff angeordnet, weil er nicht nach Europa zu-
rückkehren will. Sie bringen ihn an Bord, er aber kriecht in der Nacht davon, wird von
Marlow gestellt und in einer langen Auseinandersetzung zur Rückkehr aufs Boot be-
wogen. Marlow überzeugt Kurtz damit, dass er, wenn er zurück an Land gehe, voll-
ständig verloren sein werde.89 Warum Kurtz darauf reagiert, zeigt sein Ende: Auf der
Fahrt zurück stirbt Kurtz. Marlow beobachtet, wie die teuflische Liebe der eigenen
innersten Wünsche und der Hass auf sie miteinander kämpfen: „But both the diabolic
love and the unearthly hate of the mysteries it had penetrated fought for the posses-
sion of that soul satiated with primitive emotions, avid of lying fame, of sham dis-
tinction, of all the appearances of success and power“.90 In seinen letzten Augenbli-
cken durchlebt er noch einmal die ganzen Schrecken; die ganze Schuld seiner Hand-
lungen. „The horror, the horror“ keucht er ein letztes Urteil über sein Leben, das seit-
dem nicht verklungen ist.91 Es bezeugt einen Akt der Selbsterkenntnis, mit dem Kurtz
aus seiner vollständigen Verlorenheit immerhin im letzten Moment erkennend in
eine moralische Welt zurückfindet. Marlow hält ihn deswegen für einen bemerkens-
werten Menschen und jedenfalls trotz seiner Untaten von anderem Kaliber als die
Pilger, die sich bis zuletzt in ihrer banalen Schlechtigkeit treu bleiben. Der Stations-
manager, der Marlow begleitet, hält Kurtz’ Methoden schlicht für unsolide92 – die
Ausbeutung braucht einer längerfristige Erfolgsperspektive, keine anderen morali-
schen Grenzen. Tröstend ist Kurtz’ Selbsterkenntnis nicht: „No eloquence could
have been so withering to one’s belief in mankind as his final burst of sincerity.“93
Marlow findet in Kurtz’ Papieren einen Bericht, in dem er die hochtrabende Rhe-
torik der Zivilisation mit der ihm eigenen besonderen Gabe der Rede entfaltet – „the
gift of expression, the bewildering, the illuminating, the most exalted and the most
contemptible, the pulsating stream of light, or the deceitful flow from the heart of an
impenetrable darkness.“94 Am Ende steht ein später hinzugefügter, alles erhellender
Zusatzvermerk: „Exterminate all the brutes!“95 Diese Ergänzung ist ein Sprengsatz,
weil sie eine entscheidende Wahrheit ausspricht: die totale Verachtung der Men-
schen, die der kolonialen Praxis und ihrer in Europa weitverbreiteten Ideologie un-
terliegt. Und wieder scheint der Text durchsichtig zu werden und den Blick freizu-
geben auf spätere Ereignisse, die die letzten Konsequenzen aus dieser Menschenver-
achtung ziehen.
88
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 97. Der Bezug auf
Elfenbein ist ein weiteres Leitmotiv, das die Erzählung von Beginn an, wenn die Freunde mit
Elfenbeinwürfeln spielen, durchzieht – das Raubgut aus Afrika findet sich in Europa überall.
89
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 106.
90
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 110.
91
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 112.
92
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 94, 101.
93
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 108.
94
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 79.
95
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 84.
Politische Verbrechen und europäische Kultur 201

Für Marlow ist die Reise eine Fahrt in das Innerste seines Selbst und die Möglich-
keiten, die auch dort lauern. Wieder bedeutet die Selbstannäherung zunächst eine
Selbstentfremdung:96 „I had – for my sins, I suppose – to go through the ordeal of
looking into myself“,97 „[i]t is his extremity that I seem to have lived through“.98
Kurtz ist ein Spiegelbild eines Teils seines Selbst, den es ihm mit einer Klarheit ent-
hüllt, die tröstliche Selbsttäuschung unmöglich macht.
Marlow wird krank. Das Grau, gefüllt mit lauem Skeptizismus, das seinen Kampf
mit dem Tod erfüllt, scheint ihm weniger bemerkenswert als Kurtz’ Urteil über die
Irrfahrten seiner Seele, in dem sich der Wunsch, das Getane noch einmal zu tun, und
der Hass auf seine Untaten mischen.99 Er kehrt nach Brüssel zurück und kann das
normale Leben dort nur schwer ertragen, weil die Menschen die Gefahr nicht
sehen, die er gesehen hat: „Their bearing, which was simply the bearing of common-
place individuals going about their business in the assurance of perfect safety, was
offensive to me like the outrageous flauntings of folly in the face of a danger it is
unable to comprehend“.100 Ein Bekannter von Kurtz informiert ihn, dass Kurtz ein
politischer Führer hätte werden können, einer extremistischen Partei „on the popular
side“.101 Auch mit diesen Bemerkungen nimmt die Erzählung in einer Weise Ge-
schehnisse vorweg, die Conrad sich nicht hätte wünschen können: Die in der Kultur
seiner Gegenwart lauernde Gefahr, die politische Führer brauchte und schließlich
fand.
Er besucht am Ende die Verlobte von Kurtz, die ihn weiter als einen großen und
guten Menschen verehrt. Auch in Afrika wurde Kurtz von einer Frau geliebt, der
Marlow begegnet, als sie versucht, Kurtz zu halten und dabei „barbarous and superb“
furchtlos den „Pilgern“ entgegentritt.102 Die Schilderung beider Frauen hat klischee-
hafte Züge, in denen sich stereotypische Ansichten über Frauen und Menschen
schwarzer Hautfarbe mischen.103 Unter der Oberfläche der Verzerrungen zeigen

96
Entsprechend gewinnt auch die Beschreibung der afrikanischen Landschaft eine neue
Bedeutung: „The African wilderness is, by these terms, less a geographical place than a
symbolic space, reflecting and accommodating European dreams of wealth and power. If
Africa is transformed into a function of European fantasy, it also resists and transcends such
fantasies“, Allan H. Simmons, Reading Heart of Darkness, in: J. H. Stape (Hrsg.), The New
Cambridge Companion to Joseph Conrad, 2015, S. 26. Zu den in verschiedenen Fassungen der
Erzählung immer indirekter werdenden Bezugnahmen auf Afrika, Robert Hampson, Intro-
duction, Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. xxiv.
97
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 107.
98
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 113.
99
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 113.
100
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 114.
101
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 116.
102
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 109.
103
Vgl. die Schilderung der afrikanischen Frau, die Kurtz’ Partnerin war: „She was savage
and superb, wild-eyed and magnificent; there was something ominous and stately in her
deliberate progress. And in the hush that had fallen suddenly upon the whole sorrowful land,
the immense wilderness, the colossal body of the fecund and mysterious life seemed to look at
202 Matthias Mahlmann

sich aber deutlich zwei Persönlichkeiten, die mehr sind als ein Spiegelbild männli-
cher Phantasien, die mit den Menschen, deren Bild sie imaginieren, nichts zu tun
haben.
Vor dem Eintritt sieht er Kurtz vor sich und hört seine letzten Worte, wie sie das
ganze Universum umarmen, verurteilen und verabscheuen. Die Verlobte, in deren
Bild sich Marlow ein bisschen verliebt hat,104 bittet um irgendein Wort oder Zeichen,
mit der sie ihre Liebe nähren und ihre Trauer ertragen lernen kann. Sie ist eine Per-
sönlichkeit, mit einer gereiften Fähigkeit zur Treue, zum Glauben und zum Leiden.105
Als Marlow begreift, wie es um sie steht, lügt er ihr vor, die letzten Worte von Kurtz
seien ihr Name gewesen, was sie mit größtem Leid und einem letzten Triumph an-
hört. Das ist ein großer Schritt für Marlow, da er die Lüge hasst: „There is a taint of
death, a flavour of mortality in lies – which is exactly what I hate and detest in the
world – what I want to forget. It makes me miserable and sick, like biting something
rotten would do.“106 Die Wahrheit wäre zu schrecklich gewesen, rechtfertigt Marlow
gegenüber seinen Zuhörern seine Lüge. Sie hätte den Lichtschimmer ausgelöscht,
der in der Liebe dieser Person liegt, wenn er auch auf Täuschung gegründet ist.
Am Ende blicken Erzähler, Marlow und seine übrigen Zuhörer, die über der Erzäh-
lung den Tidenwechsel verpasst haben, ihr also angespannt gefolgt sein müssen, über
die Themse hinaus, die in ein großes, unbestimmtes Dunkel führt. Der Kreis der Er-
zählung hat sich äußerlich geschlossen, die Frage, die sie gestellt hat, steht unbeant-
wortet und die Ruhe raubend im Raum. Vielleicht klingt in ihrem schweigenden
Nachdenken in diesen Momenten auf dem Boot Marlows Einschätzung nach:
„Droll thing life is – that mysterious arrangement of merciless logic for a futile pur-
pose.“107 Vielleicht aber auch Marlows eigene Antwort auf die Herausforderungen,
denen Kurtz erlegen ist: Das Gebot, das Schlechte ohne Aufhebens zu vergraben und
die Fähigkeit, sich einer Sache mit aller Kraft zu verschreiben – nicht dem eigenen,
kleinen Ego, sondern einer Sache, die dieses transzendiert: „[B]reathe dead hippo, so
to speak, and not be contaminated. And there, don’t you see? Your strength comes in,
the faith in your ability for the digging of unostentatious holes to bury the stuff in –
your power of devotion, not to yourself, but to an obscure, back-breaking busi-
ness.“108

her, pensive, as though it had been looking at the image of its own tenebrous and passionate
soul“, Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 99, und die der
Verlobten in Brüssel: „a soul as translucently pure as a cliff of crystal“, Joseph Conrad, Heart
of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 114, mit offensichtlich grob geschnittenen
Entgegensetzungen.
104
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 117.
105
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 119.
106
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 50.
107
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 112.
108
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 82.
Politische Verbrechen und europäische Kultur 203

III. Wo schlägt nun das „Herz der Dunkelheit“?


Es gibt eine einflussreiche, postkolonial motivierte Kritik, die in den letzten Jah-
ren allerdings deutlich an Einfluss verloren zu haben scheint – zu Recht, weil sie am
Text vorbei geht.109 Die Kritik von Conrad als Rassisten sollte nicht zu schnell über
die Lippen kommen, das sollte deutlich geworden sein. Offensichtlich ist, wie schon
betont, die Erzählung aus dem Horizont eines Autors des 19. Jahrhunderts geschrie-
ben, der mit seinen Texten in das 20. Jahrhundert und die literarische Moderne auf-
bricht. Gerade dass das Herkommen des Autors aus Sichtweisen, die mit einer kolo-
nialen Kultur verbunden sind, in Conrads Werk spürbar ist, verdeutlicht, welche Ent-
fernungen seine ästhetisch verkörperte Reisebeschreibung zurücklegt. Da erobert
einer, was heute manchem vielleicht vorschnell als offensichtlich erscheint. Es
zeigt mit welchem Ernst und welcher den Blick vor nichts abwendender Entschie-
denheit die Suche nach dem wirklichen Herz der Schrecken vorangetrieben wird.
Ein Kern ist dabei die Auseinandersetzung mit der Idee, die Menschen in Afrika
seien „savages“, Wilde – eine für die Rechtfertigungsideologie des Kolonialismus
entscheidende Idee, die die europäische Kultur tief geprägt hat, bis in die Kritik
ihrer tödlichen politischen Auswüchse hinein: Selbst in dieser Kritik wird manchmal
ein Menschenbild zugrunde gelegt, das dem Kritisierten gefährlich nahe kommt, weil
es aus Gründen unterschiedlicher kultureller Entwicklung bei bestimmten Men-
schengruppen, etwa in Afrika, das vollentwickelte Menschsein bezweifelt.110 Die Be-
schreibung der Reise von Marlow, genauer seiner zweifachen, äußeren und inneren,
erzählten und beim Erzählen angetretenen ebenso wie die Entwicklung bei seinen
Zuhörern auf dem Boot und bei jenen, die über das Reisen, Erzählen und Zuhören
lesen und nachdenken, betreiben allmählich die Schleifung der herkömmlichen, ko-
lonialen Bedeutung der Begriffe „Wilde“ und „Zivilisation“. Die scheinbar Unzivi-
lisierten zeigen sich allein (ohne jede Romantisierung) als Menschen, die Kolonisa-
toren machen schwer übersehbar, dass das Herz der Dunkelheit, das Marlow sucht, in
ihrer europäischen Zivilisation schlägt. Die Kannibalen sind die Einzigen, die das an
den Tag legen, dessen Fehlen der Schlüssel zu Kurtz’ Untaten ist, nämlich die Fähig-
keit, eigenes Verlangen zu zügeln – eine Fähigkeit, die auch den anderen Europäern
abgeht und die sich deswegen hemmungslos der eigenen Gier nach Elfenbein und
anderen Antrieben ergeben. Der wilde Tanz, den Kurtz aufgeführt hat, ist von
einem ganz anderen Kaliber als der, den Marlow bei den eingeborenen Menschen
beobachtete und der ihn zunächst so irritierte. Die einzige menschliche Bindung ent-
wickelt Marlow mit seinem schwarzafrikanischen Steuermann. Die europäischen
Kolonisatoren haben dagegen nur Verachtung verdient, als „weniger wertvolle
109
Zum Auf und Ab der Interpretation gerade nach Chinua Achebes einflussreicher Kritik,
ders., An Image of Africa, in: The Massachusetts Review 18 (1977), S. 782 – 794, im Über-
blick Andrew Francis, Postcolonial Conrad, in: J. H. Stape (Hrsg.), The New Cambridge
Companion to Conrad, 2015, S. 147 – 159. Vgl. auch Cedric Watts, ,A Bloody Racist‘: About
Achebe’s View of Conrad, The Yearbook of English Studies 13 (1983), S. 196 – 209.
110
Vgl. selbst Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 2005, S. 388,
408 ff., 425.
204 Matthias Mahlmann

Tiere“ als die Esel, die sie auf ihrem Raubzug mitführen.111 Wenn man das zusam-
mensieht, was Marlow über die Kolonisatoren aussagt und für eine Sekunde auf die
eingeborenen Menschen anwenden würde, wäre der Vorwurf des Rassismus schnell
erhoben. Damit wird überdeutlich, dass der Überlegenheitsanspruch der scheinbar
Zivilisierten nichts ist als eine bloße Schmutzspur der Ideologie.
Und noch etwas ist bemerkenswert: Marlow beschreibt am Anfang der Geschich-
te seiner Reise den Kongo als Spiegelbild der Kolonisation Englands durch die
Römer – und legt damit eine Spur, die bereits deutlich macht, worum es in der Er-
zählung wirklich geht: Was von europäischen Taten in Afrika berichtet wird, betrifft
die ganze Welt. In einer gestrichenen Passage wird dies (für Conrad wohl zu) explizit:
Die ganze Erde dreht sich in der Dunkelheit, deren Herz Marlow kennenlernt.112 Das
heißt auch: Die Analyse der Verbrechen des Kolonialismus sollte nicht zu einer Ro-
mantisierung von außereuropäischen Kulturen führen – auch für sie gilt, was Kurtz’
Tragödie lehrt.113
Worin besteht also das radikal Böse, das Kurtz verkörpert? Marlow hält Kurtz für
einen bemerkenswerten Charakter und macht ihn, und nicht die Pilger, zum „Alb-
traum seiner Wahl“.114 Der Grund dafür ist, dass er noch zugänglich dafür ist, was
moralische Prinzipien fordern. Er ist kein amoralischer Charakter, kein Mephisto-
pheles; er lebt nicht jenseits von Gut und Böse, das zeigt sich am Ende, als ihn
das Grauen, das ihn bei einer letzten Musterung seiner Wünsche, Absichten und
Taten empfindet, erfasst. Dies setzt voraus, dass er eine Ahnung vom moralischen
Status seiner Handlungen hat.
Damit hat die Reise den Kongo herauf ihren Zielpunkt erreicht: Das radikale mo-
ralische Böse, das Kurtz verkörpert, nüchtern gefasst, die Fähigkeit und Bereitschaft
von Menschen, jede Art von Unheil anderen Menschen anzutun, besteht nicht in
Amoralität, nicht in einer Welt, in der Moral eine unbekannte Größe wäre, sondern
in einem moralischen Impuls, der durch andere Antriebe überwältigt, unterdrückt,
unerheblich gemacht wird, ein flackerndes Flämmchen, das den starken Winden
der Leidenschaften nicht widersteht, ausgeblasen wird und nur noch mit dünnen,
zur Decke sich schlängelnden Rauchfäden eines verbliebenen schlechten Gewissens
eine Spur hinterlässt. Das ist kein erfreulicher Befund, im Gegenteil. Er zeigt näm-

111
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 59.
112
Paul B. Armstrong (Hrsg.), Joseph Conrad, Heart of Darkness, 2006, S. 84: „And the
earth suddenly seemed shrunk to the size of a pea spinning in the heart of an immense darkness
full of sparks born, scattered, glowing, going out beyond the ken of men.“
113
Victor G. Kiernan, The Lords of Human Kind, 1988, S. 226, hält zum belgischen Ko-
lonialregime fest: „The consequences were of a sort and on a scale not seen again in the world
until the Nazi epoch, when they were seen in Europe itself. Africa, or this part of it, now
became very truly a Dark Continent, but its darkness was one the invaders brought with them,
the sombre shadow of the white man.“ Wie die postkoloniale Geschichte mit ihren vielen
Diktaturen lehrt, ist es nicht nur der „Schatten des weißen Mannes“, der politische Übel
schafft.
114
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 101, 104.
Politische Verbrechen und europäische Kultur 205

lich, dass es nicht an gänzlich fehlender moralischer Orientierung liegt, dass gewisse
Verbrechen geschehen, sondern daran, dass die durchaus vorhandene moralische
Orientierung nicht stark genug ist, andere Antriebe zu begrenzen.
Diese Feststellungen sind mit klassischen Schuldtheorien gut vereinbar, auch sol-
chen, die sich in konkreten und das ganze strafrechtliche Sanktionssystem fundieren-
den Normen niederschlagen: Der Schuldvorwurf ergibt sich nicht daraus, dass der
Handelnde ein amoralisches Wesen wäre, sondern daraus, dass er Unrecht hätte er-
kennen können, aber es unterließ, die eigenen Handlungsvorsätze an dieser mögli-
chen Einsicht auszurichten und entsprechend zu handeln.115
Und auch Kant verfolgte diese Spur bei seiner Diskussion des Bösen als Kategorie
praktischer Philosophie: Es ist der Sieg der Selbstsucht über die Gebote des katego-
rischen Imperativs.116
Es wäre viel beruhigender, wenn es anders wäre, wenn moralische Gebote, wenn
sie nur überhaupt empfunden werden, alle anderen Antriebe übertrumpften. Es käme
dann nur darauf an, diese moralischen Impulse zu wecken, mit Leben zu erfüllen, um
Unheil zu verhindern. So ist selbst eine vorhandene moralische Orientierung kein
Garant dafür, dass dieses Unheil unterbleibt. Es muss den Handelnden nicht ver-
schlossen sein, dass etwas ethisch Unvertretbares getan wird, damit es geschieht.
Man muss also nicht nur um ethische Orientierung besorgt sein, sondern auch
darum, dass sie überhaupt und insbesondere politisch etwas zählt.
Damit ist ein weiterer wichtiger Aspekt von Marlows Reise erreicht: Es handelt
sich nicht nur um die Studie eines Einzelnen, dessen seltsame Psyche entschlüsselt
wird und den man in beruhigender Distanz zu den vielen anderen halten kann, die
derartige Exzesse einfach nicht kennen. Ein wohliger Schauer im bequemen Lese-
sessel ist nicht die angemessene Reaktion auf Kurtz’ Verfall. „All Europe contributed
to the making of Kurtz“, hält Marlow fest.117 Und damit wird die zutiefst politische
Dimension der Erzählung erreicht: Kurtz existiert nicht in einem gesellschaftlich-po-
litischen Vakuum. Zu den Ermöglichungsbedingungen seiner Untaten zählt vieles,
nicht zuletzt ein spezifischer kultureller Hintergrund, der die Unterwerfung und Aus-
beutung eines ganzen Kontinents zu einer erlaubten Selbstverständlichkeit machen

115
Vgl. entsprechend die Voraussetzungen der Schuldfähigkeit § 20 StGB Deutschland;
Art. 19 StGB Schweiz.
116
Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Akademie
Ausgabe VI, 1907, S. 36: „Folglich ist der Mensch (auch der Beste) nur dadurch böse, daß er
die sittliche Ordnung der Triebfedern in der Aufnehmung derselben in seine Maximen um-
kehrt: das moralische Gesetz zwar neben dem der Selbstliebe in dieselbe aufnimmt, da er aber
inne wird, daß eines neben dem anderen nicht bestehen kann, sondern eines dem anderen als
seiner obersten Bedingung untergeordnet werden müsse, er die Triebfeder der Selbstliebe und
ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht, da das letztere
vielmehr als die oberste Bedingung der Befriedigung der ersteren in die allgemeine Maxime
der Willkür als alleinige Triebfeder aufgenommen werden sollte.“ Warum diese geschehe, sei
letztlich unerklärlich, vgl. ders., S. 31 f.
117
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 83.
206 Matthias Mahlmann

konnte118 und eine politische und ökonomische Struktur, in der sich der Kolonialis-
mus und Imperialismus entfalten konnten, aber auch technische Entwicklungen,
etwa der Waffen, die die Überlegenheit der Eroberer auch gegen Widerstand sicher-
ten.
Ein Kernaspekt in normativer Hinsicht ist, dass die Gleichheit des Wertes der
Existenz jedes Menschen in Frage gestellt bzw. verhindert wurde, dass das Bewusst-
sein dieser Gleichheit sich bilden und politisch relevant werden konnte. Andere Men-
schen zählten einfach nicht und konnten deswegen als Material für die imperialisti-
schen Ziele benutzt werden.119
Damit lässt sich der Inhalt des Gegenteils von moralischer Orientierung und Ge-
rechtigkeit umreißen: Das Böse in einem ganz nüchternen Sinn ist die Lust auf Un-
gleichheit, das Greifen nach Wohlstand um jeden Preis, die Bereitschaft, andere im
Stich zu lassen, wenn der Wind sich entsprechend dreht oder sogar ihr Leiden hin-
zunehmen, wenn es nur der eigenen Sache dient, und die Verachtung der Bedeutung
der Existenz anderer Menschen. Es wird radikal, wenn das Bewusstsein vom Wert
menschlichen Lebens völlig verloren geht, wenn eine individuelle Existenz weniger
zählt als ein paar Kilogramm Elfenbein oder Gummi, oder sogar, die letzte Konse-
quenz, sich zu einem tödlichen Willen verdichtet, dem es nicht mehr um Ausbeutung,
sondern nur noch um Vernichtung von Menschengruppen geht.
Diese Verachtung von Menschen wird von Kurtz auf eine knappe Formel ge-
bracht: „Exterminate all the brutes!“ Es wurde schon unterstrichen: Das ist eine Lo-
sung, die die weiteren Katastrophen des 20. Jahrhunderts und vielleicht unserer Zu-
kunft antizipiert. Kurtz’ Tragödie ist deswegen der Vorschein der Geschehnisse, in
deren Schatten wir noch leben. Sie geht, wohlgemerkt, von Europa aus, dem mora-
lisch dunkleren Erdteil als viele es wahrhaben wollen. Sie umreißt die zentrale Auf-
gabe, der sich eine ethische, aber auch eine rechtliche Kultur im 21. Jahrhundert zu
stellen hat: Es gilt mit der Möglichkeit dieser radikalen Verachtung des Menschseins
zu rechnen und ihre politische Wirksamkeit durch ethische Orientierung, Gesell-
schaftsformen und rechtliche Normen und Institutionen zu verhindern.

IV. Was kann man tun?


In Hinblick auf die Lösung dieser Aufgabe ist zu betonen, dass mit Fragen der
Moral und der Ethik als einer Reflexionstheorie der Moral keine subjektiven, weich-
lichen Gefühlsduseleien angesprochen werden, die politisch irrelevant sind und
118
Vgl. zu einigem Anschauungsmaterial zu diesen Haltungen, Sven Lindqvist, ,Extermi-
nate all the Brutes‘: One Man’s Odyssey into the Heart of Darkness and the Origins of Eu-
ropean Genocide, 1996.
119
Die „eigentlich politische Struktur“ des Imperialismus besteht nach Hannah Arendts
plausibler Beobachtung in dem Versuch, „die Menschheit in Herren- und Sklavenrassen, in
,higher and lower breeds‘, in Schwarze und Weiße, in Bürger und eine ,force noire‘, die sie
schützen soll, einzuteilen“, dies., Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 2005, S. 288 f.
Politische Verbrechen und europäische Kultur 207

rechtlich bedeutungslos sein müssen. Es geht nicht um bekenntnishaftes, katheder-


prophetisches Sich-in-die-Brust-werfen für Privatvorlieben. Es geht um Identifizie-
rung von Grundnormen menschlichen Zusammenlebens und politischer Ordnung,
die durch kritische Reflexion und systematischen Zweifel immer wieder abgesichert
und weiterentwickelt werden. Solche Normen sind für Rechtsordnungen unverzicht-
bar, weil diese den Anspruch erheben, legitim zu sein. Es ist auch kein besonders gro-
ßes Rätsel, welche Normen dabei einen Kernbestand bilden. Demokratische Verfas-
sungsstaaten, aber auch die internationale Rechtsordnung, fragmentarisch wie sie
entwickelt sein mag, sind auf die Idee von Menschenrechten, der Würde, Freiheit
und Gleichheit von Menschen aufgebaut, die zu diesem Normbestand gehören.
Diese politischen und rechtlichen Ordnungen sind nicht naturwüchsig oder auf-
grund von historischen oder gesellschaftsfunktionalen Notwendigkeiten entstanden,
sondern weil Menschen in politisch wirksamer Weise die Forderung erhoben haben,
dass diese grundlegenden ethischen Prinzipien politischen und rechtlichen Institutio-
nen als Maßstäbe zu dienen haben. Es sind ethische Prinzipien, die politisch revolu-
tionäre Kraft entfaltet haben und die die Wurzel rechtlicher Institutionenbildung ge-
worden sind. Ihre Negation ist keine Privatangelegenheit, sondern eine destruktive
historische Kraft, wie Marlow erlebt und wie die weitere historische Entwicklung,
von seiner Erzählung antizipiert, unterstreichen sollte. In den Gegenwelten des Im-
perialismus und Nationalsozialismus spiegelt sich die moralisch ins Bodenlose fal-
lende Handlungsorientierung der politischen Subjekte in einer je eigenen institutio-
nellen, ökonomischen und kulturellen Form, die aus dem individuellen und kollek-
tiven Handeln und Unterlassen der Subjekte entsteht und die ihre politische Tragödie
ausmachen.
Verschiedene Faktoren spielen nun eine wichtige Rolle bei der Frage, welchen
Einfluss auf Handlungen moralische Urteile haben, die auf solchen Prinzipien beru-
hen. Dabei geht es wohlgemerkt gerade auch um politisch relevantes Handeln, z. B.
dasjenige von verschiedenen Akteuren, das, in welcher Form auch immer, ein solches
imperialistisches Unternehmen wie von König Leopold im Kongo möglich macht,
ein Unternehmen, zu dessen Konsequenzen nicht nur die architektonische Verhüb-
schung von Brüssel, sondern auch einige Millionen Tote gehörten, von anderem Lei-
den ganz zu schweigen. Die Katastrophen der Geschichte des 20. Jahrhunderts waren
komplexe Phänomene. Es wäre aber ein Stück Geschichtsverfälschung, vom ethi-
schen Versagen und der Verantwortung dafür von konkreten Menschen zu schweigen.
Erstens ist die Kraft der moralischen Motive für ihren Einfluss auf politisches
Handeln wichtig. Wieviel zählt das eigene Gewissen? Kurtz schreibt ein pompöses
Pamphlet über die Mission des weißen Mannes, das von Menschenfreundlichkeit
trieft. Die moralischen Prinzipien sind aber hohl und ohne Halt, in nichts verwurzelt,
nicht gesichert durch Reflexion und ein bisschen echte Anteilnahme. Hinter der Fas-
sade der Rhetorik – im Kleinen von Kurtz’ Pamphlet wie im Großen der kolonialis-
tischen und imperialistischen, geschichtsgestaltenden Ideologien – spielen andere als
menschenfreundliche Impulse eine entscheidende Rolle. Damit ist der zweite Punkt
208 Matthias Mahlmann

erreicht: Die Stärke der anderen Antriebe ist bedeutsam, die die moralischen Prinzi-
pien herausfordern. Für Kurtz ist Habgier ein wichtiges Motiv.120 Das ist nicht nur
eine literarische Räuberpistole – für König Leopold spielte Bereicherung wie für an-
dere koloniale oder imperialistische Mächte eine zentrale Rolle. Schon die spani-
schen Galeonen mit dem Gold Mittel- und Südamerikas waren kein Nebenaspekt
der Conquista. Aber auch andere, nur angedeutete Wünsche, die jedenfalls Machtlust
und ihre Auswüchse betreffen und Kurtz die Häuptlinge der ihm gehorchenden Stäm-
me zu ihm kriechen lassen, der Spaß an Erniedrigung und Grausamkeit, verlocken
ihn zu Handlungen, die am Ende Anlass des unerbittlichen Urteils über sich selbst
werden.
Drittens sind leitende Prinzipien für die Entscheidung von Konflikten zwischen
den verschiedenen Antrieben, die Menschen erleben, von Bedeutung. Ohne Bewusst-
sein, dass es für ein Leben wichtig sein könnte, wenigstens wenn es wirklich darauf
ankommt, anständig zu handeln, ohne die durch Reflexion verankerte Priorität mo-
ralischer Prinzipien, ohne die Erkenntnis, dass ein Leben, das wert ist, gelebt zu wer-
den, eines ist, das sich in moralischen Grenzen entfaltet, werden ethische Prinzipien
kraftlos bleiben. Es gibt keine Eudämonie ohne moralische Orientierung, keine Wür-
digkeit zur Glückseligkeit ohne moralische Integrität – diese Einsichten helfen, es
mit ethischen Prinzipien hinlänglich oft und gerade wenn es politisch zählt, ernst
zu meinen.
Wenn all dies ein plausibler Teil einer Psychologie des subjektiven Teils der Vor-
aussetzungen politischer Verbrechen ist, was ist dann zu tun?
Eine erste Konsequenz besteht zunächst darin, mit dieser Natur zu rechnen. Das
heißt nicht, in wohlfeiles Moralisieren zu verfallen. Im Gegenteil ist es wesentlich,
keine politischen Institutionen, ökonomische Ordnungen oder gesellschaftliche
Strukturen zu schaffen, in denen derartige Antriebe die Oberhand gewinnen können.
Dazu gehört insbesondere, dass keine Verhältnisse entstehen, in denen Menschen
nicht zur Rechenschaft gezogen werden können, weil sie in ihren Händen zu
große Machtmittel konzentriert haben. In die Idee der Demokratie ist die Hoffnung
eingeschrieben, dass die Gleichheit der Mitbestimmungsrechte auch die Selbstsucht
bestimmter Gruppen im Zaum hält – wenn die Praxis der Demokratie auch ernüch-
ternde Beispiele des Gegenteils bereithält. Fundamental ist politisches Handeln an
den Respekt vor bestimmten Rechten zu binden – das ist der Kern des epochalen Ver-
suchs, den die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkörpert und der sich in
nationalen Grundrechtsordnungen ebenso wie, wenn auch in sehr unvollkommener
Form, im internationalen Recht ausprägt. Demokratische Verfassungsstaatlichkeit
und der Versuch einer menschenrechtsorientierten Völkerrechtsordnung sind eine
Antwort auf die zentrale ethische und politische Herausforderung, für die Kurtz’ Un-
tergang steht. Das Bewusstsein der Wichtigkeit des Rechts muss dabei immer wieder
neu in der Alltagskultur verankert werden. Eine Rechtsordnung als Inbegriff komple-
120
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 120: „[…] im-
patience of comparative poverty that drove him out there.“
Politische Verbrechen und europäische Kultur 209

xen sozialen Handelns einer Vielzahl von Individuen kann einen Beitrag zu ihrer ei-
genen Erhaltung durch die Anziehungskraft der Resultate ihrer Existenz und Wirk-
samkeit leisten. Es liegt nicht bloß in den Händen von einzelnen wohlmeinenden Per-
sonen, ob Gerechtigkeit oder andere Impulse obsiegen. Die Zähmung der Kräfte, die
Kurtz in ihre Gewalt gebracht haben, hat mit solchen Institutionen einige Unterstüt-
zung auf ihrer Seite.
Rechtsordnungen bleiben in letzter Instanz aber abhängig vom sozialen Handeln
der Menschen. Ein demokratischer Verfassungsstaat, eine internationale Ordnung,
die von niemandem mehr getragen wird, wird untergehen. Ob das geschieht,
hängt entscheidend von den Legitimationsvorstellungen der Menschen ab. Wenn hin-
länglich viele Menschen hierarchische Autokratien Demokratien vorziehen, haben
letztere keine Zukunft mehr.
Die ethischen und rechtskulturellen Hintergründe von Verfassungsstaat, Demo-
kratie, Menschenrechten und der einzelnen Rechtsbereiche, in denen sich eine
Rechtsordnung differenziert entfaltet, sind deswegen ebenfalls von großer Bedeu-
tung. Sie sind das Fundament, auf dem diese Bausteine der Rechtsordnung ruhen.
Das Recht kann sich selbst dauerhaft nicht garantieren, weil es sich nicht selbst
schafft. Damit ergibt sich eine Schwierigkeit: Die Sicherungsmechanismen der
Rechtsordnung, die nach wiederkehrenden Annahmen benötigt werden, um die
Defizite der Moral auszugleichen, sind selbst auf eine ethische Orientierung hin-
länglich vieler Individuen angewiesen, deren soziales Handeln die Rechtsinstitu-
tionen erzeugen. Man kann politische Ethik deshalb nicht vollständig durch Recht
ersetzen.121
Die kulturellen Voraussetzungen von Recht lassen sich nicht einfach sozialtech-
nisch herstellen, sondern sind darauf angewiesen, dass verschiedene Quellen nicht
versiegen.
Marlow weist in seinen Reflexionen zu den Ursachen von Kurtz’ Tragödie auf die
Bedeutung anderer Menschen hin, die andere an ihr besseres Selbst mahnen und,
wenn die Sirenenklänge erklingen, die nicht nur Kurtz in Schuld verstrickt haben,
eine andere Melodie anstimmen können.122 Neben solchen sozialen Bindungen ist
eine offensive Kritik menschlicher Ziele wichtig: Was ist wert, dass dafür gelebt
wird? Die Erinnerung an die Bedeutung des Lebens hilft insbesondere ethisch, po-
litisch und rechtskulturell dann weiter, wenn sie das menschliche Leben als solches
betrifft und nicht nur das eigene, weil es das eigene ist. Es ist dann deutlich weniger
wahrscheinlich, dass man bereit ist, es leichthin zu opfern. Marlow hat den Eindruck,
dass Kurtz die ganze Welt verschlingen wolle, mit seinem unersättlichen Ich.123 Das
Bewusstsein des Werts menschlichen Lebens relativiert die Bedeutung der eigenen

121
Vgl. zur klassischen Idee der Kompensation der Defizite der Moral durch Recht Jürgen
Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 143 ff.
122
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 82.
123
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 97.
210 Matthias Mahlmann

Person, weil sie wohlverstanden nur eine von vielen ist und deswegen keinen beson-
deren Rang beanspruchen kann, erhöht aber den Grad geschuldeter Achtung für alle.
Ein weiteres tragendes Element einer humanen Rechtskultur besteht darin, dass
ethische Ideen überhaupt ernstgenommen und nicht nur als süßlicher Flitter abgetan
werden. Die Stärke moralischer Normen, von Gerechtigkeit und menschlicher Soli-
darität, hängt nicht zuletzt davon ab, moralische Orientierung für ein prägendes
Merkmal menschlichen Lebens zu halten und nicht nur für eine metaphysische124
oder sozialfunktionale Luftnummer.125 Menschen besitzen moralische Urteilsfähig-
keit, sie können wissen, was man anderen nicht antut; was dazu gehört, ist hinläng-
lich klar, wenn es um mehr geht als selbstverliebten Zweifel ohne erkenntnistheore-
tischen Grund. Menschen sind keineswegs bloße Opfer der Verhältnisse und Ideolo-
gien, die Verachtung der moralischen Urteilskraft hat verheerende politische und
rechtliche Folgen: Moralische Überzeugungen und ihre Negation sind entscheidende
Bewegungskräfte der durch Menschen gemachten Geschichte, auch der des Rechts –
ohne diese Schlussfolgerungen zu ziehen, versteht man die Sprache, die die Erinne-
rung an die Opfer gut verständlich spricht, zu schlecht. Dass dies nach den politischen
Großverbrechen der jüngeren Vergangenheit und ihrer fast unerträglich treffsicheren
Schilderung und Vorwegnahme in solchen Werken wie dem, das von Marlows Be-
richt über seine Reise den Kongo hinauf erzählt, keine Selbstverständlichkeit ist, bil-
det eines der beunruhigenden Elemente der geistigen Konstellation am Beginn des
21. Jahrhunderts.126
Die rechtlichen Normen und Institutionen, die so entwickelt und kulturell gesi-
chert werden müssen, reichen vom Strafrecht bis zum Völkerrecht. Die Reflexion
über Recht, nicht zuletzt in der Rechtswissenschaft, kann durch das Unterstreichen
der Bedeutung von bestimmten Werten wie der Würde, Autonomie, Solidarität und
Gleichheit, ihrer Erklärung und Verteidigung, dazu beitragen, dass das Gegenteil die-
ser Werte keine Wunschhorizonte der Menschen erobert, ohne dabei das Verführe-
rische eines Lebens in dieser Gegenwelt kleinzureden oder gar zu verschweigen –
„breathe dead hippo, so to speak, and not be contaminated“.

124
Klassisch z. B. Rudolf Carnap, Die Überwindung der Metaphysik durch logische Ana-
lyse der Sprache, Erkenntnis 2 (1931/32), S. 219 – 241.
125
Vgl. z. B. zur universalistischen Moral als „Selbstbeschreibung“ eines autopoietischen
Systems Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 1036 ff.
126
Hannah Arendt berichtet auch über einen Zeugen im Eichmann-Prozess, der die Mög-
lichkeit am Beispiel eines deutschen Feldwebels in Erinnerung rief, verfolgte Menschen nicht
aufzugeben, sondern ihnen zu helfen: „Während der wenigen Minuten, die Kovner brauchte,
um über die Hilfe eines deutschen Feldwebels zu erzählen, lag Stille über dem Gerichtssaal; es
war, als habe die Menge spontan beschlossen, die üblichen zwei Minuten des Schweigens zu
Ehren des Mannes Anton Schmidt einzuhalten. Und in diesen zwei Minuten, die wie ein
plötzlicher Lichtstrahl inmitten dichter, undurchdringlicher Finsternis waren, zeichnete ein
einziger Gedanke sich ab, klar, unwiderlegbar, unbezweifelbar: wie vollkommen anders alles
heute wäre, in diesem Gerichtssaal, in Israel, in Deutschland, in ganz Europa, vielleicht in
allen Ländern der Welt, wenn es mehr solcher Geschichten zu erzählen gäbe.“, Hannah
Arendt, Eichmann in Jerusalem, 2006, S. 345.
Politische Verbrechen und europäische Kultur 211

Die Rechtsordnung ist auf ein Mindestmaß an Selbstvertrauen gegründet – „the


faith in our ability for the digging of unostentatious holes to bury the stuff in“,
den Stoff, aus dem die Tragödien gemacht sind, für die Kurtz steht. Die Rechtsphi-
losophie sollte sich deshalb nicht entmutigen lassen, zu versuchen, das Bewusstsein
des Sinns des Ganzen eines Rechtssystems wachzuhalten – als Antwort, die keine
Alternative kennt, auf die Herausforderung durch das, was einmal das Böse hieß,
auf die nie erlöschenden Anziehungskräfte dessen, was Gerechtigkeit und morali-
schen Anstand negiert.
Kritischer Rationalismus und das Recht
Von Eric Hilgendorf

Wie kaum ein anderer deutschsprachiger Jurist verknüpft Reinhard Merkel in sei-
nen Arbeiten juristische Problemstellungen mit Einsichten und Analysen aus dem
Umkreis der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Wien1 entstandenen analytischen Phi-
losophie, ohne sich jedoch mit einer ihrer vielen Spielarten identifizieren zu lassen.
Der „Kritische Rationalismus“ ist die vermutlich am stärksten systematisch ausge-
arbeitete Version analytischen Denkens in der Gegenwart. Vielleicht ist die Hoffnung
deshalb nicht vermessen, dass der Jubilar, dem wohl niemand die Attribute „kritisch“
und „rational“ abzusprechen wagen würde, die nachfolgenden Zeilen mit Interesse
und vielleicht sogar mit gelegentlicher Zustimmung lesen wird.

I. Kritischer Rationalismus als Angebot


und Herausforderung
Der von Karl Popper in kritischer Auseinandersetzung mit dem Neopositivismus
bzw. „Logischen Empirismus“ des Wiener (und Berliner) Kreises2 begründete Kri-
tische Rationalismus gehört zu den einflussreichsten philosophischen Strömungen
der Gegenwart.3 Seine Themen orientierten sich ursprünglich an Fragestellungen
1
Janik/Toulmin, Wittgensteins Wien. Übersetzt von Reinhard Merkel, 1984; vgl. auch
Merkel, Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus, 1994. Fast alle einflussreichen Ideen
des 20. und frühen 21. Jahrhunderts scheinen der „Wiener Moderne“ zu entstammen, dazu
Fischer (Hrsg.), Das goldene Zeitalter der Österreichischen Philosophie, 1995; Nautz/Vah-
renkamp (Hrsg.), Die Wiener Jahrhundertwende, 2. Aufl. 1996; Pollak, Wien 1900. Eine
verletzte Identität, 1992; Stadler (Hrsg.), Wissenschaft als Kultur. Österreichs Beitrag zur
Moderne, 1997; Wunberg (Hrsg.), Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen
1890 und 1910, 1981/2000 (unter Mitarbeit von Braakenburg).
2
Haller, Neopositivismus. Eine historische Einführung in die Philosophie des Wiener
Kreises, 1993. Einschlägige Texte sind zusammengestellt in: Stöltzner/Übel (Hrsg.), Wiener
Kreis. Texte zur wissenschaftlichen Weltauffassung von Rudolf Carnap, Otto Neurath, Moritz
Schlick, Philipp Frank, Hans Hahn, Karl Menger, Edgar Zilsel und Gustav Bergmann, 2006;
Milkov (Hrsg.), Die Berliner Gruppe. Texte zum logischen Empirismus, 2015; vgl. auch Hil-
gendorf (Hrsg.), Wissenschaftlicher Humanismus. Texte zur Moral- und Rechtsphilosophie
des Wiener Kreises, 1998.
3
Zur ersten Orientierung Niemann, Lexikon des Kritischen Rationalismus, 2004. Näher
zur geistigen Tradition des Kritischen Rationalismus Keuth, Die Philosophie Karl Poppers,
2000, XVI ff., Hilgendorf, Kritischer Rationalismus und Positivismus, in: Hilgendorf (Hrsg.),
Kritischer Rationalismus und Einzelwissenschaften, 2017, 43 – 54.
214 Eric Hilgendorf

der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie.4 Schon seit den 40er Jahren des 20. Jahr-
hunderts traten aber Fragen der politischen Philosophie, der Sozialphilosophie5 und
schließlich der Rechtsphilosophie und Rechtstheorie hinzu.6
Während der 60er und 70er Jahre spielte der Kritische Rationalismus auch in den
politischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland eine nicht unerhebliche Rolle.
In der damals einsetzenden Reformphase arbeiteten führende Vertreter des Kriti-
schen Rationalismus eng mit Juristen und Rechtsphilosophen zusammen; es kam
zu einer Renaissance der Rechtstheorie, die die Rechtsreformen der 70er und 80er
Jahre vorbereiten half.7 Vorschläge aus dem Umfeld des Kritischen Rationalismus
wurden und werden vor allem im Rahmen der juristischen Methodenlehre kontrovers
diskutiert8, wobei sich die Rezeption bisweilen auf wenige Schlagworte wie „Falli-
bilismus“ oder „Falsifikation“ beschränkte.9 Nicht zuletzt unter dem Einfluss dieser
Debatten wurde ab den 70er Jahren auch in der Rechtsdogmatik die Bedeutung der
Empirie wieder verstärkt reflektiert.10
Zu den Beiträgen des Kritischen Rationalismus im Rahmen des rechtstheoreti-
schen und rechtspolitischen Aufbruchs der späten 60er Jahre in Deutschland gehörte
zum einen der Re-Import von Problemstellungen und Lösungsansätzen der analyti-
schen Philosophie, etwa zur Metaethik.11 Einflussreich wurde des Weiteren das de-
zidiert anti-fundamentalistische Programm des Kritischen Rationalismus, welches
mit der damals in der Rechtsphilosophie vollzogenen Wende gegen das Naturrecht
im Einklang stand. Eine weitere Verbindung bestand im Hinblick auf den Auf-
schwung teleologischer – in der Terminologie des Kritischen Rationalismus:
„zweckrationaler“ – Argumentationsmuster. Über den akademischen Kontext hinaus
wurde vor allem Poppers Philosophie der Offenen Gesellschaft12 rezipiert, ein Mo-
dell, welches heute geradezu als Markenzeichen der aufgeklärten westlichen Gesell-
4
Musgrave, Alltagswissen, Wissenschaft und Skeptizismus, 1993.
5
Siegetsleitner, Fehlbarkeit und gesellschaftliche Praxis, in: Morscher (Hrsg.), Was wir
Karl R. Popper und seiner Philosophie verdanken, 2002, 381 – 411; Stelzer, Karl Poppers
Sozialphilosophie. Politische und ethische Implikationen, 2004.
6
Rönsberg, Hans Albert und die Jurisprudenz, 2012.
7
Hilgendorf, Die Renaissance der Rechtstheorie 1965 – 1985, 2005.
8
Schwerdtner, Rechtstheorie 2 (1971), 67 – 94, 224 – 244; Savigny, Die Jurisprudenz im
Schatten des Empirismus. Polemische Anmerkungen zu Hans Albert: Erkenntnis und Recht,
in: Jahrbuch für Rechtstheorie und Rechtssoziologie 2, 1972, S. 97 – 108, dagegen Albert,
Normativismus oder Sozialtechnologie?, in: Jahrbuch für Rechtstheorie und Rechtssoziologie
Bd. 2, 1972a, S. 109 – 113 und Kellmann, Rechtstheorie 1 (1975), 83 – 103; dazu Popper,
Rechtstheorie 1 (1976), 65 – 66; Schlink, Der Staat 19 (1980) 73 – 107; Damas, Archiv für
Rechts- und Sozialphilosophie 89 (2003), 186 – 199.
9
Canaris, Juristenzeitung 48 (1993), 377 – 391.
10
Starck, Juristenzeitung 27 (1972), 609 – 614; Potacs, Rechtstheorie 25 (1994),195 – 211.
11
Albert, Ethik und Meta-Ethik (1961), in: ders., Konstruktion und Kritik. Aufsätze zur
Philosophie des kritischen Rationalismus, 1975, S. 127 – 167.
12
Dazu Keuth, Die Philosophie Karl Poppers, 2000, 244 ff.; Salamun, Ein Jahrhundert-
denker. Karl R. Popper und die offene Gesellschaft, 2018.
Kritischer Rationalismus und das Recht 215

schaften gilt und auch in den Massenmedien gerne beschworen wird, ohne dass
immer deutlich gemacht wird, welchen geistesgeschichtlichen Hintergrund die
Rede von der „Offenen Gesellschaft“ besitzt: die europäische Aufklärung.
Im Folgenden sollen die wichtigsten Verbindungslinien zwischen Kritischem Ra-
tionalismus und Jurisprudenz skizziert werden. Der Begriff „Jurisprudenz“ wird
dabei weit verstanden, so dass er sowohl die Rechtspraxis als auch die Rechtswissen-
schaft unter Einschluss von Rechtstheorie und Rechtsphilosophie umfasst. Dieser
Herangehensweise entspricht die Überzeugung führender Vertreter des Kritischen
Rationalismus, dass eine Trennung von Theorie und Praxis allenfalls begrifflich
möglich ist.13 Mit seiner Zurückweisung vermeintlich vorgegebener Sicherheiten,
seiner Forderung nach unbedingter Klarheit und Transparenz und der Rückbindung
der Praxis an menschliche Interessen und zu verantwortende menschliche Entschei-
dungen kann der Kritische Rationalismus als philosophischer Rahmen eines zeitge-
mäßen juristischen Humanismus14 verstanden werden.

II. Die Philosophie der „Offenen Gesellschaft“


Das 1945 erschienene Buch „Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde“ ist Pop-
pers sozialphilosophisches Hauptwerk und wohl sein bekanntestes Buch überhaupt.15
Der ins Exil vertriebene Wissenschaftslehrer Popper betrachtete das Werk als seinen
Beitrag zur Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen totalitären Systemen in
Deutschland und der Sowjetunion. „Anmaßende Philosophen“ in der Tradition
von Platon, Hegel und Marx interpretiert Popper als Vordenker und intellektuelle
Verbündete des Totalitarismus, eine Deutung, die sich zwar auf manche Inhalte
und eine oftmals fatale Rezeptionsgeschichte stützen lässt, jedoch abweichende In-
terpretationen der genannten Denker zu wenig berücksichtigt, um ohne Einschrän-
kungen überzeugen zu können.
Für Popper spiegeln die von ihm kritisierten Denker zu Unrecht vor, sicheres Wis-
sen über den Ablauf und das Ziel der menschlichen Geschichte zu besitzen – Popper

13
Albert, Traktat über kritische Vernunft, 1991, S. 72 f. Dazu auch Rießlinger, Vernunft
und Kritik. Fünfzig Jahre „Traktat über kritische Vernunft“, in: Aufklärung und Kritik 2018,
S. 7 ff.
14
Dazu Hilgendorf, Humanismus und Recht – Humanistisches Recht? Eine erste Orien-
tierung, in: Groschopp (Hrsg.) Humanismus und Humanisierung, 2014, 36 – 56.
15
Popper, Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde (1945), in: Kiesewetter (Hrsg.) Ge-
sammelte Werke in deutscher Sprache, Bde. 5 und 6, 2003; dazu Döring, Karl R. Popper, Die
offene Gesellschaft und ihre Feinde. Ein einführender Kommentar, 1996; Ottmann, Ge-
schichte des politischen Denkens, Bd. 4: Das 20. Jahrhundert, Teilband 2: Von der Kritischen
Theorie bis zur Globalisierung, 2012, S. 131 ff.; Waschkuhn, Kritischer Rationalismus: Sozi-
alwissenschaftliche und politiktheoretische Konzepte einer liberalen Philosophie der offenen
Gesellschaft, 1999, S. 129 ff. Aus dem angelsächsischen Sprachraum Catton/Macdonald
(Hrsg.), Karl Popper. Critical Appraisals, 2004.
216 Eric Hilgendorf

nennt dies „Historizismus“16 – und entwickeln Systeme und politische Herrschafts-


modelle, in denen dieses vermeintliche Wissen im Sinne eines politischen Paterna-
lismus, im schlimmsten Fall sogar eines politischen Fundamentalismus, umgesetzt
werden kann. So entsteht das Leitbild einer „geschlossenen Gesellschaft“, in der
es keiner kritischen Analysen und Debatten mehr bedarf, denn die endgültige Wahr-
heit ist gefunden und muss nur noch verkündet und durchgesetzt werden.
Die solchen Vorstellungen entgegengesetzte „Offene Gesellschaft“ ist nach Pop-
per gekennzeichnet durch die Einsicht in die Beschränktheit unseres gesamten Wis-
sens und den – im besten Fall institutionalisierten – Versuch, durch unvoreingenom-
mene, rationale Diskussion Schritt für Schritt bessere Problemlösungen zu erarbei-
ten. In einer seiner letzten Schriften formulierte Popper sein Ideal intellektueller Aus-
einandersetzung wie folgt:
„Vielleicht habe ich unrecht, und du hast recht, jedenfalls können wir beide hoffen, nach
unserer Diskussion etwas klarer zu sehen als vorher, und jedenfalls können wir ja beide von-
einander lernen, solange wir nur nicht vergessen, dass es nicht so sehr darauf ankommt, wer
recht behält, als vielmehr darauf, der Wahrheit näherzukommen. Nur zu diesem Zweck ver-
teidigen wir uns in der Diskussion so gut, wie wir eben können“.17

Der in diesen Zeilen erkennbare Sprachduktus ist typisch für die oft absichtlich
einfach und populär gehaltenen sozialphilosophischen Texte Poppers.18 Seine Leit-
ideen sind Klarheit und intellektuelle Bescheidenheit; nicht belegbare Behauptun-
gen, sprachlicher Bombast und vielversprechender Tiefsinn werden kritisiert und
als nicht tragfähig entlarvt. Es überrascht nicht, dass dieses Verständnis von Philo-
sophie gerade in Deutschland bei Vielen keinen leichten Stand hat.
Poppers Schüler John Watkins hat das Modell der „Offenen Gesellschaft“ in fol-
genden Worten umschrieben:
„a society where no ideology or religion is given a monopoly, where there is a critical interest
in new ideas whatever their source, where political processes are open to public examination
and criticism, where there is freedom to travel and where restrictions on trade with other
countries are minimal, and where the aim of education is to impart knowledge rather
than to indoctrinate“.19

In der Gegenwart ist das Konzept der „Offenen Gesellschaft“ zum Leitbegriff der
liberalen westlichen Gesellschaften geworden. Ihr Gegenmodell bilden heute nicht
mehr nur die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts, sondern auch die theokratisch

16
Popper, Das Elend des Historizismus (1957), in: Kiesewetter (Hrsg.), Gesammelte
Werke in deutscher Sprache, Bd. 4, 2003.
17
Popper, Alles Leben ist Problemlösen. Über Erkenntnis, Geschichte und Politik, 1994,
S. 161.
18
Dazu auch Dahrendorf, Liberale und andere. Portraits, 1994, S. 82.
19
Watkins, Open Society, in: Outhwaite (Hrsg.), The Blackwell Dictionary of Modern
Social Thought, 2. Aufl., 2003, S. 443.
Kritischer Rationalismus und das Recht 217

orientierten Gesellschaftsordnungen des Nahen und Mittleren Ostens.20 Die Grund-


ideen der „Offenen Gesellschaft“ – Demokratie, Meinungsfreiheit, Menschenwürde
– finden sich sämtlich auch in den Verfassungen Westeuropas und der USA, was nicht
zuletzt dadurch zu erklären ist, dass die liberale Verfassungsbewegung ebenso wie
die Idee der „Offenen Gesellschaft“ in den Idealen der europäischen Aufklärung wur-
zelt. Das Modell der „Offenen Gesellschaft“ wird heute von allen großen politischen
Denkrichtungen Europas und der USA im Grundsatz bejaht, wobei allerdings über
Einzelfragen durchaus unterschiedliche Meinungen bestehen.
Die Leitprinzipien der „Offenen Gesellschaft“ sind offenkundig mit der klassi-
schen liberalen Wissenschaftskultur eng verwandt: die kritische Prüfung aller Be-
hauptungen, sachliche Analyse, Offenheit für Gegenargumente, die nicht bloß zuge-
lassen, sondern geradezu gesucht werden, sowie Vertrauen auf die Kraft des besseren
Argumentes. Freie Universitäten sind, weit über bloße Ausbildungsaufgaben hinaus,
„Stätten des Geistes“21, in denen nicht bloß fachwissenschaftliche, sondern auch ethi-
sche und politische Probleme von allgemeinem Interesse offen und unvoreingenom-
men analysiert und kritisch erörtert werden sollen. Sie repräsentieren damit geradezu
die Ideale der „Offenen Gesellschaft“22. Es überrascht deshalb nicht, dass die Feinde
der Offenen Gesellschaft in aller Regel auch Feinde freien und kritischen Denkens
sind.
Die Offene Gesellschaft erscheint heute bedroht wie lange nicht mehr. Abgelehnt
werden vor allem der ihr zugrunde liegende Individualismus, die Prinzipien der
Marktwirtschaft und des Privateigentums, der Grundsatz der Chancengleichheit,
die Kritik an Autoritäten, welche einen Anspruch auf „allgemeine Wahrheit“ erhe-
ben, die Idee der Gewaltenteilung und Kontrolle über staatliche Institutionen und
schließlich auch der Universalismus des westlichen Gesellschaftsmodels, also die
Vorstellung, die Ideen der „Offenen Gesellschaft“ könnten auch außerhalb des Wir-
kungsbereichs der europäischen Aufklärung fruchtbar umgesetzt werden.23
Die Verteidiger der Offenen Gesellschaft konnten lange darauf verweisen, dass
sich die westlichen, den Idealen des klassischen Liberalismus folgenden Gesellschaf-
ten bislang gegenüber allen anderen Gesellschaftstypen als überlegen erwiesen
haben. Dieses Argument verliert allerdings angesichts der Erfolgsgeschichte konkur-
rierender Gesellschaftsformen, z. B. in Ostasien, und deutlichen Schwächeanzeichen
des westlichen Gesellschaftstypus vor allem in den USA, aber auch in Europa, an
20
Engel, Aufklärung und Kritik, Sonderheft 17/2007 (2007), S. 96 ff. Sehr bemerkenswert
deshalb das vorzügliche Buch von Masoud Mohammadi Alamuti, Critical Rationalism and
Globalization. Towards the sociology of the open global society, 2015.
21
Demandt (Hrsg.), Stätten des Geistes. Große Universitäten Europas von der Antike bis
zur Gegenwart, 1999.
22
Hilgendorf, Universität in der offenen Gesellschaft. Gefährdung und Chancen. In: Hil-
gendorf (Hrsg.), Pro Universitate et Ecclesia. Festgabe für Dieter Salch zum 75. Geburtstag,
2015, 63 – 72.
23
Fücks, Freiheit verteidigen. Wie wir den Kampf um die offene Gesellschaft gewinnen,
2017, S. 36 f. unter Verweis auf Dugin, Die Vierte Politische Theorie, 2013.
218 Eric Hilgendorf

Überzeugungskraft. Es reicht deshalb nicht aus, sich darauf zu berufen, dass zahlrei-
che Grundsätze der Offenen Gesellschaft verfassungsrechtlich verankert sind, in
Deutschland etwa in den Staatszielbestimmungen der Rechtsstaatlichkeit und der
Demokratie, sowie in der Festschreibung von Grundrechten und der Menschenwür-
de. Um nachhaltig Wirkung zu entfalten, müssen Verfassungen und die in ihnen ver-
körperten Werte und Prinzipien von der Rechtsgemeinschaft akzeptiert und gelebt
werden; Texte allein können gesellschaftliche Entwicklungen und Umbrüche
nicht aufhalten.

III. Die Systematisierung der kritisch-rationalen Sozialphilosophie


durch Hans Albert
Eine der Kernthesen des Kritischen Rationalismus lautet, dass es außerhalb der
Formalwissenschaften kein sicheres Wissen gibt. Alle unsere Annahmen sind unsi-
cher; eine „letzte Begründung“ gibt es nicht. Der Kritische Rationalismus erweist
sich damit als eine Spielart des Skeptizismus, dessen Wurzeln bis in die Antike zu-
rückreichen. Wichtige Vorschläge zur Weiterentwicklung dieser Tradition stammen
von dem deutschen Wissenschaftslehrer Hans Albert. Er hat dem Kritischen Ratio-
nalismus als erster eine systematische Form gegeben und den kritisch-rationalen
Denkstil explizit auf Disziplinen außerhalb der Naturwissenschaften angewandt.
Ein Hauptaugenmerk Alberts lag dabei auf der Jurisprudenz.24
Die Kernpositionen des Kritischen Rationalismus werden bei Albert durch drei
Thesen charakterisiert:25
(1) die These des konsequenten Fallibilismus, wonach alle menschlichen Problem-
lösungsversuche prinzipiell fehlbar sind, und zwar in der Wissenschaft ebenso
wie in der Praxis.
(2) die These des methodischen Rationalismus, auch Methode der kritischen Prü-
fung genannt, nach der sich bei allen Problemlösungsversuchen zwei Schritte
unterscheiden lassen, nämlich die von Erfahrung, Fantasie und Intuition gelei-
tete Konstruktion neuer Problemlösungsvorschläge und ihre anschließende Kri-
tik vor der Folie der Realität, und schließlich

24
V. a. Albert, Erkenntnis und Recht. Die Jurisprudenz im Lichte des Skeptizismus, in:
Jahrbuch für Rechtstheorie und Rechtssoziologie Bd. 2, 1972, S. 80 – 96, ders., Traktat über
rationale Praxis, 1978, ders., Zur Kritik der reinen Jurisprudenz. Recht und Rechtswissen-
schaft in der Sicht des kritischen Rationalismus, in: Internationales Jahrbuch für Rechtsphi-
losophie und Gesetzgebung 2, 1992, 341 – 364 und ders., Rechtswissenschaft als Realwis-
senschaft. Das Recht als soziale Tatsache und die Aufgabe der Jurisprudenz, 1993.
25
Albert, Kritische Vernunft und menschliche Praxis. Mit einer autobiographischen Ein-
leitung. Durchgesehene und bibliographisch ergänzte Aufl., 1984, S. 26; ders., Meine philo-
sophischen Auffassungen, in: Hilgendorf (Hrsg.), Kritischer Rationalismus und Einzelwis-
senschaften (Fn. 3), S. 199.
Kritischer Rationalismus und das Recht 219

(3) die These eines kritischen Realismus, wonach die Erkenntnis der Wirklichkeit
zwar immer fehlbar, aber prinzipiell doch möglich ist.
Der Suche nach einer sicheren Wissensbasis setzen Kritische Rationalisten die
Idee der kritischen Prüfung entgegen: Jeder Aussage, habe sie nun kognitiven
oder normativen Gehalt, besitzt nur vorläufige Geltung, sie muss sich in der Realität
bewähren und ist permanent kritisch zu hinterfragen. In den Worten Alberts:
„Während der klassische Rationalismus gewisse Instanzen – die Vernunft oder die Sinne –
zu epistemologischen Autoritäten erhob und sie dadurch unfehlbar und damit kritikimmun
zu machen suchte, weil sonst das Ziel der sicheren Begründung nicht erreichbar schien, kann
der kritische Rationalismus keiner Instanz mehr Unfehlbarkeit und damit das Recht der
Dogmatisierung bestimmter Problemlösungen zugestehen. Es gibt weder eine Problemlö-
sung, noch eine für die Lösung bestimmter Probleme zuständige Instanz, die notwendiger-
weise von vornherein der Kritik entzogen sein müsste“.26

In der Form, die ihm Hans Albert gegeben hat, ist der Kritische Rationalismus eine
naturalistische Denkrichtung.27 Darin gleicht er der modernen Rechtswissenschaft,
die ebenfalls naturalistisch argumentiert.28 Die bevorzugte Problemlösungsmethode
ist die von „Konstruktion und Kritik“29: In der Auseinandersetzung mit Problemsi-
tuationen jeder Art gilt es, mit Hilfe von Fantasie, intellektueller Offenheit, aber
auch Erfahrung Lösungsvorschlage zu entwickeln. Bewähren sie sich, so werden
sie (vorläufig) beibehalten, scheitern sie, so sollen sie zugunsten neuer Problemlö-
sungsvorschläge aufgegeben werden. Die Konstruktion von Problemlösungen wech-
selt sich mit ihrer kritischen Prüfung ab; beide gehören zusammen. Niemals dürfen
Problemlösungen als definitiv oder sakrosankt angesehen und der Kritik entzogen
werden. Es liegt auf der Hand, dass ein derartiger Umgang mit Problemen am ehesten
in einer von theoretischem wie praktischen Pluralismus geprägten Offenen Gesell-
schaft, wie Popper sie entworfen hatte, möglich ist.
Eine verbreitete Methode, um Positionen der Kritik zu entziehen, ist die Verwen-
dung von Immunisierungsstrategien wie sprachlicher Verschleierung, Dogmatisie-
rung oder Tautologisierung. Gerade in der Rechtsphilosophie sind derartige Manöver
immer noch verbreitet. Es ist aber bemerkenswert, dass der damit bezeichnete Um-
gang mit der Sprache jedenfalls in der Rechtspraxis negativ bewertet wird – ein An-
waltschreiben, das unverständlich oder voller bedeutend klingender Trivialitäten
26
Albert, Traktat über kritische Vernunft (Fn. 13), 1991, S. 44.
27
Zum Naturalismus Beckermann Deutsche Zeitschrift für Philosophie 60 (2012), 5 – 26;
Vollmer, Gretchenfragen an den Naturalisten, 2017.
28
Hilgendorf, Rechtswissenschaft, Philosophie und Empirie. Plädoyer für ein naturalisti-
sches Forschungsprogramm, in: Dölling (Hrsg.), Jus humanum. Grundlagen des Rechts und
Strafrecht. Festschrift für Ernst-Joachim Lampe zum 70. Geburtstag, 2003, 285 – 300, ders.,
Tatsachenfragen und Wertungsfragen: Bausteine zu einer naturalistischen Jurisprudenz, in:
Lütge/Vollmer (Hrsg.), Fakten statt Normen? Zur Rolle einzelwissenschaftlicher Argumente
in einer naturalistischen Ethik, 2004, 91 – 102.
29
Albert, Konstruktion und Kritik. Aufsätze zur Philosophie des kritischen Rationalismus,
1975.
220 Eric Hilgendorf

ohne kognitiven Gehalt ist, hat wenig Aussicht auf Erfolg. Gerade in der Strafrechts-
praxis, in der es für den Angeklagten nicht selten um existentielle Fragen geht, er-
wartet man äußerste Klarheit und Konzentration auf das Wesentliche. Dahinter
steht die Erkenntnis, dass nur so eine transparente kritische Überprüfung strafrecht-
licher Entscheidungen möglich ist. Kritische Rationalisten vertreten die Position,
dass in der Wissenschaft keine geringeren Anforderungen gelten sollten.

IV. Konstruktion und Kritik in der Rechtsentwicklung


Die Idee der kritischen Prüfung lässt sich auf die Moral- und Rechtsphilosophie
übertragen. Auch hier ist sicheres Wissen ausgeschlossen. Wir finden jedoch in der
europäischen Rechtsentwicklung seit der Aufklärung Leitideen wie die Würde des
Menschen und Menschenrechte auf Freiheit und Gleichheit. Diese Leitideen und
Grundwerte, die in zahlreichen internationalen Menschenrechtsabkommen und in
Staatsverfassungen rechtlich fixiert wurden, beeinflussen und prägen heute auch
die in der Gesellschaft vorzufindenden Rechts- und Moralüberzeugungen.
Folgt man der Idee der kritischen Prüfung, sind allerdings auch moralische Über-
zeugungen nicht der Kritik entzogen, sondern müssen immer wieder überprüft wer-
den. Der Kritische Rationalismus rekurriert hierfür nicht auf einen festen, vorgege-
benen Maßstab (damit würde er sich in Gegensatz zu seinen eigenen Positionen set-
zen), sondern verweist auf die demokratischen Debatten in der Offenen Gesell-
schaft.30 Ob dieses Vertrauen in die rationalisierende und humanisierende Kraft
der Öffentlichkeit heute, in einer Zeit unkontrollierter Massenkommunikation, hem-
mungsloser „shitstorms“ und gezielter Verbreitung von „fake news“ im Internet,
noch ohne Weiteres tragfähig ist, ist eine offene Frage, der sich die Vertreter des Kri-
tischen Rationalismus zu stellen haben. Eine Art „empirischen Anker“ unseres Wer-
tungsverhaltens in Politik und Moral können universale menschliche Grundbedürf-
nisse bilden.31
Für den Vergleich juristischer Theorien und Problemlösungsansätze auf der
Grundlage des Kritischen Rationalismus hat Axel Birk einige bedenkenswerte Vor-
schläge vorgebracht. Als zu berücksichtigende „Gesichtspunkte[…] für den Leis-
tungsvergleich von juristischen Theorien“ schlägt er zunächst vor, einer „sozialen[n]
Stückwerkstechnik“ zu folgen und Gesellschaften wie juristische Systeme in kleinen

30
Kiesewetter, Karl Poppers Offene Gesellschaft und die Demokratie im 21. Jahrhundert,
in: Neck/Stelzer (Hrsg.), Kritischer Rationalismus heute. Zur Aktualität der Philosophie Karl
Poppers, 2013, 241 – 262; Niemann, Die Strategie der Vernunft. Problemlösende Vernunft,
rationale Metaphysik und Kritisch-Rationale Ethik, 2008.
31
Hilgendorf, Werte in Recht und Rechtswissenschaft, in: Krobath (Hrsg.), Werte in der
Begegnung. Wertgrundlagen und Wertperspektiven ausgewählter Lebensbereiche, 2011, 227 –
243.
Kritischer Rationalismus und das Recht 221

Schritten weiterzuentwickeln. Traditionen, anerkannte Werte und Normen müssen


berücksichtigt werden, denn sie „schaffen Ordnung und Orientierung“.32
Ein zweiter zentraler Gesichtspunkt ist die Effizienz: „Eine auf Wirkanalysen fo-
kussierte Rechtswissenschaft analysiert die Steuerungswirkungen möglicher Regu-
lierungen, die sich aus (Interpretations-)Vorschlägen von Rechtssätzen und Rechts-
fortbildungen ergeben. Der Sozialtechnologe untersucht dann diese Alternativen auf
ihre tatsächliche Leistung zur Erreichung von sozialen Zielen oder zur Lösung sozia-
ler Konflikte“.33 Es gelte deshalb, stets eine „umfassende Sachverhaltsanalyse und
Analyse der tatsächlich beteiligten Interessen“ vorzunehmen, desgleichen „die Be-
stimmung der relevanten Zweck-Mittel-Zusammenhänge“ sowie eine Analyse der
Folgen bei der Wahl einer bestimmten Theorie oder Auslegungsvariante anzustellen.
Bei der Effizienzanalyse soll das empirische Wissen der Sozialwissenschaften be-
rücksichtigt werden.34 Des Weiteren nennt Birk die Untersuchung von Werten und
Zielen auf ihre logische und empirische Vereinbarkeit sowie die Berücksichtigung
bestimmter Leitwerte oder „regulativer Ideen“. Als eine davon nennt er die Minimie-
rung von Leid.35 Man kann darin eine Bezugnahme auf den (negativen) Utilitarismus
sehen, wie er auch bei Popper gelegentlich anklingt.36
Bei der Kritik und Überprüfung moralischer (und rechtlicher) Normen spielen im
Kritischen Rationalismus sog. „Brückenprinzipien“ eine wesentliche Rolle.37 Sie er-
lauben es, Normen und Werte an unserem empirischen Wissen zu messen und nach
Maßgabe dieses Wissens zu kritisieren. Eines dieser Brückenprinzipien ist der
Grundsatz „Unmögliches darf nicht verlangt werden“. Im Recht spricht man oft
vom Grundsatz „ultra posse nemo obligatur“. Eine Norm, die Unmögliches fordert,
kann unter Rekurs auf diesen Grundsatz zurückgewiesen werden. Der Grundsatz gilt
im deutschen Recht allerdings nicht ausnahmslos; so bleibt etwa eine Zahlungsver-
pflichtung auch dann bestehen, wenn man sie nicht erfüllen kann. Ein anderes Brü-
ckenprinzip ist das Kongruenz-Postulat: Normen sollten keine faktischen Annahmen
voraussetzen, die mit bewährtem empirischen Wissen nicht übereinstimmen.38
Wenig aussichtsreich wäre es, das Modell der Theorienfalsifikation ohne hinrei-
chende Klärung auf die Rechtswissenschaft übertragen zu wollen.39 „Falsifikation“
bedeutet „als falsch erweisen“. Da sich die Prädikate „wahr“ und „falsch“ nach der
Korrespondenztheorie der Wahrheit nur auf Tatsachenaussagen, nicht aber auf Nor-

32
Birk, Rechtstheorie 48 (2017), 7.
33
Ders., Rechtstheorie 48 (2017), 7.
34
Ders., Rechtstheorie 48 (2017), 8.
35
Ders., Rechtstheorie 48 (2017), 9.
36
Salamun, Ein Jahrhundertdenker (Fn. 12), 2018, S. 86 f.
37
Albert, Traktat über kritische Vernunft (Fn. 13), 1991, S 92 f.; Stelzer, Brückenprinzipi-
en, in: Hilgendorf (Hrsg.), Kritischer Rationalismus und Einzelwissenschaften (Fn. 3), 159 –
178.
38
Albert, Traktat über kritische Vernunft (Fn. 13), 1991, S 92 f.
39
Kaum überzeugend deshalb z. B. Canaris, Juristenzeitung 48 (1993), (Fn. 9), 377 – 391.
222 Eric Hilgendorf

men und Werte anwenden lassen, lassen letztere sich nicht falsifizieren. Nur in einem
metaphorischen Sinn könnte man davon sprechen, dass Normen oder Norminterpre-
tation „falsifiziert“ worden wären.40

V. Das Werturteilsproblem und seine Renaissance


im sog. Positivismusstreit
In Deutschland ist die Position des Kritischen Rationalismus eng verknüpft mit
den Stellungnahmen Alberts zum sogenannten Positivismusstreit der sechziger
und frühen siebziger Jahre41, welcher den Werturteilsstreit vom Anfang des 20. Jahr-
hunderts42 unter veränderten Vorzeichen wieder aufnahm. Im Kern ging es darum, ob
Wissenschaftler als Wissenschaftler Werturteile abgeben dürfen oder gar sollen,
m.a.W. ob wissenschaftliches Werten möglich ist. Hintergrund des Streits, der An-
fang des Jahrhunderts vor allem von Max Weber geführt wurde, war die Praxis zahl-
reicher Professoren, im Hörsaal bestimmte politische Positionen und Strömungen zu
propagieren, eine Praxis, die insbesondere Max Weber scharf kritisierte.43
Albert hat vorgeschlagen, beim Werturteilsstreit vier Problemstellungen zu unter-
scheiden:
(1) das definitorische Problem, welches darin besteht, ob sich ein System, in wel-
chem Werturteile vorkommen, als „wissenschaftlich“ bezeichnen lässt,
(2) das logische Problem, bei dem es um die Frage geht, welchen Sinn Werturteile
haben. Dazu gehört insbesondere die Frage, ob es einen Unterschied zwischen
Werturteilen und Tatsachenaussagen gibt und worin er genau besteht.
(3) das methodologische Problem, ob Werturteile in der Wissenschaft erforderlich
sind, Wissenschaftler also Werturteile aussprechen müssen, und schließlich
(4) das Problem der Kathederwertung, also die Frage danach, ob Wissenschaftler
nicht bloß als Privatpersonen, sondern auch als wissenschaftliche Lehrer Wert-
40
Dazu Potacs, Kritischer Rationalismus und Rechtswissenschaft, in: Neck/Salamun
(Hrsg.), Karl R. Popper – Plädoyer für kritisch-rationale Wissenschaft, 2004, S. 116 ff.; ders.,
Rechtstheorie, 2015, S. 150 ff.
41
Dazu Theodor W. Adorno, Hans Albert, Ralf Dahrendorf, Jürgen Habermas, Harald
Pilot, und Karl R. Popper, Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 1969; Dahms,
Positivismusstreit. Die Auseinandersetzungen der Frankfurter Schule mit dem logischen Po-
sitivismus, dem amerikanischen Pragmatismus und dem kritischen Rationalismus, 1994;
Keuth, Erkenntnis oder Entscheidung. Zur Kritik der kritischen Theorie, 1993.
42
Hilgendorf, Hans Albert zur Einführung, 1997, S. 115 f.; ausf. Keuth, Wissenschaft und
Werturteil. Zu Werturteilsdiskussion und Positivismusstreit, 1989; Nau (Hrsg.), Der Wertur-
teilsstreit. Die Äußerungen zur Werturteilsdiskussion im Ausschuss des Vereins für Sozial-
politik (1913), 1996.
43
Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissen-
schaften, in: Winkelmann (Hrsg.), ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1988,
S. 492.
Kritischer Rationalismus und das Recht 223

urteile aussprechen dürfen oder gar sollen. Albert spricht hier von einem „mo-
ralischen Problem“.44
Die damit angedeuteten Problemstellungen sind gerade in der Rechtswissenschaft
und rechtswissenschaftlichen Lehre von besonderer Bedeutung. Zwischen einer
rechtsdogmatisch begründeten Darlegung und einer rechtspolitischen Stellungnah-
me besteht oft nur ein theoretischer Unterschied. Immerhin wurde Webers Postulat,
fachliche Äußerungen von eigenen politischen oder moralischen Stellungnahmen zu
trennen, in der juristischen Unterscheidung von Äußerungen de lege lata und de lege
ferenda vorweggenommen.45 Für die Rechtsdogmatik wichtig ist auch die begriffli-
che Präzisierung von Ausdrücken wie „Wert“, „Werturteil“, „Tatsache“ und „Tatsa-
chenurteil“ bzw. „Tatsachenaussage“.46 Um die logische Grammatik von Werturtei-
len zu klären, unterscheidet Albert folgende Gesichtspunkte:
1. „1. Der Sprecher drückt mit seinem Urteil seine Stellungnahme zu einem Sachverhalt
aus, den er damit positiv oder negativ auszeichnet.
2. Er bekennt sich damit implizit zu einem allgemeinen Prinzip, dass eine derartige Stel-
lungnahme rechtfertigt oder ein Kriterium für sie enthält.
3. Er legt den Adressaten des Werturteils eine gleichartige Stellungnahme nahe.“47

So beschreibt etwa der Satz „Diese Tat war verwerflich“ die Tat nicht; vielmehr
wird sie vom Sprecher negativ ausgezeichnet (bewertet). Der Sprecher bekennt sich
dabei zumindest implizit zu einer allgemeinen Regel, wonach Handlungen dieser be-
stimmten Kategorie negativ zu bewerten sind. Den Adressaten seiner Stellungnahme
legt er nahe, die Tat ebenso wie er zu bewerten. Derartige Differenzierungen spielen
in der Rechtsdogmatik z. B. bei der Analyse der §§ 185 ff. StGB oder des § 263 StGB
eine große Rolle.

44
Albert, Werturteil und Wertbasis. Das Werturteilsproblem im Licht der logischen Ana-
lyse, in: ders., Marktsoziologie und Entscheidungslogik. Ökonomische Probleme in soziolo-
gischer Perspektive, 1967, S. 95 f.; Hilgendorf, Hans Albert zur Einführung (Fn. 42), S. 117.
Vgl. auch die zusammenfassende Darstellung von Zecha, Hans Alberts Beitrag zur Wertur-
teilsdiskussion 1956 – 2006: Eine Würdigung als rationale Kritik der Ansichten eines kriti-
schen Rationalisten, in: Franco (Hrsg.), Der Kritische Rationalismus als Denkmethode und
Lebensweise. Festschrift zum 90. Geburtstag von Hans Albert, 2012, S. 276 ff.
45
Hilgendorf, Zum Begriff des Werturteils in der reinen Rechtslehre, in: Stadler/Walter
(Hrsg.), Logischer Empirismus und Reine Rechtslehre. Beziehungen zwischen dem Wiener
Kreis und der Hans-Kelsen-Schule, 2001, 117 – 135.
46
Hilgendorf, Werte in Recht und Rechtswissenschaft (Fn. 31), 2011, 227 – 243.
47
Albert, Probleme der Wissenschaftslehre in der Sozialforschung, in: König (Hrsg.),
Handbuch der empirischen Sozialforschung, 1973, S. 67.
224 Eric Hilgendorf

VI. Jurisprudenz als Sozialtechnologie


Popper hatte den Kritischen Rationalismus als Forschungslogik der empirischen
Wissenschaften konzipiert, orientiert an der Methodologie der Naturwissenschaf-
ten.48 Die Rechtswissenschaft spielt bei Popper nur eine ganz untergeordnete
Rolle.49 Die wichtigste Zielsetzung der Naturwissenschaft ist für Popper die Erfas-
sung von Gesetzmäßigkeiten, eine Aufgabe, die auch für Albert eine hervorragende
Bedeutung besitzt:
„Die vom Kritischen Realismus bevorzugte Zielsetzung ist die Erfassung der Gesetzmäßig-
keiten, die das wirkliche Geschehen bestimmen, und die Erkenntnis der Struktur dieses Ge-
schehens. Die Mittel sind Theorien von möglichst großer Erklärungskraft und theoretisch
fundierte Modelle, mit deren Hilfe möglichst tief gehende und umfassende Erklärungen
und Beschreibungen aller in Betracht kommenden Tatbestände und damit auch der Erfah-
rungen ermöglicht werden, die wir in der Praxis des Lebens tatsächlich machen“.50

Diese von Popper und Albert präferierte Zielsetzung wissenschaftlichen Arbei-


tens ist auf die Jurisprudenz nicht ohne weiteres zu übertragen, denn es handelt
sich bei ihr nicht um eine empirische Disziplin, die auf die Erfassung von Gesetzmä-
ßigkeiten abzielt. Dennoch, und dies ist der Kern von Alberts Konzeption der Rechts-
wissenschaft, können (und sollten) in einer rational gefassten Rechtswissenschaft
auch empirische Gesetzmäßigkeiten eine wesentliche Rolle spielen. Mit Albert
lässt sich von einer „sozialtechnologischen“ Deutung von Rechtswissenschaft spre-
chen.51 Sieht man genauer hin, so spielt die von Albert ins Spiel gebrachte Perspek-
tive in der Rechtswissenschaft schon heute eine erhebliche Rolle, auch wenn dies
vielen Juristen nicht bewusst sein mag.
In vielen traditionellen Darstellungen wird die Rechtswissenschaft als normativ
und dogmatisch beschrieben.52 Sie ist dogmatisch, weil sie die Gesetze als festes Fun-
dament verwendet, und sie ist normativ, weil sie Interpretationen dieser Gesetze lie-
fert, die den Charakter von Normen haben. Deutet man die Rechtswissenschaft in
dieser Weise, so ähnelt sie in erstaunlicher Weise der Theologie, in der es ebenfalls
darum geht, vorgegebene Texte zu interpretieren und daraus Handlungsanleitungen
abzuleiten.53 In den Worten Alberts:
„Dass es zwischen Religion und Recht und zwischen Theologie und Jurisprudenz enge Zu-
sammenhänge und strukturelle Ähnlichkeiten gibt, ist seit langem bemerkt worden. Eine der

48
Hilgendorf, Hans Albert zur Einführung (Fn. 42), S. 108.
49
Popper, Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde (Fn. 15), 2003, S. 63 ff.
50
Albert, Kritik der reinen Erkenntnislehre. Das Erkenntnisproblem in realistischer Per-
spektive, 1987, S. 88.
51
Albert, Rechtswissenschaft als Realwissenschaft (Fn. 24), 1993, S. 12 ff., dem folgend
z. B. Birk, Rechtstheorie 48 (2017), 43 – 75 und Eidenmüller, Juristenzeitung 54 (1999), 53 –
61.
52
Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 195 ff., 204 ff., differenzierend
R. Dreier, Rechtstheorie 2 (1971), 37 – 54.
53
Hilgendorf, Hans Albert zur Einführung (Fn. 42), S. 109.
Kritischer Rationalismus und das Recht 225

wesentlichen Gemeinsamkeiten (…) scheint darin zu bestehen, dass beide sich mehr oder
weniger ausdrücklich einem Offenbarungsmodell der Erkenntnis unterwerfen, demzufolge
es darauf ankommt, die Wahrheit aus den Verlautbarungen von Instanzen zu entnehmen, die
mit unzweifelbarer Autorität für die Lösung der betreffenden Probleme ausgestattet sind. So
können im Wesentlichen nur zwei Arten von Problemen auftreten: Probleme der Identifika-
tion der in Betracht kommenden Verlautbarungen und Probleme ihrer adäquaten Interpre-
tation. Im einen Fall handelt es sich um die Frage der Geltung bestimmter ,Quellen‘, im an-
deren um die ihrer gültigen Deutung“.54

Albert stellt dieser traditionellen Auffassung eine explizit teleologisch orientierte


Perspektive von Recht und Rechtswissenschaft gegenüber: Gesetze, Gesetzesinter-
pretationen, Verwaltungsentscheidungen und Urteile lassen sich als Mittel ansehen,
um bestimmte Zwecke zu erreichen. Rechtswissenschaft ist danach eine Technologie
wie die Medizin, in der es ebenfalls darum geht, bestimmte Ziele, vor allem die Hei-
lung des Patienten, zu erreichen. Die Zielsetzungen der Jurisprudenz – Albert nennt
sie „Leistungsmerkmale“ – sind etwa Freiheit, soziale Sicherheit, Sicherung gegen
Gewalt, Willkür und Ausbeutung, und Stabilität.55
Um zu prüfen, ob eine als zweckbezogen verstandene juristische Entscheidung in
der Lage ist, den ihr bestimmten Zweck zu erreichen, muss nomologisches Wissen –
das Wissen um Gesetzmäßigkeiten – herangezogen werden. Nach Albert spielen des-
halb empirische Disziplinen wie die Rechtstatsachenforschung, die Rechtssoziolo-
gie, und die Kriminologie für Recht und Rechtswissenschaft eine viel größere
Rolle, als dies im tradierten Verständnis von Rechtsdogmatik der Fall war.
Alberts Ansatz lässt sich noch deutlicher beschreiben, wenn man die Bereiche Ge-
setzgebung, Rechtsanwendung (unterfallend v. a. in Rechtsprechung und Verwal-
tung) und Rechtswissenschaft im engeren Sinne unterscheidet:
Nach klassischer naturrechtlicher Vorstellung existieren dem menschlichen Da-
fürhalten vorgeordnete normative Inhalte, eben das Naturrecht. Es wurde nicht
von Menschen formuliert, sondern besteht unabhängig von ihnen und geht ihren Wil-
lensäußerungen vor. Jedenfalls strukturell ähnlich argumentieren geschichtsphiloso-
phisch orientierte Entwürfe, wie sie etwa in der Historischen Rechtschule56 vertreten
wurden. Für Savigny57 entwickelt sich das Recht ähnlich wie die Sprache im Rahmen
der gesellschaftlichen Entwicklung („Volksgeist“). Derartigen Modellen ist die von
Albert bevorzugte Vorstellung fremd, Recht – sei es nun Strafrecht, Verbraucher-
schutzrecht oder das Recht des Datenschutzes – sei ein von Menschen „gemachtes“
Mittel, um Ziele, die ebenfalls von Menschen festgelegt wurden, zu erreichen.

54
Albert, Erkenntnis und Recht (Fn. 24), 1972, S. 82 f.
55
Albert, Rechtswissenschaft als Realwissenschaft (Fn. 24), 1993, S. 25.
56
Dazu Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1967, S. 353 ff. Brauneder, Euro-
päische Privatrechtsgeschichte, 2014, S. 133 ff.
57
Ironischerweise wurde von Savigny 1842 zum „Minister für Revision der Gesetzgebung“
in Preußen ernannt.
226 Eric Hilgendorf

Eine solche teleologisch geprägte, die Rechtspolitik fokussierende Perspektive,


die das Gesetz als menschliche Setzung ansieht und an der Erreichung bestimmter
vom Parlament gesetzter Ziele bemisst, gilt heute in den westlichen Demokratien
so unumstritten, dass sich viele Juristinnen und Juristen gar nicht mehr vorstellen
können, dass sie erst im 19. Jahrhundert allmählich durchgesetzt wurde.58Als Ur-
sprung der modernen Rechtspolitik wird man wohl den Briten Jeremy Bentham an-
zusehen haben,59 der über Robert von Mohl und Rudolf von Jhering auch die heutige
deutsche „Interessenjurisprudenz“60 wesentlich beeinflusst hat.
Will man Gesetze an ihrer Eignung zur Erreichung der gesetzgeberischen Ziele
messen, so bleibt zu klären, welche Ziele der Gesetzgebung vorgegeben sind. In
der parlamentarischen Demokratie ist es das Parlament, welches die gesetzgeberi-
schen Ziele festlegt. Es tut dies im Namen des Volkes, welches durch das Parlament
repräsentiert wird. Auswahl und Festlegung der zu erreichenden sozialen Ziele wer-
den also in letzter Instanz in die Hand des demokratischen Souveräns gelegt, der
dabei grundsätzlich frei ist. Allerdings muss sich der demokratische Souverän im
Rechtsstaat in den Grenzen der Verfassung bewegen; die Grundrechte und die Men-
schenwürde bilden Rahmen und Maßstab gesetzgeberischen Handelns.
Auch die Rechtsanwendung, also vor allem die Rechtsprechung, lässt sich nach
Albert technologisch deuten. Rechtsanwendung ist auf die Erreichung bestimmter
Ziele hin orientiert: So dient das Urteil des Strafrichters der Resozialisierung des Tä-
ters, in einer Mietsache geht es möglicherweise darum, einen gerechten Ausgleich
zwischen den Belangen verfeindeter Nachbarn zu finden, und die Verwaltungsbehör-
de zielt auf die Herstellung eines bestimmten Zustandes von Sicherheit und Ordnung.
Das Recht wird angewandt, um diese Ziele zu erreichen; seine Anwendung lässt sich
also daran messen, ob sie faktisch geeignet ist, die vorgegebenen Ziele zu erreichen.
Aus dieser Perspektive besteht offenbar eine erhebliche strukturelle Ähnlichkeit von
Rechtssetzung und Rechtsanwendung.
Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob sich auch die Rechtswissenschaft,
verstanden vor allem als Rechtsdogmatik, technologisch deuten lässt. Tradierter Auf-
fassung nach ist die Rechtswissenschaft eine hermeneutische Disziplin, in der es
darum geht, die gesetzlichen Vorgaben zu interpretieren.61 Albert zufolge ist diese
Konzeption nicht falsch, aber doch zumindest unterkomplex. Gesetze sind so gut
wie nie eindeutig, sondern lassen verschiedene Interpretationen zu. Ihre Herausarbei-
tung und kritische Analyse ist eine der Hauptaufgaben der Rechtswissenschaft. Sie
entwickelt also Deutungsvorschläge, die sich ihrerseits als Mittel ansehen lassen, um
bestimmte Zwecke – den Willen des Gesetzgebers, aber auch darüber hinausgehen-
de, etwa von der Verfassung vorgegebene Zwecke wie Sicherheit, Freiheit usw. – zu
erreichen. Ob die von der Rechtswissenschaft herausgearbeiteten Deutungsvarianten
58
Tamanaha, Law as a Means to an End. Threat to the Rule of Law, 2006.
59
Tamanaha, Law as a Means to an End (Fn. 58), 2006, S. 43, für die USA.
60
Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit juristischer Methodenlehre, 2018, Rn. 524 ff.
61
Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 204 ff.
Kritischer Rationalismus und das Recht 227

eines Gesetzes geeignet sind, diese Ziele zu erreichen, ist wiederum eine Frage, die
sich nur mittels nomologischen Wissens beantworten lässt. Mit anderen Worten: dem
nomologischen Wissen kommt bei der Auswahl unter verschiedenen vertretbaren In-
terpretationsvorschlägen eines Gesetzes eine zentrale Rolle zu. Auf diese Weise lässt
sich auch die rechtswissenschaftliche Analyse von Gesetzen technologisch interpre-
tieren. Der Kritische Rationalismus deutet die Rechtswissenschaft damit in ähnlicher
Weise wie der US-Amerikanische Rechtsrealismus und die „Interessenjurisprudenz“
in der Tradition Rudolf von Jherings.

VII. Offene Fragen


Die Rechtswissenschaft, nicht nur die deutsche, ist traditionellerweise auf Eigen-
ständigkeit bedacht. Schon deshalb ist die enge Anbindung an nomologisches Wis-
sen und die sie zur Verfügung stellenden empirischen Wissenschaften, seien es nun
Sozial- oder Naturwissenschaften, vielen Juristen suspekt. Macht man aber mit dem
Gedanken ernst, das Recht als Mittel sozialer Gestaltung anzusehen, so kommt man
um die Berücksichtigung von faktischen Wirkungszusammenhängen nicht herum. In
der juristischen Methodologie wird meist von der „Folgenberücksichtigung“ gespro-
chen. Sie verbirgt sich häufig hinter der „objektiv-teleologischen“ Interpretation von
Gesetzen.62
Zippelius hat vorgeschlagen, die teleologische Perspektive vor allem für den Be-
reich der Gesetzgebung explizit auf die Leistungsmerkmale „Wirksamkeit“, „Ge-
rechtigkeit“ und „Systemverträglichkeit“ (im Sinne von Konsistenz) zu beziehen.63
In enger Anknüpfung insbesondere an Karl Popper spricht er von einer „experimen-
tierenden Methode im Recht“ und zeigt, dass sich ein derartiges Rechtsverständnis
bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein zurückverfolgen lässt.
Das explizite Plädoyer Alberts für die Berücksichtigung empirischer Erkenntnis-
se in der Rechtswissenschaft stieß bei Vertretern der „Reinen Rechtslehre“ Kelsens
auf Widerspruch.64 Die Differenzen bei der Festlegung des Zuständigkeitsbereichs
von „Rechtswissenschaft“ sollten jedoch die beträchtlichen Übereinstimmungen
beider Denkrichtungen etwa im Hinblick auf die Zurückweisung naturrechtlicher
Ansätze und die Bedeutung der Sein-Sollen-Dichotomie nicht in Vergessenheit ge-
raten lassen. Vor allem teilen beide Richtungen das Bekenntnis zu Analyse und be-
62
Hilgendorf, Hans Albert zur Einführung (Fn. 42), S. 114.
63
Zippelius, Die experimentierende Methode im Recht, in: ders., Recht und Gerechtigkeit
in der offenen Gesellschaft, 1996, 21 – 38.
64
Walter, Bemerkungen zu Albert, Zur Kritik der reinen Jurisprudenz. Recht und Rechts-
wissenschaft in der Sicht des kritischen Rationalismus, in: Internationales Jahrbuch für
Rechtsphilosophie und Gesetzgebung, 1992, 359 – 362; Thienel, Rechtswissenschaft ohne
Sollen?, in: Hilgendorf (Hrsg.), Wissenschaft, Religion und Recht. Hans Albert zum 85. Ge-
burtstag, 2006, 415 – 438; umfassend Thienel, Kritischer Rationalismus und Jurisprudenz,
1991; Fritzsche, Die Reine Rechtslehre im Lichte des kritischen Rationalismus, 2002.
228 Eric Hilgendorf

grifflicher Klarheit und heben sich dadurch wohltuend von vielen Vorschlägen aus
dem Kontext z. B. des „Deutschen Idealismus“ ab.
Ein weiterer Kritikpunkt, der häufig gegen die sozialtechnologische Deutung des
Rechts und der Politik vorgebracht wird, zielt auf die angebliche Nähe dieser Kon-
zeption zur Herrschaft einer (Juristen-)„Elite“. Die sozialtechnologische Deutung
der Jurisprudenz sollte aber nicht mit der Forderung nach Etablierung einer juristi-
schen Technokratie verwechselt werden. Ganz im Gegenteil ist die Vorstellung,
Recht sei ein von Menschen gemachtes Mittel zur Erreichung von durch Menschen
festgelegten Zwecken, eine durch und durch demokratische Konzeption. Dies lässt
sich von tradierten naturrechtlichen Modellen oder der Vorstellung, Recht sei das Er-
gebnis der Entwicklung eines „Volksgeistes“, nicht sagen, denn derartige Verlautba-
rungen waren (und sind!) oft nur schlecht kaschierte Versuche, eigene normative Vor-
stellungen zur Geltung zu bringen. Erst die technologische Deutung von Recht und
seiner Anwendung überantwortet im demokratischen Rechtsstaat das Recht der de-
mokratisch verfassten Rechtsgemeinschaft.
Kritisiert wurde weiter, dass eine sozialtechnologische Deutung der Jurisprudenz
auf eine „revolutionäre“ Umgestaltung der rechtswissenschaftlichen Arbeit, so wie
sie bisher stattfinde, hinauslaufen würde.65 Die Berücksichtigung der Folgen ver-
schiedener möglicher Interpretationsansätze gehört aber spätestens seit Jhering
zum Kernbestand der Methodenlehre.66 Ausgehend vom Zivilrecht ist die teleologi-
sche Methode, die man als das juristische Analogon von Alberts sozialtechnologi-
schem Ansatz ansehen kann, auch in die anderen Teilrechtsgebiete vorgedrungen,
vor allem in das öffentliche Recht, also das Verwaltungs- und das Staatrecht. Grund-
rechtsdogmatik kommt heute ohne Folgenberücksichtigung und Zweck-Mittel-Ana-
lysen nicht mehr aus. Von dort ist es nur noch ein Schritt zur expliziten Heranziehung
sozialwissenschaftlichen Wissens, um die Folgenberücksichtigung auf ein solideres
Fundament zu stellen. Im Strafrecht hat sich die Vorstellung einer „reinen“ Dogmatik
am längsten halten können, doch auch hier setzt sich spätestens seit Roxins Werk
über Kriminalpolitik und Strafrechtssystem67 die teleologische Sichtweise dogmati-
scher Arbeit Schritt für Schritt durch.
Die Einbeziehung sozialwissenschaftlichen (und erforderlichenfalls auch natur-
wissenschaftlichen) Wissens in die rechtswissenschaftliche Arbeit bedeutet aller-
dings ein Bekenntnis zu echter Interdisziplinarität, die vom einzelnen Fachjuristen
nicht immer zu leisten ist. Soll Interdisziplinarität fruchtbar sein, so muss sie be-
stimmten Anforderungen genügen68, die nur unter günstigen Umständen gegeben

65
Engländer, Kritischer Rationalismus und die Jurisprudenz. Überlegungen zu einem
komplizierten Verhältnis, in: Hilgendorf (Hrsg.), Kritischer Rationalismus und Einzelwis-
senschaften (Fn. 3), S. 121; Hoerster, Rechtstheorie 41 (2010), 13 – 23.
66
Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2012, S. 48 ff.
67
Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 1973.
68
Hilgendorf, Bedingungen gelingender Interdisziplinarität – am Beispiel der Rechtswis-
senschaft, Juristenzeitung Bd. 65 (2010), S. 913 ff.
Kritischer Rationalismus und das Recht 229

sein werden. Es spricht deshalb viel dafür, bei einer nach dem Vorschlag des Kriti-
schen Rationalismus vorgehenden sozialtechnologisch orientierten Dogmatik Rol-
lenverteilungen vorzunehmen und die Analyse von Normen mitsamt der Herausar-
beitung von Interpretationsvorschlägen einerseits, die Untersuchung dieser Vor-
schläge auf ihre Eignung zur Erreichung bestimmter sozial erwünschter Ziele ande-
rerseits nicht bloß begrifflich, sondern auch personell zu trennen. Dies entspricht
jedenfalls für einen Teilbereich der etablierten Unterscheidung von Rechtswissen-
schaft und Rechtsanwendung.69 Auch insofern erweist sich der sozialtechnologische
Ansatz also als weitaus weniger revolutionär, als es auf den ersten Blick den An-
schein haben könnte.
Kritisiert wird bisweilen auch, der Kritische Rationalismus habe keine eigenen
Interpretationslehren entwickelt.70 Dem lässt sich entgegenhalten, dass die juristi-
schen Auslegungsregeln „grundsätzlich keine anderen als jene der allgemeinen
Kommunikationspraxis“ sind: „Ebenso wie diese setzen sie sich aus semantischen
(d. h. auf die übliche Wort- und Satzbedeutung abstellenden) und pragmatischen
(d. h. auf andere Aspekte wie den Zweck oder den Kontext Bedacht nehmenden) Re-
geln zusammen“.71 Diese enge Anbindung an die Alltagskommunikation ist erfor-
derlich, damit die Interpretation des Rechts für die Rechtsunterworfenen zumindest
im Grundsatz nachvollziehbar bleibt. Natürlich ist es von zentraler Bedeutung, das
Steuerungsziel des Gesetzes überhaupt erst zu erkennen.72 Diese Aufgabe wirft aber
im Allgemeinen keine besonderen Probleme auf, jedenfalls keine, die durch Interpre-
tation zu lösen wären. In unklaren Fällen wird der Rechtsanwender vielmehr ent-
scheiden müssen, welche Zielsetzung mit dem Gesetz zu verfolgen ist, eine Aufgabe,
die in der Praxis im gerichtlichen Instanzenzug gelöst wird.

VIII. Testfall Menschenwürde


Das Konzept „Menschenwürde“ mag als Beispiel für das instrumentelle „sozial-
technologische“ Rechtsverständnis des Kritischen Rationalismus dienen. Weder
Popper noch Albert scheinen sich mit diesem Konzept näher auseinandergesetzt
zu haben; bei nicht wenigen Autoren aus dem Umkreis der analytischen Rechtsphi-
losophie stößt man auf Äußerungen, die eine gewisse Skepsis gegenüber dem Kon-
zept „Menschenwürde“ offenbaren.73 Die Idee eines unserem Dafürhalten vorgege-

69
Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (Fn. 61), 1991, S. 234 ff.
70
Engländer, Kritischer Rationalismus und die Jurisprudenz (Fn. 65), 2017, S. 124.
71
Potacs, Kritischer Rationalismus und Rechtswissenschaft (Fn. 40), 2004, S. 111; siehe
auch schon ders., Rechtstheorie 25 (1994), 32 ff.
72
Huster, Rechtswissenschaft als Realwissenschaft?, in: Hilgendorf (Hrsg.), Wissenschaft,
Religion und Recht. Hans Albert zum 85. Geburtstag (Fn. 64), S. 396.
73
Birnbacher, Menschenwürde-Skepsis, in: Joerden/Hilgendorf/Thiele (Hrsg.), Men-
schenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch, 2013, 159 – 175; Hoerster, Juris-
tische Schulung 82 (1983), 93 – 96; vgl. auch schon Topitsch, Über Leerformeln. Zur Prag-
230 Eric Hilgendorf

benen „absoluten“ Wertes oder eines unveränderbaren vorstaatlichen Rechts ist mit
den Rationalitätsanforderungen des Kritischen Rationalismus nicht in Einklang zu
bringen. Gerade Albert hat sich sehr deutlich gegen die Kosmosmetaphysik des tra-
dierten Naturrechts ausgesprochen.74
Auf der Grundlage eines instrumentellen Rechtsverständnisses ist es aber denk-
bar, die Menschenwürde als Setzung zu verstehen, um bestimmte Ziele, die mit den
übrigen Grund – und Menschenrechten offenbar nicht zu verwirklichen sind, zu er-
reichen. Wetz hat vorgeschlagen, den Schutz der Menschenwürde auf die Selbstach-
tung des Individuums zu beziehen.75 Gegen diesen Vorschlag lässt sich anführen,
dass die Selbstachtung bereits durch andere Normen der Moral und vor allem des
Rechts (etwa das Beleidigungsstrafrecht) geschützt wird. Eines gesonderten Schut-
zes der Selbstachtung über die Menschenwürde bedarf es deshalb nicht.
Weiterführend könnte folgender Gedanke sein: Die Positivierung der Menschen-
rechte seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert hat die Rechtsstellung des Individuums
zunehmend verbessert und die Grundlagen für den modernen freiheitlichen Rechts-
staat gelegt. Allerdings waren die Menschenrechte nicht in der Lage, dem Aufstieg
des Totalitarismus im 20. Jahrhundert wirksam entgegenzuwirken. Dies dürfte (be-
zogen auf die Situation in Deutschland) auch daran gelegen haben, dass Menschen-
und Grundrechte als einschränkbar verstanden wurden, also durch einfaches Recht
eingeschränkt werden konnten.
Nach dem 2. Weltkrieg setzte sich dagegen die Vorstellung durch, die Menschen-
würde als neues, nicht einschränkbares Grundrecht einzuführen, sozusagen als „letz-
te Bastion“ des Rechts und normativer Anker der Rechtsordnung. Man kann dies als
Rekurs auf eine vorstaatliche Rechtsposition ansehen, die sozusagen nur „in Erinne-
rung gerufen“ wurde, aber auch (wie hier) als Setzung neuen staatlichen Rechts.
Beide Ansichten stimmen überein, was die „Uneinschränkbarkeit“ der Menschen-
würde angeht: Nach bis heute jedenfalls in der deutschen Rechtswissenschaft
ganz herrschender Vorstellung, ist jede Einschränkung der Menschenwürde eo
ipso rechtswidrig; d. h. die Menschenwürde kann nicht legal begrenzt werden.76 Da-
durch unterscheidet sich die Menschenwürde deutlich von Grundrechten wie der Re-
ligions- oder der Meinungsfreiheit, die zwar ebenfalls dem Individuum eine sehr star-
ke Position einräumen, aber grundsätzlich doch durch Gesetzesrecht eingeschränkt
und begrenzt werden können.

matik des Sprachgebrauchs in Philosophie und politischer Theorie, in: Topitsch (Hrsg.), Pro-
bleme der Wissenschaftstheorie. Festschrift für Victor Kraft, 1960, 233 – 264.
74
Albert, Traktat über kritische Vernunft (Fn. 13), 1991, S 66 f.; vgl. auch Wetz, Kritischer
Rationalismus und Menschenwürde, in: Hilgendorf (Hrsg.), Kritischer Rationalismus und
Einzelwissenschaften (Fn. 3), S. 157.
75
Wetz, Kritischer Rationalismus und Menschenwürde (Fn. 74), 2017, S. 152 f.
76
Hilgendorf, Menschenrechte, Menschenwürde, Menschenbild, in: Hilgendorf/Joerden
(Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, 2017, 366 – 372 (370).
Kritischer Rationalismus und das Recht 231

Eine derartig „durchsetzungsstarke“ Ausgestaltung von Menschenwürde setzt of-


fensichtlich voraus, dass das Konzept „Menschenwürde“ eng verstanden wird. An-
dernfalls würde der Menschenwürdeschutz in der Praxis scheitern. Außerdem muss
das Konzept „Menschenwürde“ so präzis gefasst werden, dass der Schutzbereich ei-
nigermaßen klar abgegrenzt werden kann. Ein Vorschlag, der diese Voraussetzungen
erfüllen könnte, ist die „Ensembletheorie“ der Menschenwürde.77 Ihr zufolge lässt
sich der Schutz der Menschenwürde durch ein Ensemble folgender Rechte darstel-
len: ein Recht auf Sicherung einer Existenzgrundlage (materielles Existenzmini-
mum), ein Recht auf autonome Selbstentfaltung (Einräumung minimaler Freiheits-
rechte), ein Recht auf Freiheit von extremen Schmerzen (Verbot der Folter), ein
Recht auf Wahrung der Privatsphäre (gegen völlige Aufhebung der Privatsphäre),
ein Recht auf geistig-seelische Integrität (gegen Gehirnwäsche und den Einsatz
von Wahrheitsdrogen), ein Recht auf grundsätzliche Rechtsgleichheit (gegen Skla-
verei) und ein Recht auf minimale Achtung (gegen extreme Demütigung). Das letzt-
genannte Recht auf minimale Achtung weist Parallelen zu dem Konzept der Selbst-
achtung von Franz-Josef Wetz auf.78
Um den Menschenwürdeschutz möglichst stark auszugestalten, stellt nach hier
vertretener Ansicht die Menschenwürde ein Ensemble subjektiver Rechte dar, es han-
delt sich also nicht bloß um Fallgruppen, die bei der Interpretation des Begriffes
„Menschenwürde“ gebildet wurden. Darüber hinaus werden diese subjektiven Rech-
te so verstanden, dass ihre Verletzung stets rechtswidrig ist. Daraus folgt etwa, dass
Folter ausnahmslos rechtswidrig ist, also niemals gerechtfertigt werden kann.79 Das-
selbe gilt für die Verweigerung eines materiellen Existenzminimums. Wie ausge-
führt, müssen diese Rechte sehr eng verstanden werden, um nicht an den praktischen
Gegebenheiten zu scheitern. Eine so konzipierte Menschenwürde bildet sozusagen
nur den innersten Kern der (ihrerseits als einschränkbar gedeuteten) Menschenrech-
te. Es handelt sich um ein instrumentelles Konzept, da die Menschenwürde als Set-
zung verstanden wird, als Mittel, um Verbrechen, wie sie vor allem unter dem Na-
tionalsozialismus begangen wurden, abzuwehren.
Darüber, ob eine so verstandene Menschenwürde die Rechtsperversion des Drit-
ten Reiches tatsächlich hätte verhindern oder zumindest zeitweise aufhalten können,
lässt sich natürlich trefflich streiten. Im Lichte neuerer Erfahrungen wäre es nach hier
vertretenem Verständnis möglich, die Ensembletheorie durch weitere Rechte zu er-
weitern oder auch sonstige Modifikationen durchzuführen, um das Ziel des Kon-
zepts, die Gewährleistung eines unantastbaren Kernbereichs des Individualschutzes,
zu verwirklichen. Auch hier gilt also die Idee von Konstruktion und Kritik: Ein Kon-
zept wird eingeführt, um bestimmte Ziele zu erreichen, und solange es diese Ziele

77
Hilgendorf, Zeitschrift für evangelische Ethik 57 (2013), 258 – 271.
78
Wetz, Kritischer Rationalismus und Menschenwürde (Fn. 71), 2017, 141 – 157.
79
Differenzierend Merkel, Folter und Notwehr, in: Festschrift für Günther Jakobs, 2007,
S. 375 ff.
232 Eric Hilgendorf

erreicht, kann es als bewährt gelten; das Konzept bleibt aber, im Lichte neuerer Er-
fahrungen, stets verbesserungsfähig.

IX. Zur Kritik der Ideologien und Religionen


Kennzeichnend für Ideologien ist der Versuch, bestimmte Behauptungen oder
Theorien einer kritischen Prüfung zu entziehen, insbesondere der Prüfung an der
Realität.80 Im Anschluss an Karl Popper und Hans Albert hat der österreichische Phi-
losoph Kurt Salamun Leitfragen zur kritischen Prüfung von Ideologien entwickelt:81
Werden absolute Heilsansprüche erhoben oder eine absolut wahre Erkenntnis be-
hauptet? Findet sich die Vorstellung, ein enger Kreis auserwählter Personen hätte
nach Art von Platons königlichen Philosophen einen privilegierten Zugang zur wah-
ren Erkenntnis? Finden sich Immunisierungsstrategien, um bestimmte Thesen oder
Ansprüche normativer Art gegen kritische Argumente zu schützen? Existieren Ver-
schwörungstheorien oder Feindbilder, die rationaler Kritik entzogen sind? Finden
sich in der fraglichen Theorie politische oder essentialistische Argumentationsmus-
ter, die an eine angeblich harmonische „Ganzheit“ oder „Totalität“ appellieren? Wird
versucht, den logischen Unterschied zwischen Tatsachen und Werturteilen zu verwi-
schen, etwa indem aus Tatsachen bzw. Tatsachenaussagen Normen hergeleitet und
die Normen so vor Kritik geschützt werden sollen? Werden eine oder gar mehrere
dieser Fragen positiv beantwortet, so handelt es sich bei dem in Rede stehenden Glau-
benssystem wahrscheinlich um eine mit dem Prinzip der kritischen Prüfung nicht
vereinbare Ideologie.82
Derartige Ideologien treten heute oft in Form theologisch fundierter oder offen
fundamentalistischer Theorien auf. Auf der Basis des kritischen Rationalismus las-
sen sich solche Überzeugungen ebenso kritisieren wie die Versuche von Religionen,
ihre Glaubenswahrheiten ohne Weiteres in politische Programme umzumünzen.83
Ideologie- und Religionskritik hat in den vergangenen Jahrzehnten in der öffentli-
chen Debatte, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine besondere Rolle mehr ge-
spielt. Angesichts aktueller politischer Veränderungen weltweit, auch in der deut-
80
Hilgendorf, Hans Albert zur Einführung (Fn. 42), S. 148.
81
Salamun, Perspektiven einer Ideologietheorie im Sinne des Kritischen Rationalismus, in:
Salamun (Hrsg.), Karl R. Popper und die Philosophie des Kritischen Rationalismus. Zum
85. Geburtstag von Karl R. Popper, 1989, 252 – 268, siehe auch ders., Fundamentalistische
Weltanschauungen aus der Sicht von Karl R. Poppers Kritischem Rationalismus, in: Neck/
Salamun (Hrsg.), Karl. R. Popper – Plädoyer für kritisch-rationale Wissenschaft, 2004, 201 –
221.
82
Umfassend zum Ideologiekonzept Lieber (Hrsg.), Ideologie, Wissenschaft, Gesellschaft.
Neuere Beiträge zur Diskussion, 1976.
83
Albert, Zur Analyse und Kritik der Religionen, 2017; Hilgendorf, Religion, Recht und
Staat. Zur Notwendigkeit einer Zähmung der Religionen durch das Recht, in: Hilgendorf
(Hrsg.), Wissenschaft, Religion und Recht. Hans Albert zum 85. Geburtstag (Fn. 64), 359 –
383.
Kritischer Rationalismus und das Recht 233

schen Gesellschaft, spricht viel dafür, der Verteidigung der Offenen Gesellschaft in
Zukunft wieder mehr Aufmerksamkeit zu widmen als bisher.84

X. Der europäische Sonderweg


Albert hat die These vertreten, die Weltzivilisation lebe „großenteils von Ideen,
die in Europa entstanden sind, und sie ist weitgehend mit Problemen konfrontiert,
die auf europäische Ideen zurückgehen“.85 Die Ursachen des europäischen Sonder-
wegs sind umstritten. Otto Brunner nennt in diesem Zusammenhang Faktoren wie
das griechische Denken, das Recht und die Staatsorganisation der Römer, die
Rolle der christlichen Kirche, die autonome Stadt des Mittelalters sowie vor allem
„die Daseinsformen der europäischen Neuzeit“:86 Albert hat diesen Ansatz ausgebaut
und im Hinblick auf die genannten Daseinsformen „den Rechts- und Verfassungs-
staat mit der repräsentativen Demokratie als Regierungsform“, den „modernen Ka-
pitalismus als Träger der industriellen Entwicklung“ sowie „die autonome Wissen-
schaft mit ihrer methodisch disziplinierten Forschung und der auf sie gegründeten
Technik“ benannt.87 Der Leitgedanke des europäischen Sonderwegs ist für ihn die
Idee der Freiheit:
„Die freie Gestaltung des eigenen Lebens ohne die Leitung durch fremde Autoritäten und
ohne Bindung an fremdbestimmte Regeln, das sind die beiden Seiten der Freiheitsidee, die
in der europäischen Kultur zur Zähmung der Herrschaft geführt und an die Stelle der per-
sönlichen Herrschaft in weiten Bereichen die Herrschaft des Rechts gesetzt haben – im Ge-
gensatz zur Normalform der Despotie mit ihrer endemischen Rechtlosigkeit, wie sie bis
heute in den meisten Ländern der Erde anzutreffen ist.“88

Individualismus und rechtlich gesicherte Freiheit zur Selbstverwirklichung sind


also die positiven Schlüsselkonzepte in der politischen Philosophie und Rechtstheo-
rie des Kritischen Rationalismus, verbunden mit der Methode von „Konstruktion und
Kritik“. Alles in allem kann man den Kritischen Rationalismus im Recht deshalb als
Fortführung des Programms der Aufklärung begreifen: Es gilt, tradierte Normen und
Werte kritisch zu hinterfragen, auf ihre Vereinbarkeit mit den – sich stetig weiter ent-
wickelnden – humanistischen Leitideen unserer Rechtskultur zu überprüfen und sie
auf dieser Grundlage für die Zukunft fortzubilden.
84
Schmidt-Salomon, Die Grenzen der Toleranz. Warum wir die offene Gesellschaft ver-
teidigen müssen, 2016.
85
Albert, Europa und die Zähmung der Herrschaft. Der europäische Sonderweg zu einer
offenen Gesellschaft, in: ders., Freiheit und Ordnung. Zwei Abhandlungen zum Problem einer
offenen Gesellschaft, 1986, S. 9.
86
Brunner, Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte; in: ders., Neue Wege der
Verfassungs- und Sozialgeschichte, 1968, S. 85 ff.
87
Albert, Europa und die Zähmung der Herrschaft (Fn. 85), 1986, S. 17; vgl. auch ders.,
Das Ideal der Freiheit und das Problem der sozialen Ordnung. Friedrich A. von Hayek-Vor-
lesung, 1994.
88
Albert, Europa und die Zähmung der Herrschaft (Fn. 85), 1986, S. 30 f.
Dogmatik und Hermeneutik als Leitbegriffe
in Rechtswissenschaft und Theologie
Von Martin Hein

I. Fremde Schwestern
Die Außensicht der einen auf die andere Wissenschaft kann ebenso anregend wie
irritierend sein. Das gilt umso mehr, wenn es sich um Wissenschaften handelt, die
verwandt erscheinen, weil sie ähnliche Terminologien verwenden und eine lange ge-
meinsame Geschichte haben. Besonders trifft dies auf Jurisprudenz und Theologie
zu. Hier verspricht ein struktureller Vergleich erhellend für das gegenseitige Ver-
ständnis zu sein. Beide sind eng mit dem Ursprung der europäischen Universität
und der Entwicklung einer europäischen Identität überhaupt verbunden. Und die Be-
rührungspunkte liegen sowohl auf der Oberfläche der gesellschaftlichen Aktivitäten
als auch in der Tiefenstruktur ihres jeweiligen Gegenstands und ihrer Methodik.
Es sind zwei Begriffe, die sich seitens der Theologie für den vergleichenden Blick
auf die Rechtswissenschaft nahelegen, weil sie in beiden Wissenschaften verwendet
werden – und doch nicht völlig univok sind: Dogmatik und Hermeneutik.1
Die zunächst unpräzis anmutende Kategorie „Leitbegriffe“ versucht der Tatsache
gerecht zu werden, dass sich in Rechtswissenschaft und Theologie das Verständnis
von Dogmatik unterscheidet und in beiden Wissenschaften die Rolle der Hermeneu-
tik abweichend gedeutet wird. Hinter der letztgenannten Differenz steht eine andere
Auffassung hinsichtlich der Funktion von Texten im Anwendungsbereich beider
Wissenschaften. Das soll im Folgenden beleuchtet werden – und zwar aus einer de-
zidiert evangelisch-theologischen Sicht.
Diese Einschränkung bedarf einer Erläuterung: Es ist gerade die Rolle des Rechts,
an der sich nicht nur kirchenunterscheidende, sondern kirchentrennende Differenzen
zeigen. Und es ist auch für Nicht-Theologen durchaus von Bedeutung, diese Diffe-
renzen wahrzunehmen – gerade wenn es um das Verhältnis von Recht und Ethik, von
1
Einen knappen Überblick bietet Rainer Walz, Zur grundsätzlichen Trennung von
Rechtswissenschaft und Theologie, in: Heiner Adamski/Axel Denecke/Wilfried Hartmann
(Hrsg.), Der „Gott“ der Fakultäten. Gott der Wissenschaft – Gott, der Wissen schafft?
(Hamburger Theologische Studien 21), Münster/Hamburg/London 2000, S. 92 – 97. „Als Fazit
dieser Auseinanderentwicklung von Recht und Theologie, Rechtspraxis und Gottesfrage
müssen wir festhalten: Theologie und Rechtswissenschaft sind nach Gegenstand und Methode
verschieden“ (S. 95).
236 Martin Hein

Glaube und Moral und von lehramtlicher Verbindlichkeit und Diskurskultur geht.
Genau in diesen unterschiedlichen Akzentuierungen liegt die Quelle vieler Missver-
ständnisse, die man sich aber auf Dauer kaum wird leisten können. Denn die globale
Perspektive zwingt dazu, in eine gemeinsame Reflexion über Religion und Recht ein-
zutreten, die über rein staatskirchenrechtliche Fragen hinausgeht.

II. Berührungspunkte von Religion und Recht


Religion und Recht, Theologie und Rechtswissenschaft berühren sich in vielfa-
cher Hinsicht. Und diese Berührungspunkte sind keineswegs nur historischer
Natur, sondern weiterhin aktuell.2 Sie sollen in gebotener Kürze benannt werden,
weil es nicht nur von Bedeutung ist, auf welcher Ebene die Begegnung von Theologie
und Rechtswissenschaft stattfindet, sondern auch, ob die Gesprächspartner diese un-
terschiedlichen Ebenen jeweils angemessen identifizieren.

1. Kirchenorganisation

Kirchen können in Deutschland Körperschaften des öffentlichen Rechts sein


(Art. 140 GG) und demzufolge im Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung ein ei-
genes, auf ihren Bereich bezogenes und begrenztes Recht entwickeln. Das kommt
dem evangelischen Verständnis von „Kirche“ sehr nahe, wonach sie als Organisation
allein (!) dem weltlichen Bereich zuzuordnen ist und sich nach einem vergleichbaren
Regelsystem konstituiert.3 Ihre Organisationsgestalt ist einerseits rechtlich geregelt,
andererseits aber – wie der Blick in die Wirklichkeit der evangelischen Landeskir-
chen zeigt – sehr pluriform und variabel. Rechtsetzende Instanz sind immer die je-
weiligen Kirchensynoden und die von ihr abgeleiteten (und ihr gegenüber rechen-
schaftspflichtigen) Organe, nicht etwa ein bischöfliches Amt, das vielmehr diesem
Recht vollständig unterliegt.4
Es ist deutlich, dass damit das Recht und die Rechtswissenschaft im evangeli-
schen Raum eine andere Bedeutung haben5 als in der römisch-katholischen Kirche,

2
Vgl. dazu: Zeitzeichen. Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft,
Schwerpunkt „Religion und Recht“, 3/2019.
3
Martin Heckel, Martin Luthers Reformation und das Recht. Die Entwicklung der Theo-
logie Luthers und ihre Auswirkungen auf das Recht unter den Rahmenbedingungen der
Reichsreform und der Territorialstaatsbildung im Kampf mit Rom und den „Schwärmern“ (Jus
Ecclesiasticum 114), Tübingen 2016, bietet eine umfassende Auseinandersetzung zu diesem
Thema.
4
Vgl. Hans Ulrich Anke, Rechtsquellen und kirchliche Gesetzgebung, in: Hans Ulrich
Anke/Heinrich de Wall/Hans-Michael Heinig (Hrsg.), Handbuch des evangelischen Kirchen-
rechts, Tübingen 2016, S. 162 – 200, bes. 165 f.
5
Vgl. Anke (wie Anm. 4), S. 169: „Das Recht selbst ist in der evangelischen Kirche nur ein
Hilfsmittel unter anderen, um irdische Organisationsformen bereitzustellen und die Ordnung
Dogmatik und Hermeneutik als Leitbegriffe 237

in der die – als Rechtsverhältnis konstituierte – Kirchenmitgliedschaft und die reli-


giöse Jurisdiktion des Lehramts, repräsentiert durch den Papst und niedergelegt im
kanonischen Recht, auch für die Gottesbeziehung konstitutiv sind.
Zudem gibt es in den evangelischen Landeskirchen – im Rahmen des kirchlichen
Selbstbestimmungsrechts – eine eigenständige Kirchengerichtsbarkeit, die in ihrem
Urteil unabhängig ist.6 Hier zeigt sich die ordnende und Erwartungssicherheit garan-
tierende Funktion des Rechts in evangelischer Perspektive besonders deutlich.
Das Kirchenrecht verbindet in seiner historischen Tiefenstruktur Theologie und
Rechtswissenschaft, insofern im evangelischen Kirchenrecht nach 1918/19 (das
im Kern ein Dienst- und Verwaltungsrecht ist) Reste des alten kanonischen Rechts
weiterleben.7 Und über das nach der Auflösung des landesherrlichen Kirchenregi-
ments entstandene Staatskirchenrecht besteht die Beziehung zur Jurisprudenz
auch dergestalt, dass die Frage eines möglichen europäischen Religionsverfassungs-
rechts neue Perspektiven entwirft und die Rechtsprechung ungeachtet der Bestim-
mungen des Art. 17 AEUV – aktuell etwa das kirchliche Arbeitsrecht betreffend –
zu beeinflussen beginnt.8

2. Die Frage nach dem Ursprung des Rechts

Auf einer tiefer reichenden Ebene sind Rechtswissenschaft und Theologe verbun-
den in der Frage nach der Herkunft des Rechts, den Rechtsquellen und der Geltung
des Rechts. Sie lebt neuerdings – nachdem sie spätestens seit der Aufklärung als er-
ledigt galt – wieder auf. Allerdings bietet sie zugleich eine Fülle von möglichen Miss-
verständnissen bzw. Selbstmissverständnissen.
Es steht zum einen die Frage im Raum, ob Gott (direkt oder indirekt) der Stifter
des Rechts sei – und zwar nicht nur eines religiösen, Kult und Glaubensleben bestim-
menden Rechts, sondern auch des weltlichen, Strafe und Gerechtigkeit betreffenden
Rechts. Aus aufgeklärter Perspektive scheint das ein völlig abwegiger Gedanke zu
sein;9 er spielt aber in der Argumentation vor allem religiös fundamentalistisch aus-

des Zusammenwirkens der Kirchenglieder, die Verkündigung des Evangeliums in Wort und
Tat sowie die ordnungsgemäße Verwaltung der Sakramente zu befördern.“
6
Eine ausführliche historische und systematische Darstellung bei Michael Germann,
Kirchliche Gerichtsbarkeit, in: Handbuch des evangelischen Kirchenrechts (wie Anm. 4),
S. 1060 – 1127: „Die Funktion der kirchlichen Gerichtsbarkeit in der kirchlichen Rechtsord-
nung ist kirchliche Rechtsprechung: die fremdinitiierte, externe, abschließende Kontrolle
kirchlichen Handelns am Maßstab des kirchlichen Rechts“ (S. 1081).
7
Vgl. Anke (wie Anm. 4), S. 166.
8
In diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung von Fremdwahrnehmung und Selbst-
wahrnehmung der Kirchen und Religionsgemeinschaften von elementarer Bedeutung, weil es
um ihr verfassungsmäßig garantiertes Selbstbestimmungsrecht geht: Wer legt fest, was „Re-
ligion“ ist – und was sie umfasst?
9
Walz (wie Anm. 1), S. 97: „Die moderne Rechtswissenschaft arbeitet ohne die Hypothese
Gott.“
238 Martin Hein

gerichteter Gruppen eine nicht unwesentliche Rolle. Durch den politisch radikalisier-
ten Islam steht das Thema auf der Tagesordnung.10 Eine reine Selbstbezüglichkeit des
Rechts zu denken,11 bedeutet für entsprechende religiöse Gruppierungen nach wie
vor eine große Irritation.
Damit verwandt ist zum anderen das Problem des Naturrechts: Es ist keineswegs
so, dass der christliche Glaube eo ipso ein naturrechtliches Verständnis von der Her-
kunft des Rechts besitzt. Gerade der Protestantismus hat sich gegenüber dergleichen
Vorstellungen stets deutlich reserviert gezeigt. Die Entkoppelung von Naturrecht und
göttlichem Recht in Richtung eines vernunftbasierten Naturrechts ist gerade im pro-
testantischen Raum vollzogen worden.12
Obwohl die Frage nach der Letztbegründung des Rechts eine der kompliziertesten
theologischen Fragen darstellt, weil sie unmittelbar die Konstitution der Beziehung
von Gott und Mensch tangiert, wird sie erstaunlicherweise im evangelischen Kontext
nur wenig behandelt. Hier entstehen sowohl innertheologisch als auch im gesell-
schaftlichen Diskurs bisweilen Fehleinschätzungen, was die Bestimmung des Ver-
hältnisses von Ethik, Moral und Recht, von Legitimität und Moralität betrifft.

10
Vgl. dazu den instruktiven, aus römisch-katholischer Sicht konzipierten Sammelband:
Nora Kalbarczyk/Timo Güzelmansur/Tobias Specker SJ (Hrsg.), Gibt Gott Gesetze? Ius di-
vinum aus christlicher und muslimischer Perspektive (CIBEDO 5), Regensburg 2018. Jo-
hannes Caspar, Thesen zu Gottesfrage und Rechtswissenschaft, in: Adamski/Denecke/Hart-
mann (wie Anm. 1), S. 92 – 97, konstatiert: „Werden […] religiöse Normen wie Rechtsnormen
mit einem äußeren staatlichen Zwangsstab durchgesetzt, handelt es sich um keinen Rechts-,
sondern um einen Gottesstaat“ (S. 91).
11
Sie findet ihre Vollendung in Luhmanns systemtheoretischer Betrachtung des Rechts
(vgl. Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt 1993): Als System stellt das
Recht autopoetisch nichts anderes dar als die Auseinanderentwicklung der Basistautologie
„Recht ist Recht“ (S. 56), denn Recht wird dort konstituiert, wo die „Leitdifferenz“ Recht/
Unrecht zum Einsatz kommt. „Wir schneiden jeden Rekurs auf eine ,höhere Ebene‘ der
Sollwertzuteilung ab. Recht gilt, wenn es mit dem Geltungssymbol als geltend bezeichnet
wird – und wenn nicht, dann nicht“ (S. 32).
12
Vgl. Michael Moxter, Über die Idee einer Religionsphilosophie des Rechts. Eine Erin-
nerung an Gustav Radbruch, in: Herta Nagl-Docekal/Friedrich Wolfram (Hrsg.), Jenseits der
Säkularisierung. Religionsphilosophische Studien (Schriften der Österreichischen Gesell-
schaft für Religionsphilosophie 9), Berlin 2008, S. 71 – 94, hier S. 73: „Säkularisierung setzte
auf dem Gebiet des Rechts und der Jurisprudenz ein, und zwar als Entzug von Rechten, die die
Kirchen zuvor hatten. Dem folgte eine Entzauberung des Rechts hinsichtlich seiner religiösen
Grundlagen.“ Das schließt aber nicht aus, dass das Recht „implizite Religion“ enthält, das sich
einer religionsphilosophischen Betrachtung erschließt. Vgl. auch Walz (wie Anm. 1), S. 94:
„In Deutschland haben die schrecklichen Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges zu einer
radikalen Entkonfessionalisierung des Rechts geführt […]“. Gleichzeitig erfordert die begin-
nende Globalisierung die Formulierung eines Völkerrechtes „etsi deus non daretur“ (S. 94).
Vgl. dazu schon Luhmann (wie Anm. 11), S. 377.
Dogmatik und Hermeneutik als Leitbegriffe 239

3. Juristische Metaphorik in der biblischen Tradition

Das führt zur dritten Ebene der Verwandtschaft von Theologie und Rechtswissen-
schaft: Die Bibel verwendet von Anfang an Metaphern des Rechts für die Bestim-
mung des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch. Die religiöse Sprache ist gera-
dezu durchsetzt von Rechtsbegriffen und rechtlichen Denkkategorien.
Das gilt zunächst für die Hebräische Bibel, in christlicher Terminologie: das
„Alte“ Testament. Die Erzählung vom „Sündenfall“ (Genesis 2 – 4) als der Übertre-
tung eines göttlichen Gebots endet mit der Eintrübung der Beziehung zwischen Gott
und Mensch und – als Folge davon – mit dem Verlust des Paradieses: ein für die eu-
ropäische Rechtsgeschichte und Staatengeschichte grundlegender Mythos. Unter
dieser Perspektive stellen die Texte des Alten Testaments im Wesentlichen die Be-
mühungen dar, das zerstörte Rechtsverhältnis durch Bundesschlüsse, Kult- und
Rechtsregeln wieder zu heilen. Das Alte Testament ist daher in seinen wesentlichen
Teilen ein Rechtsbuch, in dem sich (aus moderner Perspektive formuliert) kultische,
vertragsrechtliche, strafrechtliche und staatsrechtliche Bestimmungen ständig ver-
mischen.13
Die für das Christentum zentrale Erlösungstat durch Jesus Christus wird im
„Neuen“ Testament ebenfalls in Metaphern der Rechtsbeziehung beschrieben,
weil es auch in ihr um die Heilung der gestörten Beziehung von Gott und Mensch
geht. Besonders Paulus hat der christlichen Theologie eine solche Richtung vorge-
geben, weil er als pharisäisch ausgebildeter Jude zugleich Rechtsgelehrter war und
die Bedeutung des Todes Jesu am Kreuz als Neukonstituierung des Rechtsverhältnis-
ses von Gott und Mensch verstand: „Christus ist des Gesetzes Ende“ (Römerbrief
10,4).14 Das Ziel der religiösen Existenz ist es, „Gerechtigkeit“ vor Gott zu erlangen,
die nicht durch Gesetzesobservanz erworben, sondern durch göttliche Barmherzig-
keit bzw. „allein aus Gnade“ geschenkt wird. Das ist der Kern der für den Protestan-
tismus wesentlichen „Rechtfertigungslehre“. Juristisch Gebildete mögen sofort ein-
wenden, Gnade sei keine juristische Kategorie, sondern gerade die Aufhebung des
Rechts durch einen souveränen überrechtlichen Akt!15 Mit dem Vorrang der
„Gnade“ vor dem „Gesetz“ werde – aus juristischer Perspektive – einer Relativierung

13
Wolfhart Pannenberg, Einleitung, in: Manfred Fuhrmann/Hans Robert Jauß/Wolfhart
Pannenberg, Text und Applikation. Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im
hermeneutischen Gespräch (Poetik und Hermeneutik 9), München 1981, S. 15 – 24, beleuchtet
diesen biblischen Komplex, der im ersten Teil des Bandes ausführlich behandelt wird.
14
Im griechischen Text steht „télos“ („Ziel“). Luthers Übersetzung ist bereits eine theo-
logische Auslegung des Textes. Die Diskussion über diese Akzentuierung und ihre Folgen
dauert in der Theologie bis heute an.
15
Vgl. dazu Martin Hein, Gnade als Existenzbedingung in einer gnadenlosen Welt. Vortrag
bei der Veranstaltungsreihe „Doppelkopf“ der Evangelischen Akademie Frankfurt zum Auf-
takt des Reformationsjubiläums, 16. Dezember 2016, https://www.ekkw.de/media_ekkw/down
loads/bischof_161219_vortrag_gnade.pdf (Aufruf 17. 07. 2019).
240 Martin Hein

des Rechts Vorschub geleistet.16 Aber das ändert nichts an der Einsicht, dass seman-
tisch eine explizit rechtlich eingefärbte Begrifflichkeit verwendet wird.
Und die vielleicht elementarste rechtlich konnotierte Metapher des christlichen
Glaubens ist die vom „Jüngsten Gericht“, die der Bilderwelt der jüdischen Apoka-
lyptik entstammt. Sie beschreibt ein finales Urteil Gottes über den Menschen; und
der christliche Glaube hat seinen stärksten Hoffnungs- und Gewissheitsimpuls
darin, dass hier ein für alle Mal Gerechtigkeit geschaffen wird.
Nachdem es lange Zeit in der Theologie geradezu verpönt war, auf die Metapher
vom „Jüngsten Gericht“ zu sprechen zu kommen, hat sich das geändert: Angesichts
des unübersehbar Bösen in der Welt, angesichts der bösen Taten, die Menschen an
Menschen verüben, kann es nicht sein, dass dies alles eschatologisch irrelevant
ist. Wie Gottes Urteil ausfällt, bleibt ihm überlassen. Aber dass er ein Urteil spricht,
ist aus Gründen der Moralität unabdingbar!
Wohlgemerkt: Es handelt sich um „Metaphern“. Das in der Bibel Geschilderte
richtig zu interpretieren und das bestehende Rechtsverhältnis zwischen Gott und
Mensch nun gerade nicht durch gesetzliche Regelungen zu „verrechtlichen“, ist
eine der wesentlichen Aufgaben theologischer Dogmatik und Hermeneutik. Denn
die Verrechtlichung des Glaubens als reine „Gesetzlichkeit“ hat nach evangelischem
Verständnis das Schlimmste zur Folge, was dem Glauben widerfahren kann: nämlich
den Verlust und das Ende der Freiheit!

III. Dogmatik
1. Dogmatik als theologische Disziplin

In der Theologie bildet „Dogmatik“ zusammen mit „Ethik“ im Rahmen der „Sys-
tematischen Theologie“ eine eigenständige und mit Lehrstühlen ausgestattete Diszi-
plin. Daneben gibt es die historischen und die praktischen Disziplinen, die sich mit
Altem und Neuem Testament, der Christentums- und Religionsgeschichte und mit
Predigt, Seelsorge, Unterricht und Diakonie befassen.
Erstaunlicherweise ist der Begriff „Dogmatik“ für das theologische Fach nicht so
alt, wie man meinen sollte. Er rührt wesentlich aus dem 19. Jahrhundert her, als sich
die Theologie im Rahmen der allgemeinen Entwicklung der Wissenschaften nicht
nur an der Universität neu positionieren musste, sondern auch begann, sich auszudif-
ferenzieren: „Dogmatik“ meinte die philosophisch-systematische Beschäftigung mit

16
Moxter (wie Anm. 12), S. 75, weist darauf hin, dass in der protestantischen Theologie
vor allem nach dem Aufkommen des Rechtspositivismus gegenüber dem Recht eine „Her-
meneutik des Verdachts“ zu beobachten ist: „,Recht‘ erscheint als Inbegriff einer bloß äußeren
Angelegenheit, als Ausdruck eines Vertragsdenkens, das der Innerlichkeit des Gottesverhält-
nisses nicht genügen könne.“
Dogmatik und Hermeneutik als Leitbegriffe 241

der christlichen Lehre, während die anderen Disziplinen zunehmend historisch-phi-


lologisch arbeiteten.17
Eine der neueren evangelischen Dogmatiken definiert ihre Aufgabe mit dem Satz:
„Dogmatik ist die zusammenhängende Darstellung christlicher Lehre“.18 Der Kern
der „christlichen Lehre“ besteht allerdings im Protestantismus nicht in einer in zeit-
los wahren Sätzen zu glaubenden Wahrheit, sondern ist ein existenzveränderndes Ge-
schehen, das sich unter der Kommunikation der christlichen Botschaft vollzieht. Auf
dem Grund dieser Kommunikation findet sich auch keine Lehre, die als ein Ensemble
axiomatischer Sätze verstanden werden könnte, sondern eine „Story“: die Erzählung
der Geschichte Gottes mit seinem Volk, die in der Erzählung von Jesus Christus ihre
Zuspitzung und Vollendung erfährt. Die „Offenbarung“, wie sie der christliche Glau-
be versteht, ist eine existenzverändernde Begegnung mit einer Person und ihrer Bot-
schaft, die nicht zuerst argumentativ entfaltet, sondern erzählt wird.
Nun will der christliche Glaube aber auf eine bestimmte Weise auch die Welt deu-
ten: Er „interpretiert die Wirklichkeit und ihre Phänomene aus der Perspektive des
Evangeliums“.19 Das Evangelium als verändernde und befreiende Zusage Gottes
wiederum begegnet in der Bibel – und zwar, wenn diese als „Heilige Schrift“ gelesen
wird. Wie die Heilige Schrift angemessen zu lesen sei, findet seinen Ausdruck in den
Bekenntnissen.20 Heilige Schrift und Bekenntnisse bilden also die beiden Quellen der
evangelischen Dogmatik. Deren Aufgabe besteht nun darin, Welt, Mensch, Heilige
Schrift und Bekenntnis wechselseitig und methodisch kontrolliert aufeinander zu be-
ziehen. Ziel ist es, eine kohärente zeitgemäße Explikation der christlichen Botschaft
zu ermöglichen.
Das ist etwas anderes als die juristische Interpretation eines vorhandenen Geset-
zestextes oder die Anwendung von Recht in Form der Subsumtion – aber damit ver-
wandt. Um das nachzuvollziehen, muss sich das Augenmerk auf die zentrale Hand-
lung des Glaubens einerseits und des Rechts andererseits richten.

2. Verkündigung und Verkündung

Nicht von ungefähr liegen der theologische Begriff der „Verkündigung“ und der
juristische der „Verkündung“ sprachlich dicht beieinander. Beide haben auf ihre
Weise mit „Veröffentlichung“ und „Öffentlichkeit“ zu tun! Richterinnen und Richter

17
Dabei ist zu bedenken, dass der Protestantismus „Dogma“ grundlegend anders versteht
als der römische Katholizismus oder die Orthodoxie – einer der Gründe, warum der Begriff
über Jahrhunderte im evangelischen Bereich eher vermieden wurde.
18
Ulrich H. J. Körtner, Dogmatik (Lehrwerk Evangelische Theologie 5), Leipzig 2018,
S. 3 (im Original kursiv).
19
Ebd., S. 18 (im Original kursiv).
20
Dies ist die einzige Stelle, an der in der evangelischen Theologie der Normbegriff als
theologischer Begriff auftaucht: das Wort Gottes als „norma normans“ und das Bekenntnis als
„norma normata“, vgl. dazu ebd., S. 54.
242 Martin Hein

sind dabei allein „Recht und Gesetz“ verpflichtet, gleichzeitig aber befähigt, ihrem
eigenen Urteil und ihrer sowohl erworbenen als auch zugesprochenen Kompetenz zu
vertrauen. Ähnliches wird von Pfarrerinnen und Pfarrern erwartet. Am Ende steht
jeweils ein öffentlicher performativer Sprechakt: das Urteil des Gerichts („Verkün-
dung“) bzw. die Predigt des Evangeliums („Verkündigung“).
Evangelische Pfarrerinnen und Pfarrer sind der Heiligen Schrift und den Bekennt-
nissen verpflichtet, wobei die zugleich vorausgesetzte Bindung an das Gewissen eine
noch stärkere individuelle Komponente besitzt. Genau hier hat die „Dogmatik“ ihren
Ort: Sie sagt nicht, was zu sagen ist, sondern wie ich zu dem gelange, was zu sagen ist.
Damit nähert sich das evangelische Verständnis von Dogmatik als methodisch ge-
leitete Selbstvergewisserung zumindest einigen Positionen des juristischen Ver-
ständnisses von Dogmatik an: Theologische Dogmatik versucht, Erwartbarkeit, Sys-
tematik und innere Kohärenz von Glaubenssätzen zu erreichen.
Eine christliche Predigt dagegen ist ihrer Intention nach die Entfaltung der Ge-
schichte des Volkes Gottes und seiner Erfahrungen mit Gott in der Gegenwart der
Hörenden.21 Ihr Ziel ist das Einstimmen in den Glauben und die Veränderung der ei-
genen Lebensorientierung auf Freiheit hin. Die Predigt wäre völlig missverstanden,
wollte man sie als Aufreihung dogmatischer Behauptungen oder gar als ethische Fi-
xierung sehen oder gerade das von ihr erwarten.22 Sie ist „Auslegung“ – worauf noch
zurückzukommen ist.
Mit der juristischen Dogmatik scheint es demgegenüber nicht so klar bestellt zu
sein.23 Sie bildet kein wissenschaftliches „Fach“ innerhalb der Rechtswissenschaften
wie die Dogmatik in der Theologie, und sie ist auch in einer sehr viel grundlegende-
ren Hinsicht umstritten: Schon allein die Frage, ob es sie überhaupt geben muss und
kann, ist Gegenstand der innerjuristischen Debatte24 – eine Frage, die sich dem christ-
lichen Glauben nicht stellt, sofern er sich als „denkender Glaube“ versteht.

21
Vgl. Wolfhart Pannenberg, Frage und Antwort – Das Normative in christlicher Über-
lieferung und Theologie, in: Fuhrmann/Jauß/Pannenberg (wie Anm. 13), S. 418: „Ebenso
wenig wie die Bibel als Gesetzesnorm oder Präjudiziensammlung, fungiert die Predigt als
Urteil, das die Gesetzesnorm auf die jeweiligen Hörer anzuwenden hätte.“
22
Ders., Über Menschwürde, persönliche Freiheit und Freiheit der Kunst – Theologische
Erwägungen aus Anlass des Falles ,Mephisto‘, in: ebd. (wie Anm. 13), S. 137 – 148, sieht hier
eine deutliche Differenz zwischen der Theologie und der Jurisprudenz: „Die religiöse Erfah-
rung ist nicht primär Normbewußtsein, sondern Erfahrung einer ursprünglicheren, eben
,göttlichen‘ Wirklichkeit. An dieser Stelle ist der Ort der tiefsten Differenz zwischen theolo-
gischer und juristischer Hermeneutik zu vermuten“ (S. 137).
23
Vgl. Gregor Kirchhof/Stefan Magen/Karsten Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?
Was leistet und wie steuert die Dogmatik des Öffentlichen Rechts? (Recht – Wissenschaft –
Theorie 7), Tübingen 2012. Dieser Sammelband gibt einen guten Einblick in die Debatte. Vor
allem Oliver Lepsius, Kritik der Dogmatik, S. 39 – 62, ist aus theologischer Perspektive in-
struktiv.
24
Sie ist jedenfalls keine eigene Fachdisziplin innerhalb der Rechtswissenschaften, wie es
die Dogmatik innerhalb der Theologie ist. Vgl. die Verortungen der Dogmatik bei Winfried
Dogmatik und Hermeneutik als Leitbegriffe 243

3. Aufgaben und Grenzen von Dogmatik: „Multifunktionalität“

Der Theologe Michael Welker arbeitet angesichts der Strukturanalogien zwischen


theologischer und juristischer Dogmatik25 als bemerkenswerten Unterschied heraus,
dass die Debatte um Aufgabe und Funktion der Dogmatik in der Rechtswissenschaft
für Außenstehende zumindest deutlich auch von ideologischen Vorgaben bestimmt
ist und sich so kein einheitliches Bild davon einstellen will, was juristische Dogmatik
überhaupt sei, was sie leisten könne und solle.
Doch gerade als Theologe, der sich den Fragen nach der Wissenschaftlichkeit der
Theologie stellt und sie sowohl auf ihren Gegenstand wie auf ihre Methode in der
Neuzeit hin befragt, hält er fest, es sei den Versuch wert, „einen klaren Blick auf
die Multifunktionalität der Dogmatik, und zwar der Rechtsdogmatik und einer Dog-
matik überhaupt, zu gewinnen“.26 Wichtig ist dabei, dass man keinen „dogmati-
schen“ Begriff von Dogmatik hat, der aus einer abstrakten Norm heraus entwickelt,
was sie sein soll, sondern einen funktionalen Dogmatikbegriff entwickelt, der be-
schreibt, was sie tatsächlich tut – und zwar sowohl in der Theologie als auch im
Recht. Welker betont: „Die ,wissenschaftliche Selbstprüfung des Rechtssystems‘
scheint in der Tat eine zentrale Aufgabe der Dogmatik zu sein“:27 die Selbstbeschrei-
bung des Rechts,28 die aber zugleich auch die Fremdbeobachtung ermöglicht.
Damit ist Dogmatik zu allererst ein Verfahren, was bedeutet, dass sie als eine Me-
thode verstanden wird, wie Inhalte auf kontrollierbare und nachvollziehbare Weise
miteinander verwoben sind. Ihr funktionaler Charakter ist zugleich auch ein syste-
mischer, ohne dass die beiden Aspekte einfach ineinander aufgehen. Folgt man Wel-
ker, dann bedeutet Dogmatik gerade nicht Erstarrung, sondern kann im Gegenteil der
Motor für Innovation und Paradigmenwechsel sein, insofern sie kritisch Brüche,
Spannungen, Leerstellen und Fehlstellen identifiziert und benennt.
Zugleich aber sieht Welker die Dogmatik zwischen „Gesetz und Fall“29 : Sie wird
sowohl von der Wissenschaft als auch in der Praxis produziert, weil aus dogmatischer
Perspektive jedes Urteil ein Beitrag zur dogmatischen Entwicklung ist, wie anderer-
seits dogmatische Entwicklungen das Urteilsverhalten von Richterinnen und Rich-
tern sowie das Gesetzgebungsverfahren des Gesetzgebers verändern.
Damit verknüpft die wissenschaftliche Dogmatik die Ebene der Reflexion mit der
Ebene der Ausübung. Diese Position zwischen akademischer Reflexion und unmit-

Hassemer, Dogmatik zwischen Wissenschaft und richterlicher Pragmatik (wie Anm. 23),
S. 3 – 15.
25
Michael Welker, Juristische und theologische Dogmatik, in: Evangelische Theologie 75
(2015), S. 325 – 341. Er rekurriert dabei auf den Tagungsband „Was weiß Dogmatik?“ (wie
Anm. 23).
26
Ders. (wie Anm. 25), S. 329.
27
Ebd., S. 329.
28
Vgl. Luhmann (wie Anm. 11), S. 11.
29
Welker (wie Anm. 25), S. 329.
244 Martin Hein

telbarer Rechtsausübung – so Welker – „scheint dem wissenschaftlich-dogmatisch


gestützten Richterrecht einen beträchtlichen Einfluss auf die Rechtserzeugung und
Gesetzgebung in Aussicht zu stellen. Das wiederum ist nur zu begrüßen, da Rechts-
erzeugung und Gesetzgebung natürlich vielfältigen politischen, zivilgesellschaft-
lich-moralischen, medialen, wirtschaftlichen und anderen Erwartungen ausgesetzt
sind“30. Rechtsdogmatik ist in der Lage, außerrechtliche Fragen in die Rechtsdiskus-
sion einzubringen.
Das ist nun – per analogiam – ebenfalls eine der wichtigsten Funktionen der theo-
logischen Dogmatik: die Anschlussfähigkeit sowohl zu den anderen Wissenschaften
als auch zur alltäglichen Erfahrung herzustellen. Jede andere Definition von Dogma-
tik, die sie etwa als Produzentin von „Wahrheit“ versteht, verfehlt zumindest das
evangelische Verständnis. Gleichwohl ist keineswegs ausgeschlossen, dass sie Wahr-
heitsansprüche erhebt!

4. Der gesellschaftliche Ertrag von „Dogmatik“

Die Einbindung der Rechtswissenschaft und der Theologie in das Wissenschafts-


system via Dogmatik31 kann jedenfalls für die Gesellschaft von hohem Interesse sein,
weil dadurch dreierlei gesichert wird: (1) Theologie und Rechtswissenschaft werden
erkennbar im Sinne von Transparenz und Kontrolle, (2) sie sind eingebunden in den
öffentlichen wissenschaftlichen Diskurs und (3) sie unterliegen zugleich der Freiheit
der Wissenschaft, sodass Versuche der moralischen, politischen oder wirtschaftli-
chen Einflussnahme eingedämmt werden können.32 Die Einbindung in das Wissen-
schaftssystem steigert für beide die Komplexität und den inneren Pluralismus mit der
Folge, dass „diese Errungenschaften mit vielfältigen intensiven Formen der akade-
misch institutionalisierten Erkenntniskontrolle einhergehen, die zusätzliche Formen
von Selbstprüfung und Selbstkritik zu den gerichtlichen und gesetzgeberischen bzw.
kirchlichen und religiös-moralischen Formen solcher Prüfung bereitstellen und im-
plementieren“33.
30
Ebd., S. 329.
31
Die Theologie ist auch über ihre historischen Wissenschaften mit dem Wissenschafts-
system verbunden. Während diese (Rechtsoziologie, Rechtgeschichte, Rechtsphilosophie) in
der Jurisprudenz ausdrücklich als Hilfswissenschaften betrachtet werden, sind sie der mo-
dernen Theologie wegen des geschichtlichen Charakters des Glaubens wesentlich, vgl. Ulrich
H. J. Körtner, Einführung in die theologische Hermeneutik, Darmstadt 2006, S. 25 f.
32
Diesbezüglich hat sich der Deutsche Wissenschaftsrat eindeutig positioniert: „Empfeh-
lungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an
deutschen Hochschulen“, vom 29. 01. 2010, einzusehen unter http://www.wissenschaftsrat.de/
download/archiv/9678 - 10.pdf (Aufruf 18. 07. 2019), vgl. dazu Martin Hein, Theologie als
universitäre Wissenschaft. Ein Plädoyer aus evangelischer Perspektive auf dem Hintergrund
der „Empfehlungen“ des Wissenschaftsrates, in: Frank Hofmann/Karl Waldeck (Hrsg.):
Martin Hein, Theologie in der Gesellschaft. Aufsätze zur öffentlichen Verantwortung der
Kirchen, Leipzig 2014, S. 255 – 278.
33
Welker (wie Anm. 25), S. 330.
Dogmatik und Hermeneutik als Leitbegriffe 245

Ähnlich argumentiert von juristischer Seite her Ulli F. Rühl,34 wenn er die rechts-
wissenschaftliche Dogmatik als Kulturwissenschaft verstanden wissen will: Sie sei
insbesondere eine „Verstehenswissenschaft“35, also eine hermeneutische Wissen-
schaft, die zwar keine Wahrheiten, aber sehr wohl Wahrheitsansprüche formuliere.
Rühl zitiert dazu ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1973: „Im
verfassungsrechtlichen Sinn ist Wissenschaft jede Tätigkeit, die ,nach Inhalt und
Form als ernsthafter und planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzuse-
hen ist‘“.36 Wissenschaft ist für Rühl „methodische Suche (Streben) nach der Wahr-
heit.“ Gegenstand der Rechtswissenschaft als Verstehenswissenschaft sind „Texte in
Gestalt von Gesetzen, Gesetzesmaterialien und Präjudizien, welche die Rechtsdog-
matik mittels hermeneutischer Methoden zu verstehen und auf konkrete Fälle anzu-
wenden versucht“.37
Mit dieser Orientierung an der Wahrheitsfrage bekommen die Dogmatiken eine
gegenüber der Gesellschaft und ihren Systemen – vor allem den Wissenssystemen –
kritisch-hermeneutische Funktion.
Oder um es mit Welker zu sagen: „Die Selbstverpflichtung zur Wahrheitssuche
muss einhergehen mit der in der Moderne oft schwer zu vermittelnden Erkenntnis,
dass Wahrheit wohl Gewissheit und Konsens einschließen kann und in der Regel ein-
schließen sollte, dass die Wahrheitssuche aber auch immer wieder Gewissheiten und
Konsensbildung problematisiert.“38
Und er fasst – mit durchaus angemessenem Pathos – zusammen: „So, wie es den
Glauben ehrt, dass er eine wie immer emotionalisierte Religiosität und diverse wie
immer eingespielte religiöse Autoritäts- und Abhängigkeitsverhältnisse durch die
wissenschaftliche Wahrheitssuche geprüft und begleitet sehen will, so ehrt es das
Rechtssystem, dass es die Suche nach Gerechtigkeit, nach Konfliktlösung und
Steuerung wohlgeordneter gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse auch
durch die wissenschaftlich kultivierte Wahrheitssuche bereichern, filtern und prä-
gen lässt.“39
Was Welker die „Multifunktionalität“ der Dogmatik nennt, spiegelt sich in beiden
Wissenschaften darin wider, dass sie in mehrere Bezugssysteme eingebunden ist. Sie
sichert nicht nur die inhaltliche Identität von Glauben bzw. Recht (verhindert also

34
Ulli F. Rühl, Ist die Rechtswissenschaft überhaupt eine Wissenschaft? Vortrag, Bremen
2005; https://www.jura.uni-bremen.de/uploads/Ulli_Ruehl/Ruhl-ReWi_Vortrag.pdf (Aufruf
08. 03. 2019). Den Hinweis verdanke ich dem ehemaligen Präsidenten des Bundesozialge-
richts, Dr. h.c. Peter Masuch.
35
Ebd., S. 14.
36
Ebd., S. 14. (Kursive im Original).
37
Ebd. S. 14.
38
Welker (wie Anm. 25), S. 331.
39
Ebd., S. 331 f. Insofern sind sowohl die Institutionen der verfassten Religion, also die
Kirchen, als auch die Institutionen verfassungsmäßig etablierter und konstituierter Rechts-
pflege auf akademisch gebildete und dogmatisch urteilsfähige Akteure angewiesen.
246 Martin Hein

subjektive Beliebigkeit oder Willkür), sondern begründet auch Methoden der Wahr-
heitsfindung und der Wahrheitsdokumentation. Sie tut dies zum einen in normativer
Rückbindung (z. B. an die Verfassung, an das Gesetz und die Praxis der Rechtspre-
chung in der Rechtswissenschaft bzw. an die Heilige Schrift und die Bekenntnisse in
der Theologie),40 zum anderen in der tatsächlichen Praxis ihrer Akteure.

5. Das Problem des „Kodex“

Welker stimmt interessanterweise Udo Di Fabio zu, wenn dieser – etwas zuge-
spitzt – feststellt: „Das Gesetz ist für den Juristen das, was die Heilige Schrift für
den Theologen in den großen Schriftreligionen ist“.41 Gegen diese Behauptung
einer funktionalen Äquivalenz von Gesetz und Heiliger Schrift lassen sich jedoch ge-
wichtige Einwände formulieren. Abgesehen davon, dass die Rolle der „Heiligen
Schrift(en)“ in Judentum und Koran eine andere ist als im Christentum, ist auch in-
nerhalb des Christentums die Bedeutung der Heiligen Schrift von der des Gesetzes
für Juristen zu unterscheiden.42
Denn die „Heilige Schrift“ ist nicht einfach mit der Bibel (als Buch bzw. Kodex)
gleichzusetzen. Auch ist sie keine Sammlung von Normen und Axiomen. Selbst ihre
Rechtstexte sind narrativ eingebunden, denn die Bibel erzählt in allererster Linie!
Es geht in der christlichen Verkündigung vielmehr darum, in der Bibel (in ihrer
kodifizierten, historisch entstandenen Gestalt) als Heiliger Schrift dem lebensverän-
dernden Wort Gottes zu begegnen. Zur „Heiligen Schrift“ wird die Bibel erst durch
ihren Gebrauch!43 Für Nicht-Glaubende ist sie das historische Konvolut religiöser
Grundschriften von Judentum und Christentum.
Demgegenüber ist das Ziel von Schriftauslegung und Verkündigung die existen-
tielle Begegnung. Normenbildung (im Sinne einer spezifisch religiösen Moral oder

40
Vgl. Welker (wie Anm. 25), S. 332.
41
Udo Di Fabio, Systemtheorie und Rechtsdogmatik, in: Kirchhof/Magen/Schneider (wie
Anm. 23), S. 63 – 78, hier S. 65, und Welker (wie Anm. 25), S. 333.
42
Lakonisch dazu Pannenberg, Frage und Antwort, in: Text und Applikation (wie
Anm. 13), S. 416: „Aber die Bibel ist ein Geschichtsbuch, und darum ist es nicht angemessen,
analog zu einer Gesetzesnorm angewendet zu werden.“ Pannenberg geht einen Schritt weiter:
„Eher als mit einer gewöhnlichen Gesetzesnorm läßt sich die Bibel mit Verfassungstexten
vergleichen“ (ebd., S. 416).
43
Diesen Gedanken macht Ingolf U. Dalferth, Wirkendes Wort. Bibel, Schrift und Evan-
gelium im Leben der Kirche und im Denken der Theologie, Leipzig 2018, in Aufnahme
reformatorischer Theologie wieder stark: „Die Schrift bezeugt dieses Evangelium, indem sie
mit Hilfe der biblischen Texte kommuniziert, wie Menschen Gottes Zusage verstanden und
missverstanden, angenommen und zurückgewiesen haben […] Die Bibel ist das Buch, das
diese Texte (in geschriebener oder gedruckter Form) tradiert. Liest man sie nicht als Zeugnis
des Evangeliums, kommt sie nicht als Schrift in den Blick“ (S. 76). Die Fokussierung auf das
gedruckte Buch nennt Dalferth sehr kritisch gegenüber entsprechenden Traditionen des Pro-
testantismus die „Gutenberg-Falle“ (S. 105).
Dogmatik und Hermeneutik als Leitbegriffe 247

eines religiösen Rechts) oder gar Wahrheitsfindung (im Sinne eines empirischen
Wahrheitsbegriffs) sind die Folgen dieser Verkündigung, nicht ihr Inhalt.
So gesehen versteht sich der Protestantismus jedenfalls nicht als „dogmatisch“:
Der narrative Impuls der „Heiligen Schrift“, der auf Oralität, also auf lebendige
mündliche Vergegenwärtigung zielt, durchkreuzt das stets. Die Dogmatik selbst
muss, wenn sie für die Entwicklung des Systems und seiner Praktiken leistungsfähig
sein soll, in sich die Kraft haben, nicht in Dogmatismus zu erstarren, sie muss aber
zugleich als eine Art Axiomatik Anspruch auf Gültigkeit erheben. Sie „trotzt der
Kontingenz des wirklich gelebten Lebens und der Resignation und dem Zynismus
angesichts des Fragens nach Gerechtigkeit und Wahrheit“44.
In der christlichen Tradition wird dies mit der Vorstellung des Wirkens des „Hei-
ligen Geistes“ zu umschreiben versucht, der dem „Wort Gottes“ immer wieder auf
überraschende Weise gegen alle Systeme, auch gegen die institutionalisierte Kirche
samt ihrer Wissenschaft Geltung verschafft:45 Es sei nur an die Reformation und ihre
inneren Beweggründe erinnert! Angesichts dessen legt sich die Frage nahe, wer im
Blick auf das Recht die kritischen Anfragen stellt.46

IV. Hermeneutik
1. Jurisprudenz und Theologie als hermeneutische Wissenschaften

Evangelische Theologie versteht sich – allgemein gesprochen – als „Wissenschaft


vom Wort Gottes“. Ihr ist damit etwas vorgegeben, das als zu interpretierender Text
erscheint.
Jurisprudenz und Theologie eint die philologische Tätigkeit, also der Versuch, den
Wortsinn zu erheben. Was der Staatsrechtler Josef Isensee47 über die Beziehung von
Philologie und Jurisprudenz sagt, lässt sich auf die Theologie übertragen: „Gegen-
stand und Werkzeug dieser Wissenschaften ist das Wort und allein das Wort. Sprache
ist die Bedingung der Möglichkeit des Rechts. Das Recht lebt im Wort und aus dem
44
Welker (wie Anm. 25), S. 334.
45
Das hat auch Auswirkungen auf die Frage nach dem „Autor“ der Heiligen Schrift, der
nicht einfach mit den Autoren der biblischen Texte identisch ist. Vgl. dazu Dalferth (wie
Anm. 43), S. 250: „Die Schrift wird als Wort Gottes bezeichnet, weil sie nicht nur menschli-
che Verfasser, sondern auch Gott zum Autor hat.“ Wie diese „doppelte“ Autorenschaft im
Einzelnen zu bestimmen ist, wird in der protestantischen Theologie allerdings kontrovers
diskutiert.
46
Luhmann (wie Anm. 11), S. 364, relativiert die Bedeutung des „Kodex“ für das Recht,
weil juristische Interpretation, sei es eines Textes oder des Herkommens eines Common Law,
immer auf Entscheidung drängt. Das Verfahren, dahin zu gelangen, sei demgegenüber
zweitrangig.
47
Josef Isensee, Arbeiter am Text: Philologen und Juristen, in: Birgit Tappert (Hrsg.),
Grenzüberschreitende Wissenschaft. Reden anläßlich der Emeritierung von Willi Hirdt (BAR
90), Bonn 2004, S. 31 – 64.
248 Martin Hein

Wort.“48 Was Jurisprudenz und Theologie unterscheidet, ist der Charakter dieses
Wortes.49
Der für die moderne protestantische Theologie wegweisende Theologe Fried-
rich Schleiermacher, der für sich in Anspruch nehmen darf, die Hermeneutik als
Wissenschaft etabliert zu haben, formuliert in seiner Glaubenslehre pointiert:
„Es läßt sich […] sagen, die Welt selbst sei, als durch das Sprechen geworden,
das von Gott gesprochene.“50 Die Theologie legt eben nicht nur die „heiligen
Texte“ aus, als seien sie gesetzesanalog vorliegende Kodizes. Sie legt etwa auch
das „Buch der Natur“ aus. Wie sie das jeweils tut – darum wird in der Theologie,
zum Teil erbittert und konfessionstrennend, gestritten. Denn es geht in der theolo-
gischen Hermeneutik um mehr als um die Methode einer „Übersetzungskunst“.51
Es geht um Existenzerhellung, aus der heraus sich moralische und kultische Hal-
tungen und Einstellungen erst ergeben.
Das „Wort“, das der Jurisprudenz vor- und aufgeben ist, ist das Wort des Gesetzes
oder das sich im Gesetz realisierende Recht. Seine Interpretation ist zugleich seine
Auslegung,52 weil das Interesse des Rechts als Rechtsprechung ein unmittelbar prak-
tisches ist.53 Eine welterklärende oder welterhellende, auf die Grundwahrnehmung
und Veränderung der Existenz zielende Absicht ist damit nicht verbunden, solange

48
Ebd., S. 32 ff.
49
Vgl. Körtner (wie Anm. 31), S. 15: „Hermeneutik ist eine Querschnittswissenschaft
bzw. ein Teilbereich der Wissenschaftstheorie. Bedarf an Hermeneutik besteht grundsätzlich
in allen Wissenschaften, die es mit der Interpretation von Texten und sonstigen sprachlichen
Äußerungen zu tun haben, von der Philologie bis zur Rechtswissenschaft.“
50
Rolf Schäfer (Hrsg.): Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den
Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage
(1830/31), Erster und zweiter Bd., Berlin/New York 2008, § 40, S. 231.
51
Aus einer modernen hermeneutischen Perspektive formuliert Dalferth (wie Anm. 43),
S. 45, das von Schleiermacher Intendierte so: „Nicht die Auslegung von Texten, sondern die
Auslegung des Lebens durch Texte ist die Pointe der Kommunikation des Evangeliums, in der
sich die Selbstauslegung des Evangeliums in der Auslegung des Lebens durch das Evangelium
ereignet.“
52
So Uwe Wesel, Juristische Weltkunde. Eine Einführung in das Recht, 15. Aufl., Frankfurt
2016, S. 14: Es gehe um Klärung der Bedeutung eines Wortes: „Juristen nennen das Auslegen.
Man kann auch von Interpretieren sprechen. Das ist dasselbe.“ Franz Bydlinsky/Peter Byd-
linksy, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 3. Aufl., Wien 2018, S. 27 ff, verwenden
die Begriffe „Auslegung“ und „Interpretation“ ebenfalls univok. Reinhold Zippelius, Juristi-
sche Methodenlehre, 11. Aufl., München 2012, S. 35, spricht durchgängig von „Auslegung“.
53
Vgl. z. B. Reinhold Zippelius, Rechtsphilosophie, 4. Aufl., München 2003, S. 256:
„Aufgabe der Auslegung ist es, innerhalb des Spielraumes der möglichen Wortbedeutungen,
die nach dem Sprachgebrauch dieser Rechtsgemeinschaft mit den Gesetzesworten verbunden
werden können, jene Bedeutungsvariante herauszufinden und zu präzisieren, die diesen
Worten im vorliegenden Text richtigerweise zukommt.“ „Auslegung ist also ein argumenta-
tives Verfahren, in welchem zwischen verschiedenen Auslegungsalternativen eine Wahl ge-
troffen wird“ (ebd., S. 257). Das ist für ihn zugleich der Beleg dafür, dass eine rein dogmatisch
konstruierte Rechtswissenschaft nicht möglich ist.
Dogmatik und Hermeneutik als Leitbegriffe 249

das Recht nicht weltanschaulich okkupiert oder als „heiliges“ bzw. „göttliches“
Recht selbst religiös wird.54
Auch hier zeigt sich, dass Di Fabios Diktum einer funktionalen Äquivalenz von
heiligem Text und Recht nicht wirklich den Kern der Sache trifft. Der biblische Text
und die ihn auslegenden Bekenntnisse als Auslegungsrichtschnur sind der Theologie
in anderer Weise vorgegeben als das Gesetz, verstanden als positives oder gemein-
sames Recht.

2. Interpretation und Auslegung

Vor diesem Hintergrund wird Ingolf U. Dalferths Statement zur Spezifik der
Theologie nachvollziehbar: „Evangelische Theologie ist keine Textwissenschaft,
sondern eine Interpretationspraxis – die vielschichtige und vieldimensionale Ausle-
gung und Reflexion der Kommunikation des Evangeliums und ihrer Auswirkungen
im Leben, Denken und Handeln von Menschen unterschiedlicher Zeiten und Kultu-
ren.“55
Die evangelische Kirche ist darum eine „Auslegungsgemeinschaft“.56 Ausgelegt
wird aber nicht „die Bibel“, sondern das Evangelium, das in der Bibel als Heiliger
Schrift begegnet. Darum ist – möchte man die befruchtende, aber auch trennende Dif-
ferenz von Rechtswissenschaft und Theologie in den Blick bekommen – die Unter-
scheidung von Interpretation und Auslegung von grundlegender Bedeutung57 um
verstehen zu können, was die Theologie eigentlich treibt und wie sie zu ihren Aus-
sagen kommt.

54
Ähnlich setzt Isensee (wie Anm. 47), S. 33, die Literatur vom Recht ab: „Die Sprache
macht das Wesen des Gedichts aus, auch wenn seine Aussage über das Sprachliche hinaus-
geht. Das Wesen des Gesetzes liegt dagegen in der rechtlichen Mitteilung, die sich in Worten
ausdrückt. Hier ist Sprache das Medium, über das sich der Normbefehl ausdrückt, dort ist sie
die Sache selbst.“ Das ist freilich eine sehr instrumentelle Sicht von Sprache. Wenn Luhmann
(wie Anm. 11), S. 14, die Gefahr sieht, dass die Wissenschaften aneinander vorbeireden, weil
ihre gegenseitige Wahrnehmung unterkomplex ist, dann ist aus der Sicht der Theologie hier
einer der Gründe zu finden: das Verständnis von Sprache als bloßem Medium des Ausdrucks.
55
Dalferth (wie Anm. 43), S. XI. In Aufnahme von dessen früheren Überlegungen (Ingolf
U. Dalferth, Evangelische Theologie als Interpretationspraxis. Eine systematische Orientie-
rung [Forum Theologische Literaturzeitung 11/12], Leipzig 2004) entwickelt Körtner (wie
Anm. 31), S. 23, ein Verständnis der Theologie als Orientierungswissenschaft und Lebens-
wissenschaft, das deutlich macht, dass es in der Theologie um mehr geht als um Interpretation
und Auslegung von Texten.
56
Körtner (wie Anm. 31), S. 90 f.
57
Auch das ist umstritten. Es geht hier aber nicht um eine „Trennung“ der beiden Per-
spektiven, sondern um eine perspektivische Unterscheidung. Vgl. ebd., S. 35: „Hat bereits
jede Interpretation und Rekonstruktion ein applikatives Element, so besteht die applikative
Aufgabe der Auslegung darin, nach dem zu fragen, was die Botschaft des Glaubens zu denken
und weiterzudenken gibt“.
250 Martin Hein

Einen biblischen Text zu interpretieren ist etwas anderes, als ihn auszulegen, und
noch einmal etwas anderes (und im Ansatz Verfehltes) ist es, ihn unbesehen etwa als
gesetzesförmige Regel „anzuwenden“: Vielmehr besteht die „primäre Aufgabe der
Theologie […] darin, immer wieder neu ihren Gegenstand, nämlich die Botschaft des
Glaubens zu identifizieren und zu reformulieren, d. h. aber zu rekonstruieren. Diese
Aufgabe stellt sich immer wieder neu, da es die Botschaft des Glaubens nicht als ein
für alle Mal fixierten Text gibt, sondern nur in einer geschichtlichen Vielfalt von In-
terpretationen.“58 „Auslegung“ ist also ein über die Interpretation hinausgehendes
Verfahren zur Erhebung des Sinns. Die Theologie interpretiert nicht nur, sie interpre-
tiert auch Interpretationen, die sich als Texte, aber auch als konkrete kirchliche und
glaubensmäßige Praxis niederschlagen.
Hier zeigt sich eine wesentliche Differenz juristischen und theologischen Den-
kens und Handelns, die sich schon in der Differenz von „Verkündigung“ und „Ver-
künden“ andeutete: In der juristischen Methodenlehre geht es um Interpretation, und
letztlich ist sogar die „Anwendung“ eine Form der Interpretation. Das ist einleuch-
tend, weil die Subsumtion eines konkreten Falls unter ein Gesetz und damit seine
Identifizierung als das vom Gesetz Gemeinte ja Ergebnis einer Interpretation ist,
das seinerseits wiederum sowohl den Fall als auch das Gesetz neu interpretiert
und so das Recht fortbildet – und dies unabhängig von einer möglichen „existenti-
ellen Betroffenheit“, auf die die theologische Auslegung zielt.
Die Differenz von „Interpretation“ und „Auslegung“ im theologischen Denken
verdankt sich dem Aufkommen der historischen Kritik seit der Aufklärung. Durch
sie ist die möglichst genaue philologische Erhebung des Textsinns zu einer histori-
schen Disziplin geworden. Erst dadurch wurde die Unterscheidung von Exegese und
Dogmatik in der Theologie sinnvoll und so spannungsreich, wie sie uns heute begeg-
net.59
Die historisch-kritische Exegese als Methodenensemble zur Interpretation eines
biblischen Textes versucht den Textsinn zu erheben, indem sie den Text textkritisch
auf der Ebene der Buchstaben, literarkritisch auf der Ebene des Kontextes und redak-
tionskritisch auf der Ebene des Gesamttextes analysiert. Von besonderer Bedeutung
ist dabei die „Form-“ oder auch „Gattungskritik“, die über die Identifizierung stereo-
typ verwendeter Textformen etwas über die Herkunft eines Textes und seine sozial-
historische Verankerung verrät: Wo wird ein „Hymnus“ gesungen? Wer erzählt
„Gleichnisse“ weiter? Welche sozialen Gruppen und Akteure schreiben „Briefe“?
Hinzugekommen sind im vergangenen Jahrhundert die Methoden der modernen Lin-
guistik und der Semiotik als textsynchrone Perspektiven sowie historische Fächer

58
Ebd., S. 35.
59
Vgl. ebd., S. 36: „Die Interpretation wie die Auslegung greifen in allen Disziplinen der
Theologie ineinander. Allgemein lässt sich sagen, daß Interpretation die historische, Ausle-
gung dagegen die systematische Aufgabe innerhalb der Theologie ist. […] Beide […] spielen
schließlich in der Praktischen Theologie und ihren Disziplinen ineinander. Hier tritt aber auch
im erhöhten Maße die Spannung zwischen beiden Funktionen der Theologie zutage.“
Dogmatik und Hermeneutik als Leitbegriffe 251

wie Sozialgeschichte, Überlieferungsgeschichte und Religionsgeschichte. Damit ar-


beitet die Exegese exakt mit denselben Methoden, die auch in den anderen Philolo-
gien angewendet werden. Es gibt keine „Hermeneutica Sacra“ der Bibelexegese als
spezielle theologische Interpretationstechnik.
All dies zusammen liefert eine Interpretation des Textes, die ihn insofern fremd
werden lässt, als der historische und mentale Abstand deutlich wird. Als rein histo-
rische Arbeitsweise muss die Exegese als Interpretation schon um der wissenschaft-
lichen Redlichkeit willen jegliche religiöse Betroffenheit oder Vorentscheidungen
über mögliche Inhalte methodisch sistieren.
Das hat der historischen Kritik den Ruf eingetragen, den Glauben an die Bibel zu
zerstören – und damit die vielleicht erbittertste und intensivste Debatte in der Theo-
logie der letzten dreihundert Jahre angestoßen. Denn dieser Zugang zum Textcorpus
der Bibel als religionshistorischer Urkunde der Antike sieht methodisch davon ab,
den Text als „Wort Gottes“ zu verstehen. Mit anderen Worten: Um die Bibel zu in-
terpretieren, braucht es keine religiöse Affinität, sondern wissenschaftliche Kompe-
tenz und Redlichkeit.
„Auslegung“ meint dagegen, genau den nächsten Schritt zu gehen und den inter-
pretierten Text als „Heilige Schrift“ zu lesen, d. h. das darin enthaltene Wort Gottes
als unmittelbare Anrede zu erheben: also das, was uns – um eine Formulierung des
Theologen und Religionsphilosophen Paul Tillich aufzunehmen – „unbedingt an-
geht“.60
Dabei ist zu bedenken, dass die biblischen Texte stark intertextuell verwoben sind
und sich gegenseitig interpretieren und auslegen, indem sie entweder in derselben
Überlieferungstradition stehen, einander zitieren oder sogar explizit interpretieren
und auslegen. Schon innerhalb der Bibel wird um das Verständnis des Textes und
seine Auslegung durchaus gestritten!
Um dies zu verdeutlichen: Das „Neue“ Testament kann als Ganzes nur verstanden
werden als eine Neuauslegung des „Alten“ Testaments unter der Perspektive der Of-
fenbarung Gottes in Jesus Christus – dies freilich nur als Interpretation der Interpre-
tation eines Textes, der zu dieser Zeit als geschlossenes Corpus noch gar nicht vorlag,
sondern unter dem Druck dieser Interpretation überhaupt als „Neues“ Testament ent-
stand. Es war der Prozess der Auslegung der „heiligen Texte“, der zu ihrer Kodifi-
zierung führte, weil unterschiedliche Geltungsansprüche an sie erhoben wurden
und nach wie vor erhoben werden. Das ist ein hermeneutischer Zirkel auf höherer
Ebene, der sich tatsächlich erst einem intensiven Studium erschließt und eine Dimen-
sion des Glaubens eröffnet, die einem vorwissenschaftlichen unmittelbaren Textzu-
gang oder einem amateurhaften Verständnis der Texte zunächst fremd ist – was auch
für die Rechtswissenschaft kein unvertrautes Phänomen sein dürfte.

60
Paul Tillich, Wesen und Wandel des Glaubens, Frankfurt/Berlin 1961, S. 9, erneut ab-
gedruckt in: Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie II, Gesammelte Werke
Bd. VIII, Stuttgart 1970, S. 111 – 196.
252 Martin Hein

Theologie ist als hermeneutische Disziplin anspruchsvoll, weil sie die ständige
Bereitschaft verlangt, auf diesen unterschiedlichen Ebenen zu argumentieren, sie
wachzuhalten und sie gegen vereinfachende Auslegungstendenzen zu verteidigen.
Auch deshalb insistieren die großen Kirchen nach wie vor auf einer gründlichen wis-
senschaftlichen Ausbildung ihrer professionellen Akteure.

3. Der Dekalog als „Gesetz“?

Verdeutlichen kann man die Tendenz der bisherigen Ausführungen am (ver-


meintlichen) „Kernbestand“ der jüdisch-christlichen Tradition, den Zehn Geboten,
die wohl von den meisten als moralische, wenn nicht gar rechtliche Grundlage re-
ligiöser Ethik betrachtet werden. Dieser Eindruck trifft jedoch für das Christentum
nicht zu!
Der christliche Glaube deutet den Dekalog gerade nicht als Grundlage von Sitte,
Moral und Recht, sondern als eine kritische Instanz menschlichem Handeln gegen-
über und legt ihn auf der Basis eines neuen Gerechtigkeitsverständnisses aus, das sich
nicht an wörtlicher Gebotserfüllung, sondern am Geist der Gebote orientiert.
Schon im hebräischen Text ist der Dekalog unterschiedlich kontextualisiert
(Exodus 20,2 – 17 und Deuteronomium 5,6 – 21), und nach einer rund fünfhundert-
jährigen Auslegungsgeschichte innerhalb des Judentums wird er von Jesus von Na-
zareth neu und radikal „entrechtlicht“ ausgelegt.
In den „Antithesen“ der Bergpredigt (Matthäusevangelium 5,17 – 48) lehnt Jesus
eine kasuistische Anwendung der Zehn Gebote ab, indem er sie zuspitzt: Schon der
Gedanke an Mord ist Mord, schon der Gedanke an Begehren ist Begehren. Auf diese
Weise leuchtet er ihre anthropologische und moralische Dimension aus und macht
deutlich, dass sie für die Definition der Gottesbeziehung und als alleinige Grundlage
menschlicher Gemeinschaft nicht geeignet sind.
Stattdessen formulieren die „Seligpreisungen“ zu Beginn der Bergpredigt (Mat-
thäusevangelium 5,2 – 12) eine völlig andere Sicht auf den Willen Gottes, der sich
nicht eingebunden in ein System von vertragsartigen Rechtssätzen offenbart, sondern
sich souverän als barmherzig und gnädig zeigt – was alles andere als rechtstaugliche
Kategorien sind und das Recht als geregelte Erwartbarkeit von Gerechtigkeit gerade
unterläuft.61
Das nennt Jesus im Matthäusevangelium (5,20) die „bessere Gerechtigkeit“, weil
sie nicht nach dem bloßen Handeln, sondern nach der Ausrichtung am Willen Gottes

61
Unter genau dieser Perspektive entfaltet Pannenberg, in: Text und Applikation (wie
Anm. 25), S. 417, das „neue Gesetz“ der Bergpredigt. Es gehe nicht um die „Subsumtion unter
eine Gesetzesnorm“, sondern um ein Verständnis der eigenen Geschichtlichkeit in einem
Raum der Liebe.
Dogmatik und Hermeneutik als Leitbegriffe 253

fragt.62 Der Dekalog als reiner Text kann also keine religiös begründete Rechtsgrund-
lage mehr darstellen. Dementsprechend fordert Martin Luther, dass Christen auf der
Grundlage der durch Jesus Christus gewonnenen Freiheit „neue Dekaloge“ (!) ma-
chen sollen, die das Prinzip der göttlichen Gerechtigkeit auf der Basis der Liebe (ver-
standen als bedingungsloser Barmherzigkeit) in jeweils zeitgemäßer Weise auslegen
und in Handlungsmuster transformieren.63
Luther interpretiert die Zehn Gebote historisch und legt sie – etwa im Kleinen
Katechismus – existentiell aus, indem er danach fragt, was die Gebote an positiver
Handlungsanweisung für ein gelingendes Leben enthalten: nicht nur „nicht stehlen“,
sondern anderen zu Eigentum verhelfen; nicht nur „nicht töten“, sondern das Leben
fördern; nicht nur „nicht begehren“, sondern gönnen.
Das richtet sich gegen jeden Versuch, den Glauben zu verrechtlichen; und es ge-
hört zur Dramatik der Christentumsgeschichte insgesamt, dass dieser Impuls immer
wieder verlorenging. Eine der bleibenden Errungenschaften der Reformation besteht
darin, durch die Auslegung der Heiligen Schrift als reiner Glaubensurkunde (und
nicht als Rechts- und Moralkodex) Recht und Religion entkoppelt und unterschied-
lichen Bereichen zugeordnet zu haben. In der evangelischen Dogmatik wird diese Art
des Umgangs mit dem göttlichen Gebot und seiner Verheißung mit Hilfe der Diffe-
renzierung von „Gesetz und Evangelium“ verhandelt: eines der wesentlichen herme-
neutischen Axiome protestantischer Dogmatik64 und ein gewichtiger Beitrag zur Ent-
wicklung moderner Säkularität!
Aus der Perspektive der Jurisprudenz beschreibt das einen entscheidenden, die
Moderne einleitenden Vorgang, an dessen Ende die Autonomie des Rechts steht.
Selbst als Staatskirchenrecht oder als Kirchenrecht gehört es auf die Seite der
„Welt“ und ist profan – und darum zu Recht an Juristischen Fakultäten verortet.

62
Wie sich das konkretisiert, wird von Jesus in seinen Gleichnissen, aber auch in den – die
sittlichen, ethnischen und religiösen Grenzen oft skandalös überschreitenden – „Wundern“
exemplarisch vorgeführt.
63
Vgl. Körtner (wie Anm. 31), S. 141: „In neutestamentlicher Perspektive ist das Gesetz
Gottes nun das Gesetz Christi. Dieses ist in der Tat ein neues Gebot (Joh 13,34), nicht nur eine
Erneuerung des alten Gebotes. Der Glaube kann und muss, mit Luther gesprochen, neue
Dekaloge schreiben (WA 39 I,47), wobei das Kriterium, besser gesagt das Krites, d. h. die
prüfende Instanz, die Liebe ist […], welche die überlieferten Gestalten des Gesetzes bzw.
seine historisch-kontingenten Interpretamente sichtet […] Es gibt eine durch das Evangelium
provozierte, in der Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität sich vollziehende Entwick-
lungsgeschichte menschlichen Rechts und der Moral. Sie ist durch das Evangelium motiviert
und bleibt doch von diesem klar geschieden.“ Körtner verweist z. B. auf die Menschenrechte,
die Impulse des Evangeliums aufnehmen, aber sich nicht einlinig darauf zurückführen lassen.
64
Aus der Perspektive eines Kirchenjuristen entfaltet Anke (wie Anm. 4), S. 172, sehr
anschaulich, wie sich dieser theologisch-dogmatische Topos unmittelbar auf die Gestaltung
der Kirche als Organisation und ihr Recht auswirkt.
254 Martin Hein

4. Geist und Buchstabe

Die Bibel als Buch, verstanden als historische Urkunde, verlangt – wie alle ande-
ren geschichtlichen Urkunden – einen ständigen Prozess der wissenschaftlich be-
gründeten Interpretation. Die Bibel als Heilige Schrift drängt darüber hinaus auf
einen ständigen Prozess der Auslegung. Beide Prozesse kann man nicht voneinander
trennen, aber muss sie unterscheiden! Die Ergebnisse historischer Forschung sind als
solche nicht Verkündigung. Das werden sie erst durch die Auslegung.
Hier treten konfessionelle Unterschiede im Umgang mit der Frage zutage, wie die
geltende Lehre gewonnen wird. Gibt es eine der höchstrichterlichen Entscheidung
analoge Instanz? Aus evangelischer Perspektive lautet die Antwort: Es gibt sie
nicht. Die Kirche ist eine Auslegungsgemeinschaft, die sich der Wahrheit ihrer Aus-
sagen im beständigen Diskurs versichert. Und die Bekenntnisse schließen diesen
Diskurs nicht ab, sie dokumentieren vielmehr Stationen und Richtungsentscheidun-
gen, benennen Grenzen und Auslegungsperspektiven. Fortwährend sind sie an der
„Heiligen Schrift“, also am Bekenntnis zu Jesus Christus, zu prüfen und zu validie-
ren.
Alle Versuche, diesen Prozess durch lehramtliche Entscheidungen (der römisch-
katholische Weg), durch synodale Beschlüsse (der orthodoxe Weg) oder die Beru-
fung auf einen unveränderlichen „Wortlaut“ (der fundamentalistische Weg) zu been-
den, führen in hermeneutische Sackgassen.
Die Bibel ist kein Rechtsbuch – so wenig wie ein Gesetzeskodex schon das Recht
ist. Für beide einander fremd gewordenen Schwestern, Recht und Religion, gilt im
Blick auf ihre mündlichen und schriftlichen Texte: „Der Buchstabe tötet, der Geist
macht lebendig“ (2. Korintherbrief 3,6).
Während für die Theologie – die mehr sein will als eine rein historische Wissen-
schaft: nämlich Orientierungswissenschaft des Glaubens65 – dieser Geist der Geist
Gottes ist, stellt sich für das Recht die Frage, welcher Geist hier hinter dem Buch-
staben steht. In den Diskussionen vergangener Jahrhunderte und Jahrzehnte sind
manche „Kandidaten“ dafür genannt worden: der lebendige Volksgeist, der legitime
Gesetzgeber, der autopoietische Prozess der Selbstauslegung des Rechts, die Natur,
die Vernunft oder das geoffenbarte Recht.
An dieser Stelle ist auf die Grundfrage nach Dogmatik und Hermeneutik zurück-
zukommen: Damit das Recht nicht in reiner Selbstbezüglichkeit erstarrt oder gar nur
noch den Schein des Rechts aufrechterhält (wie etwa in der Zeit des Nationalsozia-
lismus oder des DDR-Kommunismus), braucht es die kritische Systematisierung und
die kritische Befragung in Gestalt einer Hermeneutik, die die Gesetze nicht nur in-
terpretiert, sondern auf das Leben hin auslegt.

65
Vgl. dazu Martin Hein, Theologische Orientierung, in: Eva Hillebold/Roland Kupski
(Hrsg.): Martin Hein, Theologie in der Gesellschaft, Bd. 2: Bischofsberichte 2000 – 2018,
Leipzig 2019, S. 282 – 291, hier S. 284 f.
Dogmatik und Hermeneutik als Leitbegriffe 255

Die Theologie kann von der Jurisprudenz lernen, sich über den Zusammenhang
von Legitimität und Moralität Gedanken zu machen, anstatt in abstrakter Spekulation
zu verharren. Die Jurisprudenz ist eingeladen zu erproben, ob die Differenz von In-
terpretation und Auslegung sich als ein Weg anbietet, die Debatte um die Rolle von
Dogmatik und Hermeneutik auf neue Weise aufzunehmen und nach dem „Geist“ des
Rechts zu fragen.
Die beiden fremden Schwestern sind sich – aller historischen Auseinanderent-
wicklung zum Trotz – ausgesprochen nahe. Beide sollten aus der jüngeren deutschen
Geschichte gelernt haben: Theologie und Jurisprudenz haben Besseres zu bieten als
die Verbrämung einer – wie auch immer gearteten – Moral durch göttliche Autorität
oder die bloße Legitimation von Machtansprüchen. Und in Zeiten, in denen autori-
täre, identitäre oder offen faschistoide Politikmodelle meinen, Recht und Religion
hätten der Politik und der Macht zu folgen, können beide ein ebenso kritisches
wie innovatives Potential entwickeln, ihren Beitrag zu einer befriedeten, freiheitli-
chen Gesellschaft zu leisten.66

66
In eben diesem Sinn habe ich die Gespräche und Debatten mit Reinhard Merkel stets als
Anfrage wie als Bereicherung erlebt. Unser weltanschaulicher Dissens war oft genug Aus-
druck des Konsenses darüber, dass es notwendig ist, an der Entwicklung einer humanen Ge-
sellschaft mitzuwirken, in der Politik, Wirtschaft, Recht, Religion, Wissenschaft und Kunst
respektvoll und in kundiger gegenseitiger Wahrnehmung jeweils ihr Bestes einbringen, anstatt
sich gegeneinander ausspielen zu lassen von jenen Kräften, die sich als reine Ideologien
reflektierten dogmatischen und hermeneutischen Bemühungen entziehen, weil sie „dogma-
tistisch“ sind und sich deshalb der selbstkritischen Befragung verweigern.
Rechtswissenschaft, positives Recht
und politischer Protest
Überlegungen anlässlich der Campus as Safe Space-Bewegung

Von Christian Becker

I. Einleitung
In Reinhard Merkels Vorlesungen im Examensvorbereitungsprogramm der Uni-
versität Hamburg erlebte ich erstmals Schönheit und Eleganz scharfsinniger rechts-
dogmatischer Argumentation in ihrer vollendeten Form. Gleichwohl sind meine fol-
genden Überlegungen, die dem Jubilar in Dankbarkeit und Bewunderung gewidmet
sind, Teil eines Bemühens, den Horizont jener unbestreitbaren Eleganz und Form-
schönheit gelungener Rechtsdogmatik zu transzendieren. Zu diesem Zweck wird
im folgenden Text zunächst ein Schlaglicht auf das schwierige Verhältnis von
Rechtswissenschaft und Politik geworfen, wobei eine studentische Protestbewegung
den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet, die vor allem in den USA unter dem
Schlagwort Campus as Safe Space kontrovers diskutiert wird (knapp hierzu sogleich
unter II.). An einen kurzen Überblick über das Phänomen schließt sich die idealty-
pische Darstellung von zwei unterschiedlichen Arbeitsweisen der Rechtswissen-
schaft an, die auf verschiedene Weise beide an einem unklaren Verhältnis zum
Feld des Politischen leiden (III.). Daher werde ich – mit vorsichtigen Anleihen
bei der Hegelschen Philosophie – eine dritte Variante vorschlagen, in der die rechts-
wissenschaftliche Reflexion durch eine Auseinandersetzung mit der realen politi-
schen Praxis die Einheit von positivem Recht und Gerechtigkeit erweist – oder
aber ihr Scheitern offenlegt (IV.). Im Schlussteil werde ich darauf aufbauend zeigen,
wie die Campus as Safe Space-Bewegung sich als Verwirklichung einer Ethik vom
Anderen her begreifen lässt, die ihrerseits wiederum als Ausdruck der Idee des mo-
dernen Rechts ausgewiesen werden kann (V.).

II. Das Phänomen:


Die Campus als Safe Space-Bewegung
Die Forderung, dass der Universitätscampus ein sicherer Raum, ein Safe Space
sein sollte, wird von einer relativ jungen Studierendenbewegung (vor allem) an
258 Christian Becker

US-amerikanischen Hochschulen erhoben.1 Ursprünglich stammt das Konzept eines


Safe Space aus der Frauenrechts- bzw. der LGBTQ-Bewegung, wo es oft im buch-
stäblichen Sinne Räume bezeichnete, in denen von Gewalt und/oder Diskriminierung
betroffene Personen ihre Angelegenheiten sicher und frei von Unterdrückung disku-
tieren können; speziell für sexuelle Minderheiten soll ein Safe Space signalisieren,
dass die eigene sexuelle Identität in diesem Raum nicht verborgen werden muss.2
In der Campus as Safe Space-Bewegung ist diese Idee erweitert worden hin zu
einem Verständnis der Universität als ein Raum, „in dem sich alle Studierenden un-
abhängig von ihrer ethnischen, religiösen oder sexuellen Identität, ihrer sozialen Her-
kunft und unabhängig von möglichen psychischen Vorbelastungen, etwa Traumata,
sicher fühlen können – sicher nicht nur im Sinne des Schutzes vor offener Diskrimi-
nierung oder gar Gewalt, sondern auch vor Infragestellungen der eigenen kulturellen
Identität sowie vor Retraumatisierungen, die durch belastende Diskussionen oder
Unterrichtsmaterialien ausgelöst werden könnten“.3 Zu den Themen, die in der De-
batte um die Campus as Safe Space-Bewegung im Vordergrund stehen, gehören
neben der Einrichtung von Safe Spaces im eigentlichen (oben dargestellten) Sinne
vor allem sog. Microagressions und sog. Trigger Warnings. Mit dem Begriff Micro-
aggression werden unterschwellig aggressive und diskriminierende (jedenfalls als
diskriminierend empfundene) Äußerungen bezeichnet, die sich in der alltäglichen
Kommunikation an der Universität (oder z. B. auch am Arbeitsplatz) abspielen. Trig-
ger Warnings nennt man Hinweise von Dozent_innen auf potenziell belastende oder
gar (re-)traumatisierende Passagen z. B. in einem Lektüretext. Darüber hinaus tau-
chen im Zusammenhang mit der Bewegung immer wieder Debatten um die Ein-
bzw. Ausladung von Referenten oder um die Benennung von Symbolen oder Univer-
sitätseinrichtungen auf.4
In den USA kreist die juridische Debatte vor allem um Fragen der Meinungsfrei-
heit.5 Die bisher soweit ersichtlich einzige Stellungnahme aus dem deutschen rechts-

1
Instruktiv zur Bewegung und ihrem theoretisch nicht ohne Weiteres greifbaren Charakter
Kaldewey, Mittelweg 36 2017, 132 ff.; eine umfassende Darstellung sowie eine abgewogene
Bewertung findet sich bei Palfrey, Safe Spaces, Brave Spaces Diversity and Free Expression in
Education, 2017, passim.
2
Christina Paxson, Washington Post vom 5. September 2016, abrufbar unter https://www.
washingtonpost.com/opinions/brown-university-president-safe-spaces-dont-threaten-freedom-
of-expression-they-protect-it/2016/09/05/6201870e-736a-11e6-8149-b8d05321db62_story.html
(zuletzt abgerufen am 25. 9. 2019).
3
Kaldewey, Mittelweg 36 2017, 132, 133.
4
Ein guter zusammenfassender Überblick zu den unterschiedlichen Aspekten findet sich
bei Palfrey (Fn. 1), S. 27 ff.
5
Kritisch gegenüber der Bewegung etwa Day/Weatherby, Florida Law Review 70 (2018),
839 ff.; Lasson, Quinnipiag Law Review 37 (2018), 1 ff.; tendenziell auch Shepard/Culver,
San Diego Law Review 55 (2018), 87 ff.; differenzierend Kitrosser, Minnesota Law Review
101 (2017), 1987 ff.; Ross, J. Legal Educ. 66 (2017), 739 ff., die letztlich aber staatliche
Einschränkungen der freien Rede ablehnt; Trigger Warnings grds. befürwortend Amaranth
Rechtswissenschaft, positives Recht und politischer Protest 259

wissenschaftlichen Schrifttum wählt ebenfalls einen verfassungsrechtlichen Zu-


gang.6 Nun ist es zwar ohne Frage richtig, dass Recht – vor allem Verfassungsrecht
– dem politischen Diskurs Grenzen setzt und dass politische Protestbewegungen
selbstverständlich nicht in einem extralegalen Raum agieren; aber gleichzeitig
gibt es im freiheitlichen Staat einen gewissen Vorrang des Politischen vor dem
Recht, der Inhalt des Rechts steht in großen Teilen unter dem Vorbehalt abweichen-
der politischer Entscheidungen.7 Politischer Protest richtet sich daher immer auch auf
eine Veränderung des juridischen status quo, er beansprucht aus politischen Gründen
die Verwirklichung eines noch nicht geltenden oder nicht wirksam durchgesetzten
Rechts. In der Auseinandersetzung mit solchen Phänomenen muss die Rechtswissen-
schaft Farbe bekennen hinsichtlich der politischen Dimension ihrer Aussagen. Diese
gilt es im folgenden Abschnitt näher zu untersuchen.

III. Zwischen Dogmatik und Philosophie:


Das Politische in der Rechtswissenschaft
Die deutsche Rechtswissenschaft meidet tendenziell die verschlungenen Pfade
zwischen Recht und Politik und bemüht sich um Politikferne und Wertfreiheit.8 Be-
sonders ausgeprägt ist dies in der dogmatisch arbeitenden Wissenschaft, deren Zu-
gang nachfolgend als erste Idealtypische9 Arbeitsweise der Rechtswissenschaft dar-
gestellt wird (1.). Ein im Anschluss wiederum als Idealtypus vorgestellter rechtsphi-
losophischer Zugang betrachtet seinen Gegenstand hingegen aus einer originär nor-
mativen Perspektive (2.). Beiden Varianten fehlt jedoch – in unterschiedlicher Weise
– letztlich ein stimmiger Begriff der politischen Dimension ihrer Aussagen (3.).

Lockhart, First Amendment Studies 50 (2016), 59 ff.; abwägender Thorpe, First Amendment
Studies 50 (2016), 83 ff.
6
Froese, JZ 2018, 480 ff.; ihr zust. Gärditz, WissR 51 (2018), 5, 39.
7
Näher zum Spannungsverhältnis von Recht und Politik siehe nur Grimm, in: Klein
(Hrsg.), FS Benda, 1995, S. 91 ff. (zum modernen Verfassungsstaat insbesondere S. 95 ff.);
zum vorgelagerten Charakter des Politischen gegenüber dem Recht in funktional ausdiffe-
renzierten Gesellschaften auch Pawlik, Rechtstheorie 25 (1994), 101, 110.
8
Von einem Selbstbild der Rechtswissenschaftler als „wertfrei oder jedenfalls als frei von
Ideologie und Politik argumentierende Personen“ spricht Kuntz, AcP 219 (2019), 254, 288;
zur Debatte um die Wertfreiheit der Jurisprudenz vgl. die Beiträge in Hilgendorf/Kuhlen, Die
Wertfreiheit der Jurisprudenz, 2000; einordnend zu Max Webers Postulat der Wertfreiheit
H. Dreier, in: Waechter (Hrsg.), FS Treiber, 2010, S. 149 ff.
9
Mit der idealtypischen Darstellung wird die Hervorhebung bestimmter Momente beab-
sichtigt, um den für die folgenden Überlegungen entscheidenden Aspekten Ausdruck zu ver-
leihen. Keineswegs wird beansprucht, dass eine bestimmte rechtswissenschaftliche Arbeits-
weise damit umfassend beschrieben bzw. dass sie in dieser Form in der Realität vorzufinden
wäre, siehe zur Figur des Idealtypus und seiner Funktion Weber, Gesammelte Aufsätze zur
Wissenschaftstheorie, 7. Aufl. 1988, S. 190 ff.
260 Christian Becker

1. Ein erster Idealtypus: Die Rechtsdogmatik

Die rechtsdogmatische Wissenschaft10 begreift ihre Aussagen ihrem Selbstver-


ständnis nach als „Ausdruck immanenter Sachlogik, politischer Neutralität, freige-
setzt von individuellen Vorverständnissen und institutionellen Voraussetzungen“.11
Von entscheidender Bedeutung ist dabei eine meist unbestimmt und implizit bleiben-
de Referenz auf eine objektive Größe – das positive Recht bzw. seine Dogmatik –, die
als mit den Methoden des Diskurses (und ohne politische Wertung) erkennbar vor-
ausgesetzt wird.12
Indes können selbst die besten Gründe für eine möglichst strikte Trennung von
Recht und Politik nicht darüber hinwegtäuschen, dass die binäre Unterscheidung
von positivem Recht und politisch-normativer Wertung – wie jede binäre Unterschei-
dung – durchlässig ist für jene Schmuggelbewegungen, die Ino Augsberg in etwas
abweichendem Kontext geradezu meisterhaft vorgeführt hat.13 Die vermeintlich un-
politische Erkenntnis des positiven Rechts ist immer auch politisch und die scheinbar
autonome Sphäre der politischen Entscheidungen ist immer schon juridisch über-
formt.14 In dieser Gemengelage agiert die dogmatische Rechtswissenschaft bereits
dadurch politisch, dass sie entscheidet, was sie zum Gegenstand ihrer immer
schon als unpolitisch ausgewiesenen Rechtserkenntnis macht. Denn so entscheidet
sie auch darüber, welche normativen Prämissen von der Notwendigkeit einer politi-
schen Legitimation befreit sind und „lediglich“ juristisch begründet werden müssen,
wobei die politische Verantwortung für eine dann behauptete Regelung durch den
Verweis auf das positive Recht externalisiert wird.
Legitimieren ließe sich der Charakter des Unpolitischen indes nur, wenn dogma-
tische Aussagen tatsächlich ein epistemologisch zugängliches positives Recht zum
Gegenstand hätten. Dass dies nicht der Fall sein kann, zeigt sich spätestens, wenn
die performative Dimension der Rechtserzeugung in den Blick gerät.15 Recht entsteht
im demokratischen Rechtsstaat durch die Entscheidung hierfür zuständiger Organe
und Institutionen. Diese Entscheidungen sind zwar keineswegs willkürlich und un-
10
Eine gründliche monographische Untersuchung der Rechtsdogmatik bietet Bumke,
Rechtsdogmatik, 2017, passim. Die vorliegenden Überlegungen beanspruchen ersichtlich
keinen vergleichbar tiefgehenden Begriff der rechtsdogmatischen Arbeitsweise. Sie zielen
vielmehr speziell darauf ab, Friktionen aufzuzeigen, die sich insoweit aus dem Spannungs-
verhältnis von Recht und Politik ergeben.
11
Lepsius, in: ders./Jestaedt (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, S. 1, 5; siehe auch
Pöcker, Rechtstheorie 37 (2006), 151, 162 ff.
12
Becker/Sow, in: Ortmann/Schuller (Hrsg.), Kafka Organisation, Recht und Schrift, 2019,
S. 235 ff. (insbesondere S. 236 f.); ausführlich untersucht wird die Notwendigkeit eines Be-
zugs der Rechtsdogmatik auf das positive Recht bei Bumke (Fn. 10) S. 56 ff.
13
Augsberg, Kassiber, 2016, passim.
14
Mit Recht bezeichnet Grimm das Spannungsverhältnis von Recht und Politik als „prin-
zipiell unaufhebbar“, siehe ders., in: Klein (Fn. 7), S.97.
15
Vgl. hierzu die gründliche Analyse von Kuntz, AcP 216 (2016), 866 ff. (insbesondere
873 ff.); siehe außerdem Becker/Sow, in: Ortmann/Schuller (Fn. 12), S. 238 f. m. Fn. 18.
Rechtswissenschaft, positives Recht und politischer Protest 261

gebunden, da ihre Begründung immer an die im Entscheidungszeitpunkt vorhandene


Vergangenheit des Rechtsdiskurses mit ihren Anschlusszwängen und -möglichkeiten
anknüpft; aber dennoch ist das performative Element konstitutiv für jeden Vorgang
der Rechtserzeugung, jede gerichtliche Entscheidung fügt dem Recht in mehr oder
weniger großem Umfang etwas hinzu, das zuvor nicht vorhanden war und dass folg-
lich auch nicht ex ante bekannt sein konnte.16
Setzt man den Charakter rechtsdogmatischer Aussagen zu diesem performativen
Element der Rechtserzeugung ins Verhältnis, bleiben im Ausgangspunkt zwei unter-
schiedliche Möglichkeiten: Es könnte sich um empirische Vorhersagen dahingehend
handeln, wie Gerichte zukünftig bei der Entscheidung bestimmter Fälle vorgehen
werden.17 Das dürfte freilich eher nicht dem Selbstverständnis des dogmatischen Dis-
kurses entsprechen. Meist enthalten dogmatische Aussagen vielmehr eine normative
Prämisse, die einen bestimmten Gebrauch der richterlichen Befugnis zur performa-
tiven Rechtserzeugung als vorzugswürdig vorschlägt.18 Damit überschreitet der dog-
matische Diskurs aber die von ihm in Anspruch genommene Beschränkung auf un-
politische Rechtserkenntnis, weil das performative Element der Rechtserzeugung
gleichsam per Definition nicht durch das positive Recht geregelt sein kann.
Ein konsequenter Positivismus würde in dieser Situation die performative Dimen-
sion der Rechtserzeugung vollständig dem politischen Diskurs zuweisen. Das ist be-
kanntlich die Position Kelsens gewesen.19 Sie führt freilich – wenn man das Ausmaß
performativer Elemente realistisch einschätzt20 – zu einer erheblichen Verkürzung
des Gegenstands einer solchen Rechtswissenschaft.21 Deshalb hat Kelsen – beabsich-
tigt oder nicht – abgeschafft, wovon er sprach,22 als er die reine, auf objektive Rechts-
erkenntnis gerichtete Rechtslehre beschrieb. Indem er in aller Klarheit die Strukturen
der Rechtserzeugung offenlegt, wird deutlich, dass in diesen Strukturen kein Raum
ist für einen zeitstabilen und epistemologisch zugänglichen Gegenstand Recht.
Eine andere Möglichkeit für den Umgang mit dem performativen Element der
Rechtserzeugung bestünde darin, den eröffneten Entscheidungsspielraum mit Argu-

16
Siehe hierzu die Überlegungen zur dort sog. Kontingenz der Gründe bei Becker, Was
bleibt? Recht und Postmoderne, 2014, S. 111 ff.
17
Hierzu Kuntz, AcP 216 (2016), 866, 903 ff.
18
Diese Möglichkeit wird auch erwähnt von Kuntz, AcP 216 (2016), 866, 904, wobei dort
offenbleibt, woher die normative Legitimation für einen solchen Vorschlag angesichts des von
Kuntz angenommenen empirischen Charakters der wissenschaftlichen Aussage stammt.
19
Vgl. insoweit Kelsen, Reine Rechtslehre, Studienausgabe der 2. Auflage 1960, heraus-
gegeben und eingeleitet von Matthias Jestaedt, 2017, S. 418 ff.
20
Kelsen selbst war noch vorsichtig in der Einschätzung des Verhältnisses von Anwendung
und Erzeugung, siehe ders. (Fn. 19), S. 436 f. sowie S. 456: „Die Wahrheit liegt in der Mitte.“
21
Insofern jedenfalls zum Teil wie hier Kuntz, AcP 216 (2016), 866, 873 ff., der die
Flüchtigkeit des „Geltenden Rechts“ hervorhebt und betont, dass auch der nach Kelsen vor-
gegeben „Rahmen“ des geltenden Rechts erst erzeugt werden muss (a.a.O. S. 877).
22
Zu diesem Phänomen lesenswert Kittler, in: Derrida/Kittler, Nietzsche – Politik des
Eigennamens, S. 65, 68 ff. (insbesondere S. 85 f.).
262 Christian Becker

menten anderer Provenienz auszufüllen. Diese zweite Variante möchte ich im Fol-
genden – wiederum idealtypisch – als rechtsphilosophische Herangehensweise be-
zeichnen.

2. Der zweite Idealtypus: Rechtsphilosophie

Bei einem rechtsphilosophischen (oder nichtpositivistischen)23 Zugang verhält


sich die Rechtswissenschaft nicht rezeptiv gegenüber einem als gegeben vorausge-
setzten positiven Recht und seiner Dogmatik, sondern nimmt eine bewertende Posi-
tion ein; Rechtsphilosophie in diesem Sinne verhält sich zu der Frage, ob eine recht-
liche Regelung richtig ist oder wie mit einer gesellschaftlichen Regelungsproblema-
tik umgegangen werden sollte.24 Bei diesem Ausgangspunkt muss die Tatsache, dass
gerichtliche Entscheidungen nicht durch das positive Recht determiniert sind, müs-
sen die das positive Recht transzendierenden Elemente richterlicher Rechtserzeu-
gung nicht zwangsläufig in ein wissenschaftlich nicht erfassbares Feld des Politi-
schen führen. Vielmehr geht die rechtsphilosophisch arbeitende Rechtswissenschaft
davon aus, dass in diesem Bereich Logik und Prinzipien einer allgemein-praktischen
oder auch einer spezifisch juridisch geprägten Vernunft gelten mit der Folge, dass
Entscheidungen wenn nicht durch ontologische Gegebenheiten, so doch zumindest
durch mehr oder weniger gute bzw. zwanglos zwingende Gründe reguliert werden.25
Und in der Tat wird sich schwerlich bestreiten lassen, dass dem Recht des freiheit-
lichen Staates bestimmte substanzielle Erwägungen zu Grunde liegen, die dem Dis-
kurs über akzeptable Gründe für juridische Entscheidungen eine gewisse Struktur,
zumindest aber semantische Bezugspunkte verleihen. Den groben Rahmen bildet in-
soweit eine politische Philosophie, die – nach der Abkehr von metaphysischen Herr-
schaftslegitimationen – Freiheit, Autonomie und personale Würde des Einzelnen
zum Ausgangspunkt nimmt.26 Die formalen Organisationsprinzipien des so begrün-
deten Staates – Gewaltenteilung und -verschränkung, Unterwerfung aller Staatsge-
walt unter rechtliche Kontrolle – sowie die Positivierung des Rechts sollen sicherstel-
len, dass Freiheit und Würde des Einzelnen nicht durch staatliche Willkür missachtet
23
Die Möglichkeit, dass eine nicht durch das positive Gesetzesrecht determinierte Ent-
scheidung gleichwohl rechtlich bestimmt sein kann, wird als Wesensmerkmal des Nichtposi-
tivismus bezeichnet bei Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 3. Aufl. 2011, S. 25.
24
Fast schon klassisch zu nennen ist die Darstellung der Rechtsphilosophie und ihres
Verhältnisses zur Rechtsdogmatik bei Kaufmann, in: Saliger/Hassemer/Neumann, Einführung
in die Rechtsphilosophie, 9. Aufl. 2016, S. 1 ff.; ein emphatisches Plädoyer für die Relevanz
der Rechtsphilosophie in der Gegenwart findet sich bei Mahlmann, RW 2017, 181 ff.
25
Eine gründliche Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen in Betracht kommenden
(dort sog.) Prädeterminanten des positiven Rechts findet sich bei Bumke (Fn. 10), S. 65 ff., der
ausführlich und überzeugend darlegt, dass eine nennenswerte Determination des positiven
Rechts durch solche Maßstäbe letztlich kaum in Betracht kommt.
26
Eindringlich Mahlmann, RW 2017, 181, 184 f.; zur Ablösung objektivistisch-metaphy-
sischer Herrschaftskonzepte durch die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags Kers-
ting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 1994, S. 17 (und passim).
Rechtswissenschaft, positives Recht und politischer Protest 263

werden.27 Dieser substanzielle Hintergrund unserer Rechtsordnung kann im Umgang


mit dem richterlichen Spielraum bei der Rechtserzeugung zum Maßstab erklärt wer-
den mit der Folge, dass gerichtliche Rechtserzeugung zum Gegenstand philoso-
phisch begründeter Kritik wird.28
Doch ergeben sich aus den der philosophischen Methode zugänglichen Prinzipen
des modernen Rechts auch die Grenzen jener Methode. Die Prinzipien des freiheit-
lichen Staates können nur in der Welt des institutionellen Rechts verwirklicht wer-
den, die sich nicht an quasimetaphysischen Vernunftgründen orientiert, sondern ei-
gene Verfahrens- und Diskursregeln entwickelt, um innerhalb vertretbarer Zeit zu
vertretbaren Entscheidungen zu kommen. Diese müssen selbst bei einem praktisch
non liquet getroffen werden und bleiben im Rahmen von Instanzenzügen und Gewal-
tenteilung immer korrigierbar; dabei gilt die von einem zuständigen Organ getroffe-
ne Entscheidung unabhängig davon, ob sie sich in einem praktischen Diskurs als
(un-)vernünftig erweisen lässt.29 Die Rechtsphilosophie im freiheitlichen Rechtsstaat
vollzieht daher die Selbstentmachtung des Philosophenkönigtums, indem sie die phi-
losophischen Gründe dafür liefert, warum philosophische Gründe für die Ausübung
von Staatsgewalt nicht maßgeblich sind. Wo sie gleichwohl mit dem Anspruch auf
institutionelle Geltung ihrer Gründe auftritt, verstrickt sie sich unweigerlich in Wi-
dersprüche.

3. Das Politische als blinder Fleck der Rechtswissenschaft

In der vorstehenden Auseinandersetzung mit rechtsdogmatischen und rechtsphi-


losophischen Zugängen in der Rechtswissenschaft offenbart sich ein grundsätzliches
Dilemma des modernen Rechts.30 Das positive Recht mit seiner juridisch-institutio-
nellen Logik muss an der Verwirklichung der Gerechtigkeit scheitern, die notwendig
über das positive Recht hinausgeht. Philosophische Gerechtigkeitskonzepte sind
wiederum nicht in der Lage, ihre auf Vernunftgründe gestützten Ansprüche in poli-
tisch legitime Formen zu übersetzen. Jenseits dieser Grenzen stößt das Recht auf das
Feld des Politischen, in dem sowohl der das positive Recht transzendierende Gerech-
tigkeitsdiskurs als auch Kampf um die praktische Verwirklichung theoretischer Ideen
stattfindet – allerdings stets mit offenem Ausgang und ohne Objektivitätsanspruch
oder zwanglos zwingende Gründe31.
27
Vgl. den Versuch einer ethischen Legitimation des Rechtspositivismus bei Becker, in:
Joerden/Schuhr (Hrsg.), GS Hruschka, 2019, im Erscheinen; zur substanziellen Dimension des
Positivismus auch Mahlmann, RW 2017, 181, 211.
28
Krit. insoweit gegenüber der philosophischen Berufung auf „stärkere Gründe“ Fischer-
Lescano, JZ 2018, 161, 165 ff. (in der Auseinandersetzung mit Rainer Forst).
29
Hierzu näher Becker, in: Joerden/Schuhr (Fn. 27) im Erscheinen.
30
Zum Folgenden Teubner, ZRSoz 29 (2008), 9, 21 ff.; Fischer-Lescano, JZ 2018, 161,
162.
31
Zur Notwendigkeit der Kontingenz des politischen Diskurses im freiheitlichen Staat
siehe Grimm, in: Klein (Fn. 7), S. 96 f.
264 Christian Becker

Der blinde Fleck der theoretischen Rechtswissenschaft wird in der Auseinander-


setzung mit politischem Protest besonders deutlich. Wird dieser ausschließlich oder
vorwiegend vor dem Hintergrund des positiven Rechts thematisiert, wird jedes eman-
zipatorische Potenzial unter Hinweis auf ein vermeintlich neutral und unpolitisch er-
kanntes positives Recht in seine Schranken gewiesen. In Wahrheit verbirgt sich da-
hinter aber nolens volens eine versteckte politische Prämisse, die etwaige Entschei-
dungen durch institutionell zuständige Organe ohne politische Legitimation norma-
tiv vorwegnimmt. Aber auch die rechtsphilosophische Methode gerät in
Schwierigkeiten angesichts der Frage nach der politischen Legitimation der von
ihr formulierten Gerechtigkeitskonzepte sowie einer politischen Praxis, die sich
nicht damit zufriedengibt, dass im Raum der Gründe über ihre Ansprüche verhandelt
wird, sondern deren Ziel die Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist.
Angesichts dieses Dilemmas einer entweder latent restaurativ wirkenden dogma-
tischen oder einer im Reich der Vernunftgründe steckenbleibenden philosophischen
Methode soll nachfolgend ein dritter Weg für die rechtswissenschaftliche Reflexion
in der Auseinandersetzung mit politischer Praxis angedeutet werden.

IV. Politische Praxis als Ort der möglichen Einheit


von positivem Recht und Gerechtigkeit
Die Hinwendung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit kann als wesentlicher Im-
puls in Hegels politischer Philosophie verstanden werden.32 Er spricht von einem
„Glück für die Wissenschaft“ angesichts der Tatsache, dass die Philosophie „sich
in näheres Verhältnis mit der Wirklichkeit gesetzt hat“; Philosophie ist nach
Hegel „das Ergründen des Vernünftigen […], eben damit das Erfassen des Gegen-
wärtigen und Wirklichen, nicht das Aufstellen eines Jenseitigen“.33 All das gipfelt
in der berüchtigten Sentenz „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich
ist, das ist vernünftig“34, die lange Zeit die Rezeption von Hegels Rechtsphilosophie
geprägt hat35.
Es besteht indes kein Anlass dafür, Hegel angesichts dieser Worte als reaktionären
Staatsphilosophen zu sehen, der die ihn umgebenden Verhältnisse philosophisch le-

32
Instruktiv Rawls, Geschichte der Moralphilosophie Hume-Leibniz-Kant-Hegel, 3. Aufl.
2016, S. 427 ff.; Châtelet, in: ders. (Hrsg.), Geschichte der Philosophie Band V, 1973, S. 150,
152 ff.; vgl. auch Rorty, Achieving our Country, 1998, S. 19 ff.
33
G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswis-
senschaft im Grundrisse, 11. Aufl. 2017, S. 23 f.
34
G. W. F. Hegel (Fn. 33) S. 24 a.E.
35
Vgl. zur Rezeptionsgeschichte Schnädelbach, G.W.F. Hegel zur Einführung, S. 120 ff.,
der die Vorrede als „publizistisches Unglück“ (S. 121) bezeichnet; dagegen Jaeschke, Hegel
Handbuch Leben Werk Wirkung, 2. Aufl. 2010, S. 274 f.; näher zur lange Zeit besonders
wirkmächtigen Kritik an Hegel durch Rudolf Haym Ritter, Hegel und die französische Re-
volution, 1965, S. 7 ff.
Rechtswissenschaft, positives Recht und politischer Protest 265

gitimieren wollte.36 Er unterscheidet sehr wohl zwischen einem vorübergehenden


und äußeren Dasein, einer begriffslosen Realität, äußerlichen Zufälligkeit oder we-
senslosen Erscheinung, und einer „Gestaltung, welche sich der Begriff in seiner Ver-
wirklichung gibt“ und die „das andere von der Form, nur als Begriff zu sein, unter-
schiedene wesentliche Moment der Idee“ ausmacht.37 Die Wahrheit „über Recht,
Sittlichkeit, Staat“ ist danach zwar „in den öffentlichen Gesetzen, der öffentlichen
Moral und Religion offen dargelegt und bekannt“; jedoch fährt Hegel fort: „Was be-
darf diese Wahrheit weiter, insofern der denkende Geist sie in dieser nächsten Weise
zu besitzen nicht zufrieden ist als sie auch zu begreifen und dem schon an sich selbst
vernünftigen Inhalt auch die vernünftige Form zu geben, damit er für das freie Den-
ken gerechtfertigt erscheine, welches nicht bei dem Gegebenen, es sei durch die äu-
ßere positive Autorität des Staates oder der Übereinstimmung der Menschen oder
durch die Autorität des inneren Gefühls und Herzens und das unmittelbar beistim-
mende Zeugnis des Geistes unterstützt, stehenbleibt, sondern von sich ausgeht
und ebendamit fordert, sich im Innersten mit der Wahrheit geeint zu wissen?“38
Die Wirklichkeit wird also von der philosophischen Reflexion nicht einfach affir-
mativ zur Kenntnis genommen, sondern im Prozess des Begreifens überhaupt erst als
in sich vernünftige erkannt – oder eben als bloß vorübergehendes äußeres Dasein er-
wiesen. Philosophische Reflexion in diesem Sinne ist ein beständiges wechselseiti-
ges Messen der Praxis an der Theorie und der Theorie an der Praxis, um als Resultat
dieses Prozesses entweder die Einheit der beiden hervorzubringen – oder aber die
bislang fehlende Verwirklichung dieser Einheit aufzuweisen.
Umgangssprachlich ließe sich sagen, dass die Philosophie versucht, sich auf die
Wirklichkeit einen Reim zu machen. Dabei kann sich eine gesellschaftliche oder in-
stitutionelle Praxis als „ihrer Zeit voraus“ erweisen und so dem noch im vorüberge-
henden Dasein verharrenden positiven Recht den Weg aus einer bereits verwirklich-
ten gerechten Zukunft weisen. Die Praxis kann aber auch Ausdruck eines „Vollzugs-
defizits“ sein, wenn sie nicht die aus dem Begriff gewonnene Verwirklichung der
Rechtsidee ist, sondern lediglich begriffslose Realität. In diesem Sinne haben sich
unterschiedliche Varianten kritischer Rechtstheorien (z. B. Feminismus, postkolo-
niale Rechtstheorie) große Verdienste erworben, indem sie in der Auseinanderset-
zung mit realen Verhältnissen die fehlende Realisierung der Verheißungen des mo-
dernen aufgeklärten Rechts aufzeigen.

36
So im Ergebnis einhellig Schnädelbach, Einführung (Fn. 35), S. 120 ff.; ders., Hegels
praktische Philosophie Ein Kommentar der Texte in der Reihenfolge ihrer Entstehung, 2000,
S. 172 ff.; Jaeschke (Fn. 35), S. 274 ff.; eindringlich Ritter (Fn. 35), passim.
37
G. W. F. Hegel (Fn. 33) S. 29.
38
G. W. F. Hegel (Fn. 33) S. 13 f.
266 Christian Becker

V. Die Campus as Safe Space Proteste als vorweggenommene


Verwirklichung der Idee des Rechts
Wenngleich Hegels wesentliches Anliegen ohne Zweifel darin bestand, die zur
Wirklichkeit gelangte Vernunft in den staatlichen Institutionen seiner Zeit und vor
allem in der von ihm erstmals philosophisch erkannten bürgerlichen Gesellschaft
aufzuweisen, blieb seine politische Philosophie stets geprägt von der Auseinander-
setzung mit dem Phänomen der Revolution.39 Vor diesem Hintergrund scheint es ver-
tretbar, Hegels Philosophie hier in der Auseinandersetzung mit politischem Protest
fruchtbar zu machen. Denn obwohl Hegel betont hat, dass eine seinen Vorstellungen
entsprechende Rechtsphilosophie nicht mit konkreten geschichtlichen Vorgängen
befasst ist, um nicht „die Entwicklung aus historischen Gründen […] mit der Ent-
wicklung aus dem Begriffe“ zu verwechseln,40 hat er sich doch immer wieder zu po-
litischen Fragen seiner Zeit geäußert41.
Ich werde im Folgenden zunächst den Im Zentrum von Hegels Rechtsphilosophie
stehenden Begriff der Freiheit um einen Begriff des Anderen ergänzen, den ich vor
allem von Emmanuel Lévinas nehme (1.). Anschließend werde ich zeigen, in wel-
cher Weise sich diese Idee der Freiheit in der Campus as Safe Space-Bewegung ver-
wirklicht (2.).

1. Die Freiheit und der Andere

Hegels Definition des Rechts lautet: „Dies, daß ein Dasein überhaupt Dasein des
freien Willens ist, ist das Recht. – Es ist somit überhaupt die Freiheit, als Idee“.42
Während die Idee der Freiheit zwar in der griechischen Polis ihren geschichtlichen
Ausgangspunkt hatte, war die Freiheit dort noch unvollständig realisiert, weil Grie-
chen (und Römer) lediglich wussten, „daß einige frei sind, nicht der Mensch, als sol-
cher“, weshalb „ihre Freiheit […] selbst teils nur eine zufällige, vergängliche und
beschränkte Blume“ gewesen sei.43 Hegel erhebt sodann die europäische Geschichte
(ausgehend vom Christentum) zu einer Weltgeschichte, soweit sie „Fortschritt im
Bewußtsein der Freiheit“ ist.44 Diese Entwicklung wird in der französischen Revo-
lution gewissermaßen „im politischen Sinn zum Abschluss gebraucht“.45 Nunmehr

39
Das hat vor allem Joachim Ritter (Fn. 35) herausgearbeitet, dessen Hegel-Interpretation
meine Überlegungen viel verdanken.
40
G. W. F. Hegel (Fn. 33) S. 34 ff. (Zitat auf S. 35 a.E.); siehe hierzu auch Jaeschke
(Fn. 35), S. 275 f.
41
Siehe die Nachweise bei Ritter (Fn. 35), S. 31 zu Hegels Kritik an der politischen Re-
stauration.
42
G. W. F. Hegel (Fn. 33) S. 80.
43
G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 1986, S. 58 f.
44
Siehe zum Begriff der Weltgeschichte bei Hegel Ritter (Fn. 35), S. 28 f.
45
Ritter (Fn. 35) S. 29.
Rechtswissenschaft, positives Recht und politischer Protest 267

gilt der Mensch im Recht als allgemeine Person, „weil er Mensch ist, nicht weil er
Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist“.46
Bei Hegel sind Freiheit und Autonomie untrennbar miteinander verknüpft.47 Der
nicht nur an sich, sondern auch für sich freie Wille, die „wahrhafte Idee“ ist „die sich
selbst bestimmende Allgemeinheit, der Wille, die Freiheit“.48 Im 20. Jahrhundert ist
hingegen die Vorstellung eines autonomen Subjekts unter Druck geraten, wobei hier
neben dem Konzept des Unbewussten in der Psychoanalyse auch die Idee des Frem-
den in der Phänomenologie eine Rolle gespielt hat.49 Besonders eindringlich hat der
französische Philosoph Emmanuel Lévinas eine Ethik entwickelt, in der die Verant-
wortung für den Anderen der Freiheit vorausgeht.50 Weil sich das Subjekt erst in sei-
ner Beziehung zu diesem unverfügbaren und absoluten Anderen konstituiert, verliert
es seine Autonomie.51 Der Einzelne genügt sich nicht selbst, was aus phänomenolo-
gischer Sicht nicht weniger als die Anerkennung der simplen Erfahrung ist, dass wir
ganz allein in unserem Leben keinen Sinn finden können und dass das Fremde – etwa
in Gestalt von Schmerzen, Emotionen, Vergessen oder auch der Ablenkung unserer
Aufmerksamkeit – in unserem Alltag ständig präsent ist.52
Ich habe an anderer Stelle aus diesem ethischen Primat der Verantwortung gegen-
über der Freiheit eine ethisch begründete Legitimation des modernen Rechtspositi-
vismus angedeutet.53 Das Recht muss dem ethischen Subjekt zur Hilfe kommen, das
sich selbst einer permanenten Überforderung durch die Über-Forderung des Anderen
ausgesetzt sieht. Es muss die Andersheit des Anderen gewährleisten und gleichzeitig
seinen Anspruch auf ein Maß begrenzen, das eine lebensfähige Gemeinschaft zwi-
schen dem Selbst, dem Anderen und dem Dritten ermöglicht. Diese Leistung kann
nur das moderne positivistische Recht erbringen, das ohne eine ihm übergeordnete
Quelle auskommt und so die Gewähr dafür bietet, dass der Andere keiner anderen
Gewalt ausgesetzt wird als der des Rechts, deren Eigentümlichkeit darin besteht,
dass sie einerseits ihre eigene Legitimation voraussetzt und sich andererseits selbst
kontrolliert.
Wenn wir die Hegelsche Idee eines fortschreitenden Bewusstseins der Freiheit
lösen von der Vorstellung eines autonomen Subjekts und sie stattdessen vor dem Hin-

46
G. W. F. Hegel (Fn. 33) S. 360.
47
Lesenswert zur (von him sog.) „auotonomy orthodoxy“ Critchley, Infinitely Demanding
Ethics of Commitment, Politics of Resistance, 2012, S. 32 ff.
48
G. W. F. Hegel (Fn. 7) S. 71 f.
49
Hierzu Waldenfels, Erfahrung, die zur Sprache drängt, 2019, S. 29 ff.
50
Lévinas, Totalität und Unendlichkeit Versuch über die Exteriorität, 5. Aufl. 2014,
S. 35 ff.; S. 105 ff.; S. 267 ff. und passim: vertiefend zu Lévinas siehe Därmann, Fremde
Monde der Vernunft Die ethnologische Provokation der Philosophie, 2005, S. 565 ff.; zusf.
Critchley (Fn. 47), S. 56 ff.
51
Luzide hierzu Critchley (Fn. 47), S. 38 ff.
52
Hierzu m.w.N. Becker, in: Joerden/Schuhr (Fn. 27) im Erscheinen.
53
Zum Folgenden Becker, in: Joerden/Schuhr (Fn. 27) im Erscheinen.
268 Christian Becker

tergrund der Verknüpfung der Freiheit mit einer Verantwortung für den Anderen im
Sinne von Lévinas betrachten, wird deutlich, dass die uneingeschränkte Anerken-
nung aller Menschen als Rechtspersonen noch lange Zeit nach der französischen Re-
volution ein Privileg (einiger) europäischer weißer Männer blieb. Weder den euro-
päischen Frauen noch den Bewohner_innen anderer Kontinente wurden diese Rechte
zuerkannt. Aus der Perspektive des Anderen bleibt die Freiheit in weiten Teilen letzt-
lich bis heute eine zufällige, vergängliche und beschränkte Blume.

2. Die Universität als Raum praktisch werdender Anerkennung


des Anderen

Die Forderungen der Campus as Safe Space-Bewegung bringen diese nach wie
vor unvollständige Verwirklichung der Freiheit zum Ausdruck. Sie verweisen sub
specie freiheitliches Recht auf den Unterschied zwischen „der Form, nur als Begriff
zu sein“ und der „Gestaltung, welche sich der Begriff in seiner Verwirklichung gibt“.
Die Proteste artikulieren diejenigen Stimmen, die bis heute von jener Freiheit und
personalen Anerkennung ausgeschlossen sind, die das moderne Recht für sich in An-
spruch nimmt.
Hegel hat mit aller Nachdrücklichkeit herausgearbeitet, dass die mit der Revolu-
tion in die Geschichte getretene bürgerliche Gesellschaft jegliche Kontinuität mit ge-
schichtlichen Überlieferungen unterbricht.54 Er hat dabei keineswegs die Radikalität
dieser Entwicklung verkannt,55 ohne deswegen von der positiven Einschätzung der
Revolution abzurücken56. In den auf die Anerkennung und Achtung von Diversität
zielenden Protesten der Campus as Safe Space-Aktivist_innen verwirklicht sich
diese Radikalität, indem selbst die „letzten“ geschichtlich überlieferten Gewisshei-
ten betreffend Kultur, Nation oder geschlechtlicher Identität in Frage gestellt wer-
den.57 In einer konsequent verwirklichten bürgerlichen Gesellschaft ist die Identität
als weißer heterosexueller Mann nicht mehr oder weniger selbstverständlich als die-
jenige einer schwarzen Transgenderperson. Weil dies aber eben bis heute noch nicht
konsequent verwirklicht ist, muss es in der Form des politischen Protests adressiert
werden.
Aus der Tatsache, dass die Proteste dem Anspruch des Anderen eine wirkliche
Gestalt verleihen, erklärt sich im Übrigen auch der bisweilen überzogen wirkende
Charakter mancher Forderungen. Dieser ist eine Konsequenz des Gegenstands der
Forderungen, weil der Anspruch des Anderen strukturell eine Über-Forderung und

54
Eindringlich hierzu Ritter (Fn. 35), S. 40 ff.
55
Siehe insbesondere G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 1986, S. 431 ff.
56
Ritter (Fn. 35), S. 22: „Hegel hat immer die französische Revolution bejaht; es gibt
nichts Eindeutigeres als diese Bejahung“.
57
Zur Geschichtslosigkeit der bürgerlichen Gesellschaft und der daraus folgenden Frei-
setzung der menschlichen Subjektivität nochmal Ritter (Fn. 35), S. 61 ff., insbesondere
S. 65 ff.
Rechtswissenschaft, positives Recht und politischer Protest 269

seiner Natur nach unerfüllbar ist.58 Es ist hierbei gerade die Aufgabe des positiven
Rechts, das wechselseitige Gefüge solcher in sich unerfüllbarer Ansprüche in eine
lebenspraktisch zu bewältigende Sozialität zu überführen. Im positiven Recht
kann der Andere folglich nicht immer und nicht uneingeschränkt Gehör finden
mit seiner Forderung.
Es bedarf daher fast keiner Erwähnung, dass die Interessen von Studierenden, die
sich z. B. gegen eine Diskriminierung durch Microaggressions wehren, im konkreten
Streitfall mit etwaigen gegenläufigen Interessen durch das im Einzelfall zuständige
Gericht abgewogen werden müssen.59 Die als unpolitisch und wertfrei ausgewiesene
Vorwegnahme einer solchen Abwägung durch theoretische Rechtswissenschaft
ignoriert aber nicht nur die performative Dimension der gerichtlichen Rechtserzeu-
gung und die institutionelle Zuständigkeitsordnung, sondern sie verfehlt auch die
philosophisch-politische Dimension der Proteste. Nur weil möglicherweise nicht
alle Forderungen unmittelbar in positives Recht umsetzbar sind – darüber ist
immer nur anlassbezogen und durch die zuständigen Organe zu entscheiden –, be-
deutet dies nicht, dass sie keine rechtlich relevanten Inhalte zum Ausdruck bringen.
Die Idee des Rechts kann im positiven Recht notgedrungen immer nur unvollständig
verwirklicht sein. Es sollte auch Aufgabe der rechtswissenschaftlichen Reflexion
sein, die in der Wirklichkeit jenseits des positiven Rechts Gestalt annehmende
Rechtsidee nachzuzeichnen.

VI. Schluss
Es sei zum Abschluss betont, dass unbeschadet der von Hegel entlehnten Seman-
tik mit der hier skizzierten Vorstellung einer zu verwirklichenden Rechtsidee kein
Absolutheitsanspruch erhoben wird. Anstatt den unvermeidlichen Schmuggel zwi-
schen Recht und Politik zu leugnen, wird er hier legalisiert. Die vorstehenden Über-
legungen beschreiben ein aus dem Gedanken der Achtung des Anderen sowie dem
Primat der Verantwortung gegenüber der Freiheit entwickeltes Recht, das sich im
Zweifel gegen die Rechtfertigung von Leid unter Berufung auf Freiheit entscheidet.60
Niemand kann (auch nicht „zwanglos zwingend“) gezwungen werden, sich dieser
Beschreibung anzuschließen. Umgekehrt kann sich aber auch niemand auf absolute
und objektive Maßstäbe berufen, um ihr entgegenzutreten.61

58
Becker, in: Joerden/Schuhr (Fn. 27) im Erscheinen.
59
Froese, JZ 2018, 480, 488 f., die aber ohnehin davon ausgeht, dass regelmäßig keine
geschützten Rechtspositionen betroffen seien.
60
Insofern gibt es Parallelen zum Projekt Richard Rortys, siehe ders. (Fn. 32), passim.
61
Wenn Froese (JZ 2018, 480, 489) resümiert, das Phänomen der Safe Spaces „entspricht
dem liberalen Konzept des Grundgesetzes nicht“, so artikuliert sie damit nicht eine wertneu-
trale und unpolitische Erkenntnis des positiven Verfassungsrechts, sondern setzt ein be-
stimmtes Verständnis jener „liberalen Konzeption“ des Grundgesetzes, eine bestimmte Hal-
tung voraus. Diese muss man ebenso wenig teilen wie die in den vorstehenden Zeilen zum
270 Christian Becker

Im fortlaufenden Wettstreit um gelingende Beschreibungen einer freiheitlichen


Rechtsordnung wird man mit Reinhard Merkels Stimme auch in Zukunft zu rechnen
haben. Das ist unabhängig davon ein Gewinn, ob man die von ihm vertretene Position
inhaltlich teilt oder nicht. Im ersten Fall weiß man einen argumentationsstarken
Streitgenossen an seiner Seite. Anderenfalls kann es kaum eine bessere Möglichkeit
zur Überprüfung und Schärfung der eigenen Argumentation geben, als die Ausein-
andersetzung mit einem so prägnanten und klaren Denker wie dem geschätzten Ju-
bilar.

Ausdruck kommende (in vielerlei Hinsicht diametral entgegengesetzte) Position. Weder die
eine noch die andere Sichtweise kann sich dem Streit um die politisch für richtig gehaltene
Lösung entziehen.
Handeln, Entscheiden, Zurechnen
Wie der Einsatz intelligenter Technik die deontologische Deutung
des Rechts verändert

Von Benno Zabel

I. Einführende Überlegungen
1. Recht, Freiheit und Kontingenz

Dass Handlungs-, Entscheidungs- und Zurechnungskonzepte gesellschaftsabhän-


gig sind, dass sich Ordnungsvorstellungen des Hochmittelalters von denen der Früh-
moderne unterscheiden, ist eine Binsenweisheit. Herauszufinden, was das für unsere
normativen und rechtlichen Erwartungen bedeutet, ist dagegen alles andere als trivi-
al: Moderne liberale Gesellschaften sind dynamisch, plural und volatil, sie sind aber
auch verletzbar und hoch verunsichert.1 Wir können sogar von Immanenz- und Vor-
sorgegesellschaften sprechen, wenn wir betonen wollen, dass das omnipräsente Kon-
tingenzbewusstsein – das Wissen, dass alles auch anders möglich ist – und die Kultur
der Kontingenzbewältigung eine Signatur des rechtlichen Zusammenlebens gewor-
den sind.2 Es ist deshalb auch kaum verwunderlich, dass die Ordnungsvorstellungen
moderner Gesellschaften in Bewegung geraten, man denke etwa an die Debatte um
Sicherheit und Sicherheitsbedürfnisse, an die kontroversen Deutungen einer sich zu-
sehends verändernden demokratischen Infrastruktur oder auch an den Umgang mit
den Regressionskräften des Marktes. So unterschiedlich die Interaktionsformen sind
– das Kraftfeld aus Freiheit, Kontingenz und (politischen) Gestaltungsinteressen ist
nicht zu übersehen. Ein besonderes Beispiel für die Dynamiken und Effekte, die mit
diesem Kraftfeld einhergehen, dürfte die umfassende Technisierung der Lebenswelt
sein, die uns später noch genauer beschäftigen wird. Der Einsatz von Technik ist all-
gemein erwünscht oder wird sogar eingefordert. Mit ihm verbindet sich die Hoffnung
auf eine nachhaltige Steigerung individueller oder kollektiver Freiheit. Auf der an-

1
Detaillierte u. a. bei Analysen bei Zygmunt Bauman, Ambivalenz und Moderne, Hamburg
1992; Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt am Main 1996; Judith Shklar,
Liberalismus der Furcht, Berlin 2013 und Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, Hamburg 2014.
2
Klassisch Niklas Luhmann, Kontingenz als Eigenwert der modernen Gesellschaft, in:
ders., Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 93 – 128; außerdem Rüdiger Bubner,
Geschichtsprozesse und Handlungsnormen. Untersuchungen zur praktischen Philosophie.
Frankfurt am Main 1984, S. 35 ff.
272 Benno Zabel

deren Seite verändert Technik Sozialverhältnisse, unterstellt sie der Logik von Algo-
rithmen, funktionalisiert sie und schafft gerade dadurch neue Verunsicherungs- und
Konfliktpotentiale.3 Das betrifft die Vernetzung des Straßenverkehrs, die Digitalisie-
rung der (öffentlichen) Kommunikation und nicht zuletzt die Entwicklungen, die
heute unter dem Label big data und Industrie 4.0. zusammengefasst werden. Das
Recht und die Rechtswissenschaft (speziell Theorie und Praxis der Technikfolgen-
abschätzung) werden so aber mit immensen Grundlagenproblemen konfrontiert.
Muss doch geklärt werden, ob und gegebenenfalls in welcher Form die Evaluierung
menschlichen Verhaltens, das heißt die klassische Zuordnung von Rechten und
Pflichten, beibehalten oder den neuen Bedürfnissen, Präferenzen und Erwartungs-
haltungen anzupassen ist.4 Das setzt aber immer schon bestimmte (alternative) Hand-
lungs-, Entscheidungs- und Zurechnungskonzepte voraus.

2. Menschliches Verhalten und ökonomische Deutungsangebote

Die Anerkennung und der Umgang mit gesellschaftlichen Transformationspro-


zessen prägt die wissenschaftlichen Standards einer Epoche. Erhellend ist für unsere
Problemperspektive ein Blick auf die moderne Verhaltens- und Institutionenökono-
mie, und das aus zwei Gründen: Zum einen rekonstruieren Verhaltens- und Institu-
tionenökonomie menschliche Interaktionen im Rahmen eines entscheidungstheore-
tischen Paradigmas (rational choice approach). Sie rufen damit ein Deutungsmuster
auf, das nicht nur im sozialen Handeln selbst große Verbreitung und (zumindest in-
tuitive) Plausibilität besitzt, sondern sich auch in weiten Teilen der Sozialwissen-
schaft etabliert hat. Zum anderen haben Verhaltens- und Institutionenökonomie
schon frühzeitig begonnen, sich mit der Verarbeitung sozialer Konflikte zu beschäf-
tigen und Konsequenzen für Individuum und Gesellschaft zu diskutieren.5
So geht es verhaltensökonomischen Forschungen darum, die in der neoklassisch-
keynesianischen Ökonomie entwickelten Standards rationaler Lebensgestaltung
(d. h. das gängige Kalkül des homo oeconomicus) stärker den Realbedingungen mo-
derner Gesellschaften anzupassen. Individuelle oder kollektive Präferenzen, Über-
zeugungen und Erwartungen sind danach nicht nur in erheblichem Maße situations-
und umweltabhängig. Sie kennen auch keine einheitlichen Entscheidungsprogram-
me. Menschliches Verhalten ist, entsprechend den Zielen, Zwecken und Möglichkei-

3
Die Debatte ist als solche nicht neu, vgl. etwa Hans Blumenberg, Schriften zur Technik,
2015.
4
Zum Verhältnis von Technik und Recht siehe etwa Susanne Beck (Hrsg.), Jenseits von
Mensch und Maschine, 2012 und Eric Hilgendorf (Hrsg.), Robotik und Gesetzgebung, 2013.
5
Für diese Entwicklung stehen etwa Guido Calabresi, Ideals, Beliefs, Attitudes, and the
Law, 1985 und Richard Posner, Economic Analysis of Law, 9. Aufl., 2014; vgl. darüber hinaus
Hanno Beck, Behavioral Economics, Wiesbaden 2014; Richard Thaler, Behavioral Econo-
mics. Past, Present, and Future, American Economic Review 106 (7), 2016, 1577 – 1600;
Douglass North, Theorie des institutionellen Wandels, 1988.
Handeln, Entscheiden, Zurechnen 273

ten, relativ rational (bounded rationality).6 Es ist sozial orientiert, es ist nutzen- und
ressourcenbezogen. Es unterliegt den Unsicherheitsfaktoren gesellschaftlicher Real-
bedingungen und ist auch deshalb risikosensibel. Dieses vor allem am einzelnen In-
dividuum ansetzende Erkenntnisinteresse wird (nicht nur, aber auch) durch die Ana-
lysen der Institutionenökonomie ergänzt. Letztere betont vor allem die Regelungs-
und Organisationskontexte individueller oder kollektiver Entscheidungen und die
sich daraus ergebenden Effekte. Denn menschliches Verhalten, so der Tenor, ist
kein isoliertes Phänomen. Präferenzen und damit konkrete Handlungsziele stehen
in Wechselwirkung mit anderen, zum Teil hoch komplexen Entscheidungen. Die In-
stitutionenökonomie will darauf aufmerksam machen, dass wirtschaftliche Verhal-
tensweisen koordiniert werden müssen und dennoch in Konflikt geraten können. Ko-
ordination bedeutet aber, dass soziale Normen, Rechte und Statuspositionen wie
auch unternehmerische Strukturen zum Tragen kommen. Die Rede von der Konflikt-
haftigkeit verweist wiederum darauf, dass Sanktions- und Haftungskonzepte beste-
hen müssen, um Organisations- und Vertragsstörungen, Beeinträchtigung von Rech-
ten auszugleichen und Austauschbeziehungen zu stabilisieren.7 Betrachtet man die
Transaktionskostentheorie von Ronald Coase, die, neben der Property Rights- und
der Principal-Agent-Theorie, den wichtigsten Erklärungsrahmen anbietet, dann
wird klar, welche Stoßrichtung damit verknüpft ist: Transaktionskosten bezeichnen
Aufwendungen, die für die Durchsetzung diverser Verfügungsrechte in Austausch-
beziehungen oder unternehmerischen Strukturen anfallen (man denke an die Kosten
für den Umgang mit Verträgen, für opportunistisches Handeln der Akteure usw.), mit
anderen Worten, sie sind der Maßstab für die Effizienz oder Ineffizienz wirtschaftli-
chen Verhaltens.8
Nur was folgt daraus für das Recht? Die an Coase und die Institutionsökonomie
anschließende Analyse interpretiert das Recht als eine Reaktion auf durch Knappheit
entstehende Interessenskonflikte zwischen Individuen. Recht hat demnach mit sei-
nen Regeln vor allem eine effiziente Konfliktlösung zu garantieren und d. h. das Ver-
hältnis zwischen Schädiger und Geschädigtem zu beachten (auch darauf werden wir
zurückkommen). Einzelheiten der Epistemologie und das methodische Setting müs-
sen hier nicht vertieft werden, um dennoch zu sehen, worauf die Rekonstruktionen
hinauslaufen;9 geht es doch ersichtlich darum, das Menschenbild der klassischen
Ökonomie mit dem Ordnungsprojekt liberaler Gesellschaften und den Erkenntnissen
6
Daniel Kahneman, Maps of Bounded Rationality. Psychology for Behavioral Economics,
The American Economic Review 93 (5), 2003, 1449 – 1475; Herbert A. Simon, Theories of
Decision-Making in Economics and Behavioral Science, The American Economics Re-
view, 49 (3), 1959, 253 – 283.
7
Douglass C. North, Institutions, institutional change and economic performance, 2002;
Michael Schmid, Der neue Institutionalismus, 2018; darüber hinaus Christoph Engel u. a.
(Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007.
8
Ronald Coase, Problem of the social Cost, Journal of Law and Economics 1960, 1 – 44;
Oliver E. Williamson, The Logic of Economic Organization, Journal of Law, Economics, &
Organizations 4 (1988), 65 – 93.
9
Siehe nur Horst Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl., 2005.
274 Benno Zabel

der Psychologie in Einklang zu bringen.10 Nun wird kaum bestritten, dass sich
Rechtswissenschaft und ökonomische Analyse auf unterschiedliche Theorie- und
Methodenkonzepte berufen. Und bestritten wird ebenso wenig, dass sie voneinander
abweichende Ziele verfolgen, Koordination von Präferenzen und der Marktlogik
nach Effizienzkriterien einerseits, Koordination von allgemein garantierten Frei-
heitssphären andererseits. Aber wie sollen gleichzeitig die Autonomie und die Ver-
gesellschaftung des Rechts angemessen begründet werden?
Die These, die wir im Folgenden diskutieren wollen, geht davon aus, dass die Re-
gulierung bestimmter Gesellschaftsbereiche – wir werden uns auf das autonome Fah-
ren konzentrieren – eine Überschneidung rechtlicher, ökonomischer und ethischer
Verhaltensdeutungen zur Folge hat. Wir können auch sagen: In der Binnenperspek-
tive des Rechts wird bei der Verarbeitung unterschiedlichster Risiken (implizit oder
explizit) auf das entscheidungstheoretische Paradigma zurückgegriffen, wie es etwa
in der ökonomischen Analyse und dem damit eng verknüpften utilitaristischen Den-
ken Anwendung findet (allerdings ohne das Effizienzkriterium in Reinform zu über-
nehmen).11 Im Strafrecht, das im Mittelpunkt unserer Erörterungen stehen wird, führt
dieser Umgang mit Verhalten, Risiken und Interessen zu einem hybriden Zurech-
nungs- und Verantwortungskonzept, das den modernen Freiheitserwartungen von In-
dividuum und Gesellschaft gerecht werden soll. Wir nähern uns dem Problemfeld,
indem wir zunächst das herkömmliche Zurechnungsmodell des Strafrechts skizzie-
ren. Im Anschluss wird zu zeigen sein, in welcher Weise dieses Modell durch das
entscheidungstheoretische Paradigma dynamisiert, d. h. den gesellschaftlich techno-
logischen Entwicklungen (und den damit einhergehenden Risiken) angepasst werden
soll. Zu zeigen ist aber auch, wie sich das hybride Zurechnungskonzept auf die Dog-
matik auswirkt und wie es – ganz grundsätzlich – die deontologische Deutung des
Rechts verändert. Die Überlegungen sind Reinhard Merkel gewidmet, der sich
nicht nur mit dem Thema des autonomen Fahrens beschäftigt, sondern sich wie
kaum ein zweiter mit den Grund- und Grenzfragen des gegenwärtigen (Straf-)Rechts
auseinandergesetzt hat.

10
Matthew Rabin, A perspective on psychology and economics, European Economic Re-
view, 46 (4), 2002, 657 – 685.
11
Von Bedeutung ist also das entscheidungstheoretische Paradigma als solches. Gleich-
zeitig ist nicht zu übersehen, dass die Ideen der ökonomischen Entscheidungstheorie auf einen
ubiquitären (möglw. auch hegemonialen) Diskurs in den Geistes- und Sozialwissenschaften
verweisen. Für das Strafrecht hat das enorme Relevanz.
Handeln, Entscheiden, Zurechnen 275

II. Schuld, Risiko und Schaden


1. Zurechnung als Kohärenzprinzip des Strafrechts

Die gängige Begründung rechtlicher Verantwortung oder Haftung beruht auf der
Zurechnung schuldhaften Verhaltens.12 Danach kann eine Rechtsverletzung nur dann
plausibel adressiert werden, wenn, neben der kausalen Bewirkung (jemand wird ver-
letzt, Eigentum wird beschädigt usw.),13 ein konsistenter Zusammenhang zwischen
Handlung und Erfolg hergestellt werden kann. Beide Perspektiven, Kausalität und
Zurechnung, fokussieren traditionell das einzelne Individuum – die Person – als Ur-
heber von Ereignissen in der Welt.14 Es geht also in der Regel darum, das Verhalten
des A mit einer konkreten Rechtsverletzung bei B in Verbindung zu bringen. Na-
mentlich die strafrechtliche Zurechnung stellt auf das Einstehenmüssen des Han-
delnden ab, soweit vorsätzlich oder fahrlässig gegen die Normenordnung (also
gegen bestehende Rechte, negative oder positive Pflichten) verstoßen wurde und
an der Entscheidungsmacht, dem Unrechtsbewusstsein keine Zweifel bestehen.15
Dieses rechtsverletzende Verhalten wird im Strafrecht nicht nur als irgendein Bewir-
ken verstanden. Rekonstruiert wird es vielmehr als ein sinnsetzendes Geschehen.
Genau genommen wird durch die Zurechnung der Konflikt von zwei entgegengesetz-
ten Normdeutungen ausdiskutiert und zu Lasten des erkannten Normwiderspruchs
aufgelöst. Methodisch gesehen handelt es sich bei der Zurechnung um ein prakti-
sches Urteil, um ein Verfahren, das Bedeutungen generiert, nämlich die, dass es
um eine gesellschaftsrelevante Abweichung von der Norm geht, die grundsätzlich
einen Schuld- und Strafausspruch zur Folge hat. Bei Günther Jakobs heißt es dem-
entsprechend:
„,Urteil‘ ist eine Entscheidung nach einem Code“ und dieser lautet bei der straf-
rechtlichen Zurechnung „deliktischer Sinn vs. Natur“. Deliktisches Verhalten wird
also als kommunikativer Beitrag verstanden und ist nach Regeln zu interpretieren,
die für solche Beiträge gelten: „nicht nach Regeln für die Erkenntnis der Natur, son-
dern nach Regeln einer Verhaltenssemantik … Die maßgebliche Frage lautet deshalb
nicht: ,Was bewirkt das Verhalten?‘, sondern ,Was bedeutet es?‘“16

12
Joachim Hruschka, Strukturen der Zurechnung, 1976; Günther Jakobs, Die Strukturen
strafrechtlicher Zurechnung, 2012; Benno Zabel, Die Ordnung des Strafrechts, 2017.
13
Auf das höchst intrikate Problem der Kausalität kann vorliegend nicht eingegangen
werden, dazu aber vertiefend Ingeborg Puppe, Der Erfolg und eine kausale Erklärung im
Strafrecht, ZStW 92 (1980), 863 – 911; dies., Strafrecht. Allgemeiner Teil, 4. Aufl., 2019,
Rn. 26 ff.; zu den Randunschärfen der herkömmlichen Semantik bereits Weyma Lübbe (Hrsg.)
Kausalität und Zurechnung, 1994.
14
Die Zurechnung kollektiven Handelns und die Frage der Unternehmenshaftung bleibt
hier außer Betracht.
15
Michael Pawlik, Normbestätigung und Identitätsbalance, 2017.
16
Jakobs, Zurechnung (Fn. 12), S. 17.
276 Benno Zabel

Nun geht es hier nicht darum, kritische Einwände gegen die systemtheoretische
Einkleidung dieser Zurechnungskonzeption zu formulieren.17 Hervorzuheben ist
demgegenüber die Einsicht, dass Zurechnung grundsätzlich als kommunikativer
Akt gedacht werden muss. Strafrechtliche Zurechnung antwortet auf den „kommu-
nikativen Beitrag“ des Delinquenten in Gestalt einer Eigentums-, einer Körperver-
letzung usw. und bringt im Zurechnungsurteil die normativen Bindungskräfte freier
Gesellschaften und ihrer Verfassungen zur Geltung. Zurechnung ist insofern ein ord-
nungsstabilisierendes Konzept. Die Pointe dieses Konzepts besteht vor allem darin,
dass Zurechnungsurteil, Schuld- und Strafausspruch einen symbolischen Überschuss
erzeugen (sollen), der die gerechten und damit Legitimationsgrundlagen des libera-
len Staates zur Geltung bringt. Nichts anderes kommt in der Rede vom sozialethi-
schen Tadel zum Ausdruck. Erinnert sei hier nur an die Wirtschaftsstrafverfahren
gegen Vorstände des Mannesmann- und Siemens-Konzerns, an den Auschwitz-Pro-
zess oder an das Verfahren gegen Mitglieder und Unterstützer des NSU.18 Zudem
wird am Strafverfahren erkennbar, welche immense Bedeutung sie gerade auch
für die Verletzten (oder deren Angehörige) haben können. Das Zurechnungsurteil
zu Lasten des Täters bezieht sich gleichermaßen auf den Verletzten, indem es die
Rechtsverletzung nicht als Unglück oder Selbstverschulden kommuniziert, sondern
klar als Straftat ausweist. Es ist deshalb weitgehend anerkannt, dass die Verletzten –
jedenfalls in gewissem Umfang – vom Gemeinwesen Solidarität und professionelle
Unterstützung erwarten dürfen.19 Im Ganzen ermöglicht die Zurechnungs- und Straf-
anwendungspraxis (ungeachtet bestehender Probleme) eine kulturelle Transferleis-
tung; also das, was soziale Kohärenz genannt werden kann.

2. Risikoallokation und „Vergesellschaftung“ von Schäden

Das strafrechtliche Zurechnungsurteil markiert ein normatives Kalkül, das die


nachträgliche Verarbeitung des Konflikts – der Rechtsverletzung – allgemein aner-
kannten Bewertungsstandards vorbehält.20 Solche Beurteilungsstandards sehen nicht
vom individuellen Standpunkt ab, ganz im Gegenteil, gleichen aber die partikularen
Interessen mit den Freiheitsvorstellungen des Gemeinwesens ab. Aber wie wir schon
gesehen haben, konkurriert diese Deutung mit anderen sozialwissenschaftlichen Mo-
dellen. Und nicht nur das. Zur Debatte steht auch eine alternative Deutung von Recht
und Gesellschaft, Freiheit und Interesse. Dazu einige Bemerkungen: Ökonomische

17
Benno Zabel, Urteilskraft, Zurechnung und sozialethischer Tadel, in: Jan C. Joerden/Jan
C. Schuhr (Hrsg.), Gedächtnisgabe für Joachim Hruschka, Jahrbuch für Recht und Ethik, 2020
(im Erscheinen).
18
BGHSt 50, 331 (Mannsmann); BGHSt 52, 323 (Siemens); LG Frankfurt/Main, 19. 08.
1965 – 4 Ks 2/63 (Ausschwitz-Prozess); OLG München, 11. 07. 2018 – 6 St 3/12 (NSU).
19
Zur Bedeutung des Opfers/des Verletzten im Strafrecht siehe Tatjana Hörnle, Straf-
theorien, 2011, S. 37 ff.
20
Die Absprachen (jetzt auch geregelt in § 257c StPO) zeigen freilich, welchen Dynami-
ken inzwischen auch die gängige Zurechnungspraxis ausgesetzt ist.
Handeln, Entscheiden, Zurechnen 277

Modelle der Risikoallokation von Schäden beruhen auf dem Kalkül effizienzbasier-
ter Wohlstandsoptimierung und mobilisieren so ein differenziertes nutzenorientiertes
Denken. Die Analyse von Coase u. a. zielt daher auf eine Konfliktlösung mittels prä-
ferenzorientierten Interessensaugleichs.21 Dabei ist die Idee leitend, dass für den Um-
gang mit Interessenskonflikten – mit divergierenden Rechten und Pflichten – alter-
native gesetzliche Anreize bestehen können, die individuelles Handeln beeinflussen
und deshalb zu alternativen Resultaten führen. Die ökonomische Verhaltensanalyse
fragt deshalb erstens nach den konkreten gesetzlichen Alternativen. Zweitens will sie
die Konsequenzen alternativer Rechtsanwendung offenlegen, die sich unter Berück-
sichtigung der wechselseitigen Kooperation, d. h. durch individuelle Intentionen und
Handlungen ergeben. Drittens müssen die alternativen Kooperations- und Aus-
gleichsformen auf ihre relative Vorteilhaftigkeit gegenüber traditionellen Lösungen
untersucht werden, wobei als Maßstab die komparative Effizienz dienen soll. Coase
Innovation in The problem of social cost besteht nun darin, dass er – im Gegensatz zur
orthodoxen Wohlfahrtsökonomie Pigous – auch die unterschiedlichen Wirkungen al-
ternativer Regulierungen auf die betroffenen Individuen präzise analysiert.
Wie bereits erwähnt, führt Coase zur Erfassung dieser Effekte die Idee der Trans-
aktionskosten ein. Transaktionskosten sind Aufwendungen für das Betreiben eines
Wirtschaftssystems.22 Für unseren Problemkontext soll die Rede von Transaktions-
kosten darauf aufmerksam machen, dass die mit einem Konflikt verbundenen Risi-
ken und Schäden nur in der Reziprozität der Ressourcen- und Risikoallokation ange-
messen bestimmt werden können. Schäden oder Verletzungen sind danach keine
Größe, die nur aus einer Perspektive, nämlich aus der Perspektive des Geschädigten,
und Kompensationsleistungen kein Posten, der nur aus der Sicht des Schädigers zu
betrachten wäre. Coase verdeutlicht an verschiedenen Beispielen, dass Nachteile
nicht nur auf Verletztenseite, sondern, etwa durch Einschränkung von Nutzungsrech-
ten, auf Seiten des Verursachers zu besorgen sind.23 Die Einbettung von Risiken und
Schäden in ein Geflecht von Bedürfnissen, vor allem in das Kollektivgut des gesell-
schaftlichen Wohlstands, ist nun aber mit einer Konsequenz verbunden, die unter Ju-
risten kontrovers diskutiert wurde und wird:24 Denn wenn die Ressourcenallokation
bei allen Betroffenen ergibt, dass – in gängiger Semantik – der Geschädigte kosten-
günstiger eine Verminderung oder Vermeidung der Externalität herbeiführen kann,
wenn also die Kosten der Internalisierung (d. h. die Kosten durch staatliche Regulie-
rung) die Kosten aus dem Schaden bei fehlender Internalisierung übersteigen, dann

21
Ronald Coase (Fn. 8); außerdem Garry S. Becker, Crime and Punishment. An Economic
Approach, Journal of Political Economy 76 (1968), 169 – 217; Guido Calabresi, The Costs of
Accidents. A Legal and Economic Analysis, 1970; Arthur C. Pigou, The Economics of Wel-
fare, 1920; George T. Stigler, The Optimum Enforcement of Laws, Journal of Political Eco-
nomy 78 (1970), 526-536; Oliver Williamson, Transaction-cost Economics. The Governance
of Contractual Relations, Journal of Law and Economics 22 (1979), 233 – 261.
22
Coase, Problem of the social Cost, 1 – 44.
23
Coase, Problem of the social Cost, 1 – 44.
24
Horst Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (Fn. 9).
278 Benno Zabel

ist es für Coase schon aus wohlfahrtsökonomischen Gründen wenig plausibel, strikt
an einer ausschließlichen Haftung des Schadensverursachers festzuhalten; wird auf
diese Weise doch eine den gesamtgesellschaftlichen Output maximierende Lösung
unterlaufen.25
Der für meine nachfolgenden Überlegungen zentrale Punkt ist, dass Coase mit der
Orientierung an einer allokativen Effizienz der Konfliktregulierung Verursachung,
Entscheidung und gesetzliche Verantwortung gezielt entkoppelt, wir können auch
sagen, die traditionelle Zuordnungsbeziehung dynamisiert. So geht es im Bereich
der Verhaltens- und Institutionenökonomie nicht mehr in erster Linie darum, Hand-
lungen eines Akteurs und entsprechende Wirkungen – Beeinträchtigungen anderer –
isoliert zu beurteilen. Entscheidend wird vielmehr die Frage, welche Bedeutung mit-
einander konkurrierende Aktivitäten (Risikoschaffungen, Verletzungen usw.) für
eine Gesellschaft als ökonomische Gesamtressource haben.26 Die daran anschließen-
de ökonomische Analyse des Rechts betont vor allem die flexiblen Möglichkeiten
der Verhaltenssteuerung und Konfliktregulierung. In den Blick kommen dadurch un-
terschiedlich organisierte Institutionen und Entscheidungslogiken, namentlich Un-
ternehmen, der Markt oder die rechtliche Rahmenordnung. D. h. die Bedeutung
von Rechten und Pflichten, die Art, wie über sie verfügt werden kann und wie Kon-
kurrenzen oder Beeinträchtigungen normativ zu beurteilen sind, ist immer schon eine
Frage der komplexen Wechselwirkungen zwischen individuellen Präferenzen, ge-
sellschaftlichen Erwartungen und ökonomischen Opportunitäten.27 Gerade an der In-
stitutionalisierung der Risiken und der Vergesellschaftung von Schäden wird aber
auch deutlich, dass die effiziente Operationalisierung von Konflikten nicht nur auf
die Allokationen unter Knappheitsbedingungen verweist. Ebenso wichtig dürfte
das Bestreben sein, durch die erwähnten sozialen Arrangements (und unter Berück-
sichtigung der Transaktionskosten) die Unwägbarkeiten herkömmlicher Interven-
tions- und Regulierungsprogramme aufdecken und für Unsicherheitsbeherrschung
sorgen zu wollen.28

25
Coase, Problem of the social Cost, 1 – 44.
26
Die Frage lautet dann: Worauf verzichtet eine Gesellschaft und ein Gemeinwesen
(ökonomisch), wenn Aktivität A ausgeschlossen und Aktivität B ermöglicht wird, und worauf
andererseits, wenn Aktivität B verhindert und Aktivität A sanktioniert wird? Auf die interne
ökonomische Diskussion kann hier nicht eingegangen werden.
27
Ronald Coase, The Firm, the Market and the Law, in: ders., The Firm, the market and the
Law, 1988, 1 – 31.
28
Unter „herkömmlich“ sind hier besonders staatliche, nicht an „allokativer Effizienz“
oder an der totalen Output-Maximierung orientierte Modelle angesprochen.
Handeln, Entscheiden, Zurechnen 279

III. Von der Zurechnungs- zur Entscheidungstheorie?


1. Die Ausweitung der Unsicherheitszonen

Dass die ökonomische Analyse des Rechts zu einer langanhaltenden Kontroverse


unter Juristen und zu vielfältiger Kritik geführt hat, braucht hier nicht im Detail dis-
kutiert werden. Es ist bereits vielfach getan worden. In der Sache bezieht sich das
einerseits auf die Tragfähigkeit der verwendeten Modelle und Semantiken, man
denke an den Begriff des homo oeconomicus, an das zugrunde gelegte Rechtsver-
ständnis, die mobilisierten Rationalitätskalküle, aber auch an die heuristischen Stan-
dards. Zum anderen betrifft es Transformationsprobleme zwischen ökonomischem
Denken und Rechtswissenschaft, etwa Fragen nach der angemessenen Übersetzung
des Effizienzkriteriums, die Begründung der Wohlstandsoptimierung im Recht, des-
sen Verhältnis zur Gerechtigkeit usw.29 Nun lag (und liegt) der juristischen Kritik eine
Ordnungs-, Rechte- und Pflichtenkonzeption zugrunde, die im Grundsatz durch eine
liberale Freiheitsannahme gekennzeichnet ist. Ausschlaggebendes Merkmal dieser
Freiheitsannahme ist die normative Begrenzung gesellschaftlicher Effizienz- und
Wohlstandsoptimierung zugunsten einer Autonomie- und Menschenwürdegarantie.
Kurz: Personalisierung der handelnden Akteure als Ausdruck von Rechtssicherheit.
Nur wer Person ist, kann auch Rechte- und Pflichtenadressat sein.30 Genau daran ori-
entiert sich auch das erwähnte Zurechnungs- und Verantwortungskonzept (wir kön-
nen das die deontologische Option nennen). Dieses Zurechnungs- und Verantwor-
tungskonzept wird aber in dem Maße irritiert, in dem Gesellschaften die Lebenswelt
der Mitglieder verändern und die Gesellschaftsmitglieder versuchen, neue Formen
der Anpassung oder auch Selbstorganisation zu kreieren. Namentlich die angespro-
chene Digitalisierung des Sozialen stellt eine solche Irritation dar. Sichtbar wird das
dann, wenn wir uns vor Augen führen, dass elektronische Netzwerke (Ebay, Face-
book, Instagram usw.) die Idee der Öffentlichkeit, die Kommunikations- und Aus-
handlungskulturen massiv verändern;31 dass durch den Einsatz von künstlicher Intel-
ligenz, durch hochtechnisierten Straßenverkehr oder durch Cyberkriminalität Rechte
(Eigentum, Körper, Leben) in anderer Weise als bisher beeinträchtigt werden kön-
nen.32 Die vormals klare Fokussierung auf die Person, vor allem auf die kohärenzstif-
tende Verknüpfung von Verhalten, Zurechnung und Verantwortung wird nun in Tei-
29
Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (Fn. 9), S. 323 ff. und öfter; Karl Heinz Fezer,
Nochmals: Kritik der ökonomischen Analyse des Rechts, in: Juristenzeitung 1988, 223 – 228.
30
Benno Zabel, Rechtssicherheit und Prävention. Über ein Dilemma des modernen Straf-
rechts, in: Jan C. Schuhr (Hrsg.), Rechtssicherheit durch Rechtswissenschaft, 2014, S. 219 –
243.
31
Dazu jetzt Armin Nassehi, Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, 2019; für den
konkreten Kontext Malte-Christian Gruber, Zumutung und Zumutbarkeit von Verantwortung
in Mensch-Maschine-Assoziationen, in: Eric Hilgendorf (Hrsg.), Robotik und Gesetzgebung,
2012, S. 123 – 161.
32
Diskutiert etwa bei Eric Hilgendorf (Hrsg.), Autonome Systeme und neue Mobilität,
2017 und Susanne Beck/Bernd-Dieter Meier/Carsten Momsen (Hrsg.), Cybercrime und Cy-
berinvestigations, 2015.
280 Benno Zabel

len der Rechtsordnung zum Problem, Rechtssicherheit droht in Rechtsunsicherheit


umzuschlagen.
Bemerkenswert ist aber vor allem – darauf kommt es mir hier an – in welcher
Weise Rechtspolitik, Rechtswissenschaft und Rechtsdogmatik ihrerseits versuchen,
diese Unsicherheitszonen effektiv einzuhegen.33 Wir können nämlich beobachten,
dass die strikte Verknüpfung von Verhalten, Entscheidung und Verantwortung kon-
fliktspezifisch dynamisiert oder im Sinne neuer Konfliktlösungsinteressen funktio-
nalisiert wird. Mit anderen Worten, Entscheidung und Verantwortung sind nicht mehr
notwendig verbunden; Zurechnung wird – wenn notwendig – auf Risikoallokation
umgestellt. Was das konkret heißt, werden wir noch sehen. Klar wird zunächst,
dass damit im (Straf-)Recht partiell ein nutzenorientiertes Denken Platz greift,
wie wir es auch aus der Verhaltens- und Institutionenökonomie kennen. Im Unter-
schied zu den gängigen Debatten zwischen Ökonomen, Juristen und Sozialwissen-
schaftlern wird aber die Deutung der ökonomischen Analyse nicht einfach übernom-
men (oder transformiert), sondern das eigene heuristische Interesse und die Methode
den gesellschaftlichen Rechtssicherheitsbedürfnissen angepasst. Ökonomische Ana-
lyse und Rechtswissenschaft bleiben daher getrennte Systeme, mit getrennten Welt-
und Konfliktverarbeitungskulturen. Die Kontrastierung beider Kulturen zeigt uns
aber auch, warum die Systeme unter bestimmten sozialen Bedingungen gleichlau-
fende Ziele verfolgen. Denn es geht um ein gemeinsames Interesse: die Beherr-
schung von gesellschaftlichen Unsicherheitszonen und individuellen Unsicherheits-
erfahrungen.

2. Intelligente Technik und der strafrechtliche Schutz des Individuums

Nun sind Umstellungen im Bereich rechtlicher Zurechnung per se nichts Neues,


was man am Wechsel von Erfolgs- auf Schuldhaftung, an der Etablierung von Fik-
tionen als originäre Zurechnungsvoraussetzungen oder an der dogmatischen Figur
der hypothetischen Einwilligung beobachten kann.34 Die Umcodierung, die wir an-
hand der Technisierung und Digitalisierung des Sozialen besichtigen können, hat
aber eine besondere Drift. Mit ihr wird die Zurechnung zum normativen Hybrid.35

33
Cass Sunstein, Gesetze der Angst, 2007.
34
Zur Erfolgs- bzw. Schuldhaftung Stephan Stübinger, Der Stellenwert der Schuld, in:
Klaus Lüderssen (Hrsg.), Die Durchsetzung des öffentlichen Strafanspruchs, 2000, S. 187 –
205; zur Fiktion als Zurechnungsvoraussetzung Friedrich Carl von Savigny, System des
heutigen römischen Rechts, Bd. 2, 1973 (1840), § 85, S. 236 und öfter (hinsichtlich der ju-
ristischen Person); zur hypothetischen Einwilligung Lothar Kuhlen, Objektive Zurechnung bei
Rechtfertigungsgründen, in: Bernd Schünemann u. a. (Hrsg.): Festschrift für Claus Roxin,
2001, S. 331 – 348.
35
Zur zugrunde gelegten Gesellschaftstheorie siehe bereits Bruno Latour: „Um unsere
Erklärungen der Gesellschaft ins Gleichgewicht zu bringen, müssen wir einfach unsere ex-
klusive Aufmerksamkeit von den Menschen abwenden und auch auf die Nicht-Menschen
blicken. Hier sind sie, die versteckten und verachteten sozialen Massen, aus denen unsere
Handeln, Entscheiden, Zurechnen 281

a) Verantwortungssplitting und Gefährdungszurechnung

Wichtig für das Verständnis der Zurechnung als normativer Hybrid ist die Vorstel-
lung, dass Entscheidung – damit Verursachung – und Verantwortung nicht mehr aus-
schließlich individualisiert und d. h. nicht mehr vom einzelnen Akteur aus gedacht
wird, Organisationsbereiche werden neu vermessen.36 Was ist damit gemeint und
welche Konsequenzen hat es? Anknüpfen können wir an die oben festgestellte Ent-
kopplung von Handlung, Entscheidung und Verantwortung. Während die ökonomi-
sche Analyse die Entkopplung noch mit Effizienzerwartungen und Wohlstandsopti-
mierungen begründet hatte, geht es im Recht um Ordnungsvertrauen mittels diver-
sifizierter Risikoverantwortung. Diese Risikoverantwortung beruht – so die Deutung
– auf einer Pluralität von Akteuren und Zurechnungsadressaten. Menschen bedienen
sich zunehmend komplexer Technik oder sind selber nur noch Teil eines Kommuni-
kations- und Datenverarbeitungssystems.37 Verwiesen wird beispielhaft auf die Inan-
spruchnahme von elektronischen Agenten im Internethandel, auf den Einsatz von
smarter Operationstechnik im Gesundheitswesen (da Vinci-Roboter) oder auf die
Etablierung von künstlicher Intelligenz im Börsengeschäft (high frequency tra-
ding).38 Wo genau die Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine, zwischen in-
dividueller Organisationsherrschaft und maschineller „Selbststeuerung“ (qua Soft-
ware) verlaufen, ist offensichtlich nicht immer klar auszumachen, wie zuletzt mit
Blick auf „autonome Waffensysteme“ geltend gemacht wurde.39 Wenn aber Ent-
scheidungen nicht mehr eindeutig zuordenbar sind, weil ein kollektives Geflecht
von Mittlern handlungswirksam wird, wenn gleichzeitig Schäden vermieden oder
Beeinträchtigungen kompensiert werden sollen, müssen dann Zurechnung und Ver-
antwortung anders begründet werden, etwa verschuldensunabhängig oder relativ zur
Konfliktsituation? Die Frage ist heikel. Denkt man sie konsequent zu Ende, läge –
jedenfalls für bestimmte soziale Arrangements – die Verabschiedung vom handeln-
den Subjekt nahe. So radikal wird es nur selten gesehen.40 Eher wird die Diversifi-
zierung in Form einer gefährdungssensiblen Netzwerkkultur ausbuchstabiert. Dabei
geht es nicht mehr allein um die herkömmliche Gefährdungshaftung. Diese statuiert

Moralität besteht.“ Vgl. ders., Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen
Anthropologie, 1995.
36
Gunther Teubner, Elektronische Agenten und große Menschenaffen, in: Zeitschrift für
Rechtssoziologie 2006, 5 – 50; Benno Zabel, Die Ordnung des Strafrechts (Fn. 12), S. 533 ff.
37
In diesem Sinne wird in der Soziologie schon länger von sog. Akteurs-Netzwerk-Theo-
rien gesprochen, dezidiert Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft,
2007, S. 66 ff.
38
Zu den damit einhergehenden Fragen Karsten Gaede, Künstliche Intelligenz – Rechte
und Strafen für Roboter? Plädoyer für eine Regulierung künstlicher Intelligenz jenseits ihrer
reinen Anwendung, 2019.
39
Zu autonomen Waffensystemen vgl. William Marra/Sonia McNeil, Understanding ,The
Loop‘. Regulating the Next Generation of War Machines, Harvard Journal of Law and Public
Policy, Vol. 36, 2013, 1139 – 1185.
40
Ganz abgesehen davon, dass ein solches Konzept im (deutschen) Strafrecht derzeit kaum
integrierbar wäre.
282 Benno Zabel

bekanntlich eine am isolierten Individuum ausgerichtete Vorsatz- oder Fahrlässig-


keitshaftung auf der Basis einer handlungsbezogenen Rechtskreisverletzung (mit
allen damit verbundenen Problemen der normativen Ausdünnung des Zurechnungs-
zusammenhangs usw.).41
Ins Zentrum rücken vielmehr die organisationsbezogenen Rollen von Produzent,
Unternehmer, von Programmierer, Betreiber oder Nutzer. „Paradox formuliert“, so
Malte Gruber, „haften zwar auch hier Menschen – aber nicht als … Menschen, son-
dern als Betreiber oder Unternehmer […]. Gegenstand der Gefährdungshaftung ist
also der konkrete Anwendungskontext des maschinellen Betriebs, das mensch-
lich-nichtmenschlich assoziierte Tätigsein im Bereich technologischer Risi-
ken …“.42 Wie weit Gefährdungen zugerechnet werden, ist dann abhängig von
den Kontroll-, Sicherungs- oder Prüfungsstandards, dogmatisch, von gesetzlich vor-
geschriebenen Sorgfalts- und Vermeidungspflichten. Insofern wird das Feld indivi-
duell-subjektiver Verantwortung durch eine objektivierte „Risikoabschirmungsver-
antwortung“ ergänzt oder, je nach Kontext, sogar überformt.43
Diese Dynamik aus Technisierung und Gefährdung der Lebenswelt, damit einher-
gehenden Risikobeherrschungspflichten und Verantwortlichkeiten, birgt freilich ein
Dilemma, für das uns die ökonomische Analyse des Rechts sensibilisiert hat. Denn
technische Innovationen – das wurde schon an dem Eisenbahnbeispiel bei Pigou und
Coase deutlich44 – haben immer zwei Seiten: die Seite des Risikos und die Seite des
individuellen oder gesellschaftlichen Nutzens. Zurechnung schafft zuallererst Ver-
antwortungszumutungen der Produzenten, Betreiber usw. und Risikozumutungen
für die Gesellschaft und das einzelne Individuum. Nur unterliegen Verantwortungs-
zumutungen und Risikozumutungen keinem Selbstzweck. Sie dienen eben nicht
dazu, Sicherheit – Lebenssicherheit – um jeden Preis zu organisieren, wie wir mar-
kant am Straßenverkehr beobachten können (umstrittener dürfte schon das Unterhal-
ten von Atomtechnik und Atomkraftwerken sein).45 Zurechnung durch Recht soll
Ordnungsvertrauen gewährleisten, aber auch den Rahmen für neue verlässliche Ge-
staltungsspielräume abstecken.
Anders als die ökonomische Analyse des Rechts annimmt, lässt sich das aber nicht
nur über Effizienz- oder Wohlstandserwägungen organisieren. Wenn es bei Risikoal-

41
Dogmatische Einzelfragen können hier nicht vertieft werden, vgl. aber Weyma Lübbe,
Handeln und Verursachen. Grenzen der Zurechnungsexpansion, in: dies. (Hrsg.), Kausalität
(Fn. 13), S. 223 – 242
42
Gruber, in: Robotik und Gesetzgebung (Fn. 31), S. 123 – 161, hier: 143 f.
43
Gunnar Duttge, § 15 StGB, in: MüKo, 3. Aufl. 2017, Rn. 105 ff.
44
Arthur Pigou, The Economics of Welfare, S. 175 ff.; Coase, Problem of the social Cost,
1 – 44.
45
Zur sozialen Grammatik des Sicherheitsbegriffs in der Moderne Franz-Xaver Kaufmann,
Sicherheit als sozialogisches und sozialpolitisches Problem, 2. Aufl. 1973; mit speziell juris-
tischen Fokus Andreas von Arnauld, Rechtsicherheit, 2006; zum juristischen Konzept des
erlaubten Risikos vgl. die nachfolgenden Erörterungen.
Handeln, Entscheiden, Zurechnen 283

lokation und Zurechnung um Beherrschbarkeitsszenarien geht,46 sind vielmehr zwei


Punkte zu beachten: Zum einen muss den unterschiedlichen Interessen und den Frei-
heitsrechten, Rechnung getragen werden. D. h. Ordnungsvertrauen und verlässliche
Gestaltungsspielräume sind immer schon polyfunktional codiert, insofern sie Erwar-
tungen der Ökonomie, der Industrie und Technologieentwicklung, der Wissenschaft,
Sozialmoral usw. zur Geltung zu bringen haben. Das aber kann zum anderen nicht in
einer Addition partikularer Erwartungshaltungen zum Ausdruck gebracht werden.
Die Akteure beziehen sich mit ihren Haltungen – dazu gehören auch die Präferenzen
des homo oeconomicus – wenigstens implizit auf das zeitbedingte Freiheitsniveau
liberaler Gemeinwesen. Gleichzeitig wirken sie auf dieses ein. Wirtschaft, Recht,
Moral und Wissenschaft, sind uns als Institutionen nicht vorgegeben; wir sind es
als politisch Handelnde, die sie stabilisieren und verändern.

b) „Autonome“ Fahrzeuge und die deontologische Deutung des Rechts

Nirgends konzentrieren sich die eben verhandelten Fragen so massiv, wie in der
Debatte um das sog. „autonome Fahren“ (besser trifft es wohl: vernetzte Fahrzeuge).
Der Straßenverkehr wird geradezu zum Probierfeld für die Innovationsfähigkeit heu-
tiger Netzwerk- und Kommunikationsgesellschaften, für die entsprechende Anpas-
sung der Freiheitsspielräume und der Haftungsregulierung.47 Dem kann hier nicht im
Detail nachgegangen werden. Wir wollen uns auf das Verhältnis von Risikoalloka-
tion und Zurechnung beschränken. Als autonom oder teilautonom gelten technische
Systeme, wenn sie, „dem Sprachgebrauch der Technik folgend, ,unabhängig von
menschlichen Eingaben im Einzelfall‘“ agieren.48 Dieses aus Sicht klassischer Au-
tonomiebegriffe geradezu paradoxe Verständnis zeigt, wie stark sich Wissenschaft
und Gesellschaft von herkömmlichen (philosophischen) Semantiken emanzipieren
und auf diese Weise unsere Lebenswelt beeinflussen. Bei autonomer Fahrzeugtech-
nik läuft das darauf hinaus, dass diese aufgrund einer speziellen Software (Ausbil-
dung künstlicher neuronaler Netze durch sog. deep learning usw.) und ihrer techni-
schen Ausstattung (insbes. Sensortechnik) nicht nur in der Lage sind oder zukünftig
in der Lage sein sollen, die Steuerung im Verkehr zu übernehmen, sondern auch die
Steuerungsmöglichkeiten eigenständig weiterzuentwickeln (sog. Selbstlernfähig-
keit). Welche realen Gefahren beim Einsatz von solchen Fahrzeugen drohen, hat
der tödliche Unfall eines von der Firma Tesla produzierten und in den Verkehr ge-

46
Vgl. Niklas Luhmann, Risiko und Gefahr, in: ders., Soziologische Aufklärung 5. Kon-
struktivistische Perspektiven, 2. Aufl., 1993, S. 131 – 169.
47
Dazu Bernd Oppermann et al. (Hrsg.), Autonomes Fahren: Rechtsfolgen, Rechtspro-
bleme, technische Grundlagen, 2017; vgl. außerdem die Stellungnahme des Ethikrates: Au-
tonome Systeme. Wie intelligente Maschinen uns verändern, http://www.ethikrat.org/veranstal
tungen/jahrestagungen/autonome-systeme.
48
Hilgendorf, Können Roboter schuldhaft handeln?, in: Susanne Beck (Hrsg.), Jenseits
von Mensch und Maschine, 2012, S. 119 – 132.
284 Benno Zabel

brachten Automobils jüngst veranschaulicht.49 Für die Akzeptanz vernetzter Fahr-


zeuge ist es daher unumgänglich, dass die Autohersteller über eine ausgereifte Tech-
nik verfügen. Unumgänglich ist es aber ebenso, die konkreten Sorgfaltspflichten, die
Verantwortungs- und Risikozumutungen festzulegen, auf die sich alle beteiligten
Akteure und die Gesellschaft einstellen müssen.

aa) Einige Bemerkungen zu den Perspektiven der Rechts-


und Strafrechtspolitik

Beschäftigt man sich mit der Frage der Verantwortungszumutung, so ist zu klären,
wem im Falle von Unfällen im Straßenverkehr Rechtsbeeinträchtigungen zugerech-
net werden können oder müssen, etwa dem Hersteller, dem Programmierer oder dem
Fahrer.50 In Konstellationen, in denen eindeutige Mängel identifiziert werden kön-
nen, fehlerhafte Produktion oder mangelhafte Softwareentwicklung, dürfte die Zu-
rechnung keine größeren Probleme bereiten. Ob unter Umständen und mit Blick auf
die Transaktionskosten auch Regulierungen jenseits rechtlicher oder staatlicher In-
tervention denkbar sind, wäre zu überlegen. Die Schwierigkeiten entstehen jeden-
falls dann, wenn, entweder aufgrund der komplexen Technik des Fahrzeugs, die Ver-
antwortungsbereiche nicht mehr präzise abgrenzbar sind oder Kausalitäts- und Ver-
antwortungsbeiträge durch die Selbstlernfähigkeit autonomer Systeme „neutrali-
siert“ werden. Um die damit einhergehenden Unsicherheiten in ein Arrangement
beherrschbarer Risiken überführen zu können, sind verschiedene Szenarien denkbar:
Denkbar sind eine neue Ausgestaltung der Produkt- oder Produzentenhaftung,
eine Halter-Gefährdungshaftung oder an den Stand der Technik angepasste Versiche-
rungslösungen. Aber klar ist ebenso, dass die Risikofolgenabschätzung, einschließ-
lich der Kontroll- und Überwachungspflichten, nicht ins Unermessliche gesteigert
werden kann, will man seitens der Politik und der Gesellschaft vernetzte Fahrzeuge
grundsätzlich ermöglichen; abgesehen davon, dass der Zurechnungszusammenhang
massiv ausgedünnt würde. In Betracht käme darüber hinaus die Konstruktion einer
elektronischen Person mit eingeschränkten Rechten und Pflichten (insofern geht es
dann auch um eine Rechtsfähigkeit von intelligenten Maschinen51). Die Konstruktion
eines solchen Zurechnungsadressaten hätte den Effekt, dass Haftungssummen durch
die beteiligten Akteure – Hersteller, Programmierer, Verkäufer, Fahrer – gebündelt
und Ansprüche, in Gestalt von Schadensersatz, direkt gegenüber der ePerson geltend

49
Vgl. dazu die Stellungnahme des IKEM: http://www.ikem.de/wp-content/uploads/2016/
07/Toedlicher-Tesla-Unfall-Irrtuemer-und-Rechtsfolgen.pdf.
50
Unabhängig von dem hier betrachteten Unfallszenario bei autonomen Fahrzeugen treten
Verantwortungsfragen auch noch in anderen Zusammenhängen auf, man denke nur an den
ubiquitären Zugriff auf persönliche Daten, der für die Nutzung von autonomen Systemen
notwendig ist, zur verfassungsrechtlichen Problematik Udo Di Fabio, Grundrechtsgeltung in
digitalen Systemen, 2016.
51
Umfassend dazu nochmals Gaede (Fn. 38).
Handeln, Entscheiden, Zurechnen 285

gemacht werden könnten.52 Die Drift von einer subjektiven (individualisierten) zu


einer objektivierten Verantwortungszuschreibung ist hier unübersehbar.53

bb) Detailfragen der Zurechnungslehre und Dogmatik

Gerade beim autonomen oder vernetzten Fahren sind Verantwortungs- und Risi-
kozumutung eng miteinander verknüpft. D. h. die technische Umsetzung wirkt sich
direkt auf den Straßenverkehr, auf Beteiligte und Unbeteiligte aus. Aber nicht nur
das: Sie hat auch Konsequenzen für die Verhaltens- und Konfliktdeutungen im Straf-
recht. Beispielhaft lässt sich das an entstehenden Dilemma-Situationen diskutieren.54
Dilemma-Situationen bei der Nutzung von autonomen Fahrzeugen können sich etwa
dann ergeben, wenn sich das Fahrzeug einer Unfallstelle nähert, an der sich mehrere
Schwerverletzte befinden. Das Fahrzeug kann vor dieser Unfallstelle nicht mehr ab-
bremsen. Wie soll der Bordcomputer (Eric Hilgendorf spricht auch von selbsttätigen
Kollisionsvermeidesystemen55) des Fahrzeugs reagieren? Welche Kriterien und
Prinzipien sollen bei eventuell notwendigen Ausweichmanövern gelten, wenn die
Tötung einer bestimmten Zahl von Schwerverletzten unausweichlich erscheint?
Das Problem ist in der Rechtswissenschaft, aber auch in der Rechts- und Moral-
philosophie bekannt, wie wir aus den Debatten um die Weichensteller- und Trolley-
Fälle wissen.56 Mit einer ähnlichen Dilemma-Situation hatte sich das Bundesverfas-
sungsgericht 2006 zu beschäftigen. Dabei ging es um die Frage, ob (entsprechend
§ 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz a.F.) ein mit konfliktunbeteiligten Personen be-
setztes Flugzeug abgeschossen werden darf, wenn es zum Zweck eines terroristi-
schen Angriffs gekapert wurde.57 Die letztgenannten Fälle haben allerdings eine Ge-
meinsamkeit. Sie alle beziehen sich auf das situative Verhaltensdilemma von Men-
schen. In solchen Notstandssituationen hat sich zumindest im deutschen (Straf-)
Recht ein weithin akzeptiertes Beurteilungsmuster herausgeschält. Grundsätzlich
gilt das Prinzip der geringeren Schadenswirkungen. Wenn der Eingriff in die Rechts-
sphären unbeteiligter Dritter nicht vermieden werden kann, dann muss er so gering
52
Einzelheiten bei Susanne Beck, Über Sinn und Unsinn von Statusfragen – zu Vor- und
Nachteilen der Einführung einer elektronischen Person, in: Eric Hilgendorf (Hrsg.), Robotik
und Gesetzgebung, 2012, S. 239 – 260.
53
Soweit ein nachweisbares Fehlverhalten, d. h. vorsätzliche oder fahrlässige Beeinträch-
tigung von Rechtssphären vorliegt, soll es selbstverständlich möglich bleiben, die volle Haf-
tung/Zahlung dem konkreten Verursacher (Produzent, Programmierer, Halter, Fahrer) zu
übertragen.
54
Zur „Dilemma-Debatte“ bei der Nutzung autonomer Fahrzeuge vgl. die Beiträge von Jan
C. Joerden, Frank Schuster, Susanne Beck und Eric Hilgendorf, in: Hilgendorf, Autonome
Systeme und neue Mobilität, passim.
55
Hilgendorf, Autonomes Fahren im Dilemma, in ders. (Fn. 54), S. 143 – 175.
56
Zum Weichensteller etwa Hans Welzel ZStW 63 (1951), S. 47 ff.; zum Trolley-Fall,
Philippa Foot, The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect, in: Oxford Review
5 (1967), 5 – 15.
57
BVerfGE 115, 118 ff.
286 Benno Zabel

wie möglich gehalten werden. Dieses Prinzip wird aber dann als inakzeptabel ange-
sehen, wenn bei der Abwägung von Schadenswirkungen Menschenleben einbezogen
werden oder sogar Verrechnungen von Menschenleben zur Debatte stehen, also eine
Gruppe von zwei Personen gegen eine Gruppe von 10 (oder vielleicht sogar 1.000)
Personen, Jüngere gegen Ältere usw. Denn jedes Menschenleben soll aufgrund seiner
Ausnahmestellung in modernen Rechtsordnungen – seinem individuellen Würdean-
spruch gem. Art. 1 Abs. 1 GG – gerade nicht abwägungsfähig oder aufrechenbar
sein. Weder Quantitäten noch besondere Eigenschaften der (potentiellen) Opfer dür-
fen bei der Konfliktlösung eine Rolle spielen. In der Sache wird damit die Allokation
verhaltensbedingter Schadenswirkungen durch ein deontologisch begründetes Argu-
ment begrenzt. In der Rechtsanwendung hat das zur Folge, dass die unausweichliche
Tötung eines Menschen in Notlagen als rechtswidrig beurteilt wird. § 34 StGB kennt
zwar die gerechtfertigte Gefahrenabwehr. Allerdings nur im Rahmen einer Abwä-
gung widerstreitender Interessen (Leben, Leib, Eigentum usw.), und nur dann,
wenn die Gefahr nicht anders abwendbar war und „das geschützte Interesse das be-
einträchtigte wesentlich überwiegt“; was bei kollidierenden Lebensinteressen gerade
ausgeschlossen sein soll. Das Recht trägt aber der tragischen Ausweglosigkeit und
der psychologischen Ausnahmesituation (Unzumutbarkeit) dadurch Rechnung,
dass sie den Handelnden entschuldigt und so eine Sanktion erspart, was entweder
über die Regelung des entschuldigenden Notstandes, § 35 StGB, oder durch die
Figur des übergesetzlichen Notstandes erreicht werden kann.58
Der Umgang und die juristische Verarbeitung solcher Notstandslagen kennt noch
eine Reihe weiterer Probleme, die hier aber nicht diskutiert zu werden brauchen.59
Für uns ist es wichtig, dass wir das Verhaltensdilemma und die notstandsbezogenen
Unterschiede zwischen Menschen und vernetzten Fahrzeugen identifizieren können.
Der Unterschied besteht einmal darin, dass die Allokation der Schadenswirkungen
resp. Tötungen durch einen Bordcomputer vorgenommen wird, d. h. die Tragik
der Situation zwar objektiv vorliegt, von einer psychologischen Druck- und Ausnah-
mesituation keine Rede sein kann. Und ein zweiter Unterschied ist von Belang: Um
beim autonomen Fahren überhaupt eine Kollisionsvermeidung zu ermöglichen, müs-
sen bestimmte Parameter, wie ein Automobil in bestimmten Konfliktsituationen qua
Bordcomputer reagieren soll, vorab programmiert werden (insofern dürfte allerdings
auch klar sein, dass zu keinem Zeitpunkt alle in der Zukunft denkbaren Verhaltens-
konflikte erfasst werden können). Die zentrale Frage, die sich nun stellt ist, welche
normativen Standards die Kollisionsvermeidesoftware umsetzen sollte, d. h. welche
Risikozumutungen den (potentiellen) Opfern aufgebürdet werden können und wel-
che nicht. Der Lösungsvorschlag, der dafür im Raum steht, ist auch deshalb so radi-

58
Zu der gesamten Debatte, einschließlich der dogmatischen Fragen zu §§ 34 und 35 StGB
siehe etwa Jan C. Joerden, Zum Einsatz von Algorithmen in Notstandslagen. Das Not-
standsdilemma bei selbstfahrenden Kraftfahrzeugen als strafrechtliches Grundlagenproblem,
in: Eric Hilgendorf (Fn. 54), S. 73 – 97 und Armin Engländer, Das selbstfahrende Kraftfahr-
zeug und die Bewältigung dilemmatischer Situationen, ZIS 2016, 608 – 618.
59
Ulfried Neumann, NK-StGB, 5. Aufl., 2017, § 34 Rn. 65 – 105.
Handeln, Entscheiden, Zurechnen 287

kal, weil er die herkömmliche kategorische Prinzipienbindung des Rechts aufbricht –


oder zumindest neu deutet – und hierfür u. a. auf Argumente zurückgreift, die in der
utilitaristischen Ethik, vor allem in der Verhaltensökonomie bzw. der ökonomischen
Analyse des Rechts entwickelt wurden.
Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass die Art und Weise der Verhaltenszurech-
nung und Risikoallokation unter anderen Voraussetzungen stattfindet. Sichtbar wird
das schon daran, so Reinhard Merkel, dass die „Vor-Programmierung“ des Bordcom-
puters sich nicht auf unmittelbare und konkrete Gefährdungslagen, sondern auf ein
hoch abstraktes Risiko bezieht, mit anderen Worten, es wird nur ein möglicherweise
eintretendes Risiko technisch antizipiert.60 Die Pointe dieser Argumentation liegt
darin, dass sie die Frage der Risikozumutung mit dem allgemeinen Interesse der Ge-
sellschaft an einem vernetzten Straßenverkehr verknüpft. Juristisch wird damit der
Gedanke des erlaubten Risikos nutzbar gemacht. Das erlaubte Risiko ist – strafrecht-
lich betrachtet – ein Verantwortungsbegrenzungsgrund.61 Generell betrachtet geht es
darum, gesellschaftlich erwünschte Nutzen- und Wohlstandsoptimierungen im
Recht abzubilden. Das betrifft vor allem die Vorteile, die sich aus einer mobilen
Lebensgestaltung ergeben, weshalb bestimmte Risiken (auch das der Lebensgefähr-
dung) bis zu einem gewissen Grade und Umfang in Kauf genommen werden. Aller-
dings sollten wir nicht übersehen, dass beim „normalen“ Straßenverkehr dieses ab-
strakt erlaubte Risiko situationsspezifisch konkretisiert wird, nämlich – je nach Ent-
scheidungskontext – als sorgfaltsgemäße/sorgfaltswidrige, rechtmäßige/rechtswidrige,
schuldhafte/entschuldigte Verletzungshandlung. Demgegenüber soll es beim „auto-
matisierten Straßenverkehr“ bei einer grundsätzlichen Verantwortungsfreistellung
(des Herstellers, des Programmierers, gegebenenfalls des Fahrzeugnutzers usw.)
bleiben; jedenfalls dann, wenn bei der Systemfertigung der Stand der Technik und
die notwendigen Sorgfaltsanforderungen beachtet wurden und auch sonst keine
Mängel oder Fehler in der Handhabung erkennbar sind.62
Die Konsequenzen sind bemerkenswert: Denn jetzt kann auch in Konstellationen
Leben gegen Leben u. a. grundsätzlich das Kriterium der Schadensminimierung her-
angezogen werden. Das bedeutet nicht, dass Fragen der Risikoallokation beim auto-
nomen Fahren auf reine Effizienz- oder Nutzenoptimierungserwägungen herunter-
gestutzt werden könnten. Das ist schon deshalb ausgeschlossen, weil das erlaubte Ri-
siko als rechtlicher Verantwortungsbegrenzungsgrund keine Nutzen- und Gemein-

60
Reinhard Merkel, in: Stellungnahme des Ethikrates: Autonome Systeme. Wie intelli-
gente Maschinen uns verändern, http://www.ethikrat.org/veranstaltungen/jahrestagungen/auto
nome-systeme.
61
Zu Theorie und Dogmatik des erlaubten Risikos siehe Kristian Kühl, Strafrecht. Allge-
meiner Teil, 7. Aufl., § 4 Rn. 40 ff.; Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil I, 4. Aufl.,
2006, § 11 Rn. 65 ff.; kritisch zu dieser dogmatischen Figur Joachim Renzikowski, in: Matt/
Renzikowski, Kommentar zum StGB, vor § 13 Rn. 102.
62
Zum Ganzen und für zusätzliche Details Eric Hilgendorf, Autonomes Fahren im Di-
lemma, in ders., Autonome Systeme und neue Mobilität, S. 143 ff., kritisch zum Rekurs auf
das erlaubte Risiko Engländer (Fn. 58), 611 f.
288 Benno Zabel

wohloptimierung um jeden Preis legitimiert. Vielmehr müssen Grund und Reich-


weite von Risikozumutungen gerade in demokratischen Gemeinwesen durch gesell-
schaftliche Debatten, Gesetzgebung und die Rechtsanwendung geklärt werden. Dazu
gehört auch eine wissenschaftlich basierte Politikberatung und Technikfolgenab-
schätzung.63 Ins Zentrum, so Eric Hilgendorf, dürften hierbei weitgehend objektive
und nachprüfbare Kriterien rücken, etwa die Höhe der erwarteten Schäden, deren
Eintrittswahrscheinlichkeit, die Frage, ob es sich um reversible Schäden handelt,
oder Formen effektiver Schadensprävention. Hilgendorf will den rechtstheoretischen
und dogmatischen Problemen, die durch diese Deutung der Konfliktkonstellation
entstehen, mit der Idee einer Abstufung im Unrecht begegnen. „Die Tötung jedes Un-
schuldigen bleibt ein Unrecht und kann nicht gerechtfertigt werden. Es ist aber eine
Stufung im Unrecht vorzunehmen, die vorschreibt, so wenig unschuldige Leben zu
gefährden oder gar zu vernichten wie möglich.“64 Mit dieser Lösung wird den (po-
tentiell) Betroffenen zwar ein Abwehrrecht eingeräumt, das sie berechtigt, das Fahr-
zeug zu zerstören oder in anderer Weise zum Stillstand zu bringen. Im Gegenzug
werden aber Eingriffsrechte Dritter statuiert, die die „aktiv gesteuerte“ Tötung Un-
schuldiger unter bestimmen Bedingungen (und auch ohne die Einschränkungen des
§ 35 StGB) straflos stellen.
Hilgendorf differenziert seine Lösung weiter aus und versucht sie an verschiede-
nen Konfliktkonstellationen zu testen.65 Darauf braucht vorliegend nicht eingegan-
gen zu werden. Denn bei allen Differenzierungen steht eine Prämisse im Vorder-
grund: die pragmatische Entkopplung von Verhalten, Entscheidung und Schuldvor-
wurf oder anders gesprochen, die Umstellung von der Zurechnungs- auf die Entschei-
dungstheorie. Die Entscheidungstheorie, so wie wir sie aus der utilitaristischen Ethik
und der ökonomischen Analyse kennen, setzt nicht an einem Verhaltensschema an,
das eine Handlungs- oder Unterlassungspflicht mit kategorisch bestimmten (Grund-)
Rechten ins Verhältnis setzt. Sie aggregiert vielmehr individuelle Rechte und indi-
viduelle Pflichten und generiert daraus ein Entscheidungs- oder Abwägungskalkül.
Das ist aber etwas ganz anderes. Möglich wird das überhaupt erst dadurch, weil der
theoretische Fokus auf den Konflikt radikal verändert wird. Denn dadurch, dass me-
thodisch, dogmatisch und in der praktischen Rechtsanwendung die Antizipation des
Konflikts und der Konfliktregulierung eingerechnet werden muss – es ließe sich auch
von einer „technologischen Verdopplung“ der Konfliktsituation sprechen –, können
nun auch die Allokation von (abstrakten/erlaubten) Risiken, die Frage der ausge-
schlossenen/zulässigen Abwägung, aber auch die Voraussetzungen des konkreten
Schuldvorwurfes neu oder anders diskutiert werden.

63
Dazu Christoph Hubig, Die Kunst des Möglichen. Die Macht der Technik, Bd. 3, 2015;
Armin Grunwald, Technik und Politikberatung. Philosophische Perspektiven, 2008.
64
Hilgendorf, Autonomes Fahren im Dilemma, in: ders., Autonome Systeme und neue
Mobilität, S. 155.
65
Hilgendorf (Fn. 64), S. 156 ff.
Handeln, Entscheiden, Zurechnen 289

Auf dieses Problem- und Spannungsfeld haben bereits Alexander Hevelke/Julian


Nida-Rümelin in ihrem moralphilosophisch orientierten Aufsatz hingewiesen.66 Die
Autoren betonen, dass die „eigentliche“ Entscheidung nicht in der realen Konflikt-
situation, sondern zum Zeitpunkt der Programmierung, d. h. der hypothetisch vorge-
stellten Konfliktkonstellationen fällt. Im Unterschied zu den klassischen Trolley-
oder Weichensteller-Fällen
„steht die Identität von Opfer wie auch von Geretteten zum Zeitpunkt der Entscheidung noch
nicht fest. Dies macht aus deontologischer Sicht insofern einen Unterschied, als man bei
moralischer Betrachtung … einen Unterschied von dem Wissen zum Zeitpunkt der Ent-
scheidung und Handlung ausgehen muss und nicht von Informationen, die erst im Nachhin-
ein zugänglich sind“.67 Die rationale Entscheidung weise daher den maximalen Erwartungs-
wert bzgl. der Interessen der handelnden Personen auf – und zwar zum Zeitpunkt der Ent-
scheidung. Daraus folge aber, so die Autoren weiter, „dass eine auf Minimierung der Opfer
ausgelegte Programmierung durchaus im Interesse jedes Einzelnen sein kann – nämlich
genau dann, wenn diese Programmierung das Risiko eines jeden reduziert bzw. minimiert.
Dies gilt auch für den Unglücklichen, der schlussendlich doch überfahren wird. Solange die
Programmierung – also die eigentliche Handlung – für ihn die Risiken in gleicher Weise
minimierte wie für alle anderen, war sie in gleicher Weise in seinem Interesse“.68

Worauf Hevelke/Nida-Rümelin aufmerksam machen, ist, dass der Einsatz intel-


ligenter Technik unsere herkömmliche deontologische Deutung des Rechts irritiert
und dass wir die Potentiale und Risiken zumindest zur Kenntnis nehmen sollten. Dass
die Autoren hier zunächst den Fall der Gesetzgebung im Auge haben, ändert daran
nichts.69 Denn wir können sehen, dass uns die Problemanalyse auch für die konkreten
voneinander abweichenden Konflikt- und Entscheidungssituationen sensibilisieren
will. Zwar haben wir es bei beiden Konstellationen mit gleichen normativ-gesetzli-
chen Ausgangssituationen zu tun, Verletzung des Tötungsverbots, Vorgaben für
eventuelle Rechtfertigungen oder Entschuldigungen. Aber darauf kommt es nicht al-
lein an. Zu beachten ist vielmehr die unterschiedliche Aktualisierung, d. h. das Wie
der Entscheidung durch die Akteure sowie die entsprechende Beurteilung. In den
Trolley-Fällen (oder in den Fällen, in denen der Fahrer das Auto auch steuert) ist
dies das situationsbedingte Verletzungsverhalten des Menschen. Dieses Verletzungs-
oder Tötungsverhalten ist aber nicht nur der faktische Nachvollzug einer normativen
und jede Wahl vorherbestimmenden Regel. Vielmehr ist die Tötung von individua-
lisierten Opfern selbst ein normativ gestaltender und kommunikativer Akt (genauso
wie wir faktisch sprechen können und damit verschiedenartige Verpflichtungen ein-
gehen). Und als solcher ist er juristisch überhaupt interessant. Insofern sind der
Schuldvorwurf/der Zurechnungsausschluss nichts, was sich im Verfahren durch rich-

66
Alexander Hevelke/Julian Nida-Rümelin, Selbstfahrende Autos und Trolley-Probleme.
Zum Aufrechnen von Menschenleben im Falle unausweichlicher Unfälle, in: Jahrbuch für
Wissenschaft und Ethik, Bd. 19 (2015), S. 5 – 23.
67
Hevelke/Nida-Rümelin (Fn. 66), S. 11.
68
Ebenda.
69
Anders Joerden (Fn. 58), S. 85 Fn. 19 und Engländer (Fn. 58), 613.
290 Benno Zabel

terliche Introspektion oder durch sonstiges Herausdeuten subjektiven Wissens fest-


stellen lässt. Schuldbeurteilungen sind professionelle Zuschreibungen, die allerdings
auf der Basis gemeinsam geteilter Rechtsbegriffe erfolgen. Die Dogmatik spricht von
der zurechnungsfähigen Person und transferiert so gesellschaftliche Vorstellungen
von frei/unfrei, rational/irrational usw. mit Hilfe von Normen in das entsprechende
Zurechnungskonzept.70 Insofern können im Verfahren – und vor allem durch den Be-
schuldigten – mentale Zustände, Unzumutbarkeitserfahrungen usw. vorgebracht
werden, um das individuelle Handeln oder den Konflikt zu erklären; und gerade
bei Dilemma-Konstellationen wird das der Fall sein. Entscheidend für die Frage
der Zurechnung/der Entschuldigung oder des Schuldvorwurfes ist aber letztlich,
ob das erkennende Gericht bereit ist, dem Beschuldigten zuzugestehen, dass er
die entsprechenden (psychischen) Zustände, Unzumutbarkeitserfahrungen usw. im
Konfliktfall auch haben konnte, dass also die konkrete Verhaltensmotivation als Ent-
schuldigungsgrund rekonstruierbar ist.
Das Verhaltensschema und die Dilemma-Situation „funktionieren“ beim vernetz-
ten Fahren offensichtlich anders: Hier erfolgt die Aktualisierung nun tatsächlich da-
durch, dass ein Kollisionsvermeidungssystem eine vorab getroffene normative Ent-
scheidung (resp. eine damit verknüpfte Verhaltensregelung) technisch umsetzt und
auf diese Weise die erwartete aggregierte Verletzungsminimierung operationalisiert.
Die Auswahl von zu Rettenden und zu Opfernden erfolgt dann im Wege eines algo-
rithmisierten Kalküls und auf der Basis einer hypothetisch fairen Risikoverteilung.
Nach Gründen für das konkrete Verhalten zu fragen, macht nur Sinn, soweit man die
normativ ansprechbaren Akteure einbezieht, in erster Linie Hersteller, Programmie-
rer usw. Aber auch wenn man das tut, sieht man, dass das klassische Zurechnungs-
modell partiell verabschiedet wird. Dass Hilgendorf mit dem Konzept einer Abstu-
fung im Unrecht arbeitet (s. o.), ist daher konsequent. Gleichzeitig werden aber auch
die Probleme sichtbar. Das erste betrifft die rechtsethische Verknüpfung von katego-
rischem Lebensschutz und hypothetisch fairer Risikoverteilung. Denn die Entschul-
digung beruht hier letztlich darauf, dass nicht mehr auf die konkret mögliche, son-
dern nur auf die theoretisch erwartbare Rettung abgestellt wird (und es erscheint frag-
lich, ob § 35 StGB auch eine solche Relativierung regelt). Dieser Erwartungswert
einer theoretisch kalkulierten Rettung verweist aber auf nichts anderes als auf
eine überindividuelle Güter- und Präferenzoptimierung.71 Wir können mit anderen
Worten sehen, wie die Idee des Gattungsindividuums („Jedes Menschenleben
zählt!“) mit der Annahme des konkreten Opferindividuums („Wenn schon Unschul-
dige sterben müssen, dann so wenig wie möglich.“) verschmolzen wird.72 Die Zu-
rechnung nimmt damit die bereits erwähnte allokative Entscheidungslogik an.

70
Siehe bereits die Erörterungen unter II.1.
71
Zu den Voraussetzungen einer solchen überindividuellen Güter- und Präferenzoptimie-
rung vgl. auch die Überlegungen II.2.
72
Beide Zitate bei Hilgendorf (Fn. 64), S. 155.
Handeln, Entscheiden, Zurechnen 291

Es betrifft zweitens aber auch die technische Operationalisierung des konkreten


Konflikts. Hilgendorf macht auf die Problematik der Algorithmensteuerung vernetz-
ter Fahrzeuge eigens aufmerksam. Selbst wenn man also die Umstellung von Zurech-
nungslehre auf Entscheidungstheorie akzeptiert, bleibt die Frage, ob in den Dilem-
ma-Situationen eine faire Risikoverteilung überhaupt möglich ist.73 Konstatieren
muss man jedenfalls, dass die Abwägungs- und Quantifizierungsregime nicht nur
enorm vielgestaltig, sondern auch hoch komplex sein können.74 So verschwindet hin-
ter der Rede von einer unvermeidlichen Verletzungsminimierung, Quantifizierung
usw. schnell die Einsicht, dass es ein großes (potentielles) Opferspektrum gibt,
das in die programmierte Präferenzbeurteilung einzubeziehen ist: Frauen, Männer,
Kinder, junge und alte Menschen, mobilitätseingeschränkte Akteure, erfahrene und
nicht erfahrene Personen, daneben unterschiedliche Verkehrsteilnehmer (motorisier-
te Teilnehmer, Fahrradfahrer, Fußgänger), zu bedenken ist der Umgang mit (poten-
tiellen) Opfergruppen und Verletzungsgraden; schließlich das Problem verkehrswid-
rigen Handelns und die daraus erwachsenen Konsequenzen. Damit soll nicht gesagt
werden, dass vernetzte Fahrzeuge eine größere Gefahr als nicht vernetzte darstellen.
Genauso wenig ist damit eine Güter- und Präferenzoptimierung im Bereich des Le-
bensschutzes per se vom Tisch. Dennoch muss man vielleicht stärker als Hilgendorf
betonen, dass mit dem Modell der Entscheidungstheorie (oder einer hybriden Zu-
rechnungslehre) ein Denken im Strafrecht „normalisiert“ wird, das seine Ursprünge
im Utilitarismus und der ökonomischen Analyse hat.
Diese Normalisierung sollte nicht perhorresziert werden. Die strafrechtliche
Grundlagendiskussion sollte jedoch hervorheben, dass die gesellschaftlich er-
wünschte Technisierung ganzer Lebensbereiche (einschließlich des Straßenver-
kehrs) im Recht und zumal im Strafrecht Spuren hinterlassen wird; und sei es
eben die Ausweitung des Abwägungs- bzw. Schadensminimierungsregimes. Wenn
diese Ausweitung grundsätzlich akzeptiert wird, dann kann sie allerdings nicht
auf das vernetzte Fahren beschränkt werden. Das Regime müsste allgemeine Geltung
haben.
Klar dürfte allerdings sein, dass die Grenzen einer Präferenzoptimierung (durch
Interessenabwägung) dort liegen müssen, wo das Recht seine eigenen Autonomie-
und Freiheitsgewährleistungen unterlaufen würde. D. h. Zurechnung und Zurech-
nungsausschluss, Schuld und Verantwortungsfreistellung können nur auf faire Risi-
koverteilung und (abstrakte) Schadensminimierung umgestellt werden, wenn es eine
allgemeine Anerkennung dieser Risiken gibt; wenn also diese Risiken – hier durch
den Einsatz intelligenter Technik im Straßenverkehr – als Teil der rechtlichen Frei-
heitsannahme reformulierbar sind.

73
Hilgendorf (Fn. 64), S. 170 ff.
74
Hevelke/Nida-Rümelin (Fn. 66), S. 13 ff.
292 Benno Zabel

IV. Müssen wir Zurechnung, Schuld und Verantwortung


neu denken?
1. Zusammenfassung der Überlegungen
a) Der Einsatz intelligenter Technik, so im Rahmen des vernetzten (autonomen)
Fahrens, verunsichert nicht nur ganze Gesellschaften. Er stellt auch das straf-
rechtliche Zurechnungsregime und die gängige Notstandsdogmatik vor erhebli-
che Herausforderungen.
b) Allgemein gilt: Vernetztes Fahren macht deutlich, dass hier ganz grundsätzlich
die deontologische Deutung des Rechts, die kategorische Begründung von indi-
viduellen Freiheitspositionen, zur Debatte steht.
c) D. h.: In dem Maße, in dem unvermeidliche Notstandskonflikte normativ antizi-
piert und technisch auf ein faires Risikoverteilungsmanagement umgestellt wer-
den, wird das Zurechnungsregime mit einer entscheidungstheoretischen Logik
kurzgeschlossen.
d) Die Verschmelzung von Zurechnungs- und Entscheidungstheorie führt metho-
disch zu einer Aggregation von Rechten und Pflichten und ermöglicht auf
diese Weise die Abwägung und Quantifizierung von Lebensrisiken über den bis-
her eng gesetzten Rahmen hinaus.
e) Strafrechtstheorie und Dogmatik sollten diese Szenarien nicht perhorreszieren,
aber dennoch diskutieren, inwieweit Kalküle der (ökonomisch-utilitaristischen)
Präferenzoptimierung Eingang in das normative Selbstverständnis von Gesell-
schaft und Wissenschaft finden sollten.
f) Klar ist jedenfalls: Wenn diese Ausweitung grundsätzlich (gesetzlich und dogma-
tisch) akzeptiert wird, dann kann sie nicht auf das vernetzte Fahren beschränkt
werden. Das Regime müsste allgemeine Geltung haben.

2. Benötigt die „digitalisierte“ Gesellschaft einen neuen Zurechnungs-,


Schuld- und Verantwortungsbegriff?
a) Zurechnung und Verantwortung sind dynamische, d. h. veränderliche und gesell-
schaftsfunktionale Begriffe.
b) Zurechnungs- und Verantwortungsmodelle können deshalb mit Blick auf die Le-
bens- und Sozialverhältnisse neu konzipiert oder angepasst werden (man denke
auch an die Kontroversen um mögliche Unternehmenssanktionen etc.).
c) Solche Modelle sollten aber auch beim Einsatz von intelligenter Technik/Kolli-
sionsvermeidesystemen die Rechts- und Statuspositionen des Einzelnen nicht
überspielen.
Handeln, Entscheiden, Zurechnen 293

d) Die Grenzen einer Präferenzoptimierung (durch Interessenabwägung) liegen


dort, wo das Recht seine eigenen Autonomie- und Freiheitsgewährleistungen un-
terläuft.
e) D. h.: Autonomie- und Freiheitsspielräume müssen auch in „digitalisierten“ Ge-
sellschaften und beim vernetzten Fahren als Rechtsverhältnisse gedacht werden.
f) In unvermeidlichen Notstandslagen werden diese Rechtsverhältnisse indes par-
tiell außer Kraft gesetzt.
g) Zurechnung und Zurechnungsausschluss, Schuld und Verantwortungsfreistel-
lung können aber nur auf faire Risikoverteilung und (abstrakte) Schadensmini-
mierung umgestellt werden, wenn es eine allgemeine Anerkennung dieser Risi-
ken gibt; d. h. die Risiken – hier durch den Einsatz intelligenter Technik im Stra-
ßenverkehr – selbst Teil der rechtlichen Freiheitsannahme geworden sind.
Vom Leid und Eigeninteresse künstlicher Rechtsträger:
Juristische Personen als moralische Subjekte?
Von Till Zimmermann

I. Vorrede
Abgesehen von meinen unmittelbaren akademischen Lehrern (Armin Engländer
und Urs Kindhäuser), gibt es niemanden, von dem ich so viel über das Strafrecht ge-
lernt habe wie von Reinhard Merkel. Seitdem ich als Doktorand mit seinen Schriften
in Berührung gekommen bin,1 bewundere ich an seinem wissenschaftlichen Werk
vor allem drei Dinge:
Erstens spannt sich sein Œuvre über eine ungewöhnliche Breite von besonders
komplexen Themengebieten. Merkel befasst sich auf philosophisch gründlich infor-
mierte Weise mit den besonders vertrackten Wirrnissen des AT (etwa auf dem Gebiet
der Kausalität,2 der Schuld,3 der Notrechte4 und des Versuchs;5 auch gebührt ihm das
Verdienst, als Erster das dogmatische Potential des Katzenkönig-Falls erkannt zu
haben6); zugleich hat er sowohl auf dem Gebiet der Bio-Ethik7 als auch in dem Be-

1
Da Merkel als Autor didaktischer Ausbildungsliteratur nicht in Erscheinung tritt, ist sein
Werk bei Studierenden leider wenig bekannt. Von seinen Fähigkeiten im Hörsaal berichtet
aber ein Spiegel-Online-Artikel (C. Schmidt, 19. 9. 2012, „Nichts für Lerner, was für Den-
ker“), wo von einem „Star-Professor“ und „Vorlesungen der Spitzenklasse“ die Rede ist.
2
S. Merkel, FS Puppe, 2011, 151 ff. sowie das Fragment in ders., Zaungäste?, in: Institut
für Kriminalwissenschaften Frankfurt a.M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Straf-
rechts, 1995, 171 Fn. 1.
3
Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 1. Aufl. 2008; ders., FS Philipps, 2005,
411 ff.
4
Merkel, JZ 2007, 373 ff. (zum LuftSiG); ders., FS Jakobs, 2007, 375 ff. (zur Rettungs-
folter).
5
Merkel, ZIS 2014, 565 ff.
6
Merkel, Die Zeit 39/1988 („Der Katzenkönig vom Möhnesee“); 5/1989 („Hilflos: das
Gericht“).
7
Besonders zu erwähnen sind neben seiner Habilitation zum Problem der Früheuthanasie
(2001; dazu auch JZ 1996, 1145) Merkels Beiträge zum Hirntodkriterium (Jura 1999, 113),
zur Sterbehilfe (vor allem in: Hegselmann/Merkel [Hrsg.], Zur Debatte über Euthanasie, 1991,
71), zum Behandlungsabbruch bei Wachkoma-Patienten (ZStW 1995, 545), zur Embryonen-
forschung (insbes. Forschungsobjekt Embryo, 2002 und in FS Müller-Dietz, 2001, 493), zum
Schwangerschaftsabbruch (Kommentierung der §§ 218 – 219b in: NK-StGB, 5. Aufl. 2017)
296 Till Zimmermann

reich der Völker(straf)rechts-Ethik8 mehr Pionierarbeit geleistet, als es ansonsten al-


lenfalls einer ganzen Juristengeneration hätte gelingen können. Besonders hervorste-
chend ist, zweitens, Merkels Weitsicht über den juristischen Tellerrand hinaus, sein
Mut zum exotischen Gedankenexperiment,9 zur unkonventionellen Frage10 und zu
einem (politisch) unpopulären Ergebnis;11 sein Plädoyer zum Gedankenaustausch
der deutschen Strafrechtswissenschaft mit der modernen Rechtsphilosophie auch
jenseits von Kant und Hegel12 habe ich seit dessen Lektüre zu beherzigen versucht.
Hervorzuheben ist, drittens, Merkels unnachahmliche Sprachästhetik. Gelernt habe
ich von Merkel schließlich auch, dass es keine Schande ist, in einem Fachaufsatz die
eigene Ratlosigkeit einzugestehen.13

II. Reinhard Merkel und der normative Individualismus


Trotz der thematischen Bandbreite seines Werks kann man zumindest in den
rechtsethisch geprägten Beiträgen des Jubilars so etwas wie einen roten Faden erken-
nen: Das Bekenntnis zu einem normativen Individualismus. Gemeint ist damit eine
analytische Methode der Normlegitimation, die danach fragt, ob sich eine Regelung
ausgehend von den Belangen der einzelnen Normunterworfenen begründen lässt.14
Merkel selbst nutzt den Begriff „normativer Individualismus“, soweit ich sehe, nicht.

und zur Trennung Siamesischer Zwillinge (in: Roxin/Schroth [Hrsg.], Handbuch des Medi-
zinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, 603).
8
Als besonders eindrucksvoll empfunden habe ich Merkels Schriften über die rechtsethi-
schen Grundlagen der Nürnberger Prozesse (Rechtshistorisches Journal 14 [1995], 491), zu
den Notrechten im Völkerstrafecht (ZStW 2002, 437), zur Ethik humanitärer Interventionen
(in: Merkel [Hrsg.], Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht, 2000, 66 sowie ZIS 2011, 771
[zur Libyen-Intervention]) und des ius ad bellum internum (FAZ-online v. 2. 8. 2013: „Syrien –
Der Westen ist schuldig“) sowie über die moralische Vertretbarkeit sog. Kollateraltötungen im
Krieg (JZ 2012, 1137).
9
Merkel betont, dass Gedankenexperimente „nicht die Welt, sondern die Struktur von
Problemen abbilden sollen“, s. Zaungäste? (Fn. 2), 171, 193 Fn. 69; Früheuthanasie (Fn. 7),
S. 215 Fn. 239 u. S. 469 Fn. 164) – und behandelt daher auch rechtsethische Probleme von
„Kopftransplantationen“ (beiläufig in Jura 1999, 113, 117 f., umfänglich in FS Neumann,
2017, 1133) oder die Frage nach der Menschenwürde von Mumien (Forschungsobjekt [Fn. 7],
S. 41 Fn. 42).
10
Man vgl. die Einleitung in Merkel, ZIS 2014, 565 („blöde Frage“) und die Anm. zu
„skandalösen Fragen“ in Forschungsobjekt (Fn. 7), S. 133 Fn. 176.
11
Gemeint sind z. B. Merkels Positionen zur Krim-Annexion (die in seinen Augen keine
war – FAZ-online v. 8. 4. 2014: „Kühle Ironie der Geschichte“) oder zur fehlenden ethischen
Legitimation der Knabenbeschneidungsbefugnis (SZ-online v. 30. 8. 2012: „Die Haut eines
Anderen“; dort als ein „jüdisch-muslimisches Sonderrecht“ und „Sündenfall des Rechtsstaats“
bezeichnet).
12
Merkel, Zaungäste? (Fn. 2).
13
Vgl. Merkel, Siamesische Zwillinge (Fn. 7), 603, 638; ders., Zaungäste? (Fn. 2), 171,
196.
14
Dazu etwa v.d. Pfordten, JZ 2005, 1069.
Vom Leid und Eigeninteresse künstlicher Rechtsträger 297

Auch ist er keineswegs auf einzelne prominente rechtsphilosophische Blaupausen


festgelegt; vielmehr integriert er das Gedankengerüst des normativen Individualis-
mus in seinen Werken in unterschiedlicher moralphilosophischer Ausprägung,
etwa unter Rückgriff auf Kant, Rawls’ Gerechtigkeitstheorie oder utilitaristisch ge-
prägte Autoren wie Singer. Immer wieder greift Merkel aber auf einen Zentralbegriff
des normativen Individualismus zurück: Denjenigen des (Individual-)Interesses.
Damit gibt Merkel sich als Anhänger einer Spielart der Interessentheorie zu erken-
nen, also eines Normbegründungsmodells, das im Ausgangspunkt auf die realen In-
teressen echter Lebewesen abstellt.15 Wie weit bzw. wie konsequent Merkel diese im
Kern subjektive Art der (ethischen) Normbegründung mitzutragen bereit ist, hat er
nach meiner Einschätzung zwar nie zur Gänze offen gelegt.16 Eindeutig sagt er
aber jedenfalls, dass die (rechts-)ethische Legitimität einer Norm im Prinzip eine
Übereinstimmung mit den Interessen der normunterworfenen Individuen voraus-
setzt.
Worauf es mir im Folgenden ankommt, ist Merkels Verständnis des Interessenbe-
griffs als Grundbaustein einer ethischen Normordnung. Er versteht diesen Zentral-
begriff nicht in einem „wolkigen“, abstrakt-normativen Sinne (wie er häufig im Kon-
text der Rechtsgutsdebatte oder bei der Auslegung von § 34 S. 1 StGB anzutreffen
ist), sondern ganz konkret im Sinne des Wunsches eines empfindungsfähigen Wesens
nach einem bestimmten Weltzustand. Wesentliche Voraussetzung des so verstande-
nen Interessenbegriffs ist, dass das Interesse auch einem die etwaige Interessenfrus-
tration erlebenden Inhaber zugeordnet werden kann (sog. „Erfahrbarkeitsbedin-
gung“17). Denn, wie Merkel sagt: „[E]in Interesse, das nicht ,gehabt‘ werden
kann, ist keines.“18 Eine elaborierte Variante dieses von Nelson,19 Tooley20 und Fein-
berg21 inspirierten Gedankens – also sozusagen der Volltext dessen, was Merkel unter
15
Präzise interessentheoretische Skizzen finden sich bei Engländer, JuS 2002, 535;
Hoerster, JZ 1982, 265; Stemmer, ZPhF 58 (2004), 483. Merkel gebraucht den Begriff Inter-
essentheorie in seiner Dissertation (Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus, 1994,
S. 305).
16
Klärungsbedürftig ist insbes., ob eine konsequent interessentheoretische Normbegrün-
dung mit dem Postulat absolut-universaler („objektiver“) ethischer Richtigkeit vereinbar ist,
d. h. jede Regel – auch solche zur Auflösung vermeintlich unauflösbarer Dilemmata (z. B. bei
Rettungstötungs-Szenarien) – dem Test einer radikalen Verallgemeinerbarkeit standhalten
können muss. Während dies bspw. vom Autor dieser Zeilen verneint wird (Zimmermann, JZ
2014, 388, 389 f.), scheint Merkel eher vom Gegenteil auszugehen (vgl. Kosovo-Krieg [Fn. 8],
66, 90). Eindeutig jedenfalls Elpel, Widerstandsrecht, 2017, S. 566 ff., die meine Position in
ihrer von Merkel betreuten Dissertation als „absurd“ (a.a.O., S. 570) zurückweist.
17
Begriff nach Merkel, Früheuthanasie (Fn. 7), S. 447.
18
Merkel, Sterbehilfe (Fn. 7), S. 99. Ähnlich ders., Früheuthanasie (Fn. 7), S. 446; ders.,
FS Müller-Dietz, 493, 509; Hoerster, JuS 2003, 529, 531 f.
19
Nelson, Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik, Bd. 1, 1917, §§ 93 (S. 144 – 146),
167 – 170 (S. 344 ff.).
20
Tooley, Philosophy and Public Affairs 2 (1972), 37; ders., Abortion and Infanticide,
1983, S. 110 ff.
21
Feinberg, in: ders. (Hrsg.), Rights, Justice and the Bounds of Liberty, 1980, 159.
298 Till Zimmermann

einem ethisch relevanten Interesse versteht –, findet sich in seinem Buch „For-
schungsobjekt Embryo“. Da ich diese Passage für die zentrale Annahme schlechthin
im bio-ethischen Teil des Merkel’schen Werkes halte, sei ein Zitat in (fast) voller
Länge gestattet:
„Ich habe […] keinen Zweifel, daß der [folgende, T.Z.] Ausgangspunkt […] zur Begründung
moralischer Normen richtig und notwendig ist: die Bindung dessen, was Moral überhaupt
will und soll, an irgendeine Form der Subjektivität derer, die in den Schutzbereich unserer
moralischen Normen einbezogen sind oder einzubeziehen wären.
Das hat […] folgenden Grund: Der Begriff eines subjektiv moralischen Rechts […] ist ana-
lytisch, also zwingend, mit dem des Schutzes verknüpft. Denn das genau ist es, wozu sub-
jektive Rechte da sind: Schutz zu gewähren. ,Schutz‘ wiederum ist, ebenfalls analytisch, mit
dem Begriff der Verletzung (im weitesten Sinne) verknüpft. Denn das genau ist es, wogegen
Schutz gewährt werden soll. Verletzung setzt aber, zum drittenmal analytisch, die Verletz-
barkeit des Wesens, das gegen Verletzung geschützt werden soll, voraus. Wer in bestimmter
Hinsicht nicht verletzbar ist, der kann, trivialerweise, in eben dieser Hinsicht nicht verletzt
werden. Es hätte daher schon begrifflich keinen Sinn, ihm insofern ein subjektives Schutz-
recht zuzuschreiben, also Schutz gegen eine Verletzung, die ihm nicht angetan werden kann.
Der hier vorausgesetzte Begriff der Verletzbarkeit meint: subjektiv verletzbar. Denn nur in
dieser Bedeutung ist er moralisch relevant. Rein objektiv beschädigen kann man auch leb-
lose Gegenstände. Das ist zwar grundsätzlich gegenüber deren Inhabern, möglicherweise
auch gegenüber Dritten, aber nicht gegenüber den Gegenständen selbst eine moralisch be-
deutsame Handlung. […] Subjektiv verletzbar im moralisch bedeutsamen Sinne ist ein
Wesen nur dann, wenn es für dieses Wesen selbst einen Unterschied ausmacht, wie mit
ihm verfahren wird. Daraus erst kann für andere eine Pflicht entstehen, es um seiner selbst
willen moralisch zu respektieren.
Subjektive Verletzbarkeit setzt aber, und wiederum analytisch, die subjektive Erlebensfä-
higkeit des verletzbaren Wesens voraus. Denn diese konstituiert als notwendige Minimal-
bedingung den Begriff der Subjektivität. Ein Wesen, das schlechterdings nichts erleben kann
[…], ist subjektiv nicht verletzbar. Denn ein solches Wesen hat keine Subjektivität; es gibt
nichts Subjektives in seiner Existenz. Anders gewendet: ein solches Wesen kann man nicht
,um seiner selbst willen‘ moralisch berücksichtigen, auch wenn man dies wollte. Denn das
hieße: es um seines eigenen ,Wohls und Wehes‘ willen berücksichtigen. Da es aber kein sol-
ches eigenes Wohl und Wehe hat, weil es überhaupt nichts, also auch nicht Wohl und Wehe
erleben kann, kann es nicht Gegenstand einer moralischen Berücksichtigung um seiner
selbst willen sein. […]
Einem Wesen, das nicht verletzt werden kann, ein subjektives Recht gegen Verletzungen
zuzuschreiben, […] wäre auch nicht legitimierbar. Denn subjektive Rechte beinhalten
stets die Pflicht aller anderen, sie zu beachten. Sie erzwingen also für alle anderen eine Frei-
heitseinschränkung. Da aber diese als Schutz für den ,Rechtsinhaber‘ keinerlei Sinn haben
kann, ist sie jedenfalls nicht als ein solcher Schutz […] legitimierbar.“22

22
Merkel, Forschungsobjekt (Fn. 7), S. 134 – 139. Knappere Formulierungen finden sich
bei ders., Früheuthanasie (Fn. 7), S. 441 – 448; ders., FS Müller-Dietz, 493, 508 f.; ders.,
DRiZ 2002, 184, 190 f.; ders., JZ 1996, 1145, 1152. Eine frühe Fassung des Gedankens ist
bereits in Satire (Fn. 15), S. 332 enthalten.
Vom Leid und Eigeninteresse künstlicher Rechtsträger 299

Konkret geht es Merkel in dem zitierten Text darum, gegen ein Lebensgrundrecht
(früher) Embryonen zu argumentieren. Man kann daraus aber, wie auch Merkel selbst
andeutet,23 ohne Weiteres extrapolieren, dass als Träger sämtlicher subjektiver (mo-
ralischer) Rechte ausschließlich natürliche Personen in Betracht kommen.24 Hält
man diese Annahme für richtig (was ich tue), so hat dies – dem Slogan „Trennung
von Recht und Moral“ zum Trotz25 – unmittelbare Auswirkungen auch auf das De-
sign eines legitimen Strafrechts: Geht man nämlich davon aus, dass dieses dem
Schutz von Rechtsgütern dient,26 und ferner, dass Rechtsgüter ihrerseits aus dem
Rohstoff moralisch relevanter Rechte bzw. Interessen konstruiert sein müssen, so
landet man schließlich bei der Formel, dass eine legitime Strafnorm stets auf die In-
teressen natürlicher Personen zurückführbar sein muss („Interessenbindung der
Rechtsgüter“27). Das entspricht recht genau Hassemers personaler Rechtsgutslehre.28
Dennoch erschöpft sich der Wert des hier verhandelten Merkel-Gedankens nicht in
einer anschaulichen Reformulierung besagter Rechtsgutslehre. Denn jener ist, im
Unterschied zu dieser, vom analytischen Zugriff her stark an der anglo-amerikani-
schen harm principle-Doktrin orientiert und damit viel besser zur rechtsethischen Se-
zierung konkreter Detailprobleme geeignet.29
Im Folgenden unternehme ich den Versuch, das Merkel’sche Verständnis mora-
lisch relevanter Interessen für zwei zentrale Probleme des Wirtschaftsstrafrechts30
fruchtbar zu machen. Dabei geht es um die Frage, inwieweit bei der Begründung
strafrechtlicher Vorschriften mit einem Eigeninteresse juristischer Personen bzw.
deren Verletzbarkeit argumentiert werden kann. Nach einigen Grundüberlegungen

23
Früheuthanasie (Fn. 7), S. 440 und 444.
24
Wie weit der normative Begriff der (moralisch relevanten) natürlichen Person reicht, ist
in den Grenzbereichen natürlich streitig. Merkel will bspw. Embryonen ab einem Alter von 20
Wochen einbeziehen (Früheuthanasie [Fn. 7], S. 461 f.; krit. dazu Birnbacher, ARSP 87
[2001], 587, 590), ferner intelligente Außerirdische (Früheuthanasie [Fn. 7], S. 469) und wohl
auch höher entwickelte Tiere (Satire [Fn. 15], S. 324 ff.), nicht hingegen Hirntote (Jura 1999,
113, 116 ff.).
25
Zum Verhältnis von Recht und Moral heißt es bei Merkel, Zaungäste? (Fn. 2), 171, 174
mit Fn. 7 kurz und bündig (und überzeugend): „[D]as Strafrecht muß […] seine tragenden
Grundsätze auf das Fundament der Ethik stellen. […] [Die Strafgesetze] dürfen […] den
Grundsätzen der Moral […] nicht widersprechen.“
26
Knappe Überblicke bei Engländer, ZStW 2015, 616, 622 ff.; Kudlich, ZStW 2015, 635,
639 ff.; Roxin, GA 2013, 433; Zimmermann, Unrecht der Korruption, 2018, S. 131 f. Zur
Rechtsgutslehre s. auch Merkel, Satire (Fn. 15), S. 293 ff.
27
Merkel, Satire (Fn. 15), S. 332.
28
Grdl. Hassemer, Theorie des Verbrechens, 1973; aus neuerer Zeit NK-Hassemer/Neu-
mann, 5. Aufl. 2017, Vor § 1 Rn. 131 ff. Zu den Verbindungslinien zwischen Rechtsgutslehre
und Interessentheorie bzw. normativem Individualismus Engländer, FS Neumann, 2017, 547;
Martins, ZStW 2013, 234.
29
Zu diesem Vorteil der harm principle-Lehre gegenüber der (keineswegs in ihrer analy-
tischen Funktion insgesamt unterlegenen) Rechtsgutsdoktrin Zimmermann (Fn. 26), S. 353 ff.
30
Merkel selbst hat sich mit dem Wirtschaftsstrafrecht bislang nur beiläufig auseinander-
gesetzt, nämlich in Satire (Fn. 15), S. 455 ff.
300 Till Zimmermann

(dazu III.) geht es zum einen um die Grenzen einer sog. Organuntreue (IV.1.) und
zum anderen um die Möglichkeiten, juristische Personen zu Adressaten ahndender
Sanktionen zu machen (IV.2.).

III. Juristische Personen als moralische Subjekte?


1. Juristische Personen als Rechtsträger: Problem

Juristische Personen31 existieren – im Gesetz (vgl. § 21 BGB, § 1 I AktG, § 13 I


GmbHG) und in der Realität32. Man kann mit ihnen – vermittelt durch ihre Organe
und Stellvertreter – Rechtsgeschäfte abschließen und man kann von ihnen verklagt
werden; sie verfügen über ökonomische Macht und sie haben einen guten (oder
schlechten) Ruf; sie werden von Art. 19 III GG als Grundrechtsträger angesprochen
und sind auch als Opfer von Straftaten,33 ja sogar als „Verletzte“ i.S.d. §§ 403 ff.
StPO34 anerkannt.
All dies widerspricht prima facie der Merkel’schen Erfahrbarkeitsbedingung, wo-
nach leblose Gegenstände nicht Inhaber von (ethisch fundierten) Rechten sein kön-
nen – denn die juristische Person ist als solche nicht im beschriebenen Sinne verletz-
bar. Kommt ihr etwa Eigentum durch Diebstahl abhanden oder wird ihr durch Betrug
ein Vermögensschaden zugefügt, so kann sie den Verlustposten in ihrer Bilanz nicht
als Interessenbeeinträchtigung empfinden. Ein bilanzieller Negativposten kann nur
demjenigen „wehtun“, der selbst und unmittelbar empfinden kann was es heißt, über
weniger ökonomische Ressourcen zu verfügen als zuvor. Das mag zutreffen auf die
Organwalter der juristischen Person und auf ihre Inhaber (denn deren finanzielles
Wohl ist häufig mittelbar von der ökonomischen Situation der juristischen Person ab-
hängig); die juristische Person aber „erleidet“ bei entsprechenden Schädigungen im
moralischen Sinne gar nichts, da sie nicht über eigene Sinnesorgane zur Wahrneh-
mung des Verlusts und auch nicht über ein eigenes Gehirn verfügt, das aus dieser In-
formation eine negativ empfundene Beeinträchtigung der eigenen Existenz ableitet.
Ich meine jedoch, dass dieser Befund nur in einem scheinbaren Widerspruch zu
der eingangs zitierten Verletzbarkeitsthese steht. Merkel betont nämlich auch, dass
interessenunfähige Dinge zwar nicht im eigenen Interesse, aber durchaus im Inter-
esse anderer (etwa demjenigen ihres „Inhabers“) geschützt werden können.35 Sofern
31
Mit dem Begriff der juristischen Person werden hier der Einfachheit halber sämtliche
nicht-natürlichen Entitäten bezeichnet, denen der Rechtsverkehr die Eigenschaft zuschreibt,
Rechtsträger zu sein. Gemeint sind also z. B. auch rechtsfähige Personengesellschaften, wie-
wohl diese keine juristischen Personen im technischen Sinne sind.
32
Dies ist die zentrale Grundannahme von v. Gierke, Deutsches Privatrecht, Bd. 1: AT und
Personenrecht, 1895, § 59 II 4 (S. 470) und seiner Theorie der realen Verbandspersönlichkeit.
33
BGH, NStZ 2000, 205 (zu § 46a StGB).
34
Vgl. OLG Frankfurt, NStZ 2007, 168, 169; MK-StPO/Grau, § 403 Rn. 10.
35
S. auch Merkel, JZ 1996, 1145, 1152 Fn. 40.
Vom Leid und Eigeninteresse künstlicher Rechtsträger 301

es sich bei diesen „anderen“ ihrerseits um moralisch verletzbare (d. h. natürliche)


Personen handelt, steht einem interessentheoretisch begründeten Schutzprogramm,
d. h. der Verleihung von Rechten und deren Schutz durch korrespondierende Verbote,
nichts Grundsätzliches im Wege. Fraglich ist daher „nur“ noch, ob es sich bei der
rechtlichen Anerkennung juristischer Personen tatsächlich um eine solchermaßen
begründbare Gewährung von Rechten (Dritter) handelt. Meine Antwort darauf lautet
„Ja“. Und zwar auf der Basis folgender Begründung:
Juristische Personen sind keine organischen, empfindungsfähigen Lebewesen;
schon deshalb können sie nicht denselben moralischen Status wie natürliche Perso-
nen haben.36 Sie sind vielmehr eine Art von Kollektiventitäten, die in (zivil-)recht-
licher Hinsicht allerdings als von ihren einzelnen Gliedern verselbstständigt betrach-
tet werden (sog. Trennungsprinzip, vgl. § 13 II GmbHG). Wie genau man sich die
Vorgänge ihrer Personwerdung vorzustellen hat, ist wenig geklärt. Im Zivilrecht
ist die Frage seit jeher umstritten,37 infolge ihrer praktischen Irrelevanz jedoch weit-
gehend ad acta gelegt.38 Im Kern zutreffend zu sein scheint mir die Fiktionstheorie.39
Nach dieser handelt es sich bei der juristischen Person um einen künstlichen, media-
tisierenden Rechtsträger, der gewissermaßen als Platzhalter für eine dahinter stehen-
de natürliche Person (oder eine Mehrheit natürlicher Personen) eine rechtliche Als-
ob-Behandlung (Rechtszuschreibung) erfährt.
Hintergrund der Fiktionstechnik ist die sozialtechnische Erkenntnis, dass sich auf
diese Weise gleichgerichtete Interessen natürlicher Personen besonders effektiv bün-
deln lassen und infolge der damit einhergehenden Vereinfachung bestimmter Rechts-
vorgänge (wie Kreditaufnahme; individuelle Haftungsbeschränkung; Prozesse kol-
lektiver Willensbildung) eine Vervielfachung der (ökonomischen) Durchschlags-
kraft erzielt werden kann. Hinter der rechtlichen Anerkennung juristischer Personen
als künstliche Rechtsträger stehen daher keine eigenen Interessen dieser fiktiven Per-
son (diese kann sie nicht haben, s. o.), sondern bestimmte zweckgebündelte Interes-
sen40 derjenigen natürlichen Personen, die sich ihrer im Rechtsverkehr bedienen.
Ganz i.d.S. heißt es in der Begründung zum AktG 1965, das Aktienrecht müsse in
seinen Grundsätzen „von dem wirtschaftlichen Eigentum der Aktionäre an dem

36
So andeutungsweise auch Kasiske, wistra 2005, 81, 85; Zöller, Gutachten zur Frage der
Einführung eines Unternehmensstrafrechts in Deutschland, 2017 (abrufbar unter https://www.
familienunternehmen.de/media/public/pdf/publikationen-studien/studien/Unternehmensstraf
recht_Studie_Stiftung_Familienunternehmen.pdf), S. 8. Vgl. auch Rönnau, FS Amelung, 2009,
247, 265.
37
Ausführliche Darstellung bei Wiedemann, WM-Sonderbeilage 4/1975, 7 ff.
38
S. nur Palandt/Ellenberger, BGB, 78. Aufl. 2019, Einf. v. § 21 Rn. 1; Bamberger/Roth/
Hau/Poseck/Schöpflin, BGB, Bd. 1, 4. Aufl. 2019, § 21 Rn. 2.
39
Grdl. v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. II, 1840, § 85, S. 236, 239.
Aus heutiger Sicht Soergel/Hadding, BGB, Bd. 1, 13. Aufl. 2000, Vor § 21 Rn. 7 – 10.
40
Den Aspekt der zweckgerichteten Bündelung stellt die Theorie des Zweckvermögens in
den Mittelpunkt, grdl. Brinz, Lehrbuch der Pandekten, Bd. I, 3. Aufl. 1884, §§ 60 f.
302 Till Zimmermann

auf ihren Kapitalbeiträgen beruhenden Unternehmen ausgehen“.41 Eine Folge dieser


Sehweise ist, dass eine juristische Person ohne „dahinterstehende“ natürliche Inter-
essensträger keine rechtsethische Daseinsberechtigung hat; denn eine rechtlich be-
glaubigte Existenz um ihrer selbst willen ist sachlogisch ausgeschlossen. Konse-
quenterweise ist das Zivilrecht bestrebt, die Entstehung derartiger Rechts-Zombies42
zu vermeiden, etwa indem es einer juristischen Person im Grundsatz verboten ist,
Eigentum an sich selbst zu erwerben (vgl. § 33 GmbHG, § 71 AktG). Geschieht
dies dennoch – etwa im Falle eines mitgliedslos gewordenen Vereins oder einer
durch Gesamtrechtsnachfolge sich nun selbst gehörenden Gesellschaft (sog. Kein-
mann-GmbH oder -AG) –, geht die h.M. zu Recht von einer automatischen Auflö-
sung der juristischen Person aus.43

2. Trennungsprinzip und Strafrecht

Fraglich ist, welche Konsequenzen das skizzierte Begründungsmodell juristischer


Personen im Privatrecht für den Bereich des Strafrechts zeitigt. Theoretisch lassen
sich zwei Extrempositionen gegenüberstellen: Ein radikal zivilrechtsakzessorisches
Modell, das die Personen-Fiktion so weit wie irgend möglich aufrechterhält (formel-
le Sichtweise), und eine rein materielle Betrachtungsweise, bei der von vornherein
auf die „wahre“, hinter der juristischen Person stehende Interessenlage natürlicher
Personen abgestellt wird. Die formelle Herangehensweise würde verlangen, juristi-
sche Personen nicht nur als „vollwertige“ Opfer von Straftaten anzuerkennen – na-
mentlich als verletzbare Rechtsgutsinhaber (inkl. strafprozessualer Verletztenrechte)
und nothilfefähige Subjekte44 („anderer“ i.S.v. § 32 II StGB) –, sondern auch als Tat-
beteiligte, d. h. als Adressaten strafrechtlicher Sanktionen einschließlich der Krimi-
nalstrafe und auch als taugliche Tatmittler45 („anderer“ i.S.v. § 25 I Var. 2 StGB).
Eine streng materielle Betrachtung würde hingegen allein nach den hinter der juris-
tischen Person stehenden natürlichen Personen fragen und allein deren Interessen
und Verhalten für maßgeblich erklären. Soweit ich sehe wird zu jedem der genannten
Unterprobleme (mit unterschiedlicher Gewichtung von Meinungsherrschaft und
-minderheit) sowohl das eine wie auch das andere vertreten – allerdings ohne dass
dies explizit mit einer einheitlichen „Generaltheorie“ begründet würde.
41
BT-Drs. IV/171, S. 93.
42
Hachenburg, FS Cohn, 1915, 79 (88 ff.) spricht von einer substanzlos gewordenen
Schale.
43
BGHZ 19, 51; Baumbach/Hueck/Fastrich, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 33 Rn. 19; MK-
GmbHG/Berner, 3. Aufl. 2018, § 60 Rn. 199 ff.; MK-AktG/Koch, 4. Aufl. 2016, § 262
Rn. 103. Besonders begründungsbedürftig ist vor diesem Hintergrund die juristische Person
einer Stiftung, da diese häufig überhaupt erst mit dem Tod ihres Stifters zu existieren beginnt,
vgl. §§ 83 f. BGB (zur Problematik einer ethischen Relevanz der Interessen Verstorbener
knapp Merkel, Früheuthanasie [Fn. 7], S. 444).
44
Dafür RGSt 63, 215, 220; Kindhäuser/Zimmermann, AT, 9. Aufl. 2020, § 16 Rn. 2.
45
I.d.S. wohl Roxin, ZStrR 2007, 9, 14. A.A. Kindhäuser/Zimmermann, AT, § 39 Rn. 7.
Vgl. auch Jeßberger, JZ 2009, 924.
Vom Leid und Eigeninteresse künstlicher Rechtsträger 303

Tatsächlich dürfte sich im Strafrecht eine radikale Herangehensweise verbieten.


Vernünftig ist ein einzelfallbezogener Mittelweg. Das sei sogleich anhand zweier
Anwendungsfälle näher ausgeführt (IV.). Ganz allgemein wird man wohl sagen kön-
nen, dass eine Beachtung der fiktiven zivilrechtlichen Trennung zwischen der juris-
tischen Person und ihren natürlichen Hinterpersonen im Bereich des Strafrechts so
lange legitim und vor dem Hintergrund des Prinzips von der Widerspruchsfreiheit
der Rechtsordnung sogar geboten ist, wie die Aufrechterhaltung der Fiktion den
Täter begünstigt – z. B. weil dadurch die Rechtslage einfacher zu erfassen ist
(Art. 103 II GG) und der Täter es beim Betrug zulasten einer AG in Streubesitz
bloß mit einem Tatopfer und nicht mit Tausenden zu tun hat. Geht es aber darum
eine täterungünstige Folge zu begründen, muss im Hinblick auf die rechtsethische
Legitimationsbedürftigkeit der strafrechtlichen Sanktion der interessentheoretische
Hintergrund einer Regelung seziert und auf die „wahre“ Interessenlage hin unter-
sucht werden – im Zweifel ist dann diese die maßgebliche.46

IV. Anwendungsbeispiele
1. Organuntreue

Das Stichwort „Organuntreue“ bezeichnet die Fragestellung, ob die Leitungsor-


gane eines künstlichen Rechtsträgers auch dann für die Verschleuderung von Ver-
bandsvermögen nach § 266 StGB zu bestrafen sind, wenn die Inhaber des Verbands-
trägers mit der Vermögensverringerung einverstanden waren.47 Am Beispiel: Die Ge-
schäftsführerin einer kriselnden GmbH nimmt mit erklärter Billigung des Alleinge-
sellschafters für die Gesellschaft einen hohen Kredit auf und setzt sodann den
gesamten Betrag im Casino „auf Rot“. Weil das Vorgehen der Geschäftsleiterin in-
folge des hohen Verlustrisikos nicht der Sorgfalt einer ordentlichen Geschäftsfrau
entspricht (vgl. § 43 I GmbHG),48 ist hier prinzipiell von einer Pflichtverletzung ge-
genüber der GmbH (sowie einem dadurch bei dieser entstandenen Vermögensscha-
den)49 auszugehen.

46
Ich habe eine solche Vorgehensweise, inspiriert durch Vorarbeiten Merkels, für das bio-
ethische Problem der Trennung siamesischer Zwillinge ausbuchstabiert, Zimmermann, Ret-
tungstötungen, 2009, S. 476 ff. Krit. Koch, GA 2011, 129, 143.
47
Überblicke bei Achenbach/Ransiek/Rönnau/Seier/Lindemann, Handbuch Wirtschafts-
strafrecht, 5. Aufl. 2019, 5. Teil Kap. 2 Rn. 319 ff.; Minkoff/Sahan/Wittig/Zimmermann,
Konzernstrafrecht, 2020, § 13 Rn. 118 ff.
48
Vgl. BGH, NJW 1975, 1234, 1235; Zimmermann, in: Steinberg/Valerius/Popp (Hrsg.),
Das Wirtschaftsstrafrecht des StGB, 2011, 71, 76.
49
Vgl. Zimmermann (Fn. 48), 71, 83 ff. Allg. zum strafrechtlichen Vermögensbegriff
Merkel, Satire (Fn. 15), S. 407 ff.
304 Till Zimmermann

Bedenken, die Geschäftsführerin wegen Untreue zulasten der GmbH (und den
Alleingesellschafter wegen Teilnahme daran)50 zu belangen, ergeben sich daraus,
dass infolge des Einverständnisses des Gesellschafters bei wirtschaftlicher Betrach-
tung (also unter Außerachtlassung des formalen Trennungsprinzips) eine Selbstschä-
digung vorliegt – und eine solche nach allgemeinen Grundsätzen straflos zu sein hat.
Dieses Ergebnis lässt sich auf zweierlei Weise erreichen: Entweder wird bereits der
Fremdheitsbegriff in § 266 StGB materiell, d. h. so verstanden, dass es hierfür nicht
auf die formale Zivilrechtslage (Schädigung von GmbH-Vermögen) ankommt, son-
dern auf die „wahre“ wirtschaftliche Lage (mit der Folge, dass der Vermögensscha-
den als beim Gesellschafter eingetreten gilt). Dieser Weg wird im Hinblick auf ju-
ristische Personen von einer kleinen Minderheit,51 bei rechtsfähigen Personen(han-
dels)gesellschaften von der h.M.52 beschritten. Ich halte das in beiden Fällen für nicht
überzeugend: Hier sollte man das Gesetz zunächst beim Wort(laut) nehmen und hin-
sichtlich der Opfereigenschaft vom Trennungsprinzip ausgehen: Rechtsgutsträger
(und damit fingierter Inhaber des tatbestandlich geschützten „Vermögensinteresses“)
ist demnach zunächst einmal die Gesellschaft als solche. Die zweite Möglichkeit hier
zu einer Straflosigkeit zu gelangen, besteht darin, eine unbegrenzte Dispositionsbe-
fugnis des Gesellschafters über das Vermögen „seiner“ juristischen Person anzuer-
kennen – mit der Konsequenz, dass infolge der Zustimmung selbst bei planmäßig
herbeigeführtem Ruin der Gesellschaft von einer pflichtwidrigen (d. h. dem Interesse
des Rechtsgutsinhabers widersprechenden) Vermögensbeschädigung keine Rede
mehr sein kann (sog. strenge Gesellschaftertheorie).53
Diese Lösung wird von der der h.M. indes mit einer bemerkenswerten Begrün-
dung verworfen: Eine Dispositionsbefugnis des Inhabers der Gesellschaft sei bei jeg-
licher54 oder zumindest bei existenzgefährdender55 Vermögensbeschädigung abzu-
lehnen, da dies nicht zu vereinbaren sei mit dem eigenen Interesse der Gesellschaft

50
Diese Konsequenz wird nur selten thematisiert, bspw. von Radtke, GmbHR 1998, 311,
313; Hachenburg/Ulmer/Kohlmann, GmbHG-Großkommentar, Bd. 3, 8. Aufl. 1997, Vor § 82
Rn. 309.
51
Nelles, Untreue zum Nachteil von Gesellschaften, 1991, 479 ff., 513 ff. Tendenziell auch
Muhler, wistra 1994, 283, 287; Blei, Strafrecht II. BT, 12. Aufl. 1983, S. 258.
52
BGH, NJW 2013, 3590; Waßmer, WiJ 2018, 1, 4; Wittig, Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl.
2017, § 20 Rn. 77. A.A. BGH, NStZ 2004, 205, 206; Radtke, NStZ 2016, 639, 644;
K. Schmidt, JZ 2014, 878, 882; Zimmermann (Fn. 47), § 13 Rn. 23 f.
53
Wohl h.L., etwa Beulke, FS Eisenberg, 2009, 245, 257; Gaede, NZWiSt 2018, 220, 223;
Kraatz, ZStW 2011, 447, 477; Kubiciel, NStZ 2005, 353, 359.
54
So die von der Rspr. vormals vertretenen Körperschaftstheorien, vgl. RGSt 71, 353,
355 f. (strenge Körperschaftstheorie: Einverständnis generell unmöglich); BGHSt 34, 379,
385 f. (eingeschränkte Körperschaftstheorie: ökonomisch unvernünftiges Einverständnis un-
möglich).
55
Sog. eingeschränkte Gesellschaftertheorie, vertreten etwa von BGHSt 54, 52, 57 f.; 49,
147, 157 f.; NK-Kindhäuser, § 266 Rn. 71.
Vom Leid und Eigeninteresse künstlicher Rechtsträger 305

an ihrem Fortbestand.56 Was genau ist damit gemeint? Nimmt man den Begriff des
„Eigeninteresses der Gesellschaft“ wörtlich und bezeichnet damit also ein solches,
das nicht bloß eine zusammenfassende Chiffre für die Interessen außenstehender
Dritter (Gesellschafter, Beschäftigte der Gesellschaft oder Gläubiger) darstellt, son-
dern eines, das in radikaler Umsetzung der zivilrechtlichen Trennungsthese ein ech-
tes eigenes Interesse der juristischen Person beschreibt,57 ist an den Gedanken Mer-
kels zu erinnern, wonach es sich bei einem so verstandenen Interesse um ein analy-
tisches Unding handelt: Die GmbH kann als von Natur aus empfindungsunfähiges
Sozialkonstrukt kein Eigeninteresse haben und daher auch nicht „um ihrer selbst wil-
len“ geschützt werden; ein Strafrecht, das dies dennoch tut, ist – in den Worten Mer-
kels – illegitim. Versteht man das von den Gesellschafterinteressen verschiedene
„Eigeninteresse der GmbH“ hingegen als künstliches Medium zur Beförderung
der (Vermögens-)Interessen der Gläubiger,58 so ist dieser Weg unter rechtsethischen
Gesichtspunkten prinzipiell gangbar und sub specie Bankrottstrafrecht kriminalpo-
litisch diskutabel. Allerdings kollidiert er im Falle der Organuntreue mit der verfas-
sungsgerichtlichen Vorgabe, einzig anzuerkennendes Schutzgut des § 266 StGB sei
das Vermögen des Treugebers, nicht hingegen dasjenige der Gesellschaftsgläubi-
ger.59 Der rabulistische Versuch, ein Eigeninteresse der Gesellschaft im Interesse
der Gläubiger zu konstruieren (und dadurch § 266 StGB seinem materialen Gehalt
nach bei der Organuntreue in ein abstraktes Gläubigerschutzdelikt umzufunktionie-
ren60), ist daher nicht nur begrifflich verdreht, sondern als verfassungswidriger
Rechtsgutsaustausch (präziser: als Austausch des Schutzinteresses, aus dem das
Rechtsgut geformt ist) abzulehnen.61 Beifall verdient allein die strenge Gesellschaf-
tertheorie.

56
Diese klassische Formulierung findet sich bei Brammsen, DB 1989, 1609, 1610. Von
einem „Eigeninteresse“ der Gesellschaft spricht auch BGHZ 149, 10, 16 (Bremer Vulkan),
was dann in der strafrechtlichen Parallelentscheidung BGHSt 49, 147, 159 f. aufgegriffen
wird. Abl. zuvor noch BGHZ 119, 257, 262.
57
Eindeutig i.d.S. Brammsen, DB 1989, 1609, 1610; Zieschang, FS Kohlmann, 2003, 351,
358 f.
58
I.d.S. BGH, NJW 2007, 2689, 2690 („im Gläubigerinteresse zweckgebundene[s] Ge-
sellschaftsvermögen“); Anders, NZWiSt 2017, 13, 21 f.; Radtke, GmbHR 1998, 361, 362 ff.
Ebenso in Bezug auf das Eigeninteresse einer AG Rönnau, FS Amelung, 247, 261 ff. (auch
unter Einbezug von Belangen der Allgemeinheit).
59
BVerfGE 126, 170 (200 f.). Ebenso BGH, NJW 2000, 154, 155.
60
Das wird eingeräumt von Radtke/Hoffmann, GA 2008, 535, 536 Fn. 8.
61
Zutr. Kasiske, wistra 2005, 81, 85; Labsch, JuS 1985, 602, 604 ff.; Leimenstoll, ZIS
2010, 143, 146 f.
306 Till Zimmermann

2. Die Möglichkeit einer Verbandsstrafe

a) Ausgangspunkt

Entsprechend einer radikal verstandenen Trennungsthese werden künstliche


Rechtsträger zu genuinen Adressaten punitiver Sanktionen gemacht. De lege lata
sehen §§ 30 I OWiG, 81 IV 2 GWB die Möglichkeit einer Geldbuße und § 74e
StGB eine Strafeinziehung für juristische Personen vor, wenn sich eine ihrer Lei-
tungspersonen in betriebsbezogener Weise strafrechts- oder ordnungswidrig verhal-
ten hat. Noch weitergehend wird über einen Ausbau der ordungswidrigkeitenrecht-
lichen Ahndbarkeit62 und sogar über die Einführung einer echten Verbandskriminal-
strafe63 gestritten. All diesen Konzepten ist gemein, dass die juristische Person als
eigenständiger moralischer Akteur betrachtet und mit einer Abwandlung der aus
dem Sanktionsrepertoire bzgl. natürlicher Personen bekannten Sanktion belegt
wird – neben Maßnahmen wie Einziehung64 und Führungsaufsicht65 etwa mit Frei-
heits-,66 Geld-,67 Todes-68 und Prangerstrafe.69

b) Verbandsstrafe als Verstoß gegen das Schuldprinzip

Fundamentalkritik an der Idee eines repressiv-ahndenden Verbandsträgerstraf-


rechts entzündet sich meist an ihrer Inkompatibilität mit dem Schuldprinzip, nach
welchem Bestrafung Schuld voraussetzt. Versteht man Schuld i.S.e. Vorwurfs,
sich trotz alternativer Verhaltensmöglichkeit pro Normbruch entschieden zu
haben,70 könnten sich, so die Kritik, juristische Personen mangels eigener Hand-

62
Exemplarisch Beulke/Moosmayer, CCZ 2014, 146; Schünemann, ZIS 2014, 1, 6.
63
In diese Richtung zuletzt etwa Bürger, ZStW 2018, 704 ff.
64
Vgl. exemplarisch § 7 des Kölner Entwurfs eines Verbandssanktionengesetzes (von
Henssler et al., NZWiSt 2018, 1, 3).
65
Vgl. den Vorschlag von Schünemann, ZIS 2014, 1, 7 m.w.N. zur Unternehmenskuratel.
66
So bedeuten etwa der (allerdings als Verbandsmaßregel bezeichnete) Ausschluss von der
Vergabe öffentlicher Aufträge nach § 10 des NRW-Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung
der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen und sonstigen Verbänden (Verb-
StrG-E, abrufbar unter https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Doku
ment/MMI16-127.pdf) eine Einschränkung der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit.
67
Vgl. § 6 VerbStrG-E („Verbandsgeldstrafe“).
68
Vgl. die „Verbandsauflösung“ nach § 14 des (bislang unveröffentlichten) BMJV-Refe-
rentenentwurfs für ein Gesetz zur Bekämpfung der Unternehmenskriminalität (VerSanG-E),
Bearbeitungsstand 15. 8. 2019. Von einer „Todesstrafe“ sprechen in diesem Kontext etwa
Baur/Holle, ZRP 2019, 186, 189.
69
Vgl. die „Bekanntgabe der Verurteilung“ nach § 9 VerSanG-E. Den Begriff „Pranger-
strafe“ verwendet etwa Willems, ZIS 2015, 40, 45.
70
BGHSt 2, 194, 200. Zur damit verbundenen Willensfreiheitsproblematik Merkel, FS
Philipps, 411, 416 ff.
Vom Leid und Eigeninteresse künstlicher Rechtsträger 307

lungsfähigkeit unmöglich in diesem Sinne schuldig machen;71 auch der Weg über
eine Zurechnung fremder Schuld sei angesichts der Höchstpersönlichkeit von Schuld
(vgl. § 29 StGB) nicht gangbar.
Diesen Einwand, der – was selten thematisiert wird72 – in gleichem Maße die ord-
nungswidrigkeitenrechtliche Geldbuße trifft (das Schuldprinzip gilt auch in diesem
Bereich)73, halte ich im Kern für berechtigt; alle Konstruktionsversuche einer Ana-
log-Schuld („Betriebsführungsschuld“ u. ä.)74 erweisen sich bei näherem Hinsehen
als verkappte Zurechnungsmodelle, die mit dem Grundsatz des Schuld-Zurech-
nungsverbots brechen.75 Ergo kann es keine (legitime) Bestrafung oder Bebußung
juristischer Personen geben; ihre etwaige Sanktionierung könne daher jedenfalls
nicht so begründet werden – und dürfe auch nicht so benannt werden.76

c) Begriffliche Unmöglichkeit der echten Verbandsstrafe

aa) Der rechtsethische Strafbegriff

Im Ergebnis teile ich, wie gesagt, die o.g. Analyse. Jedoch kommt es dafür gar
nicht erst auf den (vertrackten) Begriff der Schuld (§ 20 StGB) bzw. der Verantwort-
lichkeit (§ 12 OWiG) an. Ausschlaggebend ist bereits der Strafbegriff selbst. Zwar ist
auch dieser in Grundlagen und Details umstritten. Geht man aber von einer differen-
zierten, technischen Sanktionsbegrifflichkeit aus (die insbes. zwischen der rein ge-
neralpräventiven Maßnahme der Tatertragseinziehung, den spezialpräventiven Maß-
regeln und der repressiven Sanktionierung i.S.e. Ahndung unterscheidet),77 so dürf-
ten folgende Merkmale als notwendige Bedingungen halbwegs konsensfähig sein:
Eine punitive Sanktion liegt vor, wenn jemandem ein Übel mit der Begründung zu-
gefügt wird, dies erfolge in ahndender Reaktion auf einen von ihm zu verantworten-

71
Exemplarisch Greco, GA 2015, 503, 504 ff.; Schünemann, ZIS 2014, 1, 2 ff.; Zöller
(Fn. 36), S. 34 ff.
72
Zutr. problematisiert von Mitsch, NZWiSt 2014, 1, 3; Renzikowski, GA 2019, 149, 151.
73
BGHSt 20, 333, 337; Kindhäuser/Zimmermann, AT, § 21 Rn. 3 m.w.N.
74
Vgl. Gómez-Jara, ZStW 2007, 290; Vogel, StV 2012, 427; Schönke/Schröder/Heine/
Weißer, 30. Aufl. 2019, Vor §§ 25 ff. Rn. 131.
75
Greco, GA 2015, 503, 508; Schünemann, ZIS 2014, 1, 5.
76
Vor einer „semantischen Verschmutzung“ warnen Greco, GA 2015, 503, 515; Schüne-
mann, ZIS 2015, 1, 11 u. 15. Neuere Entwürfe verwenden daher eine neutrale Terminologie,
vgl. § 4 des Kölner-Entwurfs; § 8 Nr. 1 VerSanG-E („Verbandsgeldsanktion“).
77
Zur Vermeidung von Missverständnissen: Ein solchermaßen elaborierter Strafbegriff ist
keine juristische Spitzfindigkeit, sondern ein wissenschaftstheoretisch gebotenes Instrument
zur sprachlichen Unterscheidung von Sanktionierungsvorgängen, deren ethische Differenzie-
rungswürdigkeit aus ihren unterschiedlichen Legitimationsbedingungen folgt. Entsprechend
sind auch moralphilosophische Untersuchungen auf eine vergleichbare terminologische Un-
terscheidung angewiesen, vgl. die Strafdefinition bei Hoerster, Muss Strafe sein?, 2012, S. 14.
308 Till Zimmermann

den Normbruch.78 Erfasst sind davon neben den Strafen des StGB auch der entehren-
de Schuldspruch ohne zusätzliche Sanktion (vgl. §§ 60, 199 StGB),79 die Maßnahme
der Strafeinziehung, die strafzweck-analog begründete80 Geldbuße gem. §§ 1, 17, 30
OWiG, die JGG-Sanktionen gem. § 5 II, Ordnungsgeld und -haft nach § 890 ZPO
sowie die nur vordergründig auf freiwilliger Hinnahme beruhenden Sanktionen
des Verwarnungsgeldes gem. §§ 56 ff. OWiG und die Zahlungsauflage nach
§ 153a I 2 Nr. 2 StPO.

bb) Juristische Personen als Adressat des Strafübels?

Ohne Weiteres lässt sich zwar in den Begriff der Verantwortlichkeit für den Norm-
bruch das Schulderfordernis integrieren.81 Mindestens ebenso zentral scheint mir im
hiesigen Kontext aber das Merkmal des Strafübels zu sein. Dieses muss den zu Be-
strafenden treffen, d. h. (zumindest auch) von diesem als Übel, d. h. als etwas Unan-
genehmes oder Nachteilhaftes empfunden werden;82 Abraham spricht plastisch vom
Erleiden von „Strafschmerz“.83 Offenkundig setzt die Übelszufügung daher (analy-
tisch) eine Form der Leidensfähigkeit und damit als Adressat ein „empfindendes

78
Hinter dem Merkmal der „Ahndung“ verbirgt sich letztlich die (heillos umstrittene)
straftheoretische Zwecksetzung (Überblick bei Hörnle, Straftheorien, 2. Aufl. 2017); es dient
in der Definition vor allem der Abgrenzung zu nichtpunitiv-reaktiven Übelszufügungen wie
Maßregeln, Einziehung, Beugehaft oder zivilrechtlichem Schadensersatz. Das in der Teilde-
finition enthaltene (bei Rawls, in: Höffe [Hrsg.], Einführung in die utilitaristische Ethik,
4. Aufl. 2008, 135, 136 u. 143, geborgte) „Begründungselement“ stellt den Versuch eines
Kompromisses in der Streitfrage dar, inwieweit zwischen der Definition einer Strafe und ihren
Legitimationsbedingungen unterschieden werden muss. Der Streit dreht sich vornehmlich um
die Frage, ob zwischen Delinquent und Übelsadressat per definitionem Personenidentität be-
stehen muss (dies prinzipiell bejahend Hart, in: Hoerster [Hrsg.], Recht und Moral, 1971, 58,
62; verneinend Hoerster [Fn. 77], S. 13) bzw. ob man die Sanktionierung Unschuldiger noch
sinnvoll als Strafe bezeichnen kann (grdl. Flew, Philosophy 29 [1954], 291, 292; aus neuerer
Zeit etwa Fassin, Der Wille zum Strafen, 2018, S. 57 f.). Der hiesige Vorschlag trennt insoweit
zwischen Strafbegriff und -legitimation, als letztere neben Verhältnismäßigkeitsaspekten
davon abhängt, ob die für die strafende Übelszufügung gegebene Begründung wahr ist. Hin-
sichtlich des häufig angeführten (Unter-)Problems der Kollektivstrafe kommt es auf den Streit
freilich nicht an, da Gewalt gegen nahestehende Personen (auch) eine Beeinträchtigung der
altruistischen Interessen (zum Begriff Hoerster, Was ist Recht?, 2006, S. 102) des Delin-
quenten bedeutet und somit (auch) für diesen ein Übel darstellt (vgl. Kubik/Zimmermann, JR
2013, 192, 197).
79
Zum Übel dieser Sanktionsform MK-StPO/Engländer/Zimmermann, 2019, § 361 Rn. 4.
80
Achenbach, ZIS 2012, 178, 179 f.; KK-OWiG/Mitsch, 5. Aufl. 2018, § 17 Rn. 8 f.;
Zimmermann (Fn. 26), S. 361.
81
Zur Austauschbarkeit der Begriffe Verantwortlichkeit und (Strafbegründungs-)Schuld
Kindhäuser/Zimmermann, AT, § 21 Rn. 4a.
82
Vgl. zu diesem Erfordernis des Übelsbegriffs MK/Sinn, 3. Aufl. 2017, § 240 Rn. 71;
NK/Toepel, § 240 Rn. 103. S.a. T. Walter, GS M. Walter, 2014, 831, 835.
83
Abraham, Sanktion, Norm, Vertrauen, 2018, S. 18 f. m. Fn. 32 und passim.
Vom Leid und Eigeninteresse künstlicher Rechtsträger 309

Wesen“ voraus.84 Dass dies im Hinblick auf juristische Personen nicht gegeben ist,
liegt auf der Hand.
Näher mit diesem Gedanken hat sich jüngst Greco befasst. Er spricht der juristi-
schen Person die Fähigkeit ab, bestraft werden zu können, da als Strafübel allein der
„Entzug angeborener Rechte“ in Betracht komme,85 die juristische Person aber nur
über verliehene Rechte verfüge, ergo nicht mit dem Strafübel belegt werden könne.
Ich halte das Konzept von Greco aufgrund der arbiträren Auswahl der für das Straf-
übel relevanten Interessen letztlich nicht für überzeugend.86 Richtig ist aber sein An-
satz. Und zwar, in der Diktion von Merkel, deswegen: Eine Bestrafung juristischer
Personen ist nicht möglich, da diesen als leidensunfähigen Entitäten kein Übel im
moralisch (und damit auch strafrechtlich) relevanten Sinne zugefügt werden kann.
Daraus folgt: Es gibt jedenfalls solange keine Bestrafung juristischer Personen,
wie man an dem differenzierten Strafbegriff festhalten möchte.

d) Verbandssanktion als Sanktionierung natürlicher Personen

Was folgt daraus für (bestehende und geplante) Konzepte der strafrechtlichen
Sanktionierung von Unternehmen? Von einer Bestrafung oder Bebußung der juris-
tischen Person sollte man nicht sprechen. Trotzdem ist eine solche Sanktion nicht
per se illegitim. Das sei grob skizziert: Analysiert man die (wahre) Interessenlage
bei der Sanktionierung von Verbänden, wird man bei der Suche nach darunter Lei-
denden schnell fündig. Es sind dies die Unternehmensinhaber (Gesellschafter, Ak-
tionäre usw.) sowie die bei der juristischen Person Beschäftigten, die damit in
ihren Vermögensinteressen beeinträchtigt werden (Wertminderung der Gesell-
schaftsanteile und Verlust der Dividendenexspektanz hier, Lohneinbuße und Arbeits-
platzverlust dort).87 Ihnen gegenüber gilt es, die Unternehmenssanktion in einem
rechtsethischen Sinne zu legitimieren. Lässt sich also eine formell gegen die juristi-
sche Person gerichtete Sanktion gegenüber den materiellen Übelsadressaten begrün-
den, bestünde zumindest kein grundlegendes rechtsethisches Problem.
Was die Belegschaft eines Unternehmens anbetrifft, dürften die Legitimations-
schwierigkeiten nicht weiter reichen als beim akzessorischen Leid der Familie

84
Vgl. Hoerster (Fn. 77), S. 11.
85
Unter angeborenen Rechten versteht Greco, GA 2015, 503, 512 f. „das Leben, die
Rechtsfähigkeit, den Leib oder … die Fortbewegungsfreiheit“. Die Geldstrafe ist für Greco
(nur) vermittels der Möglichkeit der Ersatzfreiheitsstrafe ein Strafübel.
86
Warum sollten das als erheblicher Freiheitsverlust empfundene Fahrverbot (§ 44 StGB)
oder die mit Eigentumsverlust einhergehende Strafeinziehung nach § 74 StGB keine Strafe
sein? Diese (und weitere) Kritikpunkte hat Greco zwar in einer antizipativen Modifikation
seines Strafverständnisses aufgegriffen und sein Strafverständnis um sog. „künstliche Strafen“
erweitert (Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, 2015, S. 661, 671 f.). Vom
originellen Ursprungskonzept bleibt damit freilich nicht mehr viel Substanzielles übrig, vgl.
Renzikowski, GA 2019, 149, 158; Stuckenberg, ZIS 2017, 445, 453.
87
Schünemann, ZIS 2014, 1, 6; Zöller (Fn. 36), S. 36.
310 Till Zimmermann

eines bestraften Individuums, d. h. prinzipiell bewältigbar sind.88 Hinsichtlich der In-


haber der sanktionierten juristischen Person hat man es, wie oben beschrieben, mit
den eigentlichen Interessensträgern hinter der juristischen Person zu tun. Diesen ge-
genüber kann eine Übelszufügung durch die Unternehmenssanktion wenigstens auf
dreierlei Weise rechtsethisch legitimiert werden: Als Strafe, aber auch als schuldin-
differente Einziehung oder Gefährdungshaftung.

aa) Als Strafe

Eine legitime Strafe i.S.d. obigen Definition setzt die Verantwortlichkeit des Be-
straften für den sanktionierten Normbruch voraus. Die Sanktionierung der juristi-
schen Person als materielle Bestrafung ihrer wirtschaftlichen Inhaber setzt daher vor-
aus, dass diese aktiv oder zumindest im Modus der Konnivenz vorwerfbar zu dem
durch Vertreter der juristischen Person begangenen Normbruch beigetragen
haben. Ein solches Legitimationskonzept dürfte Renzikowski vorschweben, wenn
er über die Zurechnungsfigur der „zusammengesetzten moralischen Person“ (perso-
na moralis) der Kollektivperson und auch jedem Mitglied des Kollektivs die „gemäß
dem einheitlichen Willen vorgenommene [deliktische, T.Z.] Handlung“ zurechnet.89
Dieses Zurechnungsmodell gerät nicht mit dem Schuldgrundsatz in Konflikt, weil
jedem einzelnen nur solche im Namen der Kollektivperson begangene Taten zuge-
rechnet werden, zu denen er durch seine vorherige Zustimmung willentlich beigetra-
gen hat; unvorhersehbare Exzesstaten einzelner sind nach dieser Logik nicht zure-
chenbar, auch wenn der Täter im Namen des Kollektivs agiert.90 Gegen ein solches
Zurechnungsmodell als rechtsethischer Hintergrund eines Unternehmensstrafrechts
bestehen keine prinzipiellen Einwände. Allerdings dürften damit nur solche Konstel-
lationen einflussreicher Hinterpersonen erfassbar sein, die auch mit den Zurech-
nungsinstrumentarien des herkömmlichen Individualstrafrechts in den Griff zu be-
kommen sind (Stichworte: Mittelbare Mittäterschaft, Gesellschafter als faktischer
Geschäftsführer, Geschäftsherrenhaftung usw.); einfache Minderheitsaktionäre

88
Die Frage, inwieweit es legitim ist, mit einer Bestrafung auch dem Bestraften naheste-
henden Personen (akzessorisch) Übel zuzufügen, wird nur selten thematisiert (etwa von
Müller-Dietz, FS Roxin II, 2011, 1159). Jedenfalls herrscht Konsens, es handele sich bei
psychischen Schäden eines Kindes infolge der strafvollzugsbedingten Trennung von den El-
tern oder bei den finanziellen Einbußen durch den Ausfall des Familienernährers um bloße
„Nebenwirkungen, die nicht begrifflich zum Wesen des Strafübels gehören“, vgl. MK-StPO/
Nestler, § 456 Rn. 4 ff. Nach st. Rspr. (exemplarisch OLG Frankfurt, NStZ 1989, 93) fallen
hierunter auch Auswirkungen wie der Job-Verlust von Mitarbeitern bei strafbedingter Insol-
venz eines Unternehmens.
89
Renzikowski, GA 2019, 149, 156.
90
Praktische Anwendungsbeispiele derartiger Fragen finden sich vor allem im Bereich des
Völkerstrafrechts (zur Figur des joint criminal enterprise III Satzger, Internationales und Eu-
ropäisches Strafrecht, 8. Aufl. 2018, § 15 Rn. 55) und bei der Ahndung von Terrorismus (vgl.
Montenegro, GA 2019, 489 ff., der die kriminelle Vereinigung nach § 129 StGB als zurech-
nungsbegründende kollektive „Unrechtsperson“ apostrophiert).
Vom Leid und Eigeninteresse künstlicher Rechtsträger 311

könnten hingegen ob ihrer faktischen „Einflusslosigkeit“ auf diese Weise nicht legi-
tim sanktioniert werden.91

bb) Als Einziehung

Nicht jede Übelszufügung als Reaktion auf einen Rechtsbruch ist eine Strafe. Das
ist etwa für Schadensersatzansprüche unmittelbar einleuchtend.92 Der Unterschied
zwischen punitiver und sonstiger Sanktion liegt dabei in der jeweils anders gelager-
ten Zwecksetzung. In der obigen Strafdefinition kommt dies dadurch zum Ausdruck,
dass als punitiv nur die ahndende Sanktion anzusehen ist; nur diese ist zu ihrer Le-
gitimation auf ein Verschulden angewiesen. Andere Sanktionen, auch solche des
Strafrechts, sind dies nicht. Das gilt insbes. für die Maßnahme der Tatertragseinzie-
hung (vormals Verfall). Diese lässt sich auf ein der zivilrechtlichen Kondiktion ver-
wandtes Gerechtigkeitsprinzip zurückführen, wonach es kein Anrecht auf das Behal-
ten unrechtmäßig erlangter Vermögenswerte gibt; im strafrechtlichen Kontext lautet
die geläufige Kurzfassung „crime must not pay!“93 Diese generalpräventive Sanktion
eigener Art setzt ob der beschriebenen Zwecksetzung keine Schuld voraus94 und
kann entsprechend auch „unschuldige“ Dritte treffen, denen der konfiszierte Vermö-
genswert ohne eigenes Zutun in den Schoß gefallen ist (vgl. § 73b StGB). Kehrseite
der Schuldindifferenz ist, dass sich das mit dieser Sanktionsform verbundene Übel
auf den Entzug von Gegenstand oder -wert des unrechtmäßig Erlangten beschränkt,
d. h. im Grundsatz nur eine Netto-Abschöpfung legitimierbar ist.95 Es ist offensicht-
lich, dass solcherart begründete Vermögenssanktionen bei juristischen Personen
(etwa als Dritteinziehung gem. § 73b StGB und § 29a II OWiG, als selbständige
Mehrerlösabführung nach §§ 8, 10 II WiStG oder als vermögensabschöpfende Über-
buße gem. § 30 i.V.m. § 17 IV 2 OWiG) gegenüber den materiell betroffenen natür-
lichen Personen (Aktionären usw.) rechtsethisch unproblematisch sind.96 Die korrek-
te begriffliche Kategorie wäre freilich nicht „Strafe“, „Buße“ (wie in § 17 IV OWiG)
oder „Maßregel“, sondern „Tatertragseinziehung“.

cc) Als Gefährdungshaftung

Die gegen juristische Personen gerichteten Vermögenssanktionen sowohl des ge-


schriebenen als auch des vorgeschlagenen künftigen Rechts beschränken sich nicht
91
Zutr. Schünemann, ZIS 2014, 1, 11.
92
Vgl. Abraham (Fn. 83), S. 19; Hoerster (Fn. 77), S. 12.
93
Vgl. BVerfGE 110, 1, 19; Kindhäuser/Zimmermann, AT, § 1 Rn. 23. Grdl. Eser, Die
strafrechtlichen Sanktionen gegen das Eigentum, 1969, S. 284.
94
Ausf. zur Abgrenzung zwischen punitiver und schuldindifferenter Eigentumsentziehung
Marstaller/Zimmermann, Non-conviction-based confiscation in Deutschland?, 2018, S. 72 ff.
95
Zum Streit um Ausnahmen von diesem Prinzip Marstaller/Zimmermann (Fn. 94),
S. 75 ff. m.w.N.
96
So auch nachdrücklich Schünemann, ZIS 2014, 1, 7.
312 Till Zimmermann

auf den Entzug von Taterträgen, sondern gehen darüber hinaus (vgl. § 17 IV 2
OWiG). Hinsichtlich der davon mittelbar betroffenen „schuldlosen“ Inhaber der ju-
ristischen Person (z. B. eines einflusslosen Minderheitsaktionärs, dessen Aktien in-
folge der Sanktionierung einen starken Wertverlust verzeichnen) stellt sich diese
Sanktion als eine Haftung ohne Verschulden dar.97 Rogall bezeichnet dies als eine
Form der „Gefährdungshaftung“ und sieht darin einen verfassungswidrigen Verstoß
gegen das Schuldprinzip.98 Die Bezeichnung stimmt, die Schlussfolgerung nicht.
Von einer Gefährdungshaftung kann man hier sprechen, weil der Betrieb einer ju-
ristischen Person die Schaffung einer Gefahrenquelle, nämlich eines kriminogenen
Faktors bedeutet.99 Die Schlussfolgerung aber ist unrichtig, weil sich ohne großen
Aufwand ein Gerechtigkeitsprinzip formulieren lässt, wonach es keineswegs unbillig
ist, die Nutznießer einer freiwillig betriebenen Gefahrenquelle auch mit den Kosten
für die Abwendung und Beseitigung der aus ihr resultierenden Schäden zu belasten100
– und strafrechtliche Sanktionen für juristische Personen sind als Kriminalitätsprä-
vention eine solche Gefahrbeseitigung. Problematisch ist lediglich, ob bei der Ge-
fährdungshaftung eine Haftungsobergrenze zu ziehen ist. Im hiesigen Kontext be-
stünde etwa ein Legitimationsproblem, wenn die Gefährdungshaftung einen unbe-
grenzten Zugriff auf das Privatvermögen des unschuldigen Inhabers erlaubte
(etwa zur Beitreibung einer Geldsanktion von einer insolventen juristischen Person).
Zumindest hinsichtlich der ohnehin gesellschaftsrechtlich haftungsbeschränkten
Verbandsformen (AG, GmbH) stellt sich dieses Problem aber nicht, da hier der Um-
fang des den Anteilseignern zufügbaren Übels auf den „Einsatz“ der Betroffenen be-
grenzt bleibt. Fazit: Eine rechtsethische Fundamentalkritik an derartigen Sanktionen
ist unbegründet. Aber auch hier gilt, dass schon zur Meidung von Missverständnissen
auf terminologische Klarheit zu achten und der Strafbegriff zu vermeiden ist.

V. Schluss
Juristische Personen sind etwas Künstliches. Sie haben kein eigenes Empfinden
und deshalb keine im Wortsinne eigenen Interessen. Sie sind daher auch keine
(rechts)ethisch unmittelbar relevanten Subjekte. Moralisch beachtlich sind allein
die Interessen der „hinter“ ihnen stehenden natürlichen Personen. Diese Interessen
werden aus Gründen einer rechtstechnischen Vereinfachung unter der Chiffre „juris-
tische Person“ gebündelt und erfahren so eine Als-ob-Behandlung. Das zivilrechtli-
97
Vgl. Schünemann, Unternehmenskriminalität und Strafrecht, 1979, S. 209.
98
KK-OWiG/Rogall, § 30 Rn. 4 f.
99
Ob aus dem tatsächlichen Ausmaß der Kriminogenität aktuell rechtspolitischer Hand-
lungsbedarf erwächst, ist umstritten, s. einerseits Zöller (Fn. 36), S. 30 f., andererseits
Henssler et al., NZWiSt 2018, 1, 8 f.
100
Vgl. Deutsch, NJW 1992, 73, 74 („betriebswirtschaftliche Steuerung des Risikos durch
Kostenübernahme“); BeckOGK/Walter, § 7 StVG Rn. 2; Wiedemann, WM-Sonderbeilage 4/
1975, S. 16.
Vom Leid und Eigeninteresse künstlicher Rechtsträger 313

che Trennungsprinzip könnte daher im Strafrecht nur um den Preis von rechtsethi-
schen Legitimationsmängeln strikt durchgehalten werden. Konkret folgt daraus
zum einen die Vorzugswürdigkeit der strengen Gesellschaftertheorie bei der Organ-
untreue und zum anderen die analytische Unmöglichkeit, juristische Personen mit
einer punitiven Sanktion zu belegen.
Reinhard Merkel wünsche ich dreierlei: Dass dieser Text ihm Freude bereitet;
dass zahlreiche seiner gedanklichen Rohdiamanten (Beispiel: die Figur der sich all-
mählich verbrauchenden Solidarität bei gehäufter Inanspruchnahme)101 einen ver-
edelnden Schliff auch durch künftige Generationen von Strafrechtswissenschaftle-
rInnen erhalten; und dass noch viele Jahre ungebrochener Schaffenskraft vor ihm lie-
gen. All dies liegt gewiss in seinem Interesse.

101
Merkel, Zaungäste (Fn. 2), 171, 195 f.
III. Grundlagen des Strafrechts
Zum normativen Charakter menschlicher Freiheit
und der Frage nach dem objektiven Fundament
des Schuldprinzips
Von Bettina Walde1

„There is a fundamental paradox about our understanding of free will. The intuition that
many of our actions are ultimately caused simply by our free choices seems to be deeply
rooted and widespread, at least in western cultures. And yet, at least in its strong metaphy-
sical form, this intuition seems to be incompatible with the scientific facts. So where does it
come from?“
Alison Gopnik and Tamar Kushnir2

„Free will, a big step further beyond simple animal agency, evolved to deal with a radically
new kind of social environment […]“
„Free will, or the capacity to acquire it, can also be reasonably regarded as an adaptation to
make culture possible. […] Thus, the sort of free will useful for culture would be an advanced
form of action control that can bring the actions of individual selves in line with the rules and
requirements of the [cultural] system. […] Thus, self-control and rational thought, as well as
social communication, would be essential.“
Roy F. Baumeister, Cory Clark and Jamie Luguri3

I. Die normative Quelle der Willensfreiheit


Wirft man einen Blick in die seit mehr als zweitausend Jahren geführten Debatten
um die Willensfreiheit (ungefähr so weit reichen die schriftlichen Überlieferungen
dazu zurück), so entdeckt man schnell, dass es zu diesem Ewigkeitsthema immer
noch Neues zu sagen gibt. Das mag damit zu tun haben, dass zahlreiche Teilprobleme
eben nicht gelöst sind. Es hat aber auch damit zu tun, dass es sich bei dem Phänomen
Willensfreiheit wohl um etwas handelt, was den Menschen von anderen Lebewesen

1
Kontakt unter: Dr. phil. habil. Bettina Walde, bettina_walde@icloud.com.
2
S. 4 aus Gopnik, Alison/Kushnir, Tamar: The Origins and Development of our Concep-
tion of Free Will, in: Alfred Mele (Hrsg.), Surrounding Free Will. Philosophy, Psychology,
Neuroscience, Oxford/New York, 2015, S. 4 – 24.
3
S. 52 und S. 54 aus Baumeister, Roy F./Clark, Cory/Luguri, Jamie: Free Will. Belief and
Reality, in: Alfred Mele (Hrsg.), Surrounding Free Will. Philosophy, Psychology, Neurosci-
ence, Oxford/New York, 2015, S. 49 – 71.
318 Bettina Walde

deutlich unterscheidet, etwas, was ihm seine charakteristische Lebensform, mensch-


liche Kultur, erst ermöglicht; etwas, das über einen langen Zeitraum der Koevolution
mit der menschlichen Kultur erst hervorgebracht wurde, und das sich zudem in jedem
einzelnen Individuum im Laufe des Heranwachsens während eines langwierigen So-
zialisationsprozesses erst entwickeln muss. Die obigen Zitate zeigen, wie sich der
Blick auf das Phänomen Willensfreiheit im letzten Jahrzehnt vor allem in den em-
pirisch-experimentellen Mind Sciences verändert hat. War die zweite Hälfte des
zwanzigsten Jahrhunderts noch von Studien geprägt, die Mechanismen der unbe-
wussten und automatisierten Entscheidungsselektion und Handlungssteuerung
zum Gegenstand hatten, die Autonomie und Willensfreiheit zu widerlegen schienen,
so hat sich im letzten Jahrzehnt der Fokus darauf verschoben, eine Konzeption von
Willensfreiheit zu finden, die im Einklang steht mit den zahlreichen kulturellen An-
forderungen, die wir an das Phänomen knüpfen.4
Seit etwa 2008 ist u. a. die Frage in den Interessensmittelpunkt gerückt, wie sich
die Überzeugungen eines Individuums hinsichtlich der eigenen Willensfreiheit auf
das tatsächliche Entscheiden und Handeln dieses Individuums auswirken. Man
könnte auch sagen, es fand ein Wechsel der Ebene statt, auf der man die interessie-
renden Phänomene untersuchte – weg von einer nicht-personalen Ebene, hin zu einer
personalen Ebene. Mit der Etablierung dieser Herangehensweise zeigte sich dann
ziemlich schnell, dass die Überzeugung von der eigenen Willensfreiheit mit einer
ganzen Bandbreite an positiven Konsequenzen hinsichtlich der Entscheidungsselek-
tion und Handlungssteuerung verbunden ist. Und umgekehrt, dass die Überzeugung
des Fehlens der Willensfreiheit wie sie aus einem deterministischen Weltbild resul-
tieren kann, entsprechend mit negativen Konsequenzen einhergeht. Seither kann man
eine Flut von Titeln in den Forschungsdatenbanken entdecken, die etwa lauten: The
value of believing in free will – Encouraging a belief in determinism increases cheat-
ing5; oder Determined to conform: Disbelief in free will increases conformity6; oder

4
Stellvertretend für die Flut an Studien, die bis etwa 2008 die Debatte prägten, und die sich
ganz ausschließlich der Untersuchung unbewusster Mechanismen der Entscheidungsfindung
und Handlungssteuerung widmeten, sei hier auf die bekannte Untersuchung von Benjamin
Libet verwiesen: Libet, Benjamin: Unconscious cerebral initiative and the role of conscious
will in voluntary action, in: The Behavioral and Brain Sciences 8 (1985), S. 529 – 539. Dieser
Untersuchung folgten zahlreiche weitere, immer noch ein wenig ausgefeiltere Varianten des
Libet-Paradigmas nach, jenes Paradigmas also, das der Psychologe und Neurowissenschaftler
in den 1980er Jahren entworfen hatte, um einen empirischen Beleg für die Existenz der Wil-
lensfreiheit zu liefern, das dann jedoch das Gegenteil zu zeigen schien. Diese Studien zielten
darauf ab, Belege dafür zu liefern, dass bestimmte unbewusste neuronale Vorgänge einer
bewussten Willensentscheidung zeitlich vorausgehen, und dass man mit Hilfe mancher dieser
neuronalen Vorgänge und mit einer gewissen statistischen Erfolgswahrscheinlichkeit die
spätere Entscheidung vorhersagen kann, so dass für Willensfreiheit schlicht kein Raum mehr
zu bleiben scheint.
5
Vohs, Kathleen D./Schooler, Jonathan W.: The value of believing in free will. Encourag-
ing a belief in determinism increases cheating, in: Psychological Science 19 (2008), S. 49 – 54.
Zum normativen Charakter menschlicher Freiheit 319

Reducing self-control by weakening belief in free will7; oder auch Priming determi-
nist beliefs diminishes implicit (but not explicit) components of self-agency8 ; und In-
ducing disbelief in free will alters brain correlates of preconscious motor prepara-
tion: The brain minds whether we believe in free will or not9, um nur einige Beispiele
zu nennen. All diesen Untersuchungen ist gemeinsam, dass sie auf einen engen Zu-
sammenhang zwischen unseren Überzeugungen zu Willensfreiheit und Verantwor-
tung einerseits, und tatsächlicher Willensbildung, Handlungssteuerung und Verhal-
ten andererseits verweisen.
In diesem Aufsatz soll gezeigt werden, dass unsere offensichtlich stark verwur-
zelte Intuition der Willensfreiheit daher rührt, dass das ganze Phänomen eigentlich
mehr ein normatives ist, als ein Naturphänomen oder ein metaphysisches Phänomen.
Ein normatives Phänomen, das ein wichtiger Bestandteil unserer menschlichen Kul-
tur ist, und eine tragende Funktion in zahlreichen Bereichen des sozialen Miteinan-
ders hat, wie eben auch in der Rechtsprechung und den Rechtswissenschaften. Ent-
sprechend ist der Begriff der Willensfreiheit in weiten Teilen, jedoch nicht aus-
schließlich, der Begriff eines normativen Phänomens.10 Den Ausgangspunkt bilden
dabei Reinhard Merkels Überlegungen zur Frage nach der Möglichkeit einer objek-
tiven Rechtfertigung des Schuldprinzips. Es wird sich zeigen, dass die Lage vielleicht
nicht ganz so pessimistisch zu sehen ist, wie Merkel es andeutet, wenn man Willens-
freiheit und die mit ihr verbundenen alternativen Möglichkeiten als normatives Phä-
nomen auffasst. Der objektive Charakter einer Rechtfertigung des Schuldprinzips
durch Willensfreiheit und alternative Möglichkeiten rührt einerseits daher, dass
sich die Individuen einer sozialen Gemeinschaft darauf verständigen, welche Merk-
male und Fähigkeiten Personen entwickelt haben müssen, um als willensfrei und ver-
antwortungsfähig zu gelten. Dabei geht es um intersubjektiv zugängliche Merkmale
und Fähigkeiten, nicht das jeweils persönliche Freiheitserleben, denn das wäre epis-
temisch nicht zugänglich. Zum anderen rührt er daher, dass die Individuen einer so-
zialen Gemeinschaft zwar Prognosen über das Wollen, Entscheiden und Tun anderer
abgeben können, aber eben kein Wissen darüber haben. D. h. sie sind gezwungen, das

6
Alquist, Jessica L./Ainsworth, Sarah E./Baumeister, Roy F.: Determined to conform:
Disbelief in free will increases conformity, in: Journal of Experimental Social Psychology 49
(2013), S. 80 – 86.
7
Rigoni, Davide/Kühn, Simone/Gaudino, Gennaro/Sartori, Giuseppe/Brass, Marcel: Re-
ducing self-control by weakening belief in free will, in: Consciousness and Cognition 21
(2012), S. 1482 – 1490.
8
Lynn, Margaret T./Muhle-Karbe, Paul S./Aarts, Henk/Brass, Marcel: Priming determinist
beliefs diminishes implicit (but not explicit) components of self-agency, in: Frontiers in Psy-
chology, 5 (2014), Aufsatz 1483, S. 1 – 8.
9
Rigoni, Davide/Kühn, Simone/Sartori, Giuseppe/Brass, Marcel: Inducing disbelief in
free will alters brain correlates of preconscious motor preparation: The brain minds whether
we belief in free will or not, in: Psychological Science 22 (2011), S. 613 – 618.
10
Ich habe diese These, die hier nun genauer ausgearbeitet werden soll, bereits früher
einmal formuliert. Siehe hierzu Walde, Bettina: Willensfreiheit und Hirnforschung. Das
Freiheitsmodell des epistemischen Libertarismus, Paderborn, 2006.
320 Bettina Walde

Wollen, Entscheiden und Tun anderer, sowie auch ihr eigenes, stets unter der zumin-
dest epistemischen Annahme alternativer Möglichkeiten zu betrachten.

II. Die Frage nach dem objektiven Fundament des Schuldprinzips


Reinhard Merkel geht in seiner exzellenten kleinen strafrechtsphilosophischen
Abhandlung „Willensfreiheit und rechtliche Schuld“11 im letzten Kapitel vor dem
Resümee der Frage nach der Legitimation des strafrechtlichen Schuldprinzips
nach, und benennt dabei zwei Perspektiven, an denen ein Legitimationsvorschlag je-
weils gemessen werden müsse. Demnach bilden (a) das Willensfreiheitserleben auf
Seiten des Subjekts, sowie (b) die Funktion, die das Strafrecht mit Blick auf die Ge-
sellschaft zu erfüllen hat, die Grundlage für eine als plausibel empfundene Schuld-
zuschreibung. Dabei wird die erste Perspektive als „subjektiv-persönlich“12, die
zweite als „objektiv-normativ“ charakterisiert.13 Merkel macht durch einige Beispie-
le wie das eines Epileptikers, der während einer Autofahrt einen Anfall erleidet,
einen Unfall verursacht, und sich selbst dabei als frei erlebt, wiewohl ihm wichtige
Steuerungskompetenzen fehlen, deutlich, dass subjektives Freiheitserleben eines
Akteurs alleine nicht hinreichend sein kann, um Willensfreiheit in einem objektiven
Sinne zuzuschreiben, so dass es alleine als Grundlage einer aus dem Schuldprinzip
resultierenden Schuldzuschreibung herangezogen werden könnte.14
Die von Merkel vorgeführten Überlegungen verweisen darauf, dass es, um zu
einem objektiven Fundament des Schuldprinzips zu gelangen, entscheidend ist,
einen Übergang vom subjektiven Freiheitserleben hin zu dem, was häufig als „prak-
tisch-wirkliche (Willens-)Freiheit“ bezeichnet wird, herzustellen. Gemeint ist damit
eine Art von Willensfreiheit, die intersubjektiv zugänglich ist, sich der Beobachtung
durch andere nicht (wie das reine persönliche Freiheitserleben) entzieht, die im idea-
len Falle auch noch zum Forschungsgegenstand der empirischen Mind Sciences und
Naturwissenschaften mit ihren empirisch-experimentellen Methoden gemacht wer-
den können sollte, und die dann in diesem Sinne auch objektivierbar sein sollte. Die

11
Merkel, Reinhard: Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechtsphilosophische
Untersuchung, Baden-Baden, 22014.
12
Positionen, die das subjektive Freiheitserleben als Ursprung einer „praktisch-wirklichen
Willensfreiheit“ heranziehen, finden sich in der Rechtsphilosophie u. a. bei Björn Burkhardt.
Subjektives Freiheitserleben wird in solchen Ansätzen indirekt als legitimatorische Grundlage
der Schuldzuschreibung herangezogen, indem sie als Ursprung oder Quelle einer praktisch-
wirklichen Freiheit aufgefasst wird. Siehe hierzu den Aufsatz Burkhardt, Björn: Freiheitsbe-
wusstsein und strafrechtliche Schuld, in: Albin Eser (Hrsg.), Festschrift für Theodor Lenckner,
München, 1998.
13
Siehe S. 118 aus Merkel, Reinhard: Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine straf-
rechtsphilosophische Untersuchung, Baden-Baden, 22014.
14
Merkel, Fn. 11, S. 121. Kritik an einer solchen subjektivistischen Auffassung übt auch
Tatjana Hörnle: S. 36 – 37 aus Hörnle, Tatjana: Kriminalstrafe ohne Schuldvorwurf. Ein Plä-
doyer für Änderungen in der strafrechtlichen Verbrechenslehre, Baden-Baden, 2013.
Zum normativen Charakter menschlicher Freiheit 321

Geschichte der Willensfreiheitsdebatte ist voll von Versuchen, einen solchen Zusam-
menhang zwischen subjektivem Freiheitserleben und einer tatsächlichen oder wirk-
lichen (im Sinne von objektivierbaren) Willensfreiheit auszuformulieren.
Ein Weg, der hierzu häufig beschritten wurde, führt über die Diskussion der sog.
alternativen Möglichkeiten, die eine Person im Zeitraum der Willensbildung und
Entscheidungsfindung gehabt haben muss, um die Willensentscheidung selbst
sowie die daraus resultierenden Handlungen als frei auffassen zu können. Folgt
man dieser Diskussion ein wenig, so kann man sich schnell in metaphysischen De-
batten über Kontrafaktisches verlieren, die teils schon seit mehreren hundert Jahren
geführt werden, und die immer wieder neue Varianten subtiler Argumente hervor-
bringen. Wie schon erwähnt, wird seit einigen Jahrzehnten die Suche nach der Wil-
lensfreiheit oder nach einer unumstößlichen Widerlegung der Willensfreiheit auch in
den naturwissenschaftlich arbeitenden Mind Sciences fortgeführt. Doch diese empi-
risch motivierten Debatten scheinen genauso wenig wie die metaphysischen Debat-
ten zu einer intersubjektiv zugänglichen und mehrheitsfähigen Grundlage einer Auf-
fassung von Willensfreiheit zu führen, die als objektives Fundament des Schuldprin-
zips dienen könnte.15 Im Falle der empirischen Mind Sciences hat dies u. a. auch
damit zu tun, dass sie schon aus methodischen Gründen leicht in Widerspruch zur
Annahme der Willensfreiheit geraten. Jeder Versuchsaufbau, der beispielsweise
dazu dienen soll, Willensfreiheit zu messen, zu belegen, zu widerlegen, setzt gewisse
Regelmäßigkeiten in den Naturabläufen und im Bereich des Untersuchungsgegen-
standes voraus, ohne die ein sinnvoller Versuchsaufbau gar nicht konzipierbar
wäre. Solche Zusammenhänge können die von der Versuchsleiterin erwarteten Re-

15
Dies zeigen nicht nur kritische Äußerungen, die aus den empirischen Mind Sciences
selbst kommen, sondern vor allem auch kritische Äußerungen aus jenen Disziplinen, die sich
mit den neurowissenschaftlichen Thesen zu Willensfreiheit und Determinismus aus einer
normwissenschaftlichen Perspektive heraus befassen, wie etwa Rechtsphilosophie und Straf-
rechtswissenschaft. So vertritt beispielsweise Rolf Herzberg die These einer gänzlichen Irre-
levanz der neurophysiologischen Erkenntnisse, wenn er schreibt „Dem setze ich die radikale
Behauptung entgegen, dass die Erkenntnisse der Hirnforschung zur Beantwortung der Fragen
nach Willensfreiheit und Schuld rein gar nichts beisteuern, dass sie dafür auch nicht die
geringste Relevanz haben.“ Gemeint sind hier vor allem solche Erkenntnisse, die an das zuvor
schon erwähnte Libet-Paradigma anschließen, siehe Fn. 4. Herzberg begründet seine These
aus einer deterministischen Weltsicht heraus: „Belanglos sind die Hirnforschungsergebnisse
jedenfalls für den Deterministen. […] Für den Verstand ist das apriorische quidquid fit ne-
cessario fit entscheidend und nicht irgendeine Einzelheit des Ursachenverlaufs, der so oder so
mit Notwendigkeit den Entschluss zur Folge hat.“ Die Zitate finden sich auf S. 4 und S. 6 in
Herzberg, Rolf D.: Willensunfreiheit und Schuldvorwurf, Tübingen, 2010. Hier ist zu be-
denken, dass ein umfassender physikalischer Determinismus nur den Status einer wissen-
schaftstheoretischen Hypothese hat, die wir aus der Perspektive eines außerhalb des Univer-
sums befindlichen Beobachters formulieren, der nicht mit dem Universum interagiert – aus
seiner Sicht würde sich der oben beschrieben notwendige Ursachenverlauf ergeben, so dass
Prognosen und Wissen über Entscheidungen und Handlungsverläufe zusammenfallen würden.
Die im Universum befindlichen Akteure agieren aber zumindest epistemisch nicht unter dieser
Perspektive, für sie ist die Zukunft (epistemisch betrachtet) offen, so dass Prognose und
Wissen über Entscheidungen und Handlungen regelmäßig auseinanderfallen.
322 Bettina Walde

aktionen der Probanden auf bestimmte Reize betreffen, die erwartete neuronale Ver-
arbeitung solcher Reize, den Zusammenhang zwischen (neuro-)physiologischen
Vorgängen und Bewusstseinszuständen und so fort.
Diese Auseinandersetzungen, sowohl die metaphysischen als auch die empirisch-
experimentellen, haben inzwischen über einen langen Zeitraum hinweg, der bereits
in der Antike begann, eine enorme Menge an Literatur hervorgebracht, und die wis-
senschaftliche Auseinandersetzung mit dem Gegenstand reißt keineswegs ab. Den-
noch scheint man von einer allgemein überzeugenden Lösung des Problems weit ent-
fernt. Wie ein objektives, auf einer in irgendeinem Sinne als tatsächlich oder wirklich
geltenden Willensfreiheit basierendes Fundament des Schuldprinzips im Sinne des
Paragraphen 20 StGB aussehen könnte, ist alles andere als klar.16 Dieser Umstand
ist es, der Merkel zu dem Resümee veranlasst, dass wir „[…] mindestens in dubio
[…] hinnehmen [müssen], dass (möglicherweise) kein einziger individueller Straf-
täter jemals in der Lage ist, sich „bei Begehung der Tat“ anders zu verhalten und
sein Handeln zu vermeiden“17 (S. 126), so dass vor diesem Hintergrund § 20
StGB das ungelöste Problem aufwerfe, dass er einerseits ein tatsächliches Anders-
handelnkönnen im Moment der Tatbegehung voraussetze, dass aber andererseits
diese Voraussetzung nicht beweisbar sei, und deshalb sinnvoll nur als „normative Set-
zung“ gedeutet werden könne.18 D. h. das eingeforderte objektive Fundament des
Schuldprinzips wäre dann ein eigentlich normatives, und würde die im rechtlichen
Sinne als schuldfähig geltenden Täter von Straftaten mit der Unterstellung von alter-
nativen Möglichkeiten bei der Begehung einer Tat, zur Quelle der Legitimität einer
Strafe machen. Merkel kommt entsprechend gegen Ende seiner Abhandlung zu dem

16
In der Strafrechtswissenschaft und der Rechtsphilosophie wurden aus diesem Grunde
längst auch andere Lesarten des Paragraphen 20 StGB formuliert, die das Schuldprinzip ohne
Rekurs auf eine substantielle Variante der Willensfreiheit und die alternativen Möglichkeiten
im Moment der Tatbegehung zu interpretieren versuchen. So formuliert etwa Roxin ein Kri-
terium der Normativen Ansprechbarkeit, das anstelle der alternativen Möglichkeiten unmit-
telbar vor dem Zeitpunkt der Tatbegehung zur Begründung des Schuldprinzips und als Krite-
rium der Schuldfähigkeit herangezogen werden kann – „[…] bei intakter Steuerungsfähigkeit
und damit gegebener normativer Ansprechbarkeit [wird der Täter] als frei behandelt“, so
Roxin in Roxin, Claus: Strafrecht Allgemeiner Teil Band I, § 19 Rn 36, 37, Münster, 4 2006.
Obwohl dieser Vorschlag durchaus plausibel ist, wirft er doch Fragen auf. Neben der (vor
allem empirisch zu beantwortenden) Frage, was man sich unter normativer Ansprechbarkeit
vorzustellen habe, dürfte vor allem zu klären sein, ob sich die „[…] eingestandenermaßen
unaufhebbare Lücke zwischen einem solchen Surrogat [gemeint ist die normative Ansprech-
barkeit] und jenem freien Willen zum Andershandelnkönnen, von dem nach Roxin „das
Strafrecht ausgehen muss“, tatsächlich einfach per „Zuschreibung“ schließen [lässt]“, so
Merkel in Merkel, Reinhard: Schuld, Charakter und normative Ansprechbarkeit. Zu den
Grundlagen der Schuldlehre Claus Roxins, in: Manfred Heinrich/Christian Jäger (Hrsg.),
Strafrecht als Scientia Universalis. Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag, München
2012, Bd. I, S. 737 ff.
17
S. 126 aus Merkel, Reinhard: Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechts-
philosophische Untersuchung, Baden-Baden, 22014.
18
S. 134 aus Merkel, Reinhard: Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechts-
philosophische Untersuchung, Baden-Baden, 22014.
Zum normativen Charakter menschlicher Freiheit 323

Befund, dass ein solches Vorgehen eigentlich unzulässig sei. Es stelle das ungelöste
Problem des Paragraphen 20 StGB dar, und könne letztlich nur durch Normschutz-
erwägungen gerechtfertigt werden.
Diese Überlegungen sind, vor dem Hintergrund der umfangreichen Debatte zur
Willensfreiheit, durchwegs überzeugend und nicht von der Hand zu weisen. Hier
soll nun überlegt werden, inwiefern es legitim und begründbar sein könnte, die
von Reinhard Merkel konstatierte „[…] unaufhebbare Lücke zwischen einem sol-
chen Surrogat [gemeint ist die normative Ansprechbarkeit] und jenem freien Willen
zum Andershandelnkönnen, von dem nach Roxin das Strafrecht ausgehen muss, tat-
sächlich einfach per Zuschreibung [zu] schließen“19. Merkel selbst unternimmt einen
solchen Versuch und nennt Normschutzerwägungen, wie wir gesehen hatten. Man
kann im Sinne einer weiterführenden Begründung jedoch auch die impliziten,
aber womöglich hinterfragbaren philosophischen Voraussetzungen des mit § 20
StGB verbundenen „objektiven Fundaments des Schuldprinzips“ einmal genauer be-
trachten. Dieses „objektive Fundament des Schuldprinzips“ und die zu seiner Aus-
gestaltung herangezogenen „alternativen Möglichkeiten bei der Tatbegehung“ lassen
sich nämlich durchaus unterschiedlich deuten. Die von Merkel verwendeten Lesar-
ten, sowie die von ihm vorausgesetzte Auffassung des Begriffs der Willensfreiheit
gehören dabei zu den weit verbreiteten und eigentlich unumstrittenen. Doch man
kann die unausgesprochene Voraussetzung der gesamten Willensfreiheitsdebatte,
dass der Terminus „Willensfreiheit“ entweder ein metaphysisches oder aber ein Na-
turphänomen bezeichne, oder eine Mischung aus beiden, in Frage stellen. Es gibt
noch eine dritte Möglichkeit – man könnte den Terminus auch als versteckte Be-
zeichnung für eine komplexe Norm auffassen, den Begriff entsprechend als norma-
tiven Begriff lesen, und das Phänomen der Willensfreiheit entsprechend als ein zu-
mindest in Teilen normatives Phänomen verstehen. Gelänge das, könnte auf diese
Weise ein innerer Zusammenhang zwischen den alternativen Möglichkeiten und
dem, was bei Merkel und Roxin als „normative Ansprechbarkeit“ bezeichnet
wird, herzustellen.

III. Alternative Möglichkeiten aus Sicht des Akteurs,


aus Sicht eines Beobachters im Universum
und aus Sicht eines hypothetischen, außerhalb des Universums
befindlichen Beobachters
Die Frage nach den alternativen Möglichkeiten bei der Tatbegehung kann ganz
unterschiedliche Antworten hervorbringen, je nachdem, aus welcher Perspektive
sie gestellt wird. Wirft man also die Frage auf, wie man damit umgehen solle,
19
In Merkel, Reinhard: Schuld, Charakter und normative Ansprechbarkeit. Zu den
Grundlagen der Schuldlehre Claus Roxins, in: Manfred Heinrich/Christian Jäger (Hrsg.),
Strafrecht als Scientia Universalis. Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag, München
2012, Bd.I, S. 737 ff.
324 Bettina Walde

„dass (möglicherweise) kein einziger individueller Straftäter jemals in der Lage ist,
sich ,bei Begehung der Tat‘ anders zu verhalten und sein Handeln zu vermeiden“20, so
gilt es deshalb zunächst mehrere Perspektiven zu unterscheiden, aus denen heraus
man diesen Zusammenhang beurteilen kann. Zum einen hängt die Antwort auf die
Frage, ob ein Handelnder, sei er nun ein Delinquent oder nicht, im Vorfeld seines
Tuns Willensfreiheit hatte oder nicht, davon ab, wer sie – perspektivisch betrachtet
– beurteilt. Es lassen sich zumindest drei Perspektiven unterscheiden:
(a) Die Perspektive der ersten Person, die nur vom Akteur selbst eingenommen wer-
den kann. Hier bildet das Freiheitserleben die Grundlage für die Antwort, das
aber selbstverständlich nicht abgetrennt vom Wissen und den Überzeugungen
des Akteurs dasteht, sondern vielmehr davon stark beeinflusst wird (wie auch
umgekehrt).
(b) Die Perspektive der dritten Person, wie sie einem in der Welt befindlichen Be-
obachter entspricht. Hier erfolgt die Beantwortung der Frage auf der Grundlage
des Verhaltens (einschließlich des Sprachverhaltens), das der fragliche Akteur
zeigt, sowie auf dem gesamten Wissen, das der Beobachter (Perspektive der
3. Person) mitbringt. Man kann hier im Sinne eines Gedankenexperiments an-
nehmen, dass er (i) über sämtliche uns derzeit verfügbaren Kenntnisse zur Hand-
lungssteuerung, Willensbildung und Entscheidungsfindung verfüge, wie über-
haupt über alle uns derzeit verfügbaren Kenntnisse zu naturgesetzlichen und
sonstigen Zusammenhängen Wissen habe. Man kann sich (ii) diesen Beobachter
aber auch einfach, realitätsnah, als einen zwar in jederlei Hinsicht hervorragend
informierten, aber eben nicht allwissenden Richter vorstellen.
(c) Schließlich gibt es eine weitere Perspektive der dritten Person, wie sie einem au-
ßerhalb der Welt befindlichen Beobachter entspricht. Von diesem zweiten hypo-
thetischen Beobachter sei angenommen, dass er über sämtliche überhaupt zu er-
langenden Kenntnisse zur Handlungssteuerung, Willensbildung und Entschei-
dungsfindung, sowie sämtliche naturgesetzlichen und sonstigen Zusammenhän-
ge verfüge – kurz: es gibt nichts, was er nicht weiß. Und in diesem Punkt
unterscheidet er sich von dem ersten hypothetischen Beobachter unter (b).
Die Beantwortung der Frage, ob ein bestimmter Akteur aus der beobachteten
Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt Willensfreiheit im Sinne der alternativen
Möglichkeiten hatte, erfolgt, wie unter (b), auf der Grundlage des Verhaltens
(einschließlich des Sprachverhaltens), das der fragliche Akteur zeigt, sowie
auf der Hypothese, dass der Beobachter selbst in dem Sinne allwissend sei,
dass er aus dem Zustand der Welt zu einem beliebigen Zeitpunkt zusammen
mit naturgesetzlichen Zusammenhängen, die er alle kenne, auf die künftigen Zu-
stände der Welt und des beobachteten Akteurs schließen könne.

20
S. 126 aus Merkel, Reinhard: Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechts-
philosophische Untersuchung, Baden-Baden, 22014.
Zum normativen Charakter menschlicher Freiheit 325

Außer diesen drei Beobachterperspektiven bzw. personellen Perspektiven, aus


deren Blickwinkel man die Frage nach den alternativen Möglichkeiten eines Han-
delnden bei der Tatbegehung beantworten kann, gilt es auch noch, zwischen unter-
schiedlichen zeitlichen Standpunkten zu differenzieren: Stellt man die Frage vor der
fraglichen Tat (so wie es der Handelnde jeweils selbst tun muss oder müsste), oder
danach. D. h., formuliert man vor der Willensentscheidung und Handlung eines Ak-
teurs eine Prognose bzw. Vorhersage, oder gibt man – retrospektiv – eine im Idealfalle
vollkommen lückenlose und u. U. deterministische Kausalerklärung. Je nachdem,
welchen Zeitpunkt man hier wählt, kann die Antwort auf die Frage, ob ein individu-
eller Handelnder nun alternative Möglichkeiten hat bzw. hatte oder nicht, unter-
schiedlich ausfallen. Diese Differenzierung ist wichtig, weil sich Handelnde, ver-
üben sie nun Straftaten oder nicht, die Frage nach den alternativen Möglichkeiten
stets vor ihren Entscheidungen und Taten stellen, falls sie sich überhaupt damit be-
fassen. Die mit den Resultaten von Handlungen befassten Personen wie beispielswei-
se Psychiater und Richter können die Frage nach den alternativen Möglichkeiten aber
immer erst nach den Taten stellen, und das birgt gewisse Verwechslungsrisiken wie
wir noch sehen werden.
Welche Antworten ergeben sich aus diesen Unterscheidungen nun hinsichtlich
der Frage, ob ein bestimmter Akteur vor Beginn seiner Handlung alternative Mög-
lichkeiten hatte, ob er also auch anders hätte wollen, entscheiden und handeln können
als er es dann tatsächlich tat? Um die Frage zu beantworten, ob ein individueller Ak-
teur in diesen unterschiedlichen Perspektiven jeweils alternative Möglichkeiten vor
dem Zeitpunkt der Tatbegehung hatte oder nicht, ist mit Blick auf die beiden Fälle (b)
und (c) festzustellen, ob der jeweilige Beobachter wissen kann, wie die Willensbil-
dung, Entscheidungsfindung und das Handeln des fraglichen Akteurs ausfallen wer-
den oder nicht. Insofern als (propositionales) Wissen stets mit dem Ausschluss alter-
nativer Möglichkeiten verbunden ist, kann man davon ausgehen, dass in jenen Fällen,
in denen Wissen darüber besteht, dass ein individueller Akteur so-und-so entscheiden
und handeln wird, keine alternativen Möglichkeiten unmittelbar vor dem (späteren)
Zeitpunkt der Tatbegehung gegeben sein können.
Geht man vor einer Tat im Sinne einer Prognose oder Vorhersage der Frage nach,
ob der fragliche Akteur unmittelbar vor dem Tatzeitpunkt alternative Möglichkeiten
hat, so hat man grundsätzlich, das klingt nun fast trivial, noch kein Wissen darüber, zu
welchem Ergebnis der Willensbildungsprozess letztlich führen wird, welche Ent-
scheidung getroffen wird und wie dann gehandelt wird. Selbst wenn man, wie es heu-
tige Neuropsychologen tun21, relativ genaue Vorhersagen darüber machen kann, wel-

21
Siehe hierzu Fn. 4, sowie beispielsweise Haynes, John-Dylan/Rees, Geraint: Decoding
mental states from brain activity in humans, in: Nature Reviews 7 (2006), S. 523 – 534; sowie
Soon, Chun S./Brass, Marcel/Heinze, Hans-Jochen/Haynes, John-Dylan: Unconscious deter-
minants of free decisions in the human brain, in: Nature Neuroscience 11 (2006), S. 543 – 545;
sowie Haynes, John-Dylan/Sakai, Katsuyuki/Rees, Geraint/Gilbert, Sam/Frith, Chris/Pass-
ingham, Richard E.: Reading hidden intentions in the human brain, in: Current Biology 17
(2007), S. 323 – 328.
326 Bettina Walde

che Absichten und Motive einer Versuchsperson oder auch eines gewöhnlichen Han-
delnden sich wohl im Entscheiden und Tun durchsetzen werden, ist die Menge der
möglichen Determinanten, die in die Entscheidung und damit verbundene Handlun-
gen, sowie auch in die Vorhersage einfließen, noch nicht abgeschlossen solange der
Willensbildungsprozess nicht abgeschlossen, die Entscheidung nicht getroffen ist
und die Handlung nicht initiiert ist.
Selbst ein idealer, in der Welt befindlicher Beobachter (wie unter (b), (i) skizziert),
der alles weiß, was es bis zu seiner Prognose über seine Welt überhaupt zu wissen
gibt, müsste damit rechnen, dass noch neue Determinanten hinzukommen, die die
Willensbildung, das Entscheiden und Tun des beobachteten Akteurs verändern könn-
ten, und eine neue Prognose erforderlich machen könnten.22 Ein gewöhnlicher in der
Welt befindlicher Beobachter wie etwa ein Neurowissenschaftler, der sich mit den
neuronalen Grundlagen der Handlungssteuerung befasst, weiß ohnehin nicht alles,
was es überhaupt zu wissen gibt, wird also ohnehin nicht alle bis zum Zeitpunkt
der Prognosestellung aufgetretenen Determinanten einer bestimmten Entscheidung
und Handlung kennen, und wird schon von daher unzuverlässigere Vorhersagen ma-
chen. Das heißt also, dass mit Blick auf den obigen Fall (b) bei dem sich die Beob-
achter unseres Akteurs in der Welt befinden, kein Wissen möglich ist. Damit beste-
hen aus dieser Perspektive vor dem Handlungsbeginn durchaus alternative Möglich-
keiten.
Der Hinweis auf den Zeitpunkt, zu dem man die Frage nach den alternativen Mög-
lichkeiten eines Akteurs stellt, mag zunächst belanglos erscheinen. Sie ist es aber
nicht ganz. Wie wir eben gesehen haben, sind vor dem Abschluss eines Willensbil-
dungsprozesses mit Entscheidung und Handlung nur so etwas wie Prognosen oder
Vorhersagen über die künftige Handlung möglich, jedoch kein Wissen. Damit gibt
es – zunächst epistemisch gesehen – immer auch alternative Möglichkeiten für
die entsprechende Handlung, einfach weil wir eben nicht alle Determinanten des
Wollens, Entscheidens und Tuns eines Handelnden kennen. Das betrifft auch die
obige Perspektive (a), also den Handelnden selbst, der sich fragt, welche alternativen
Möglichkeiten er in einer gegebenen Situation eigentlich hat, auch er kennt keines-
wegs alle Determinanten, die in sein Wollen und Tun einfließen.
Erst wenn man den zeitlichen Standpunkt in den Bereich nach einer bestimmten
Tat verschiebt, scheint sich plötzlich alles zu ändern. Dann hat die Handlung statt-
gefunden, und es lassen sich retrospektiv auch zahlreiche in die Handlung mündende
Determinanten finden, u. U. sogar eine relativ lückenlose und womöglich auch de-
terministische Kausalerklärung. Stellt man von diesem zeitlichen Standpunkt aus
die Frage nach den alternativen Möglichkeiten, wird man sie deshalb wohl fast
immer negativ beantworten. Dies ist natürlich nicht die Situation des Handelnden

22
Siehe hierzu vor allem Donald MacKay, der ein entsprechendes Argument formuliert:
MacKay, Donald M.: On the logical indeterminacy of free choice, in: Mind 69 (1960), S. 31 –
40; sowie MacKay, Donald M.: Choice in a mechanistic universe: Reply to some critics, in:
The British Journal for the Philosophy of Science 22 (1971), 275 – 285.
Zum normativen Charakter menschlicher Freiheit 327

vor einer Handlung, wohl aber die eines Richters, der die Ergebnisse des Entschei-
dens und Tuns von Tätern zu beurteilen hat. Mit der Verschiebung des Zeitpunktes,
zu dem man die Frage nach den alternativen Möglichkeiten stellt, findet auch so
etwas wie ein Kategorienwechsel statt: Während man vor einer Handlung nur mut-
maßen oder mit mehr oder minder guten wissenschaftlichen Methoden prognostizie-
ren kann (epistemisch), welche Wünsche, Motive, Werteinstellungen und so fort,
sich im Entscheiden und Tun einer Person durchsetzen werden, weiß man nach
der Handlung, welche Faktoren sich letztlich durchgesetzt haben. Damit wird es
möglich, die epistemische Ebene zu verlassen, die ontologischen Zusammenhänge
der fraglichen Handlung genauer zu betrachten, und Ereignisketten zu benennen.
Ganz anders verhält es sich mit dem obigen Fall (c), in dem per Hypothese ein
idealer Beobachter angenommen wurde, der sich selbst außerhalb der Welt des Ak-
teurs befindet. Ein solcher hypothetischer Beobachter, der über sämtliche überhaupt
zu erlangenden Kenntnisse zur Handlungssteuerung, Willensbildung und Entschei-
dungsfindung verfügt, sowie alle naturgesetzlichen und sonstigen Zusammenhänge
kennt, weiß damit auch, welche Taten ein bestimmter Handelnder durchführen wird,
bzw. kann das herleiten. Für einen nicht mit der beobachteten Welt interagierenden
hypothetischen Beobachter dieses Typs fallen Vorhersage und Wissen zusammen.
Aus dieser Perspektive getroffene Vorhersagen verändern (anders als im Falle
eines in der Welt befindlichen Beobachters)23 die Menge der Determinanten, die
in eine Handlung einfließen können, nicht. Das heißt, aus dieser Perspektive muss
man tatsächlich einräumen, dass „kein einziger individueller Straftäter jemals in
der Lage ist, sich bei Begehung der Tat anders zu verhalten und sein Handeln zu ver-
meiden“24, wie Merkel es als Frage formuliert hatte.
Ein solches Szenario illustriert die wissenschaftstheoretische Hypothese eines
umfassenden physikalischen Determinismus, wonach sich jeder Zustand der Welt je-
weils aus den vorhergehenden Zuständen zusammen mit den naturgesetzlichen Zu-
sammenhängen ergibt. Für unsere philosophischen und strafrechtlichen Belange hier
ist ein solches Szenario jedoch eigentlich uninteressant, denn es handelt sich, wie
gesagt, um eine Hypothese, von der wir nicht wissen, ob sie wahr ist, und die mit
empirischen Mitteln nicht überprüft werden kann. Hinzu kommt, dass eine solche
Hypothese auch eine gewisse innere Unplausibilität aufweist, da (nach gängiger Phy-
sik) schon der Beobachtungsvorgang selbst eine Interaktion mit dem beobachteten
Universum darstellt.
Unser eigener Standpunkt (und auch der aller Neurowissenschaftler, die sich mit
Handlungssteuerung befassen) ist der von Handelnden und mehr oder weniger idea-
len Beobachtern in der Welt. Diesen Standpunkt können wir nicht verlassen, wir kön-

23
Ein in der Welt befindlicher Beobachter würde mit seinen Prognosen die Menge der
Determinanten des nächsten Weltzustandes verändern, und damit eine gerade formulierte
Prognose u. U. hinfällig werden lassen. Vgl. auch Fn. 22.
24
S. 126 aus Merkel, Reinhard: Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechts-
philosophische Untersuchung, Baden-Baden, 22014.
328 Bettina Walde

nen zwar darüber räsonieren, welche epistemischen und ontologischen Zusammen-


hänge einem hypothetischen außerweltlichen Beobachter zugänglich wären oder
sein könnten, fundiertes Wissen, womöglich sogar empirischer Art, können wir hier-
zu aber nicht haben. Der Standpunkt von Beobachtern in der Welt des Akteurs (wie
auch der Standpunkt des Akteurs selbst) schließt ein Wissen bis unmittelbar vor Be-
ginn einer Tat, bis also die Menge der Determinanten einer Tat tatsächlich abge-
schlossen ist, aus.
Die für uns interessanten Fälle sind also (a) und (b), wobei sich die Frage nach den
alternativen Möglichkeiten eines Akteurs wie in (a) nur vermittelt über (b) beantwor-
ten lässt. Prinzipiell gibt es aus der Sicht eines Beobachters wie in (b) skizziert al-
ternative Möglichkeiten bis zum Beginn einer Tat des Akteurs. Ob diese alternativen
Möglichkeiten aber auch in der Perspektive des Akteurs selbst auftauchen, von ihm
als solche identifiziert und wahrgenommen werden, ist eine andere Frage. Die Per-
spektive der ersten Person ist einem eventuellen Beobachter, etwa einem Neurowis-
senschaftler oder auch Richter, nur vermittelt über die Beobachterperspektive der
dritten Person wie in (b) zugänglich, d. h. nur vermittelt über Verhaltensäußerungen
(einschließlich Sprachverhalten) des Akteurs, sowie über die Beobachtung und Ana-
lyse sonstiger körperlicher Vorgänge. Das mentale Innenleben des Akteurs dagegen
entzieht sich der unmittelbaren Zugänglichkeit der Perspektive der dritten Person.

IV. Was wir eigentlich wissen wollen, wenn wir fragen


„Hätte der Täter die Tat vermeiden können?“
Fasst man die bisherigen Überlegungen zusammen, so kann man sagen, dass die
Frage „Hätte der Täter die Tat vermeiden können bzw. hatte er alternative Möglich-
keiten?“ nicht danach fragt, ob der physikalische Determinismus eine plausibel be-
gründete, womöglich empirisch untermauerte Position ist, so dass die obige Frage zu
verneinen wäre. Die Frage sucht auch nicht nach der Wahrheit oder Falschheit der
physikalisch-wissenschaftstheoretischen Hypothese des physikalischen Determinis-
mus oder Indeterminismus. Vielmehr handelt es sich bei der obigen Frage um die
nach den Entscheidungs- und Handlungssteuerungskompetenzen einer bestimmten
Person.
Vor dem Hintergrund des bisher gesagten, ist einmal festzuhalten, dass für die
Frage nach den alternativen Möglichkeiten und die Frage danach, ob ein Täter
seine Tat hätte vermeiden können, die personale Ebene ausschlaggebend ist. Es
hilft nicht weiter, zu fragen, ob der physikalische Determinismus wahr ist oder
nicht: Selbst wenn er wahr wäre, wären wir nicht in der Position eines außerhalb
der Welt befindlichen Beobachters, für den Vorhersage bzw. Prognose und Wissen
über das Wollen, Entscheiden und Tun von Akteuren zusammen fallen. Und wüssten
wir, dass die Hypothese eines umfassenden physikalischen Determinismus falsch ist,
würde auch daraus noch immer nichts mit Blick auf die alternativen Möglichkeiten
zu einer von einer bestimmten Person ausgeführten Tat folgen. Dazu ist vielmehr ein
Zum normativen Charakter menschlicher Freiheit 329

Blick auf die Perspektive des jeweiligen Akteurs erforderlich. Denn wichtig ist nicht
die Frage, ob Willensbildungsprozesse, Entscheidungen und daraus resultierende
Handlungen von irgend etwas verursacht wurden oder an letzter Stelle unverursacht
sind, sondern wie sie verursacht wurden. D. h. wir fragen eigentlich nach den Ent-
scheidungs- und Handlungsfähigkeiten einer Person. Die Rede von den alternativen
Möglichkeiten wird dann nicht mehr im Sinne der Determinismus-Hypothese gele-
sen (also auf die gesamte Welt von außen betrachtet bezogen), sondern nur auf einen
umgrenzten Ausschnitt der Welt, der den Akteur umfasst, sowie seine Umgebung
bzw. seinen Kontext, der wiederum zeitlich und räumlich unterschiedlich stark aus-
gedehnt werden kann.
So gehen wir tatsächlich vor, wenn wir uns in der sozialen Interaktion fragen, ob
irgendein Gegenüber wohl auch anders wollen, entscheiden und handeln hätte kön-
nen als es der Fall war, und uns wechselseitig Verantwortung zuschreiben. Dabei
gehen wir stets davon aus, dass es einen systematischen und in irgendeinem Sinne
bestimmenden (oder eben determinierenden) Zusammenhang zwischen Motiven,
Wollen, Entscheiden und Handeln von Personen gibt. Und auch die experimentelle
Psychologie geht so vor, wenn sie die Willensbildung und das Entscheiden von Pro-
banden untersucht. Sie betrachtet jeweils Ausschnitte der Wirklichkeit, und geht mit
Bezug auf diese Ausschnitte davon aus, dass mentale Vorgänge und das Verhalten
von Individuen von anderen Faktoren, z. B. Umweltreizen, bestimmt werden und
sogar kontrolliert werden können. Dies ist die Voraussetzung dafür, Psychologie
im Sinne einer positivistischen Wissenschaft betreiben zu können.25 In ihrer Rein-
form werden Ansätze, die annehmen, dass sich menschliches Verhalten vollständig
durch Umweltreize kontrollieren lasse, längst nicht mehr vertreten. Vielmehr hat sich
inzwischen herumgesprochen, dass Individuen der Kontrolle durch die Umwelt tat-
sächlich etwas entgegensetzen können, wie immer man das dann nennen möchte, in-
terne Kontrolle, oder Autonomie, oder auch Willensfreiheit.26

25
In der kritischen Auseinandersetzung mit der experimentellen Psychologie wird der hier
indirekt zum Ausdruck kommende Determinismus mit Blick auf Mentales und Verhalten wie
er sich etwa bei B. F. Skinner findet, oft als situationalism bezeichnet. Siehe S. 184 ff. aus
Skinner, Burrhuis F.: Beyond Freedom and Dignity, New York 1971.
26
Siehe hierzu Bowers, K. S.: Situationalism in psychology: An analysis and critique, in:
Psychological Review 80 (1973), S. 307 – 336; und S. 11 ff. aus Easterbrook, James A.: The
Determinants of Free Will. A Psychological Analysis of Responsible, Adjustive Behavior,
New York 1978. Roy Baumeister distanziert sich wie folgt: „In contrast, we are inclined to
think that deterministic inevitability is useless as a basis for psychological theory. The psy-
chological project of explaining human thought, emotion, and especially action requires in
practice the assumption that multiple future outcomes are possible. Human decisions, and
particularly those that people would describe as reflecting free will, involve recognizing and
contemplating the various competing options and then selecting which of the possible out-
comes the person wishes to bring about.” S. 51 in Baumeister, Roy F./Clark, Cory/Luguri,
Jamie: Free Will. Belief and Reality, in: Alfred Mele (Hrsg.), Surrounding Free Will. Philo-
sophy, Psychology, Neuroscience, Oxford/New York, 2015, S. 49 – 71. Dem ist hinzuzufügen,
dass die möglichen Entscheidungs- und Handlungsergebnisse, die es zu reflektieren gilt, zu-
330 Bettina Walde

Wir hatten oben bereits gesehen, dass die alternativen Möglichkeiten, die im Zu-
sammenhang mit der Willensfreiheit interessant sind, jene sind, die sich aus der in-
dividuellen Perspektive eines bestimmten Akteurs ergeben, um den es gerade geht.
Und alternative Möglichkeiten aus der Perspektive eines Akteurs ergeben sich immer
dort, wo sie oder er kontrollierend auf die Umwelt bzw. den Kontext, wozu auch die
soziale Umgebung gehört, einwirken kann, und in ihrem oder seinem Wollen, Ent-
scheiden und Tun nicht selbst vollständig durch Umgebungsfaktoren kontrolliert
wird.
Dies setzt keineswegs notwendiger Weise die Falschheit der Hypothese eines um-
fassenden physikalischen Determinismus voraus: Dass ein Akteur kontrollierend auf
die Umgebung einwirken kann, erfordert zunächst nur bestimmte Fähigkeiten und
Persönlichkeitsmerkmale auf Seiten des Akteurs. Die Frage danach, wie es
kommt, dass die fragliche Person gerade diese Fähigkeiten und Merkmale hat, ob
sie etwa durch Einwirkung determinierender Kräfte von außen zustande kamen
oder nicht, spielt dazu keine unmittelbare Rolle. Man kann, wenn man das für plau-
sibel hält, annehmen, die Hypothese eines umfassenden physikalischen Determinis-
mus sei wahr, und jeder einzelne Akteur demzufolge das Produkt seiner kausalen
Vorgeschichte. Selbst wenn man so etwas annimmt, macht es immer noch einen er-
heblichen Unterschied, ob das Wollen und Entscheiden eines Akteurs im Wesentli-
chen durch Umgebungsfaktoren hervorgebracht bzw. getriggert wurde, oder ob der
Akteur eine interne Kontrolle inne hatte, die es ihm oder ihr erlaubt hat (oder hätte),
sich über externe Trigger hinweg zu setzen. Im zweiten Fall, in dem jemand die Fä-
higkeit zur internen Kontrolle entwickelt hat, bleibt es, unter Annahme der Wahrheit
der Determinismus-Hypothese, richtig, dass das Auftreten der Fähigkeit zur internen
Kontrolle bei diesem Akteur nicht ihr oder ihm selbst oblag, sondern von vorgängi-
gen Faktoren bestimmt wurde. Wenn wir aber als Mitglieder einer sozialen Gemein-
schaft, die überhaupt solche Phänomene wie Willensfreiheit, Verantwortungszu-
schreibung, Schuld und Strafe kennt, feststellen, dass eine Person die Fähigkeit
zur internen Kontrolle erlangt hat, dann erachten wir das als einen wichtigen Anhalts-
punkt dafür, der Person fortan Willensfreiheit und Verantwortungsfähigkeit zuzu-
schreiben. Der Grund dafür liegt darin, dass die Person alternative Möglichkeiten
in ihrem Wollen, Entscheiden und Tun hat, wenn sie über die Fähigkeit der internen
Kontrolle verfügt – sie muss den Umwelt- und Umgebungsreizen nicht folgen, ist
nicht deren Spielball, sondern kann sich über diese hinwegsetzen, wenn sie es für
erforderlich hält.

nächst epistemische Möglichkeiten darstellen – das wäre selbst mit der wissenschaftstheore-
tischen Hypothese eines umfassenden physikalischen Determinismus vereinbar.
Zum normativen Charakter menschlicher Freiheit 331

V. Noch einmal zum normativen Ursprung der Willensfreiheit


und zur Begründung des Schuldprinzips
durch alternative Möglichkeiten
Gemäß unserer These sind weder Willensfreiheit noch Verantwortungsfähigkeit
so etwas wie Naturphänomene, die einem Menschen schon bei der Geburt mitgege-
ben wären. Die (neuro-) physiologischen Voraussetzungen, die ein durchschnittli-
cher erwachsener Mensch mitbringt und entwickelt hat, sind alleine keineswegs hin-
reichend, um Willensfreiheit und Verantwortungsfähigkeit zuzuschreiben.27 Worum
handelt es sich also dann, wenn weder natürliche Merkmale und Fähigkeiten, noch
metaphysische Eigenschaften hinreichend sind, um Willensfreiheit und Verantwor-
tungsfähigkeit zuzuschreiben? Möglicherweise um ein komplexes, abstraktes nor-
matives Phänomen, das wir sowohl mit gewissen psychologischen und im weitesten
Sinne physiologischen Voraussetzungen verknüpfen, als auch mit gewissen meta-
physischen Voraussetzungen. Der Begriff der Willensfreiheit lässt sich, anders als
das bislang der Fall war, als der Begriff eines stark kulturell und in der sozialen In-
teraktion von Individuen geformten Phänomens deuten. Entsprechend wäre der Aus-
druck „Willensfreiheit“ der Ausdruck für eine komplexe soziale Norm (nicht für ein
metaphysisches oder ein Naturphänomen), die im Laufe langer Zeiträume der Ent-
wicklung menschlicher Kulturen und sozialer Gemeinschaften etabliert wurde, und
sich in ihrem genauen Inhalt nach wie vor weiter verändert. Willensfreiheit geht stets
mit Entscheidungs- und Steuerungskompetenzen einher, die wiederum Vorausset-
zung für die Interaktion von Individuen in komplexen sozialen Gefügen sein dürften.
Die These, dass gewisse Steuerungsfähigkeiten bei den Individuen zu den Vorausset-
zungen der Entstehung menschlicher Kultur gehören, und dass menschliche Kultur
wiederum die bei den Individuen vorhandenen Steuerungsfähigkeiten formt und ver-
ändert, findet sich seit einigen Jahren auch in der Sozialpsychologie.28 Doch anders
als es in der Sozialpsychologie bislang angenommen wird, bildet Willensfreiheit als

27
Willensfreiheit und Verantwortungsfähigkeit weisen auch einen metaphysischen Anteil
auf, indem sie gewisse metaphysische Voraussetzungen haben, auf die ich hier nicht näher
eingehen kann. Nur soviel sei gesagt: Sie setzen zumindest eine solche Leib-Seele-Metaphy-
sik voraus, die den mentalen und seelischen Zuständen und Vorgängen eine Wirksamkeit im
Bereich des Physikalischen erlaubt. Ob das nun ein psycho-physischer Interaktionismus, eine
Identitätstheorie oder ein funktionalistischer Ansatz sein muss, ist hier nicht zu klären; es darf
jedenfalls kein epiphänomenalistischer Ansatz sein, der alles Geistige, also auch das bewusste
Wollen und Entscheiden von Personen, zu epiphänomenalen, also kausal unwirksamen, no-
mologischen Anhängseln der physikalischen Welt macht.
28
Man findet die These erst seit wenigen Jahren, so zum Beispiel in Baumeister, Roy F./
Crescioni, Will A./Alquist, Jessica L.: Free will as advanced action control for human social
life and culture, in: Neuroethics 4 (2011), S. 1 – 11. Ähnlich kann man grundsätzlich argu-
mentieren, wenn es um bewusste Prozesse geht, zu denen auch bewusste Willensentschei-
dungen gehören wie wir sie mit Willensfreiheit verbinden: Baumeister, Roy F./Masicampo,
E. J.: Conscious thought is for facilitating social and cultural interactions: How mental si-
mulations serve the animal-culture interface, in: Psychological Review 117 (2010), S. 945 –
971.
332 Bettina Walde

komplexe, relativ abstrakte soziale Norm verstanden, vermutlich ein wesentliches


Element für das Funktionieren dieser Zusammenhänge.
Soziale Normen sind so etwas wie akzeptierte Regeln, die das Verhalten von In-
dividuen in sozialen Gemeinschaften und ganzen Gesellschaften leiten, und die sich
je nach sozialer Gemeinschaft auch stark unterscheiden können. Sie dienen u. a. der
Institutionalisierung von Verhaltensweisen und Praktiken bzw. Gepflogenheiten im
Miteinander von Individuen, häufig, ohne dass die darin enthaltenen normativen
Prinzipien von einer autorisierten Person oder Institution vorgegeben worden
wären. Auf diese Weise, d. h. wenn das Verhalten von Individuen regelgeleitet ist
(man könnte auch sagen: durch Normen kontrolliert wird), wird das Verhalten von
Individuen absehbarer bzw. besser vorhersehbar. Überall dort, wo zahlreiche Indivi-
duen in sozialen Gemeinschaften, Gesellschaften, Kulturen zusammenleben, ist es
hilfreich, zumindest bis zu einem gewissen Grad die Überzeugungen und Wünsche
anderer Individuen antizipieren und verstehen zu können. Da wir keinen unmittelba-
ren Zugang zum mentalen Innenleben anderer haben, sind wir einerseits auf Verhal-
tensäußerungen wie etwa Sprachverhalten angewiesen, um andere zu verstehen, an-
dererseits spielen aber auch (soziale, aber auch andere) Normen eine wichtige Rolle.
Denn sie geben uns die Möglichkeit an die Hand, einschätzen zu können, wie andere
in einem jeweils gegebenen Kontext entscheiden und handeln werden, ohne dass wir
dafür explizites Wissen über Wünsche und Überzeugungen anderer benötigten. Ein-
fach weil etablierte Normen es mit sich bringen, dass sich Menschen jeweils kontext-
abhängig einheitlicher und damit vorhersehbarer verhalten. D. h. es werden jeweils
Regeln festgelegt, was in Abhängigkeit eines bestimmten Kontexts zu tun ist, etwa
z. B. bei Beerdigungen schwarz zu tragen; aber auch: nicht zu stehlen, sondern Waren
an der Ladenkasse zu bezahlen; nicht zu morden und so fort. Solche und ähnlich so-
ziale Normen, die sich vielfach auch mit moralischen und rechtlichen Normen über-
schneiden, lassen sich zahlreich finden.
(Soziale) Normen sind teils universelle, teils relativ spezifische Prinzipien, die
selbst nicht zu den im weitesten Sinne physikalischen Bestandteilen des Universums
gehören, d. h. sie sind erst einmal nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden im
Universums zu entdecken, sondern entstehen erst mit dem Menschen bzw. jenen In-
dividuen, die in sozialen Gruppen zusammenleben und Kulturen bilden. Wenn ich
sage, dass Willensfreiheit nicht als im Universum bzw. am Menschen vorfindliches
Naturphänomen zu betrachten ist, sondern als relativ abstrakte und universelle Norm
verstanden werden kann, meine ich damit, dass unsere Rede von Willensfreiheit (und
auch diejenige von Verantwortung und Schuld) in der sozialen Interaktion primär ein
bestimmtes normatives Prinzip zum Gegenstand hat. Es könnte, verkürzt gesagt,
etwa den folgenden Inhalt haben: Behandle Individuen, die nicht nur tun können,
was sie tun wollen (also Handlungsfreiheit besitzen), sondern die tatsächlich auch
(handlungswirksam) wollen können, was sie wollen, bei denen also das letztlich
handlungswirksam werdende Wollen mit dem von der Person auch befürworteten
oder innerlich bejahten und hinreichend reflektiertem Wollen übereinstimmt, als wil-
lensfrei und verantwortungsfähig. Die Phrase „(handlungswirksam) wollen können,
Zum normativen Charakter menschlicher Freiheit 333

was man will“ wird dabei mit neuropsychologischen Bestandteilen gefüllt, die je-
weils kennzeichnen, wer innerhalb einer sozialen Gemeinschaft als jemand zu be-
trachten ist, der „(handlungswirksam) wollen kann, was er oder sie will“. Eine solche
Norm wäre abstrakt genug, um sie kulturübergreifend in ansonsten sehr unterschied-
lichen sozialen Gemeinschaften und Gesellschaften befolgen zu können. Sie ver-
langt, dass wir innerhalb einer bestimmten Gruppe diejenigen als willensfrei und ver-
antwortungsfähig behandeln, die bestimmte psychologische und neurobiologische
Voraussetzungen erfüllen, wie beispielsweise ausreichende Impulskontrolle und Fä-
higkeiten der mentalen Kontrolle, rationales Urteilsvermögen, und die Fähigkeit, al-
ternative (Entscheidungs- und Handlungs-)Möglichkeiten aus der Perspektive der
ersten Person als solche zu erkennen. Und sie setzt eine Leib-Seele-Metaphysik vor-
aus, die dem Mentalen grundsätzlich Wirksamkeit im Bereich des Physikalischen
(wozu auch der Körper gehört) einräumt.
Eine auf diese Weise universelle und abstrakte Willensfreiheits-Norm hätte den
Status eines übergeordneten Prinzips, das hinter anderen, konkreteren (sozialen)
Normen stünde, und dazu herangezogen werden könnte, Sanktionen zu rechtfertigen,
die auf die Nichtbefolgung von anderen Normen folgen (dies geschieht dann durch
Verweis darauf, dass jemand auch anders hätte wollen, entscheiden und handeln kön-
nen als es der Fall war). Man könnte auch sagen, es handelte sich um eine Art Meta-
Norm. Ein solches normatives Willensfreiheits-Prinzip wird den Individuen einer so-
zialen Gemeinschaft im Verlauf eines Sozialisationsprozesses, der in der Kindheit
beginnt, immer wieder in der Interaktion mit anderen vorgeführt, und auf diese
Weise eingeübt, bis es hinreichend internalisiert ist und (zusammen mit den psycho-
logischen und neurobiologischen Voraussetzungen) fast zu einem konstitutiven Be-
standteil der Persönlichkeit geworden ist. Ab dem Zeitpunkt, zu dem ein solches nor-
matives Willensfreiheits-Prinzip hinreichend internalisiert ist, und ab dem ein Indi-
viduum tatsächlich die damit verbundenen psychologischen und neurobiologischen
Voraussetzungen erfüllt, wird es dann als willensfrei und verantwortungsfähig erach-
tet und entsprechend behandelt. Hier offenbart sich ein Unterschied zu anderen so-
zialen Normen: Die Befolgung sozialer Normen wird in vielen Fällen neben anderem
auch durch Sanktionen oder die Androhung von Sanktionen erreicht. Die Norm, dass
Individuen mit bestimmten psychologischen und neurobiologischen Voraussetzun-
gen wie z. B. bestimmten entwickelten Entscheidung- und Steuerungsfähigkeiten
als willensfrei und verantwortungsfähig aufzufassen und zu behandeln sind, ist selbst
jedoch nicht mit Sanktionen verknüpft. Vielmehr dient sie (umgekehrt) als Grundla-
ge für die Rechtfertigung von Sanktionen, die bei Nichtbefolgung anderer sozialer,
rechtlicher und moralischer Normen folgen. Ähnlich wie bei anderen sozialen Nor-
men spielen Überzeugungen, Wissen und Erwartungen auch mit Bezug auf die Er-
klärung der Funktion von Willensfreiheit (als Norm verstanden) eine wichtige Rolle.
Sie sind alle Faktoren, die zur Etablierung von Normen beitragen. Willensfreiheit
kann entsprechend als Norm aufgefasst werden, die natürlich entsteht, auf der
Grundlage sozialer Interaktion von Individuen.
334 Bettina Walde

Auf diese Weise, d. h. unter der Voraussetzung, dass hinter dem Phänomen der
Willensfreiheit eigentlich eine tief verankerte, abstrakte (soziale) Norm steht, lassen
sich auch die zahlreichen Zusammenhänge erklären, die zwischen unseren Überzeu-
gungen zur Willensfreiheit und bestimmten Verhaltensweisen bestehen.29 Insofern,
als sich Normen zumindest zum Teil auf Überzeugungen von Individuen reduzieren
lassen, kann man davon ausgehen, dass jene Studien, die sich seit ungefähr 2008 mit
den behavioralen Folgen der Überzeugung, einen freien Willen zu haben oder eben
nicht zu haben, befassen, eigentlich (auch wenn das nirgendwo gesagt wird) Erkennt-
nisse zur Funktion eines normativen Willensfreiheits-Prinzips liefern. Durch den So-
zialisationsprozess ist diese Art von Meta-Norm tief in den Überzeugungs- und Wer-
tesystemen der Individuen einer sozialen Gemeinschaft verankert, und drückt sich in
den Überzeugungen der Individuen aus. Vermittelt über die Überzeugungen der In-
dividuen beeinflusst sie die Willensbildung, das Entscheiden und Handeln der Indi-
viduen. Entsprechend darf man davon ausgehen, dass Untersuchungen zu Willens-
freiheitsüberzeugungen und ihren behavioralen Konsequenzen auch Auskunft über
Willensfreiheit als Norm verstanden geben.
Was folgt nun aus all dem Gesagten hinsichtlich der Anfangsfrage nach einem
objektiven Fundament des Schuldprinzips? Das von Reinhard Merkel formulierte
Problem, dass es keinen Beweis für die alternativen Möglichkeiten im Zeitraum
der Entscheidungsfindung bis hin zum Handlungsbeginn gebe, sondern dass diese
eine normative Setzung seien, verschwindet zumindest ein Stück weit, wenn man
Willensfreiheit selbst als ein primär normatives Phänomen versteht. Denn die
Frage nach den alternativen Möglichkeiten wird dadurch zur Frage nach den Ent-
scheidungs- und Steuerungskompetenzen von Personen, zur Frage danach, ob die Fä-
higkeiten der Person in einem gegebenen Handlungskontext auch andere Entschei-
dungen und Handlungen zugelassen hätten als es tatsächlich der Fall war, wenn sie
beispielsweise im Verlauf der Willensbildung und des Entscheidungsprozesses ande-
re (normadäquatere) Wertungen vorgenommen hätte. Nur wenn man Willensfreiheit
selbst schon als Naturphänomen auffasst, wird die Frage nach den alternativen Mög-
lichkeiten zur Frage nach alternativen Möglichkeiten unter identischen Naturbedin-
gungen, d. h. zur Frage nach alternativen Verläufen der physikalischen Welt.

29
Wie bereits erwähnt – siehe Fn. 3 und Fn. 5 bis einschließlich Fn. 9 – wurden seit etwa
2008 in den empirischen Mind Sciences zahlreiche Studien zu den behavioralen Konsequen-
zen der Überzeugung, Willensfreiheit zu haben, sowie der Ablehnung dieser Überzeugung,
durchgeführt.
Das schlechte Gewissen des Strafrechtlers
und die Willensfreiheit
Von Christian Fahl

Prolog
Stellen Sie sich vor, man könnte in Ihrem Erbgut lesen wie in einem Buch. Darin
stünde also, wie Ihre Leber funktioniert, wie groß und wie schwer Sie werden, auch
welche Krankheiten Sie einmal bekommen und wie alt Sie werden, stünde darin. Stellen
Sie sich vor, darin stünde aber auch, welchen Beruf Sie ergreifen, welche Zahnpasta Sie
bevorzugen, wie die Frau oder der Mann heißt, die oder den Sie einmal kennenlernen
und heiraten werden, wie Sie Ihre gemeinsamen Kinder nennen werden. Und schließ-
lich stünde darin auch, dass Sie in eine nette Vorstadt mit hübschen Einfamilienhäusern
ziehen werden, in deren Vorgärten einzelne Bäume stehen, dass Sie sich in Ihrem Keller
eine Tischlerwerkstatt einrichten werden, darin in Ihrer Freizeit eine runde Gartenbank
bauen werden, die Sie in Ihrem Vorgarten um den Baum herum aufstellen werden. Au-
ßerdem stünde darin, dass Sie Ihren Ehrenpartner im Streit mit einer Latte aus eben
dieser Bank erschlagen werden. All das stünde da, schon bei Ihrer Geburt.

I. Einleitung
Der „Determinismus-Indeterminismus-Streit“, die Frage also, ob der Mensch
einen freien Willen habe, sich, vor eine beliebige Entscheidung gestellt, so oder
so zu entscheiden, oder ob er sich dieser Freiheit nur fälschlich rühme, in Wahrheit
aber unfrei („determiniert“) sei, ist ein „Ewigkeitsthema“ der Menschheitsgeschich-
te.1 Bereits der Kirchenvater Aurelius Augustinus (354 – 430 n. Chr.) vertrat – entge-
gen dem britischen Mönch Pelagius – die Unfreiheit des Menschen und meinte, dass
des Menschen Schicksal von Gott vorherbestimmt (prädestiniert) sei.2 Später vertrat
Martin Luther (1483 – 1546) dasselbe und behauptete: „Es verleugnet Christus, wer
1
R. Merkel, Willensfreiheit und Schuld – Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung,
2008, S. 8, verortet den Anfang der systematischen Debatte bei Aristoteles, Nikomachische
Ethik, 3. Buch, Kap. 1 – 7, 1109b 30 – 1114b 30.
2
Siehe dazu Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, 3. Aufl. 2017, S. 48 f.; s.
auch Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 2. Aufl. 2006, S. 192;
Adomeit, Rechts- und Staatsphilosophie I, 3. Aufl. 2001, S. 160, nennt das ein „unerfreuliches
Kapitel“ im Leben des Heiligen.
336 Christian Fahl

seiner Gnad zu wenig und dem freien Willen zuviel gibt. Das Wörtlein freier Wille
wäre besser nie erfunden. Es heißt eigentlich Eigenwille. Adam im Paradies war viel-
leicht noch frei, aber mit der Sünde vom Teufel gefangen. Frei kann man nur durch
Gnade werden, sonst nicht; … solche Lehrer heißen Sophisten.“3
Die Gegenposition vertrat Erasmus von Rotterdam (1496 – 1536) in der Schrift
„De libero arbitrio“ (1524) etwa wie folgt: Wenn Gott so groß ist, dass der kleine
Mensch und dessen Werke als Nichts erscheinen im Vergleich zum Willen des
Schöpfers, wo ist dann die Denkbarkeit von Sünde? Für Erasmus ist der freie
Wille die Fähigkeit des Menschen, sich für Gut oder Böse („Sünde“) zu entscheiden.4
Gottes Gerechtigkeit schließe es aus, dass der Mensch für seine ohne freien Willen
geübten guten Taten belohnt und für seine unverrückbar determinierten bösen Taten
auf ewig bestraft werde. Unter solchen Umständen wäre Gott ein grausamer, despo-
tischer Gott, an den zu glauben von niemandem verlangt werden könne: „Wer wollte
einen Gott lieben, der die Hölle heizte mit ewiger Pein, um dort für seine eigenen
Missetaten armselige Menschen zu bestrafen, als freute er sich an ihren Qualen?“5
Die meisten Strafrechtler sind von Haus aus „Indeterministen“: Die „Freiwillig-
keit“ beim Rücktritt (§ 24 StGB), die es doch im Determinismus gar nicht geben
kann,6 die Vermeidbarkeit im Rahmen der Fahrlässigkeitsprüfung und beim (ver-
meidbaren) Verbotsirrtum (§ 17 StGB)7 – all das machte keinen Sinn, wenn der
Täter nur so und nicht anders handeln konnte.8 In Bewegung geraten ist die Sache
durch die Erkenntnisse der modernen Hirnforschung. Das berühmte Libet-Expri-
ment, in dem der Amerikaner Benjamin Libet nachwies, dass der als frei empfundene
Entschluss zu einer Handlung dieser nicht vorausging, wie zu erwarten gewesen
wäre, wenn er die Ursache bilden sollte, sondern stets um Sekundenbruchteile nach-
folgte,9 schien zu belegen, was bereits Spinoza und Schopenhauer vermuteten, näm-

3
Assertio omnium articulorum M. Lutheri per bullam Leonis X. damnatorum, Wittenberg
1520, Art. 36 – Dreher, Die Willensfreiheit, 1987, S. 4, nennt das „theologischen Determi-
nismus“; s. auch R. Merkel (Fn. 1), S. 19, Fn. 19.
4
Das ist ziemlich genau die Position des Bundesgerichtshofs, der sich – in einer viel
zitierten Entscheidung des Großen Senats vom 18. März 1952 (BGHSt 2, 194, 200 f.) – dazu
bekannt hat, „dass der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt
und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden …“.
5
De libero arbitrio IX, 1217 F – zum Erasmus-Luther-Streit: Adomeit, Rechts- und
Staatsphilosophie II, 2. Aufl. 2002, S. 26 ff.
6
Fahl, JA 2003, 757, 758; s. auch Dreher (Fn. 3), S. 26.
7
Dreher (Fn. 3), S. 25 – nach Herzberg, ZStW 2012, 12, 28, die einzige Vorschrift, die,
unvoreingenommen gelesen, die Schuld des Täters von einem indeterministischen Vermei-
denkönnen abhängig macht.
8
Vgl. Fahl, ZRph 2012, 93, 97 f.; krit. zu meiner Argumentation mit § 17 StGB: Herzberg,
Frisch-FS, 2013, S. 95, 108 f.
9
Vgl. Libet, The Behavioral and Brain Science 8 (1985), S. 529 ff.; Libet/Gleason/Wright/
Pearl, Time of conscious intention to act in relation to onset of cerebral activity (readiness
potential), Brain 106 (1983), S. 623 ff. – zum sog. Libet-Experiment ausf. Detlefsen, Grenzen
der Freiheit, Bedingungen des Handelns, Perspektive des Schuldprinzips. Konsequenzen
Das schlechte Gewissen des Strafrechtlers und die Willensfreiheit 337

lich dass der freie Wille, der als menschliche Selbsterfahrung durchaus existiert, wei-
ter nichts sei als eine habituelle Selbsttäuschung – „das Ich ist nicht der große Steuer-
mann, für den es sich selbst hält.“10 Deshalb vertraten deutsche Hirnforscher ab Ende
der 1990er Jahre die Ansicht,11 das Strafrecht sei reif für einen Umbau zu einem rei-
nen Maßnahmerecht.12 „Die Annahme, wir seien verantwortlich für das, was wir tun,
weil wir es ja hätten anders machen können“, sei jedenfalls „nicht haltbar“.13 Damit
war die in der Vergangenheit schon mehrfach geführte und ad acta gelegte Diskus-
sion um die Berechtigung des Schuldstrafrechts angesichts der Denkbarkeit vollstän-
diger Determiniertheit neu entbrannt.14

II. Der Disput zwischen Reinhard Merkel


und Rolf Dietrich Herzberg
Aus der Flut von Veröffentlichungen stechen meines Erachtens zwei in besonde-
rer Weise15 hervor: die Schrift von Herzberg „Willensunfreiheit und Schuldvorwurf“
(2010) und – bereits zwei Jahre zuvor – die Schrift „Willensfreiheit und rechtliche
Schuld – Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung“ (2008) des Jubilars. Beide
nehmen im Spektrum der möglichen Positionen einen ähnlichen, eher deterministi-
schen Standpunkt (gegen die Willensfreiheit) ein. Bei Herzberg kommt das schon im
Titel zum Ausdruck. Immerhin verbleibt dem Menschen aber auch nach Herzberg
noch die (von ihm sog.) „kleine Willensfreiheit“.16 R. Merkel hingegen bekennt
sich – formal17 – zu einem „agnostischen non liquet“,18 kommt aber am Ende

neurowissenschaftlicher Forschung für das Strafrecht, 2006, S. 278 ff.; s. auch Precht, Wer bin
ich und wenn ja, wie viele?, 2007, S. 146 ff.
10
Roth, Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, 2003, S. 395.
11
Vgl. dazu Jescheck, in: Hilgendorf (Hrsg.), Die deutschsprachige Strafrechtswissen-
schaft in Selbstdarstellungen, 2010, S. 186: „Die grundlegende Infragestellung des Schuld-
begriffs durch die neuere Hirnforschung … ist mir zum ersten Mal ganz eindeutig vor Augen
geführt worden, als ich 1996 den Vortrag von Wolf Singer … in der Göttinger Aula hörte“.
12
Vgl. Singer, Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, 2003, S. 31 ff.; s.
auch G. Merkel, Herzberg-FS, 2008, S. 3 ff., insbes. S. 30 ff.
13
Singer (Fn. 12), S. 20.
14
Vgl. ohne Anspruch auf Vollständigkeit Crespo, GA 2013, 15; Detlefsen (Fn. 9),
S. 240 ff.; Geyer, Hirnforschung und Willensfreiheit, 2004; von der Heydt, Perspektivität von
Freiheit und Determinismus, 2017; Hillenkamp, Neue Hirnforschung, neues Strafrecht?,
2006; Jäger, GA 2013, 3; Kriele, ZRP 2005, 185; Lampe, ZStW 118 (2006), 1; Müller-Dietz,
GA 2006, 338; Schiemann, ZJS 2012, 774; Spilgies, ZIS 2007, 155; Streng, Jakobs-FS, 2007,
S. 675; Weißer, GA 2013, 26.
15
Das gilt vor allem hinsichtlich der – in philosophischen Fragen leider nicht immer ge-
pflegten – sprachlichen Anschaulichkeit!
16
Herzberg, Willensunfreiheit und Schuldvorwurf, 2010, S. 37 – sie entspricht der ein-
seitigen Freiheit im Gedankenexperiment nach Harry Frankfurt, vgl. dazu Walter,
F. C. Schroeder-FS, 2006, S. 131, 133. Ausführliche Analyse des Gedankenexperiments bei
R. Merkel (Fn. 1), S. 97 ff.
17
Siehe die Kritik bei Zaczyk, GA 2009, 371.
338 Christian Fahl

doch zu dem Schluss: „Mein eigener Standpunkt dazu ist inzwischen offensichtlich.
Nach dem Stand des verfügbaren Wissens spricht nichts für die Annahme, ein nor-
maler Straftäter könnte sich im Moment seines Ansetzens zur Tatbegehung unter
identischen Außen- und Innenweltbedingungen noch anders entscheiden und die
Tat unterlassen.“19
In einem Punkt sind die beiden sich jedoch uneinig:20 Herzberg lobt ausdrücklich
R. Merkels Abhandlung zur Willensfreiheit zu Recht als aus dem einschlägigen
Schrifttum weit herausragend und nimmt sie sogar gegen den Indeterministen
Rath21 in Schutz, dessen Kritik er als „ungehörig“22 bezeichnet, aber mit der für
unser Thema die Überschrift gebenden Empfehlung R. Merkels im letzten – mit
„Vorschlag zur Bescheidenheit“ überschriebenen – Kapitel weiß Herzberg23 nichts
anzufangen.
R. Merkel schlägt darin einige Änderungen im bislang herrschenden Umgang der
Strafrechtswissenschaft mit dem Problem der Schuld vor: „Wir sollten uns keine Illu-
sionen darüber machen, dass eine Rechtfertigung der Schuldstrafe nur unter dem Ge-
sichtspunkt des Normenschutzes und also zuletzt des Schutzes der Gesellschaft zu
haben ist, nicht aber allein mit Blick auf das Fehlverhalten des Täters. Ob er als em-
pirischer Mensch wirklich verdient, was ihm als Rechtsperson mit der Strafe aufer-
legt wird, wissen wir nicht.“24 Des Weiteren: „Wir sollten nicht die Augen davor ver-
schließen, dass Normschutzerwägungen utilitaristischer Provenienz sind.“25 Das sei
der profundeste Sinn des viel zitierten Satzes von Kelsen, dem Menschen werde nicht
darum zugerechnet, weil er frei sei, sondern der Mensch sei frei, weil ihm zugerech-
net werde.26 Und ganz zum Schluss: „Wir sollten schließlich zugeben, dass alles dies

18
R. Merkel (Fn. 1), S. 9; s. auch ders., Roxin-FS, 2011, S. 737, 740.
19
R. Merkel (Fn. 1), S. 114.
20
Uneinigkeit besteht natürlich auch noch in weiteren Punkten, z. B. in der Interpretation
des § 20 StGB: Herzberg will ihm eine mit dem Fehlen von Willensfreiheit kompatible In-
terpretation geben, Merkel, Roxin-FS, 2011, S. 737, 759, will ihn ändern. – Herzberg will das
Schuldstrafrecht (im herkömmlichen Sinne) aufgegeben, R. Merkel (Fn. 1), S. 9, hingegen
will zeigen, wie „ein vernünftig verstandenes Schuldprinzip begründet und gerechtfertigt
werden kann.“
21
Rath, Aufweis der Realität der Willensfreiheit – eine retorsive Reflexion zur Möglichkeit
von Verantwortlichkeit in Ethik und (Straf-)Recht, 2009; (recht) harsche Kritik auch bei
Zaczyk, GA 2009, 371; Lob dagegen bei Duttge, JZ 2010, 412.
22
Herzberg (Fn. 16), S. 25 m. Gegenkritik Rath, GA 2011, 731, 733 ff.
23
Herzberg (Fn. 16), S. 68 ff.
24
R. Merkel (Fn. 1), S. 135; krit. zu diesem Satz Herzberg (Fn. 16), S. 71, Fn. 103, weil er
„die beruhigende Hoffnung“ hochhalte, „dass er sie ja immerhin vielleicht verdient“.
R. Merkel habe von seinem Standpunkt aus sagen müssen, dass der Täter die Strafe nach allen
empirischen Befunden nicht verdiene.
25
R. Merkel (Fn. 1), S. 135; krit. dazu Herzberg, ZStW 2012, 12, 15.
26
Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 97. – Man fühlt sich dadurch freilich un-
willkürlich an Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, § 99, Zusatz – § 100
Das schlechte Gewissen des Strafrechtlers und die Willensfreiheit 339

unserem Bemühen um die Rechtfertigung der Schuldstrafe eine dunkel bleibende


Grenze zieht.“27
An diesem Punkt bemüht R. Merkel den Lehrer seines Lehrers,28 den Rechtsphilo-
sophen und (zweimaligen) Reichsjustizminister Gustav Radbruch (1878 – 1949), mit
dem Ausspruch, nur derjenige könne ein guter Jurist sein, der mit „schlechtem Ge-
wissen“ Jurist sei.29 Das schlechte Gewissen des Juristen – genauer: des Strafjuris-
ten30 – als erster explizit in den Zusammenhang mit der Willensfreiheit gebracht zu
haben, dieses Verdienst – wenn man es denn als solches bezeichnen will – gebührt
wohl dem österreichischen Strafrechtswissenschaftler Friedrich Nowakowski, der
1957 schrieb: „Wo kein Auch-anders-Können, dort keine Schuld … Vor allem für
den Indeterministen muss das zweifelsfrei sein. Daraus ergibt sich sein ,schlechtes
Gewissen‘ in der Strafrechtspflege. Er muss auch dort strafen, wo er heute von der
Wahlfreiheit des Angeklagten keineswegs überzeugt ist.“31
So freilich will R. Merkel sich nicht verstanden wissen. Auf die Kritik von Herz-
berg, er halte (1.) Willensfreiheit und daher eigentlich auch Schuld für unbegründbar,
zugleich aber (2.) das Schuldprinzip für notwendig, weswegen er (3.) die Strafrichter
auffordere, ihrer Tätigkeit „mit schlechtem Gewissen“ nachzugehen, erwidert er:
„Das wäre freilich ein seltsames Postulat – etwa so: ,Ihr macht zwar alles falsch,
aber macht nur weiter, bloß schämt euch ein bisschen dafür‘.“32 Das sei nicht ge-
meint. Der berühmte Satz von Gustav Radbruch sei keine Mahnung an den einzelnen
Richter;33 nichts sei selbstverständlicher, als dass er kein schlechtes Gewissen zu
haben brauche. Es sei ein allegorischer Appell an das ganze Strafrechtssystem,
sich dieser letzten dunklen Grenze seiner Begründungsmöglichkeiten bewusst zu
bleiben.34 Das „(viel zu) gute Gewissen“ der Strafrechtsdogmatik gründet nach

erinnert, wonach die Strafe den Verbrecher ehre – hiergegen zu Recht R. Merkel (Fn. 1),
S. 133, Fn. 211.
27
R. Merkel (Fn. 1), S. 136; s. auch ders., Roxin-FS, 2011, S. 737, 743: nicht ohne „einen
dunklen Rest normativen Unbehagens“.
28
Merkel (Fn. 1), S. 136, Fn. 214.
29
Merkel (Fn. 1), S. 136, zitiert dafür (seinen Lehrer) Arthur Kaufmann, Gustav Radbruch
– Rechtsdenker, Philosoph, Sozialdemokrat, 1987, S. 193.
30
Merkel (Fn. 1), S. 136, Fn. 214.
31
Nowakowski, Rittler-FS, 1957, S. 55, 61 – unter Verweis auf Eb. Schmidt, in: Materialien
zur Strafrechtsreform, 1. Bd., Gutachten der Strafrechtslehrer, S. 9, 28, der den Satz von
Radbruch freilich eher auf die gerechte Strafhöhe bezog.
32
R. Merkel, Roxin-FS, 2011, S. 737, 761, Fn. 67.
33
Da bin ich mir allerdings nicht so sicher. Immerhin hat Radbruch ihn in sein „Spruch-
buch für Anselm“ aufgenommen, seinem (nach Feuerbach benannten) einzigen Sohn, der sich
mit dem Gedanken trug, nach dem Krieg Jura zu studieren, aber aus dem Feld nicht heim-
kehrte, s. Radbruch, Kleines Rechts-Brevier, Spruchbuch für Anselm, nach dem Tode des
Verfassers herausgegeben von v. Hippel, 1954, S. 44, Spruch Nr. 100.
34
R. Merkel, Roxin-FS, 2011, S. 737, 761.
340 Christian Fahl

R. Merkel darin, dass „sie die Diskussion und Argumente der Gegenwartsphiloso-
phie fast gänzlich ignoriert“.35
In der Frage des „schlechten Gewissens“ habe ich mich bereits früher auf die Seite
des Jubilars gestellt36 und will die hier gebotene Gelegenheit benutzen, dieses Be-
kenntnis zu erneuern und dabei auch auf die von Herzberg an mir geübte Kritik ein-
zugehen.

III. Eigener Standpunkt


Ich meine zwar nicht, dass die Libet-Experimente „obsolet“ seien, wie jüngst
John-Dylan Haynes, der am Berliner Bernstein Center for Computational Neurosci-
ence der Charité forscht, befunden haben soll.37 Aber alles, was sie messen, ist, dass
die Vorgänge in unserem Gehirn (mit dem Aufbau des sog. Bereitschaftspotentials)
neurologisch längst determiniert sind, bevor wir uns ihrer bewusst werden. Sie mes-
sen also in Wahrheit gar nicht das Wann der Entscheidung, sondern der Bewusstwer-
dung.38 Man mag eine andere zeitliche Abfolge für plausibel gehalten und erwartet
haben, dass erst der Wille gebildet und dann das Bereitschaftspotential aufgebaut
werde. Aber die umgekehrte zeitliche Reihenfolge erschüttert doch den Indetermi-
nismus so wenig wie die Tatsache, dass die körperliche Basis allen Wollens – ebenso
wie auch des Bewusstseins – das Gehirn ist.39
Die Tatsache, dass der als frei empfundene Wille zu einer Handlung dieser nicht
(wie erwartet) vorausgeht, sondern ihr stets um Sekundenbruchteile nachfolgt, belegt
ja nur, dass wir uns in der zeitlichen Wahrnehmung täuschen – dass die Vorgänge in
unserem Gehirn neurologisch längst determiniert sind, bevor wir uns ihrer bewusst
werden. Manche Neurologen behaupten zwar, dass ich den Entschluss, aus meinem
35
Vgl. R. Merkel (Fn. 1), S. 9 – gemeint ist freilich, wie sich im weiteren Verlauf der
Untersuchung zeigt, nicht nur die Gegenwartsphilosophie, sondern auch andere Disziplinen.
R. Merkel (Fn. 1), S. 133, schreibt: „Entscheidend ist, dass die Strafrechtswissenschaft das
Schuldprinzip nur dann glaubhaft verteidigen kann, wenn sie sämtliche Gründe, daran zu
zweifeln, hinreichend erwogen hat, vor allem die gegen eine gängige, aber ungewaschene
Intuition von Willensfreiheit“.
36
Fahl, ZRph 2012, 93, 121.
37
So wiedergegeben bei Kargl, Strafrecht, 2019, Rn. 207; s. bereits ders., GA 2017, 330.
38
Walter, F. C. Schroeder-FS, 2006, S. 131, 140; krit. zur Aussagekraft des Libet-Experi-
ments auch Duttge, Das Ich und sein Gehirn, 2009, S. 13, 28; Hillenkamp, JZ 2005, 313, 319.
39
Insofern kann man sagen, dass die moderne Hirnforschung den alten Körper-Geist- bzw.
Leib-Seele-Dualismus überwunden hat: „Die Belege sprechen eindeutig dafür, dass es keinen
über den körperlichen Prozessen schwebenden Geist gibt“, alles „ist bestimmt von neuronalen
Prozessen, die unter unserer Schädeldecke ablaufen“, so Schmidt-Salomon, Jenseits von Gut
und Böse – Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind, 4. Aufl. 2010, S. 110 ff., zit.
nach Herzberg, Frisch-FS, 2013, S. 95, 99, der ihm darin, wenn auch nicht in der Forderung
folgt, sich darum Stolz und Schuldvorwurf zu verbieten, ibid., S. 106. – Freilich: Dass „In-
telligenz“ in der Natur nur an Gehirne gebunden vorkomme, ist zu bestreiten. Völlig zu Recht
sprechen wir darum davon, „die Natur habe es so eingerichtet“ oder die „Evolution“ habe
hervorgbracht, obwohl die Natur und die Evolution keine Gehirne haben.
Das schlechte Gewissen des Strafrechtlers und die Willensfreiheit 341

Sessel aufzustehen, erst treffe, während ich mich bereits erhebe. Messbar ist, dass
mein Gehirn bereits auf „Aufstehen“ geschaltet hat, bevor ich mir einbilde, mich
zum Aufstehen entschieden zu haben. Zugestanden. Aber heißt das, dass der Ent-
schluss aufzustehen, vollkommen irrelevant ist? Wozu sollte die Natur es so einge-
richtet haben? Die Evolution produziert (normalerweise) nichts Überflüssiges. Eini-
ge Neurologen, vor allem Libet selbst, behaupten, das „Ich“ habe in diesem Stadium
wenigstens so etwas wie ein „Vetorecht“,40 was manchen wiederum für die Aufrech-
terhaltung ihres Freiheitspostulats ausreicht.41 Aber liegt es nicht viel näher, dass der
gewiss auf Hirntätigkeit beruhende – worauf sonst? – Entschluss aufzustehen dem
Handeln in Wahrheit doch vorausgeht und lediglich das Bewusstsein nicht hinterher-
kommt?
Dass eine Handlung einen Willensentschluss zur Voraussetzung hat und dass Ent-
schlüsse nicht vom Himmel fallen, sondern auf biologischen (chemisch-physikali-
schen) Vorgängen im Gehirn (kausal) beruhen, scheint mir eine schiere Selbstver-
ständlichkeit (de nihilo nihil fit). Ein Wille, der plötzlich da wäre, ohne von
einem Gehirn gebildet worden zu sein, wäre in der Tat „einem Hund vergleichbar,
den niemand erzeugt hat und der aus dem Nichts heraus auf einmal im Zimmer
steht und bellt.“42 Das spricht aber nicht gegen die Freiheit, infolge der komplexen
Rechenaktionen im Gehirn entweder aufzustehen oder als Folge einer ebenso kom-
plexen Rechenaktion sitzen zu bleiben, wenn es beim Frühstück an der Haustür klin-
gelt.43 Wenn ich am Strand einen Stein aufhebe, dann ist dieser Bewegung mit Sicher-
heit ein neuronaler Prozess in meinem Gehirn vorausgegangen. Aber das beweist
doch weder, dass ich nur diesen und keinen anderen Stein aufheben konnte, noch,
dass ich überhaupt den Entschluss fassen musste, einen Stein aufzuheben, oder
dass ich mit dem Steineaufheben nicht auch wieder aufhören kann, wenn es mir lang-
weilig geworden ist, ich die Hoffnung aufgegeben habe, Bernstein zu finden, oder das
Essen ruft.44

40
Warum die Ausübung des Vetos nicht ihrerseits durch den Aufbau eines Bereitschafts-
potentials präformiert oder (kausal) bedingt sein soll, sagt Libet nicht. Die darin liegende
Inkonsequenz dürfte dazu beigetragen haben, dass seine „Veto-Lehre“ kaum Anhänger ge-
funden hat, s. R. Merkel (Fn. 1), S. 95, Fn. 151; Hillenkamp, ZStW 2015, 10, 78, Fn. 245.
41
Vgl. Jäger, GA 2013, 3, 9, mit einem interessanten Verweis auf die Hypnose.
42
Das Bild stammt von Herzberg, Frisch-FS, 2013, S. 95, 111; weiterführend zum sog.
Physikalismus (Materialismus) R. Merkel (Fn. 1), S. 32 f.
43
Beispiel von Herzberg, Frisch-FS, 2013, S. 95, 97.
44
Zum Gründe-versus-Ursachen-Argument R. Merkel (Fn. 1), S. 39 ff. – Das bestreitet
auch Herzberg (Fn. 16), S. 15 ff.; ders., ZStW 2012, 12, 44, nicht: am ehesten noch werde man
von einer Willensfreiheit prima facie dort ausgehen können, wo jeder rationale Grund fehle,
einer Alternative den Vorzug zu geben, z. B. den rechten oder linken Arm zu heben oder diesen
oder jenen Stein aufzuheben. Der Mensch möge zwischen den Alternativen schwanken, aber
endlich ergebe sich in seinem Kopf ein kleines Übergewicht, das den Ausschlag gebe. Na-
türlich hätte es sein können, dass er es sich in letzter Sekunde anders überlegt hätte. „Aber das
hätte dann die Zwangsläufigkeit des Geschehens nicht widerlegt, sondern nur die wahre und
endgültige Notwendigkeit zum Vorschein gebracht. Der Grund des Umstiegs wäre das etwas
stärkere Motiv gewesen, erzeugt vielleicht von einer plötzlich auftauchenden Erinnerung wie
342 Christian Fahl

Zaczyk prophezeite im Jahre 2009 (in einer Rezension von R. Merkels „Willens-
freiheit und Schuld“), in zehn Jahren (also heute) werde niemand mehr aus der Hirn-
forschung Folgerungen für das Strafrecht ziehen.45 Das hat sich nicht bewahrheitet.
Aber mir will – wie Herzberg46 – scheinen, dass die Erkenntnisse der Hirnforschung
„zur Beantwortung der Frage der Wahlfreiheit des Menschen nichts“ beitragen. Die
Suche nach dem freien Willen im Gehirn erscheint mir so aussichtslos wie die Suche
nach dem lieben Gott im Weltraum.47 So wenig wie es gelungen ist zu beweisen, dass
es Gott gibt, so wenig ist es gelungen zu beweisen, dass es ihn nicht gibt. Mit dem
„freien Willen“ scheint es ähnlich: Die Frage nach der Wahlfreiheit des Menschen,
wie die Frage nach der Willensfreiheit besser lautete, sei eine sinnlose, jedenfalls
„keine wissenschaftlich beantwortbare Frage“, meinte Bockelmann.48 Nach Göppin-
ger ist das Problem der Willensfreiheit „empirisch nicht angehbar“49 und nach Hen-
kel ist die Frage nach dem „Anders-handeln-Können“50 schlichtweg unbeantwort-
bar; sie entziehe sich der Beweisbarkeit im Experiment, da es sich nur überprüfen
lasse, „indem man den Täter wiederholt in die gleiche Situation versetzt und seine
jeweiligen Verhaltensweisen registriert“, ein solches Experiment sei aber nicht
durchführbar.51
Die Wissenschaft hat jedoch einen anderen Zugang gefunden, um das Problem der
Nicht-Wiederholbarkeit von Entscheidungen zu umgehen: Zwillinge. Geeignet sind
dafür aber nur eineiige Zwillinge. Anders als zweieiige Zwillinge haben sie (nahezu)
identisches Erbgut und sind im wahrsten Sinne des Wortes ihr eigener „Doppelgän-
ger“.52 Etwa zur selben Zeit wie Benjamin Libet die Hirnströme untersuchten Da-

,ich habe doch immer rechts gewählt‘ oder auch dem auf einmal empfundenen Bedürfnis, sich
selbst seine Willensfreiheit zu beweisen“ (Herzberg, a.a.O., S. 18) – Die Erwähnung des
Letzeren ist ein besonders geschickter Schachzug, macht sie es dem Indeterministen doch
unmöglich, sich oder anderen seine Freiheit zu beweisen!
45
Vgl. Zaczyk, GA 2009, 371, 375.
46
Herzberg, ZStW 2012, 12, 32.
47
Vgl. dazu Walter, F. C. Schroeder-FS, S. 131, 141: Wenn Singer (Fn. 12), S. 20 verkünde:
„Ich kann bei der Erforschung von Gehirnen nirgendwo ein mentales Agens wie den freien
Willen oder die eigene Verantwortung finden“, dann erinnere ihn das an Juri Gagarin, der 1961
als erster Mensch im All nach Hause meldete, dass er dort keinen Gott angetroffen habe.
48
Vgl. Bockelmann, ZStW 75 (1963), 372, 384.
49
H. Göppinger, Kriminologie, 6. Aufl. 2008, S. 52.
50
Principle of Alternative Possibilities (PAP) oder auch CDO-Bedingung genannt (could
have done otherwise) – R. Merkel (Fn. 1), S. 17, 96 ff., spricht vom Prinzip alternativer
Möglichkeiten (PAM); s. auch ders., Roxin-FS, 2011, S. 737, 739.
51
Henkel, Larenz-FS, 1973, S. 3, 23. – Selbst wenn man den Täter wiederholt in die
gleiche Situation versetzen könnte, so hätte das doch keine Aussagekraft, weil er sich im
Wissen um die frühere Entscheidung, einfach zur Abwechslung (aus Spaß) anders entscheiden
könnte und damit nach Herzberg (o. Fn. 44) noch immer determiniert handeln würde. Dazu
braucht es noch nicht einmal das Wissen um die strafrechtlichen Konsequenzen, die ihn ja,
hoffentlich, davon abhalten werden, den gleichen Fehler zweimal zu begehen.
52
Dreher (Fn. 3), S. 244; s. auch Ditfurth, So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen,
1985, S. 289: „Erfahrungen mit dem Doppelgänger“.
Das schlechte Gewissen des Strafrechtlers und die Willensfreiheit 343

vid T. Lykken/Thomas J. Bouchard von der Universistät Minnesota daher Zwillings-


paare.53 Das eigentliche Anliegen war übrigens nicht, eine Entscheidung im Deter-
minismus-Indeterminismus-Steit herbeizuführen, sondern die Frage, bis zu welchem
Grade es die soziale Umwelt oder die erbliche Veranlagung ist, die uns prägen.54 –
Behavioristen wie J.B. Watson (1878 – 1958)55 versprachen: „Geben Sie mir ein Dut-
zend gesunde, wohlgeformte Säuglinge und dazu meine eigene, von mir selbst in
allen Merkmalen festgelegte Welt und ich garantiere Ihnen, dass ich jeden dieser
Säuglinge nach rein zufälliger Auswahl zu jeder Art von Spezialisten ausbilden
könnte – zum Arzt, Rechtsanwalt, Künstler und sogar zum Bettler oder Dieb;
ohne Rücksicht auf Talente, Vorlieben, Neigungen, Fähigkeiten, Anlage oder
Rasse.“56
Deshalb suchten die Forscher nur nach solchen Zwillingspaaren, die in frühester
Kindheit voneinander getrennt und unabhängig voneinander aufgewachsen waren.
Die Kontrollgruppe waren nicht gemeinsam miteinander aufgewachsene eineiige
Zwillingspaare, sondern getrennt voneinander aufgewachsene zweieiige Zwillings-
paare.57 Untersuchte man nämlich gemeinsam aufgewachsene Zwillingspaare, so
wären die Ergebnisse wenig aussagekräftig, weil festgestellte Gemeinsamkeiten
auch auf Umwelt und Erziehung beruhen könnten und Unterschiede gerade aus
der Reaktion aufeinander und dem Bedürfnis, sich voneinander abzugrenzen. Um
den Einfluss der Gene zu ermessen, müssen solche „Umweltfaktoren“ so weit als
möglich ausgeschaltet werden.
Was die Forscher dabei herausfanden, hat sie selbst in Erstaunen versetzt: Be-
rühmt geworden – bis hin zu einem Eintrag in „Wikipedia“ – sind dabei die „Jim-
Twins“58 (kurioserweise bekamen beide von ihren Adoptiveltern auch noch densel-

53
Einzelheiten zum sog. Minneapolis-Projekt bei David T. Lykken/Thomas J. Bouchard,
Genetische Aspekte menschlicher Individualität, Mannheimer Forum 1983/84, S. 79. Von dem
Projekt berichten von Ditfurth (Fn. 52), S. 289 ff. – der selbst von Haus aus Neurologe war –
und Dreher (Fn. 3), S. 242 ff. – In Deutschland hat sich die Zwillingsforschung durch das
Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene unter dem Mediziner Otmar von Verschuer (1896 –
1969) und seinem Zuarbeiter Josef Mengele, der als Lagerarzt in Auschwitz forschte, selbst
diskreditiert.
54
Bekannt als „Nature-versus-Nurture“ (Natur oder Erziehung) oder Anlage-Umwelt-
Streit.
55
Der in diesem Zusammenhang eher ein „Environmentalist“ zu nennen wäre.
56
Zitiert nach Dreher (Fn. 3), S. 243 f.; s. auch Vogel/Propping, Ist unser Schicksal ange-
boren, 1981, S. 54.
57
Was die Untersuchungen von Lykken/Bouchard relativ einzigartig macht, weil Adopti-
onsbehörden in den USA und anderswo Zwillinge inzwischen offenbar nicht mehr auseinan-
derreißen.
58
Ditfurth (Fn. 52), S. 293. – Ich beschränke mich hier aus Raumgründen auf diese, wei-
teres Anschauungsmaterial findet sich bei Ditfurth (Fn. 52), S. 289 ff. und Dreher (Fn. 3),
S. 242 ff.; z. B. die Zwillinge Jack und Oskar: Obwohl sie seit ihrer Geburt getrennt aufge-
wachsen waren, der eine im Ruhrgebiet, der andere in Amerika, und sich vorher nur ein
einziges Mal getroffen hatten, trugen beide Zwillinge den gleichen Schnauzbart, Nickelbrillen
mit bläulich getönten Gläsern, blaue Sporthemden mit aufgenähten Brusttaschen und Schul-
344 Christian Fahl

ben Vornamen!). Beide besaßen als Kinder einen Hund, den sie „Toy“ tauften. Beide
waren zweimal verheiratet, wobei beide Frauen „Linda“ hießen. Später heirateten
beide eine „Betty“. Der eine nannte seinen ersten Sohn „James Alan“, der andere
„James Allan“.59 Beide fuhren, ohne voneinander zu wissen, jahrelang in denselben
Urlaubsort in den Ferien und arbeiteten vorübergehend als Tankstellenwächter, da-
nach als Hilfs-Sheriffs. Beide bastelten gerne mit Holz, hatten sich in ihren Häusern
nahezu professionelle Tischlerwerkstätten eingerichtet und eine runde Gartenbank
gebaut, die sie in ihrem Vorgarten um einen Baum herum aufstellten. … Man
kann sich das gewiss auch mit einer Mode erklären, plötzlich runde Gartenbänke
zu haben, so wie auch manche Namen in manchen Jahren besonders in Mode
sind, oder das Ganze schlicht für (freilich merkwürige) Zufälle halten.60
Herzberg61 hat mir angesichts solcher Beispiele einen „eigenwilligen“ (geneti-
schen) Determinismus vorgehalten und zur Illustration seiner Kritik daran das fol-
gende Beispiel gebildet:„Angenommen, A und B, eineiige Zwillinge, kommen an
einem kurzfristig unbewachten Imbissstand vorbei, wo A mit raschem Zugriff ein
Fischbrötchen stiehlt. Wenn sich dem B die Gelegenheit genauso bietet, steht
dann aufgrund der identischen Ausstattung fest, dass er das Gleiche tun wird?
(…) Schon die ,Umweltbedingung‘ eines gut gefüllten Magens kann den Ausschlag
geben, dass B achtlos am Imbissstand vorübergeht. Aber auch die ,Erfahrung‘, dass
die Fischbrötchen nicht schmecken,62 kann ihn vom Diebstahl abhalten. Und ebenso
ist es denkbar, dass B als Kind in einer anderen Familie gelebt und dank besserer ,Er-
ziehung‘ stärkere Hemmungen entwickelt hat. (…) Zwar stand schon bei der Zwil-
lingsgeburt fest, dass an diesem Ort zu dieser Zeit A ein Fischbrötchen stehlen und B
keines stehlen werde. Aber es erscheint mir nicht richtig zu sagen, dies habe ,völlig
unabhängig von Erziehung, Erfahrung, sonstigen Umweltbedingungen‘ festgestan-
den.“ Die Gene, so schließt Herzberg, „haben nicht die monokausale Bedeutung, die
Fahl … ihnen zuschreibt. Auch die situativen, aktuell entstehenden Motive verursa-
chen unser Tun, und sie bilden sich auf einer breiteren Grundlage als der genetischen
Ausstattung: auf der Grundlage des individuellen Charakters, wie er sich mit seinen

terklappen und hatten sich rote Gummibänder über das linke Handgelenk gestreift. Danach
gefragt, warum sie es getan haben, antworteten beide unabhängig voneinander fast gleich-
lautend: „Kann man doch immer einmal gebrauchen.“
59
Die englischen Zwillingsschwestern Dorothy und Bridget nannten ihre Kinder „Richard
Andrew“ und „Catherine Louise“ bzw. „Andrew Richard“ und „Karen Louise“; s. Ditfurth
(Fn. 52), S. 297; krit. Dreher (Fn. 3), S. 250, da an der Namensgebung regelmäßig beide
Eltern beteiligt sind.
60
Dagegen spricht freilich, dass Lykken/Bouchard sie stets nur bei den eineiigen Zwillin-
gen und niemals bei der ebenso untersuchten Kontrollgruppe gefunden haben, Ditfurth
(Fn. 52), S. 295.
61
Herzberg, Frisch-FS, 2013, S. 95, 111 f.
62
Das erscheint freilich nach den zahlreichen Berichten von Zwillingen, die den gleichen
Geschmack bei ihrer Zahnpasta, ihrem Rasierwasser etc. entwickeln (Fn. 58), extrem un-
wahrscheinlich.
Das schlechte Gewissen des Strafrechtlers und die Willensfreiheit 345

ererbten Anlagen und von Umweltfaktoren beeinflusst im Lauf des Lebens ausprägt
und in Grenzen verändert.“63
Erstens erscheint mir bemerkenswert, dass Herzberg zugesteht, dass schon bei der
Zwillingsgeburt feststand, dass an diesem Ort zu dieser Zeit A ein Fischbrötchen
stehlen werde. Das ist schon ein sehr weitgehender Determinismus, der an den La-
place’schen Dämon erinnert.64 Das erscheint mir eher unwahrscheinlich, ich komme
darauf zurück. Zweitens: Allen Beteiligten ist (heute) klar, dass der Anlage-Umwelt-
Streit nicht einseitig zugunsten einer Seite zu entscheiden ist. Der Mensch ist weder
nur das Produkt seiner Gene noch seiner Umwelt. Der „Monismus“ ist lange einem
„Sowohl-als-auch“ gewichen.65 Sauer glaubte sogar, Prozentzahlen angeben zu kön-
nen, inwieweit Anlage und Milieu und inwieweit der freie Wille das Verbrechen be-
dingen.66 So wie es aber denkbar (wenngleich deshalb noch keineswegs bewiesen)
ist, dass wir den Einfluss unseres Willens überschätzen – so ist es jedenfalls auch
denkbar, dass wir den Einfluss der Gene auf unsere Entscheidungen notorisch unter-
schätzen, wie das Beispiel zeigt, und den Einfluss der übrigen Umweltbedingungen
im Gegenzug zu hoch veranschlagen.
Nehmen wir die Gartenbank: Gewiss werden sie die Zwillinge nicht am gleichen
Tag gebaut haben,67 darüber mag wohl auch ein voller oder leerer Magen entschieden
haben. Aber dass sie es eines Tages tun würden, darüber haben offenbar schon die
Gene entschieden. Nur eineiige Zwillinge haben (bis auf die hier zu vernachlässigen-
de Möglichkeit auch hier auftretender gelegentlicher Mutation) identisches Erbma-
terial. Die „Umweltbedingungen“ mögen sein, wie sie wollen – sie werden in vielem
verschieden, aber natürlich in vielem auch ähnlich gewesen sein, ein liebevolles El-
ternhaus und eine Schule, die ihre Neigungen zum Basteln gefördert oder wenigstens
nicht behindert hat, ganz zu schweigen von der Verfügbarkeit von Baumaterial, Säge,
Nägeln etc. –, die Probanden mussten die Bank anscheinend bauen. Man denke sich
statt des Bauens einer Gartenbank eine Straftat, meinethalben die Wegnahme eines
Fischbrötchens, oder stelle sich vor, dass die Zwillinge in einem Land wohnten, in
dem es (aus Naturschutzgründen) strafbar wäre, Gartenbänke um Bäume zu
63
Zur Chrakterschuld-Lehre von Herzberg s. bereits Fahl, ZRph 2012, 93, 116 f. –
R. Merkel, Roxin-FS, 2011, S. 737, 746, schreibt dazu: „Ich glaube nicht, dass sich unser
Problem so lösen lässt. Wenn die Determinismus-Prämisse stimmt und daher in einem hand-
festen Sinne niemand etwas für seine Handlungen kann, dann erst recht nicht für den Cha-
rakter, der unvermeidbar deren Motive erzeugt und sich in ihnen manifestiert.“ Plastisch for-
muliert: „Charakter ist Schicksal.“
64
Der Mathematiker Laplace vertrat die Ansicht, dass für den, der alle Ursachen kennte,
die Zukunft klar vor Augen läge, vgl. Laplace, Essai philosophique sur les probabilités, 1814,
dt. Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeiten, 2. Aufl. 1996, S. 1 f.; s. zu ihm
auch Hawking, Kurze Antworten auf große Fragen, 2018, S. 113 f.
65
Vgl. bereits Fahl, JA 2003, 757, 758; dens., ZRph 2012, 93, 116, Fn. 135.
66
Sauer, Kriminologie, 1950, S. 59 ff.
67
Aber selbst das kommt vor: Dreher (Fn. 3), S. 249, berichtet von einem fern voneinander
lebenden Bruderpaar, das sich am selben Tag einer Blinddarmoperation unterziehen musste.
Andere haben am selben Tage Kinder bekommen.
346 Christian Fahl

bauen. Dann käme freilich noch ein anderes widerstreitendes Motiv (nämlich das
Vermeiden von Strafe) hinzu, welches den Ausschlag geben mag, die Tat zu unter-
lassen (die „Jim-Twins“ waren beide vorübergehend ja als Hilfs-Sheriffs tätig) – oder
auch nicht.68
Die Suche nach einem Verbrecher-Gen à la Lombroso69 – das noch dazu phäno-
typisch in der Kopfform hervortritt – hat sich als ein Irrweg herausgestellt, aber dass
die Gene etwas mit dem Verbrechen zu tun haben könnten, dafür spricht einiges.
Nehmen wir den von R. Merkel des Öfteren70 ins Feld geführten Fall des 40-jährigen
amerikanischen Lehrers L., Familienvater und bisher ohne jeden Konflikt mit dem
Gesetz, der plötzlich, quasi von einem Tag auf den anderen, pädophile Neigungen
entwickelte, aufdringlich zu Frauen und Kindern wurde und schließlich wegen sexu-
eller Belästigung angeklagt und verurteilt wurde. Erst danach stellte sich heraus, dass
er einen hühnereigroßen Hirntumor im orbitofrontalen Cortex hatte, einem Areal,
dessen Funktion als Zentrum für deviantes Verhalten bereits bekannt war. Nach
der operativen Entfernung des Tumors verschwanden die pädophilen Neigungen.
Von R. Merkel eigentlich für die Relevanz der modernen Hirnforschung für das
Thema der Willensfreiheit angeführt, zeigt das Beispiel doch eher die Relevanz
der Genetik für unser Thema auf, weiß man doch (bei manchen Krebsarten) oder ver-
mutet zumindest, dass ihre Entstehung (zumindest auch) genetisch bedingt ist. Die
entscheidende Frage aber stellt R. Merkel zu Recht, nämlich „was eigentlich diese
Unordnung von der eines anderen tumorfreien, aber ebenfalls pädophile Neigungen
erzeugenden Gehirns unterscheidet“, und er beantwortet sie m. E. zutreffend: „Die
weitaus plausibelste Antwort lautet: nichts.“71
Würde man die „Jim“-Zwillinge gefragt haben, ob es ihr „freier Wille“ gewesen
sei, sich eine runde Gartenbank zu bauen und im Vorgarten aufzustellen, und ob sie
auch anders hätten handeln können, so würden das beide wohl bejaht haben. „Um die

68
Lange, Verbrechen als Schicksal, 1929, S. 36 f., berichtet von einem Bruderpaar, das fast
zur gleichen Zeit eine schwere Straftat beging; s. auch Dreher (Fn. 3), S. 249.
69
Lombroso, Arzt, Psychiater und Begründer der Kriminalanthropologie, vertrat mit seiner
Theorie vom geborenen Verbrecher eine biologisch-genetische Prädeterminierung des Men-
schen zum Bösen – laut „Wikipedia“ ausdrücklich mit dem Ziel, die aufklärerische Doktrin
der Willensfreiheit zu reformieren; krit. dazu Hillenkamp, JZ 2005, 313, 318.
70
R. Merkel (Fn. 1), S. 105 ff.; s. auch ders., Roxin-FS, 2011, S. 737, 748; dazu auch
G. Merkel, Herzberg-FS, 2008, S. 3, 18 f.
71
R. Merkel (Fn. 1), S. 106, wo er zugleich den Verdacht äußert, dass die meisten deut-
schen Gerichte im Fall L zur Schuldunfähigkeit gem. § 20 StGB gelangen würden, dagegen
vermutlich wohl in kaum einem anderen Fall von Pädophilie, in dem außer der abweichenden
Sexualneigung nicht auch noch eine (weitere) manifeste Erkrankung – wie der Tumor – vor-
läge; dazu auch Herzberg (Fn. 16), S. 108, der den Fall gerade für die Richtigkeit seiner
Auslegung des § 20 StGB heranzieht (dagg. wiederum R. Merkel, Roxin-FS, 2011, S. 737,
748, mit der bemerkenswerten Frage: „Aber warum sollte ein und derselbe Grad an Pädophilie
einmal eine krankhafte seelische Störung sein, das ander Mal nicht, je nachdem, ob ihm die
Ursache X oder die Ursache Y [vielleicht sogar beide Male dieselbe Ursache: die Gene, Anm.
des Verf.] zugrunde liegt?“).
Das schlechte Gewissen des Strafrechtlers und die Willensfreiheit 347

Entstehung dieses für unser Thema so wichtigen Irrtums speziell und aufs Deutlichs-
te zu erläutern …“, schreibt Schopenhauer in seiner berühmten Preisschrift über die
Freiheit des Willens, „wollen wir uns einen Menschen denken, der, etwa auf der
Gasse stehend, zu sich sagte: Es ist sechs Uhr abends, die Tagesarbeit ist beendigt.
Ich kann jetzt einen Spaziergang machen; oder ich kann in den Klub gehn; ich kann
auch auf den Turm steigen, die Sonne untergehen zu sehen; ich kann auch ins Theater
gehen; ich kann auch diesen, oder aber jenen Freund besuchen; ja, ich kann auch zum
Tor hinauslaufen, in die weite Welt, und nie wiederkommen. Das alles steht allein bei
mir, ich habe völlige Freiheit dazu; tue jedoch davon jetzt nichts, sondern gehe eben-
so freiwillig nach Hause, zu meiner Frau. Das ist gerade so, als wenn das Wasser sprä-
che: Ich kann hohe Wellen schlagen (ja! nämlich im Meer und Sturm), ich kann rei-
ßend hinabeilen (ja! nämlich im Bette des Stroms), ich kann schäumend und spru-
delnd hinunterstürzen (ja! nämlich im Wasserfall), ich kann frei als Strahl in die
Luft steigen (ja! nämlich im Springbrunnen), ich kann endlich gar verkochen und
verschwinden (ja! bei 808 Wärme); tue jedoch von dem allen jetzt nichts, sondern
bleibe freiwillig, ruhig und klar im spiegelnden Teiche.“72
Das gleiche Argument soll de Spinoza (1632 – 1677) kurz so ausgedrückt haben:
Wenn ein geworfener Stein denken könnte, dann würde er, am höchsten Punkt seiner
Bahn angekommen, zweifellos denken: „Und jetzt will ich wieder herunterfallen.“73
Und von Albert Einstein stammt die Allegorie: „Wäre der Mond auf seinem ewigen
Kreislauf um die Erde mit Bewusstsein begabt, so wäre er fest davon überzeugt, er
ziehe seine Bahn auf eigene Faust, auf der Grundlage einer Entscheidung, die er ir-
gendwann ein für allemal getroffen habe.“74
„Ich kann tun, was ich will“, erläutert Schopenhauer, „ich kann, wenn ich will,
alles, was ich habe, den Armen geben und dadurch selbst einer werden – wenn
ich will! –, aber ich vermag nicht, es zu wollen; weil die entgegenstehenden Motive
viel zu viel Gewalt über mich haben, als dass ich es könnte. Hingegen, wenn ich einen
anderen Charakter hätte, und zwar in dem Maße, dass ich ein Heiliger wäre, dann
würde ich es wollen können; dann aber würde ich auch nicht umhinkönnen, es zu
wollen, würde es also tun müssen.“75 – Das nenne ich einen „genetischen Determi-
nismus“. Denn der Mensch ist ja nicht „der Schöpfer seiner selbst, eine causa sui …
72
Schopenhauer, Preisschrift über die Freiheit des Willens, 2. Auflage 1860, S. 77.
73
Zu ihm etwa Antweiler, Das Problem der Willensfreiheit, 1955, S. 70, mit dem Zitat:
„Fallunter homines, quod se liberos esse putant; qua opinio in hoc solo consistit, quod suarum
actionum sint conscii et ignari causarum, a quibus determinatur“ (Die Menschen täuschen
sich, wenn sie sich für frei halten; diese Meinung ist allein darin begründet, dass sie sich zwar
ihrer Handlungen bewusst sind, nicht aber die Ursachen kennen, von denen sie bestimmt
werden).
74
Albert Einstein, About Free Will, in: Chatterjee (Hrsg.), The golden book of Tagore,
1931, S. 77 – zit. bei R. Merkel (Fn. 1), S. 28.
75
Schopenhauer (Fn. 72), S. 78: „Daher sind in allen Sprachen die Epitheta moralischer
Schlechtigkeit … viel mehr Prädikate des Menschen als der Handlungen. Dem Charakter
werden sie angehängt; denn dieser hat die Schuld zu tragen, deren er auf Anlaß der Thaten
bloß überführt worden.“
348 Christian Fahl

Niemand legt sich selbst etwas in die Wiege, andere sind es, die den Menschen mit all
seinen Anlagen erzeugen …“.76
Unter diesen Umständen erschiene mir ein Festhalten am geltenden Schuldstraf-
recht undenkbar. Nur am Rande sei angemerkt, dass die suggestive Kraft der Alle-
gorien auf der Wahl eines unbelebten Gegenstandes beruht: Vergliche man den
Mann mit einem Huhn, das auf einem Hühnerhof das eine Korn oder das andere auf-
pickte, so würde Herzberg zwar noch immer sagen, dass (am Ende) irgendein Motiv
den Ausschlag gegeben und das Huhn sich (zwingend) so und nicht anders habe ent-
scheiden müssen (und sei es der Flügelschlag eines Schmetterlings).77 Aber es lassen
sich auch andere Beispiele aus der Verhaltensbiologie anführen, die eher für die In-
determiniertheit auch manch tierischen Verhaltens sprechen, z. B. die Versuche des
deutschen Neurobiologen Björn Brembs an Fruchtfliegen (das „heute-Journal“ be-
richtete). Brembs stellte fest, dass von 100 Fruchtfliegen sich 70 auf eine Lichtquelle
zu und 30 davon wegbewegten. An der Verteilung 70/30 änderte sich aber – und das
ist entscheidend, weil das Wegstreben offenbar nicht genetisch festgelegt war – auch
nichts, wenn man nur die Gruppe dem Licht aussetzte, die vorher davon weggestrebt
war.78
Nun ist Indeterminiertheit noch nicht Willensfreiheit, sondern kann sich auch als
„Zufall“ entpuppen. So könnte den Fruchtfliegen ein „Zufallsgenerator“ eingebaut
sein, der sie „zufällig“ in die eine oder andere Richtung streben ließe, was freilich
eher eine 50/50-Quote erwarten ließe.79 Das spräche zwar gegen die (von Determi-
nisten behauptete) durchgängige Geltung des Kausalgesetzes von Ursache und Wir-
kung in der Natur.80 Ein solcher Zufall wäre strafrechtlich aber niemandem zurechen-
bar. Zufälliges Geschehen kann man niemand aufs Schuldkonto setzen.81
Es besteht aber auch kein Grund, den Tieren Willensfreiheit abzusprechen und sie
nur den Menschen zuzugestehen. Es stimmt nicht, dass jeder, der Willenfreiheit be-
76
Herzberg (Fn. 16), S. 102, gegen Kants These (Fahl, ZRph 2012, 93, 112 mit Fn. 117),
der Mensch verschaffe sich seinen Charakter selbst; zur Chrakterschuld-Lehre s. bereits oben
Fn. 63.
77
Vgl. Herzberg (Fn. 16), S. 19, mit dem Beispiel des Hundes, der hin und her gerissen
zwischen der Lust zu apportieren und dem Abscheu vor dem Sprung ins kalte Wasser am Ende
dem stärkeren Motiv nachgibt.
78
Brembs, Behavioural Process 87 (2011), 157 ff.; s. dazu auch Bröckers, Strafrechtliche
Verantwortung ohne Willensfreiheit, 2014, S. 197 f.
79
Evolutionsbiologisch machte das übrigens Sinn, damit Raubtiere sich darauf nicht ein-
stellen können.
80
Brembs und andere Verhaltensforscher sehen eine Erklärung des indeterminierten Ver-
haltens von Tieren in der Quantenmechanik, vgl. Bröckers (Fn. 78), S. 198; zur Quantenme-
chanik auch R. Merkel (Fn. 1), S. 26 f. (der dem jedoch keine für die Frage der Willensfreiheit
relevante Bedeutung beimisst); zur Heisenberg’schen Unschärferelation (anders) bereits Fahl,
ZRph 2012, 93, 114 f.; dagg. wiederum Herzberg, Frisch-FS, 2013, S. 95, 111.
81
So bereits Bockelmann, ZStW 77 (1965), 253; Fahl, ZRph 2012, 93, 110, Fn. 107. – Zur
Notwendigkeit des Wiedererlernens der Akzeptanz von Unglück in der Welt, s. Fahl, JA 2012,
808 ff.
Das schlechte Gewissen des Strafrechtlers und die Willensfreiheit 349

hauptet, sie auf den Menschen beschränkt.82 Eine solche Beschränkung auf „beson-
dere Herrentiere“, die Hominiden, wäre in der Tat befremdlich. Auch ich habe an-
derenorts lediglich gesagt, dass sich das Strafrecht aus dieser Frage – anders als
aus der Frage der Strafbarkeit von Kindern83 – heraushalten kann, weil Tiere sich
bei uns heutzutage (anders als im Mittelalter) nicht mehr strafbar machen können.84
Aber zurück zu den „Jim“-Zwillingen: Zwar könnte man sie noch immer ankla-
gen und der Richter könnte sie verurteilen mit dem Argument, so wie es dem Täter
vorherbestimmt gewesen sei, die Tat zu begehen, so sei es dem Richter vorherbe-
stimmt, ihn dafür zu verurteilen.85 Aber gerecht wäre eine solche Strafe in meinen
Augen nicht. Ein „Schicksal“ zu vergelten „wäre genauso ungerecht, wie wenn
man unverschuldetes Kranksein oder eine angeborene Verkrüppelung ,vergelten‘
wollte“.86 Unter einem solchen Strafrecht möchte man genauso wenig leben wie
unter einem ungerecht strafenden Gott, an den Erasmus nicht glauben wollte. Freilich
möchte man sich die Alternative zu einem (repressiven) Strafrecht auch nicht ausma-
len. Denn die könnte doch wohl nur in dem möglichst frühzeitigen Erkennen der Tat
und der (präventiven) Ingewahrsamnahme liegen, soweit nicht das Erbgut schon im
Vorhinein87 verändert werden könnte. Denn es müsste ja gelten, nicht nur weitere
Taten zu verhindern – wie durch die operative Entfernung des Tumors des Lehrers
L. –, sondern schon die erstmalige Begehung.88
Soweit sind wir aber (gottlob) nicht: Zwar gilt das menschliche Genom durch das
1990 in den USA ins Leben gerufene sog. Humangenomprojekt, das sich zum Ziel
gesetzt hat, nach dem Genom von verschiedenen Tieren auch das Genom des Men-
schen zu sequenzieren, was bis dahin aufgrund der Fülle der Informationen – die
DNA des Menschen enthält ungefähr drei Milliarden Basenpaare an Nukleinsäuren
– für praktisch undurchführbar gehalten worden war, mit der Beteiligung von über
1.000 Wissenschaftlern in 40 Ländern inzwischen als „entschlüsselt“. Trotz „Ent-

82
So aber Herzberg, ZStW 2012, 12, 49.
83
Insofern meint Herzberg (Fn. 16), S. 11, Indeterministen muteten dem Verstand die
Vorstellung zu, dass die ursprünglich nicht vorhandene Willensfreiheit ab einem bestimmten
Alter in das Kind hineinschieße – aber auch das stimmt nicht, s. Fahl, ZRph 2012, 93, 108.
84
Fahl, ZRph 2012, 93, 107.
85
Vgl. dazu etwa G. Merkel, Herzberg-FS, 2008, S. 3, 17; Schünemann, in: Grundlagen
des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 155, 166 – s. zu diesem „self defeating“-Einwand
auch R. Merkel (Fn. 1), S. 36 f., insbes. Fn. 49.
86
Nowakowski, Rittler-FS, 1957, S. 55, 60 f. Das spricht natürlich auch gegen das Konzept
von Herzberg, der meint, es bedürfe lediglich des Prinzips von Lob und Tadel, um darauf das
Strafrecht zu gründen; hiergegen R. Merkel, Roxin-FS, 2011, S. 737, 742 f.
87
Hawking (Fn. 64), S. 104 f. glaubt, dass wir Menschen uns in Zukunft selbst „designen“
werden, dass es wahrscheinlich Gesetze dagegen geben werde und dass diese gebrochen
werden werden.
88
Das ist „Science Fiction“. – In dem amerikanischen Spielfilm „Minority Report“ (2002)
kommt der „Precrime“ genannten Polizeibehörde die Aufgabe zu, zukünftige Verbrecher
festzunehmen, bevor sie die Tat begehen. Vgl. zu zu einem Prepunishment-System führenden
Überlegungen auch Bröckers (Fn. 78), S. 350.
350 Christian Fahl

schlüsselung“ des Genoms, die viele Jahre in Anspruch genommen hat, sagt uns die
Aufeinanderfolge der Basenpaare, von denen immer drei zusammen zu lesen sind
(Tripletts), jedoch noch immer wenig. Wir wissen zwar, welche Buchstaben und
Worte aufeinanderfolgen, aber nicht, was sie bedeuten. Das gleicht dem Lesen in
einem Buch, dessen Sprache wir nicht verstehen.

IV. Resümee
Ich glaube also – anders als Herzberg, der sagt: „Nur der Determinist kann am
Schuldstrafrecht mit gutem Gewissen festhalten“89 – nicht, dass unser Strafrecht
die Uminterpretation im Hinblick auf ein deterministisches Weltbild schadlos über-
steht.90 Ich meine aber auch nicht, dass zum Umbau unseres Strafrechts nach derzei-
tigem Wissensstand schon Veranlassung besteht. Das sieht R. Merkel anders. Für ihn
besteht – anders als für Herzberg, der § 20 StGB nur im Hinblick auf seine determi-
nistische Grundüberzeugung uminterpretieren will – die „richtige“ und zugleich
„einzig ehrliche“ Lösung darin, § 20 StGB zu ändern.91 Die Feststellung eines „An-
dershandelnkönnens“ im Zeitpunkt des Ansetzens zur Tat hält R. Merkel nicht nur
für kein erreichbares, sondern auch kein sinnvolles Ziel zur Klärung strafrechtlicher
Verantwortlichkeit. An dieser „doppelten, nämlich faktischen wie normativen Fata
Morgana“ sollten wir nicht festhalten, schreibt R. Merkel, gibt aber auch zu: „Im All-
tagsverständnis des Begriffs meinen wir mit Schuld eben das, was der BGH in dem
berühmten Beschluss seines Großen Senats vom März 195292 als Kriterium auch der
strafrechtlichen Verantwortlichkeit festhält: höchstpersönliche Vorwerfbarkeit. Das
setzt ein Dafürkönnen … voraus.“ Zustimmen möchte ich R. Merkel darin: „Das
schließt ein vernünftiges strafrechtliches Schuldkonzept nicht aus … Aber es bedeu-
tet auch, dass Menschen für etwas verantwortlich gemacht und bestraft werden, für
das sie im strikten Sinne (vielleicht) nichts konnten.“93 Das macht das Schuldprinzip
nicht illegitim, aber es „wirft jenen nicht vollständig aufhellbaren Schatten, den Gus-
tav Radbruch mit seinem berühmten Satz vom schlechten Gewissen des Strafrichters
gemeint hat.“94

89
Herzberg, Frisch-FS, 2013, S. 95, 112.
90
Vgl. auch Dreher (Fn. 3), S. 18, mit der Einschätzung, „dass unser Strafrecht in seiner
geltenden Gestalt nur indeterministisch verstanden werden kann. Der Indeterminismus ist ihm
immanent.“
91
R. Merkel, Roxin-FS, 2011, S. 737, 759 f.
92
Siehe oben Fn. 4.
93
Zu Herzbergs Kritik daran s. o. Fn. 24.
94
R. Merkel, Roxin-FS, 2011, S. 737, 760 f.
Setzt Unrecht Schuld voraus?
Von Urs Kindhäuser

I. Einleitung
Die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Täter als schuldfähig anzusehen
ist, beantwortet das Strafgesetzbuch negativ: Es nennt nur Bedingungen (§§ 19,
20), unter denen Schuld zu verneinen ist. Dieses legislative Vorgehen ist wissen-
schaftstheoretisch gesehen angemessen, da Fähigkeiten Dispositionen sind und Dis-
positionen die semantisch unangenehme Eigenschaft aufweisen, sich nicht definie-
ren zu lassen.1 Die Zuschreibung einer Disposition besagt, dass sich ein beliebiges
Objekt unter bestimmten Bedingungen in typischer Weise verhält. Eine Disposition
manifestiert sich also in spezifischen, für sie symptomatischen Verhaltensweisen, die
sich jedoch nicht abschließend festlegen und damit definitorisch einfangen lassen.
Mit Hilfe einer gewissen Anzahl solcher Symptomsätze lässt sich die Disposition je-
doch explizieren. Ein einfaches Beispiel: Wird die Disposition „biegsam“ einem
Stock zugeschrieben, so impliziert dies die Aussage, dass sich das fragliche Stück
Holz unter Anwendung einer richtig gewählten Kraft zu einer bestimmten Zeit
biegt. Insoweit haben Dispositionsprädikate auch einen gesetzesartigen Charakter:
Sie beziehen sich zwar nur auf ein bestimmtes Individuum, nennen aber notwendige
oder hinreichende Bedingungen, unter denen sich dieses in der für die Disposition
symptomatischen Weise verhält.
Die Schwierigkeiten mit dem Prädikat „schuldfähig“ liegen nun darin, dass es
nicht nur dispositioneller Natur ist, sondern dass es sich im Falle seiner Zuschreibung
als Strafbarkeitsvoraussetzung gerade nicht in einer symptomatischen Verhaltens-
weise manifestiert hat. Dass sich ein Täter aus Unrechtseinsicht rechtmäßig statt –
wie getan – rechtswidrig hätte verhalten können, ist ein irrealer Konditionalsatz,
der ersichtlich nicht verifizierbar ist. Reinhard Merkel hält in seiner Abhandlung
„Willensfreiheit und rechtliche Schuld“ der Strafrechtswissenschaft eindringlich
die (unlösbaren) Schwierigkeiten vor Augen, an denen der Versuch, Schuldfähigkeit

1
Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philoso-
phie, Bd. I., 1974, S. 123; zur Problematik Goodman, Fact, Fiction and Forecast, Indianapolis,
2. Aufl. 1965, S. 40 ff.; bezogen auf das Geist-Körper-Problem Ryle, The Concept of Mind,
1949 (Nachdruck 1970), Kap. V.
352 Urs Kindhäuser

positiv zu bestimmen, scheitert bzw. scheitern muss.2 Allerdings – und auch hierin ist
Merkel uneingeschränkt zuzustimmen – kann sich das Strafrecht mit diesem Befund
nicht abfinden, weil § 20 StGB einer solchen Resignation zwingend entgegensteht.3
Merkel hält Roxins Lösungsvorschlag, Schuldfähigkeit durch normative An-
sprechbarkeit zu ersetzen, für plausibel.4 Nun ist allerdings auch Ansprechbarkeit
eine Disposition, so dass sich Merkel, um nicht vom Regen in die Traufe zu kommen,
mit der generell begründeten, aber nicht notwendig auch für die konkrete Tatbege-
hung nachweisbaren Zuschreibung der Disposition begnügen will. Er verdeutlicht
dies am Beispiel der Disposition „zerbrechlich“:5 „Lässt man ein Glas auf den
Boden fallen und es zerbricht dabei wider Erwarten nicht, sondern erst beim zweiten
Fallenlassen, dann kann man völlig konsistent das Folgende sagen: (1.) Das Glas war
bei seinem ersten Fall auf den Boden zerbrechlich; (2.) es ist aber nicht zerbrochen,
und die Behauptung, unter absolut […] identischen Weltbedingungen hätte es aber
zerbrechen können, ist gänzlich sinnlos; (3.) dennoch war es auch beim ersten Fall
zerbrechlich; das hat (4.) die anschließende Manifestation dieser Disposition beim
zweiten Fall deutlich gemacht.“ Nun wird sich nicht bestreiten lassen, dass die Ei-
genschaft des Glases, zerbrechlich zu sein, im Allgemeinen auch dann bestehen
kann, wenn ein konkreter Test misslingt. Jedoch hat die Zuschreibung der Disposi-
tion für den Fall einer ausbleibenden Manifestation keinerlei (gesetzesartige) Erklä-
rungskraft; im Beispiel ist das Glas beim ersten Fallen nicht zerbrochen und ist daher
unter diesen Bedingungen auch nicht zerbrechlich. Wenn es also offen bleibt, ob sich
der Täter unter den Bedingungen der konkreten Tat zu rechtmäßigem Alternativer-
halten hätte motivieren lassen können, ist die Zuschreibung einer ansonsten gegebe-
nen normativen Ansprechbarkeit unter Geltung des Tatschuldprinzips bedeutungs-
los.
An der dispositionellen Struktur der Schuldfähigkeit und damit ihrer mangelnden
Verifizierbarkeit bei notwendig fehlender Manifestation lässt sich nichts ändern, so
dass eine Lösung des Dilemmas unter Berücksichtigung weiterer Gesichtspunkte zu
suchen ist, insbesondere mit Blick auf den Zweck der Zuschreibung strafrechtlicher
Schuld. Merkel führt in diesem Sinne als Grundaufgabe der Strafe die Restitution
verletzter Normgeltung an.6 Der Schuldvorwurf wäre dann Ausdruck der durch
das normwidrige Verhalten enttäuschten Erwartung, der Täter werde sich als rechts-
treuer Normadressat rechtmäßig verhalten. Liegen dagegen im konkreten Fall akzep-
table Gründe vor, unter denen auch von einem rechtstreuen Normadressaten kein
rechtmäßiges Verhalten zu erwarten ist, offenbart die Tat kein Defizit an erwarteter
2
Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2. Aufl. 2014, S. 78 f., 95 f. und passim. – Zudem:
Selbst wenn der Nachweis menschlicher Willensfreiheit generell gelänge, stünde der Kondi-
tionalsatz im konkreten Fall weiterhin im Irrealis.
3
Ebd. S. 110 ff.
4
Merkel, in: Heinrich u. a. (Hrsg.), Strafrecht als Scientia Universalis, FS Roxin, Bd. I,
2011, S. 737 (752 ff.).
5
Ebd., S. 753, Hervorhebungen im Text.
6
A.a.O. (Fn. 2), S. 128.
Setzt Unrecht Schuld voraus? 353

Rechtstreue; der Täter hat sich nicht schuldhaft verhalten, das heißt: er hat die Ver-
bindlichkeit der Norm für sein Handeln nicht negiert. Schuld ist, so gesehen, keine
positive Größe, sondern ein Defizit, das sich im Ausbleiben zu erwartender Norm-
befolgung äußert. Ähnlich wie das Glas „enttäuscht“, weil es beim ersten Fall nicht
zerbrochen ist, obwohl es für zerbrechlich gehalten wurde, so enttäuscht der Täter,
weil er sich rechtswidrig verhalten hat, obgleich von ihm rechtmäßiges Verhalten zu
erwarten war.
Rechtstreue ist keine Eigenschaft, die einer Person zugeschrieben wird, sondern
ein Maßstab, an dem sie gemessen wird. Dem realen Verhalten einer Person wird das
Verhalten gegenübergestellt, das von ihr unter der Hypothese hinreichender Rechts-
treue zu erwarten gewesen wäre. Diese Hypothese kann freilich nicht ins Blaue hin-
ein formuliert werden, sondern muss auf der Annahme beruhen, dass die (positiven
wie auch negativen) Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen die fragliche Person,
wenn sie rechtstreu wäre, sich hätte anders verhalten müssen, als sie sich verhalten
hat. Das entsprechende Programm zur Prüfung dieser intellektuellen, physischen und
psychischen Voraussetzungen liefert der dogmatisch ausgearbeitete Verbrechensauf-
bau. Dass dieses Vorgehen allein auf den strafrechtlichen Schuldbegriff bezogen ist
und insbesondere nichts zur Klärung der Bedingungen eines freien menschlichen
Willes beiträgt, liegt auf der Hand. An die Stelle bewiesener Willensfreiheit tritt
der bescheidene Nachweis, dass die Voraussetzungen vorlagen, unter denen von
einem rechtstreuen Normadressaten ohne bestimmte psychische Defekte und ausge-
stattet mit den Kenntnissen und der Physis des konkreten Täters eine handlungswirk-
same Entscheidung zur Normbefolgung zu erwarten war. Mehr kann das Strafrecht
als Institution zur Sicherung der Geltung elementarer gesellschaftlicher Normen
nicht leisten.
In diesem Zusammenhang stellt sich nun eine Frage, der im Folgenden nachge-
gangen werden soll: Kann eine Person, von der auch bei unterstellter Rechtstreue
keine Normbefolgung zu erwarten ist, überhaupt Adressat einer Norm sein und
sich normwidrig verhalten? Eine bejahende Antwort scheint sich unmittelbar aus
§ 20 StGB entnehmen zu lassen: Unrechtseinsicht hat Unrecht zum Gegenstand
und kann nicht dessen Voraussetzung sein. Gleichwohl stellt eine in den letzten Jah-
ren nach gut einhundertjährigem Schlaf wiedererwachte Verbrechenslehre in Abre-
de, dass sich Normwidrigkeit ohne Schuld denken lasse;7 schuldloses Unrecht sei lo-
gisch ausgeschlossen.8 Unter dieser Prämisse hätte das StGB als magna charta9 des
Verbrechers ausgedient, da sich dem Einzelnen durch einen Blick ins Gesetz nicht
mehr erschließe, was er bei Strafe zu unterlassen hat und was nicht. Denn der straf-
rechtliche Schuldvorwurf wird als Urteil über den Täter – und nicht des Täters über
7
Vgl. nur (mit teilweise erheblichen Unterschieden im Detail) Freund, Strafrecht Allge-
meiner Teil, 2. Aufl. 2009, § 4 Rn. 20 ff.; Lesch, Der Verbrechensbegriff, 1999, S. 277 f. und
passim; Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, 2012, S. 259 ff.; Rostalski in: Schneider/Wagner
(Hrsg.), Normentheorie und Strafrecht, 2018, S. 105 ff.
8
Rostalski (Fn. 7), S. 105: eine contradictio in adjecto.
9
v. Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge II, 1905, S. 75, 80.
354 Urs Kindhäuser

sich selbst – verstanden. Von den Rechtsunterworfenen wird nur verlangt, Normen zu
befolgen, aber nicht, über ihre Normbefolgungsfähigkeit zu räsonieren.
Jedenfalls kann sich die vorherrschende Doktrin, die Rechtswidrigkeit und Schuld
als voneinander verschiedene Konstituenten der Straftat betrachtet,10 nicht nur auf
die gesetzlichen Regelungen des Allgemeinen Teils, sondern auch auf die Logik all-
täglicher Situationen der Verhaltenskritik berufen. Gemeinhin wird die Frage, ob die
Rechnung eines Schülers richtig ist, unabhängig von der Frage beantwortet, ob der
Schüler aufgrund seiner derzeitigen mathematischen Fähigkeiten in der Lage ist, die
Rechenaufgabe richtig zu lösen. Und die These, mathematische Regeln gälten nur für
diejenigen, die in der Lage seien, sie anzuwenden, widerspräche wohl eklatant dem
Alltagsverständnis. Dem Alltagsverständnis liegt also eine Unterscheidung zwischen
der Beurteilung eines Verhaltens als richtig oder falsch und der Verantwortlichkeit
für dieses Verhaltens durch Zuschreibung von Lob oder Tadel zugrunde. In diesem
Sinne geht auch die vorherrschende Strafrechtsdoktrin von der Annahme aus, dass
Normen allgemeingültige Regeln rechtlich richtigen Verhaltens sind, deren Missach-
tung jedoch nur dann sanktioniert werden darf, wenn von dem sich falsch Verhalten-
den rechtmäßiges Verhalten erwartet werden durfte. Auch der Schüler wird ja für die
falsche (!) Berechnung nur getadelt, wenn von ihm nach Maßgabe seines Ausbil-
dungsstadiums erwartet werden konnte, dass er die Aufgabe richtig löst.

II. Die Norm als Ansprache


Ein Argument gegen die Trennung von Rechtswidrigkeit und Schuld wird u a. aus
einer kommunikativen Interpretation der Straftat hergeleitet:11 Der Täter verstoße
gegen ein rechtliches Ge- oder Verbot und stelle damit „seine eigenen Maximen
über die allgemeinen gesellschaftlichen“. Die Gesellschaft antworte auf diese Erklä-
rung des Täters, indem sie durch die Strafe zum Ausdruck bringe, dass sie „an den
gemeinsamen Vorschriften festhalten möchte – und sie daher dem Täter nicht Recht
gibt“. Diese Kommunikation setze nun die Tauglichkeit des Täters als Gesprächs-
partner voraus. Insoweit kämen als Normadressaten „ausschließlich Personen in Be-
tracht, die zur Normbefolgung fähig sind.“ Schuldlose bewegten sich dagegen „au-
ßerhalb der rechtlichen Ge- und Verbote“, weshalb ihr Verhalten keinen Verstoß
gegen das Recht begründen könne.
Ungeachtet der Plausibilität eines kommunikativen Modells der Straftat wird man
ein Strafverfahren schwerlich als ein Gespräch zwischen Täter und Richter/Gesell-
schaft über die Frage interpretieren können, ob dem Täter „Recht zu geben“ ist oder
nicht. Dem Täter fehlt jede Kompetenz, über die Kriterien der rechtlichen Bewertung
seines Verhaltens zu verhandeln. Die Kommunikation kann also allein der Klärung

10
Beispielhaft Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl. 2006, § 19 Rn. 1 ff.
m. umf. N.
11
Zum Folgenden Rostalski, a.a.O. (Fn. 7), S. 105 ff.; Hervorhebung nicht im Text.
Setzt Unrecht Schuld voraus? 355

zweier Fragen dienen: (1.) Kann das rechtswidrige Verhalten als dem Täter zurechen-
bare Erklärung verstanden werden, die Norm sei für ihn situativ unverbindlich gewe-
sen? Bejaht werden kann dies, wenn begründet angenommen werden kann, es seien
die Voraussetzungen erfüllt gewesen, unter denen von ihm bei unterstellter Rechts-
treue rechtmäßiges Verhalten zu erwarten gewesen wäre; die Zurechenbarkeit setzt
hierbei einen Erklärungsinhalt, scil. das rechtswidrige Verhalten, logisch voraus. (2.)
Hat der Täter um der Restitution faktischer (nicht rechtlicher) Normgeltung willen
die Kosten seiner Unverbindlichkeitserklärung zu tragen und – wenn ja – in welchem
Umfang? Ein kommunikatives Straftatmodell in diesem Sinne erfordert offensicht-
lich, dass zwischen der Norm als Kriterium rechtlich richtigen Verhaltens und der
Fähigkeit zu ihrer Befolgung zu differenzieren ist; die Normbefolgung ist als akzi-
dentelles Ereignis kategorial verschieden von der allgemeingültig gesetzten Norm.
Im Übrigen kann von einer Kommunikation zwischen Straftäter und Richter/Gesell-
schaft nur in einer uneigentlichen Sprache die Rede sein: Straftat und Bestrafung sind
keine beliebigen Sprechakte. Vielmehr enthalten die Strafgesetze bereits ex ante den
festgelegten Text, den Täter und Richter aufsagen, so wie Macbeth und Duncan die
Worte Shakespeares auf der Bühne wiederholen. (Und die Fähigkeit der Schauspie-
ler, den Text lebendig werden zu lassen, berührt ersichtlich nicht den Inhalt des Ge-
sagten.)
Allerdings soll der „Gesprächspartner“ des Täters nach dem oben genannten kom-
munikativen Modell nicht (nur) der Richter, sondern (auch) der Gesetzgeber sein.
Genauer: Der Gesetzgeber richte seine Normen nur an Personen, die hierdurch an-
sprechbar und handlungswirksam motivierbar seien, also als taugliche Gesprächs-
partner in Betracht kämen.12 Diese These kann zweierlei bedeuten. Sie kann besagen,
dass nur generell Schuldfähige Normadressaten seien, die sich im Einzelfall aber
durchaus schuldlos rechtswidrig verhalten könnten. In dieser Deutung wäre die
These belanglos, da sie nur den potenziellen Täterkreis – entgegen dem Wortlaut
der §§ 19 f. StGB – einengte, ansonsten aber das Verhältnis von Rechtswidrigkeit
und Schuld im Sinne der vorherrschenden Doktrin bestimmte. Gewichtig wäre die
These dagegen, wenn sie die Qualität, Normadressat zu sein, auf den Tatzeitpunkt
bezieht, also stets für den Tatzeitpunkt Schuld als Rechtswidrigkeitsvoraussetzung
verlangte, so dass sich ex hypothesi auch ein nur temporär – etwa wegen eines schuld-
ausschließenden Affekts – Schuldunfähiger nicht rechtswidrig verhalten könnte.13
Doch wie soll der Gesetzgeber den Adressatenkreis ex ante bestimmen, wenn der
Schuldvorwurf erst ex post im Wege der Zurechnung erhoben und begründet
wird? Die These, Rechtswidrigkeit setze Schuld voraus, scheint also Gefahr zu lau-
fen, die ex ante an eine Person gerichtete Verhaltensanforderung mit dem ex post zu
treffenden Urteil über die zu verantwortende Missachtung der Anforderung durch
diese Person zu konfundieren.
12
Rostalski, a.a.O. (Fn. 7), S. 107.
13
Nur in diesem Sinne wird die These von der „objektiven Unmöglichkeit schuldlosen
Verhaltensunrechts“ (so der Titel von Rostalskis Abhandlung, a.a.O. [Fn. 7], S. 105) im Fol-
genden diskutiert.
356 Urs Kindhäuser

III. Die Norm als Befehl


1. Im modernen Strafrecht ist die begriffliche Verbindung von Unrecht und Schuld
unter normtheoretischen Gesichtspunkten wohl zuerst von Adolf Merkel ins Ge-
spräch gebracht worden:14 Recht ist für ihn eine geistige Macht, deren Gebote und
Verbote – im Sinne autoritativer Willenserklärungen – sich an den Willen zurech-
nungsfähiger Menschen richten, so dass Unrecht nur in der Verletzung von Normen
durch Zurechnungsfähige liegen könne, denen gegenüber sie gelten wollen. Dement-
sprechend richte sich auch der Umfang der Pflicht nach der Fähigkeit, sie zu erfüllen;
Unmögliches lasse sich nicht bewirken, Unvorhersehbares nicht vermeiden. Natur-
gewalten wie Wahnsinnige seien gleichermaßen nicht imstande, Unrecht anzurich-
ten.15 In diesem Sinne sieht auch Merkels Anhänger Hertz die Zurechnungsfähigkeit
als logische Voraussetzung des Unrechts:16 Schuldloses Unrecht sei eine contradictio
in adjecto, schuldhaftes Unrecht eine Tautologie.17
Die sog. Imperativentheorie hat diesen Ansatz im Wege einer Deutung der Norm
als Befehl fortentwickelt, allerdings nicht als einheitliche Lehre. Thon, einer ihrer
Wegbereiter und Hauptvertreter, begreift zwar das Recht als einen „Complex von Im-
perativen“ – in jedem Rechtssatz liege ein praeceptum legis –18, hält es aber aus zi-
vilrechtlichen Überlegungen für möglich, dass sich die Imperative des Rechts auch
an Unzurechnungsfähige richten.19 Hold v. Ferneck dagegen vertritt eine entschieden
subjektivierte Interpretation des Unrechts, der zufolge nur der Zurechnungsfähige –
i. S. eines durch Motive normal bestimmbaren Menschen – tauglicher Normadressat
sein könne,20 mit der Folge, dass nicht zurechenbares Unrecht ein Widerspruch in
sich sei.21 Stellungnahmen dieser Art, die hier nur beispielhaft erwähnt seien, stam-
men allerdings aus einer Zeit vor dem für die weitere Strafrechtsdogmatik entschei-
denden Anstoß zu einem normativen Schuldbegriff durch v. Frank.22 Schuld im nor-
mativen Sinne versteht sich seither nicht mehr als täterbezogene Willensschuld, son-
dern als auch präventive Elemente umfassende Vorwerfbarkeit23 (von Unrecht!) oder
gar als Derivat des Strafzwecks24.

14
Adolf Merkel, Kriminalistische Abhandlungen I, 1867, S. 42 – 56.
15
Ebd., S. 47, 54; vgl. auch Kohlrausch, Irrtum und Schuldbegriff im Strafrecht, I, 1903,
S. 51.
16
Hertz, Das Unrecht und die allgemeinen Lehren des Strafrechts, 1880, S. 3.
17
Ebd., S. 14.
18
Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht, 1878, S. 3, 8.
19
Ebd., S. 71 ff.; hiergegen Merkel, Grünhuts Zeitschrift VI (1879), 367, 383.
20
Hold v. Ferneck, Die Rechtswidrigkeit, I 1903, S. 104 ff., 355 ff.; II 1905, S. 3.
21
Ebd., I 1903, S. 351, wiederum: contradictio in adjecto.
22
Frank, Über den Aufbau des Schuldbegriffs, 1907, S. 9 ff. und passim.
23
Ausf. hierzu Roxin, a.a.O. (Fn. 10), § 19 Rn. 10 ff., 18 ff., § 20 Rn. 1 ff. m. umf. N.
24
Jakobs, Schuld und Prävention, 1976.
Setzt Unrecht Schuld voraus? 357

2. Dass Adolf Merkels und seiner Nachfolger Konzeption gleichwohl heute wie-
der zum Leben erwacht, beruht auf der vermeintlichen Plausibilität des zur Begrün-
dung herangezogenen Befehlsmodells. Nach Hruschka25 impliziert die Aufforderung
„Du sollst die Tür schließen!“, dass der Sprecher der Meinung sei, der Angeredete
könne die Tür auch tatsächlich schließen.26 Sei es für die Beteiligten offensichtlich,
dass der Befehlsadressat die Tür nicht schließen könne, dann sei der fragliche Befehl
nur noch so zu verstehen, dass er in einer lingua obliqua gesprochen und also zynisch
gemeint sei. Verallgemeinert: Aus jedem präskriptiv gemeinten Sollenssatz ergebe
sich die Meinung des Sprechers, der Adressat der Forderung sei auch in der Lage,
die Forderung zu befolgen.27
Wenn von einer Norm als einem Befehl die Rede ist, kann dies zweierlei bedeuten.
Zum einen kann mit der Charakterisierung einer Norm als Befehl deren Funktion als
Bestimmungsnorm bezeichnet werden. Der Ausdruck „Normbefehl“ verdeutlicht
dann nur, dass es sich bei der fraglichen Norm um eine Verhaltensanweisung und
nicht um eine Verhaltensbewertung handelt. Der Sache nach geht es insoweit –
ganz harmlos – nur um eine façon de parler. Zum anderen kann mit der Bezeichnung
einer Norm als Befehl auch deren Verständnis als ein bestimmter Handlungstyp ge-
meint sein. In diesem Sinne ist ein Befehl eine Sprechhandlung, durch die jemand
einen anderen zu einem künftigen Verhalten veranlassen will. Sofern dieses Modell
auf staatliche Normen angewandt wird, wird es auf einen – mehr oder minder meta-
phorisch personalisierten – Gesetzgeber bezogen, der mit Hilfe der von ihm erlasse-
nen Normen seinen Willen zum Ausdruck bringt, wie sich die Rechtsunterworfenen
zu verhalten haben. Rechtswidriges Verhalten stellt sich dann als Gehorsamsverwei-
gerung oder Unbotmäßigkeit dar. Es sei hier dahingestellt, ob sich ein Rechtssystem
als Komplex von Imperativen sinnvoll darstellen lässt.28 In jedem Fall dürfte auch
nach diesem Modell das Sollen nicht aus dem Wollen der Autorität folgen, sondern
Ausfluss einer übergeordneten Norm sein, die den Normgeber zur Normsetzung be-
rechtigt und den Normadressaten zur Normbefolgung verpflichtet. Auch wäre es in-
adäquat, die für das Strafrecht bedeutsamen Erlaubnisse oder Freistellungen in Ge-
stalt von Befehlen zu formulieren, sofern diese Regelungen als Normen begriffen
werden.29
Ungeachtet der Einwände gegen eine Interpretation strafrechtlicher Verhaltens-
normen als Befehle taugt das Befehlsmodell nicht als Stütze der These, dass eine
Norm die Fähigkeit zu ihrer Befolgung logisch voraussetzt. Vielmehr zeigt gerade
25
Hruschka, Rechtstheorie 1991, S. 449, 453.
26
Hare, auf den Hruschka verweist, bezeichnet das Verhältnis von Sollen und Können in
diesem Kontext ausdrücklich nicht als logisches, sondern als praktisches, vgl. Freiheit und
Vernunft, 1973, S. 67 ff., 70 f.
27
Hruschka, a.a.O. (Fn. 25), S. 453.
28
Grundlegende Kritik mit Blick auf Rechtssysteme bei Hart, The Concept of Law, Ox-
ford, 2. Aufl. 1994, S. 18 ff. und passim.
29
Hierzu Kindhäuser, in: Dimitris Charalambis, jus, ars, philosophia et historia, FS
Strangas, 2017, S. 317, 325 f.; Mañalich, Rechtsphilosophie 2015, S. 288, 297 ff., 308 ff.
358 Urs Kindhäuser

eine Deutung der Norm als Sprechakt des Befehls, dass diese These verfehlt ist. Dies
wird deutlich, wenn man den Zusammenhang zwischen der Norm und dem staatli-
chen Anspruch auf ihre Befolgung sprechakttheoretisch analysiert. In J. L. Austins
(einfachem) Sprechaktmodell,30 das im hiesigen Kontext zur Problemdarstellung
ausreicht, sind bei einer Handlung mittels sprachlicher Äußerung drei Aspekte zu
unterscheiden: der sprachliche Inhalt der Äußerung (die lokutionäre Rolle), die
mit der Äußerung vollzogene Handlung (die illokutionäre Rolle) und die mit der
sprachlichen Äußerung erzielte Wirkung (die perlokutionäre Rolle).
Der Argumentation halber sei nun davon ausgegangen, das Verbot der Sachbe-
schädigung sei ein Imperativ, und zwar der Befehl eines personal gedachten Souve-
räns S an einen ihm unterstellten Untertan U; U wirft am nächsten Tag mit einem
Stein eine (fremde) Fensterscheibe ein. Kann nun aus dem Befehl des S logisch ab-
geleitet werden, dass der Befehl nur gilt (oder gar nur existiert), wenn U hinreichend
handlungs- und motivationsfähig ist, um ihn befolgen zu können? Bezogen auf den
Befehl des S an U folgt aus dem Sprechaktmodell Austins: Die Äußerung des S, es sei
für U verboten, fremde Sachen zu beschädigen, markiert die lokutionäre Rolle des
Befehls. Es ist der Ausdruck dessen, was S will und U deshalb nicht tun soll. Die
sprachliche Formulierung dieser Äußerung – gewissermaßen der Rechtssatz –, in
dem der Inhalt des Befehls seine fassbare semantische Gestalt annimmt, lässt sich
in zwei Elemente unterteilen: einen deontischen Operator und einen bestimmten pro-
positionalen Gehalt. Der deontische Operator verdeutlicht den Modus des Befohle-
nen als verboten, geboten, erlaubt oder freigestellt; er zeigt im Beispielsfall ein Ver-
bot an. Der propositionale Gehalt des geäußerten Satzes hat dagegen den Anwen-
dungsbereich des Befohlenen zur Referenz, hier: das Beschädigen fremder Sachen.
Insoweit kann die lokutionäre Rolle des Befehls wie folgt formuliert werden: „ver-
boten: fremde Sachen zu beschädigen“.
Zu einem Befehl wird die Äußerung des S jedoch erst dann, wenn auch die illoku-
tionären Voraussetzungen des Sprechakts gegeben sind, also die pragmatischen Vor-
aussetzungen, die für einen Befehl konstitutiv sind und erfüllt sein müssen, damit der
Sprechakt überhaupt gelingen kann.31 Im hiesigen Kontext sind wenigstens zwei Vor-
aussetzungen von Belang: Zum einen muss eine Hierarchie zwischen S und U beste-
hen – Gleichgeordnete können einander nichts vorschreiben –, zum anderen muss S
erwarten können, dass U den Anspruch des S, das Verbot handlungswirksam zu be-
folgen, als ihn bindende Verhaltensanweisung handlungswirksam anerkennt, und sei
dies auch nur, weil S aufgrund der ihm zustehenden Sanktionsgewalt den U zur Be-
folgung des Befehls veranlassen kann. Hätte U die Möglichkeit, die Äußerung des S
folgenlos zu missachten, so handelte es sich nicht um einen Befehl, sondern allenfalls
um eine Bitte oder einen unverbindlichen Wunsch.

30
Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words), 1986, S. 110 ff.,
123 ff. und passim; hierzu auch v. Savigny, Analytische Philosophie, 1970, S. 89 ff.
31
Hierzu Searle, Sprechakte, 2. Aufl. 1986, S. 100 f.
Setzt Unrecht Schuld voraus? 359

Die perlokutionäre Rolle des Sprechakts gehört dagegen nicht zu den konstituti-
ven Bedingungen seines Gelingens, sondern betrifft eine von ihm unabhängige Wir-
kung, das heißt hier: Ob U tatsächlich den Befehl befolgt oder nicht, berührt nicht die
Frage, ob der Sprechakt hinsichtlich seiner lokutionären und illokutionären Rolle ge-
lungen ist. Dass U im Beispielsfall eine fremde Scheibe einwirft, ändert nichts daran,
dass S zuvor einen Sprechakt vollzogen hat, der (lokutionär und illokutionär) die Vor-
aussetzungen eines Befehls erfüllt.
Anhand dieser Analyse wird deutlich, dass die Frage, wie sich der Befehlsemp-
fänger nach Maßgabe der geäußerten Präskription verhalten soll, unabhängig davon
zu beantworten ist, ob er den Befehl erwartungsgemäß befolgen kann und wird. Die
geäußerte Verhaltensanweisung und die mit der Äußerung verbundene Erwartung,
der Verhaltensanweisung werde und könne nachgekommen werden, sind zweierlei.
Jenes entspricht der lokutionären Rolle, dieses der illokutionären Rolle des Sprech-
akts. Auch ein Geisteskranker kann sich daher in einer Weise verhalten, die nicht ge-
sollt ist, auch wenn er nicht über die Fähigkeiten verfügt, die von ihm die Befolgung
des Befehls erwarten lassen. In diesem Fall wäre es freilich auch (pragmatisch) irra-
tional, den Betreffenden für sein Fehlverhalten zu bestrafen. Denn die Sanktion dient
der Absicherung der Erwartung, der Befehlsempfänger werde seine Fähigkeiten zur
Befolgung des Befehls handlungswirksam einsetzen.
Die Unterscheidung von Logik und Pragmatik in der Normentheorie ist keine ana-
lytische Spielerei, sondern hat – ernst genommen – Konsequenzen. Soweit es um
Logik geht, sind in Reichweite des strafrechtlichen Garantieprinzips allein begriff-
liche Ableitungen zulässig. Nur solche Verhaltensweisen können normwidrig sein,
auf die sich die Normproposition begrifflich bezieht; hierauf wird zurückzukommen
sein. Anders verhält es sich im Bereich der Pragmatik: Hier eröffnen sich teleologi-
sche Räume, etwa zu den sich am Strafzweck orientierenden Erwartungen in den von
einem rechtstreuen Normadressaten erwarteten Einsatz seiner Handlungs- und Mo-
tivationsfähigkeit zur Normbefolgung. Oder anders formuliert: Ob ein Verhalten ver-
boten oder erlaubt ist, steht nach Maßgabe des propositionalen Gehalts der anzuwen-
denden Norm begrifflich fest; hier gilt das Korsett der begrifflichen Logik. Ob es da-
gegen „sinnvoll“ – d. h. am Strafzweck gemessen: rational – ist, von dem Adressaten
einer Norm deren Befolgung zu erwarten, steht weder a priori fest noch lässt sich der
fragliche Sinn dem Zweck der Norm selbst entnehmen. Diese Differenzierung ist bei-
spielsweise für die Bestimmung des Verhältnisses von Rechtswidrigkeit und Schuld
von großer Bedeutung.
Exempla docent: In einem Warenhaus explodiert eine Bombe, eine Panik bricht
aus, A und B kämpfen sich mit Gewalt durch das Menschengewühl auf der rettenden
Freitreppe und stoßen dabei Menschen um, von denen mehrere – sowohl von A wie
auch von B bewusst verursacht – ums Leben kommen. Für das Beispiel sei angenom-
men, dass die Merkmale von § 20 StGB für A und B gleichermaßen nicht erfüllt sind,
beide also zum Tatzeitpunkt als hinreichend schuldfähig gelten und sich zudem –
strafrechtlich gesehen – objektiv wie subjektiv parallel verhalten haben. Auch die
360 Urs Kindhäuser

Voraussetzungen von § 35 Abs. 1 S. 1 StGB sind für Awie B gleichermaßen gegeben.


Jedoch ist A ein beliebiger Kunde des Kaufhauses, während B die Bombe gezündet
hatte. Demnach ist A entschuldigt, während B sich wegen Totschlags strafbar ge-
macht hat.
Die Lehre von der „Unmöglichkeit schuldlosen Unrechts“ sieht sich hier augen-
scheinlich vor ein unlösbares Dilemma gestellt, da der Grund, dessentwegen A
schuldlos handelt, seine Normbefolgungsfähigkeit nicht aufhebt; anderenfalls dürfte
B, dessen Lage sich insoweit von derjenigen des A ex hypothesi nicht unterscheidet,
nicht strafbar sein. Das Argument, Normen richteten sich nur an Personen, die zu
ihrer Befolgung fähig seien, liefe demnach ins Leere. Das rettende Argument, nur
der Schuldunfähige, nicht aber auch der Entschuldigte schiede als Normadressat
aus, führte zu der wenig einsichtigen Konsequenz, dass es zwar kraft Entschuldigung,
aber nicht kraft Schuldunfähigkeit schuldloses Unrecht gebe; die Differenzierung
zwischen Unrecht und Schuld bliebe also partiell bestehen.
Der Grund, dessentwegen A entschuldigt wird, hat nichts mit (dem Ausschluss)
der Fähigkeit zur Normbefolgung zu tun. Er hängt aber auch nicht unmittelbar
mit dem Zweck der Norm zusammen. Wenn das Tötungsverbot dem Schutz von
Menschenleben dient, dann können schwerlich die von A getöteten Personen weniger
schutzwürdig sein als die Personen, die von B getötet wurden. Ungeachtet dessen be-
rechtigt allein der Umstand, dass A und B ihr Leben retten wollen – bzw. sich in einer
Situation befinden, in der Menschen unabhängig von ihrer tatsächlichen Motivati-
onslage nach generellen Maßstäben ihr Leben retten wollen –, nicht dazu, gleichwer-
tige Güter Dritter zu verletzen. Die Maßstäbe, nach denen sich das Urteil über die
zurechnungsbegründende Fähigkeit, Normen zu befolgen, richtet, stehen allenfalls
mittelbar in einem Zusammenhang mit dem Zweck der Norm, Rechtsgüter zu schüt-
zen.

IV. Norm und Tatbestand


1. Ein gewichtiges Argument zugunsten der These, Unrecht setze Schuld voraus,
könnte sich auf den ersten Blick dem heute allgemein anerkannten Deliktsaufbau ent-
nehmen lassen. Nach der vorherrschenden Doktrin ist beim Vorsatzdelikt ein sog.
subjektiver Tatbestand der Rechtswidrigkeit vorgelagert; eine vordringende Mei-
nung befürwortet diese Konstruktion auch für die subjektiven Fahrlässigkeitsele-
mente.32 Deutet man nun den (subjektiven wie auch objektiven) Tatbestand als Norm-
proposition, so umfasste der Norminhalt beim Vorsatzdelikt auch den Vorsatz. Un-
geachtet der Frage, wie der Vorsatz hinsichtlich seiner voluntativen Kriterien zu de-
finieren ist, gehören jedenfalls die auf das objektive tatbestandliche Geschehen
bezogenen Kenntnisse und Prognosen des Täters zum Vorsatz, so dass sich hinsicht-

32
Hierzu Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2017, § 13, § 33 Rn. 49 ff.
m. umf. N.
Setzt Unrecht Schuld voraus? 361

lich der intellektuellen Momente der Handlungsfähigkeit des Täters Norm und
Normbefolgung nicht trennen ließen.
Nun ist gerade Beling, dem Vater der Tatbestandslehre, eine präzise Unterschei-
dung zwischen Tatbestand und Deliktstypus zu verdanken. Nach Beling ist der De-
liktstypus der Inbegriff der Elemente, die eine bestimmte Form der Straftat prägen.33
Beim Diebstahl etwa ist dies die vorsätzliche Wegnahme einer fremden Sache in Zu-
eignungsabsicht. Werden diese Deliktsmerkmale verwirklicht, ohne dass die Tat si-
tuativ gerechtfertigt ist, so ist ein „typischer“ (strafwürdiger) Diebstahl gegeben.
Dasjenige also, was die heutige (finalistisch geprägte) Lehre als aus objektiven
und subjektiven Tatelementen zusammengesetztes tatbestandliches Unrecht aus-
weist, ist bei Beling das deliktstypische Unrecht. Dieses „Unrecht“ wird ex post kon-
stituiert und ist als strafwürdiger Gegenstand des Vorwurfs, der gegen den Täter er-
hoben wird, auch einer komparativen Wertung zugänglich. Das Unrecht, für das der
Täter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, kann mehr oder weniger gra-
vierend sein. Bei dieser Wertung gehören Vorsatz und Zueignungsabsicht als subjek-
tive „Unrechtselemente“ wesentlich zur Bestimmung der Typizität eines Dieb-
stahls.34 Nach diesem Schema lernt auch der Student die Strafbarkeit eines bestimm-
ten Verhaltens zu prüfen. In einer lehrbuchmäßig angeordneten und didaktisch plau-
siblen Reihenfolge subsumiert er objektive und subjektive Elemente eines
Geschehens unter die Merkmale des relevanten Deliktstypus.
Mit einer normtheoretischen Analyse der Straftat darf jedoch diese Konstitution
des strafrechtlichen Vorwurfs schuldhaften Unrechts nicht verwechselt oder gar iden-
tifiziert werden, was schon aus zwei Umständen erhellt. Ob ein Verhalten verboten
oder erlaubt ist, ist Ergebnis einer klassifikatorischen Zuschreibung; Rechtswidrig-
keit ist im Gegensatz zu Unrecht nicht steigerungsfähig. Ferner ist für die Formulie-
rung des Verbots nur auf Merkmale des Grundtatbestands zurückzugreifen.35 Merk-
male, die das Unrecht einer Tat nur steigern oder mindern, sind Kriterien der Straf-
zumessung, berühren aber die Rechtswidrigkeit des Täterverhaltens nicht. Dies gilt
auch für den Vorsatz, der nach Beling zwar wesentliches Element des Deliktstypus,
aber eben kein Merkmal des Tatbestands ist. Allerdings hat vor allem diese rein ob-
jektive und zugleich wertfreie Deutung des Tatbestands Belings Konzeption unver-
ständlich erscheinen lassen. Wie sollte sich auch ein als „Wegnahme einer fremden
beweglichen Sache in der Absicht, sie sich rechtswidrig zuzueignen“ geschildertes
Geschehen als wertfreie Verhaltensbeschreibung verstehen lassen? Dass dies sinn-
voll sei, hat Beling freilich auch nie behauptet, sondern hierfür den Begriff des De-
liktstypus zur Hand gehabt, der von ihm ausdrücklich nicht als wertfrei gedeutet
wird.36

33
Beling, Die Lehre vom Tatbestand, 1930, S. 3.
34
Ebd.
35
Dass auch Sanktionsnormen handlungsleitend wirken können, hat Renzikowski, in: Sa-
liger (Hrsg.), FS Neumann, 2017, S. 335 ff., aufgezeigt.
36
A.a.O. (Fn. 33), S. 2, 9 ff.
362 Urs Kindhäuser

Das Verständnis der Tatbestandslehre Belings wird durch den terminologisch eher
unglücklich gewählten Begriff des Tatbestands erschwert, den Beling nur deliktssys-
tematisch zu präzisieren versuchte, ihn aber gerade damit aus dem üblichen dogma-
tischen Wortgebrauch herausgerissen und zu einem eigenständigen theoretischen
Begriff gemacht hat. Beling nennt den Tatbestand einen Leitbegriff, der das und
nur das Geschehen beschreibt, auf das sich alle Kriterien der Rechtswidrigkeit
und Schuld beziehen.37 Die Schuld umfasst wiederum nach seiner Konzeption alle
Kriterien der (subjektiven) Zurechnung und damit auch den Vorsatz.38 Auch die Zu-
eignungsabsicht kann beim Diebstahl folgerichtig nicht zum Tatbestand gehören.
Denn wie soll die Zueignungsabsicht des Täters Gegenstand seines Vorsatzes
sein? Der (Grund-)Tatbestand des Diebstahls hat daher nur die Merkmale „Wegnah-
me einer fremden beweglichen Sache“ zum Inhalt. Die Wertfreiheit dieses Tatbe-
stands ergibt sich wiederum zwanglos aus dem Umstand, dass sich auf genau dieses
Geschehen auch die Rechtfertigung bezieht, dass also das tatbestandliche Geschehen
zugleich Gegenstand eines (allgemeinen) Verbots und einer (situativen) Erlaubnis ist.
Wenn semantische Identität zwischen dem Inhalt eines Verbots und dem Inhalt einer
Erlaubnis besteht, muss der den Inhalt von Verbot und Erlaubnis gleichermaßen for-
mulierende Tatbestand notwendig wertfrei sein. Wie sich die Kollision zwischen Ver-
bot und Erlaubnis beseitigen lässt, ist dagegen eine von der Bestimmung des Tatbe-
stands unabhängige Frage.39
Wenn die Zueignungsabsicht und alle sonstigen subjektiven Unrechtsmerkmale
keine Tatbestandsmerkmale (in Belings Terminologie) sind, als was sind sie dann
zu behandeln? Nach Belings Konzeption ist zu differenzieren. Handelt es sich um
subjektive Merkmale, die sich auf den Tatbestand beziehen – wie etwa der Vorsatz
oder das Unrechtsbewusstsein –, sind sie als Zurechnungskriterien in der Schuld zu
lozieren. Handelt es sich dagegen um subjektive Merkmale, die sich – wie die Zu-
eignungsabsicht beim Diebstahl – nicht auf den Tatbestand beziehen, wohl aber
die spezifische Strafwürdigkeit des Deliktstypus charakterisieren, deutet sie Beling
als subjektive Strafbarkeitsbedingungen,40 dies durchaus berechtigt, da sie ja, wie
auch die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit, nicht Gegenstand der subjektiven
Zurechnung sind. Mit Blick auf die Zueignungsabsicht bedeutet dies: Die Absicht
gehört nicht zum Verbot, denn die Wegnahme einer fremden Sache ist auch dann
rechtswidrig, wenn der Täter ohne Zueignungsabsicht handelt. Strafwürdig wird
die Wegnahme einer fremden Sache freilich erst dann, wenn sie deliktstypisch in Zu-
eignungsabsicht erfolgt. Die Zueignungsabsicht ist auch nicht Gegenstand einer
Rechtfertigung, denn sie setzt schon begrifflich die Rechtswidrigkeit des angemaß-
37
Um den Leitbildcharakter des Tatbestands zu verdeutlichen, spricht Beling von dessen
„regulativer“ Funktion, a.a.O. (Fn. 33), S. 16.
38
Beling, Die Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 178 ff.; vgl. insoweit auch den Wortlaut von
§ 59 RStGB.
39
Diese Kollision betrifft nicht den tatbestandlichen Inhalt, sondern die deontischen Ope-
ratoren der Normsätze.
40
A.a.O. (Fn. 38), S. 196.
Setzt Unrecht Schuld voraus? 363

ten Eigenbesitzes voraus; bei Rechtmäßigkeit der Zueignung ist diese eo ipso nicht
rechtswidrig und bedarf daher keiner Rechtfertigung mehr.
2. Belings Analyse eines zentralen Elements des Verbrechensbegriff, das er „Tat-
bestand“ nennt, lässt sich unschwer zur Lösung der im hiesigen Kontext behandelten
normtheoretischen Problemstellung heranziehen. Denn der Tatbestand im Sinne Be-
lings kann mit dem propositionalen Gehalt strafrechtlicher Verhaltensnormen gleich-
gesetzt werden.41 Beling zeigt, dass die Kriterien strafrechtlicher Zurechnung im Tat-
bestand nichts zu suchen haben, dass also die Kriterien der Befolgung von Normen
nicht zum Inhalt der Norm gehören. Fraglos sind jedoch subjektive Elemente wie
Vorsatz, Absichten oder Motive Eigenschaften, die das deliktstypische Unrecht
der Tat, für die der Täter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, mitkonsti-
tuieren. Ein aus Hass begangener zielgerichteter Totschlag hat nach den Wertungen
des Rechts ein ganz anderes Gewicht als ein aufgrund fahrlässiger Unachtsamkeit im
Straßenverkehr verursachter Unfall mit Todesfolge. Doch ist die Norm, die das zum
Tode führende Verhalten in beiden Fällen untersagt, jeweils das Verbot, einen ande-
ren Menschen zu töten. Der propositionale Gehalt dieses Verbots ist der Tatbestand
im Sinne Belings.42
Nunmehr lässt sich auch zeigen, warum die Bedingungen der Fähigkeit zur Be-
folgung einer Norm aus logischen Gründen nicht zum Inhalt der zu befolgenden
Norm gehören können. Zunächst: Aus einer allgemeinen Normproposition lassen
sich nach einer logischen Individualisierungsregel individuellere Propositionen ab-
leiten, sofern die in Frage stehenden Individuenbegriffe den Allgemeinbegriffen un-
terfallen. Da die speziellere Normproposition begrifflich in der allgemeineren ent-
halten ist, kann sie auch wieder mit dem jeweiligen deontischen Operator verbunden
werden. Aus der allgemeinen Norm „Es ist verboten, fremde Sachen zu beschädigen“
kann so die speziellere Norm „Es ist verboten, eine fremde Fensterscheibe zu beschä-
digen“ gewonnen werden. Ersichtlich gehört aber die konkrete Handlungs- und Mo-
tivationsfähigkeit, über die eine Person P verfügen muss, um das Verbot zu befolgen,
nicht zu den spezifizierten Individuen, die in die Variablen der allgemeinen Norm
eingesetzt werden können. Denn diese Fähigkeiten beziehen sich auf das befohlene
Verhalten selbst. Die Einbeziehung dieser Fähigkeiten in den propositionalen Inhalt
der Norm wäre deshalb als Verstoß gegen das Verbot der Selbstbezüglichkeit logisch
unzulässig.43 Ein solches Verbot müsste etwa lauten: „Du sollst nicht bewusst und
gewollt sowie im (vermeidbaren) Bewusstsein, dass es verboten ist, eine fremde
Sache zu beschädigen, eine fremde Sache beschädigen, sofern Du in der Lage
bist, den Willen zu bilden, das Beschädigen einer fremden zu Sache zu unterlassen!“

41
A.a.O. (Fn. 33), S. 9: alle Tatbestände sind beschreibenden Charakters, also noch ohne
Wertung (d. h. modalen Operator).
42
Vgl. die Ausführungen zur Körperverletzung a.a.O. (Fn. 38), S. 197.
43
Vgl. hierzu nur Vogel, Norm und Pflicht bei unechten Unterlassungsdelikten, 1993,
S. 41 f. m.w.N.
364 Urs Kindhäuser

Der logische Fehler, der in der Formulierung einer selbstbezüglichen Norm steckt,
wird deutlich, wenn man versucht, sie auf die Entscheidungssituation anzuwenden,
in der sich ein Normadressat zum Tatzeitpunkt befindet. Diese ex ante-Sicht darf
nicht mit der ex post-Bewertung eines Geschehens, das Gegenstand eines Schuldvor-
wurfs ist, durch einen Dritten verwechselt werden. Anscombe hat den Unterschied
zwischen beiden Standpunkten wie folgt analysiert:44 Hat jemand etwas Verbotenes
getan, so erschöpft sich die Frage, ob er sich insoweit schuldig gemacht hat, nicht in
einem Hinweis auf ein äußerliches Geschehen, sondern bezieht sich auch auf seinen
Willen. Entsprechendes gilt jedoch nicht, wenn es um die Entscheidung geht, ob ein
Verbot zu befolgen oder nicht zu befolgen ist. Die Entscheidung kann hier nicht lau-
ten, ob dies oder jenes willentlich oder unwillentlich zu machen ist. Willentlichkeit45
ist vielmehr in der Entscheidung, ob dies oder jenes zu tun ist, vorausgesetzt. Oder
anders formuliert: Willentlichkeit gehört nicht zum Inhalt der Norm, zu deren Befol-
gung oder Nichtbefolgung sich ihr Adressat entscheidet, sondern zur Beurteilung des
verbotenen Verhaltens als gewollt, das Gegenstand des Schuldvorwurfs ist.
In ähnlicher Weise greift auch v. Kutschera die Problematik auf:46 „Natürlich wird
jeder versuchen, ein Gebot so zu befolgen, daß er das tut, was nach seiner Ansicht das
Gebot erfüllt. Daraus folgt aber nicht, daß Gebote nur den Sinn hätten, daß man nach
bestem Wissen und Gewissen etwas tun soll. Diese Deutung würde vielmehr in einen
unendlichen Regreß führen: Bedeutet der Satz ,Die Handlung F von a ist richtig“
dasselbe wie ,a glaubt, daß seine Handlung F richtig ist‘, so bedeutet das seinerseits
soviel wie ,a glaubt, daß er glaubt, daß seine Handlung F richtig ist‘ usf.“ Und v. Kut-
schera fährt fort: „Ebenso gilt: Will ich ein Gebot befolgen, so habe ich eine gute
Absicht; deswegen ist es aber nicht mein Ziel, eine gute Absicht zu haben. Man
kann also nicht Absichten, sondern nur Handlungen vorschreiben, wenn man sich
nicht in einen unendlichen Regreß verstricken will.“

V. Sein und Sollen


1. Nun können die vorangegangenen Überlegungen zur Trennung von Norm und
Normbefolgung jedenfalls dann nicht überraschen, wenn man mit Hume47 von der
unaufhebbaren Geschiedenheit von Sein und Sollen ausgeht: Normen sind Sollens-
sätze, die Fähigkeit, Normen zu befolgen, demgegenüber Gegenstand einer Aussage
über Seiendes. Nun „müssen“ aber Normen befolgt werden, wenn die von ihnen auf-
44
G. E. M. Anscombe, The Two Kinds of Error in Action, in: Ethics, Religion and Politics,
Oxford 1981, S. 3, 7 f.; näher zu Anscombes Analyse Mañalich, The Grammar of Imputation,
in: Joerden u. a., GS Hruschka, demn.
45
Ergänze: und die vom konkreten Wollen implizierten Kenntnisse.
46
v. Kutschera, Grundlagen der Ethik, 2. Aufl. 1999, S. 89 ff.; treffend insoweit auch
Binding, Die Normen und ihre Übertretung, I, 2. Aufl. 1890, S. 53 f.
47
Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, 1906 (Nachdruck 1978), Drittes Buch,
Erster Teil, 1. Abschnitt (am Ende).
Setzt Unrecht Schuld voraus? 365

gezeigte deontische Welt real, das Recht also Wirklichkeit werden soll. Dem Prinzip
„Sollen impliziert Können“ könnte daher Sinn zukommen, wenn es auf die prakti-
sche Notwendigkeit der Verwirklichung von Normen bezogen wird.
Die Frage, wie strafrechtliche Verhaltensnormen befolgt werden „sollen“, lässt
sich den im Allgemeinen Teil des StGB enthaltenen Regeln nicht entnehmen. Die
Normen wiederum, die mit Hilfe der Merkmale der Straftatbestände (im Sinne Be-
lings) zu formulieren sind, sagen zwar, welche Verhaltensweisen geboten oder ver-
boten sind, nicht aber, was der Adressat einer solchen Norm zu tun oder zu unterlas-
sen hat, um das Gebot oder Verbot zu befolgen. Normpropositionen sind eng gefasst
und lassen sich – bei Anerkennung des strafrechtlichen Garantieprinzips – nicht über
ihren Wortlaut hinaus ausdehnen. Beispielhaft: Wenn das Tötungsverbot untersagt,
einen anderen Menschen zu töten, so untersagt es – dem streng einzuhaltenden Wort-
laut nach – nicht, auf einen anderen Menschen zu schießen, um ihn zu töten.
Bisweilen werden die strafrechtlichen Verhaltensnormen mit der Begründung
freihändig umformuliert, der Adressat einer Norm müsse zum Tatzeitpunkt wissen,
ob das, was er gerade tut oder unterlässt, verboten ist. Beispielsweise sei deshalb das
Verbot, einen anderen Menschen zu töten, umzuwandeln in das Verbot, eine uner-
laubte Lebensgefahr für einen anderen Menschen zu schaffen.48 Durch eine solche
Abänderung des Verbots lässt sich das zugrundeliegende Problem jedoch nicht
lösen. Stets folgt der Effekt, um dessentwillen etwas getan wird, diesem Tun
nach. Und stets lässt sich erst mit dem Eintritt des Effekts das Tun mit dem Effekt
zu einer Handlung unter einer bestimmten Beschreibung erfassen. Auch derjenige,
der einen Ertrinkenden retten will, muss etwas tun, um zu retten – und das Tun allein
ist noch keine Rettung. Ebenso gilt: Wer das Verbot, eine unerlaubte Lebensgefahr
für einen anderen Menschen zu schaffen, befolgen will, muss sich in einer Weise ver-
halten, welche die (negativ beschriebene) Tatsache zur Folge hat, dass keine uner-
laubte Lebensgefahr entsteht. Das Schaffen einer Lebensgefahr und das Wissen
und Können, sich so zu verhalten, dass hierdurch keine Lebensgefahr geschaffen
wird, entspricht strukturell völlig der Situation der Tötung eines anderen Menschen
und dem Wissen und Können, sich so zu verhalten, dass hierdurch kein anderer
Mensch zu Tode kommt.
Kein Problem wirft zum Tatzeitpunkt gewöhnlich die Frage auf, was Gegen-
stand eines Verbots oder Gebots ist; es ist dies genau das Geschehen, auf das
sich die Normproposition bezieht und das als kausaler49 Effekt eines Verhaltens
nicht eintreten soll.

48
Exemplarisch Freund, a.a.O. (Fn. 7), § 2 Rn. 23 ff.; gewöhnlich wird die unerlaubte
Gefahrschaffung (primär) als Zurechnungskriterium verstanden, vgl. Roxin, a.a.O. (Fn. 10),
§ 11 Rn. 44 ff. Hierauf sei nicht näher eingegangen.
49
Als „kausal“ seien der Einfachheit halber auch konventionale Effekte bezeichnet, etwa
die Begründung einer Ehe durch ein „Ja-Wort“; Jaegwon Kim, in: Posch (Hrsg.), Kausalität,
Neue Texte, 1981, S. 127 ff., spricht insoweit von „nicht-kausalen Beziehungen“.
366 Urs Kindhäuser

Problematisch kann dagegen die Bestimmung der Verhaltensalternative sein, die


zu ergreifen ist, damit der kausale Effekt (nicht) eintritt, das Verbot bzw. das Gebot
also befolgt wird. Die Beschreibung dieses Verhaltens fällt nicht unter die Beschrei-
bung des Tatbestands, weil der Effekt zwar begrifflich vom Tatbestand erfasst wird,
faktisch aber dem ihn bedingenden oder verhindernden Verhalten nachfolgt. Wie be-
reits beispielhaft erwähnt: Das von der Normproposition des Tötungsverbots ge-
nannte „töten“ ist erst mit dem Tod des Opfers realisiert, so dass sich das Verhalten
des Täters in dem Zeitpunkt, in dem er auf das Opfer schießt, (noch) nicht als „töten“
beschreiben lässt.
2. Nun erscheint es recht haarspalterisch, das Schießen, durch das der Täter den
Tod des Opfers herbeiführt, nicht bereits zum Tatzeitpunkt als Verstoß gegen das Tö-
tungsverbot anzusehen. Denn es ist klar: Der Täter darf nicht schießen, wenn er das
Tötungsverbot befolgen will. Es muss also zwischen dem zu unterlassenden Schie-
ßen und dem verbotenen Töten ein Zusammenhang bestehen, der jedoch nicht logi-
scher Natur ist. Dieser Zusammenhang zeigt sich daran, dass ein de facto von einer
potenziellen Tötung isoliertes (beliebiges) Schießen nicht unter Bezugnahme auf das
Tötungsverbot zu unterlassen wäre. Die Verben „töten“ und „schießen“ sind ersicht-
lich bedeutungsverschieden. Wenn also der Täter das Schießen unterlassen soll, ist
dieses „Sollen“ – im Folgenden „m“ genannt –, von dem Sollen des Tötungsverbots –
im Folgenden „n“ genannt – zu unterscheiden. Was besagt nun „m“?
Zunächst: „n“ gibt gewissermaßen das Ziel an, das von einem Normadressaten A
erreicht werden soll, während „m“ ein hierzu notwendiges Mittel nennt. Insoweit er-
scheint es angemessener, bei der Formulierung von „m“ das deontische „sollen“
durch den Operator „müssen“ zu ersetzen. Das Recht verlangt von A nicht das Un-
terlassen des Schießens, sondern das Unterlassen des Tötens; um jedoch das Töten zu
unterlassen, „muss“ A das Schießen unterlassen. Das Müssen, das Schießen zu un-
terlassen, folgt allein aus der Zielsetzung, unter den gegebenen Umständen das
Töten des Opfers zu unterlassen. Das Müssen ist demnach Ergebnis einer rationalen
Deliberation, die nicht auf einem normlogischen Schluss beruht – aus einem Sollen,
das nicht wahr oder falsch sein kann, lässt sich nicht wahrheitsbewahrend auf ein
Sein schließen –, sondern sich auf einen faktischen Zusammenhang bezieht. Die
hier relevante faktische Zweck-Mittel-Relation wird noch deutlicher, wenn „n“ für
ein Gebot steht, z. B. das Gebot, in Unglücksfällen Hilfe zu leisten. Droht eine Person
P in einem See zu ertrinken, und kann A diese Person nur retten, wenn er hin-
schwimmt und sie aus dem Wasser zieht, so gilt für A „m“ mit dem Inhalt, zu P
schwimmen und sie aus dem Wasser zu ziehen, wenn es für ihn kein anderes Mittel
gibt, um das Gebot „n“ zu erfüllen. „m“ ist also selbst keine Präskription, sondern
eine Konsequenz aus einer praktischen (rationalen) Deliberation zur Realisierung
eines gesetzten Ziels. Mit anderen Worten: Das Müssen von „m“ ist Ausdruck prak-
tischer Notwendigkeit.
Eine Verhaltensanforderung, die darauf beruht, dass etwas Bestimmtes getan oder
unterlassen werden muss, um ein gesolltes Ziel zu erreichen, nennt v. Wright ein
Setzt Unrecht Schuld voraus? 367

„technisches Sollen“.50 Damit wird der instrumentelle Charakter von „m“ zur Rea-
lisierung von „n“ betont und zugleich die Verbindung zwischen dem Sollen des
Ziels und dem Müssen des Mittels verdeutlicht. Denn „m“ ist elliptisch formuliert.
Anders als das kategorische „n“ drückt „m“ kein unbedingtes Sollen aus, sondern ist
hypothetischer Natur: „m“ zu tun oder zu unterlassen ist für A nur dann ein Müssen,
wenn er „n“ befolgen will, wenn also das Gesollte das von ihm (dominant) Gewollte
ist. Daraus ergibt sich weiterhin, dass „m“ nicht wie „n“ für alle Personen gilt, die
Adressaten der Normen des deutschen Strafrechts sind, sondern lediglich für denje-
nigen Normadressaten verbindlich ist, der sich in einer bestimmten Situation befindet
und über eine bestimmte Handlungs- und Motivationsfähigkeit verfügt. „m“ ist also
situativ konkretisiert und hinsichtlich der erforderlichen Handlung individualisiert.
Wäre A Nichtschwimmer, „müsste“ er im beispielhaften Unglücksfall auch nicht
zum Ertrinkenden schwimmen; „m“ hätte dann einen anderen Inhalt (oder ließe
sich – bei völliger Unfähigkeit, Maßnahmen zur Rettung zu ergreifen – nicht begrün-
den: impossibilium nulla est obligatio51).
Bezogen auf das „technische“ Sollen der Normbefolgung ist der Satz, dass „Sol-
len“ ein „Sein“ (Können) impliziert, durchaus sinnvoll. Das „Sollen“ von „m“ ist
bedingt durch das Faktum eines (dominanten) Handlungswillens und kein von
einem Sein unabhängiges Sollen; es ist Ausdruck einer praktischen Notwendigkeit,
die sich aus dem Wollen eines kategorischen Gesollten ergibt. „m“ verbindet damit
das Sollen der kategorischen Norm mit dem So-Sein einer individuellen Person in
einer konkreten Situation. Genauer: „m“ bindet einen bestimmten Normadressaten
an eine Norm nach Maßgabe der ihm möglichen und von ihm erwarteten Leistungs-
fähigkeit. Diese Gebundenheit einer Person an eine Norm sei Pflicht genannt. In
diesem Sinne lassen sich Normen als Verpflichtungsgründe für Handlungen verste-
hen.52
Die Pflicht zur Befolgung einer Norm lässt sich mit Hilfe eines praktischen Syl-
logismus bestimmen.53 Ein solcher Schluss ist formal dem logischen Syllogismus54
nachgebildet, jedoch ist bei ihm die Konklusion im Unterschied zum logischen
Schluss-Schema nicht begrifflich bedingt, sondern resultiert aus der Verknüpfung
von Zweck und Mittel und impliziert daher keine logische, sondern eine praktische
Notwendigkeit. Der praktische Syllogismus nennt in der Oberprämisse die Norm-

50
G. H. v. Wright, Is and Ought, in: Bulygin u. a. (Hrsg.), Man, Law and Modern Forms of
Life, Dordrecht 1985, S. 263, 275 f.
51
Celsus D. 50.17.185.
52
Grundlegend hierzu Raz, Praktische Gründe und Normen, 2006, S. 33 und passim.
53
v. Wright Handlung, Norm und Intention, 1977, S. 42 ff.; vgl. auch Anscombe, Prakti-
sches Schlussfolgern, in: Aufsätze, 2014, S. 15 ff.; vgl. auch Bung, Wissen und Wollen im
Strafrecht, 2009, S. 136 ff. und passim, der jedoch den praktischen Syllogimus nicht für die
Normbefolgung, sondern für das deliktstypische Verhalten nach finalistischer Manier frucht-
bar machen will.
54
Vgl. nur Essler, Einführung in die Logik, 2. Aufl. 1969, S. 41 ff.
368 Urs Kindhäuser

Proposition als gewolltes Ziel und in der Konklusion das pflichtgemäße Verhalten.55
Verbunden werden Oberprämisse und Konklusion durch die in der Unterprämisse ge-
nannten Kenntnisse und physischen Fähigkeiten des konkreten Normadressaten, so-
weit sie für die jeweilige Handlung relevant sind.
Im Falle eines Gebots hat der Schluss folgende Grundform:
- Oberprämisse: Ein Normadressat A will (das gebotene) n tun.
- Unterprämisse: A nimmt an, dass er n (nur) erfüllen kann, wenn er m56 tut.
- Konklusion: Also muss A m tun.
Bei den Begehungsdelikten ist die Vornahme einer Handlung, die den Tatbestand
verwirklicht, verboten und damit das Ergreifen irgendeiner rechtmäßigen Verhal-
tensalternative geboten. Als Konklusion des entsprechenden praktischen Schlusses
kommt daher jedes rechtmäßige Verhalten in Betracht, das als Unterlassen des tat-
bestandsverwirklichenden Tuns anzusehen ist. Für einen Normadressaten, der (do-
minant) gewillt ist, ein strafrechtliches Verbot zu befolgen, hätte der praktische
Schluss somit folgende Gestalt:
- Oberprämisse: Ein Normadressat A will (das verbotene) n unterlassen.
- Unterprämisse: A nimmt an, dass er n nur (sicher) unterlassen kann, wenn er m
unterlässt.
- Konklusion: Also muss A m unterlassen.
3. Die Fähigkeit zur Normbefolgung verlangt vom Adressaten einer Norm zwei-
erlei: Er muss über die in der Unterprämise genannten Kenntnisse und über das in der
Konklusion genannte physische Können verfügen, um in der Lage zu sein, die in der
Oberprämisse genannte hypothetische Intention zu realisieren. Und er muss in der
Lage sein, die Intention der Oberprämisse zu bilden und dominant in die Tat umzu-
setzen. Man kann die erstgenannte Fähigkeit als Handlungsfähigkeit und zweitge-
nannte Fähigkeit als Motivationsfähigkeit bezeichnen. Fähig, eine Handlung zu voll-
ziehen, ist demnach, wer intellektuell und physisch in der Lage ist, die entsprechende
Handlungsintention zu realisieren; motivationsfähig ist, wer in der Lage ist, diese In-
tention zu bilden und konkurrierenden Wünschen und Intentionen handlungswirk-
sam vorzuziehen. Ob die Voraussetzungen der Handlungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt
erfüllt sind, lässt sich ex post im Rahmen des forensisch Möglichen feststellen, nicht
aber die erforderliche Motivationsfähigkeit. Sie kann nur, wie eingangs angespro-
chen, als hinreichende Rechtstreue erwartet werden, soweit kein Schuldausschlie-
ßungs- bzw. Entschuldigungsgrund gegeben ist.
55
Gebote und Verbote lassen sich auch als das Sollen formulieren, ein Geschehen unter der
Beschreibung eines Tatbestands zu verhindern bzw. zu vermeiden, vgl. insoweit Kindhäuser,
in: Barton u. a. (Hrsg.), FS Fischer, 2018, S. 125, 135 f.
56
Bei gleichermaßen effizienten Handlungen kann m auch durch eine Disjunktion ersetzt
werden (z. B. m1 oder m2 oder m3), mit der Folge, dass von A eine der disjunktiv verbundenen
Handlungen ausgeführt werden „muss“.
Setzt Unrecht Schuld voraus? 369

Es liegt nun auf der Hand, dass einer Person ein normwidriges Verhalten – also ein
Verhalten, das unter die Beschreibung eines Tatbestands (im Sinne Belings) fällt –
nur als Pflichtverletzung zurechenbar ist, wenn von ihr eine pflichtgemäße Normbe-
folgung zum Tatzeitpunkt erwartet werden konnte. Handlungs- und Motivationsfä-
higkeit nach Maßgabe hinreichender Rechtstreue sind demnach zugleich die Krite-
rien der subjektiven Zurechnung ex post. In der gängigen Dogmatik werden die Ele-
mente der Handlungsfähigkeit im Rahmen eines sog. subjektiven Tatbestands (als
sog. Handlungsunrecht) und die zurechnungsrelevanten Elemente der zu erwarten-
den Motivationsfähigkeit im Rahmen der sog. Schuld geprüft. Die Vertreter der kau-
salen Lehre verstanden demgegenüber die sog. Schuld als Ort beider Zurechnungs-
kriterien, ohne dass hiermit funktional ein Unterschied verbunden gewesen wäre.57
Eine Trennung zwischen Rechtswidrigkeit als dem Zurechnungsgegenstand und
Schuld (samt Handlungsunrecht) als Inbegriff der Zurechnungskriterien ist demnach
aus normtheoretischen Überlegungen erforderlich. Sie entspricht aber auch den Re-
gelungen des Strafgesetzbuches, wie sich etwa der Formulierung des Vollrauschtat-
bestands (§ 323a) entnehmen lässt. Nur weil es eine rechtswidrige Tat gibt, für die der
Täter mangels Verantwortlichkeit nicht bestraft werden kann, kann er für seine man-
gelnde Verantwortlichkeit strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Die
Existenz einer rechtswidrigen Tat muss sich also logisch unabhängig von ihrer Zu-
rechenbarkeit zur Schuld feststellen lassen.

VI. Koinzidenzprinzip
Die Unhaltbarkeit der These, für einen (im Tatzeitpunkt) Schuldlosen gebe es auf-
grund seiner mangelnden Schuldfähigkeit gar keine Norm, die er zu befolgen hätte,
zeigt sich schließlich noch in solchen Fällen, in denen Ausnahmen vom Koinzidenz-
prinzip durch „Vorverlagerung“ gemacht werden (können). Es sind dies die Fälle, in
denen sich der „Täter“ nicht auf eine fehlende Voraussetzung seiner Fähigkeit zur
Normbefolgung berufen kann, weil von einem rechtstreuen Normadressaten unter
den gegebenen Umständen zu erwarten war, dass er das fragliche Defizit hätte
zuvor beseitigen „müssen“.58 Dies gilt namentlich, wenn der Normadressat dieses
Defizit bewusst herbeigeführt oder nicht beseitigt hat. Alle einschlägigen Regelun-
gen, die Verantwortungszuschreibungen vor (unannehmbaren) „Unfähigkeitseinre-
den“ absichern, beruhen auf der Möglichkeit, den Gegenstand der Zurechnung
von den Kriterien der Zurechnung zu isolieren und so die Zurechnungskriterien
auf Zeitpunkte vor der Tatbegehung zu beziehen. Beispielhaft hierfür sei der „ver-
meidbare“ – d. h. bei Einhaltung erwarteter Sorgfalt nicht vorhandene – Verbotsirr-
57
Der Unterschied wirkt sich nur bei der Anordnung der Rechtfertigungskriterien aus.
58
Es geht bei dieser „außerordentlichen“ Zurechnung um ein „Müssen“ mit Surrogat-
funktion, das gewöhnlich als Sorgfaltspflicht bezeichnet wird, näher Kindhäuser, in: Hefen-
dehl u. a. (Hrsg.), FS Schünemann, 2014, S. 143 ff.; grundlegend für die neuere Diskussion
Hruschka, ZStW 96 (1984), S. 661 ff.
370 Urs Kindhäuser

tum angeführt. Weder schreiben Normen (selbstbezüglich) ihre eigene Kenntnis vor,
noch gibt es Normen, die Unrechtsbewusstsein verbieten. Wissen ist weder rechtmä-
ßig noch rechtswidrig; allenfalls das äußere Verhalten zur Wissenserlangung ist
rechtlicher Normierung zugänglich.
Wer sich daher zum Tatzeitpunkt in einem Verbotsirrtum befindet, hat zu diesem
Zeitpunkt kein Unrechtsbewusstsein, unabhängig davon, ob dieser Irrtum für ihn ver-
meidbar war oder nicht. Wird das Unrechtsbewusstsein als notwendige Schuldvor-
aussetzung angesehen, so ist der Täter nach Maßgabe des Koinzidenzprinzips im Tat-
zeitpunkt schuldlos, mit der Folge, dass es nach der Lehre vom schuldhaften Unrecht
zu diesem Zeitpunkt mangels Normkenntnis auch keine Norm gäbe, gegen die er ver-
stoßen könnte. Den Normverstoß (im Falle eines vermeidbaren Verbotsirrtums) be-
reits auf den Zeitpunkt vorzuverlegen, in dem sich der Täter Kenntnis des Verbots
hätte verschaffen können, ist nicht möglich, weil er sich diese Kenntnis mangels ent-
sprechender Norm nicht hätte verschaffen müssen. Wer würde sich im Übrigen um
die Kenntnis einer Norm bemühen, die lautet: „Das Verbot, x zu tun, gilt nur für den-
jenigen, der dieses Verbot kennt“?
Kann – wie im Falle von § 17 StGB – dem Wissen vermeidbares Unwissen gleich-
gestellt werden, so heißt dies: Faktische Normbefolgungsunfähigkeit hindert nicht
per se die Zuschreibung von Verantwortlichkeit für rechtswidriges Verhalten; das
Recht kann auch Normbefolgungsunfähigkeit zum Zeitpunkt der Tat ignorieren.
Deshalb mag es zwar inakzeptabel sein, einen 12-jährigen (mit belastender Folge)
so zu stellen, als sei er volljährig – für mangelndes Alter ist niemand zuständig –,
wohl aber kann ein Steuerungsunfähiger als steuerungsfähig gelten, sofern er das
hierfür relevante Defizit zu vertreten hat; Verantwortlichkeit kann nach allgemeinen
Zurechnungsprinzipien nicht mit zu verantwortender Unverantwortlichkeit entkräf-
tet werden. Ob und inwieweit die lex lata dem entspricht, steht auf einem anderen
Blatt. § 17 StGB zeigt jedenfalls, dass faktische Normbefolgungsfähigkeit im Tat-
zeitpunkt nach den Regeln des Allgemeinen Teils keine notwendige Bedingung
von Rechtswidrigkeit sein kann.
Das Anderskönnen in der strafrechtlichen Schuldlehre
Von Rolf Dietrich Herzberg

I. Was heißt „Willensfreiheit“?


1. Merkels Definition

Reinhard Merkel nennt die Frage nach den Voraussetzungen der Schuldfähigkeit
„ein Ewigkeitsthema des Strafrechts“. Denn sie werfe „das Problem der Willensfrei-
heit auf“, das „manche Philosophen“ ansähen als „das meisterörterte und meistum-
strittene in der Geschichte der abendländischen Philosophie“. Dem Gegenstand des
Problems gibt Merkel eine Definition, die er „im Einklang mit dem allgemeinen
Sprachverständnis und […] der gesamten Strafrechtswissenschaft“ sieht: „,Willens-
freiheit‘ bei (oder zu) einem konkreten Handlungsentschluss“ sei zu verstehen „als
die Möglichkeit des Handelnden, sich ceteris paribus auch anders zu entscheiden,
nämlich sein Handeln zu unterlassen bzw. etwas anderes zu tun“.1 Ob frei oder unfrei,
ich will tun, was der Jubilar von mir erwartet, d. h. seine abstrakte Aussage mir selbst
und dem Leser sofort konkret veranschaulichen. Was heißt denn also „Willensfrei-
heit“ für den Täter einer rechtswidrigen Handlung, z. B. für Frau F im Drogeriemarkt,
die ein Fläschchen Parfüm stiehlt, indem sie es in die Manteltasche steckt? Es bedeu-
tet, kurzum, ein „Anderskönnen“ der F, oder ausführlicher und mit Merkels Worten:
Es heißt, dass F angesichts des Parfüms sich „auch anders zu entscheiden die Mög-
lichkeit“ hatte, dass sie die Straftat auch hätte vermeiden können, sei es durch
schlichtes Unterlassen oder durch korrektes Einlegen in den Warenkorb. Merkel
spricht hier – unter Vorbehalt – vom „Schuldfähigkeitskriterium des Andershan-
delnkönnens“, abgekürzt „PAM“ für „Prinzip der alternativen Möglichkeiten“.2
Der springende Punkt in Merkels Definition ist aber die Voraussetzung, dass die
Frau die Möglichkeit, „sich anders zu entscheiden“, unter sonst gleichen Umständen
(ceteris paribus) gehabt haben muss. Dies zu fordern ist im Prinzip selbstverständ-
lich. Wer die Willensfreiheit allgemein und im konkreten Fall für F bestreitet,
wird nicht dadurch widerlegt, dass man ihm banalerweise vorhält, F hätte den erwo-
genen oder schon beschlossenen Diebstahl doch gewiss vermeiden können (und tat-
sächlich vermieden), wenn sie sich kurz vor der Tat von einer Angestellten scharf
beobachtet gefühlt hätte. Es geht ja um die Frage des Anderskönnens im jeweils wirk-
1
Festschrift für Claus Roxin, 2011, S. 737.
2
(Fn. 1), S. 739.
372 Rolf Dietrich Herzberg

lichen Fall. Hier lag er so, dass F überzeugt war, das Parfüm unbeobachtet und ohne
Risiko einstecken zu können. Aber ergibt sich eine für unsere Frage entscheidende
Fallauswechselung auch dann, wenn wir uns vorstellen, F hätte, zum Diebstahl nei-
gend, ohne äußeren Anstoß zuletzt einen anderen psychischen Prozess durchlaufen,
hätte z. B. plötzlich mehr Angst oder starke Gewissensbisse empfunden und sei
schließlich doch mehr gehemmt als geneigt gewesen? Ich verstehe Reinhard Merkel
so, dass er auch hier das „ceteris paribus“ nicht erfüllt sähe, und ich gebe ihm recht.
Zu den Umständen, unter denen F stiehlt, gehören auch die seelischen Befindlichkei-
ten, woraus der die Hemmung überwiegende Antrieb erwächst, und die Umstände
sind andere, wenn psychische Bewegungen den Antrieb so schwächen, dass er die
Hemmung nicht mehr überwiegt. Es beweist nicht die Willensfreiheit vor der letzten
Entscheidung, dass jemand den beschlossenen Diebstahl doch noch vermeiden kann
(und tatsächlich vermeidet), weil er beim Ansetzen zur Tat in Panik gerät.
Aber die Panik ist schon ein extremer Fall. Es bedarf hier einer ganz allgemeinen
Klarstellung: Das Abwägen und Schwanken vor einer Entscheidung ist keine Aus-
übung von Willensfreiheit. Ob willentlich und reflektiert betrieben oder bloßes Ge-
schehen, ob in einem menschlichen oder tierischen Gehirn stattfindend, hier geht es
noch um das Schaffen und Entstehen der Motivationslage, woraus die Entscheidung
hervorgeht, und erst diese stellt uns vor die Frage, ob sie vom Motiv erzwungen oder
in Freiheit getroffen wird.

2. Zu Burkhardts Lehre vom Freiheitserlebnis

Aber der einen Klarstellung muss eine zweite folgen: Es gibt hier keine begriff-
liche und terminologische Verbindlichkeit. Wer besonderen Herrentieren, wenn sie
erwachsen und „normal“ sind, Willensfreiheit oder auch nur den Glauben daran zu-
schreibt, kann das begründen mit dem normal-menschlichen und alltäglichen „Frei-
heitserleben im Vorfeld“. Und es überrascht nicht, dass Burkhardt, der eine „Lehre
von der Maßgeblichkeit subjektiver Freiheit“ verficht und „die Grundlage des
Schuldvorwurfs“ nicht im Anderskönnen, sondern im „Bewusstsein des Anderskön-
nens“ sieht,3 in diesem Vorfeld fündig wird. „Praktisches Denken“, schreibt er, be-
zweckt „die Beantwortung der Frage: Was soll ich tun? Wer diese Frage (ernsthaft)
stellt, wer also vor einem Entscheidungsproblem steht, der erlebt die Zukunft als
offen und sich selbst als frei. Er setzt voraus, dass es verschiedene Handlungsmög-
lichkeiten gibt, dass er zwischen diesen Möglichkeiten wählen kann und muss und
dass der zukünftige Zustand der Welt (auch) von seiner Wahl abhängt“. Einem na-
heliegenden Einwand beugt Burkhardt eine Seite später mit der Behauptung vor: In
so einer Lage „erlebe ich nicht nur, dass ich so oder anders handeln kann, wenn ich
will, ich erlebe auch, dass ich so oder anders entscheiden (wollen) kann. Das eine

3
Eser/Burkhardt, Juristischer Studienkurs, Strafrecht I, 4. Aufl., 1992, Nr. 14 A 26 (und an
sehr vielen anderen Stellen).
Das Anderskönnen in der strafrechtlichen Schuldlehre 373

lässt sich vom anderen gar nicht trennen“.4 Diese Untrennbarkeit bestreite ich. Z. B.
angesichts der Fensterscheibe des Nachbarn, die mit einem Steinwurf zu zertrüm-
mern mich mein erboster Enkel auffordert. Ich erlebe dann nur mein Lächeln darüber,
dass ich dies tun könnte, wenn ich es wollte (denn da liegt ein Stein). Dass ich es aber
auch wollen könnte, d. h. mich dazu entschließen könnte, das erlebe ich nicht. Diese
Entscheidung zu treffen, weiß ich mich unter den gegebenen Umständen so unfähig,
wie ich unfähig bin, drei Meter in die Höhe zu springen.
Konsequent denkende Deterministen werden Burkhardts Betonung der „subjek-
tiven Freiheit“ und des „Erlebens von Freiheit“ entgegenhalten, dass das subjektive
Erleben keine objektive Grundlage habe; alles Fühlen, Bedenken, Abwägen, jede
Regung des Begehrens oder des Gewissens, jede Besorgnis und jedes Beiseitewi-
schen, all das ereigne sich im Kopf des deliberierenden Subjekts ursächlich bedingt
und darum mit Notwendigkeit. Burkhardt wird antworten, das möge so sein, aber für
seinen Subjektivismus spiele die objektive Lage keine Rolle. Das ist in sich schlüssig,
doch fragt sich, ob die Prämisse stimmt. Burkhardt verschließt die Augen vor dem
Gegenphänomen des Erlebens von Unfreiheit. Man fühlt sich im Stadium des Über-
legens keineswegs immer als souveräner Autor der Entscheidung, die in offener Zu-
kunft bevorsteht und die man höchstselbst so oder so treffen wird. Man kann sich
auch in einer passiven Rolle sehen, was unsere Sprache in Worten und Metaphern
anschaulich zum Ausdruck bringt. Ich „schwanke“ noch (wie ein „Rohr im
Winde“, wie ein Baum im Sturm), „es treibt mich um“, ich fühle mich „hin und
her gerissen“, plötzlich „schoss es mir durch den Kopf“. Und man erlebt auch die
Zukunft nicht immer als „offen“. Zwar mag man sich durchaus ernsthaft das Für
und Wider vor Augen halten und über seine Wahlfreiheit grübeln, aber in manchen
Situationen weiß man im Grunde seines Herzens ganz genau, wie man entscheiden
wird und dass man nicht anders können wird. Wir werden noch sehen, dass die Un-
terschätzung des Unfreiheitserlebens in Burkhardts Lehre einen Schwachpunkt bil-
det, der zur Kritik einlädt.

3. Willensfreiheit und anerkannter Determinismus

Zunächst aber ist herauszustellen, dass der Streit um die Willensfreiheit im


Schwerpunkt nicht etwa die Frage der Abwägungs-, sondern die der Entscheidungs-
freiheit betrifft. Um recht zu erfassen, was die indeterministische Bejahung von Wil-
lensfreiheit bedeutet, wollen wir also konkret annehmen, dass F ihre Tat vollbracht
hat nach schwankender Erwägung des Für und Wider und bei einem endlichen Stär-
keverhältnis zwischen Antrieb und Hemmung von, sagen wir, 70:30. Und da wird
nun behauptet, dass F in genau dieser – sich nicht mehr verändernden! – Motivati-
onslage, in der sie stärker zu stehlen als nicht zu stehlen motiviert ist und deshalb
alsbald tatsächlich stiehlt, auch die Unterlassung des Diebstahls beschließen und
vollbringen könnte.
4
Festschrift für Albin Eser, 2005, S. 91, 92.
374 Rolf Dietrich Herzberg

Ich habe an anderer Stelle die Behauptung einer so verstandenen Willensfreiheit


bestritten und ihr vergleichbare Fälle entgegengehalten. Der Fußball beim Eckstoß
kann nur dem Antrieb folgen und durch die Luft fliegen, nicht aber alternativ liegen
bleiben, obwohl die Schwerkrafthemmung ihn dazu anhält. Und auch wo Antrieb und
Hemmung in der Psyche eines hochentwickelten und verstandesbegabten Individu-
ums miteinander streiten, glauben wir – jedenfalls unterhalb des Menschen – nicht
an ein Anderskönnen. Läuft ein Rüde zögernd zur verlockenden Hündin, obwohl
sein Herr es ihm deutlich verboten hat, dann behauptet, soweit ich sehe, niemand
seine Willensfreiheit. So, wie dieser Hund charakterlich veranlagt und konkret mo-
tiviert war, musste er, wie der Eckball vors Tor fliegen, hin zur Hündin laufen. Was
ihm geschah, geschah mit Notwendigkeit, und anderes konnte nur unter anderen Um-
ständen geschehen.

II. Gesetzesaussagen zum Anderskönnen


und Korrektur eines Fehlers
Für meine beiden Vergleichsfälle wird wohl niemand mir widersprechen und ein
Anderskönnen des gehemmt-getriebenen Balles oder Hundes behaupten. Aber die
Frage ist, ob man das Nichtanderskönnen bis hinauf zum Menschen verallgemeinern
kann. Geht es um den Menschen und seine Verantwortlichkeit, dann ist natürlich zu-
nächst einmal das Gesetz zu beachten. Merkel hat das mit Recht betont und sich be-
müht, dem § 20 StGB eine rechtliche Aussage abzugewinnen, mag sie auch philoso-
phisch bestreitbar sein. Zur Entlastung seiner Suche unterscheidet er zwischen den
beiden Unfähigkeiten in § 20 StGB (wer „unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen
oder nach dieser Einsicht zu handeln“), und er glaubt, eine davon beiseitelassen zu
können. „Der erste der beiden genannten Defekte […] ist problemlos und unstreitig:
Wer nicht wissen kann, dass er so, wie er handelt, nicht handeln darf, handelt ohne
Schuld“. Erst der zweite sei problematisch. „Er berührt ersichtlich das Problem der
Willensfreiheit“.5 In meiner Kritik der Merkel’schen Betrachtung des § 20 StGB
habe ich diese Unterscheidung zunächst stillschweigend akzeptiert und gleichfalls
das Merkmal der Einsichtsunfähigkeit nicht genau betrachtet.6 Später ist mir klarge-
worden, dass das ein Fehler war, der mich den § 20 StGB wohl im Ganzen hat miss-
verstehen lassen. Ich habe nämlich die beiden Unfähigkeiten in § 20 StGB als un-
zweifelhafte, als feststehende Voraussetzungen angesehen. Man sei, sage das Gesetz,
immer unfähig gewesen, das zu leisten, was man nicht geleistet hat. Wer versagt hat,
hat versagen müssen. Die Unfähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen und einsichts-
gemäß zu handeln, sei nicht konkret zu prüfen und mal zu bejahen, mal zu verneinen,

5
Reinhard Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2008, S. 110. Der Autor be-
kräftigt seine Entlastung in der Festschrift für Roxin (Fn. 1), S. 740, Fn. 16 mit dem Satz:
„Das erste Element dieses ,2. Stockwerks‘ (Einsichtsunfähigkeit) wirft im Kontext der Frage
nach der Willensfreiheit keine Probleme auf und bleibt deshalb hier außer Betracht.“
6
Vgl. Herzberg, Willensunfreiheit und Schuldvorwurf, 2010, S. 104.
Das Anderskönnen in der strafrechtlichen Schuldlehre 375

sie sei vielmehr als gegeben vorausgesetzt. Fraglich sei immer nur, ob die Unfähig-
keit auf „einem der in § 20 bezeichneten Gründe“ (so die Formulierung in § 21 StGB)
beruht, was also die allein problematische, für die Schuld des Täters entscheidende
Frage sei.7 Natürlich war es ein kühner und befremdlicher Gedanke, von der gesetz-
lichen Schuldverneinungsvoraussetzung, dass dem Täter eine bestimmte Fähigkeit
fehlt, zu sagen, sie sei niemals fraglich. Aber mir schien dieses Verständnis des
§ 20 StGB richtig, weil es das Gesetz in Einklang bringt mit meiner deterministi-
schen Weltsicht: Quidquid fit, necessario fit; wer etwas beschließt, tut oder versäumt,
kann unter den gegebenen Umständen nicht anders als eben dies beschließen, tun
oder versäumen. Ich war sogar stolz auf meine Gesetzesdeutung, besonders nach
ihrer Würdigung seitens des von mir bewunderten und verehrten Jubilars. Merkel
hatte sie schon vor mir erwogen (wenn auch sogleich als ungerecht verworfen)8
und bescheinigt ihr nun: „Das ist eine mögliche, mit dem Wortlaut des § 20 StGB
ohne weiteres verträgliche Auslegung […] Sie macht als einzige § 20 StGB gänzlich
friktionsfrei und buchstabengetreu anwendbar […] Damit werden alle Zwänge der
h.M. obsolet, die Lücke zwischen dem behaupteten Erfordernis ,Willensfreiheit‘
und der Unmöglichkeit seines Nachweises mit irgendwelchen Konstruktionen […]
zu überbrücken“.9
Man weiß, wie verbreitet in der Wissenschaft das Bestreben ist, am Eigenen, an
einem originellen Gedanken, einer wohlbedachten Hypothese, einer Innovation und
Theorie, festzuhalten, sie abzuschirmen und Gegenargumente, mitunter auf Biegen
und Brechen, zurückzuweisen. Niemand ist ganz frei von solchem Rechtbehalten-
wollen, und besonders stark wirkt der Wille, wenn der Autor jahrzehntelang seine
Theorie als ein Stück Lebenswerk in vielen repetitiven Beiträgen verfochten hat.
Aber zu billigen ist solche Beharrlichkeit natürlich nicht. Wissenschaft will Wahrheit
finden, und der Wahrheit näher kommt, wer umgekehrt die eigene Theorie nicht um
jeden Preis zu retten, sondern sie zu falsifizieren sucht.
Das scheint mir diesmal für mein Teil gelungen. Mein Fehler war es, das Merkmal
der Einsichtsunfähigkeit in § 20 StGB außerhalb seines gesetzlichen Zusammenhan-
ges zu betrachten. Es geht auf Seiten des Täters darum, „das Unrecht der Tat einzu-
sehen“, und so, wie das Handeln „nach dieser Einsicht“, ist auch das Gewinnen der
Einsicht eine Leistung, die zu erbringen man fähig oder unfähig ist. Merkel meint:
„Wer nicht wissen kann, dass er so, wie er handelt, nicht handeln darf, handelt ohne
Schuld.“ Abgesehen davon, dass § 20 StGB für die Verneinung von Schuld eindeutig
mehr fordert, ist diese Feststellung keineswegs „problemlos“, denn in ihr steckt die
Frage nach einem problematischen Können. Kann, wer im Glauben, dies zu dürfen,
erzieherisch sein Kind verprügelt, zur Einsicht finden, Unrecht zu tun? Oder nehmen

7
Merkel kennzeichnet diese Lesart sehr schön mit den Worten: § 20 StGB lasse das stets
gegebene Nichtanderskönnen „nur in einer Kausalverbindung mit einem der genannten psy-
chischen Defekte zum Schuldausschluss führen“ (Fn. 5), S. 113 Fn. 176.
8
(Fn. 5), S. 113 Fn. 176.
9
(Fn. 1), S. 741.
376 Rolf Dietrich Herzberg

wir an, zwei Geschwister wollen „miteinander den Beischlaf vollziehen“ (§ 173
Abs. 2 S. 2 StGB). Aber sie haben vom Verbot der „Blutschande“ gehört und wenden
sich an einen Rechtsanwalt. Der missbilligt die Aufrechterhaltung des umstrittenen
Verbots10 und überzeugt sie von dessen Aufhebung. Daraufhin begehen die beiden
guten Gewissens die Tat. Hätten sie noch einen anderen Juristen befragt, dann hätten
sie vom immer noch gültigen Verbot erfahren und die Tat unterlassen. – War der prü-
gelnde Vater, waren die Geschwister fähig oder waren sie „unfähig […], das Unrecht
der Tat einzusehen“? Die Frage führt in denselben Streit wie die Frage, ob Frau F im
Drogeriemarkt unter den gegebenen äußeren und inneren Umständen fähig oder un-
fähig war, das Fläschchen in den Warenkorb zu legen. Hier wie dort stellt sich das
Problem der Willensfreiheit, und mein Determinismus drängte mir die Lösung
auf, auch in Fällen wie denen des Vaters und der Geschwister § 20 StGB konsequent
deterministisch zu verstehen: Wenn die Täter, wie hier, das Unrecht der Tat nicht ein-
sehen, dann steht ihre Unfähigkeit, es einzusehen, fest. Sie konnten nicht anders, als
vom Prügelrecht überzeugt zu sein bzw. sich mit der einen Auskunft in Sachen Ge-
schwisterbeischlaf zu begnügen. Für die Schuld kommt es nur noch an auf die „Kau-
salverbindung mit einem der genannten psychischen Defekte“ (Merkel). Rechte Ein-
sicht, rechtes Handeln – woran der Täter es fehlen lässt, daran fehlt es mit Notwen-
digkeit. Die Täter waren unfähig, skeptischer zu sein und sich durch (weiteres) Nach-
fragen aus dem Irrtum zu befreien. Sie konnten den Irrtum, Unverbotenes zu tun,
keinesfalls vermeiden.
Wie bitte? Der Irrtum, die eigene Tat sei erlaubt, ist stets unvermeidbar? Hier wird
mein Versäumnis offenkundig. Ich habe § 17 StGB nicht beachtet, eine seit 1975 gel-
tende Vorschrift. Auch sie setzt einen Täter voraus, dem „bei Begehung der Tat die
Einsicht (fehlt), Unrecht zu tun“. Aber anders als § 20 StGB lässt § 17 StGB die Deu-
tung i.S. ausnahmsloser Unvermeidbarkeit nicht zu. Er ist vielmehr wie folgt zu ver-
stehen: Den Irrtum, die Tat sei kein Unrecht, den „Verbotsirrtum“, den konnte der
Täter nur manchmal nicht vermeiden; dann „handelt er ohne Schuld“ (Satz 1).
Manchmal konnte er ihn aber sehr wohl vermeiden; dann trifft ihn Schuld, und es
kommt nur eine Strafmilderung in Betracht (Satz 2). Wenn nun also bei der Subsum-
tion unter § 17 StGB die Unfähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen (= Unvermeid-
barkeit des Verbotsirrtums) nur manchmal anzunehmen ist, dann darf man es bei § 20
StGB nicht anders sehen; auch dort steht die Unfähigkeit nicht fest, sie ist mal zu
bejahen, mal zu verneinen. Sieht man es anders, droht Widersprüchlichkeit, weil
ein Verbotsirrtum sowohl § 20 StGB wie § 17 StGB unterfällt. Gemessen an § 20
StGB waren die Täter nach meiner alten Deutung der Vorschrift „unfähig, das Un-
recht der Tat einzusehen“, und sie handelten „ohne Schuld“. § 17 StGB aber verlangt
vom Richter, die Unfähigkeit anzuzweifeln, indem er mit Satz 2 fragt: „Konnte der
Täter den Irrtum vermeiden“? Ich kann den Selbstwiderspruch des Gesetzes, der sich
für mich ergab, nur dadurch auflösen, dass ich meine alte Deutung preisgebe und für

10
Vgl. BVerfGE 120, 224 einerseits und Hassemer, NJW 2008, 1142 andererseits.
Das Anderskönnen in der strafrechtlichen Schuldlehre 377

§ 20 StGB die Unfähigkeit ebenso in Frage stelle, wie das Gesetz in § 17 StGB die
Unvermeidbarkeit in Frage stellt.
Erst diese Angleichung verschafft mir eine zwanglose Erklärung des § 21 StGB.
Auch in seinen Fällen hat der Täter das Unrecht der Tat nicht eingesehen bzw. bei
gegebener Einsicht nicht danach gehandelt. Aber an die Stelle der Unfähigkeit
(§ 20 StGB) tritt nun die „Fähigkeit“, nämlich die, „das Unrecht der Tat einzusehen“
bzw. „nach dieser Einsicht zu handeln“. § 21 StGB setzt beide Fähigkeiten als gege-
ben voraus, denn eine Fähigkeit bleibt erhalten, auch wenn sie „erheblich vermin-
dert“ ist. Ich kann also nicht sagen, das Gesetz gehe davon aus, dass der Mensch
das, was er nicht geleistet habe, auch nicht habe leisten können. Nach § 21 war man-
cher Täter, der die erwünschte Leistung versäumt hat, sehr wohl fähig, sie zu erbrin-
gen.
Ich will den Gedankengang anhand des zweiten Beispiels konkretisieren. Man
mag philosophisch überzeugt sein, dass die Geschwister das, was sie nicht leisten,
unter den gegebenen Umständen auch nicht leisten können. Philosophisch betrachtet
waren sie unfähig, das Unrecht des Beischlafs einzusehen und ihn zu unterlassen.
Von diesem Standpunkt aus liegt es nahe, für die Täter die in § 20 StGB beschriebe-
nen Unfähigkeiten gar nicht in Frage zu stellen und sie ohne Weiteres zu bejahen. Das
ist aber unvereinbar mit §§ 17, 21 StGB. Hier gibt das Gesetz vor, dass der Täter
manchmal etwas „vermeiden konnte“, was er nicht vermieden hat (den Verbotsirr-
tum), und manchmal die (verminderte) „Fähigkeit“ hatte, etwas zu leisten, was er
nicht geleistet hat (die rechte Einsicht, das rechte Handeln). Darum muss man im Ge-
schwisterfall offen sein für die Verneinung der Unfähigkeit. „Das Unrecht der Tat
einzusehen“ und „nach dieser Einsicht zu handeln“ waren die Geschwister vielleicht
fähig, wenn auch nur im rechtlichen, nicht im philosophischen Sinne.11

III. Unfähigkeit und Nichtvermeidenkönnen –


zum rechten Verständnis der §§ 20, 17 StGB
Reinhard Merkel sieht hier in der gesetzlichen Anerkennung einer ungenutzten,
aber gegebenen Fähigkeit des Straftäters ein Bekenntnis des Gesetzes zur Annahme
von Willensfreiheit. Er weist hin auf „die in § 20 vorausgesetzte schuldbegründende
Fähigkeit“ des Täters,12 und es scheint ihm „schwerlich bestreitbar“, dass diese Fä-
higkeit „jedenfalls dem Wortlaut nach ein Andershandelnkönnen des Täters meint“.
Nach dem Gesetz müsse also „der schuldige Täter […] bei Beginn seiner konkreten

11
Gewichtige Kritik an meiner hier preisgegebenen „Lesart der gesetzlichen Regelung der
Schuldfähigkeit“ übt auch, mit ganz anderer Begründung, Frister, Festschrift für Wolfgang
Frisch, 2013, S. 538 – 541.
12
Das ist nicht ganz korrekt. Eine schuldbegründende „Fähigkeit“ wird erst in § 21 StGB
vorausgesetzt; § 20 StGB bestimmt, wann der Täter ohne Schuld handeln und setzt dafür
bestimmte Unfähigkeiten voraus.
378 Rolf Dietrich Herzberg

Tatbegehung in der Lage gewesen sein, normgemäß statt rechtswidrig zu handeln.


Damit entspricht § 20 genau dem oben […] dargestellten Prinzip PAM“.13 Das ist in-
soweit richtig und auf § 17 StGB ausdehnbar, wie wir die guten, aber ungenutzten
Potenzen betrachten, die in §§ 21, 17 StGB genannt werden: die Fähigkeit bzw.
das Vermeidenkönnen. Die Geschwister beweisen uns durch ihr tatsächliches Verhal-
ten jedenfalls die genutzten Potenzen (die sie besser nicht genutzt hätten), nämlich
auf die Belehrung zu vertrauen und die Tat zu begehen. Die §§ 21, 17 S. 2 StGB,
wenn man sie anwendet, besagen nun dem Wortlaut nach, dass die Geschwister
auch anders konnten: den Verbotsirrtum (durch weiteres Nachfragen) vermeiden
und nach Einsicht in das Unrecht die Tat unterlassen. Aber es kann ja vor Gericht
auch auf die §§ 20, 17 S. 1 StGB hinauslaufen, und dann heißt es, dass der Täter „un-
fähig“ war und „nicht vermeiden konnte“. Für die Geschwister würde dann festge-
stellt, dass ihnen die „alternative Möglichkeit“ (PAM) verschlossen war, dass sie
nicht wählen konnten zwischen Irren und Erkennen, zwischen Beischlaf und Ver-
zicht.
In der Streitsache Willensfreiheit können also beide Parteien Worte und Wendun-
gen des Gesetzes für sich ins Feld führen. Das ist ein Anzeichen, dass wir auf der
falschen Fährte sind, wenn wir Gesetzesmerkmale wie Fähigkeit und Unfähigkeit,
Vermeidenkönnen und Nichtvermeidenkönnen wörtlich nehmen, wenn wir uns
durch sie zur Erforschung oder begründungslosen (angeblich unverzichtbaren) An-
nahme eines tatsächlichen Anderskönnens aufgefordert sehen und wenn wir dem Ge-
setz in Sachen Willensfreiheit so oder so einen Standpunkt zuschreiben.

1. Das Kriterium der Fahrlässigkeit

Aber wenn man nach einem faktischen Können nicht forschen und auch nicht ein-
fach „davon ausgehen“ soll, wie ist denn dann die jeweilige Voraussetzung der
Schuldlosigkeit zu verstehen? Es heißt in § 20 StGB: „Ohne Schuld handelt, wer
bei Begehung der Tat […] unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen.“ Und in
§ 17 S. 1 StGB: „Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu
tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte.“
Wann ist den Geschwistern diese Unfähigkeit bzw. dieses Nichtvermeidenkönnen
zuzubilligen? Die Antwort: Wenn sie im Hinblick auf die Gefahr, Unrecht zu tun,
„die im Verkehr erforderliche Sorgfalt“ beobachtet haben (vgl. § 276 Abs. 2 BGB).
Dass es darauf ankommt, zeigt ein Vergleichsfall: Eine Mutter schädigt ihr Kind
an der Gesundheit (§ 223 StGB), weil der Arzt dem Kind eine falsche Medizin ver-
schrieben und sie ihm vertraut hat. Wenn wir hier eine deliktische Schuld der Mutter
verneinen, dann deshalb, weil sie vertrauen durfte und nicht fahrlässig gehandelt hat.
Die Wahrung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ist der Grund ihrer Nichtschuld.
Genauso liegt es im Geschwisterfall. Die Täter begehen eine Tat, die von Rechts
wegen unterbleiben soll, aber sie durften nach der Belehrung durch einen Rechtsan-
13
(Fn. 5), S. 112 f.
Das Anderskönnen in der strafrechtlichen Schuldlehre 379

walt darauf vertrauen, nichts Unrechtes zu tun. Sie haben bei der Entfaltung ihrer
Persönlichkeiten die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nicht außer Acht gelassen,
sie haben ihre Sorgfaltspflicht erfüllt. Das muss genügen, um auch die Voraussetzung
zu erfüllen, woran die §§ 20, 17 S. 1 StGB die Schuldverneinung knüpfen. Man muss
ihnen bescheinigen, dass sie nach Sorgfaltspflichterfüllung im Rechtssinne „unfä-
hig“ waren zur rechten Einsicht und zum rechten Handeln bzw. dass sie ihren Irrtum
im Rechtssinne „nicht vermeiden konnte(n)“.

2. Roxins abweichender Ansatz

Nicht überall mit so entschiedener Formulierung, aber in der Sache ist diese Sorg-
faltspflichttheorie, beschränkt freilich auf § 17 StGB, die herrschende Lehre.14 Ihr
entgegengesetzt ist, jedenfalls im Ausgangspunkt, die Lehre Roxins.15 Dieser
Autor lenkt zwar später ein, aber zunächst rückt er das Kriterium der Sorgfaltspflicht
ganz zur Seite. Aus seinem „Schuldprinzip der normativen Ansprechbarkeit“ folgert
er, „dass die Schuld beim Verbotsirrtum allein in der Möglichkeit besteht, die Kennt-
nis des Unrechts zu erlangen, und nicht etwa in der davon unabhängigen Verletzung
einer Pflicht zur Gewissensanspannung oder Erkundigung“ (Rn. 35). In casu wäre
die Prognose, dass schon die Nachfrage bei einem zweiten Juristen die beiden ins
Bild gesetzt hätte. Klarer könnte Roxins Urteil nicht lauten: Die Geschwister sind
nach § 173 Abs. 1 S. 2 StGB schuldig, weil es ihnen leicht möglich war, die Kenntnis
des Unrechts zu erlangen.
Ich sehe hier einen Wertungswiderspruch. Die Geschwister haben bis zuletzt die
gebotene Sorgfalt gewahrt. Sie haben keine Pflicht versäumt. Wer sich sorgfalts- und
pflichtgemäß verhält, kann keine Schuld auf sich laden. Ja, man muss noch einen
Schritt weiter gehen: Nicht einmal rechtswidrig kann ein Handeln sein, wenn es
nicht pflichtwidrig ist. Das ist für die Körperverletzung, die im Vergleichsfall die
Mutter begeht, heute allgemein anerkannt; weil es wegen ihres Vertrauendürfens
schon an der objektiven Fahrlässigkeit fehlt („erlaubtes Risiko“), begeht sie mit
der Verletzung ihres Kindes kein Unrecht. Die Geschwister durften aber genauso ver-
trauen. Dass man daraus nicht dasselbe Zugeständnis ableitet, sondern ihnen vorhält,
sie hätten durch den Geschlechtsverkehr das Recht gebrochen, beruht auf einer

14
Vgl. nur Lackner/Kühl, StGB, 28. Aufl., 2014, § 17 Rn. 7; Jescheck/Weigend, AT,
5. Aufl., 1996, S. 458; treffend und besonders anschaulich Hardtung/Putzke, Examinatorium
Strafrecht AT, 2016, Rn. 782 – 788; zum Fall einer über ihr Erlösungsrecht falsch belehrten
Krankenschwester heißt es in Rn. 783: „Mit der ,Unvermeidbarkeit‘ ist also nicht eine wirk-
liche Unfähigkeit, die Unrechtseinsicht zu erlangen, gemeint; K hätte ja ohne Weiteres auch
einen anderen Arzt oder Juristen fragen können und noch einen und noch einen. § 17 verlangt
für die Befreiung vom Schuldvorwurf also nur, dass man sich mit der gebotenen Sorgfalt über
die Rechtslage informiert: Seinen Irrtum, kein ,Unrecht zu tun‘, kann schon derjenige ,nicht
vermeiden‘, der sich sorgfaltsgemäß erkundigt hat.“
15
Roxin, Strafrecht AT, Band 1, 4. Aufl., 2006, § 21, Rn. 35 – 40 (im Folgenden verweise
ich im Text auf die Randnummern).
380 Rolf Dietrich Herzberg

rechtswissenschaftlichen und gesetzgeberischen Fehlentwicklung, die die sog.


„Schuldtheorie“ zur Herrschaft gebracht hat.
Roxin scheint mir, trotz seines konträren Ausgangspunktes, von diesen Einsichten
nicht weit entfernt. Er bricht beiläufig eine Lanze für die sog. Vorsatztheorie (Rn. 39)
und zeigt sich bemüht, wenigstens auf der Schuldebene die Konsequenzen seines An-
satzes zu vermeiden. Ich sehe nahezu einen Widerruf der Eingangsthese in Sätzen
wie diesen: „Die strafrechtliche Verantwortlichkeit ist […] schon dann auszuschlie-
ßen, wenn der Täter, wie es in Art. 20 des schweizerischen StGB heißt, ,aus zurei-
chenden Gründen angenommen‘ hat, ,er sei zur Tat berechtigt‘“ (Rn. 39). Und:
„Im Rechtssinne unvermeidbar ist ein Verbotsirrtum“ schon dann, „wenn der
Täter für die Annahme von Erlaubtheit seines Tuns verständige Gründe hatte“
(Rn. 40). Der Selbstwiderspruch wird in meinen Augen ganz deutlich. Einerseits
war es den Geschwistern ein Leichtes, sich doch noch Kenntnis zu verschaffen
vom Verbot des geschwisterlichen Beischlafs. Das begründet nach Roxin die Ver-
meidbarkeit ihres Verbotsirrtums (Rn. 35). Andererseits hatten sie „verständige
Gründe“ zu glauben, dass sie miteinander schlafen durften. Das macht den Verbots-
irrtum nach Roxin „im Rechtssinne unvermeidbar“ (Rn. 40).

IV. Das Dogma der Ungerechtigkeit von Tadel und Strafe


War denn auch der Parfümdiebstahl im Eingangsbeispiel „unvermeidbar“?
Selbstverständlich nicht, werden die meisten antworten, und zwar ohne den Begrün-
dungsumweg über unser Sorgfaltspflichtkriterium.16 Man wird einfach sagen: Nie-
mand hat Frau F zum Stehlen gezwungen, sie hätte es lassen können. Aber darauf
ist zu erwidern: Es gibt die philosophische Lehre von der Unfreiheit des Willens,
die die Deterministen für zutreffend und die Agnostiker für unwiderlegbar halten.
Sie behauptet für die konkrete Tat in einem fundamentalen Sinne die Unvermeidbar-
keit, bestreitet also das Anderskönnen der F und sieht sich von keiner Gesetzesvor-
schrift gezwungen, eine Vermeidbarkeit im Rechtssinne zu erwägen und u. U. zu be-
jahen. Der Agnostiker Merkel formuliert die allgemeine Frage so: Hätte „ein Täter
im Moment seines Ansetzens zur Tat unter identischen Außen- und Innenweltbedin-
gungen (einschließlich seines Gehirnzustandes) anders […] handeln können?“17 Der
herrschende Agnostizismus, also auch Merkel, antwortet, dass man dies nicht wisse,
16
Freilich passt es auch hier. F hat die Sorgfalt außer Acht gelassen, die im Verkehr bei der
Überwachung und Zügelung der eigenen Person erforderlich ist. In jeder vorsätzlichen Be-
gehung einer Straftat steckt als Minus die fahrlässige Begehung.
17
Merkel fährt fort: Das sei „eine Frage, deren Antwort wir nicht nur ,nicht wissen können‘
(Roxin), sondern die auf der Grundlage unserer heutigen Weltauffassung keinen vernünftigen
Sinn hat“ (FS Roxin, 2011, S. 751). Ich bestreite Ersteres, indem ich die Frage entschieden
verneine (Herzberg, ZStW 2012, 31 – 35: Nein, er hätte nicht anders handeln können), und
gebe der Frage auch einen „vernünftigen Sinn“. Denn sie kann zur richtigen (deterministi-
schen) Antwort führen und über sie zur Einsicht, dass die herrschende Prämisse, Schuld setze
Willensfreiheit voraus, nicht stimmen kann.
Das Anderskönnen in der strafrechtlichen Schuldlehre 381

und geht deshalb davon aus, dass der Täter nicht anders hätte handeln können. Diese
Aussage bringt nun aber unser Schuldstrafrecht in schwerste Bedrängnis, weil sie
sich mit einem Postulat der Gerechtigkeit verbindet. Ich bestreite die Berechtigung
des Postulats (dazu später) und habe an anderer Stelle die missliche Lage so gekenn-
zeichnet: „Wie ein Alb lastet auf unserem Schuldstrafrecht der Glaube, dass es ohne
Willensfreiheit keine Schuld und keine Verantwortlichkeit gäbe. Juristen, Philoso-
phen, Theologen und Neurowissenschaftler, fast alle beugen sich diesem
Dogma.“18 Im Folgenden belege ich das mit vielen Zitaten, wovon ich drei heraus-
greife: „Der Schuldgrundsatz hat die Entscheidungsfreiheit des Menschen zur logi-
schen Voraussetzung.“19 „Denn ohne Willensfreiheit gibt es […] keine Schuld, und
ohne Schuld lässt sich Bestrafung nicht rechtfertigen.“20 „Offenbar kann man nie-
manden für die Verletzung einer Norm zur Verantwortung ziehen, die er gar nicht
einhalten konnte […] Schuld und Strafe setzen die Existenz alternativer Handlungs-
möglichkeiten voraus.“21
Auch Reinhard Merkel, der am Schuldstrafrecht festhält, sieht und anerkennt das
Dilemma. Er schreibt: „Nimmt man als Determinist (oder Agnostiker) an, ein Straf-
täter habe bei Tatbegehung (möglicherweise) nicht anders handeln, seine Tat nicht
vermeiden können, dann konstatiert man zugleich, dass der Täter in einem robust
plausiblen Sinn für sein Tun ,nichts konnte‘. Ist das aber so, dann verdient er im
[…] Sinn einer rein personal begründeten ,absoluten Letztverantwortung‘ die Strafe
nicht“. Merkel veranschaulicht dieses von ihm angenommene Fehlen der „absoluten
Letztverantwortung“ mit dem religiös überlieferten Bild des armen Sünders vor dem
göttlichen Richterstuhl, der sich verteidigt wie Raskolnikow vor seinem irdischen
Richter. „Warum bestrafst du mich für etwas“, lässt Merkel seinen armen Sünder
den lieben Gott fragen, was „für mich unausweichlich und unvermeidbar“ war?
Den Fall im Jenseits spielen zu lassen, hat für Merkel den guten Sinn, die Frage
„nach dem Begründbarkeit einer Schuldzurechnung […] losgelöst von allen sozialen
Notwendigkeiten“ zu stellen.22
Dieses „er verdient die Strafe nicht“ ist natürlich zu verstehen als die harte Kon-
sequenz aus dem herrschenden Dogma, es sei ungerecht, jemandem ein schlimmes
Tun, das er nicht vermeiden konnte, vorzuwerfen und ihn deswegen zu bestrafen. Die
Frage, die sich daraus ergibt, hatte Merkel schon vorher gestellt und damit seinen gro-
ßen Aufsatz zu Roxins Ehren eröffnet: „Wenn die agnostische Prämisse zusammen
mit dem Prinzip ,in dubio pro reo‘ es ausschließt, wie Roxin mit Recht anmerkt, die
Schuldfähigkeit eines Täters auf den Vorwurf zu gründen, er hätte ,bei Begehung der
Tat‘ anders handeln und seine Tat unterlassen können: Welche andere Eigenschaft

18
Herzberg, ZStW 2012, 12.
19
Jescheck/Weigend (Fn. 13), S. 407 f.
20
Lampe, ZStW 2006, 1, 2.
21
Pauen, Freiheit, Schuld und Strafe, in: Lampe/Pauen/Roth (Hrsg.), Willensfreiheit und
rechtliche Ordnung, 2008, S. 41, 76.
22
(Fn. 1), S. 744 f.
382 Rolf Dietrich Herzberg

des Täters als eine so definierte Willensfreiheit käme denn als zentrales Kriterium
seiner Schuldfähigkeit in Betracht?“23 Sieben Seiten später stellt Merkel dann fest,
dass es nichts gebe, was als eine „andere Eigenschaft des Täters“ sich anbiete,
und dass die „Legitimation von Schuldvorwurf und Strafe“ nur mit ihrer sozialen
Notwendigkeit zu begründen sei. Die Gründe fänden sich also außerhalb der Täter-
person und ihrer Eigenschaften zur Tatzeit. Es seien „eben Gründe der gesellschaft-
lichen Normverteidigung und daher zuletzt utilitaristischer Provenienz“.24

V. Burkhardts Lehre vom Bewusstsein des Anderskönnens


Der resignative Unterton ist kaum zu überhören und gut zu verstehen. Denn wenn
die Bestrafung des Täters rechtens, aber wegen seines Nichtanderskönnens unge-
recht ist (was ich allerdings bestreite), dann ändert daran der Umstand, dass Strafe
der „Normverteidigung“ dient und manchmal einen sozialen Nutzen abwirft, nicht
das Geringste. Aber resigniert Merkel vielleicht zu früh, wenn er sich um des sozialen
Nutzens willen mit der Ungerechtigkeit abfindet? Ungerechtigkeit ist, bei aller Re-
levanz objektiver Daten, vor allem eine Sache des subjektiven Empfindens, und diese
Wahrheit kann einen die Dinge so sehen lassen: Wer eine Straftat beschließt und be-
geht, der fühlt und erlebt normalerweise gar keine Zwangsläufigkeit. In den aller-
meisten Fällen ist sein Erleben die Freiheit der Entscheidung, und bei der Tatbege-
hung hat er das Bewusstsein des Anderskönnens. Wer aber sich so erlebt und mit die-
sem Bewusstsein handelt, der erleidet keine Ungerechtigkeit, wenn er für das be-
schlossene und begangene Delikt getadelt und bestraft wird. Demgegenüber ist es
ganz gleichgültig, ob die Philosophie oder Drittpersonen mit ihrer Außenperspektive
den Täter für unfrei befinden. Sein eigenes, das subjektive Freiheitserleben verschafft
der Bestrafung Sinn und Legitimation.
Es ist bekanntlich vor allem Björn Burkhardt, der seit langem und in sehr vielen
Publikationen so argumentiert. Greifen wir eine Darlegung heraus: „Das Strafrecht
hat bei Lichte besehen überhaupt keinen Anlass, auf den individuellen Tadel zu ver-
zichten. Grundlage für einen individuellen Tadel ist nämlich nicht indeterministische
(kontra-kausale, libertarische) Willensfreiheit, sondern die psychologische Tatsache
des allgemeinmenschlichen Freiheitserlebens. Das bedeutet: Strafrechtliche (per-
sönliche) Schuld setzt voraus, dass der Täter seine rechtswidrige Tat im Bewusstsein
des Anderskönnens vollzogen hat.“25 Eine klare Aussage, die ergänzt wird durch an-
derswo Gesagtes: „Das Bewusstsein des Anderskönnens ist nur eine notwendige,
keine hinreichende Voraussetzung für den Schuldvorwurf. Es ist […] nur ein Surro-

23
(Fn. 1), S. 738.
24
(Fn. 1), S. 745.
25
Burkhardt, Schuld – rechtliche Perspektiven, in: Kick/Schmitt (Hrsg.), Schuld, 2011,
S. 70 f.
Das Anderskönnen in der strafrechtlichen Schuldlehre 383

gat für indeterministische Willensfreiheit. Es soll nicht etwa andere Voraussetzungen


der Schuldzurechnung (Fähigkeitskriterien und andere Erwägungen) ersetzen.“26
Burkhardt hat seine vielen einschlägigen Publikationen mir gegenüber vermehrt
mit eindringlichen Antworten und Begründungen im Rahmen eines Briefwechsels.
Hier wie dort stoße ich immer wieder auf ein Wort, womit er das Erleben von Freiheit
und Anderskönnen kennzeichnet: „epistemisch“. Da hat wohl mancher, genau wie
ich, eine Erklärung nötig. Im Internet (https://de.wiktionary.org/wiki/epistemisch)
finde ich, was Burkhardt anscheinend meint: Das Wort weist hin „auf die Erkennt-
nislage des Einzelnen mit seinem persönlichen Wissen in der aktuellen Situation“;
„eine epistemische Wahrnehmung ist im subjektiven Leben die Erkenntnis: Ja, so
ist die Sachlage, und dies ist völlig unabhängig davon, ob auch ein objektiver Be-
trachter zu diesem Ergebnis käme“. Mir scheint der Terminus entbehrlich. Ich
habe Burkhardt gefragt, ob er mir zustimme, wenn ich sage: „Wer sich einen Kaffee
zubereitet, kann dies, objektiv betrachtet, bei unveränderter Motivlage nicht lassen.
Er glaubt nur, es lassen zu können.“ Burkhardt hat den ersten Satz „akzeptiert“, den
zweiten jedoch als „nicht korrekt“ bewertet. Richtig sei es zu sagen: „Er erlebt, die
Zubereitung des Kaffees (im epistemischen Sinne) unterlassen zu können.“ Da dieses
„Erleben“ ohne Zweifel den „Glauben“ an das Unterlassenkönnen (sei er nun irrig
oder zutreffend) beinhaltet, sehe ich nicht so recht, warum Burkhardt meine Aussage
inkorrekt nennt. Es verhält sich wohl so, dass er auch in meinem Beispiel auf die
Schlüsselbegriffe seiner Lehre – „Erleben“ und „epistemisch“ – nicht verzichten
will und deshalb meine schlichtere Formulierung verwirft, obwohl inhaltlich kein
Unterschied besteht.

1. Burkhardts berechtigter Widerspruch

Einleuchtend ist mir jedoch, dass Burkhardt seiner Lehre im Vergleich zur herr-
schenden den Wert der Gerechtigkeit beimisst. Er betont in Wiederholungen, dass
ein „Schuldprinzip“ nur dann etwas tauge, wenn es die staatlichen Strafen so be-
grenze, dass die Betroffenen sie als gerecht empfinden können.27 Diese Qualität
nimmt er für seine „Lehre von der Maßgeblichkeit subjektiver Freiheit“ in An-
spruch – im Ansatz zu Recht! Das zeigt eine Beobachtung, die kritisch auf die herr-
schende Lehre blickt und die seltsamerweise nie herausgestellt wird. In vereinfach-
ter Wiedergabe belehrt uns der herrschende Agnostizismus folgendermaßen: Aus-
zugehen ist vom Fehlen der Willensfreiheit, also davon, dass der Mensch seine
rechtswidrige Tat nicht vermeiden kann. Also trifft ihn keine Schuld (was Burk-
hardt mit Recht bestreitet). Darum ist es ungerecht, ihm die Tat vorzuwerfen. So-
ziale Notwendigkeit zwingt uns aber, es dennoch zu tun, d. h. am Schuldstrafrecht

26
Burkhardt, Leseschwächen, Fehldeutungen und Donnerbüchsen – ein besorgter Brief an
meinen akademischen Lehrer, in: Scripta amicitiae – Freundschaftsgabe für Albin Eser zum
80. Geburtstag, 2015, S. 313.
27
(Fn. 26), S. 326, Fn. 35; Festschrift für Manfred Maiwald, 2010, S. 90 f.
384 Rolf Dietrich Herzberg

festzuhalten. – Wenn dieses Eingeständnis zuträfe, wenn wirklich der gesetzlich


gewollte Schuldvorwurf ungerecht wäre, dann würde doch fast jeder Angeklagte
sich auf seine Willensunfreiheit und auf die Ungerechtigkeit des Schuldvorwurfs,
den man ihm macht, berufen. Tatsächlich verhält es sich jedoch anders. Wer vor-
sätzlich oder fahrlässig eine Straftat begangen hat und deswegen vor Gericht steht,
verteidigt sich mit allem Möglichen, aber er beruft sich so gut wie nie darauf, dass
ihm die Willensfreiheit fehlt und also jeder Schuldvorwurf ungerecht sei. Vielmehr
ist es für ihn selbstverständlich, dass er sein eigener Herr und im Prinzip kraft seiner
Freiheit verantwortlich ist für seine Entscheidungen und seine Taten. Und darum
findet er es kein bisschen ungerecht, wenn ihm der Richter bei erwiesener Tat nach
Maßgabe des Gesetzes Schuld vorwirft.
Ich stimme Burkhardt zu, wenn er, mehr oder minder deutlich mit dieser Begrün-
dung, Widerspruch erhebt gegen das herrschende Dogma, wonach man „einen Men-
schen für seine Taten nur dann gerechterweise zur Verantwortung ziehen und ggf. mit
empfindlichen Strafen belegen (kann), wenn er als mit freiem Willen begabt betrach-
tet wird“.28 Dass dies so nicht richtig ist, scheint mir geradezu evident. Nehmen wir
den angeklagten Pfarrer, der seine kindlichen Messdiener sexuell missbraucht hat,
und die Richterin, die ihn von ihrem philosophischen Standpunkt aus nicht „als
mit freiem Willen begabt“ ansieht. Ihr soll es sich verbieten, ihn zur Verantwortung
zu ziehen und zu bestrafen? Und wenn sie es dennoch tut, so soll sie ihr Urteil un-
gerecht finden? Ich stehe nicht an, Burkhardts Widerspruch als eine Förderung der
Strafrechtslehre zu rühmen. Das „Freiheitserleben“ und das „Bewusstsein des An-
ders-, des Unterlassenkönnens“, das wird der Pfarrer bei seinen Missbrauchstaten
wohl gehabt haben. Er fühlt sich deshalb verantwortlich, er erlebt eine angemessene
Bestrafung als gerechtfertigt und wird niemandem Ungerechtigkeit vorwerfen.

2. Einwände

Ich anerkenne den Fortschritt und wende zugleich ein, dass Burkhardt den rich-
tigen Weg nicht zu Ende geht. Er löst sich zwar von dem unhaltbaren Dogma, dass
Schuld und Vorwerfbarkeit eine „indeterministische Willensfreiheit“ voraussetzen,
aber nur in der Weise, dass er diese Freiheit ins Subjektive verschiebt und sie dort
als ein „Erlebnis“ und als ein „Bewusstsein des Anderskönnens“ zur „notwendigen
Voraussetzung des Schuldvorwurfs“ erklärt. Bezeichnend ist, dass Burkhardt in die-
sem Bewusstsein „nur ein Surrogat für indeterministische Willensfreiheit“ sieht.29 Es
drohen ihm nun Konsequenzen, die mit dem geltenden Recht unvereinbar und höchs-
tens de lege ferenda diskutabel sind. Ihnen kann er nur ausweichen, und zwar indem
er seine „notwendige Voraussetzung“ entschärft, sie gleichsam in Luft auflöst, sodass
sie niemals eine Bestrafung verbietet, die das Gesetz vorschreibt. Für die Straftat

28
Eugen Drewermann, Atem des Lebens, Die moderne Neurologie und die Frage nach
Gott, Band 2: Die Seele – zwischen Angst und Vertrauen, 2007, S. 835.
29
(Fn. 26), S. 313.
Das Anderskönnen in der strafrechtlichen Schuldlehre 385

kommt es, folgt man Burkhardt, nicht auf deren Voraussetzung an, sondern umge-
kehrt. Nehmen wir einen Fall der unbewussten Fahrlässigkeit: Eine Mutter schützt
die Gesundheit ihres Kindes durch Eingabe von Tabletten. Eines Morgens vergreift
sie sich und verabreicht dem Kind eine falsche, der richtigen täuschend ähnliche Ta-
blette, die einen erheblichen Gesundheitsschaden bewirkt (§ 229 StGB). Hier war
sich die Täterin eines Fehlverhaltens gar nicht bewusst. Sie war überzeugt, genau
das Richtige zu tun, hatte also keine Veranlassung, sich ein Anderskönnen bewusst
zu machen. Aber Burkhardt will an der Strafbarkeit unbewusster Fahrlässigkeit fest-
halten und deshalb auch in so einem Fall seine Kriterien erfüllt sehen. Darum lässt er
als gegenwärtiges Bewusstsein ein allgemeines, unaktuelles „Wissen“ genügen; ein,
wie er es nennt, „Hintergrundwissen“, nämlich „dass man in der Lage ist, (qua Wol-
len) seine Aufmerksamkeit auf die Begleitumstände seines Verhaltens zu richten und
die Bedeutung seiner Betätigung […] zu überdenken.“30 Das ist nichts als eine Para-
phrase zum Fahrlässigkeitsbegriff. Sie beschreibt ein Wissen in Gestalt der Lebens-
weisheit, dass man lieber noch mal nachschauen und immer schön vorsichtig sein soll
und dass Vertrauen gut, Kontrolle besser ist. Ohnehin kann ich – auch darauf stellt
Burkhardt ja ab – beim besten Willen kein „Freiheitserleben“ der Mutter beim Ein-
geben der Tablette nachempfinden, und das Wissen, wonach Burkhardt fragt, ist ein
Allerweltswissen, das ein Fahrlässigkeitstäter ex definitione hat und das als eine all-
gemeine Schuldvoraussetzung neben der Fahrlässigkeit vollkommen leerläuft. Denn
eine Lebensweisheit, die jedermann jederzeit in sich hat, ist ohne Unterscheidungs-
kraft. Die Voraussetzung „Bewusstsein des Anderskönnens“ hat, auch nach Burk-
hardt selbst, keine Relevanz in dem Sinne, dass ihretwegen die strafrechtliche Schuld
entfallen kann.
Diesen Befund bestätigt auch der erwähnte Briefwechsel. Burkhardt hat mir nach
wiederholter Anfrage kein einziges Beispiel für eine Schuldverneinung genannt,
deren Grund er allein im Mangel an Bewusstsein des Anderskönnens gesehen
hätte. Er wusste nur Täter zu nennen, deren Schuldlosigkeit sich aus extremen Um-
ständen und wegen ihrer schon aus dem Gesetz (§§ 20, 33, 35 StGB) ergab, sodass
neben der gesetzlichen Schuldverneinung die Burkhardt’sche keine Bedeutung hatte.
Sie müsste für Burkhardt allerdings dort entscheidend sein, wo das Gesetz dem Täter,
der seine Freiheit bestreitet, keine Entschuldigung gewährt. Mein Beispiel: Eine 15-
jährige Schülerin verführt mit verlockenden Reizen und Angeboten ihren Lehrer zu
sexuellen Handlungen. Er verteidigt sich als Angeklagter, schon die Sprache erkenne
an, dass Reize „unwiderstehlich“ sein können und man mitunter „unausweichlich“
den falschen Weg gehe. Er habe diese Wahrheit körperlich und seelisch erfahren.
Sein Erleben sei nicht das der Freiheit der Entscheidung, sondern das der Unfreiheit
gewesen, und bewusst geworden sei ihm kein Anders-, sondern ein Nichtanderskön-
nen. – Wenn diese Verteidigung glaubhaft oder unwiderlegbar ist, dann müsste Burk-
hardts „Lehre von der Maßgeblichkeit subjektiver Freiheit“ doch wohl wie folgt ur-
30
Burkhardt, Fahrlässigkeit als individuelle Erkennbarkeit der Tatbestandsverwirklichung,
in: Strafrecht und Gesellschaft – Ein kritischer Kommentar zum Werk von Günther Jakobs,
2019, S. 481 (Hervorhebung bei Burkhardt).
386 Rolf Dietrich Herzberg

teilen: Die Schuld des Täters ist zu verneinen, weil eine notwendige Voraussetzung
fehlt, weil der innere Grund des Schuldvorwurfs entfällt. Denn der Lehrer hatte kein
Freiheitserleben und kein Bewusstsein des Anderskönnens. Im Gegenteil! Er erlebte
Unfreiheit und war sich bewusst, nicht anders zu können. Er ist vom Vorwurf eines
Vergehens nach § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB freizusprechen aufgrund eines ungeschrie-
benen Schuldausschließungsgrundes, der sich aus dem „Wesen der Schuld“ er-
gibt. –Burkhardt will die Konsequenz nicht wahrhaben. Er wehrt sich dagegen
und findet, dass der Lehrer sehr wohl „das Bewusstsein des Anderskönnens“
hatte. Seine rhetorische Frage: Würde der Lehrer nicht „sofort einräumen, dass er
dem verlockenden Angebot widerstanden hätte, wenn er gewusst hätte, dass eine ver-
steckte Kamera der Schulleitung seinen Fehltritt aufzeichnet?“
Das ist unhaltbar. Wenn der Lehrer sich sicher ist, dass er vor laufender Kamera
abgelehnt hätte, dann kann man daraus doch nicht schließen, dass er sich in der voll-
kommenen Heimlichkeit der realen Situation gleichfalls fähig gefühlt hat, die Schü-
lerin abzuweisen. Burkhardt begründet das fragliche Bewusstsein damit, dass er die
Umstände verändert, unter denen sich der Lehrer entscheidet. Um ihn zu widerlegen
und ihm das Bewusstsein des Anderskönnens nachzuweisen, versetzt Burkhardt ihn
in eine ganz andere Lage, dergestalt, dass das Unfreiheitserlebnis des Nichtneinsa-
genkönnens von dem des Nichtjasagenkönnens abgelöst wird.
Stillschweigend räumt Burkhardt damit ein, dass vor Gericht dem Lehrer unter
den gegebenen Umständen das Bewusstsein des Nichtanderskönnens als unwiderleg-
bar zuzubilligen wäre – und seine Lehre den Freispruch zur Konsequenz hat. Eine
falsche Entscheidung, die Burkhardt selber unbedingt vermeiden will. Selbstver-
ständlich darf das Gericht den Lehrer nicht freisprechen. Die strafrechtlichen Regeln
zur Schuld mögen unabgeschlossen sein und offen für ungeschriebene Einschrän-
kungen. Aber es ist gewiss keine relevante Verteidigung, wenn der Angeklagte
sich auf keine gesetzliche Schuldverneinung berufen kann und nur vorbringt: „Ich
habe gegen die Versuchung angekämpft, aber sie war stärker als ich und ich habe
die Tat begangen in dem Bewusstsein, nicht anders zu können“.
Ich sagte, dass Burkhardt den richtigen Weg nicht zu Ende geht. Wie das gemeint
ist, wird jetzt deutlich. Burkhardt löst sich mit Recht von dem Dogma, wonach ein
dem Lehrer gemachter Schuldvorwurf „eigentlich“ ungerecht ist und man ihn „ei-
gentlich“ nicht bestrafen darf. Seinen Widerspruch begründet Burkhardt nicht
etwa mit dem Glauben an die Willensfreiheit. Er ist selbst Agnostiker, wenn nicht
gar Determinist und geht davon aus, dass der Lehrer objektiv gesehen „nicht anders
konnte“. Aber er bestreitet die Relevanz dieses Befundes und verneint die Prämisse,
dass Schuld einen freien Willen voraussetze. Das ist ein richtiger und wichtiger
Schritt, doch zeigt der Fall des Lehrers, dass es auch auf eine „epistemische“ Freiheit
nicht ankommt, dass auch die „Lehre von der Maßgeblichkeit subjektiver Freiheit“
keine Zustimmung verdient. Mit dem missglückten Versuch, dem Lehrer für den ge-
gebenen Fall durch Fallabwandlung ein Bewusstsein des Anderskönnens nachzuwei-
sen, verrät uns Burkhardt, dass er selbst an dieser angeblich „notwendigen Voraus-
Das Anderskönnen in der strafrechtlichen Schuldlehre 387

setzung des Schuldvorwurfs“ nicht festhält, wenn sie einen als falsch empfundenen
Freispruch ergibt.

VI. Die eigene Sicht


Aber lassen wir Burkhardts Epistemismus ruhen und wenden wir uns wieder der
problematischen, in der Theorie übergewaltig herrschenden Prämisse zu: „Ohne Wil-
lensfreiheit gibt es keine Schuld, und ohne Schuld lässt sich Bestrafung nicht recht-
fertigen.“31 Auf der Grundlage des gleichfalls herrschenden Agnostizismus führt sie
in unserem Beispiel zu dem Urteil, dass man dem Lehrer – auch wenn er selbst an
seine Entscheidungsfreiheit geglaubt hätte! – keine Schuld vorwerfen kann und er
die gesetzlich geforderte Bestrafung nicht verdient. Kann man es nicht mit Händen
greifen, dass die Vernunft protestiert und die Prämisse falsch sein muss? Auch unter
den philosophisch Gebildeten empört sich ja niemand über die Rechtslage, der offen-
bar ein common sense zugrunde liegt.32 Der Lehrer wird für seine Tat verantwortlich
gemacht, sie wird ihm vorgeworfen, er ist des sexuellen Missbrauchs seiner Schülerin
schuldig und wird deswegen zu Recht bestraft. Wenn auch mir, wie Merkel, etwas
„robust plausibel“ erscheint, dann im Beispiel nicht die von der Prämisse verlangte
Ent-, sondern die Beschuldigung des Lehrers, die das Gesetz fordert.

1. Ethische Bewertung trotz Willensunfreiheit

Aber wie entkräften wir die praktisch unwirksame Prämisse auch in der Theorie?
Das geht nur auf einem Umweg. Wir müssen uns klarmachen, dass der strafrechtliche
Schuldvorwurf immer verbunden ist mit einer ethischen Bewertung der Tat, und uns
fragen, welche Bedeutung der philosophischen Verneinung von Willensfreiheit für
ethische Bewertungen allgemein zukommt. Stellen wir uns zum Vergleich einmal
vor, der Lehrer wendet sich seiner Schülerin in ganz anderer Weise zu, nämlich
indem er sie in akuter Not vor dem Ertrinken rettet und dabei das eigene Leben ge-
fährdet. Hier würde wohl niemand sagen, eine sittliche, eine moralische Bewertung
der Tat verbiete sich, weil der Lehrer nicht anders konnte, weil er in seinem Handeln
streng determiniert war. Seine Willensunfreiheit spielt für das ethische Urteil keine
Rolle, der Lehrer „verdient“ die Reaktion auf seine Tat, die er von der Gesellschaft
31
Lampe, ZStW 2006, 1 f.
32
Natürlich bewirkt die Prämisse, dass Konzessionen gefordert werden, zu leisten von der
Strafrechtslehre und vom Gesetzgeber. Aber bei näherem Hinsehen zielen die Forderungen
zumeist nur auf verbale und terminologische Änderungen. So verlangt Tatjana Hörnle, Kri-
minalstrafe ohne Schuldvorwurf, 2013, S. 71 f., dass im Gesetz „der Begriff ,Schuld‘ konse-
quent vermieden“ werde. Für richtig hält sie es allerdings, dem Täter „Unrecht vorzuwerfen“
und ihn dafür auch „verantwortlich“ zu machen. Und die Verantwortlichkeit des Täters hängt
auch für sie von den gesetzlichen Schuldregeln ab, von denen sie keine verwirft oder inhaltlich
verändern will. Ich vermag zwischen „verantwortlich begangenem Unrecht“ und „schuldhaft
begangenem Unrecht“ in der Sache keinen Unterschied zu erkennen.
388 Rolf Dietrich Herzberg

erfährt. Er verdient also Lob und Dank, obwohl – oder gerade weil – Charakter und
Motiv ihn gezwungen haben, die gute Tat zu begehen. Und es würde diese Reaktion
nicht schwächen, sondern eher noch verstärken, wenn der Lehrer sich selbst auf seine
Unfreiheit beruft: Ich konnte gar nicht anders, ich hatte keine Wahl; als ich das Mäd-
chen schreien hörte, da musste ich mich ins Wasser stürzen, auf die Gefahr hin, selbst
zu ertrinken.
Ist es nicht widersprüchlich, dass man aus solcher Alternativlosigkeit in anderen
Fällen (wenn auch nur theoretisch!) folgert, der Lehrer sei vor jeder sittlichen Beur-
teilung seiner Tat und vor jeder gesellschaftlichen Reaktion zu bewahren? Mit dieser
dem Juristen wohlvertrauten systematischen, auf Widerspruchsvermeidung pochen-
den Argumentation gegen die herrschende Prämisse („ohne Willensfreiheit keine
Schuld“), die ich an anderer Stelle ausführlich vorgetragen habe,33 hat sich fair, ein-
dringlich, anerkennend und dennoch ablehnend Reinhard Merkel auseinanderge-
setzt. Ein Hauptgrund seiner Ablehnung ist, dass er meiner Betonung des Gemein-
samen mit der des Gegensätzlichen widerspricht. Um im Beispiel zu bleiben: Für
Merkel ist nicht entscheidend, dass der Lehrer in beiden Fällen eine ethisch irgend-
wie zu bewertende Tat begangen hat, sondern dass den Täter ganz verschiedene ge-
sellschaftliche Reaktionen treffen; hier Tadel und Bestrafung, die ihn „verletzen“,
dort Lob und Dank, die ihn „begünstigen“. Was verletzt, bedarf der Legitimation,
Lob und Dank haben keine nötig.34
Gegen eine systematische Argumentation, die Gleichbehandlung fordert, ist der
Hinweis auf Ungleichheit immer ein relevanter Einwand. Ich räume auch ein, dass
mein Argument der „Symmetrie zwischen Lob und Tadel“ (wie Merkel es nennt),
nicht zwingend ist. Aber mein Kritiker hätte bedenken müssen, dass man im prakti-
schen Urteil die Prämisse „ohne Willensfreiheit keine Schuld“ gar nicht beachtet und
sie nur als einen die Gerechtigkeit gefährdenden Ballast mit sich herumschleppt.
Darum sollte man ein plausibles Bestreiten der Prämisse, das Praxis und Theorie
in Einklang bringt, dankbar willkommen heißen. Und mir scheint dies plausibel:
dass man ausgeht von der fast allgemein anerkannten Berechtigung, die determinier-
te gute Tat zu loben und zu belohnen, und dass man dazu analog auch das Recht be-
jaht, die determinierte schlechte Tat zu tadeln und zu bestrafen. In beiden Fällen, Le-
bensrettung hier, sexueller Missbrauch dort, geht es um ethische Bewertung, und es
ist nicht einzusehen, warum die Determiniertheit menschlichen Handelns, unstreitig
belanglos im Lebensrettungsfall, das ethische Werturteil im Missbrauchsfall verbie-
ten soll. Nein. Wenn das Nichtanderskönnen des Täters uns offensichtlich nicht hin-
dert, die gute Tat zu loben, dann ebenso wenig, die schlechte zu tadeln. Wer einen
wertvollen Fund ehrlich abliefert, verdient Belohnung (Finderlohn), wer ihn unter-
33
(Fn. 6), S. 90 – 93 mit dem Resümee: „Die moralische Bewertbarkeit einer Tat ist mithin
von einem Bekenntnis zum Indeterminismus nicht abhängig. Der Mensch verdient für gute
Taten Lob, Dank und Anerkennung wie für böse Tadel, Verachtung und Strafe. Mit seiner
Willensfreiheit, die ohnehin unbeweisbar und m. E. sogar erwiesenermaßen zu verneinen ist,
hat das nichts zu tun“ (S. 92).
34
(Fn. 1), S. 744.
Das Anderskönnen in der strafrechtlichen Schuldlehre 389

schlägt, verdient Strafe (§ 246 StGB). Die Rechtsordnung darf dieses elementare Ge-
rechtigkeitsempfinden der Menschen, das vom Glauben an die Willensfreiheit ganz
unabhängig ist, nicht verfehlen, sie muss ihm Ausdruck geben.
Reinhard Merkel flieht gewissermaßen vor meiner Argumentation nach vorn,
indem er es dem Lebensretter abspricht, ein Lob für seine edle Tat wirklich zu ver-
dienen. Der Lehrer „konnte, genau bedacht, nichts dafür, dass er ein Leben gerettet
hat; im Sinne einer rein persönlich begründeten Letztverantwortung verdient hat er
das Lob daher nicht“. „Diese Überlegung“, findet Merkel, wäre „keineswegs
,Unfug‘, sondern richtig und konsequent“. Doch nun fügt er an: Den Dank deswegen
zu verweigern, das freilich wäre „Unfug und grob schlechtes Benehmen“.35 Hier
lesen wir zunächst ein Bekenntnis zur Konsequenz, aber dem Bekenntnis folgt die
Erkenntnis, nämlich dass die Konsequenz für das Leben nicht taugt, dass sie gesell-
schaftlich unerträglich wäre. Damit finden wir bei Merkel selbst das klassische argu-
mentum ad absurdum vorgeführt: Es ist abwegig, vom philosophisch überzeugten
Deterministen zu erwarten, dass er folgerichtig dem Lehrer Lob und Dank verwei-
gere und die Verdienstlichkeit der Tat bestreite. Und das ist stets die Forderung des
Argumentes: Verteidige nicht die absurde Konsequenz, sondern gib die Prämisse auf,
woraus sie folgt. Das heißt hier: Es ist richtig, den Menschen für seine guten Taten zu
loben und für seine bösen zu tadeln, obwohl er sie alle, gemäß seinem Motiv und
Charakter, mit Notwendigkeit, also ohne Willensfreiheit begangen hat.

2. Klarstellungen

Kritik an meiner Schuldlehre übt Reinhard Merkel auch unter der Überschrift
„Charakter, Krankheit und Schuldvorwurf“.36 Dieser lange Abschnitt schürft tief
und ist hochgelehrt, übrigens auch unterhaltsam und spannend. Ich gehe einer um-
fassenden Auseinandersetzung lieber aus dem Weg und beschränke mich auf Klar-
stellungen.
Dass für mich „das Motiv einer Tat nichts anderes sei als Ausdruck des Charakters
eines Handelnden“,37 kann ich in dieser Allgemeinheit nicht gelten lassen. Gewiss
charakterisiert den Täter manchmal schon sein Tatmotiv, z. B. das Motiv für das Quä-
len des geliebten Hundes in Thomas Manns Erzählung „Tobias Mindernickel“. Aber
normalerweise sind die Motive vom Charakter noch mehr oder minder weit entfernt.
Der Fall des Lehrers ist ein Beispiel. Das Motiv, sexuelle Freuden zu genießen, ent-
springt nicht dem individuellen Charakter, es würde fast jeden Mann bewegen. Und
ebenso das Gegenmotiv, die Angst vor den misslichen Folgen eines rechtlich und ge-
sellschaftlich verpönten Sexualgenusses. Der Charakter des Lehrers kommt erst in
der Weise ins Spiel, dass er im Widerstreit der Motive dem ersten den Sieg verschafft.

35
(Fn. 1), S. 744.
36
(Fn. 1), S. 745 – 750.
37
(Fn. 1), S. 745 f.
390 Rolf Dietrich Herzberg

Merkels Ausführungen lassen meine Ansicht als eine „Charakterschuldlehre“ er-


scheinen.38 Sie kenne „als mögliche Exkulpationsgründe nichts anderes als die in
§ 20 StGB genannten mentalen Defekte. Motive anderen Ursprungs müssen dann
eo ipso als schuldbegründend gelten und als nicht dem Defektbereich entstammend
ausnahmslos dem Charakter zugeschlagen werden.“39 Diese Sätze zu korrigieren
wird Merkel nicht zögern. Selbstverständlich ist ihm klar, dass ich alle Exkulpationen
kenne und anerkenne, die sich aus dem Gesetz ergeben, nicht nur die wegen „men-
taler Defekte“, die dem § 20 StGB unterfallen. Wer eine dem § 35 StGB zu subsu-
mierende rechtswidrige Tat begeht, etwa zur Rettung des Lebens der Tochter, ist ex-
kulpiert, obwohl von einem mentalen Defekt keine Rede sein kann. Und auch wo
Motive „dem Charakter zugeschlagen werden“ müssen, lasse ich sie durchaus
nicht „eo ipso als schuldbegründend gelten“. Die Aggressivität zweier Brüder, 13
und 15 Jahre alt, die immer wieder Mitschüler verprügeln, mag durch und durch cha-
rakterlich bedingt sein. Aber ihre Schuld ist feststehend (§ 19 StGB) bzw. unter Um-
ständen (§ 3 JGG) zu verneinen. Und es kann am Charakter eines Angegriffenen lie-
gen, dass er in Panik und Schrecken die Grenzen der Notwehr überschreitet; aber
seine Entschuldigung nach § 33 StGB schließt das nicht aus.

3. Worauf kommt es an: auf das Gesetz oder


die „normative Ansprechbarkeit“?

So zeichnet sich eine Schulddefinition ab, die präzise und schlechterdings unbe-
streitbar ist: Strafrechtliche Schuld liegt vor, wenn jemand eine rechtswidrige Tat
i.S. von § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB begeht, auf die keine gesetzliche Schuldverneinung
zutrifft. Aber diesen Satz werden viele als trivial und unergiebig abtun; er sei ja rein
positivistisch und treffe in seiner Negativität nicht das „Wesen“ der Schuld, das es
doch zu erkennen gelte. Ich antworte: Die Negationen, die mein Satz zusammenfasst,
ergeben insgesamt ein Positivum, das der Wesensbestimmung, wenn man Wert dar-
auf legt, dienen mag. Dieses Positivum ist die Freiheit, ist das Freisein des Täters bei
Begehung der rechtswidrigen Tat. Gemeint ist damit natürlich nicht die sog. Willens-
freiheit, d. h. das Freisein des Täters in seiner Entscheidung, sondern das Freisein von
etwas, was man ganz allgemein „Beeinträchtigung“ nennen kann. Betrachten wir die
Täterin des Eingangsbeispiels! Ihre strafrechtliche Schuld besteht darin, dass sie
rechtswidrig einen Parfümdiebstahl begeht und dabei frei ist von Defiziten und Be-
drängnissen, die nach gesetzlicher Bewertung ihre Schuld entfallen lassen; wie etwa
jugendliche Unreife, schwere Demenz, unzumutbarer Notstandsdruck, unvermeid-
bare Verbotsunkenntnis. Wir sehen sie vor uns in ihrer ausgereiften, mental und si-
tuativ unbeeinträchtigten Persönlichkeit, getrieben zwar von ihrem Motiv, vielleicht
auch aufgeregt, besorgt und ängstlich, aber nach gesetzlicher Wertung – sie bleibt für
mich das A und O – berühren diese seelischen Befindlichkeiten nicht ihre Autono-
38
So die ausdrückliche Kennzeichnung in Festschrift für Roxin (Fn. 1), S. 747 im 2. Ab-
satz.
39
(Fn. 1), S. 747.
Das Anderskönnen in der strafrechtlichen Schuldlehre 391

mie, die unter bestimmten Voraussetzungen alle, auch Deterministen, dem Men-
schen, und nur dem Menschen, zuschreiben. Diese aus dem beschriebenen Freisein
hervorgehende Autonomie ist es, die es uns gerecht erscheinen lässt, die Täterin ver-
antwortlich zu machen und ihr Schuld vorzuwerfen.
Ich sehe hier eine starke Übereinstimmung mit dem Gedankengang, der Merkel
dahin führt, sich Roxin anzuschließen. Der Schuldvorwurf setze voraus, sagt Merkel,
„dem Handelnden eine bestimmte Art von Autonomie zuzuschreiben – eine Autono-
mie, die mit dem untauglichen Begriff einer Freiheit zum Andershandeln freilich
nichts zu tun hat. Was sie bezeichnet, ist vielmehr ein hinreichendes Maß an (und
sei es determinierter) Fähigkeit zur motivationalen und also normativen Selbstkon-
trolle“. Merkel übernimmt für diesen Fähigkeitsbefund Roxins Begriff der „norma-
tiven Ansprechbarkeit“. Er sei zwar „vage und abstrakt“, aber doch „ein plausibler
Titel und der richtige Ausgangspunkt für die weitere Klärung der Probleme“.40
Ich würde dem rundum zustimmen, wäre da nicht der „vage und abstrakte Be-
griff“. Natürlich habe ich nichts dagegen, jedem Straftäter, z. B. auch Frau F im Dro-
geriemarkt normative Ansprechbarkeit zu bescheinigen. Aber ich bestreite, dass
diese Formel in der Schuldfrage Erkenntnis schafft und „für die weitere Klärung
der Probleme“ hilfreich ist. Entscheidend ist allein, ob das Gesetz die Schuld ver-
neint. Findet sich vielleicht irgendwo die Vorschrift „Schuldhaft handelt nur, wer
bei Begehung der Tat normativ ansprechbar ist“? Oder wenigstens: „Ohne Schuld
handelt, wer bei Begehung der Tat normativ nicht ansprechbar ist“? Eine solche Vor-
schrift gibt es nicht. Und darum verbietet es sich nach meiner Überzeugung, aus der
Annahme des Fehlens der normativen Ansprechbarkeit die Schuldlosigkeit des Tä-
ters abzuleiten. Eben dies tut aber Merkel zum Vorteil eines abergläubischen Mannes
in einem Beispiel, das dem bekannten „Katzenkönigfall“ nachgezeichnet ist: Der
Täter anerkennt zwar das Tötungsverbot, glaubt aber, es „werde für ihn immer
dann zwingend aufgehoben und ins Gegenteil verkehrt, wenn ein entsprechender Be-
fehl der Erzengel an ihn ergehe“. Er handle, schreibt Merkel, „falls er eine solche
Befehlslage annimmt und genau deshalb tötet, nicht etwa im Verbotsirrtum“; d. h.
er hatte sehr wohl „die Einsicht, Unrecht zu tun“ (§ 17 StGB). Gleichwohl verneint
Merkel „seine Schuldfähigkeit“, weil er bei Tatbegehung „normativ nicht ansprech-
bar“ sei. Begründung: „Dass er hinter solchen Befehlen das rechtliche Tötungsverbot
ausnahmslos zurücktreten lässt, also dessen Bedeutung nicht konsistent begreift,
schließt in diesen Situationen seine hinreichende Rezeptivität für die Brücke zwi-
schen Sachlage und Normbefehl aus – und damit seine ,normative Ansprechbar-
keit‘“.41
Ob man den Begriff bejaht oder verneint, scheint mir vom Belieben des Interpre-
ten abzuhängen. Das haben „vage und abstrakte“ Begriffe so an sich. Merkel hätte
nach der Verneinung des Verbotsirrtums ebenso gut die normative Ansprechbarkeit
bejahen können: Wer einsieht, „Unrecht zu tun“ (§ 17 StGB), der wird vom norma-
40
Merkel (Fn. 1), S. 752.
41
(Fn. 1), S. 755 f.
392 Rolf Dietrich Herzberg

tiven Verbot angesprochen, und er versteht es auch. Ein anderes Beispiel: Die berech-
tigte Besitzerin von Betäubungsmitteln übergibt einem Junkie Heroin, weil er ihre
Katze ergriffen hat und sie zu töten droht. Einerseits kennt die Täterin das Betäu-
bungsmittelgesetz. Andererseits kann man sagen, die Angst um ihre Katze mache
sie taub für dessen Verbote (hier: § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtmG), sodass sie in dieser be-
sonderen Lage insoweit normativ unansprechbar sei.
In meinen Augen ist die Beliebigkeit aber ein Problem, das sich der Rechtsanwen-
dung gar nicht stellt. Ob der Täter einer strafrechtlich relevanten Tat „normativ an-
sprechbar“ ist, ist völlig belanglos. Man muss prüfen, ob er nach einer Gesetzesvor-
schrift gerechtfertigt oder wenigstens schuldlos gehandelt hat. In Merkels Beispiel
kann sich Letzteres aus § 17 S. 1 StGB oder § 20 StGB ergeben. In meinem Hero-
infall wird man eine Rechtfertigung nach § 34 StGB oder eine Entschuldigung
nach § 35 StGB in Betracht ziehen. Wenn man jeweils beide Vorschriften verneint,
dann sind die Möglichkeiten der Befreiung erschöpft, und das Delikt ist zu bejahen.

4. Negative und positive Aussagen zur Schuld

Am Ende bleibe ich dabei, die strafrechtliche Schuld durch eine Negation zu de-
finieren („wenn keine gesetzliche Schuldverneinung zutrifft“), weil nur diese Defi-
nition fehlerfrei und aussagekräftig ist. Anzumerken ist, dass auch das Strafgesetz-
buch den Schuldbegriff, wo er eine Strafbarkeitsvoraussetzung bezeichnet, stets mit
einem Negationswort oder -wortteil verbindet. Das Gesetz vermeidet die positive De-
finition, was unter „Schuld“ zu verstehen sei, und enthält auch keine Vorschrift, die
positiv etwa sagen würde, dass wegen einer „rechtswidrigen Tat“ nur zu bestrafen sei,
wer sie „schuldhaft“ oder „mit Schuld“ begangen habe. Vielmehr legt das Gesetz
fest, wann ein Täter ohne Schuld handelt (§§ 17, 20, 35 Abs. 1 StGB), welche Um-
stände ihn „entschuldigen“ (§ 35 Abs. 2 StGB) bzw. unter welchen Voraussetzungen
er „schuldunfähig“ ist (§ 19 StGB). Ein Dreizehnjähriger kann also beim Begehen
einer rechtswidrigen Tat nicht schuldhaft handeln. Das besagt § 19 StGB mit seinem
Begriff der Schuldunfähigkeit. Wenn man nun versucht, dazu den Gegenbegriff zu
definieren, so muss das schiefgehen. Frister versucht es mit der Aussage: „Die
Schuldfähigkeit ist […] die Fähigkeit, sich auf hinreichend verständige und deshalb
für die Normgeltung relevante Art und Weise für oder gegen die Beachtung der Norm
zu entscheiden.“42 Wie immer das gemeint ist, auch Kindern ist diese Fähigkeit oft
schon zuzusprechen. So steckt in Fristers abstrakter Definition die konkrete Behaup-
tung, dass ein dreizehnjähriger Gymnasiast, der sich normalerweise korrekt verhält,
„schuldfähig“ ist, wenn er einen Ladendiebstahl begeht. § 19 StGB sagt das Gegen-
teil.
Ein Fehlgriff ist auch das Jakobs-Zitat ein paar Zeilen später. Frister meint, sei-
nem „Verständnis der Schuldfähigkeit“ entspreche „Jakobs’ Deutung der Schuldfä-

42
(Fn. 11), S. 546.
Das Anderskönnen in der strafrechtlichen Schuldlehre 393

higkeit als ,Kompetenz, Normgeltung zu desavouieren‘“43. Jakobs sagt aber, dass


nach § 19 StGB „Kinder […] zurechnungsunfähig sind, weil sie nach der „Präsum-
tion“ des § 19 StGB „nicht kompetent sind, die Normgeltung zu desavouieren“44.
Frister macht aus der negativen eine positive Aussage und verfälscht sie dadurch.
Denn Jakobs sagt durchaus nicht, dass wer die Kompetenz habe, Normgeltung zu
desavouieren, auch schuldfähig sei.

VII. Zu guter Letzt


Hier setze ich meinen Überlegungen zum strafrechtlichen Schuldbegriff ein Ende,
so gern ich auch ihre deterministische Grundlage noch begründen würde. Darum be-
gnüge ich mich damit, den Leser mit einer nackten These zu provozieren: Im Sinne
indeterministischer Freiheit verstanden, ist die Freiheit der Willensbildung gerade
nicht Voraussetzung des Schuldvorwurfs, sondern das, was ihn verböte. Nicht das in-
deterministische – das deterministische Menschenbild ist die allein tragfähige
Grundlage unseres Schuldstrafrechts.
Ich hoffe auf das Umfeld und die Gelegenheit, darüber mit meinem Freund Rein-
hard Merkel weiter zu streiten. Hier habe ich ja, bei allem Beifall, damit begonnen.
Aber ich kenne den Jubilar als einen Juristen und Philosophen von Rang. Sein wis-
senschaftliches Ethos heißt den Widerspruch, der sich um Gründe bemüht, genauso
willkommen wie die Zustimmung. Hab ich nicht in einem ersten brieflichen Kontakt
mit dem jungen Kollegen, der damals noch Assistent war, ein wenig von oben herab
gesagt, er sei da oder dort „mit seinem Latein am Ende“? Wenn er es jemals war, in
Sachen „Willensfreiheit und rechtliche Schuld“ ist er es gewiss nicht, und es würde
mich freuen, wenn er meinem Widerspruch widerspräche, sei es auf einem Podium
oder in gedruckter Form. Denn seine Schriften zu lesen, ihm zuzuhören und zu ant-
worten ist seit langem ein wichtiger Teil meines rechtswissenschaftlichen Bemü-
hens. Ihn und mich verbindet vor allem auch die langjährige Zusammenarbeit in Se-
minaren, die unsere Freundschaft begründet haben. Sie waren geprägt von seiner Elo-
quenz, Phantasie und angloamerikanischen Kasuistik. Ich habe von Reinhard Merkel
viel gelernt, und ich verdanke ihm wie wenigen anderen den Reichtum und die
Schönheit meines Berufes.

43
(Fn. 11), S. 547.
44
Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1991, 18/1 (Hervorhebungen von mir).
Zur Feststellung schwerer seelischer Abartigkeit,
oder: Wieviel Selbstreferentialität
verträgt die Schuld?
Von Thomas Fischer

I. Einleitung
Ob, wann und warum der Mensch frei, die Tat böse, die Schuld groß und die Strafe
gerecht seien, sind Fragen von über die Zeit nicht nachlassender Aktualität, deren
Stellen und Beantworten ein erheblicher Anteil von Selbstreferentialität innewohnt.
Das liegt, sozusagen, in der Natur der Sache, und ähnelt insoweit der ewigen Frage,
was Soziologie sei. Die intuitive Erfahrung sagt, dass Juristen besonders große
Schwierigkeiten damit haben, Rückbezüglichkeit als solche zu erkennen, weil
dies zur Folge hat, dass der eigene Standort sich aufweicht und zum Gegenstand un-
sicherer Prozesse wird. Entgegengesetzt werden der Ungewissheit zum einen Begrif-
fe, zum anderen Methoden. Beides ist unvermeidlich, mildert den Schmerz aber nur
ab, der aus der Notwendigkeit entsteht, eine dynamisch-chaotische Wirklichkeit mit
Begriffen zu beschreiben, die ihrer Intention nach auf Vorhersehbarkeit und Steue-
rung abzielen. Ein beispielhafter Ort dieses Konflikts ist die „Schuldfähigkeit“. Ihre
begriffliche Entwicklung aus der Zurechnungsfähigkeit verdunkelt den Focus eher
als ihn zu erhellen, denn der Begriff „Schuld“ verlegt den Ort des Geschehens
ganz ins Innere, während „Zurechnung“ ihn externalisiert und so deutlich macht,
um was es in Wahrheit geht. Im Folgenden soll die – keineswegs neue – Problemlage
noch einmal am Beispiel sexueller Devianz verdeutlicht werden.

II. Recht und Wirklichkeit


„Schuld“ setzt, damit das (Straf-)Recht sich damit befasst, rechtswidrige Taten
voraus. Schon in diesem schlichten Axiom liegen die Probleme verborgen, denn
„Taten“ sind nicht natürliche Geschehnisse, sondern Handlungen, die rechtliche
(Tatbestands-)Merkmale verwirklichen. Das Strafrecht geht also zunächst mit Wahr-
heiten um, nicht mit Wirklichkeiten. Deshalb ist es erforderlich, beides voneinander
zu trennen und zugleich genau zu wissen, wo die Grenze verläuft und nach welchen
Kriterien der Übergang von der einen Sphäre (Wirklichkeit) in die andere (Wahrheit)
erfolgen muss, um jeweils in einer „konkreten“ sozialen (gern „historischen“) Kon-
396 Thomas Fischer

stellation Geltung zu erlangen. Die Schuld und namentlich ihr postulierter Ursprung
in der Schuld-„Fähigkeit“ sind insoweit besonders sperrig.
Am einfachsten wäre es, wenn alles in eins fallen würde: Abweichung, Störung,
Tatbestand und Schuld oder Unschuld. Der 2. Strafsenat des BGH, dem der Verf.
17 Jahre lang angehörte, hat hierüber (mindestens) einmal diskutiert, und zwar im
Fall des so genannten „Kannibalen von Rotenburg“ (Beschluss vom 22. April
2005 – 2 StR 310/041; zweiter Durchgang: Beschluss vom 7. Februar 2007 – 2 StR
518/062). Der Senat hat damals das erste Urteil des LG Kassel auf die Revision
der Staatsanwaltschaft aufgehoben, weil die Voraussetzungen des Mord-Tatbestands
nicht fehlerfrei geprüft worden waren. Die im zweiten Durchgang erfolgte Verurtei-
lung wegen Mordes in Tateinheit mit Störung der Totenruhe wurde rechtskräftig, die
Revision des Angeklagten verworfen. Damit wurde die Feststellung des LG bestätigt,
dass zur Tatzeit weder die Einsichts- noch die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten
erheblich beeinträchtigt gewesen seien.3 In der Beratung des Senats wurde damals
erörtert, ob diese Annahme möglich und tragfähig begründet sei oder ob sich sozu-
sagen schon aus der Qualität der Tat selbst die Annahme aufdränge, die Schuldfähig-
keit des Täters müsse (mindestens) eingeschränkt sein. Hierbei war die Besonderheit
zu beachten, dass der Angeklagte sich im Rahmen seiner sexuell-kannibalistischen
Tatmotivation und Ausführung überaus kontrolliert, abwägend und planend verhal-
ten hatte, etwa indem er früher begonnene Tatausführungen auf Einwände von prä-
sumtiven Opfern bereitwillig abbrach. Eine Einschränkung der Steuerungs-Fähigkeit
lag also, wenn Einsicht gegeben war4, keinesfalls nahe. An der Einsicht konnte man
unter Umständen Zweifel haben. Das LG hatte sich allerdings auch mit diesem Ge-
sichtspunkt rechtsfehlerfrei auseinandergesetzt.
Es gab, zeitlich nicht weit entfernt, einen zweiten (mutmaßlichen) „Kannibalen“-
Fall beim 2. Strafsenat: 2 StR 367/045 (LG Frankfurt am Main). Er war von anderen
Rechtsfragen bestimmt, hatte aber durchaus auch ähnliche Implikationen. Das Land-
gericht hatte festgestellt, die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten sei möglicherweise
voll erhalten, möglicherweise gänzlich aufgehoben gewesen. Im Zweifel sei daher
von der Schuldunfähigkeit des Angeklagten auszugehen. Es hatte den Angeklagten
freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an-
geordnet. Die „nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen“, denen es
sich angeschlossen hatte, waren wie folgt wiedergegeben:
„Insgesamt wirke der Angeklagte in seinem Gesamtverhalten hoch auffällig. (…) Der Zu-
stand des Angeklagten gehe über eine bloße Persönlichkeitsstörung deutlich hinaus (…)

1
BGHSt 50, 80 = NStZ 2005, 505.
2
Zur Verfassungsbeschwerde siehe BVerfG, Beschl. v. 7. 10. 2008 – 2 BvR 578/07.
3
Vgl. dazu u. a. Kreuzer, StV 2007, S. 598; Mitsch, ZIS-Online 2007, S. 197; Momsen/
Jung, ZIS-Online 2007, S. 162.
4
Bei Fehlen von Einsicht kann es auf die „Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln“
(Steuerungsfähigkeit), nicht ankommen.
5
Beschl. v. 22. 11. 2004 – 2 StR 367/04, BGHSt 49, 347.
Zur Feststellung schwerer seelischer Abartigkeit 397

Auch eine klassische schizophrene Psychose und mithin eine Geisteskrankheit im engeren
Sinne liege (…) nicht vor. Bei der Störung des Angeklagten handle es sich um eine solche,
welche zwar in seiner Persönlichkeitsstörung verankert sei, jedoch schizophrenietypische
Züge trage. Die schizotype Persönlichkeitsstörung sei entweder unter das Eingangsmerkmal
der krankhaften seelischen Störung oder unter das der anderen seelischen Abartigkeit zu fas-
sen (…) Aufgrund der festgestellten Erkrankung des Angeklagten sei seine Steuerungsfä-
higkeit zumindest erheblich vermindert, möglicherweise auch ausgeschlossen. Hinsichtlich
der Einsichtsfähigkeit sei von deren vollen Erhalt bis hin zu deren völligen Verlust alles
denkbar (…)“

Der 2. Strafsenat hat die Entscheidung aufgehoben, weil das LG sich auf der ge-
nannten Grundlage nicht ohne Weiteres der Wertung des Sachverständigen habe an-
schließen dürfen.6 In beiden Fällen hat der BGH entschieden (bzw. unterstellt), dass
aus der bloßen Qualität einer Abweichung keinesfalls ohne Weiteres auf die Ebene
der Schuldfähigkeits-Beurteilung geschlossen werden könne, denn sonst würden
zwei Differenzierungs- und eine Wertungs-Ebene übersprungen: die Unterscheidung
zwischen Abweichung und „psychischer Störung“, die Unterscheidung zwischen
Störung und Schuldfähigkeitsvoraussetzung sowie die konkrete Bewertung der Stö-
rung im Hinblick auf Tat und Tatzeitpunkt. Ergänzend ist auf das Merkmal der „Er-
heblichkeit“ in § 21 StGB hinzuweisen, das nach ständiger Rechtsprechung ein
Rechtsbegriff ist und eine merkwürdige Zwischenstellung im Verhältnis von § 20
zu § 21 einnimmt: Schuld-Fähigkeit als Einsichts- oder7 Steuerungsfähigkeit ist ent-
weder gegeben oder nicht. Die in § 21 erwähnte Erheblichkeit ist nur als Bestimmung
der „Einschränkung“ und diese nur als Nicht-Aufhebung von Belang. Für die Ein-
sichts-Komponente ist (vgl. § 17 StGB) zwischen der Fähigkeit und dem tatsächli-
chen Vorhandensein zu unterscheiden.
Dem Modell der „Schuldfähigkeit“ in §§ 20, 21 scheint also zum einen eine zwei-
säulige (Einsicht; Steuerung) quantitative Skala von „vollständig vorhanden“ bis
„gerade noch vorhanden“ zugrunde zu liegen, zum anderen eine Zweiteilung in „vor-
handen“ und „nicht vorhanden“. Impliziert ist damit eine quantitative Differenzier-
barkeit des Bereichs „vorhanden“, wobei allerdings die Maßeinheiten ebenso wie die
empirische Zugänglichkeit nicht in abstrakter Form benannt werden können, sondern
sich aus konkreten Analogien ergeben: Wie genau sich etwa die Unrechtseinsichts-
Fähigkeit oder die Hemmungs-Fähigkeit (Steuerungsfähigkeit) eines Menschen vom
Zustand vollständiger Normalität (Gesundheit?) bis zur Grenze der „gerade noch
vorhandenen“ Feststellbarkeit vermindert und wie sich dies hinsichtlich der tatsäch-
6
Anmerkung: Besonderheit an diesem Fall war, dass die Staatsanwaltschaft keine Revi-
sion eingelegt hatte. Wäre also im zweiten Durchgang volle Schuldfähigkeit festgestellt
worden, hätte nach damaliger Rechtslage wegen des Verbots der reformatio in peius keine
Unterbringung, aber auch keine Strafe angeordnet werden können. Dieser Fall führte dazu,
dass der Gesetzgeber die Vorschrift des § 358 StPO ergänzt hat (Gesetz vom 16. 7. 2007, BGBl
I S. 1327).
7
Entgegen vielfach missverständlichen Formulierungen geht nicht beides zugleich: „Nach
einer Einsicht zu handeln“ vermag nur der, der eine solche hat. Wer keine Unrechtseinsicht
hat, ist nicht steuerungsunfähig (vgl. § 17 StGB), da es schon am Steuerungsanlass fehlt.
398 Thomas Fischer

lich gegebenen Umsetzung dieser „Fähigkeiten“ verhält, bleibt weithin im Dunkel


der Grenzbestimmungen. Hinzu kommt der Umstand, dass schon durch § 17
StGB eine ausdrückliche normative Einschränkung der Säule „Einsicht“ erfolgt,
so dann man sich das Modell schematisch wohl etwa wie folgt vorstellen kann:
Einsichtsfähigkeit Tatsächliche Steuerungs- Tatsächliche Folge
Einsicht fähigkeit Steuerung
vorhanden: vorhanden vorhanden vorhanden Schuld
graduell von voll- graduell von
ständig >> bis gera- vollständig >>
de noch bis
gerade noch
vorhanden, aber vorhanden vorhanden vorhanden Schuld
erheblich einge-
schränkt
vorhanden, aber fehlt vorwerf- entfällt* entfällt* verminderte
erheblich einge- bar Schuld8
schränkt
vorhanden, aber fehlt nicht Entfällt* Entfällt* Unschuld
erheblich einge- vorwerfbar
schränkt
vorhanden vorhanden vorhanden erheblich ein- Schuld
geschränkt
vorhanden vorhanden erheblich ein- erheblich ein- verminderte
geschränkt geschränkt Schuld
vorhanden vorhanden erheblich ein- erheblich ein- verminderte
geschränkt geschränkt Schuld
vorhanden vorhanden fehlt fehlt Unschuld
fehlt fehlt Entfällt* Entfällt* Unschuld
* Siehe Fußnote 7

III. Abweichung und Störung am Beispiel sexueller Devianz


„Sexualität“ – gemeint: sexuelle Motivation, sexuelles Handeln oder gedankliche
Befassung mit Sexualität – gerät grundsätzlich nur dann in das Blickfeld der straf-
rechtlichen Terminologie von der „seelischen Abartigkeit“ (§ 20), wenn sie in
einem möglichen Zusammenhang mit der Verwirklichung von Straftatbeständen
steht:
- Ein Tatbestand kann gerade die Vornahme einer spezifisch sexuellen Handlung
voraussetzen (Beispiel: § 176, § 177);

8
Vgl. z. B. BGH NStZ-RR 2013, 71; ständ. Rspr.
Zur Feststellung schwerer seelischer Abartigkeit 399

- Ein sexuell unspezifischer Tatbestand kann durch sexuelle Interessen motiviert


sein (Beispiel: Diebstahl, Raub, Hausfriedenbruch). Übergänge bestehen etwa
bei Körperverletzung (§ 223) oder Beleidigung (§ 185).
- Eigene oder fremde Sexualitätsbezogene Handlungen oder Motive können Inhalt
anderweitig motivierter Taten sein (Beispiele: Menschenhandel, Zwangsprostitu-
tion, Zuhälterei);
- Sexualitätsbezogene Persönlichkeitsmerkmale können mittelbar zu kriminogenen
Situationen und/oder Tatgeneigtheit führen (also etwa sexuelle Präferenzen als
Grundlage kriminogener sozialer Zusammenhänge); oder
- Psychische Einschränkungen (etwa: Intelligenzminderungen) können mit sexual-
bezogenen Abweichungen verbunden sein und insoweit zu Rechtsgutsverletzun-
gen im Sexualbereich führen.
Mit dieser – nicht abschließenden – Aufzählung ist vorausgesetzt, dass das
„bloße“ sexuelle Handeln oder So-Sein im Sinn einer personalen sexuellen Identität
keine „Tat“ im Sinne des Strafrechts und daher einer Bewertung unter Schuldfähig-
keits-Gesichtspunkten weder bedürftig noch zugänglich ist. Das gilt freilich nur im
Grundsatz und war auch unter der Geltung von § 20 StGB nicht stets selbstverständ-
lich: Bekanntlich ist erst im Jahr 1994 der frühere § 175 StGB – homosexuelle Hand-
lungen von Männern – aufgehoben worden. Er knüpfte zwar an „unzüchtige“ (bzw.
sog. „sexuelle“) Handlungen an und ließ die bloße „Disposition“ hierzu nicht ausrei-
chen. Er beinhaltete damit aber ein strafrechtlich sanktioniertes lebenslanges, abso-
lutes Verbot, die individuelle sexuelle Identität jenseits purer Fantasie jemals zu rea-
lisieren. Die postulierte Rechtsverletzung war dabei einerseits auf das Rechtsgut der
„Sittlichkeit“ gestützt, andererseits auf die Annahme, Homosexualität bei Männern
sei eine Art ansteckende Krankheit, von welcher man die Betroffenen „heilen“ könne
oder solle und die Jugend schützen müsse.9 Dies gilt heute, soweit es § 175 aF angeht,
als menschenrechts- und menschenwürdewidriger Eingriff in personale Freiheit. Da-
nach ist es von vornherein grundrechtswidrig, Personen die bloße Verwirklichung
ihres existenziellen „So-Seins“ lebenslang bei Strafandrohung zu verbieten, wenn
es keine „weiter gehenden“ Rechtsgüter verletzt oder gefährdet. Das ist, nach
heute fast allgemeiner Ansicht, bei einverständlichen sexuellen Handlungen zwi-
schen Erwachsenen nicht der Fall. Diese Annahme erlangt ihre Legitimation freilich
nicht aus sich selbst heraus. Sie hat vielmehr nur Gewicht, wenn man die sexuelle
Präferenz „(männliche) Homosexualität“ von vornherein als rechtsguts-indifferent
definiert und weder unter dem Gesichtspunkt der „Verführung“ noch unter dem
von sozial bedingten Sekundär-Gefahren10 für strafrechts-relevant hält.

9
Vgl. etwa noch die Kommentierung in Dreher/Tröndle, Strafgesetzbuch und Nebenge-
setze (Kommentar), 46. Auflage (1991), Rdn. 1 zu § 175, und Tröndle, 48. Auflage (1997),
Rdn. 3a zu § 182.
10
Etwa durch hohe Promiskuität, verbreitete praktische Formen der sexuellen Betätigung,
Gefährdungen durch soziale Randgruppen-Phänomene.
400 Thomas Fischer

An anderer Stelle wird dies nicht mit derselben Gewissheit postuliert. Das gilt vor
allem für pädophil orientierte Sexualität, die in weiten Teilen der Gesellschaft ent-
weder gar nicht als Menschenwürde-konnotiertes „So-Sein“ akzeptiert oder trotzdem
mit „krimineller Veranlagung“ und mit Taten nach §§ 176 ff., 174, 182 StGB gleich-
gesetzt wird.11 Das hat insoweit einen rationalen Kern, als die genannten Tatbestände
sich auf plausibel postulierte Verletzungen (jedenfalls nahe liegende Gefährdungen)
personaler Rechtsgüter beziehen (sexuelle Selbstbestimmung; sog. „ungestörte Ent-
wicklung“ von Kindern; ggf. Jugendlichen). Es gerät aber an seine Grenzen, soweit
dieser Rechtsgutsbezug weithin oder „tendenziell“ aufgelöst wird: Etwa beim Tat-
bestand des Besitzes oder des Sich-Verschaffens von kinderpornografischen Schrif-
ten (bzw. dem Versuch dazu; § 184b), soweit er auch allein virtuelle, für den allein
individuellen Gebrauch bestimmte Schriften betrifft. Hier wird der Bezug zum
Rechtsgut besonders weit abstrahiert.12 Dasselbe gilt für Verbreitung (i.w.S.) von
tier-pornografischen13 Schriften, die ausnahmslos das Herstellen, Erwerben und Ver-
breiten (an Erwachsene mit deren Einverständnis oder auf deren Verlangen) von Dar-
stellungen von Handlungen verbieten, die ihrerseits straffrei sind (§ 184a). Auch die
geschlechtsspezifische – man wird wohl sagen müssen: offen sexistische –, in Legi-
timität und praktischem Sinn zweifelhafte Strafvorschrift des § 183 StGB (Exhibi-
tionismus als Vorzeigen von primären Geschlechtsmerkmalen durch Männer zum
Zweck [eigener] sexueller Erregung) ist hier zu nennen; ebenso § 183a StGB (öffent-
liches Ärgernis14).
Zu unterscheiden ist zwischen Abweichung (im sozialen / empirischen) und Stö-
rung (im klinischen Sinn). Diese Differenzierung ist für das Strafrecht zumindest von
mittelbarer Bedeutung, impliziert aber wiederum die Annahme, dass nicht aus dem
Vorliegen einer Abweichung vom empirisch „Normalen“, Durchschnittlichen oder
Üblichen ohne Weiteres in eine Prüfung der rechtlichen Wertungen der §§ 20, 21
StGB gesprungen werden darf. Dies geschieht in der forensischen Praxis gern
unter dem Begriff der „Paraphilie“. Der 5. Strafsenat des BGH hat hierzu – beispiel-
haft – in einem Beschluss vom 19. 2. 199815 ausgeführt16:

11
Für die außerstrafrechtliche soziale Sanktionierung gilt dies in besonders hohem Maß.
Erinnert sei an den Fall des Politikers Edathy im Jahr 2014, für den die Einleitung eines
Ermittlungsverfahrens und die Erhebung einer Anklage wegen des Verdachts des (pädophil
motivierten) Sich-Beschaffens von jugendpornografischen Bildern zur vollständigen sozialen
Ausgrenzung und zum Verlust der bürgerlichen Existenz führte. Das Verfahren wurde gem.
§ 153 Abs. 2 StPO gegen Zahlung einer Geldbuße an den Deutschen Kinderschutzbund ein-
gestellt. Der begünstigte Kinderschutzbund weigerte sich aus Protest gegen die Einstellung,
die Zahlung anzunehmen.
12
Man könnte auch die geplante (Stand: 30. 09. 2019) Versuchsstrafbarkeit des sog. „Cy-
bergroomings“ gem. § 176 Abs. 6 hier einordnen.
13
Und auch gewalt-pornografischen.
14
Mit zahlreichen dogmatisch unklaren Varianten, in der Strafverfolgungs-Praxis aber fast
ausschließlich sexual-bezogen.
15
Beschluss vom 19. Februar 1998 – 5 StR 605/97, NStZ-RR 1998, S. 174.
16
Die Entscheidung betraf § 63 StGB.
Zur Feststellung schwerer seelischer Abartigkeit 401

Leitsatz 3:
„Mit der Umschreibung einer Persönlichkeitsstörung als ,Paraphilie mit sadistischer Prä-
gung‘ allein ist noch nicht hinreichend dargetan, dass der Zustand des Angeklagten auch
den Grad einer schweren seelischen Abartigkeit erreicht.“

Das entspricht ständiger Rechtsprechung. Bei näherem Hinsehen enthält die For-
mulierung allerlei Unwägbarkeiten: Ein „Grad“ ist ein quantitativer, kein qualitati-
ver Begriff. Als Qualität (Frage: Grad von Was?) nimmt der Senat offenbar den Ge-
setzesbegriff „Zustand“ in Bezug, der als solcher unbestimmt ist und auf eine irgend-
wie beschaffene psychologisch-individuelle Existenz und damit letztlich zirkulär auf
seine eigene Folge verweist, indem es in § 63 Abs. 1 StGB heißt: „Hat jemand im
Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit eine rechts-
widrige Tat begangen …“.
Mit anderen Worten: „Paraphilie“ ist – so der 5. Strafsenat – ein „Zustand“. Dieser
kann – quantitativ! – einen „Grad erreichen“ (oder auch nicht), der ebenfalls ein „Zu-
stand“ ist und „schwere seelische Abartigkeit“ heißt (also ein sog. „Eingangsmerk-
mal“ des § 20 StGB ist). Hieraus folgt, dass „schwere seelische Abartigkeit“ eine
quantitative Stufe des Zustands der Paraphilie ist: Auf einer gedachten (quantitati-
ven) Skala von paraphilen Zuständen gibt es eine Grenz-Markierung, unterhalb
derer eine „schwere seelische Abartigkeit“ nicht gegeben ist und oberhalb derer
sie vorliegt. Diese Grenze ist ausdrücklich allein vom „Grad“ abhängig und enthält
in der genannten Definition kein zusätzliches qualitatives oder rechtliches Filter-Kri-
terium.
Zugleich ist der „Zustand“ der Schwere (von Abartigkeit resp. von „Störung“)
aber nach dem Gesetz auch eine Maßeinheit von „Schuld-Unfähigkeit oder vermin-
derter Schuldfähigkeit“ (§ 63 Abs. 1 StGB) – also von zwei Wertungsstufen, die im
Gesetz ihrerseits als „Zustände“ bezeichnet werden. Letztere Formulierung ist min-
destens missverständlich, denn „Schuld“ ist kein empirischer „Zustand“, sondern
eine soziale (und nicht medizinische!) Bewertung. Ob „Schuld“ gegeben ist oder
nicht, ist also keine Frage eines quantitativen, empirisch messbaren „Grades“ irgend-
einer (Störungs-)Substanz. Daher kann „Fähigkeit zur Schuld“ im Grundsatz ähnlich
wenig eine unmittelbare empirische Entsprechung von Schuld sein, wie „Wahrheits-
fähigkeit“ einer Person die Voraussetzung von Philosophie sein könnte. Es gibt keine
unmittelbare Ableitung des Sollens aus dem Sein. „Schuld“ ebenso wie Schuld-Fä-
higkeit können überdies nur in Bezug auf ein bestimmtes Verhalten (eine „Tat“)
wahrgenommen und gemessen werden. Das ergibt sich grundsätzlich schon aus
dem Begriff selbst und findet in § 20 StGB im Koinzidenzprinzip seinen Ausdruck.
„Fähigkeit zur Schuld“ – also zur „Verantwortung“ oder zur „Zurechnung“17 – ist
im geltenden Strafrechtssystem ein existenziell an die Qualität als Mensch geknüpf-

17
Das ist sprachlich nicht ganz dasselbe: „Schuld haben“ oder „schuldig sein“ hat eine
aktivische Konnotation: Die Schuld kommt aus dem Subjekt. „Verantwortung“ und erst recht
„Zurechnung“ sind dagegen passiv konnotiert: Sie kommen von außen auf das Subjekt.
402 Thomas Fischer

tes, insoweit also normatives Postulat: Tiere18 oder Roboter sind (jedenfalls derzeit)
nicht „schuldfähig“, mögen sie noch so intelligent sein oder noch so viel „Einsicht in
das Unrecht“ ihres Tuns haben.19 Im Bereich des Mensch-Seins (also einer Qualität)
wird zwischen Kindern (bis 14 Lebensjahre) und Nicht-Kindern (ab 14 Lebensjahre)
unterschieden, wobei diese Differenzierung nicht eigentlich qualitativ begründet ist,
sondern in abstrahierender Weise an quantitative Postulate anknüpft („Reife“). Das
ist der Grund, warum zwar eine Senkung der Altersschwelle der Schuldfähigkeit
(etwa: auf 12 Lebensjahre) ernsthaft diskutiert wird, nicht aber etwa die Einführung
einer Schuldfähigkeit von Kampfhunden.
Oberhalb der Schwelle gelten gemischt empirisch-normative Maßstäbe: Schuld-
Fähigkeit als normativer Begriff bezieht sich auf einen empirisch ermittelten „Nor-
mal“-Zustand, der als „Gesundheit“ definiert ist und als durchschnittliche Motivati-
onsfähigkeit bei stabilisierungsfähigem Verhältnis von Frustration und Belohnung
beschrieben werden könnte. Das Charakteristische im normativen Umgang mit die-
ser Marke ist, dass ihr nach oben keine Abstufungen zukommen, nach unten aber un-
endlich viele bis zur Untergrenze der „Unfähigkeit“. Man kann also zwar empirisch
besonders unrechtssensibel oder verantwortungsempfänglich sein, nicht aber „be-
sonders schuldfähig“.20 Die Untergrenze der „Unfähigkeit“ wird als vollständiges
Heraustreten aus dem als „Normal“ und „gesund“ angesehenen Motivationssystem
verstanden. Hier finden sich also der „Wahnsinn“ und die „Verrücktheit“, die in der
neueren Rechtsprechung nurmehr als quantitativ-graduelle Disposition angesehen
werden: „Allgemeine Diagnosen“ etwa von Schizophrenie, Bipolarer Störung
oder Wahnerkrankung reichen ebenso wenig wie die Feststellung hirnorganischer
Defekte aus, um über „Schuld“(-Fähigkeit) zu entscheiden.21
Insoweit kann man also vorläufig zusammenfassen, dass die normative Struktur
des Rechts, die nur locker an Alltagserfahrungen sowie an soziale und politische Pos-
tulate geknüpft ist22, sich für die Zurechnung ihres hauptsächlichen Gegenstands, der

18
Vgl. dazu Schumann, „Tiere sind keine Sachen“ – Zur Personifizierung von Tieren im
mittelalterlichen Recht, in: Herrmann (Hrsg.), Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen
Kolloquium, 2008 – 2009, 2009, S. 181.
19
Was jedenfalls Hunde-, aber auch andere Haustierhalter bekanntlich – nicht selten mit
einiger Plausibilität – nachhaltig behaupten. Erst recht zweifelhaft scheint es, eine klare
Grenze zwischen der Schuld-Unfähigkeit von großen Menschenaffen und der Schuld-Fähig-
keit von Menschen bestimmen zu wollen. Wenn Empathie, Normativität und „Charakter“ –
neben „Freiheit“ des Willens, also Selbstreflexion – bestimmende Elemente der Letzteren sein
sollten, wird die Abgrenzung überaus schwierig.
20
Was aus Sicht der forensischen Psychiatrie eine Ungerechtigkeit, jedenfalls eine Zu-
mutung bedeuten könnte: Wer zur Tat-Begehung eine besonders hohe Schwelle überschreiten
musste und erfolgreich überschritten hat, könnte als besonders „heilungs“- und korrekturbe-
dürftig angesehen werden.
21
Vgl. etwa BGH NStZ-RR 2008, 39; 2012, 306; 2016, 239; NStZ 2012, 98.
22
In einer Agrar-Gesellschaft mit dominierendem Anteil einfachster (Hand)Arbeit und
starren Klassengrenzen ist die Zahl der sozialverträglich integrierbaren Narren, Idioten und
Wunderlichen viel größer als in hoch arbeitsteiligen städtischen Sozialwesen.
Zur Feststellung schwerer seelischer Abartigkeit 403

Schuld, einer Rationalität der medizinisch-psychologischen Empirie bedient: Wenn


es keine strafrechtliche Schuld ohne Schuldfähigkeit gibt und diese durch das „ge-
sunde“ Funktionieren des Gehirns gekennzeichnet ist, kann die Tatschuld (§ 20
StGB) nur als Verhältnis eines Gehirnzustands zu einer Handlung gemessen werden.
Kranke Gehirne produzieren zwar „Taten“, aber keine Schuld, weil sie hierzu nicht
„fähig“ sind. Das hat man früher bekanntlich anders gesehen, ist heutzutage aber
nicht mehr mit Aussicht auf Erfolg bestreitbar. Auch im Verhältnis von Paraphilie
(einem wie auch immer, aber eindeutig klinisch/empirisch definierten Abwei-
chungs-Zustand) und „schwerer Abartigkeit“ (einem gleich doppelt uneindeutig nor-
mativ bestimmten Fähigkeits-Zustand), liegt die Abgrenzungsproblematik zwischen
normativen und empirischen Maßstäben auf der Hand. In der Praxis wird sie noch
ergänzt durch eine intellektuell eher schlichte Rückkopplung, die quasi einen Bypass
zwischen einer sozial-„lebensweltlichen“ Abweichungs-Feststellung und einem nor-
mativ gefilterten Standard herstellt.
Man muss also jedenfalls zwischen „Paraphilie“ (empirischer Abweichung),
„Störung“ (klinischer Diagnose) und „Abartigkeit“ (kriminologischer Ätiologie) un-
terscheiden.23
Ich zitiere insoweit aus einem Aufsatz von Peer Briken zur Manual-gestützten De-
finition paraphiler Störungen24:
„Das Ausmaß der Assoziation zwischen paraphiler Störung und Sexualdelinquenz hängt
selbstverständlich davon ab, wie diagnostische Kriterien aufgebaut sind und wie hoch
oder niedrig die Schwelle für die Erfüllung dieser Kriterien angesetzt wird. Die Konstruk-
tion einer Diagnose ohne eindeutige Ätiologie kann nicht unabhängig von sozialen Normen
sein und ist in sich wandelnde gesellschaftliche Prozesse eingebettet. Es gibt jedoch wohl
kaum eine andere Gruppe von Störungen, in der die Vermischung und die Gefahr einer Ver-
wechslung von kriminellem Verhalten mit einer psychischen Störung so deutlich sind.“

IV. Recht und Wahrheit


Das Verhältnis zwischen dem Wertungs-System des Rechts und dem Wahrheits-
System der (Psycho)Wissenschaft ist kompliziert: Zum einen hat das normative Sys-
tem sich auf der Grundlage des neuzeitlichen Rationalitäts-Parameters für die norm-
freien, im Ergebnis jeweils neuesten Erkenntnisse der Naturwissenschaften geöffnet.
Begriffe und Vorstellungen von Schuld, Verantwortung, Vertreten-Müssen, Versagen
und Bewähren, Abweichung und Zufriedenheit, Gnade und Wahnsinn haben sich
hierdurch in ihren Fundamenten verschoben.25 Wenn Schuld nicht eine Funktion
23
Ein Referentenentwurf des BMJV (Stand: September 2019) schlägt vor, den Begriff der
„Abartigkeit“ aus Gründen der sprachlichen Modernisierung durch den der Störung zu erset-
zen, hält also beides offenbar für in der Sache identisch (Art. 1 Nr. 4 RefE).
24
Briken, FPPK 2015, S. 140.
25
Vergleichbar etwa der bildlichen Wirklichkeits-Definition durch Erfindung der Foto-
grafie.
404 Thomas Fischer

von „Seele“, sondern von „Gehirn“ ist und Richter nicht von Gott Beauftragte sind,
sondern Sachwalter gesetzespositivistischer Gewalt, verliert der Begriff der Schuld
zwangsläufig seinen Halt im kategorisch Qualitativen und rutscht auf die Ebene einer
(biologischen) Maschinen-Funktion herab, die ihrerseits zum Gottersatz aufsteigt:
Der blinde Seher ist durch Algorithmen der Blindheit ersetzt. Wenn morgen die Wis-
senschaften der Magnetresonanz-Tomographie und der Neurologie eine empirisch
plausibel gestützte neue Hypothese der menschlichen Norm-Erkennung fänden,
wäre die Rechts-Wissenschaft (eher: Dogmatik) diesem Ereignis vollständig ausge-
liefert. Die Senate des Obersten Gerichtshofs könnten, allenfalls, noch eine Weile
Sprachnebel des „Einerseits – Andererseits“, der angeblich wissenschaftlichen „Um-
strittenheit“ und des vorläufigen „Dahinstehen-Könnens“ verströmen. Aber der
Keim des Legitimitäts-Zerfalls wäre gesetzt. Er kann, da er im Rahmen des Ratio-
nalitäts-Systems wirkt, auf Dauer nicht verdrängt werden.26
Zum anderen versucht das normativ-politische Rechts-System, das empirisch-ra-
tionale Wahrheits-System nur in den Grenzen des Ersteren zuzulassen. Wir finden
das etwa in der zirkelhaften Formulierung, eine „Störung“ könne nur dann eine
„schwere Abartigkeit“ sein, wenn sie ebenso schwer sei (denselben Grad der Störung
erreiche) wie eine Krankheit (also ein „Zustand“, der seinerseits über den Begriff der
Störung relativiert ist). Es liegt auch den (jedenfalls scheinbar) starren Rechtsfolgen-
grenzen der §§ 20, 21 StGB (volle Strafe, fakultativ ermäßigte Strafe, Straffreiheit)
zugrunde. Das erinnert – ein wenig polemisch formuliert – an Methoden der katho-
lischen Kirche, die Forderungen des Heiligen Geistes zu Bedingungen für die Gel-
tung quantitativ-kapitalistischer Rationalisierung zu erklären.
In jedem Fall setzt eine angebliche „Synchronisierung“ von Sollen und Sein –
unter der offenkundigen Bedingung, dass am Ende Ersteres nichts und Letzteres
alles bedeute – sinn-strukturierende, kommunikativ legitimierende Filter der Über-
setzung voraus. Sie bleibt auf Dauer konflikthaft. Dies ist der Grund, warum die Dis-
kussion um die neurologische Erforschung so genannter Willensfreiheit in der
Rechts-Wissenschaft so große Beunruhigung ausgelöst hat. Sie bleibt hier – in sel-
tener Einheit von Praxis und Theorie – („vorerst“) aufgeschoben, weil sie offenkun-

26
Beispielhaft kann auf die dramatische Geschichte des sog. „genetischen Fingerab-
drucks“ verwiesen werden: Binnen 25 Jahren wandelten sich die DNA-Analyse-Ergebnisse
von vagen „Ergänzungen“ oder „Anknüpfungspunkten“ einer („selbstverständlich“) rein
„richterlichen“, also intuitiv-normativen „Gesamtwürdigung“ zu einem naturwissenschaftli-
chen Faktum, das in Urteilen so wenig erklärt werden muss wie die Funktion eines radar-
gestützten Messgeräts zur Geschwindigkeits-Feststellung. Wer eine DNA-Spur mit einer
Identitäts-Wahrscheinlichkeit von 1 : 10 Milliarden am Hals des erwürgten Opfers hinterlas-
sen hat, kann überflüssige Beweisanträge in der Regel vergessen. Die Senate des BGH, deren
Mitglieder ihre Sachkunde durch Anhörung von sachkundigen Molekularbiologen gewonnen
haben, bauen auch in ihre neuen Entscheidungen noch den Begriff „Gesamtwürdigung“ ein,
vergessen aber zu erwähnen, wie und nach welchen (gemeinsamen!) Kriterien man zwischen
naturwissenschaftlichen Fakten und intuitiven Überzeugungen eine „Gesamt“-Würdigung
vornehmen können sollte.
Zur Feststellung schwerer seelischer Abartigkeit 405

dig das normative Fundament in Frage stellen würde27: Die Bestimmung der neuro-
nalen Landkarte der Schuld ist, nach allerlei Experimenten mit Affen und Studenten,
vorerst suspendiert bis zum Zeitpunkt der Funktionabilität des postuliert unendlichen
Quanten-Rechners. Der Gedanke hieran ist im Übrigen nicht neu: Die zwei Vorlesun-
gen des Rechners „Golem XIV“28 von Stanislaw Lem wurden im Jahr 1973/1981 ge-
schrieben. Selbstverständlich ist mit dieser Auskunft aber bekannt gemacht, dass die
Grenze zwischen Normativität und Empirie selbst den Avanciertesten entgleitet und
dass die praktische Wissenschaft für die vorläufig Dummen ist.
Argumente gegen neurologische Zweifel an (so genannter) Willensfreiheit und
empirischer Schuld-Lokalisation sind nahe liegend. Auch auf naturwissenschafts-
ferner Ebene kann eingewandt werden, die Frage könne dahinstehen, weil es prak-
tisch nicht auf Freiheit, sondern auf Funktion und Selbstbeschreibung ankommt: Der
Mensch kann seit jeher und natur-bedingt immer nur „Ich“ denken und Verantwor-
tung nur „Ich“ zuschreiben. Hirnforscher können also nicht postulieren (und tun dies
auch nicht), sie selbst seien (als „Ich“) für die Ergebnisse ihrer Forschung nicht ver-
antwortlich.
Diese (polemische) Abwehr-Argumentation ist plausibel, weil und solange sie auf
der Ebene einer bloßen neurologischen Hypothese bleibt. Denn deren gesicherte Be-
stätigung, also eine tatsächliche Durchdringung der Ursachenzusammenhänge von
Gedanken- und Motivationsentstehung, müsste ja wiederum deren „natur“-wissen-
schaftliche, also technische Beeinflussbarkeit, Reparierbarkeit und Falsifizierbarkeit
postulieren. Das ließe sich aber mit unserem Begriff von „Schuld“ gar nicht verein-
baren, daher auch nicht mit dem Begriff von „Strafe“. Einen defekten Roboter zu „be-
strafen“, hat (vorläufig) keinen Sinn.29
Neurologische „Hirnforschung“ hat also, wie „künstliche Intelligenz“, Zugriff auf
Ablaufs-Kausalitäten, nicht aber auf Begründungen. Daher entzieht sich der Kern des
„Schuld“-Begriffs (und seine „natürlich“-soziale Konstruktion allemal) ihrem Hori-
zont meist schon konzeptionell.

V. Selbstreferenzialität
Es scheint, dass Darlegungen von Rechtsprechung und Wissenschaft zur Defini-
tion der „schweren seelischen Abartigkeit“ – unter dem Gesichtspunkt der Erheb-
27
Der Vatikan hat in 500 Jahren gelernt, dass weder die Heliozentrizität noch der Urknall,
die Atombombe oder die Quantenmechanik dem Heiligen Geist etwas anhaben können. Un-
terdessen hat sich allerdings die Schar derer, die diese normative Setzung als Existenzgrund-
lage ihres Lebens ansehen, um 99 Prozent verringert.
28
Oder: „Also sprach Golem“ (dt. Übersetzung 1984).
29
Der Androide „Ash“ in der Rolle des Verräters in dem Science-Fiction Film „Alien I“
(1979) wirft die Frage nach „Schuld“ auf. Diese bleibt allerdings in einer etwas albernen
Ambivalenz zwischen auslaufender Hydraulik-Flüssigkeit und quantengestützter Philosophie-
Simulation stecken und ungeklärt.
406 Thomas Fischer

lichkeit so genannter Zustände der Schuldfähigkeit – vielfach, wenn nicht überwie-


gend – selbstreferenzielle Formeln enthalten. Die Grundlage des Problems liegt nicht
im empirischen Bereich, sondern wird diesem von außen aufgezwungen, indem ein
normatives System ein genuin empirisches durch postulativen Fehlgebrauch zur Le-
gitimation des jeweils Gesollten benutzt. „Schwere Abartigkeit“ hat mit Klinischer
Diagnostik, bildlich gesagt, nicht mehr zu tun als „Gutes Essen“ mit Internistik.
Die übliche Definitions-Formel der Rechtsprechung für die schwere Abartigkeit
lautet
„Nicht pathologisch bedingte Störungen können nur dann Anlass für eine Unterbringung in
einem psychiatrischen Krankenhaus sein, wenn sie in ihrem Gewicht den krankhaften see-
lischen Störungen entsprechen und Symptome aufweisen, die in ihrer Gesamtheit das Leben
des Täters vergleichbar schwer und mit ähnlichen, auch sozialen, Folgen stören, belasten
oder einengen.“30

Es wird der Krankheits-Begriff also in einem spezifischen, eingeschränkten Sinn


verwendet, der auf einer überkommenen, aber inzwischen zweifelhaften Unterschei-
dung in „körperlich/ unkörperlich“ gegründet ist. Derselbe Terminus wird in ande-
rem Zusammenhang abweichend verwendet. Für das Strafrecht geht es, auf dem Hin-
tergrund kommunikativer Verständigungen, um normative Grenzen: Zwischen Ge-
fährlichem und Ungefährlichem (umgekehrt: dezidiert Schützenswertem und allge-
mein Verfügbarem), und zwischen Rechtsgüterschutz und Freiheit.
So ist die große Zahl höchstrichterlicher Entscheidungen zur Implementierung,
Abgrenzung, „Erläuterung“ und Substantiierung der (1) Schweren (2) Seelischen
(3) Abartigkeit, (die zu einem) (4) Zustand der (mindestens) (5) erheblichen Ein-
schränkung (von) (6) Normerkenntnis (oder) (7) Selbstkontrolle bei der Normbefol-
gung führt, vielfach zwar plausibel, aber in hohem Maß selbstreferenziell. Diese
Feststellung ist nach dem oben Gesagten nicht überraschend. Ich will sie anhand
einer – hier nur beispielhaft ausgewählten – Entscheidung des 4. Strafsenats des
BGH vom 11. April 2018 nochmals illustrieren31:
Das Landgericht hatte den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs
von Kindern in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Vergewaltigung, zu
einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt und seine
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die Revision des
Angeklagten führte mit der Sachrüge zur Aufhebung des Schuldspruchs und Zurück-
verweisung; die Tatsachenfeststellungen blieben aufrechterhalten. Zum Sachverhalt:
„Nach den Feststellungen des Landgerichts lockte der im Iran aufgewachsene Angeklagte,
der Mitte des Jahres 2016 im Alter von 24 Jahren als Flüchtling nach Deutschland gekom-
men und in einer Flüchtlingsunterkunft untergebracht war, zwischen Mitte September und
Anfang Oktober 2016 in zwei Fällen den damals neunjährigen, ebenfalls mit seiner Familie

30
Vgl. etwa BGHSt 37, 397, 401; 49, 45, 51 ff.; BGH NJW 2013, 181; NStZ 2009, 258,
259; NStZ-RR 2010, 7 f.
31
Beschl. vom 11. 4. 2018 – 4 StR 446/17, StV 2019, 232.
Zur Feststellung schwerer seelischer Abartigkeit 407

dort untergebrachten Nebenkläger in einen Duschraum der Unterkunft und vollzog an ihm –
in einem Fall unter Anwendung von Gewalt – jeweils den analen Geschlechtsverkehr. Der
Angeklagte litt etwa ab dem Alter von 17 Jahren unter nächtlichen Samenergüssen, wobei
diese möglicherweise auch lediglich das Resultat häufigen Masturbierens waren‘. Er wurde
deswegen im Iran einem Arzt vorgestellt, der eine Hypersexualität diagnostizierte und dem
Angeklagten das Medikament Androcur verordnete, das die Bildung von Sexualhormonen
unterdrückt. Weil der Vorrat des Angeklagten an Androcur während seiner Flucht nach
Deutschland aufgebraucht war, nahm er dieses Medikament seither nicht mehr ein (…)
Das Landgericht hat sich hinsichtlich der Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten
dem psychiatrischen Sachverständigen angeschlossen. Dieser hat ausgeführt, der Angeklag-
te weise eine leichte Intelligenzminderung auf. Darüber hinaus sei bei ihm ,angesichts der
angegebenen kontinuierlichen Medikation mit Androcur und der fremdanamnestischen An-
gaben der Eltern von einer Hypersexualität auszugehen‘. Zwar gebe die Sexualanamnese
hierauf keine Hinweise, dies sei aber durch Schamgefühle und die Tabuisierung dieses The-
menkreises im Iran erklärbar. Diesen Diagnosen folgend hat die Strafkammer angenommen,
dass der bei dem Angeklagten ,krankheitsbedingt bestehende und nun nicht mehr medika-
mentös regulierte starke Sexualtrieb auf infolge der intellektuellen Minderbegabung ohne-
hin herabgesetzte Möglichkeiten zur vernunftgesteuerten Triebregulation‘ getroffen sei. Bei
dem Angeklagten liege eine schwere andere seelische Abartigkeit vor, durch welche seine
Steuerungsfähigkeit im Zeitpunkt der Taten im Sinne des § 21 StGB erheblich vermindert,
aber nicht gemäß § 20 StGB aufgehoben gewesen sei (…)“32

Der BGH hat auf die die Sachrüge des Angeklagten das Urteil aufgehoben, weil
die Prüfung der Schuldfähigkeit und der Maßregelvoraussetzungen des § 63 StGB
durch das Landgericht rechtsfehlerhaft sei. Der Senat hat hierzu ausgeführt:
„Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in
§ 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich ver-
mindert war, erfolgt prinzipiell mehrstufig (…)
(1) Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische
Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psycho-
pathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist.
(2) Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale An-
passungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopatholo-
gischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der
Tatbegehung beeinträchtigt worden sein.
(3) Hierzu ist das Gericht jeweils für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachver-
ständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines
der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen
Befunds wie bei der Prüfung der aufgehobenen oder erheblich eingeschränkten Steue-
rungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit um Rechtsfragen.“33

Diese Sätze repetieren ständige Rechtsprechung, sind aber in der Sache (nur) ein
Postulat. Verfolgt man die im Beschluss angegebene Zitat-Spur, finden sich keine

32
Oben Fn. 31, Rdn. 2 bis 4.
33
Nummerierung durch den Verf.
408 Thomas Fischer

substanziellen Begründungen, sondern wiederum Repetitionen der Behauptung. Was


der Unterschied eines „gesicherten psychiatrischen Befunds“ zu einem „Eingangs-
merkmal“ im Sinn von § 20 ist, ist gerade die Frage. Sie muss umso mehr geklärt
werden, als sich hier ein Wechsel von einer Tatsachen- zu einer Rechtsfrage vollzie-
hen soll: Was genau prüft das Gericht, wenn ein „Befund“ vorliegt, um zur „Feststel-
lung“ (?) eines „Eingangsmerkmals“ zu gelangen? Schon die hier verwendeten Be-
griffe deuten darauf hin, dass die Merkmale nicht Rechtsfolgen von Befunden sind,
sondern die Befunde selbst unter anderem Namen. Entsprechendes gilt die die „Prü-
fung der aufgehobenen oder erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit“: Wel-
che Rechts-Norm ist hier zu prüfen? Wie gelangt das Gericht vom Befund zum
Recht?
Wenn Befunde psychiatrie-fachliche Bewertungen von Diagnosetatsachen sind,
und Eingangsmerkmale (z. B. Störung/schwere Abartigkeit) nichts anderes als
„Grade“ des Vorhandenseins solcher Tatsachen, und wenn das Gericht diese aus ei-
gener Sachkunde nicht klären kann, sondern zu ihrer Feststellung „angewiesen ist“
auf externen (naturwissenschaftlichen, nicht-normativen) Sachverstand (Ziffer 3),
bleibt für die (angeblichen) Rechts-Fragen im Ergebnis kein Raum: Welches
„Recht“ sollte noch „geprüft“ werden? Anders gefragt: Welcher genuin rechtliche
Gesichtspunkt, welches rein normative Kriterium soll zu prüfen und welche Rechts-
frage zu entscheiden sein, wenn der Sachverständige eine Störung bestätigt, die zu
einer Beeinträchtigung der psychischen Funktionsfähigkeit bei der Tat geführt hat?
Der BGH beantwortet diese Frage wie folgt:
„Deren Beurteilung (scil.: Die der Rechtsfrage) erfordert … Darlegungen dazu, in welcher
Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungs-
möglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts-
und Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat.“34

Die Entscheidung der „reinen Rechtsfrage“ setzt also voraus, den Kausalzusam-
menhang zwischen Störung, Funktionsfähigkeit („Handlungsmöglichkeit“) und
„damit“ Steuerungsfähigkeit „darzulegen“. Die Rechtsfrage, von welcher die
Rede ist, muss aber selbstverständlich zunächst von Tatrichter beantwortet werden,
und dieser benötigt nicht „Darlegungen“, sondern Tatsachen-Feststellungen. Aus
diesem (banalen) Erfordernis ergibt sich aber mitnichten, wie das Gericht von der
„Darlegung“ (Feststellung) zum Recht (Schuld oder Unschuld) kommt, welche Qua-
lität also auf dieser „Stufe“ der Entscheidung35 hinzutritt. Hieraus ergibt sich: Wenn
das Gericht für die Feststellung der Tatsachen auf die Sachkunde von externen Sach-
verständigen angewiesen ist, kann es schlechterdings nicht aus Rechts-Kenntnis für
die Entscheidung kompetent sein, ob die empirisch-konkrete Auswirkung dieser Tat-
sachen „erheblich“ war oder nicht. Umgekehrt: Wenn der psychiatrische Sachver-

34
Oben Fn. 31, Rdn. 7. Zitierte Nachweise: BGH, Beschlüsse vom 19. Dezember 2012 – 4
StR417/12, NStZ-RR 2013, 145, 146; vom 28. Januar 2016 –3StR 521/15, NStZ-RR 2016,
135, 136.
35
Ebd.
Zur Feststellung schwerer seelischer Abartigkeit 409

ständige einen Grundlagen-„Befund“ und seine Auswirkungen in der konkreten Tat-


situation so gesichert feststellen muss, dass das Gericht entscheiden kann, ob und wie
stark die letzteren „erheblich“ waren, muss der Sachverständige seine Befundtatsa-
chen nach denjenigen Kriterien auswählen, die einen unerheblichen von einem er-
heblichen Befund unterscheiden. In beiden Richtungen bleibt kein Zwischenraum,
in welchem sich die Umwandlung von Tatsachen- zu Rechtsfragen – oder umgekehrt
– vollziehen könnte.36

VI. Rechtsprüfung oder Tatsachenbewertung


Die durchaus übliche Grenzverwischung zwischen Tatsache und Norm findet in
der revisionsrechtlichen Prüfung der zitierten Entscheidung ihre Fortsetzung:
„Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht, da das Vorliegen eines Ein-
gangsmerkmals im Sinne des § 20 StGB nicht hinreichend belegt ist (…) Soweit das Land-
gericht bei dem Angeklagten das Eingangsmerkmal einer schweren anderen seelischen Ab-
artigkeit in einer Kombination des nicht mehr medikamentös regulierten Sexualtriebs und
einer intellektuellen Minderbegabung begründet sieht, bleibt bereits unklar, welches kon-
krete Krankheitsbild es mit dem Begriff der Hypersexualität verbindet. Darüber hinaus
lässt sich dem angefochtenen Urteil nicht entnehmen, welche Symptome einer Hypersexua-
lität der Angeklagte aufweist und welchen Schweregrad diese besitzen.“37

Man könnte einwenden, als Symptome der Krankheit seien gerade die Straftaten
anzusehen, die in ihrer Folge (!) begangen wurden. Das findet Anhaltspunkte nicht
zuletzt darin, dass auf einer nächsten Stufe der Prüfung gerade die „Kausalität“ der
Störung für die Tat zu prüfen sein soll und (etwa) die Rechtsfolge der Tat (Unterbrin-
gung gem. § 63 StGB) gerade voraussetzt, dass diese „Symptom der Krankheit“ ist.
Auf der Stufe der Revision findet eine Verlagerung statt: Das Revisionsgericht muss
prüfen, ob die Rechtsfragen des Falles vom Tatgericht richtig gesehen und entschie-
den sind. Hierzu ist es auf die Tatsachen beschränkt, die im tatrichterlichen Urteil
angegeben sind. Deren Unvollständigkeit hat Auswirkungen, wenn sie einen Rechts-
fehler darstellt (§ 337 StPO); das ist z. B. der Fall, wenn wesentliche Fakten fehlen,

36
Beispielhaft: Wenn ein Straftatbestand das Vorliegen „verkehrsunsicherer Bremsen“
eines Fahrzeugs voraussetzte, wäre das Gericht auf Feststellungen eines Sachverständigen
zum Zustand von Scheiben, Belägen, Hydraulik usw. „angewiesen“. Man wird sagen können:
Der Sachverständige könne und müsse nur feststellen, ob die Bremsscheiben beschädigt ge-
wesen seien (Störung) und ob dies zu einer verminderten Bremsleistung geführt habe (Funk-
tionsfähigkeit), die einen plötzlichen Ausfall der Bremswirkung im Unfallzeitpunkt verur-
sacht habe (Steuerungsfähigkeit). All dies sind Tatsachenfragen. Dem hinzuzufügen, es sei
eine die Kompetenz des Sachverständigen überschreitende, zusätzlich (!) zu prüfende „reine
Rechtsfrage“, ob die Bremsen „verkehrsunsicher“ gewesen seien, wäre wohl nicht mehr als
eine zirkuläre Verwirrung. Richtig ist, dass die Verkehrsunsicherheit die (Rechts)Folge der
Funktionsunfähigkeit ist.
37
BGH a.a.O. (Fn. 31), Rdn. 9 f.
410 Thomas Fischer

die für die revisionsgerichtliche Überprüfung der (tatrichterlich entschiedenen)


Rechtsfrage erforderlich sind. Im konkreten Fall:
„Die Ausführungen des Landgerichts zum Vorliegen einer Hypersexualität des Angeklagten
halten … revisionsrechtlicher Prüfung nicht stand, weil das Urteil die wesentlichen Anknüp-
fungstatsachen des Sachverständigen bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit nicht so wie-
dergegeben hat, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner
Schlüssigkeit erforderlich ist.“38

Das führt zur Frage der Kompetenz-Kompetenz: Der Bundesgerichtshof verlangt


vom Tatgericht, dass es die Tatsachen-Aussagen des Sachverständigen „überprüft“,
um Recht zu sprechen; ob dies geschehen ist, prüft sodann (angeblich) das Revisi-
onsgericht, indem es die Feststellungen des Tatrichters mit den Tatsachen-Aussagen
des Sachverständigen vergleicht und eine Mischung von Empirie (Psychiatrie) und
Normativität (Schuld-Fähigkeit) herstellt, erklärtermaßen ohne selbst über systema-
tische Sachkompetenz für die Grundlage einer solchen Synthese zu verfügen. Denn
wenn der Tatrichter auf den Sachverständigen „angewiesen“ ist, weil er die Feststel-
lungen selbst nicht treffen kann, ist es auch das Revisionsgericht. Weder verfügt es
strukturell über höhere psychiatrische Sachkunde als der Tatrichter noch könnte dies
etwas daran ändern, dass ein „Rechtsfehler“ (§ 337 StPO) kaum darin liegen kann,
dass ein Tatrichter einen tatsächlich Verrückten für „schuldfähig“ und einen tatsäch-
lich Durchschnittlichen für „schwer abartig“ gehalten hat.
Die Formulierungen des BGH führen vielmehr, jedenfalls an ihrer Oberfläche, in
einen Zirkel. Man kann ihn argumentativ überspielen, indem man die Existenz einer
(Rechts-)Instanz behauptet, die es besser zu wissen behaupten darf, also die unver-
einbaren Sphären von Empirie und Norm legitimatorisch vereint. Das dürfte jedoch –
nach dem Programm der rationalen Wahrheits-Erkenntnis, dem sich Argumente ver-
pflichtet fühlen müssen, um als „vernünftig“ anerkannt werden zu können – kein blo-
ßes Postulat bleiben, sondern muss angeben, an welcher Stelle und nach welchen Kri-
terien und Maßstäben die Übersetzung von Sein (Tatsachen) in Sollen (Norm;
Rechtsfrage) stattfindet. Hierfür bietet das Gesetz die Begriffe „schwer“ in § 20
und „erheblich“ in § 21 an. Allerdings erlangen wir zu deren Auslegung in ständiger
Rechtsprechung nur die Formel, eine Störung sei eine „schwere Abartigkeit“, wenn
sie „vergleichbar schwer“ die Funktionsfähigkeit des Willens beeinträchtige wie eine
„Krankheit“39 – womit letztlich der Befund des „Wahnsinns“ gemeint ist, dessen
rechtserhebliche Definition sich auch nur aus der normativen Folge ergibt, eine
echte psychische Krankheit liege vor, wenn eine Person für die Folgen seines Han-
delns nicht verantwortlich sei. Ob und wann und in welchem „Schweregrad“ Krank-
heiten vorliegen, entzieht sich der Sachkunde der mit Juristen besetzten Gerichte erst

38
Ebd. Als Nachweise zitiert: BGH, Beschlüsse vom 6. April 2011 – 2StR72/11, NStZ-RR
2011, 241; vom 8. April 2003 – 3StR79/03, NStZ-RR 2003, 232.
39
Vgl. etwa BGHSt 37, 401; 49, 45 (52 f.); 49, 347 (355); BGH; BGH NStZ 2005, 326 f.;
NStZ-RR 2005, 137; 2006, 235; 2008, 71; 2010, 7; jew. m.w. Nachw.
Zur Feststellung schwerer seelischer Abartigkeit 411

recht; überdies sind alle genannten Kriterien quantitativer, empirischer Art und
haben mit der genuin normativen Kompetenz der Richter gar nichts zu tun.
Dem Revisionsgericht stehen zur Rechtsprüfung „Darlegungen“ des Tatrichters
zur Verfügung, also dessen Bericht über die Tatsachenbekundungen des Sachverstän-
digen sowie die Bekundung, auf deren Grundlage sei das Tatgericht zu der Rechts-
Überzeugung gelangt, dass der Angeklagte im Tatzeitpunkt steuerungsfähig oder
-unfähig gewesen sei, weil er eine „Störung“ im „Grad“ einer „Krankheit“ aufgewie-
sen habe, welche seine Einsicht oder seine Hemmung beeinträchtigte. Deshalb mag
es erstaunen, wenn der 4. Strafsenat in der zitierten Entscheidung als Prüfungsgegen-
stand die „Schlüssigkeit“ des Sachverständigengutachtens bezeichnet. Nach wissen-
schaftsimmanenten Regeln kann man die Schlüssigkeit eines Expertengutachtens
nur prüfen, wenn man über die ihm zugrunde liegende Sachkunde in mindestens
demselben Maß verfügt wie der Gutachter selbst. Fehlt es daran, kann man allein
die literarische Plausibilität auf einer kommunikativen Ebene prüfen; hierfür reicht
literarische Intuition ohne vertiefte Sachkunde aus. Schlüssigkeits-Prüfung nach dem
Maßstab des Wahrheits-Anspruchs der Strafprozessordnung (§ 244 Abs. 2 StPO)
setzt Kenntnis von Hypothesen voraus: von Methoden und Standards, Anwendungs-
praxis und wissenschaftlichen Diskussionen des betreffenden Sachgebiets. Daran
mangelt es dem Revisionsgericht. Es gibt in den Strafsenaten des BGH keine Psy-
chowissenschaftler. Im Kernbereich dessen, mit was sich die Revisionsrichter aus-
schließlich befassen – also der (normativen) „Schuld“ – gibt es für dessen postuliert
faktische Voraussetzung, der Schuld-Fähigkeit, weder Aus- noch systematische Fort-
bildung noch eine über laienhaftes Plausibilitäts-Wissen hinausgehende Sachkunde.
Die Schlüssigkeits-Prüfungen der „dargelegten“ Fachgutachten, die gleichwohl mit
großer Selbstverständlichkeit vorgenommen werden, dürften daher eher dem System
der Legitimation als der Rationalität der Sachkunde geschuldet sein.
Bis zur Klärung der genannten Rätsel schreiben Gerichte und Kommentatoren das
Postulat, der Sachverständige dürfe die §§ 20, 21 StGB zugrunde liegenden Rechts-
frage nicht entscheiden; umgekehrt könne der Richter die zugrunde liegende Tatsa-
chen nicht feststellen, sondern nur entscheiden, ob sie „hinreichend dargelegt“ und
daher „festgestellt“ seien. Der Sachverständige darf danach allein entscheiden, ob
das empirische So-Sein der betroffenen Person nach den Kriterien der psychiatri-
schen Profession a) eine Devianz, b) eine Störung, c) eine Beeinträchtigung von Ein-
sicht oder Hemmung, d) eine Ausprägung derselben begründe. Wenn diese Fragen
empirisch beantwortet sind, soll dann als „reine Rechtsfrage“ zu entscheiden sein,
ob die Störung ein Eingangsmerkmal („schwere Abartigkeit“) ist und ob die Ein-
schränkung der Verantwortung im Tatzeitpunkt schon oder noch „erheblich“ oder
schon vollständig war. Selbst wenn diese hochgradig diffizile Kompetenz-Differen-
zierung systematisch möglich und faktisch plausibel wäre, müsste man, um sie ein-
halten zu können, zum einen wissen, woraus sich der Begriff der „Erheblichkeit“ im
System des Straf-Rechts formt, und wie er von einem „lebensweltlichen“ Maßstab
der Verrücktheit zu einer Tatsache im Referat des Berichterstatters im BGH-Senat
wird. Anders gesagt: Man müsste die Rechtsfrage auf ihre Wertungskriterien zurück-
412 Thomas Fischer

führen und präzise formulieren (können). Insoweit besteht erhebliches Aufklärungs-


bedürfnis.

VII. Schluss
Fragt man bei den Trägern der strafprozessualen Praxis – Staatsanwälten, Straf-
verteidigern, Richtern – nach dem Unterschied zwischen Sach- und Rechtsfrage bei
der Beurteilung der Schuldfähigkeit wegen psychischer Störungen, bekommt man
regelmäßig keine oder nur zirkuläre Antworten. Strafrichter, denen ein Sachverstän-
diger plausibel dargelegt hat, der Beschuldigte weise in seinem Erlebens- und/oder
Entschlussverhalten eine Devianz auf, die sein Verhalten bei der konkreten Tat gra-
vierend beeinflusst habe, wissen regelmäßig nicht, welche Rechtsfrage sie auf dieser
Grundlage prüfen sollten, um zu entscheiden, ob dieser „Befund“ die Schuld-Fähig-
keit erheblich beeinträchtigt habe. Sie „schließen sich den überzeugenden Ausfüh-
rungen des Sachverständigen an“, und wenn sie dies breit genug „darlegen“, ergibt
die strenge Rechtsprüfung durch das Revisionsgericht, dass der Sachverständige kei-
nen Rechtsfehler gemacht hat.
Es gibt keine genuin „rechtliche“ Dimension von „Abartigkeit“ oder Persönlich-
keitsstörung in Abgrenzung zur Ungestörtheit und zur Normal-Artigkeit. Es gibt aber
ein soziales Bedürfnis, eine solche Grenze zu bestimmen. Dieses rührt überwiegend
aus kurz- und mittelfristigen sozialen Erfahrungen, und stützt sich auf die Grundlage
langfristiger, biologisch-evolutionärer Dispositionen. Strafrecht hat keinen „juristi-
schen“ Zugang zu dieser Wirklichkeit. Es spiegelt Symbolisierungen und Abstrak-
tionen und entfaltet eigene Wirklichkeit in der Macht, die Behauptung seiner Ur-
wüchsigkeit zum Legitimationsgrund für Gewalt zu machen.
Auch unter der Geltung von internationalen Diagnose-Manualen ist die „schwere
Abartigkeit“, namentlich auch die sexuell deviante, an vermutlich 75 Prozent aller
Orte außerhalb des Geltungsbereichs des StGB auch heute ein wenig, ein wenig
mehr oder ganz anders definiert als hierzulande; sie war es in den vergangenen Jahr-
hunderten allemal. Dass die Tatsachen dem Recht wie ein Schatten folgen und vice
versa, ist denkgesetzlich nicht ausgeschlossen, wäre allerdings über alle Maßen er-
staunlich. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Fragen, die sich am Übergang vom
Sein zum Sollen, von der Krankheit zur Unschuld stellen, mit den üblichen Postula-
ten zufriedenstellend beantwortet sind. Auch hier bleibt dem Strafrecht ein schlech-
tes Gewissen, das freilich oft ein erfreulicher Schritt der Erkenntnis ist.
Schuldfähigkeit als Fertigkeit
Zu denkbaren Konsequenzen im Erwachsenenstrafrecht

Von Volker Haas

I. Einleitende Bemerkungen
In den letzten Jahren hat hauptsächlich ein einziges Thema die Schulddiskussion
beherrscht: der Einfluss der Hirnforschung auf das Konzept des Schuldstrafrechts,
das auf der Freiheit des Täters gründet, auch rechtskonform hätte handeln zu können,
mithin auf seiner Schuldfähigkeit. Der nachfolgende Beitrag lässt einen denkbaren,
auf den Erkenntnissen der Neurowissenschaften beruhenden strafrechtlichen Para-
digmenwechsel außer Betracht. Die mögliche Transformation des Schuldstrafrechts
in ein Sicherungsstrafrecht als Folge der Entdeckungen der neueren Hirnforschung
bleibt also ausgeblendet – und dies auch auf die Gefahr hin, dass der Jubilar, der
selbst bedeutende Beiträge zur Grundlagendiskussion über den Schuldbegriff geleis-
tet hat,1 mit leichter Enttäuschung über die Themenwahl reagieren sollte. Ich kann
nur eine einzige Entschuldigung anführen. Die Festschrift zu Ehren des Jubilars
schien mir geeignet, eine Idee vorzustellen bzw. einen Widerspruch aufzuzeigen,
ohne schon mit einem gesicherten, geschweige denn ausgearbeiteten Standpunkt
aufwarten zu können. Denn es ist gerade der Jubilar, der sich wie kaum ein Zweiter
in unserer Zunft durch Leidenschaft an gedanklich wissenschaftlicher Experimen-
tierlust ohne Rücksicht auf eingefahrene Sichtweisen auszeichnet.

II. Das Erwachsenenstrafrecht als Ausgangspunkt


Die allgemeine theoretische Auseinandersetzung um den Schuldbegriff und damit
auch um die Schuldfähigkeit kreist vornehmlich um § 20 StGB. Demnach liegt die
Schuldfähigkeit immer dann vor, wenn nicht der Täter bei Begehung der Tat wegen
einer krankhaften seelischen Störung, einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung,
Schwachsinns oder einer anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht
der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Anders formuliert: Liegt
– wie im Regelfall – keiner der in § 20 StGB aufgeführten Defekte vor, steht die

1
Siehe nur R. Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechtsphilosophi-
sche Untersuchung, 2008, Baden-Baden.
414 Volker Haas

Schuldfähigkeit als Resultante fest. Der Umstand, dass lediglich geprüft wird, ob be-
stimmte Ausnahmesituationen ausgeschlossen werden können, wobei nach der Kon-
zeption der §§ 20, 21 StGB sich diese Ausnahmesituationen im Ausgangspunkt am
Krankheitsbegriff als Referenzmaßstab orientieren,2 beeinflusst möglicherweise die
dogmatische bzw. theoretische Erörterung der Schuldfähigkeit.
Aus § 19 StGB, der die sogenannte Strafmündigkeit regelt, werden – soweit er-
sichtlich – keine theoretischen Folgerungen für das Wesen der Schuldfähigkeit ge-
zogen. Ein Kind ist gemäß § 19 StGB schuldunfähig, wenn es bei Begehung der
Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist. Der Vorschrift werden in der Kommentarlitera-
tur nur wenige Bemerkungen gewidmet. Einigkeit besteht, dass die Bestimmung eine
unwiderlegliche Vermutung der Schuldunfähigkeit aufstellt, die keines Gegenbewei-
ses zugänglich ist. Es handelt sich um einen Schuldausschließungsgrund.3 Zuzuge-
ben ist, dass der hier an den Anfang gestellten Diagnose einer verzerrten Sichtweise
der Vorwurf einer einseitigen Zuspitzung nicht erspart werden kann. Denn jenseits
der in § 20 StGB aufgezählten Defekte wird natürlich darüber diskutiert, ob und in-
wiefern eine Aussage wie „Der Täter hätte auch die Entscheidung treffen und um-
setzen können, die rechtswidrige Tat nicht zu begehen“ überhaupt getroffen werden
kann und ob daher das Anders-handeln-Können überhaupt für die Schuld des Täters
konstitutiv ist. Die Willensfreiheitsdebatte bleibt freilich – wie oben schon angedeu-
tet – im Folgenden weitestgehend ausgespart.

III. Eine neue Perspektive durch das Jugendstrafrecht


Dennoch: Einen anderen Blick auf die Dinge könnte man gewinnen, wenn man
auch die jugendstrafrechtliche Vorschrift des § 3 JGG berücksichtigt. Ein Jugendli-
cher ist der Norm zufolge nur dann strafrechtlich verantwortlich, wenn er zur Zeit der
Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der
Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Der Begriff der geistigen Reife
bezieht sich auf die verstandsmäßige Entwicklung. Von größerem Interesse ist der
Begriff der sittlichen Entwicklung. Nach ganz herrschender Meinung ist dazu erfor-
derlich, dass die Unterscheidung von Recht und Unrecht bzw. die ihr zugrundeliegen-
den Wertvorstellungen in der Gefühlswelt des Jugendlichen verankert sein müssen.4
2
Vgl. Schöch, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch. Leip-
ziger Kommentar, Bd. 1, 2. Auflage, 2007, Berlin New York, § 20 Rn. 51 ff.; siehe dazu auch
Rasch, StV 1984, S. 264, 267.
3
Perron/Weißer, in: Eser et al. (Hrsg.), Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 30. Auflage,
2019, München § 19 Rn. 1, 3; Schild, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, (Hrsg.), Nomos
Kommentar Strafgesetzbuch, Bd. 1, 5. Auflage, 2017, Baden-Baden, § 19 Rn. 2; Schöch, in:
(Fn. 2), § 19 Rn. 1 f.; Streng; in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum
Strafgesetzbuch, Bd. 1, 3. Auflage, 2017, München, § 19 Rn. 5.
4
BGH, Urteil vom 25. 05. 1956 – 5 StR 127/56; vgl. auch BGH bei Herlan, GA 1956,
S. 345; Diemer, in: Diemer/Schatz/Sonnen, Jugendgerichtsgesetz, 7. Auflage, 2015, Heidel-
berg, § 3 JGG Rn. 14; Ostendorf, in: Ostendorf (Hrsg.), Jugendgerichtsgesetz, 10. Auflage,
Schuldfähigkeit als Fertigkeit 415

Nichts Anderes ist mit der Forderung gemeint, dass der Jugendliche das Verbot als
sittlichen Wert und seine Handlung als rechtlich beanstandenswert erleben könne.5
Kritisiert wird insoweit allerdings, dass es sich um eine schwammige Begrifflichkeit
handele.6 In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass die fehlende oder
eingeschränkte Verantwortlichkeit auf einer sittlichen Retardierung infolge von So-
zialisationsdefiziten7 bzw. auf Erziehungsmängeln8 beruhen könne. Insoweit sollen
Erziehungsmängel subjektiver Art (falsche Erziehungsmethoden und Erziehungszie-
le, negative Vorbilder) wie objektiver Art (häufiger Wechsel von Bezugspersonen,
erziehungshinderndes Milieu und stigmatisierende Auswirkungen bei geschlossener
Heimerziehung) zu prüfen sein.9
Es ist daher schlüssig, dass teilweise vorgeschlagen wird, die Erkenntnisse der So-
zialisationstheorie zur Erklärung kriminellen Verhaltens Jugendlicher heranzuzie-
hen.10 Häufiger jedoch wird auf die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie ver-
wiesen, die verschiedene Stufen der Moralentwicklung von Kindern und Jugendli-
chen unterscheidet, und zugleich auf Einwände hingewiesen.11 Ob diese Einwände
durchgreifen, kann für die Zwecke dieser Abhandlung dahingestellt bleiben. Denn
von Interesse ist hier nicht, welche Entwicklungsstadien der moralischen Entwick-
lung bei Kindern und Jugendlichen unterschieden werden können, sondern vielmehr,
auf welche Weise es zu normgeleitetem Handeln von Kindern und Jugendlichen
kommt. Von Belang ist daher vielmehr, dass Kinder und Jugendliche im Rahmen
des Sozialisations- und Erziehungsprozesses lernen, sich an sozialen Regeln zu ori-
entieren. Im Einzelnen heißt dies: Kinder und Jugendliche lernen täglich, welche so-
zialen Regeln sie zu beachten haben. Kinder und Jugendliche lernen aber auch, im
Rahmen einer zunehmend selbständigeren Lebensführung diese Regeln einzuhalten.
Und das heißt unter anderem, zugunsten der Normbefolgung ihre eigenen Bedürfnis-
se zurückzustellen. Erworben wird damit die Fähigkeit der Selbstbeherrschung bzw.
der Selbstkontrolle und darüber hinaus die Fähigkeit, soziale Verantwortung für sich
und andere zu übernehmen. Erst durch diesen Prozess, der zu seiner Verwirklichung
der stetigen Einübung bedarf, bildet sich das diese Normen verinnerlichende, schuld-
fähige Zurechnungssubjekt. Die Entwicklung ist dabei nicht nur als Sozialisations-

2016, Baden-Baden, § 3 JGG Rn. 6; Baier, in: Laubenthal/Baier/Nestler, Jugendstrafrecht,


3. Auflage, 2015, Berlin Heidelberg, 3/68; Streng, Jugendstrafrecht, 4. Auflage, 2016, Hei-
delberg, § 4 Rn. 48.
5
Brunner/Dölling, Jugendgerichtsgesetz, 13. Auflage, 2018, Berlin, § 3 JGG, Rn. 4.
6
Albrecht, Jugendstrafrecht, 3. Auflage, 2000, München, S. 98; kritisch auch Bohnert,
NStZ 1988, S. 250.
7
Ostendorf, in: (Fn. 4), § 3 JGG Rn. 6.
8
Remschmidt/Rössner, in: Meier/Rössner/Trüg/Wulf, Jugendgerichtsgesetz, 2. Auflage,
2014, Baden-Baden, § 3 Rn. 24; Eisenberg, Jugendgerichtsgesetz, 20. Auflage, 2018, Mün-
chen, § 3 JGG Rn. 27, 27a.
9
Ostendorf, in: (Fn. 4), § 3 JGG Rn. 6.
10
Ostendorf, in: (Fn. 4), § 3 JGG Rn. 6.
11
Remschmidt/Rössner, in: (Fn. 8), § 3 Rn. 13 ff.; Eisenberg, (Fn. 8), § 3 JGG Rn. 12a.
416 Volker Haas

prozess, sondern zugleich als Individuationsprozess zu begreifen. Nur die Ausbil-


dung eines Selbst, das sich von der Gesellschaft als distinkt erfährt, ermöglicht Ver-
antwortungsübernahme durch die betreffende Person.
Völlig zu Recht ist daher in der jugendstrafrechtlichen Literatur der Begriff des
sozialen Normlernens geprägt worden. In einem komplexen Entwicklungsprozess
des sozialen Normlernens werde gemeinschaftsbezogenes Wissen und Handlungs-
kompetenz erworben. Es gehe um die persönliche Aneignung der in der Außenwelt
konstituierten Normen. Selbstkontrolle und Verantwortlichkeit seien das Resultat äu-
ßerer Regeldurchsetzung und innerer Verarbeitung.12 Eine gelungene Sozialisation
soll derartige Prozesse des Erlernens von Normen voraussetzen.13 Und völlig zu
Recht wird darauf hingewiesen, dass der „junge Mensch“ die Fähigkeit, das Unrecht
seines Handelns zu erkennen und nach dieser Einsicht auch zu handeln, also sich frei
für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, erst im Sozialisationsprozess
erwirbt.14 Deutlicher noch ist die Übereinstimmung der Feststellung mit der hier ver-
tretenen These, dass die Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser
Einsicht zu handeln, nicht angeboren sei, sondern dass diese in einem längeren Lern-
prozess erworben werde.15 Es kann somit festgehalten werden, dass Schuldfähigkeit
keine biologisch vorgefundene, sondern eine erlernte Fähigkeit ist, also eine Fertig-
keit. Man könnte daher mit gutem Grund von einem sozialen Schuldbegriff sprechen.
Allerdings ist dieser Terminus bekanntlich schon für einen anderen Gesichtspunkt
reserviert.
Anerkennt man diese Prämisse, sind Sozialisationsmängel stets Indikator für eine
nicht hinreichend entwickelte Schuldfähigkeit. Dabei gilt: In dem Maße, in dem das
Jugendstrafrecht als Erziehungsstrafrecht qualifiziert werden kann, reagiert dieses
auf das Fehlen einer voll ausgebildeten Schuldfähigkeit des Delinquenten. Der Er-
ziehungsgedanke legitimiert sich aus dem Bestreben, den Jugendlichen oder Heran-
wachsenden durch die Initiierung von Lernprozessen zur vollen Schuldfähigkeit zu
verhelfen. Die Schuldfähigkeit als Fähigkeit, soziale Verantwortung zu übernehmen,
ist Grundlage der Zubilligung von Handlungsfreiheit. Die jugendstrafrechtlichen
Sanktionen haben insoweit den Charakter von Maßregeln im materiellen Sinne.
Und nur insoweit ist die Tat des Jugendlichen oder Heranwachsenden Anlass,
nicht Grund der Sanktionierung. In dem Maße jedoch, in dem die jugendstrafrecht-
lichen Sanktionen den Charakter von Strafen im materiellen Sinne annehmen, knüp-
fen sie an die schon bestehende, wenn auch nur unvollständig entwickelte Schuldfä-

12
Rössner/Bannenberg, in: Meier/Bannenberg/Höffler, Jugendstrafrecht, 4. Auflage, 2019,
München, § 1 Rn. 1 ff.
13
Böhm/Feuerstein, Einführung in das Jugendstrafrecht, 4. Auflage, 2004, München, S. 1 f.
14
Laubenthal, in: Laubenthal/Baier/Nestler, Jugendstrafrecht (Fn. 4), 1/1.
15
Böhm/Feuerstein (Fn. 13), S. 1 f.
Schuldfähigkeit als Fertigkeit 417

higkeit an. Insoweit können die jugendstrafrechtlichen Sanktionen auch keine erzie-
herische Funktion ausüben.16

IV. Zurück zum Erwachsenenstrafrecht


Diese gewonnene Einsicht im Auge behaltend kann sich der Beitrag wieder dem
Erwachsenenstrafrecht widmen. Schauen wir noch einmal auf § 20 StGB. Unter das
Merkmal der schweren anderen seelischen Abartigkeit werden nach nahezu völlig
übereinstimmender Auffassung Persönlichkeitsstörungen (bzw. nach überkommener
Lesart Psychopathien), Neurosen, Verhaltenssüchte und sexuelle Verhaltensstörun-
gen subsumiert.17 Die angebliche Diskussion, ob auch Sozialisationsstörungen
oder Sozialisationsdefizite unter das Eingangsmerkmal der schweren anderen seeli-
schen Abartigkeit fallen, wird in Wahrheit nicht geführt.18 Im Gegenteil: Es wird – in
der Sache durchaus zutreffend – klargestellt, dass das Gesetz annehme, im Regelfall
verfüge der geistig gesunde Mensch über diejenigen Kräfte, die es ihm ermöglichen
würden, strafbaren Neigungen oder Gefühlsexplosionen zu widerstehen.19 Gemeint
ist der erwachsene Mensch. Schon problematischer ist die Behauptung, dass Reife-
verzögerungen unter dieses Eingangsmerkmal gerade nicht fallen sollen, weil inso-
weit die §§ 3, 105 JGG als Spezialregelungen eingreifen würden. § 20 StGB soll nur
reifeunabhängige psychopathologische Hintergrunde erfassen.20
Der daraus folgende Widerspruch ist offensichtlich: Ist ein Täter noch als Jugend-
licher einzuordnen, wird ihm gegebenenfalls in Ausnahmefällen nach § 3 JGG auf-
grund seiner reifeverzögerungsbedingten eklatant unterentwickelten Fähigkeit, sich
an Normen zu orientieren, Schuldunfähigkeit attestiert. Begeht derselbe Täter als Er-
wachsener die Tat, hat jedoch der Umstand, dass sich seine psychische Disposition
nicht geändert hat, keine exkulpierenden Konsequenzen. Der Täter wird nunmehr als
schuldfähig behandelt. Die im Jugendstrafrecht zumindest vereinzelt gewonnene
Einsicht, dass Schuldfähigkeit erlernt wird, ist in dem für Erwachsene geltenden
Strafrecht offenbar bedeutungslos. Es sei hinzugefügt, dass auch bei § 21 StGB in
der gängigen Kommentarliteratur Sozialisationsdefizite nicht als Schuldminde-
rungsgrund aufgeführt werden, auch wenn der Kreis beachtlicher Syndrome vorsich-
tig ausgeweitet wird wie zum Beispiel namentlich bei gruppendynamischen Prozes-

16
Vgl. Laubentahl, in: Laubenthal/Baier/Nestler, Jugendstrafrecht, (Fn. 4), 1/4; Böhm/
Feuerstein, (Fn. 13), S. 11.
17
Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, 29. Auflage, 2018, § 20 Rn. 11; Perron/Weißer, in:
(Fn. 3), § 20 Rn. 21; Rogall, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafge-
setzbuch, Bd. 1, 9. Auflage, 2017, Köln, § 20 Rn. 29 ff.; Schöch, in: (Fn. 2), § 20 Rn. 152 ff.;
Streng, in: (Fn. 3), § 20 Rn. 40 ff.
18
So aber Schild, in: (Fn. 3), § 20 Rn. 102.
19
Schöch, in: (Fn. 2), § 20 Rn. 152 unter Verweis auf BGHSt 14, 30, 32; 23, 176, 190.
20
Schöch, in: (Fn. 2), § 20 Rn. 69; Streng, in: (Fn. 3), § 20 Rn. 156.
418 Volker Haas

sen.21 Aus der Begründung zum Entwurf von 1962, der noch nicht dem Einheitssys-
tem gefolgt ist, die schwere andere seelische Abartigkeit also nur bei der verminder-
ten Schuldfähigkeit berücksichtigt hat, geht hervor, dass dieses Merkmal Psychopa-
thien, Neurosen, Triebstörungen und ähnliche, bereits bei der Schuldunfähigkeit be-
zeichnete Gebrechen erfassen sollte, soweit diese sich als seelische Fehlanlagen und
abgeschlossene seelische Fehlentwicklungen auswirken.22 Der Begriff der seelischen
Fehlentwicklung wäre eigentlich weit genug, um eklatanten Defiziten beim Norm-
lernen, die die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausschließen oder einschränken,
Rechnung zu tragen. Allerdings dient der Begriff der seelischen Fehlentwicklung nur
dazu, eine Bedingung für die Relevanz der anfangs genannten Fallgruppen zu formu-
lieren. Und diese sind nicht betroffen.
Der – zumindest prima facie – aufgewiesene Widerspruch würde allerdings ent-
fallen, wenn man auf der Basis eines funktionalen Schuldbegriffs behaupten würde,
dass der jugendliche Täter sich deswegen auf Schuldunfähigkeit oder eine vermin-
derte Schuldfähigkeit berufen darf, weil er noch nicht als vollwertiger Sozialpartner
anerkannt wird und daher die Tat des Jugendlichen nicht dieselbe Rechtserschütte-
rung hervorzurufen geeignet ist wie die Tat eines Erwachsenen.23 Derselbe theoreti-
sche Ausgangspunkt wird im Rahmen des § 19 StGB eingenommen, sofern man für
maßgeblich hält, wann der junge Mensch bereits als hinreichend Gleicher definiert
wird, dem deshalb in der gegebenen Situation die hinreichende Kompetenz zuzubil-
ligen ist, die Norm zu desavouieren.24 Konsequenz dieser Betrachtungsweise wäre es,
dass ein Schuldausschluss oder eine Schuldminderung bei einem Erwachsenen schon
deswegen ausgeschlossen wäre, weil er den vollen rechtlichen Bürgerstatus genießt,
wie man zum Beispiel am Wahlrecht ablesen könnte. Aber diese auf dem funktiona-
len Schuldbegriff aufbauende Sichtweise vermag kaum zu überzeugen. Sie verkehrt
Grund und Folge. Denn der eingeschränkte bürgerliche Status beruht auf der noch
nicht oder nicht voll entwickelten faktischen Mündigkeit – nicht umgekehrt! Soll
die Attribution von Schuld auf einer ontologischen Referenz beruhen und nicht zu
einem rein normativen Konstrukt ohne Wirklichkeitsbezug denaturieren, so kann
nicht bei derselben mentalen Verfassung des potenziellen Zurechnungsadressaten
das eine Mal – bei einem Jugendlichen – ein Zustand der Schuldunfähigkeit und
das andere Mal – bei einem Erwachsenen – ein Zustand der Schuldfähigkeit diagnos-
tiziert werden. Genau dies ist allerdings Konsequenz der derzeitigen Ausgestaltung
bzw. Handhabung unseres Strafrechts! Auf Vollzugsebene freilich spielt der Ge-
sichtspunkt, die Übernahme sozialer Verantwortung zu erlernen, auch im Erwachse-

21
Vgl. Kühl, in: (Fn. 17), § 21 Rn. 2; Perron/Weißer, in: (Fn. 3), § 21 Rn. 21; Schöch, in:
(Fn. 2), § 21 Rn. 23 ff.; Schild, in: (Fn. 3), § 20 Rn. 23; Streng, in: (Fn. 3), § 21 Rn. 16 ff.
22
BT-DrS 4/650, S. 141.
23
Streng (Fn. 4), § 1 Rn. 12; ders., ZStW 92 (1980), S. 637, 654; ders., GA 1984, S. 149,
164.
24
Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Auflage, 1991, 18/1; Frehsee, Strafreife – Reife
des Jugendlichen oder Reife der Gesellschaft?, in: Albrecht et al. (Hrsg.), Festschrift für
Schüler-Springorum, 1993, Köln, S. 379, 387 f.; kritisch Jäger, GA 2003, S. 469, 472 ff.
Schuldfähigkeit als Fertigkeit 419

nenstrafrecht eine Rolle. Vollzugsziel aller Vollzugsgesetze ist es, die Fähigkeit der
Gefangenen zu stärken, ein Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten zu füh-
ren (vgl. nur § 2 StVollzG). Legitimierbar ist dieses Vollzugsziel nach hier vertrete-
ner Auffassung nur dann, wenn man davon ausgeht, dass eine Einschränkung dieser
Fähigkeit zugleich eine Einschränkung der Zurechnungsfähigkeit bedeutet.
Will man den hier aufgedeckten Widerspruch vermeiden, dann ist gegenüber der
den § 21 StGB betreffenden Warnung, nicht die Grenzen der Verantwortlichkeit für
moralische Defizite mit Hilfe des Verweises auf Dissozialität und Soziopathie zu
überspielen und haltlose und willensschwache Personen gegenüber dem an sich
rechtstreuen Bürger zu bevorzugen,25 und die Aufforderung, deviante Verhaltenswei-
sen von chronischen Rückfalltätern von den psychopathologischen Merkmalen einer
Persönlichkeitsstörung abzugrenzen und damit aus dem Anwendungsbereich der
§§ 20, 21 StGB auszuschließen,26 Vorsicht angebracht. Denn gerade bei derartigen
Tätern könnten eklatante Lerndefizite vorliegen, die es ihnen erheblich erschweren
oder sogar unmöglich machen, sich im Rahmen einer selbständigen Lebensführung
normgemäß zu verhalten. Insbesondere bei chronischen Rückfalltätern, die innerhalb
der Gefängnismauern eigentlich unproblematische Zeitgenossen sind, könnte der
Verdacht vorliegen, dass sie in Freiheit nicht straffrei leben können oder dass zumin-
dest ihre Fähigkeit, dies zu tun, stark eingeschränkt ist.
Allerdings gibt es zwei Entscheidungen des Bundesgerichtshofs, die eine gewisse
Nähe zu dem hier diskutierten Gesichtspunkt aufweisen. So hat der Bundesgerichts-
hof in einer ersten Entscheidung eine Persönlichkeitsstörung, deren Ursache in einer
schwerwiegenden Fehlentwicklung des Angeklagten im familiären Bindungssystem
liegt, anerkannt.27 Und in einer zweiten Entscheidung hat er die Diagnose einer Per-
sönlichkeitsstörung in der Form der Störung des Sozialverhaltens (ICD 10 F.92) nicht
beanstandet.28 Beide Entscheidungen betrafen jedoch ohnehin die Verhängung von
Jugendstrafe. Betroffen sind ungeachtet dessen bei beiden Diagnosen Fehlentwick-
lungen, die die Fähigkeit berühren, Verantwortung zu übernehmen. Allerdings geht
aus den jeweiligen Begründungen nicht hervor, dass das Normlernen beeinträchtigt
gewesen sein könnte.
Die Einsicht, dass Schuldfähigkeit den Erwerb der Fähigkeit voraussetzt, sich an
Normen zu orientieren, könnte sehr gut in den strukturell-sozialen Krankheitsbegriff
von Rasch integriert werden, der eine Störung im Sinne der §§ 20, 21 StGB definie-
ren soll. Rasch hält es dennoch nicht für maßgeblich, ob eine psychische Krankheit
auf einer bewiesenen oder postulierten körperlichen Verursachung beruht. Als ent-
scheidenden Faktor zieht Rasch vielmehr die Minderung der sozialen Handlungs-

25
Schöch, in: (Fn. 2), § 20 Rn. 174.
26
Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß et al., NStZ 2005, S. 57, 60.
27
BGH, StV 1994, S. 598.
28
BGH, NStZ-RR 1998, 188.
420 Volker Haas

kompetenz heran, die es daher zu beurteilen gilt.29 Dies scheint schon deswegen über-
zeugend zu sein, weil nicht die Behandlungsbedürftigkeit aufgrund eines Leidens-
drucks für den Betreffenden selbst oder für Dritte Telos der Begriffsbildung ist, son-
dern die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Täters. Allerdings ist die Begriffs-
bildung von Rasch im Schrifttum mit Zurückhaltung aufgenommen worden.

V. Gründe für die Abweichung der Exkulpationsmöglichkeiten


Man kann nur spekulieren: Aber der Umstand, dass Defizite der sittlichen Ent-
wicklung, die sich in der mangelnden oder nicht ausreichend ausgeprägten – das
heißt im Rahmen des Sozialisationsprozesses nicht oder nicht ausreichend erlernten
– Fähigkeit bemerkbar machen, das eigene Handeln in sozialer Verantwortung an
Normen zu orientieren, nur im Jugendstrafrecht schuldausschließend oder schuld-
mindernd berücksichtigt werden, nicht aber im Erwachsenenstrafrecht, könnte dar-
auf zurückzuführen sein, dass man bewusst oder unbewusst eine Beeinträchtigung
der Effektivität der Strafrechtspflege, genauer: ihrer präventiven Wirksamkeit, be-
fürchtet. Denn wenn man im Erwachsenenstrafrecht der Tatsache Beachtung schen-
ken würde, dass Schuldfähigkeit eine erworbene bzw. erlernte Kompetenz ist und
nicht etwas stets Gegebenes, das nur bei einer krankhaften seelischen Störung und
bei einer dieser gleichwertigen Symptomatik fehlt – vgl. die Handhabung der schwe-
ren anderen seelischen Abartigkeit –, dann würde die mögliche Berufung auf Sozia-
lisationsdefizite aller Voraussicht nach zu einer erheblichen Ausdehnung der straf-
rechtlichen Exkulpations- und Dekulpationsmöglichkeiten führen. Man wäre im
Erwachsenenstrafrecht bei bestimmten Formen der Assozialität gezwungen, die ge-
samte Kindheit des Beschuldigten mit Hilfe eines Sachverständigen zu rekonstruie-
ren. Es bedarf nicht viel Fantasie, um vorherzusagen, dass diese Rekonstruktion in
vielen Strafverfahren nur völlig unzulänglich gelingen könnte. Der Grundsatz „in
dubio pro reo“ müsste aller Wahrscheinlichkeit nach relativ häufig angewendet wer-
den. Die Rekonstruktion der Sozialisation des Beschuldigten wäre zudem mit einem
enormen Mehraufwand verbunden. Schon jetzt werden nicht wenige Strafverfahren
aufgrund der zunehmenden Verwissenschaftlichung der Rechtsmaterie und erhöhten
Komplexität der Lebensverhältnisse immer umfangreicher. Wäre diese Diagnose zu-
treffend, dann wäre der funktionale Schuldbegriff als Beschreibung insoweit zutref-
fend, als er darauf aufmerksam macht, dass strafrechtlich Exkulaptionsmöglichkei-
ten nur unter Wahrung der Belange gesellschaftlicher Stabilität zugebilligt werden
können. Einschränkend ist allerdings zu beachten, dass unter Umständen statt
einer Bestrafung Maßnahmen der Besserung und Sicherung verhängt werden könn-
ten.

29
Rasch, NStZ 1982, S. 171, 182; ders., StV 1984, S. 264, 267 f.; ders., StV 1991, S. 126,
131.
Schuldfähigkeit als Fertigkeit 421

VI. Ausblick
Nach meiner Einschätzung bedürfte es noch weiterer Forschung, um die Bedeu-
tung des sozialen Normlernens für die Schuldfähigkeit besser zu erfassen. Sinnvoll
wäre wohl, die Neurowissenschaften in diese Forschung einzubeziehen. Die Entde-
ckung neuronaler Korrelate, in denen sich derartige Prozesse der einübenden Erzie-
hung manifestieren würden, würde uns eventuell dazu verhelfen, genauer zu sagen,
wann die betreffenden Defizite vorhanden sind und eine erhebliche Auswirkung auf
die Steuerungsfähigkeit der betreffenden Person erwarten lassen.
Das tradierte Schuldstrafrecht – ein Auslaufmodell?
Von Wolfgang Wohlers

I. Die Herausforderung des Schuldstrafrechts durch


die Erkenntnisse der modernen Hirnforschung
Strafbar ist ein Verhalten nach ganz vorherrschend vertretener Auffassung dann –
und nur dann –, wenn der Täter nicht nur tatbestandlich und rechtswidrig gehandelt
hat, sondern sein Verhalten darüber hinaus auch als schuldhaft eingestuft werden
kann.1 Die immer wieder einmal propagierten Vorschläge, auf das Element der
Schuld entweder gänzlich zu verzichten2 oder dieses grundlegend umzugestalten,
haben sich bisher – auch und obwohl sie von namhaften Autorinnen und Autoren ver-
treten worden sind – nie durchsetzen können, sondern sind stets Außenseiterstand-
punkte geblieben.
Die auch heute noch ganz vorherrschend vertretene Auffassung geht im An-
schluss an eine durch Reinhard Frank3 geprägte Begrifflichkeit davon aus, dass
das Element der Schuld die Vorwerfbarkeit des Verhaltens begründet4 und dass

1
BVerfGE 9, 169; 20, 323, 331; 28, 389, 391; 109, 133, 159; 123, 267, 413; 128, 326, 376;
BGHSt 23, 176, 192; Frisch, Zur Zukunft des Schuldstrafrechts, in: Heger (Hrsg.), Festschrift
für Kristian Kühl, München 2014, S. 187; Krauß, in: Heine/Pieth/Seelmann (Hrsg.), Wer
bekommt Schuld? Wer gibt Schuld?, Gesammelte Schriften von Detlef Krauß, Berlin 2011,
S. 367.
2
Vgl. zuletzt T. Hörnle, Kriminalstrafe ohne Schuldvorwurf, Baden-Baden 2013; aus dem
älteren Schrifttum vgl. Baurmann, Zweckrationalität und Strafrecht, Opladen 1987; Calliess,
Theorie der Strafe im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, Frankfurt am Main 1974,
S. 179 ff.; Ellscheid/Hassemer, in: Lüderssen/Sack (Hrsg.), Seminar: Abweichendes Verhalten
II, Die gesellschaftliche Reaktion auf Kriminalität, Bd. 1, Frankfurt am Main 1975, S. 266 ff.;
Kargl, Kritik des Schuldprinzips – eine rechtssoziologische Studie zum Strafrecht, Frankfurt
am Main 1982; Scheffler, Kriminologische Kritik des Schuldstrafrechts, Frankfurt am Main,
1985.
3
Frank, Über den Aufbau des Schuldbegriffs, in: Frank (Hrsg.), Festschrift für die Juris-
tische Fakultät in Gießen zum Universitäts-Jubiläum, Gießen 1907, S. 521, 529 f.
4
Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, Berlin 1930,
S. 15 ff., 22; Eisele, in: Schönke/Schröder (Hrsg.), StGB Kommentar, 30. Aufl., München
2019, Vor § 13 Rn. 114; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil,
5. Aufl., Berlin 1996, S. 404 und 407; Kaufmann, Das Schuldprinzip, Heidelberg 1976,
S. 115 ff.; Kohlhof, Die Legitimation einer originären Verbandsstrafe, Berlin 2019, S. 104;
MüKo-StGB/Radtke, 3. Aufl., München 2016, Vor § 38 Rn. 20; Schöch, in: Laufhütte/Ris-
sing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Leipziger Kommentar, StGB, 12. Aufl., Berlin 2007,
424 Wolfgang Wohlers

eine Strafe ohne (Schuld-)Vorwurf keine Strafe mehr ist,5 sondern etwas grundlegend
anderes, was sich dann aber letztlich nicht mehr wirklich von den Maßregeln der Bes-
serung und Sicherung unterscheiden lässt.6 Seinen klassischen, die Vorwerfbarkeit
des Verhaltens aus der im konkreten Tatzeitpunkt gegebenen Fähigkeit zum „An-
ders-handeln-können“7 ableitenden Ausdruck hat dieser Standpunkt in einem Be-
schluss vom 18. März 1952 erfahren, in dem der Große Senat für Strafsachen – be-
zeichnenderweise ohne jegliche Bezugnahmen auf zustimmende Meinungen und
unter souveräner Missachtung aller möglicherweise abweichenden Standpunkte –
dekretiert:
„Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld
wird dem Täter vorgeworfen, dass er sich nicht rechtmäßig verhalten, dass er sich für das
Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte ent-
scheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfes liegt darin, dass der Mensch auf
frei, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für
das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, sein Verhalten nach den Normen des recht-
lichen Sollens einzurichten und das rechtlich Verbotene zu vermeiden, sobald er sittliche
Reife erlangt hat und solange die Anlage zur freien Selbstbestimmung nicht durch die in
§ 51 StGB [entspricht heute § 20 StGB] genannten krankhaften Vorgänge vorübergehend
gelähmt oder auf Dauer zerstört ist.“8

Die ganz offenbar von keinerlei Zweifeln angekränkelte Überzeugung von der
Existenz der Fähigkeit zum „Anders-handeln-können“ dürfte auch in den 50er Jahren
des 20. Jahrhundert nicht von allen Vertretern der Strafrechtswissenschaft geteilt
worden sein. Im Ergebnis war man sich aber – und ist man sich auch heute noch weit-
gehend – einig darin, dass das geltende Strafrecht auf eben dieser Konzeption auf-
baut,9 wobei teilweise von der Existenz der Entscheidungs- bzw. Willensfreiheit
des Menschen ausgegangen wird,10 während überwiegend eher eine agnostische Hal-

§ 20 Rn. 4; Stratenwerth, in: Aebersold et al. (Hrsg.), Beiträge zu Grundfragen eines zeit-
gemäßen Strafrechts, Baden-Baden 2017, S. 122; zur Entwicklung des normativen
Schuldbegriffs vgl. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl., Berlin 1993, 17/5 ff.; Je-
scheck/Weigend (Fn. 4), S. 419 ff.; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Aufl.,
München 2006, § 19 Rn. 10 ff.
5
Hallmann, Gebundene Freiheit und strafrechtliche Schuld, Tübingen 2017, S. 60 ff.;
Müller-Dietz, Grenzen des Schuldgedankens im Strafrecht, Karlsruhe 1967, S. 31 f.; Kauf-
mann (Fn. 4), S. 203 f.; Pfunder, ZStrR 51 (1937), 152, 153; Stratenwerth (Fn. 4), S. 207,
218 f.; vgl. auch Roxin (Fn. 4), § 19 Rn. 30.
6
Kohlhof (Fn. 4), S. 98; Roxin, in: Kaufmann et al (Hrsg.), Festschrift für Paul Bockel-
mann, München 1979 S. 299; vgl. auch Frister, in: Freund et al (Hrsg.), Grundlagen und
Dogmatik des gesamten Strafrechtssystems Festschrift für Wolfgang Frisch, Berlin 2013,
S. 553: Strafe ohne Vorwurf sei ein Widerspruch in sich.
7
Vgl. Hallmann (Fn. 5), S. 69 ff.; Stratenwerth (Fn. 4), S. 142.
8
BGHSt 2, 194, 200 f.; zur Schuldlehre des BGH vgl. Neumann, FG BGH, Band IV,
München 2000, S. 83 ff.
9
So auch Neumann, FG BGH (Fn. 8), S. 85.
10
Kaufmann (Fn. 4), S. 116 f., 208 f.; Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, Berlin 1997,
S. 348.
Das tradierte Schuldstrafrecht – ein Auslaufmodell? 425

tung eingenommen wird, die darin besteht, dass man zwar nicht beweisen kann, dass
es so etwas wie einen freien Willen gibt, dass man aber auch das Gegenteil ebenso
wenig beweisen kann und der Gesetzgeber deswegen frei ist, von der grundsätzlichen
Fähigkeit des Menschen zum „Anders-handeln-können“ auszugehen.11
Grundlegend in Frage gestellt wurde das auf dem Konzept des „Anders-handeln-
könnens“ im Tatzeitpunkt aufbauende Schuldstrafrecht, als gegen Ende des 20. Jahr-
hunderts einzelne Vertreter der modernen Hirnforschung den Anspruch erhoben,
durch ihre Forschungen den Schleier des Nichtwissens gelüftet und hinter diesem
nichts gefunden zu haben, was es rechtfertigen würde, an der Konzeption festzuhal-
ten, nach der der Mensch über die Fähigkeit verfügen soll, sich zu jedem beliebigen
Zeitpunkt – und vor allem: im Tatzeitpunkt – für oder gegen das Recht entscheiden zu
können.12 Die Strafrechtswissenschaft hat auf diesen frontalen Angriff auf die für das
Konzept des Schuldstrafrechts essenzielle Basis dezidiert aber nicht einheitlich rea-
giert. Beanstandet wird zunächst einmal, dass es zu kurz greift, wenn man die Erklä-
rung sozialer Phänomene, wie z. B. die Konzepte der Zurechnung von Verantwort-
lichkeit und/oder des Erhebens von Vorwürfen, allein auf physikalisch-chemische
Prozesse zurückführen bzw. von deren Nachweisbarkeit abhängig machen will.13
Hinzu kommt, dass die Schlussfolgerungen, die Hirnforscher aus den Ergebnissen
ihrer Forschung ableiten, nach dem Urteil vieler Beobachter weit über das hinausge-
hen, was man aus diesen tatsächlich ableiten kann.14 Die Ahnung, dass sich dies in der

11
Vgl. nur Jescheck/Weigend (Fn. 4), S. 407 ff. m.w.N.
12
Vgl. Prinz, Freiheit oder Wissenschaft, in: von Cranach/Foppa (Hrsg.), Freiheit des
Entscheidens und Handelns, Heidelberg 1996, S. 86 ff.; ders., Willensfreiheit als soziale In-
stitution, in: Hillenkamp (Hrsg.), Neue Hirnforschung – Neues Strafrecht?, Baden-Baden
2006, S. 54 ff.; Roth, Fühlen, Denken Handeln, Frankfurt am Main 2003, S. 494 ff., insbe-
sondere S. 536 ff.; Singer, in: Stompe/Schanda (Hrsg.), Der freie Wille und die Schuldfähig-
keit, Berlin 2010, S. 22 f.; G. Merkel/Roth, Freiheitsgefühl, Schuld und Strafe, in: Grün/
Friedmann/Roth (Hrsg.), Entmoralisierung des Rechts, Maßstäbe der Hirnforschung für das
Strafrecht, Göttingen 2008, S. 59 ff.; Roth/Lück/Strüber, DRiZ 2005, 356 ff.; Roth/Lück/Strü-
ber, Willensfreiheit und strafrechtliche Schuld aus Sicht der Hirnforschung, in: Lampe/Pauen/
Roth (Hrsg.), Willensfreiheit und rechtliche Ordnung, Frankfurt a.M. 2008, S. 126 ff.; für
einen Überblick über die Aussagen und Erkenntnisse der neueren Hirnforschung vgl. Frisch,
FS Kühl (Fn. 1), S. 191 f. sowie umfassend Hillenkamp, JZ 2005, 314 f.; ders., ZStW 127
(2015), 10, 14 ff.; Walter, Hirnforschung und Schuldbegriff, in: Hoyer et al (Hrsg.), Festschrift
für Friedrich-Christian Schroeder, Heidelberg 2006, S. 136 ff.; zu einer Auseinandersetzung
mit den Vorläufern der modernen Hirnforschung vgl. Kaufmann (Fn. 4), S. 264 f.
13
Bommer, Hirnforschung und Schuldstrafrecht, Luzerner Universitätsreden Nr. 18, 2008,
S. 28 ff.; Ege, ZStrR 2017, 299, 310 ff.; Eisele, StGB Kommentar (Fn. 4), Vor § 13 Rn. 110a;
Hallmann (Fn. 5), S. 23 ff., 84 ff.; Hassemer, ZStW 121 (2009), 829, 846 ff.; Joerden, Straf-
rechtliche Perspektiven der Robotik, in: Hilgendorf/Günther (Hrsg.), Robotik und Gesetzge-
bung, Baden-Baden 2013, S. 199 f.; vgl. auch Jakobs, Strafrechtswissenschaftliche Beiträge,
Tübingen 2017, S. 708 ff.; vgl. aber auch G. Merkel, Hirnforschung, Sprache und Recht, in:
Putzke et al. (Hrsg.), Strafrecht zwischen System und Telos, Festschrift für Rolf Dietrich
Herzberg, Tübingen 2008, S. 24 ff.
14
Vgl. Bommer (Fn. 13), S. 27; Duttge, Über die Brücke der Willensfreiheit zur Schuld –
Eine thematische Einführung, in: Duttge (Hrsg.), Das Ich und sein Gehirn, Göttingen 2009,
426 Wolfgang Wohlers

Zukunft ändern könnte, hat dann aber dazu geführt, dass man sich auf diese Situation
vorbereiten muss – und hier teilen sich die Meinungen:15 Während teilweise konze-
diert wird, dass ein die weitreichenden Thesen der Hirnforschung stützender empi-
rischer Befund das Ende des tradierten Schuldstrafrecht zur Konsequenz hätte,16 wol-
len andere Autoren – unter ihnen Reinhard Merkel – dies alles zum Anlass nehmen,
sich von den Denkschablonen der tradierten Schuldkonzeption zu verabschieden und
diese durch etwas ersetzen, was auch vor dem Hintergrund der modernen Hirnfor-

S. 19 ff.; Ege (Fn. 13), 299, 306 ff.; Eisele, StGB Kommentar (Fn. 4), Vor § 13 Rn. 110a f.;
Frisch, FS Kühl (Fn. 1), S. 201 ff.; Gaede, Künstliche Intelligenz – Recht und Strafe für Ro-
boter?, Baden-Baden 2019, S. 35; Herzberg, Willensunfreiheit und Schuldvorwurf, Tübingen
2010, S. 4 ff.; Hillenkamp, JZ (Fn. 12), 318 f.; ders., ZStW (Fn. 12), 75 ff.; Jäger GA 2013, 3,
9 f.; Kröber, Die Hirnforschung bleibt hinter dem Begriff strafrechtlicher Verantwortlichkeit
zurück, in: Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt a.M. 2004, S. 103 ff.;
ders., Die Wiederbelebung des „geborenen Verbrechers“ – Hirndeuter, Biologismus und die
Freiheit des Rechtsbrechers, in: Hillenkamp (Hrsg.), Neue Hirnforschung – Neues Strafrecht?,
Baden-Baden 2006, S. 63 ff.; Olivier, Wonach sollen wir suchen? Hirnforscher fragen nach
ihrer Frage, in; Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt a.M. 2004,
S. 153 ff.; Paeffgen/Zabel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB, 5 Aufl.,
Baden-Baden 2017, Vor § 32 Rn. 230b; Schild, in: NK-StGB, § 20 Rn. 8; Schockenhoff, Wir
Phantomwesen. Über zerebrale Kategorienfehler, in: Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Wil-
lensfreiheit, Frankfurt a.M. 2004, S. 169 f.; Schöch, Leipziger Kommentar StGB (Fn. 4), § 20
Rn. 26; Schroth, Strafe ohne nachweisbaren Vorwurf, in: Heinrich et al. (Hrsg.), Strafrecht als
Scientia Universalis, Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag am 15. Mai 2011,
Band 1, Berlin 2011, S. 708 f.; Streng, Schuldbegriff und Hirnforschung, in: Pawlik et al.
(Hrsg.), Festschrift für Günther Jakobs, Köln 2007, S. 684 ff.; MüKo-StGB/Streng, 3. Aufl.,
München 2017, § 20 Rn. 62; Walter, FS Schroeder (Fn. 12), S. 140 f.; zur Kritik an den Ex-
perimenten von Libet vgl. Helmrich, Wir können auch anders: Kritik der Libet-Experimente,
in: Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt a.M. 2004, S. 92 ff.; Rösler,
Was verraten die Libet-Experimente über den „freien Willen“? – Leider nicht sehr viel!, in:
Lampe/Pauen/Roth (Hrsg.), Willensfreiheit und rechtliche Ordnung, Frankfurt a.M. 2008,
S. 140 ff.; bemerkenswert ist, dass auch Libet selbst die Meinung vertritt, die Erkenntnisse aus
seinen Experimenten würden der Annahme eines freien Willens nicht zwingend entgegen-
stehen, vgl. Libet, Haben wir einen freien Willen?, in: Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und
Willensfreiheit, Frankfurt a.M. 2004, S. 286 ff., insbesondere S. 284 ff. = ders., in: Hillen-
kamp (Fn. 12), S. 111 ff.
15
Vgl. den instruktiven Überblick bei ders., ZStW (Fn. 12), 56 ff.
16
Detlefsen, Grenzen der Freiheit – Bedingungen des Handelns – Perspektive des
Schuldprinzips, Berlin 2006, S. 345 ff.; Duttge (Fn. 14), S. 43; Hillenkamp, JZ (Fn. 12),
320; ders., Das limbische System: Der Täter hinter dem Täter, in: Hillenkamp (Hrsg.), Neue
Hirnforschung – Neues Strafrecht?, Baden-Baden 2006, S. 95 ff.; G. Merkel/Roth (Fn. 12),
S. 71 ff.; G. Merkel, FS Herzberg (Fn. 13), S. 27 ff.; G. Merkel/Roth, in: Stompe/Schanda
(Hrsg.), Der freie Wille und die Schuldfähigkeit, Berlin 2010, S. 160 f.; Schiemann NJW
2004, 2056, 2059; Spilgies, HRRS 2005, 43, 44 ff.; ders., ZIS 2007, 155, 161; Walter, FS
Schroeder (Fn. 12), S. 142 f.; vgl. auch ders., ZStW (Fn. 12), 61 f.; zu den Auswirkungen
auf andere Teilrechtsgebiete vgl. Hillenkamp ZStW (Fn. 12), 38 ff.; ders., JZ 2015, 391 ff.;
Bommer (Fn. 13), S. 26 f.; Eisele, StGB Kommentar (Fn. 4), Vor § 13 Rn. 110b; Jäger
(Fn. 14), 3, 12; auch im Strafrecht geht es nicht allein um die Schuld, vgl. Hillenkamp,
ZStW (Fn. 12), 42 ff.
Das tradierte Schuldstrafrecht – ein Auslaufmodell? 427

schung Bestand haben kann und das Strafrecht gegen die Herausforderungen der mo-
dernen Hirnforschung quasi „immunisiert“.17

II. Die Reformulierung des Schuldbegriffs:


Schuldfähigkeit als „normative Ansprechbarkeit“
Reinhard Merkel hat seinen, den tradierten Schuldbegriff modifizierenden Ansatz
anlässlich eines am 18. Januar 2006 in der Reihe der „Würzburger Vorträge“ gehal-
tenen Vortrags entwickelt.18 Die dort vorgetragenen Überlegungen hat Merkel so-
dann in weiteren Publikationen ausgebaut und fortentwickelt, wobei für den Straf-
rechtler neben zwei Beiträgen in Sammelbänden19 vor allem die Ausführungen
zur näheren Umschreibung des für den Ansatz Merkels zentralen Kriteriums der
„normativen Ansprechbarkeit“ von Bedeutung sind. Dass sich diese Ausführungen
in der Festschrift finden, die Claus Roxin zu dessen 80. Geburtstag gewidmet worden
ist,20 ist sicherlich kein Zufall, sondern trägt dem Umstand Rechnung, dass Merkel
mit seinem Ansatz maßgeblich an die von Claus Roxin entwickelte Schuldlehre an-
knüpft.

1. Die Schuldlehre Roxins

Die von Claus Roxin vertretene Schuldlehre wird immer wieder einmal in die
Nähe der funktionalen, allein auf präventive Effekte abzielenden Schuldkonzeptio-
nen gerückt. Dies stellt indes eine Verzerrung seiner Konzeption dar, gegen die Claus
Roxin sich stets vehement – und zu Recht – gewehrt hat. Die grundlegende Struktur
der von ihm als „Verantwortlichkeit“ bezeichneten Prüfungsstufe21 besteht darin,
dass Roxin die Erfordernisse der Schuld und des Präventionsbedürfnisses verbindet:
Eine Bestrafung setzt voraus, dass der Täter schuldhaft gehandelt hat und zusätzlich

17
Kritisch dazu, dass dies so gelingen kann: Hillenkamp, ZStW (Fn. 12), 63 f.; Hoyer, FS
Roxin (Fn. 14), S. 726 ff.; vgl. auch Schünemann, in: Jus humanum, Grundlagen des Rechts
und Strafrecht, Festschrift für Ernst-Joachim Lampe, Berlin 2003, S. 545 f.
18
R. Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechtsphilosophische Unter-
suchung, 2. Auflage, Baden-Baden 2014.
19
R. Merkel, Handlungsfreiheit, Willensfreiheit und strafrechtliche Schuld, in: Lampe/
Pauen/Roth (Hrsg.), Willensfreiheit und rechtliche Ordnung, Frankfurt a.M. 2008, S. 332 ff.;
ders., Ist „Willensfreiheit“ eine Voraussetzung strafrechtlicher Schuld?, in: Roth/Hubig/
Bamberger (Hrsg.), Schuld und Strafe – Neue Fragen, München 2012, S. 39 ff.
20
R. Merkel, Schuld, Charakter und normative Ansprechbarkeit – Zu den Grundlagen der
Schuldlehre Claus Roxins, in: FS Roxin (Fn. 14), S. 737 ff.
21
Vgl. Roxin, die strafrechtliche Verantwortlichkeit zwischen Können und Zumutbarkeit,
in: Kreuzer et al. (Hrsg.), Fühlende und denkende Kriminalwissenschaften, Ehrengabe für
Anna-Eva Brauneck, Godesberg 1999, S. 399; ders., in: Joerden/Schmoller (Hrsg.), Rechts-
staatliches Strafen, Festschrift für Keiichi Yamanaka, Berlin 2017, S. 467.
428 Wolfgang Wohlers

ein Präventionsbedürfnis besteht.22 Das Erfordernis der Schuld geht also gerade nicht
– wie z. B. in der Schuldlehre Jakobs – im Präventionsbedürfnis auf, sondern tritt als
ein selbstständiges Element neben dieses.23 Mit anderen Worten: Es muss zunächst
einmal davon ausgegangen werden können, dass der Täter normativ ansprechbar war.
Ist dies nicht der Fall, kann er nicht als verantwortlich angesehen werden und die
Frage, ob präventive Bedürfnisse für oder gegen eine Bestrafung sprechen, stellt
sich gar nicht mehr. Ist der Täter dagegen normativ ansprechbar, stellt sich dann –
und nur dann – in einem zweiten Schritt die weitere Frage, ob die Bestrafung präven-
tiv erforderlich ist oder nicht.
Definiert wird das Schulderfordernis von Roxin als unrechtes Handeln trotz nor-
mativer Ansprechbarkeit.24 Die Schuld ist zu bejahen, „wenn er [= der Täter] bei der
Tat seiner geistigen und seelischen Verfassung nach für den Anruf der Norm dispo-
niert war“.25 Roxin bezieht sich für das Merkmal der normativen Ansprechbarkeit auf
Ausführungen von Peter Noll,26 der Sache nach finden sich – worauf bereits Merkel
hingewiesen hat27 – entsprechende Überlegungen aber auch bereits bei Franz von
Liszt, der die Schuldfähigkeit als „normative Bestimmbarkeit durch Motive“ be-
zeichnet hat.28
Basis der Konzeption der Schuld als normative Ansprechbarkeit ist aus der Sicht
Roxins die empirisch feststellbare prinzipielle Fähigkeit des Menschen zur Selbst-
steuerung.29 Für die normative Ansprechbarkeit „genügt die Disposition zur Befol-
gung der Norm, die auch derjenige hat, der sich über sie hinwegsetzt, obwohl er die
Kenntnisse und Fähigkeiten besaß, die für ein rechtmäßiges Verhalten erforderlich
sind“;30 sind diese Voraussetzungen gegeben, werde der Täter „als frei behandelt“.31

22
Roxin, in: Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht, Festschrift für
Günther Kaiser, Berlin 1998, S. 890 f.; ders., FS Yamanaka (Fn. 21), S. 467; ders. (Fn. 4), § 19
Rn. 5 und 37.
23
Roxin, FS Bockelmann (Fn. 6), S. 284 f.; ders., Ehrengabe Brauneck (Fn. 21), S. 399;
ders., FS Kaiser (Fn. 22), S. 894; ders. (Fn. 4), § 19 Rn. 7; vgl. auch Schünemann (Fn. 17),
S. 550.
24
Roxin, Ehrengabe Brauneck (Fn. 21), S. 388; ders. (Fn. 4), § 19 Rn. 36 ff.; vgl. auch
Burghardt, Zufall und Kontrolle, Tübingen 2018, S. 268.
25
Roxin, GA 2015, 489, 490.
26
Vgl. Noll, in: Geerds/Naucke (Hrsg.), Festschrift für Hellmuth Mayer, Berlin 1966,
S. 219 ff., insbesondere S. 225.
27
R. Merkel, FS Roxin (Fn. 14), S. 752 Fn. 45.
28
Vgl. von Liszt, Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 2, Berlin 1905, S. 43 sowie
S. 219 f.
29
Roxin (Fn. 4), § 19 Rn. 46, 48 und 51; ders., ZStrR 1987, 356, 369; vgl. auch Frister, FS
Frisch (Fn. 6), S. 546: Schuldfähigkeit sei die Fähigkeit, sich durch ein verständiges Abwägen
des Für und Wider der in Betracht kommenden Gesichtspunkte für oder gegen die Normbe-
folgung zu entscheiden; vgl. hierzu auch Burghardt (Fn. 24), S. 260 ff.
30
Roxin (Fn. 25), 490.
31
Roxin ZStW 96 (1984), 641, 650; ders. (Fn. 29), 369; ders. (Fn. 4), § 19 Rn. 37.
Das tradierte Schuldstrafrecht – ein Auslaufmodell? 429

Die Freiheitsannahme sei – so Roxin – eine „normative Setzung“,32 gleichzeitig


aber nicht „etwas Beliebiges“, sondern eine soziale Spielregel, die „in der gesell-
schaftlichen Realität fundiert“ sei33 und ohne die „eine sinnvolle Ordnung des
menschlichen Soziallebens“ nicht möglich sei.34 Das Strafrecht werde mit diesem
agnostischen Schuldbegriff „von den neurologischen Befunden der Hirnforschung
unabhängig“.35 Jedenfalls die letztgenannte These wird man bezweifeln müssen:
Wenn Erkenntnisse der Hirnforschung überzeugend belegen sollten, dass die Fähig-
keit zum „Anders-handeln-können“ nicht nur in Ausnahmefällen nicht gegeben, son-
dern generell als eine Fiktion einzustufen ist, wird sich die normative gesetzte „Spiel-
regel“ sicher nicht – jedenfalls nicht auf Dauer – aufrechterhalten lassen.36

2. Die Konzeption Merkels

Ausgangspunkt der Überlegungen Merkels ist die Überzeugung, dass die auch
von Hassemer37 schon als „Lebenslüge des Strafrechts“ bezeichnete These von
der Möglichkeit der Nachweisbarkeit des „Anders-handeln-können“ des Täters im
Zeitpunkt der Tatbegehung tatsächlich nicht verifizierbar und vor dem Hintergrund
der vorliegenden Erkenntnisse der Hirnforschung sogar höchst unwahrscheinlich
sei.38 Das Schuldprinzip könne aber nicht auf bloßen Vermutungen oder Fiktionen
aufbauen, sondern benötige ein objektives Fundament,39 das sich nach Merkel im An-
schluss an Roxin im Erfordernis der normativen Ansprechbarkeit finden lassen soll.40
Die normative Ansprechbarkeit versteht Merkel als eine dispositionelle Eigen-
schaft, nämlich die Fähigkeit, sich grundsätzlich durch Normen motivieren zu las-
sen.41 Im Einzelnen setze normative Ansprechbarkeit „Rezeptivität“ und „Reaktivi-
32
Roxin (Fn. 31), 650; ders. (Fn. 29), 369; ders. (Fn. 25), 490.
33
Roxin (Fn. 4), § 19 Rn. 37, 40 ff. und 46.
34
Roxin (Fn. 29), 369; ders. (Fn. 25), 491.
35
Roxin (Fn. 25), 490.
36
Vgl. auch Duttge (Fn. 14), S. 35 und 40 ff.; Hillenkamp, JZ (Fn. 12), 320; Jäger (Fn. 14),
3, 11; Weißer, GA 2013, 26, 35.
37
Hassemer (Fn. 13), 851; ders., Verantwortlichkeit im Strafrecht, in: Roth/Hubig/Bam-
berger (Hrsg.), Schuld und Strafe – Neue Fragen, München 2012, S. 7, 15; vgl. auch bereits
Ellscheid/Hassemer (Fn. 2), S. 267 f. sowie S. 270; vgl. auch Schroth, FS Roxin (Fn. 14),
S. 709 ff.
38
R. Merkel, Willensfreiheit (Fn. 18), S. 114 f.; ders., FS Roxin (Fn. 14), S. 751 und 759;
ders., Handlungsfreiheit, Willensfreiheit und strafrechtliche Schuld – Versuch eines Beitrags
zur Ordnung einer verworrenen Debatte, in: Schünemann/Tinnefeld/Wittmann (Hrsg.), Ge-
rechtigkeitswissenschaft – Kolloquium aus Anlass des 70. Geburtstages von Lothar Philipps,
Berlin 2005, S. 465; vgl. auch Frister, FS Frisch (Fn. 6), S. 536 ff.
39
R. Merkel, Willensfreiheit (Fn. 18), 121; ders., Handlungsfreiheit (Fn. 19), S. 365; vgl.
auch Duttge (Fn. 14), S. 40.
40
R. Merkel, FS Roxin (Fn. 14), S. 738 f.
41
R. Merkel, Ist „Willensfreiheit“ eine Voraussetzung (Fn. 19), S. 55 f.; ders., FS Roxin
(Fn. 14), S. 752 ff.
430 Wolfgang Wohlers

tät“ voraus.42 Dies bedeutet zunächst einmal: „Der Handelnde muss zunächst rezep-
tiv (sensitiv) für den Sinn des Normbefehls unter den konkreten Umständen der
Handlungssituation sein“,43 was wiederum dreierlei voraussetzt: Zum ersten muss
der Handelnde die Elemente der Handlungssituation sinnlich wahrnehmen (können),
die maßgeblich sind für die Wahrnehmung seiner konkreten Tat. Zweitens muss er
„diejenigen Bestandteile der Handlungssituation, welche den (dann ignorierten)
Normbefehl anwendbar machen, zutreffend identifizieren und in eben dieser Funk-
tion begreifen“ können. Und schließlich muss er drittens „die von solchen Umstän-
den evozierte Norm in ihrem Gewicht halbwegs konsistent in das System der allge-
mein verbindlichen Pflichten einordnen können“.44
Hinzukommen muss dann noch die „Reaktivität“. Ansprechbar ist man nicht be-
reits dann, „wenn man versteht, dass und womit man angesprochen wird, sondern erst
dann, wenn man grundsätzlich auch in der Lage ist, auf diese ,Ansprache‘ adäquat zu
reagieren“. Erforderlich ist, dass der Täter „über ein bestimmtes Maß an Fähigkeit
zur richtigen Reaktion auf den Normbefehl verfügt“. Dies soll dann der Fall sein,
wenn er sich selbst als jemanden begreifen kann, „der für den Fall des Sich-hinweg-
setzens über den konkreten Normbefehl fairerweise – nämlich im Einklang mit der
allgemein geltenden Normenordnung – zum Ziel einer sanktionierenden Reaktion
gemacht werden kann“.45

III. Der Schuldbegriff im Spannungsfeld von Ontologie


und Normativität
Die kurze Analyse der Schuldlehre(n) Roxins und Merkels hat gezeigt, wo die für
den Schuldbegriff elementaren Probleme liegen: Zum einen geht es darum, ob der
Schuldbegriff ein forensisch nachweisbares ontologisches Fundament benötigt
und, wenn ja, worin dieses bestehen muss bzw. kann. Zum anderen geht es
darum, ob und inwieweit der Schuldbegriff normativiert werden kann. Letztlich han-
delt es sich bei den genannten Fragestellungen um Facetten ein und desselben Pro-
blems: Ist der Schuldbegriff ein normativer, ein empirischer oder ein gemischt em-
pirisch-normativer Begriff?

42
Zustimmend Roxin (Fn. 25), 490; vgl. auch Burghardt (Fn. 24), S. 268 ff.; Matthias,
Automaten als Träger von Rechten, Berlin 2008, S. 52 ff.; Weißer (Fn. 36), 35.
43
R. Merkel, FS Roxin (Fn. 14), S. 754.
44
R. Merkel, FS Roxin (Fn. 14), S. 754 f.
45
R. Merkel, FS Roxin (Fn. 14), S. 756; vgl. auch bereits Kaufmann (Fn. 4), S. 116: Strafe
könne nur erleiden, wer den Zusammenhang der Strafe als verdientes Übelleiden für schuld-
haftes Übeltun geistig verstehen kann.
Das tradierte Schuldstrafrecht – ein Auslaufmodell? 431

1. Die „Disposition zur Normbefolgung“:


ein notwendiges ontologisches Fundament des Schuldvorwurfs?

Reinhard Merkel legt, wie auch schon Claus Roxin,46 sehr viel Wert darauf, dass
die als normative Ansprechbarkeit bezeichnete prinzipielle Fähigkeit zur Selbst-
steuerung etwas ist, was empirisch feststellbar ist.47 Insoweit soll dann aber bereits
die grundsätzliche Fähigkeit ausreichen, sich zu normgemäßem Verhalten motivie-
ren zu können.48 Dass der Täter über die Fähigkeit „prinzipiell“ verfügt, sagt aber
nichts darüber aus, dass er von dieser im konkreten Fall auch Gebrauch machen
bzw. diese abrufen konnte.49 Dieses Problem hatte Merkel ursprünglich durch den
Verweis darauf erledigen wollen, dass es bei der Anwendung staatlichen Strafzwangs
um die Demonstration der Normgeltung gehe.50 Es gehe um das „Bezahlenmüssen
für die begangene Tat“, ohne die der (durch die Tat) verletzte Normgeltungsanspruch
nicht repariert werden könne.51 In späteren Publikationen hat Merkel diese Argumen-
tation nicht fortgeführt, sondern sich auf den Standpunkt zurückgezogen, dass man
mit der Tatsache, dass der Täter die Fähigkeit, sich zu normgemäßem Verhalten zu
bestimmen, im konkreten Fall möglicherweise nicht habe abrufen können, leben
müsse.52 Er erkennt aber an: Es bleibe „ein Rest an legitimatorischem Unbehagen“.53
Offen ist, wie dies alles mit dem Verdikt zusammenpasst, dass die von der herr-
schenden Meinung vertretene normative Setzung des „Anders-handeln-könnens“
mit der Bindung an den verfassungs- und konventionsrechtlich gewährleisteten
Grundsatz „in dubio pro reo“ nicht zu vereinbaren sein soll.54 Diesbezüglich ist zu-
nächst darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz „in dubio pro reo“ nicht den Gesetz-
geber bindet, der nicht daran gehindert ist, Straftatbestände zu schaffen, die auf Ver-
mutungen aufbauen oder den Schuldgrundsatz missachten;55 gebunden ist allein der
Strafrichter und auch dieser nur insoweit, als er sich, wenn Zweifel bleiben, welche
von mehreren möglichen Sachverhaltsannahmen zutreffend ist, für die Variante zu
46
Roxin (Fn. 4), § 19 Rn. 46, 48 und 51; ders. (Fn. 31), 652; ders. (Fn. 29), 369.
47
Vgl. die Nachweise in Fn. 39 f.
48
R. Merkel, Willensfreiheit (Fn. 18), S. 131 f.; ders., Ist „Willensfreiheit“ eine Voraus-
setzung (Fn. 19), S. 55 f.
49
Vgl. Ege (Fn. 13), 299, 312: An die Stelle der Fokussierung auf den Tatzeitpunkt trete
„eine generelle Einschätzung der Täterpersönlichkeit“.
50
R. Merkel, Willensfreiheit (Fn. 18), S. 124 ff.
51
R. Merkel, Willensfreiheit (Fn. 18), S. 129 f.; ders., Handlungsfreiheit (Fn. 19), S. 366 ff.
52
R. Merkel, Ist „Willensfreiheit“ eine Voraussetzung (Fn. 19), S. 58; vgl. auch ders.,
Handlungsfreiheit (Fn. 19), S. 367; ders., FS Roxin (Fn. 14), S. 760 f.
53
R. Merkel, Willensfreiheit (Fn. 18), S. 133; vgl. auch ders., Handlungsfreiheit (Fn. 19),
S. 368; Frister, FS Frisch (Fn. 6), S. 552: Es gebe auf diese Frage „keine wirklich befriedi-
gende Antwort“.
54
Vgl. R. Merkel, Willensfreiheit (Fn. 18), S. 115 ff.; ders., FS Roxin (Fn. 14), S. 738; vgl.
auch bereits Roxin (Fn. 29), 356.
55
Schöch, Leipziger Kommentar StGB (Fn. 4), § 20 Rn. 30; vgl. auch SK-StPO/Meyer,
5. Aufl., Köln 2019, Art. 6 EMRK Rn. 312.
432 Wolfgang Wohlers

entscheiden hat, die für den Beschuldigten die günstigere ist.56 Wenn also der Gesetz-
geber die Schuldfähigkeit eines nicht von den in § 20 StGB genannten Einschränkun-
gen betroffenen Menschen als gegeben unterstellt, dann sind Zweifel, die der Richter
an der Validität dieser Annahme hat unbeachtlich, weil es hier um Zweifel geht, die
für die durch das Gesetz vorgegebene rechtliche Subsumtion keine Relevanz haben.57
Auch wenn man die von Merkel und Roxin propagierte normative Fundierung im
„in dubio“-Satz und/oder der Unschuldsvermutung nicht für überzeugend hält, än-
dert dies aber nichts daran, dass man sich natürlich auf den Standpunkt stellen
kann, dass ein Schuldvorwurf berechtigterweise nur dann erhoben werden kann,
wenn hierfür ein ontologisches – und forensisch nachweisbares – Fundament vorhan-
den ist. Teilt man diesen Standpunkt und will man am Schuldgrundsatz festhalten,
muss man entweder beweisen können, dass der Täter in der Lage war, die bei ihm
grundsätzlich vorhandene Fähigkeit im konkret in Frage stehenden Fall abzurufen,
was indes von Roxin und Merkel mit guten Gründen verneint wird.58 Will man trotz-
dem an einem nachweisbaren ontologischen Fundament festhalten, muss man bereit
sein, die generelle Fähigkeit als solche ausreichen zu lassen59 – und dies nicht, wie es
bei Merkel anklingt, mit einem schlechten Gewissen,60 sondern aus Überzeugung.
Dies hat zur Folge, dass der Ausschluss der Strafbarkeit allein in den Fällen auf
das Fehlen von Schuld gestützt werden kann, in denen nachgewiesen wird, dass
der in Frage stehende Täter generell nicht normativ ansprechbar ist.61 In allen anderen
Fällen bleibt es dabei, dass der – z. B. zum Tatzeitpunkt maßgeblich unter dem Ein-
fluss von Alkohol und/oder Drogen stehende – Täter grundsätzlich gesehen sehr
wohl in der Lage ist, sich normativ ansprechen zu lassen – nämlich dann, wenn
der Rauschzustand nicht mehr vorhanden ist. In diesen Fällen kann die Nichtbestra-
fung allenfalls noch auf ein fehlendes präventives Bedürfnis für eine Bestrafung ge-
stützt werden. Wenn man stattdessen darauf abstellen will, dass der berauschte Täter
bezogen auf die konkrete, im Rauschzustand begangene Tat nachweisbar nicht „nor-
mativ ansprechbar“ war, ist man durch die Hintertür doch wieder beim Kriterium des
Anders-handeln-könnens im Tatzeitpunkt angelangt.62
56
Vgl. SK-StPO/Velten, 5. Aufl., Köln 2016, § 261 Rn. 91 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt,
StPO, 62. Aufl., München 2019, § 261 Rn. 29.
57
Vgl. auch MüKo-StGB/Streng (Fn. 14), § 20 Rn. 29: Schuld sei das Ergebnis einer
wertenden Zuschreibung, auf die in dubio-Grundsatz keine Anwendung finde; vgl. auch
Schöch, Leipziger Kommentar StGB (Fn. 4), § 20 Rn. 17: Der Satz sei in „Fällen der prinzi-
piellen Erkenntnisgrenzen unanwendbar“.
58
Vgl. die Nachweise in den Fn. 29 und 38 sowie Roxin (Fn. 31), 653; vgl. auch Krauß,
Neue Hirnforschung – Neues Strafrecht? Festschrift für Heike Jung, Baden-Baden 2007,
S. 427; Stratenwerth (Fn. 4), S. 142.
59
So wohl Frank (Fn 3), S. 530.
60
Vgl. R. Merkel, FS Roxin (Fn. 14), S. 761; ders., in: Schünemann/Tinnefeld/Wittmann
(Fn. 38), S. 465 f.
61
Roxin (Fn. 31), 652 f.; kritisch diesbezüglich Schünemann (Fn. 17), S. 545 f.
62
Vgl. insoweit auch die kritische Analyse des Ansatzes bei Hoyer, FS Roxin (Fn. 14),
S. 728 f.
Das tradierte Schuldstrafrecht – ein Auslaufmodell? 433

Die Frage ist aber, ob die Ausgangsprämisse überhaupt richtig ist: Muss der
Schuldvorwurf auf einem ontologischen – und als solchem forensisch nachweisbaren
– Fundament aufbauen? Wenn das bei der Schuld so wäre, dann müsste Gleiches
wohl auch für den Vorsatz und für das Hervorrufen des Tatentschlusses beim Haupt-
täter durch den Anstifter sowie bei der Stärkung des Täterwillens durch das Verhalten
des psychischen Gehilfen gelten. Dass wir hier bestrafen, obwohl wir einen solchen
Nachweis nicht führen können, ist ein Beleg dafür, dass wir meinen, einen solchen
Beweis nicht führen zu müssen. Tatsächlich wird man hier die Kritik aufgreifen müs-
sen, die den Vertretern der modernen Hirnforschung – zu Recht – entgegengehalten
worden ist: Die Zurechnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit ist ein Akt der Zu-
schreibung,63 der an Wertungen anknüpft und wesentlich durch die gesellschaftliche
Verständigung darüber determiniert wird, wer unter welchen Voraussetzungen für
was Verantwortung zu tragen hat. Das Strafrecht agiert insoweit aber nicht im luft-
leeren Raum. Die Erklärungsmuster für soziale Phänomene dürfen den Rationalitäts-
standard der jeweiligen Gesellschaft nicht missachten, d. h. sie dürfen anerkannten
naturwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht widersprechen,64 was dann der Grund
dafür ist, dass auch im geltenden Recht beim Vorliegen bestimmter Umstände von
Schuldunfähigkeit auszugehen ist.65
Zuschreibungsprozesse bedürfen damit aber keines forensisch nachweisbaren
ontologischen Fundaments; es reicht aus, dass sie mit den in einer Gesellschaft
vorherrschenden Erkenntnissen und Überzeugungen zu den biologischen, anthro-
pologischen Grundlagen des sozialen Miteinanders kompatibel sind. Stehen Zu-
schreibungsprozesse in Widerspruch zu (natur-)wissenschaftlichen Erkenntnissen,
stellt dies die Legitimität der Zuschreibung in Frage und wird – jedenfalls auf län-
gere Sicht – die Konsequenz haben, dass die Zuschreibung auf eine neue, mit den
Erkenntnissen der Naturwissenschaft kompatible Basis gestellt oder aber aufgege-

63
Vgl. – bezogen auf die Schuldfähigkeit – Bommer (Fn. 13), S. 30; Ege (Fn. 13), 299,
324; Gless/Weigend, ZStW 126 (2014), 561, 575; Günther, in: Prittwitz et al. (Hrsg.), Ratio-
nalität und Empathie, Baden-Baden 2014, S. 14 ff.; Hallmann (Fn. 5), S. 42 ff.; Hörnle (Fn. 2),
S. 24 f.; Kindhäuser, in: Herzog/Neumann (Hrsg.), Festschrift für Winfried Hassemer, Hei-
delberg 2010, S. 765; Kohlhof (Fn. 4), S. 111 f., 114 f.; Krauß (Fn. 58), S. 413; Roth, FS
Lampe (Fn. 17), S. 57; Simmler/Markwalder, Roboter in der Verantwortung?, ZStW 129
(2017), 20, 32 ff.; Stratenwerth (Fn. 4), S. 198 f.; MüKo-StGB/Streng (Fn. 14), § 20 Rn. 26;
Weißer (Fn. 36), 37; vgl. auch Ortmann, NZWiSt 2017, 241, 247; zum ontologischen Status
mentaler Zuständen vgl. Stuckenberg, FS Kindhäuser, Baden-Baden 2019, S. 533 ff. und
speziell zu den unterschiedlichen Herangehensweisen des BGH und des schweizerischen
Bundesgerichts bei der Feststellung bzw. der Zuschreibung des Tötungsvorsatzes vgl. Woh-
lers, Unfälle mit Todesopfern, in: Dähler/Landolt (Hrsg.), Jahrbuch zum Strassenverkehrs-
recht 2019, S. 109 ff.
64
Hallmann (Fn. 5), S. 29 und 51; Hirsch, Das Schuldprinzip und seine Funktion im
Strafrecht, in: Plywaczewski (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Strafrechts und der Kriminolo-
gie, 1998, S. 201 = ZStW 106 (1994), 763 f.
65
Vgl. Hassemer (Fn. 37), S. 16 f.; ders. (Fn. 13), 852 f.
434 Wolfgang Wohlers

ben werden muss.66 Wenn es also einmal so weit sein sollte, dass wir davon ausgehen
müssen, dass Täter im Zeitpunkt der jeweiligen Tathandlung gar nicht mehr anders
handeln können als so, wie sie gehandelt haben, dann stellt sich tatsächlich die Frage,
ob man berechtigterweise den Täter dafür tadeln kann, dass er sich so verhalten hat,
wie er sich verhalten musste.67 Wenn der Verlust der Steuerungsfähigkeit vom Aus-
nahme- zum Normalfall geworden ist, dürfte dies nicht mehr möglich sein: Einen
Tadel an ein Verhalten zu knüpfen, dass der Betroffene nicht vermeiden konnte,
wäre gleichermaßen sinnlos und ungerecht.68 Tatsächlich könnten wird den Täter
nicht einmal dafür tadeln, dass er sich zu dem gemacht hat, was er ist. Eine derartige
Revitalisierung des Konzepts der Charakter- bzw. Lebensführungsschuld wird zwar
von Herzberg propagiert,69 wird aber ganz überwiegend – und insbesondere auch von
Roxin70 und Merkel71 – zurückgewiesen.72 Und dies vollkommen zu Recht, denn:
Wenn wir nicht anders handeln können, als so, wie wir gehandelt haben, wieso sollten
wir dann verantwortlich dafür sein (können), dass wir durch unser Handeln zu dem
geworden sind, der wir sind?

2. Vorwerfbarkeit als eine „normative Setzung“

Hinter der Normativierung des Schuldbegriffs steht nach alledem die Erkenntnis,
dass es beim strafrechtlichen Schuldbegriff nicht darum geht, menschliches Verhal-
ten zu erklären, sondern darum, dieses zu interpretieren, d. h. dessen Bedeutung für
das soziale Miteinander zu bestimmen. Selbst wenn wir dereinst einmal in der Lage
sein sollten, das Verhalten von Menschen in naturwissenschaftlicher Hinsicht umfas-
send zu beschreiben, würde diese Beschreibung allein nicht weiterhelfen. Für das so-
ziale Miteinander ist entscheidend, ob das, was durch Verhalten bewirkt wird, einem
Akteur als dessen Werk zugerechnet werden kann. Die Zurechnung strafrechtlicher
Verantwortlichkeit ist keine Problematik, die durch naturwissenschaftliche Messun-
gen und/oder Berechnungen bewältigt werden kann, sondern es ist eine Zuschrei-
bung, die im Rahmen der Praxis gesellschaftlicher Verständigung erfolgt und die
maßgeblich durch die für die jeweilige Gesellschaft herrschende Vorstellung getra-
66
Vgl. Kindhäuser, ZStW 121 (2009), 954, 956; zustimmend Neumann, in: Böse/Toepel/
Schumann (Hrsg.), Festschrift für Urs Kindhäuser, Baden-Baden 2019, S. 336; vgl. auch
Duttge (Fn. 14), S. 35; vgl. aber auch Burghardt (Fn. 24), S. 252 f. und 296 f.
67
Seelmann, in: Senn/Puskas (Hrsg.), Gehirnforschung und rechtliche Verantwortung,
ARSP Beiheft Nr. 110 (2006), S. 102; vgl. auch Duttge (Fn. 14), S. 40 ff.; G. Merkel, FS
Herzberg (Fn. 13), S. 23 f.; kritisch zum Tadel als Voraussetzung für Strafe: Ellscheid/Has-
semer (Fn. 2), S. 279; kritisch zum Versuch, ein Strafrecht ohne Tadel zu denken: Frister, FS
Frisch (Fn. 6), S. 553.
68
Burghardt (Fn. 24), S. 292 ff.; Frisch, FS Kühl (Fn. 1), S. 188; Schöch, Leipziger Kom-
mentar StGB (Fn. 4), § 20 Rn. 4.
69
Herzberg (Fn. 14), S. 93 ff., 113 ff.
70
Roxin (Fn. 25), 499 f.
71
R. Merkel, FS Roxin (Fn. 14), S. 742
72
MüKo-StGB/Streng (Fn. 14), § 20 Rn. 58; Weißer (Fn. 36), 34.
Das tradierte Schuldstrafrecht – ein Auslaufmodell? 435

gen wird, wer unter welchen Voraussetzungen in verantwortlicher und vorwerfbarer


Weise agiert.73 Vorwerfbarkeit ist also ein „kulturelles Konstrukt“74, ein in der gesell-
schaftlichen Praxis hergestelltes Produkt wertender Zuschreibung.75 Entscheidend
ist das sich aus der gesellschaftlichen Verständigung ableitende Verständnis
davon, wer ein verantwortliches Subjekt ist.76
Dem entspricht es, wenn Roxin die für seine Schuldlehre zentrale Freiheitsannah-
me als eine „normative Setzung“ bezeichnet, die aber nicht etwas Beliebiges sei, son-
dern ihr Fundament in der gesellschaftlichen Realität finde.77 Das Urteil über das
Schuldstrafrecht sei „nicht davon abhängig, ob Freiheit und Verantwortlichkeit
des Menschen philosophisch oder psychologisch beweisbar sind, sondern allein
davon, ob es teleologisch angemessen ist, dass der Mensch als frei und verantwortlich
behandelt wird“, wobei sich der insoweit erforderliche Maßstab „nur aus den sozi-
alpsychologischen Grundlagen des Strafrechts gewinnen“ lasse.78 Das Leben im Be-
wusstsein der Freiheit sei „eine vom neuronalen Befund unabhängige soziale Reali-
tät. Das Recht muss daher die Möglichkeit von Freiheit und Schuld anerkennen,
wenn es auf die soziale Realität wirken will“.79
Mit diesem Ansatz befindet sich Roxin in Übereinstimmung mit anderen Autoren,
die die aus der Annahme von Willensfreiheit abgeleitete Fähigkeit zum „Anders-han-
deln-können“ als Teil der abendländischen Kultur in den elementaren Strukturen un-
serer gesellschaftlichen Kommunikation verankert ist80 und/oder darauf verweisen,
dass sich die für unsere Praxis des sozialen Miteinanders zentrale Konzeption des
Lobens und Tadelns auch in der Rechtsordnung ihren direkten Niederschlag gefun-
den hat.81 Die Praxis der Verhängung staatlicher Strafen erweist sich vor diesem Hin-

73
So auch Hassemer (Fn. 37), S. 14; vgl. auch Roxin (Fn. 31), 653: „[D]as Urteil darüber,
bei welcher psychischen Beschaffenheit vom einzelnen ein rechtstreues Verhalten noch er-
wartet wird, hängt nicht ausschließlich vom Fortschritt der wissenschaftlichen Einsicht in die
Bedingtheit menschlichen Handelns, sondern auch vom Bewusstseinsstand der Gesellschaft
und der kriminalpolitischen Haltung des Gesetzgebers ab“; vgl. auch Hirsch (Fn. 64), 763 f.
74
Krauß (Fn. 58), S. 429.
75
Vgl. die Nachweise in Fn. 63.
76
Günther (Fn. 63), S. 28 f.; vgl. auch Teubner, Zeitschrift für Rechtssoziologie 27 (2006),
5, 9: „Akteure existieren nicht per se, sondern Sozialsysteme konstruieren ihre Akteure, indem
sie semantischen Artefakten – den Personen – Subjektivität zuschreiben.“
77
Roxin (Fn. 4), § 19 Rn. 42.
78
Roxin (Fn. 31), 651 f.
79
Roxin (Fn. 25), 491.
80
Schünemann, Die Funktion des Schuldprinzips im Präventionsstrafrecht, in: Schüne-
mann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, Berlin 1984, S. 163 ff.; ders.,
FS Lampe (Fn. 17), S. 547 ff.; vgl. auch Frister, FS Frisch (Fn. 6), S. 553 f.; Jescheck/Weigend
(Fn. 4), S. 412; Hassemer (Fn. 13), 829, 848 ff.; Krauß (Fn. 58), S. 429; Pawlik, Das Unrecht
des Bürgers, Tübingen 2012, S. 283 f.; Schroth, FS Roxin (Fn. 14), S. 706; kritisch hierzu
Hoyer, FS Roxin (Fn. 14), S. 729 f.; vgl. auch Burghardt (Fn. 24), S. 249 ff.
81
Schild, NK-StGB (Fn. 14), § 20 Rn. 14 ff.; vgl. auch Hassemer (Fn. 13), 829, 848 ff.;
Hirsch (Fn. 64), 763 f.
436 Wolfgang Wohlers

tergrund als nichts anderes als die Formalisierung und rechtsstaatliche Einhegung der
von Peter Strawson82 beschriebenen sozialen Praxis des Tadelns. Ebenso wie die Re-
geln, nach denen Lob und Tadel verteilt werden, Teil einer erlernten sozialen Praxis
sind,83 ist auch die Verhängung staatlicher Strafen eine soziale Praxis bzw. Instituti-
on,84 die, wenn man Strafe als einen stellvertretend erhobenen staatlichen Tadel ver-
steht, auch den Regeln gerecht werden muss, nach denen die soziale Praxis des Lo-
bens und Tadelns funktioniert. Es geht mithin weder darum, dass wir wirklich (nach-
weisbar) frei sind in dem, was wir tun, noch darum, dass wir uns subjektiv als frei
empfinden. Entscheidend ist, dass unsere Verständigung über das soziale Miteinan-
der darauf aufbaut, dass wir uns gegenseitig als verantwortliche Akteure wahrneh-
men und ansprechen und damit die auf wechselseitiger Zuschreibung von Verant-
wortlichkeit und Vorwerfbarkeit aufbauende Konzeption in eine soziale Institution
überführt worden ist.
Wenn die Annahme der Willensfreiheit ein zentraler und in der gesellschaftlichen
Verständigung fest verankerter Teil „der gesellschaftlichen Rekonstruktion der
Wirklichkeit“85 ist, dann wird man mit Merkel festhalten müssen: Die „Möglichkeit,
sich schuldig zu machen“ gehört zu den „essentiellen Funktionsbedingungen in mo-
dernen Gesellschaften“.86 Und hieraus folgt wiederum: „[N]icht nur die Beurteilung
unseres eigenen Handelns, sondern auch die des Handelns unserer Mitmenschen be-
ruht in hohem Grade auf der fraglosen Voraussetzung eines freien Willens. Viele der
reaktiven Einstellungen, die unseren persönlichen Umgang miteinander bestimmen,
hängen daher ebenfalls von dieser Voraussetzung ab: Lob, Tadel, Bewunderung, Ver-
achtung, Dankbarkeit, Sympathie, Abneigung und manche weitere.“87 Und damit
geht kein Weg daran vorbei, dass der Schuldgrundsatz, auf den man „in einer außer-
rechtlichen Lebenswelt, die auf Zuschreibung von Lob und Tadel, Verantwortung
und Verdienst nicht verzichten kann und wird, erhalten werden sollte“.88
Letztlich wird dies auch von den Vertretern der modernen Hirnforschung akzep-
tiert, wenn diese anerkennen, dass das Selbstbild des Menschen aus der sozialen In-
teraktion stammt89 und es sich deshalb „als zweckmäßig erweisen [kann], im Rechts-
alltag und im Selbstverständnis der Gesellschaft an den Begriffen ,Freiheit‘, ,Schuld‘
und ,Strafe für Schuld‘ festzuhalten, weil jeder, der in unserem Kulturkreis erzogen
wurde, damit zwar vage, aber zumindest konsensfähige Inhalte seiner Selbsterfah-
82
Vgl. hierzu grundlegend Strawson, Freiheit und Übelnehmen, in: Pothast (Hrsg.), Se-
minar: Freies Handeln und Determinismus, Frankfurt a.M. 1978, S. 201 ff.
83
Hallmann (Fn. 5), S. 37 f.
84
Hassemer (Fn. 37), S. 14.
85
Schünemann, GA 1986, 293, 297.
86
Roxin (Fn. 25), 501.
87
R. Merkel, in: Schünemann/Tinnefeld/Wittmann (Fn. 38), S. 411 f.
88
R. Merkel, in: Schünemann/Tinnefeld/Wittmann (Fn. 38), S. 465.
89
Singer, Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen,
in: Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt a.M. 2004, S. 47 f.; vgl. auch
Prinz, in: Hillenkamp (Fn. 12), S. 59 ff.
Das tradierte Schuldstrafrecht – ein Auslaufmodell? 437

rung benannt findet“.90 Dies gilt, „solange wir die Inkompatibilität der alltagspsycho-
logischen Intuitionen und der wissenschaftlichen Erkenntnisse aushalten können“.91
Ob wir dies auf Dauer weiter können werden, hängt unter anderem davon ab, ob sich
zukünftig Erkenntnisse durchsetzen werden, angesichts derer sich der Vorwurf eines
verantwortlichen Fehlverhaltens nicht mehr aufrechterhalten lässt – z. B. weil die
Hirnforschung die bisher herrschenden Vorstellungen zur Willensbildung widerlegt
oder grundsätzlich erschüttert hat. Sollte dies geschehen, werden die gleichen Me-
chanismen greifen, wie in den Fällen, in denen die Naturwissenschaft bereits
heute Erkenntnisse gewonnen hat, die den Ausschluss der Annahme von Schuldfä-
higkeit in den Fällen tragen, die heute in § 20 StGB kodifiziert sind.92 Normative Set-
zungen sind allein in den Fällen des non liquet möglich.93 Der Einwand, dass das gel-
tende Recht davon ausgeht, dass Strafe Schuld voraussetzt und Schuld persönliche
Vorwerfbarkeit ist und dass das alles sogar Verfassungsrang hat,94 ist für sich gesehen
richtig, besagt aber letztlich nicht mehr, als dass das eine bestimmte Regelung derzeit
(noch) geltendes Recht ist.

IV. Herausforderung des Schuldstrafrechts


durch den Einbezug von nichtmenschlichen Akteuren
in den Kreis tauglicher Straftäter
Die durch die neuere Hirnforschung angetriebene Debatte um den Schuldbegriff
bewegt sich noch in den Bahnen des tradierten Individualstrafrechts: Es geht hier um
die Frage, ob bezogen auf die Strafbarkeit von menschlichen Akteuren am tradierten
Schuldvorwurf festgehalten werden kann oder dieser zu modifizieren ist. Noch viel
grundlegendere Fragen werden aufgeworfen, wenn es um eine Ausweitung des heute
noch ganz klar anthropozentrisch ausgerichteten Strafrechts95 auf nichtmenschliche
Akteure geht, seien dies nun – wie in früheren Zeiten – Tiere,96 seien es juristische
Personen oder seien es gar mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Roboter bzw. In-
telligente Agenten.
90
Singer (Fn. 12), S. 23.
91
Prinz, Der Mensch ist nicht frei. Ein Gespräch, in: Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und
Willensfreiheit, Frankfurt a.M. 2004, S. 26.
92
Vgl. Hassemer (Fn. 37), S. 16 f.
93
Frisch, FS Kühl (Fn. 1), S. 204 ff.; Frister, FS Frisch (Fn. 6), S. 533.
94
Hillenkamp, ZStW (Fn. 12), 46 f.
95
Vgl. Gless, GA 2017, 324; Seher, Intelligente Agenten als „Personen“ im Strafrecht?, in:
Gless/Seelmann (Hrsg.), Intelligente Agenten und das Recht, Baden-Baden 2016, S. 45; Zie-
mann, Wesen, Wesen, seid‘s gewesen? Zur Diskussion über ein Strafrecht für Maschinen, in:
Hilgendorf/Günther (Hrsg.), Robotik und Gesetzgebung, Baden-Baden 2013, S. 185.
96
Zur Bestrafung von Tieren vgl. Dinzelbauer, Das fremde Mittelalter: Gottesurteil und
Tierprozess, Essen 2006; Gless/Weigend (Fn. 63), 561, 566 f.; unklar ist, ob es sich bei den
Tierprozessen tatsächlich um Strafrecht im heutigen Verständnis gehandelt hat, vgl. Seher
(Fn. 95), S. 45; Ziemann (Fn. 95), S. 186 f., jeweils m.w.N.
438 Wolfgang Wohlers

1. Unternehmen und Intelligente Agenten als potentielle Adressaten


strafrechtlicher Normen

Aktuell stellt die weltweit im kriminalpolitischen Trend liegende Einführung der


Strafbarkeit von Unternehmen und anderen Verbänden97 die anthropozentrische Aus-
richtung des Strafrechts grundlegend in Frage.98 Bemerkenswerterweise ist aber zu
konstatieren, dass zwar die Kritiker des Unternehmensstrafrechts auf dessen Inkom-
patibilität mit dem tradierten Schuldgrundsatz verweisen,99 dass aber die Befürwor-
ter des Unternehmensstrafrechts sich im Wesentlichen darauf beschränken, die
kriminalpolitische Notwendigkeit der Einbeziehung von Unternehmen in den An-
wendungsbereich des Strafrechts zu betonen und die Vereinbarkeit mit dem Schuld-
grundsatz entweder gänzlich unerörtert lassen oder aber auf ein als „funktionsanalo-
ges“ Pendant zur Schuld des Individualstrafrechts verstandene Betriebs-, Verbands-
oder Organisationsschuld verweisen,100 deren Inhalte durchaus unklar bleiben, deren
gemeinsamer Nenner aber darin zu bestehen scheint, dass das Unternehmen dafür in
die Verantwortung genommen werden soll, dass es sich unzureichend organisiert
hat.101 Der Versuch, die Auseinandersetzung mit Grundlagenproblemen durch ein ge-
setzgeberisches Machtwort zu ersetzen, wie dies in der Schweiz vom Gesetzgeber
selbst ausdrücklich postuliert102 und in der Diskussion in Deutschland auch schon
propagiert wurde,103 hat nun aber nicht zur Folge, dass diese Grundlagenprobleme
schlicht und einfach verschwinden, sondern diese vielmehr unvermittelt dann wieder

97
Während von den deutschsprachigen Rechtsordnungen die Schweiz (2003), Österreich
(2006) und das Fürstentum Liechtenstein (2011) die kriminalstrafrechtliche Verantwortlich-
keit von Unternehmen bereits eingeführt haben, beschränkt sich Deutschland de lege lata auf
eine ordnungswidrigkeitenrechtliche Lösung (vgl. den Überblick bei Wohlers, Unterneh-
mensstrafrecht und Compliance: Landesbericht Deutschland – unter Berücksichtigung der
Rechtslage in Österreich, im Fürstentum Liechtenstein und in der Schweiz, in: Hess et al.
[Hrsg.], Unternehmen im globalen Umfeld, Köln 2017, S. 269 ff.; ders., ZGR 2016, 364,
365 f.).
98
So auch bereits Gless (Fn. 95), 324; Markwalder/Simmler, AJP 2017, 171, 180.
99
Vgl. nur Neumann, Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Verbänden – rechtstheoreti-
sche Prolegomena, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Unternehmensstrafrecht, Berlin 2012,
S. 17 ff.; Seelmann, in: Ackermann et al (Hrsg.), Festschrift für Niklaus Schmid, Zürich 2001,
S. 176 ff.; Wohlers SJZ 2000, 381, 385.
100
Vgl. Heine, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, Baden-Baden
1995, S. 261 ff.; Hilf, NZWiSt 2016, 189, 190 ff.; Hilf/Urtz/Handstanger, Verbandsverant-
wortlichkeit aus strafrechtlicher, abgabenrechtlicher und verwaltungsstrafrechtlicher Sicht,
Gutachten zum 20. ÖJT, Band III.1, Wien 2018, S. 33 und 38; Heine/Weißer, in: Schönke/
Schröder (Fn. 4), Vor §§ 25 ff. Rn. 131; Hirsch, ZStW 107 (1995), 285, 290; Tiedemann, NJW
1988, 1169, 1172.
101
Heine, ZStrR 2001, 22, 38; Pieth, ZStrR 2003, 353, 357 f.
102
Vgl. Botschaft zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches vom 21. Sep-
tember 1998, BBl. 1998, 2142 (Ziff. 217.3).
103
Vgl. Vogel, Unrecht und Schuld in einem Unternehmensstrafrecht, in: Kempf/Lüders-
sen/Volk (Hrsg.), Unternehmensstrafrecht, Berlin 2012, S. 205 ff. = StV 2012, 427 ff.
Das tradierte Schuldstrafrecht – ein Auslaufmodell? 439

auftauchen, wenn es um die Auslegung und Anwendung konkreter Normen geht.104


Die Frage, um deren Beantwortung wir uns nicht mehr weiter drücken dürfen, ist
nicht nur die, ob man Unternehmen unter bestimmten – und, wenn ja, welchen – Vor-
aussetzungen als verantwortlich für bestimmte Ereignisse einstufen kann. Zu klären
bleibt, ob man Unternehmen gegenüber berechtigterweise den Vorwurf erheben
kann, sie hätten sich vorwerfbar falsch verhalten und müssten aus diesem Grunde
einen Tadel akzeptieren.
Angesichts dessen, dass die eigentlich notwendige Grundlagendiskussion im Zu-
sammenhang mit der Einführung der Strafbarkeit von Unternehmen nicht stattgefun-
den hat (und wohl auch nicht mehr stattfinden wird), ist sehr zu hoffen, dass dies we-
nigstens im Zusammenhang mit der Frage nach der Strafbarkeit von mit künstlicher
Intelligenz ausgestatteten Robotern und Programmen (Intelligente Agenten) gesche-
hen wird. Zwar besteht soweit ersichtlich allgemeine Übereinstimmung dahinge-
hend, dass die heute vorhandenen Roboter und Softwareprogramme die Anforderun-
gen, die man an einen tauglichen Adressaten strafrechtlicher Normen stellen muss,
nicht erfüllen.105 Da wir aber nicht ausschließen können, dass dies zukünftig einmal
der Fall sein könnte,106 sollten wir uns bereits jetzt Gedanken dazu machen, wann
bzw. unter welchen Voraussetzungen „Intelligente Agenten“ gegenüber ein Schuld-
vorwurf erhoben werden kann.

2. Die Berechtigung eines Schuldvorwurfs


gegenüber nichtmenschlichen Akteuren

Der zentrale Einwand gegen die Einbeziehung nichtmenschlicher Akteure in den


Kreis tauglicher (Straf-)Täter geht dahin, dass ein Schuldvorwurf sinnvollerweise
nur gegenüber menschlichen Akteuren erhoben werden kann. An dieser Stelle ist
aber wieder in Erinnerung zu rufen, dass es bei der Zuschreibung von Verantwort-
lichkeit (und Vorwerfbarkeit), wie oben gesehen, nicht um den Nachweis bestimmter
Fähigkeiten geht, sondern eben darum, ob man Verantwortlichkeit und Vorwerfbar-
keit überzeugend zuschreiben kann. Anders ausgedrückt: Unternehmen und Intelli-
gente Agenten können zu Verantwortlichkeitssubjekten werden, wenn ein gesell-
schaftlicher Konsens hierfür vorhanden ist.107 Die Frage ist, wann bzw. unter welchen
Voraussetzungen sich ein solcher Konsens einstellen könnte.

104
Vgl. hierzu Wohlers, NZWiSt 2018, 412, 413 f. (in Auseinandersetzung mit dem Kölner
Entwurf eines Verbandssanktionengesetzes).
105
Gless/Weigend (Fn. 63), 574; Gless/Silvermann/Weigend, 19 New Criminal Law Re-
view (2016), 412, 416 ff.; Gless (Fn. 95), 327; Wohlers, BJM 2016, 113, 123.
106
So auch Markwalder/Simmler (Fn. 98), 181; vgl. auch Simmler/Markwalder (Fn. 63),
42 f.; a.A. Joerden (Fn. 13), S. 204 f.
107
Beck, Über Sinn und Unsinn von Statusfragen – zu Vor- und Nachteilen der Einführung
einer elektronischen Person, in: Hilgendorf/Günther (Hrsg.), Robotik und Gesetzgebung,
Baden-Baden 2013, S. 255; Gless/Weigend (Fn. 63), 574 f.; Hilgendorf, Können Roboter
schuldhaft handeln?, in: Beck (Hrsg.), Jenseits von Mensch und Maschine, Baden-Baden
440 Wolfgang Wohlers

Unstreitig ist, dass es bei der Strafbarkeit von Unternehmen und/oder Intelligenter
Agenten nicht darum gehen kann, die für Menschen entwickelte Kategorie der
Schuld auf diese zu übertragen.108 Da Unternehmen und Intelligente Agenten eben
keine Menschen sind, würde der Versuch, die für menschliche Akteure geltenden
Maßstäbe auf sie zu übertragen, von vornherein darauf hinauslaufen, den Akt der Zu-
schreibung auf etwas zu stützen, was erkennbar nichts anderes wäre als eine den rea-
len Gegebenheiten evident zuwiderlaufende Fiktion, die sich dann aus eben diesem
Grund als nicht tragfähig erweisen würde.109
Eine andere, theoretisch denkbare Möglichkeit bestände darin, auf das Erforder-
nis der als Vorwerfbarkeit verstandenen Schuld zu verzichten. Dies hätte allerdings
wohl – jedenfalls auf längere Sicht gesehen – Rückwirkungen auf das tradierte In-
dividualstrafrecht; es ist höchst zweifelhaft, ob das Nebeneinander eines Schuldstraf-
rechts für menschliche Individuen und eines schuldgelösten (Präventiv-)Strafrechts
für Unternehmen und/oder Intelligente Agenten auf Dauer durchzuhalten wäre.110
Entscheidend ist aber, dass das so entstandene schuldgelöste Unternehmensstrafrecht
der Sache nach ein auf Präventionswirkungen ausgerichtetes Sanktionenrecht wäre,
das dann zwar rein formal gesehen Teil eines erweiterten Strafrechtssystem ist, das
aber in der Sache selbst nicht mehr viel mit dem zu tun hat, was wir gemeinhin unter
Strafrecht verstehen.111 Wenn es darum geht, Unternehmen durch Sanktionsandro-
hungen zu Complianceanstrengungen zu motivieren,112 dann hat dies ersichtlich
nichts mehr damit zu tun, auf ein Fehlverhalten mit Tadel zu reagieren. Die entspre-
chenden Sanktionen sollten dann aber auch nicht durch die Inanspruchnahme des
Nimbus legitimiert werden, der dem Strafrecht in seiner tradierten Form offenbar
immer noch zukommt.113

2012, S. 121 f.; Mansdörfer, in: Barton et al. (Hrsg.), Festschrift für Thomas Fischer, München
2018, S. 159; Simmler/Markwalder (Fn. 63), 30 und 37 ff., vgl. auch Teubner, KritV 1987,
61 ff. (bezüglich Unternehmen) sowie ders. (Fn. 76), 8 ff. sowie ders., AcP 218 (2018),
155,164 ff. (bezüglich Intelligenter Agenten).
108
Vgl. auch – bezogen auf Unternehmen/Verbände – Kohlhof (Fn. 4), S. 93 f.; Lampe,
ZStW 106 (1994), 683, 722 ff.; Schirmer, JZ 2016, 660, 662; vgl. auch Teubner (Fn. 76), 22;
ders., AcP (Fn. 107), 171 ff. sowie – bezogen auf Roboter – Beck, AJP 2017, 183, 186; dies.
(Fn. 107), S. 253; Hilgendorf (Fn. 107), S. 119 f.
109
Vgl. Hilgendorf (Fn. 107), S. 130; Müller, AJP 2014, 595, 605: Man kann die Wil-
lensfreiheit fingieren, wenn hierfür ein praktisches Bedürfnis bestehe, was derzeit aber nicht
der Fall sei.
110
Vgl. hierzu – bezogen auf das Unternehmensstrafrecht – Wohlers (Fn. 99), 386 f.; ders.
(Fn. 104), 416.
111
Wohlers, Strafzwecke und Sanktionsarten in einem Unternehmensstrafrecht, in: Kempf/
Lüderssen/Volk (Hrsg.), Unternehmensstrafrecht, Berlin 2012, S. 246 f.; ders. (Fn. 104),
416 f.; ders., GA 2019, 425, 438 f.
112
Wohlers, ZGR 2016 (Fn. 97), 366 ff. und 382 f.; ders., Unternehmensstrafrecht und
Compliance (Fn. 97), S. 297 ff.; ders. (Fn. 104), 418.
113
Wohlers (Fn. 104), 417.
Das tradierte Schuldstrafrecht – ein Auslaufmodell? 441

Der dritte und wohl allein gangbare Weg, wenn man an einer strafrechtlichen Lö-
sung festhalten will, besteht darin, funktionsanaloge Pendants zu dem zu finden, was
bei Menschen die als Schuld etikettierte und für die Legitimität eines Tadels unver-
zichtbare Vorwerfbarkeit ausmacht. In Bezug auf die Strafbarkeit von Unternehmen
wird insoweit die sog. Betriebs- bzw. Organisationsschuld propagiert, bei der aller-
dings, wie bereits erwähnt, noch unklar ist, was man sich hierunter konkret vorzu-
stellen hat. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Schuld des Unternehmens
darin bestehen soll, für einen straftatrelevanten Grad an Desorganisation im Unter-
nehmen verantwortlich zu sein. Dass und warum diese zurechenbare Desorganisati-
on dann nicht nur Verantwortlichkeit, sondern darüber hinaus auch Vorwerfbarkeit
begründen kann, bedürfte allerdings der näheren Begründung.
Die Lösung über eine Betriebs- bzw. Organisationsschuld kann von vornherein
allein bei Unternehmen in Betracht kommen, nicht aber bei mit künstlicher Intelli-
genz ausgestatteten Robotern und anderen Intelligenten Agenten. Dass ein Roboter
einen Turing-Test zu bestehen vermag,114 wird man ebenso wenig als ausreichende
Basis für die Annahme seiner Schuldfähigkeit ansehen können, wie den Umstand,
dass ein Roboter menschenähnlich aussieht.115 Was aber stattdessen zu verlangen
ist, ist derzeit noch unklar: Teilweise wird es als ausreichend angesehen, dass der In-
telligente Agent in der Lage ist zu erkennen, was das Gebotene ist und er die Fähig-
keit hat, das Gebotene zu tun.116 Andere wollen darüber hinaus verlangen, dass der
Intelligente Agent sein Verhalten „in der Auseinandersetzung mit sich selbst wertend
überprüfen können“ muss.117 Wenn man das Erfordernis eines „funktionsanalogen“
Pendants zur menschlichen Schuld ernst nimmt, wird man tatsächlich wohl verlan-
gen müssen, dass Intelligente Agenten das Ansinnen, das in der Strafe liegt, nachvoll-
ziehen können, da anderenfalls der mit der Institution der Strafe118 verbundene Tadel
ins Leere geht.119 Der Gegeneinwand, dass man derartiges bei Intelligenten Agenten
nicht verlangen könne, weil auch Unternehmen eine Sanktion nicht als verdientes
Übel empfinden können,120 überzeugt nicht, sondern schlägt auf das Unternehmens-
strafrecht zurück, bei dem sich die Organisations- bzw. Betriebsschuld dann als
Deckmantel erweist, unter dem die Etablierung eines schuldgelösten Präventions-
strafrechts mehr schlecht als recht versteckt werden soll. Wenn wir Unternehmen

114
Vgl. Joerden (Fn. 13), S. 203 f.; kritisch zur Relevanz des Turing-Tests: Matthias
(Fn. 42), S. 119, 209 ff.
115
So auch Matthias (Fn. 42), S. 117 f.; aus psychologischer Sicht betrachtet scheint dies
allerdings ein relevanter Umstand zu sein, vgl. Gless (Fn. 95), 325.
116
So Erhardt/Mona, in: Gless/Seelmann (Hrsg.), Intelligente Agenten und das Recht,
Baden-Baden 2016, S. 89 f.
117
So Gless (Fn. 95), 326.
118
Zur Frage, mit welchen Sanktionen man Intelligente Agenten eigentlich „strafen“ kann,
vgl. Gless/Weigend (Fn. 63), 577 f.; Seher (Fn. 95), S. 58 ff.; Ziemann (Fn. 95), S. 188 ff.
119
Gaede (Fn. 14), S. 64; Gless (Fn. 95), 326; Gless/Weigend (Fn. 63), 575 ff.; Gless/
Silvermann/Weigend (Fn. 105), 424; Wohlers (Fn. 105), 123.
120
Vgl. Simmler/Markwalder (Fn. 63), 44.
442 Wolfgang Wohlers

und/oder Intelligente Agenten nicht nur instrumentell sanktionieren, sondern wenn


wir sie im Sinne der von Strawson beschriebenen reaktiven Praktiken „bestrafen“
wollen, dann müssen wir in der Lage sein darzulegen, dass und warum es sachlich
angemessen ist, Unternehmen und/oder Intelligente Agenten für ein Fehlverhalten
zu tadeln. Wenn uns das nicht gelingt, dann ist ein Unternehmens- und/oder ein Ro-
boterstrafrecht tatsächlich nichts anderes als ein Etikettenschwindel.
Identität, Authentizität und Schuld –
Reflexionen anlässlich der jüngsten Prozesse
gegen „alte Nazis“
Von Luís Greco

I. Einleitung
Reinhard Merkel habe ich zu meiner Assistentenzeit in München, an dem von
meinem Lehrer Bernd Schünemann veranstalteten „Rechtsphilosophischen Don-
nerstag-Seminar“ kennengelernt. Merkel referierte über die Schuld – ich vermute,
es ging um eine Frühfassung eines später erschienenen großen Büchleins1 – und hin-
terließ bei mir einen gewaltigen Eindruck, der mich zum Weiterlesen seiner Publi-
kationen anspornte. Ein Festschriftbeitrag ist keine laudatio, weshalb ich den gerade
eingeleiteten Lobgesang im übernächsten Satz abrupt beende. Es sei aber noch ge-
sagt, dass mich Merkel seitdem nicht nur als profunder, belesener, aber zugleich
scharfsinniger und klarer Denker, sondern vor allem als mutiger, sich dem Zeitgeist
nicht selten widersetzender Intellektueller beeindruckt und irgendwie inspiriert hat.2
Dass dies keine leeren Worte sind, möge der nicht nur ihm gewidmete, sondern für
ihn geschriebene Beitrag hoffentlich belegen.
Das Problem, dem ich mich zuwenden möchte, ist ein Merkel’sches, damit ein zu-
gleich strafrechtliches und philosophisches: die Frage der personalen Identität, die er
zu Recht als „unentdecktes Grundlagenproblem der Strafrechtsdogmatik“ bezeichnet.3
Konkret: vorausgesetzt, es dürfen keine Strafen für fremde Schuld verhängt werden;

1
Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2. Aufl. 2014.
2
In willkürlicher Auswahl eigener Favoriten: ich denke insb. an seine Überlegungen zu
den Rechtfertigungsgründen (zu den Notständen insb.: „Zaungäste“, in: Institut für Krimi-
nalwissenschaften Frankfurt a.M. [Hrsg.], Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995,
S. 171 ff.; „§ 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und warum darf der Staat töten?“, JZ
2007, 373; sowie Merkel, Früheuthanasie, 2001, insb. S. 528 ff.; und zur Notwehr: „Folter und
Notwehr“, FS Jakobs, 2007, S. 375 ff.); an seine Kritik der völkerrechtlichen Figur der Kol-
lateraltötung („Die ,kollaterale‘ Tötung von Zivilisten im Krieg“, JZ 2012, 1137); an seine
Stellungnahme zur Rettungsfolter (FS Jakobs, aaO.), bei der ich ihm nicht folgen würde (s.
Greco, GA 2007, 628); und an seine Überlegungen zur Beschneidung („Die Haut eines An-
deren“, Süddeutsche Zeitung v. 30. 08. 2012), denen ich weitgehend gefolgt bin (Roxin/Greco,
AT I, 5. Aufl. 2020, § 13 Rn. 96k).
3
Merkel, JZ 1999, 502, mit dem Titel: „Personale Identität und die Grenzen strafrechtlicher
Zurechnung. Annäherung an ein unentdecktes Grundlagenproblem der Strafrechtsdogmatik.“
444 Luís Greco

wie können wir uns sicher sein, dass derjenige, den wir bestrafen, auch (genauer: noch)
derjenige ist, der Schuld auf sich geladen hat? Der Anlass, mich diesen Fragen zuzu-
wenden, sind die jüngsten und (vielleicht aller-)letzten gegen NS-Straftäter durchge-
führten Strafverfahren. Man nehme das Beispiel von Oskar Gröning:4 als 93-jähriger
wurde er 2014 für Taten, die er als 21-jähriger 1942 begangen hat, angeklagt. Die
Schuldigsprechung durch das LG Lüneburg im Jahre 2015 traf einen bereits 94-jähri-
gen, bezog sich also auf Taten, die über 70 Jahre zurücklagen. Er verstarb 2018 im Alter
von 96 Jahren vor Antritt seiner Strafe.5 Ähnlich erging es Demjanjuk: nach über Jahr-
zehnten wiederholt „halb erfolgreichen“ Versuchen, ihn zur Verantwortung zu ziehen,
verurteile das LG München II 2011 einen 91-jährigen für Taten, die er 1943 begangen
hat;6 er verstarb kurz nach Einlegung seiner Revision.7
Dem Zeitgeist entspricht es, diese Verurteilungen als verspätete, aber überfällige
Siege der Rechtsstaats- und Menschenrechtsidee zu feiern.8 Das darf unsere Behand-
lung der Frage allerdings in keinster Weise präjudizieren. An vorliegender Stelle sol-
len die durchaus vorhandenen, vor allem beteiligungsdogmatischen Schwierigkeiten
der Strafbarkeitsbegründung9 bei Seite gelassen werden zugunsten der fundamenta-
leren, wenn auch selten gestellten Frage danach, ob bei derart weit zurückliegenden
Taten immer noch die Identität zwischen dem, der sie begangen hat und dem, der
später zur Verantwortung gezogen wird, gewahrt wird; ob es um dieselbe Person
geht.10 Die Relevanz dieses Gesichtspunkts wird immer wieder angedeutet, vor

4
Hierzu nur BVerfG NJW 2018, 289; BGHSt 61, 252.
5
Vgl. Spiegel-Online v. 12. 03. 2018, „Früherer SS-Mann Oskar Gröning ist tot“, https://
www.spiegel.de/panorama/justiz/ehemaliger-ss-mann-groening-der-buchhalter-von-auschwitz-
ist-tot-a-1197736.html. Zuletzt sei noch auf den Fall Boere hingewiesen, der für Taten, die er
1944 begangen haben soll, dessen gegen den Eröffnungsbeschluss vom 2009 eingelegte, eine
Verletzung von Art. 2 II 1 GG rügende Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an-
genommen wurde, BVerfG 2 BvR 1724/09, BeckRS 2009, 39528; hierzu Beck, HRRS 2010,
156 (164 f.). Ganz aktuell auch das Verfahren gegen den 93-jährigen, damals 19-jährigen
Bruno D. vor dem Hamburger Landgericht.
6
LG München II, Urt. v. 12. 5. 2011 – 1 Ks 115 Js 12496/08, BeckRS 2011, 139286. Zum
Ganzen informativ Benz, Der Henkersknecht. Der Prozess gegen John (Iwan) Demjanjuk in
München, 2011; Wefing, Der Fall Demjanjuk. Der letzte große NS-Prozess, 2011. S.a. BVerfG
NVwZ 2009, 1156; BVerfG, 2 BvR 2331/09, BeckRS 2009, 42026; 2 BvR 2332/09, BeckRS
2009, 39843.
7
S. nur Spiegel-Online v. 17. 03. 2012, „John Demjanjuk ist tot“, https://www.spiegel.de/
panorama/justiz/ns-kriegsverbrecher-john-demjanjuk-ist-tot-a-821950.html .
8
Beispielsweise Safferling, JZ 2017, 258: „Meilensteinverfahren … jede andere Ent-
scheidung wäre politisch einem Skandal gleichgekommen …“.
9
S. nur Leite, in: Stam/Werkmeister (Hrsg.), Der allgemeine Teil des Strafrechts in der
aktuellen Rechtsprechung, 2019, S. 53 ff.
10
Dieser Frage kommt Beck, HRRS 2010, 160 immerhin nahe, ohne sie freilich zu stellen:
„Zum anderen ist es nicht unberechtigt, zu diskutieren, inwieweit die Gerechtigkeit es erfor-
dert, einen Mann, der inzwischen ein sehr hohes Lebensalter erreicht hat, aufgrund der be-
stehenden Beweislage vor ein Strafgericht zu führen“. Im Fall Boere (o. Fn. 5) sah das BVerfG
keinen Anlass, sie aufzuwerfen.
Identität, Authentizität und Schuld 445

allem in anderen Zusammenhängen,11 ohne aber – mit Ausnahme von Silva Sánchez,
Kawaguchi und einer ersten Monografie von Erhardt12 – ihn zum Gegenstand einer
eigenen Untersuchung zu erheben.
Der Beitrag wird einen untypischen, undogmatischen Charakter aufweisen. Sein
Weg ist der einer Kadenz: er arbeitet sich zuerst hoch, von positivrechtlichen Über-
legungen (Verjährung, Strafzumessung, u. III.) zu vorpositiven strafrechtlichen Ar-
gumenten (insb. Straftheorie, u. IV.), sodann zu Ontologie und Metaphysik (wo die
Frage der personalen Identität aufgeworfen wird, u. V.), um sodann den Abstieg ins
Rechtliche zurückzufinden (u. VI.). Es folgt ein Exkurs über das nahestehende Pro-
blem der Unverjährbarkeit (VI.).
Das Ergebnis, das erst auf dieser letzten, rechtlichen Ebene gefunden werden soll,
nehme ich vorweg. Die Verurteilung für derart lang in der Vergangenheit liegende
Taten trifft nicht notwendigerweise eine andere Person als die, die die Taten began-
gen hat. Sie ist in aller Regel trotzdem illegitim, weil sie durch die in ihr implizite
Aussage, die Identität sei gewahrt, es gehe um denselben Menschen, diesen an
seine entfernteste Vergangenheit festnagelt und damit nicht nur die Möglichkeit,
dass er sich hiervon distanziert, sich neu erfindet, sich bekehrt, ex post im Schuld-
spruch bestreitet, sondern – durch die gesetzliche Ankündigung der Unverjährbarkeit
dieser Taten – bereits ex ante jegliche Hoffnung hierauf versagt. Damit maßt sich der
Staat ein ihm schwerlich zustehendes Recht an, die Biographie eines Bürgers selbst
zu schreiben, und missachtet dasjenige, was man als dessen Selbsturheberschaft oder
als Authentizität bezeichnen könnte.13

11
Für die Verjährung: Vormbaum, FS Bemmann, 1997, S. 481 ff. (498 f.); Jakobs, AT,
2. Aufl. 1991, § 10 Rn. 22; Hörnle, FS Beulke, 2015, S. 115 ff. (122); und vor ihnen bereits
Lourié, in einer 1914 veröffentlichten Arbeit, an die Asholt, Verjährung im Strafrecht, 2016,
S. 127 erinnert, der weitere ähnliche Stellungnahmen auflistet (S. 127 ff.); Nachw. zum aus-
ländischen Schrifttum bei Ragués i Valles, in: García Cavero/Chinguel Rivera (Hrsg.), De-
recho Penal y Persona. Libro Homenaje a Silva Sánchez (= FS Silva Sánchez), Lima, 2019,
S. 61 ff. (69 Fn. 15); für den Zeitablauf im Allgemeinen Tomiak, HRRS 2018, 18 (23); als
Begründung einer Gefährdungshaftung Honoré, in: Responsibility and Fault, Oxford/Port-
land, 1999, S. 14 ff. (29); als Schranke von Strafrecht Werkmeister, Straftheorien im Völker-
strafrecht, 2015, S. 95 ff. Womöglich weist die Diskussion über eine Charakterschuld eine
Nähe zum Identitätsproblem auf (gut ersichtlich am Beitrag von Androulakis über „,Zurech-
nung‘, Schuldbemessung und personale Identität“, ZStW 82 [1970], 492 [515 ff.], und Dan-
Cohen über „Responsibility and the Boundaries of the Self“, Harvard Law Review 105 [1992],
959).
12
Kawaguchi, FS Eser, 2005, S. 139 ff.; Silva Sánchez, FS Puppe, 2011, S. 989 ff.; Erhardt,
Strafrechtliche Verantwortung und personale Identität, 2014.
13
Das konnotationsreiche Wort wird hoffentlich keine Missverständnisse veranlassen.
Authentizität heißt hier also nur die Eigenschaft, Autor seines Lebens zu sein, was immer
diese Worte auch bedeuten. Wäre das Leben eine Tatbestandsverwirklichung, würde Au-
thentizität dasselbe wie Täterschaft i.S.v. § 25 StGB heißen. Mit diesem Sprachgebrauch ist
insbesondere nicht impliziert, dass irgendeine Entsprechung zum Wertsystem eines Subjekts
vorliegen muss (so der Sprachgebrauch von Schroth, MedR 2012, 571 ff., im Zusammenhang
von § 228 StGB).
446 Luís Greco

II. Die positivrechtliche Ebene


Womöglich enthält bereits die lex lata die Mittel, dem gerade beschriebenen Pro-
blem gerecht zu werden.

1. Verjährung?

Das Rechtsinstitut, dessen vorrangiger Sinn es ist, zeitlichen Abständen zwischen


Vervollkommnung des Tatbestands und Verhängung der Rechtsfolge Rechnung zu
tragen, ist die Verjährung.14 Gegenüber dem hiesigen Problem ist sie aber so gut
wie durchgehend unempfindlich. Mord verjährt nicht (§ 78 II StGB). Zudem ist
der Mord trotz der erklärten Bereitschaft zur restriktiven Handhabung15 keine Aus-
nahmeerscheinung.16 Bei einer von einem NS-Täter begangenen Tötung ist Mord die
Regel: wegen des für diese Taten prägenden Rassismus wird die Tötung grundsätz-
lich von Gründen getragen, die sozialethisch auf tiefster Stufe liegen, besonders ver-
werflich, geradezu verächtlich sind,17 also i.S.v. § 211 II StGB niedrig sind. Man
denke auch an die Zerstörungsabsicht i.S.d. Völkermords (§ 6 VStGB), der ebenfalls
unverjährbar ist (§ 5 VStGB).
Zudem scheint die Verjährung den Kern der Sache – den wir als das Problem be-
schrieben haben, ob der zu Bestrafende als Individuum nicht ungerecht behandelt
wird – noch nicht zu treffen. Denn Verjährung verobjektiviert; sie behandelt die
Frage, ob die Rechtsfolge noch zu verhängen ist, vornehmlich unter der Lupe des
Rechtsfriedens,18 der Rechtssicherheit19 oder der Disziplinierung von Verfolgungs-
behörden.20 Die drei Gesichtspunkte nennt BGHSt 51, 72 (78 Rn. 22): „Die Rechts-
einrichtung der Verjährung soll dem Rechtsfrieden und damit der Rechtssicherheit
dienen und einer etwaigen Untätigkeit der Behörden in jedem Abschnitt des Verfah-
rens entgegentreten“. Nicht selten steht sogar der kriminalistische Gesichtspunkt des
Beweisverlusts im Vordergrund.21 Verjährung bedeutet, mit anderen Worten, wir
haben Wichtigeres zu tun als zu bestrafen (Rechtsfrieden), Strafe solle dem Strafen-

14
Hierzu umf. Asholt (Fn. 11).
15
BVerfGE 45, 187 (221 ff.).
16
Nicht nur deshalb mehren sich Stimmen in dem Sinne, den Mord als Grundtatbestand
anzusehen, so Müssig, Mord und Totschlag, 2005, S. 4, 251; Grünewald, Das vorsätzliche
Tötungsdelikt, 2010, S. 368 ff., 378 ff.; Peralta, FS Roxin II, 2011, S. 257 ff. (263).
17
Zu dieser Definition BGHSt 3, 133; 3, 180 (182); zum Rassismus als niedrigem Be-
weggrund BGHSt 18, 37 (39); zur Fremdenfeindlichkeit als niedrigem Beweggrund BGHSt
47, 128 (130).
18
BGHSt 11, 393 (396); BGHSt 12, 335 (337 f.). Zu Rechtssicherheit als Grundlage der
Verjährung Asholt (Fn. 11), S. 105 f.
19
BGHSt (GrS) 62, 184 (195 Rn. 34).
20
BGHSt 11, 393 (396); BGHSt 12, 335 (337 f.); BGHSt (GrS) 62, 184 (195 Rn. 34).
21
Vgl. die Nachw. zu den Motiven zu den preußischen Strafgesetzbüchern aus dem
19. Jahrhundert bei Vormbaum, FS Bemmann, S. 482 f.; s.a. Asholt (Fn. 11), S. 92 ff.
Identität, Authentizität und Schuld 447

den, also uns, keinen Schaden zufügen (Rechtssicherheit), wir müssten Anreize set-
zen, damit unsere Verfolgungsorgane nicht nachlässig werden (Disziplinierung), Be-
strafen sei unverhältnismäßig schwer (Beweisverlust). Auf den Punkt gebracht: die
späte Strafe bringt uns nichts, sie ist konsequentialistisch sinnlos. Die Ausgangsfrage
ist aber eine andere, nämlich ob der Betroffene nicht ungerecht behandelt wird, weil
er eventuell nicht mehr für eigene, sondern für fremde Taten zur Verantwortung ge-
zogen wird.

2. Strafzumessung?

Den zeitlichen Abstand zwischen dem Tatbestand und der Rechtsfolge kann auch
das Strafzumessungsrecht berücksichtigen. Denkbar wäre nämlich, für Taten, die
lange in der Vergangenheit zurückliegen, mildere Strafen zu verhängen.22 Eine Be-
gründung könnte verjährungsnah, also konsequentialistisch sein: zunehmende Be-
dürfnisse an Rechtssicherheit und Rechtsfrieden, die nicht durch eine späte Bestra-
fung erschüttert werden sollten. Man könnte straf(zweck)theoretische Argumente
anführen, etwa ein „abnehmendes Sühnebedürfnis“,23 was wohl eher ein Hinweis
auf geminderte generalpräventive Erfordernisse sein dürfte. Eine weitere Alternative
läge darin, den zeitlichen Abstand als Grund anzusehen, in eine gesteigerte Prüfung
der „Wirkungen der Strafe für den Täter“ einzusteigen.24 Dies wird spezialpräventiv-
konsequentialistisch und zugleich vergeltungstheoretisch-deontologisch begründet,
wenn es in der Rspr. heißt, dass die Strafe dann zu mildern ist, „wenn sich die Tat
durch den Zeitablauf als einmalige Verfehlung des Täters erwiesen, er sich inzwi-
schen jahrelang einwandfrei geführt und der Verletzte die Folgen der Tat überwunden
hat“.25 Denkbar wäre noch, hohes Alter26 oder eine geringe Lebenserwartung27 als
Strafzumessungsgrund zu akzeptieren.
Die Begründetheit dieser Thesen kann ich nicht im Einzelnen untersuchen. Ich
merke nur an, dass sie alle eine bejahende Antwort auf die Frage voraussetzen, ob
der zu Bestrafende noch legitim behandelt wird. Denn ohne diese Bejahung wäre
ein Schuldspruch gar nicht möglich. Genau dies stellen die dargestellten Thesen
nicht in Frage, wenn sie sich erst für die Höhe des Strafausspruchs interessieren.

22
So BGHSt (GrS) 62, 184 (193 f. Rn. 30); BGH NStZ 2010, 445 (448 Rn. 20).
23
BGHSt (GrS) 62, 184 (194 Rn. 30).
24
BGHSt (GrS) 62, 184 (194 Rn. 30).
25
BGHSt (GrS) 62, 184 (194 Rn. 30).
26
Hierzu etwa BGH NJW 2006, 2129 m. Bspr. Streng, JR 2007, 271.
27
S. etwa BGH NStZ 1991, 527; NStZ 2018, 331; s.a. Streng, JR 2007, 271 (273 f.) im
Sinne einer Vollstreckungslösung.
448 Luís Greco

3. Opportunität?

Das materielle Recht dürfte kaum mehr als die beiden dargestellten Rechtsinsti-
tute bieten. Man könnte sich deshalb dem Prozessrecht zuwenden. Hier stößt man auf
die §§ 153 ff. StPO. Aus mehreren Gründe bleibt man enttäuscht. Zunächst werden
sie bei Taten, die so schwer sind, dass ihre Bestrafung nicht durch Verjährung aus-
geschlossen wird (u. a.: Verbrechen; öffentliches Interesse an Strafverfolgung), sel-
ten zum Tragen kommen. Das ist insbesondere bei §§ 153c, 153f StPO, die Ausland-
staten betreffen, anders. Diese Vorschriften behandeln aber ein anderes, räumlich be-
gründetes Problem und interessieren sich für Zeitliches nur sekundär. Zudem zeigt
der Ermessenscharakter der Vorschriften, dass sie das Problem nicht ernst nehmen;
die Verfolgungsorgane dürfen weitgehend frei entscheiden, ob sie verfolgen oder
nicht, womit eine Bejahung der Ausgangsfrage, ob das zu bestrafende Individuum
nicht ungerecht behandelt wird, ebenfalls vorausgesetzt wird.

III. Die straftheoretische Ebene


1. Das Problem weist also über das positive Recht hinaus. Womöglich lässt es sich
auf einer strafrechtsphilosophischen Ebene bewältigen, nämlich durch Überlegun-
gen zum Sinn der Strafe in den genannten Konstellationen. Der Gedanke kommt be-
reits in einigen der o. III. 2. zitierten BGH-Entscheidungen zur Strafzumessung zum
Vorschein: die Strafe könnte in der vorliegenden Situation ihren Sinn verlieren.
2. Betrachten wir die Sache zuerst aus der Perspektive präventiver Straftheorien.
a) Eine Reihe von kritischen Fragen bieten sich an. Welche Abschreckungswir-
kung weist die Androhung einer Strafe auf, von der der zur Tatbegehung Geneigte
weiß, dass sie erst in 70 Jahren verhängt werden soll? Wirkt eine Bestrafung integ-
rativ-normbestätigend, wenn die zeitgenössischen Zeugen des Normbruchs, deren
normative Erwartungen enttäuscht worden waren, inzwischen so gut wie alle verstor-
ben sind? Muss ein Täter, der über 50 Jahre gelebt hat, ohne Straftaten zu begehen,
irgendwie resozialisiert werden, müssen wir uns vor ihm schützen? Die präventiven
Straftheorien, die die Strafe mit der Anführung eines durch sie zu fördernden Zwecks
rechtfertigen, scheinen den Sinn bzw. die Zweckmäßigkeit einer Bestrafung lang ver-
gangener Taten in Frage zu stellen.
b) Diesen Schein zum Sein zu erheben, wäre aber aus zwei Gründen voreilig. Zum
einen sind die oben formulierten Fragen eben nur Fragen und keine Antworten. Die
Antworten sind zumindest teilweise empirischer Natur und nicht vom Schreibtisch
aus gewinnbar. Vom Schreibtisch aus lassen sich ähnlich plausible Hypothesen auf-
stellen, die aber darauf gerichtet sind, die Bestrafung sinnvoll bzw. zweckmäßig er-
scheinen zu lassen.28 So könnte man aus abschreckungstheoretischer Sicht die Vor-
züge betonen, die sich daraus ergeben sollen, dass derjenige, der die Tat in Erwägung
28
S.a. Hörnle, FS Beulke, S. 119 f.
Identität, Authentizität und Schuld 449

zieht, weiß, niemals entkommen zu können29 – eine zeitliche Variante der eher räum-
lich gedachten No-Safe-Haven-Maxime des Völkerstrafrechts.30 Ein Freund der
Normbestätigung bzw. der Integrationsprävention könnte geltend machen, dass ge-
rade die Weigerung, bestimmte Taten je für zeitlich erledigt zu erklären, die Bedeu-
tung der verletzten Norm im Bewusstsein der Bevölkerung unterstreiche. Nach die-
sen Perspektiven ist der zeitliche Abstand also ambivalent: er kann, muss aber nicht
der Zweckmäßigkeit der Bestrafung lang vergangener Taten entgegenstehen, weil er
als willkommenes Zeichen dafür dienen kann, zu verdeutlichen, wie sehr uns be-
stimmte Normen am Herzen liegen. Aus einer solchen Sicht ist das Medienspektakel
um einen in seinem Krankenbett liegenden moribunden 90-jährigen im Gerichtssaal
nicht zu bedauern, sondern gerade in seiner Absurdität willkommen zu heißen. Wir
bestrafen nicht obwohl, sondern gerade weil es absurd erscheint, denn im credo quia
absurdum erkennt man den Gläubigen.
Und eine spezialpräventive Auffassung kann es immer noch für angezeigt erach-
ten, sich zu vergewissern, ob das Resozialisierungsbedürfnis bzw. die Gefährlichkeit
wirklich entfallen sind, ob der alte Täter über die kriminellen Neigungen seiner Ju-
gend hinausgewachsen ist oder ob wir es sind, die es versäumt haben, genauer hin-
zuschauen.
Welche Seite am Ende recht hat, lässt sich nur – wenn der präventive Ausgangs-
punkt aufrichtig und nicht nur als Rationalisierung einer sich im Schrank verstecken-
den Vergeltung31 vertreten wird – empirisch entscheiden.
c) Wichtiger erscheint aber ein weiterer Gesichtspunkt, der bereits in den Über-
legungen zur Verjährung zum Vorschein gekommen ist. Präventive Theorien sind
Theorien darüber, weshalb wir von der Strafe einen Vorteil haben. Die eingangs for-
mulierte Frage weist eine andere Blickrichtung auf: es geht darum, ob der Betroffene
nicht ungerecht behandelt wird. Beide Frage dürfen nicht miteinander vermengt wer-
den, etwa nach dem Liszt’schen Motto, dass „die richtige, d. h. die gerechte Strafe die
notwendige Strafe“ sei.32 Wer dies tut, verkürzt Rechte eines einen Eigenwert auf-
weisenden Menschen zu vorläufigen Leihgaben eines gutmütigen Fürsten, mengt
den Täter unter die Gegenstände des Sachenrechts. Strafe muss sowohl konsequen-
tialistisch, zweckmäßigkeitsorientiert als auch deontologisch, respektorientiert be-
gründet werden, weil sie sowohl gegenüber der Gesellschaft als auch gegenüber
dem Individuum gerechtfertigt werden muss.33
29
Ragués i Valles, FS Silva Sánchez, S. 69, der daran erinnert, dass sich Feuerbach aus
straftheoretischen Gründen gegen die Verjährung aussprach (für die Nachw. s. Asholt [Fn. 11],
S. 20).
30
Womit man häufig das Weltrechtsprinzip begründet, s. nur Eser, FS Trechsel, 2002,
S. 219 ff. (234).
31
Eine Anspielung auf den von Michael Moore sog. „closet retributivism“, s. M. Moore,
Placing Blame, Oxford, 1997, S. 83 ff.
32
v. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, in: Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd.
I, 1905, S. 126 ff. (161).
33
Roxin/Greco, AT I, § 3 Rn. 1b, 51a.
450 Luís Greco

3. Wie sieht es aus mit Theorien, die nicht aus Gründen der Zweckmäßigkeit, son-
dern der Gerechtigkeit oder des Respekts bestrafen, also mit Vergeltungstheorien?
Diese Theorien weisen bezüglich des hier behandelten Problems einen Vorzug,
aber zugleich eine Begrenzung auf. Der Vorzug liegt darin, die Kernfrage an der rich-
tigen Stelle aufzuwerfen. Ist es noch gerecht, den Einzelnen in der hier behandelten
Situation zu bestrafen? Wird er nicht irgendwie zum Schauobjekt unserer präventi-
ven Belange degradiert? Damit wird aber zugleich eine Grenze klar. Die Theorien
bieten auf diese richtige Frage keine Antwort. Denn die Antwort, die Vergeltungs-
theorien parat haben, ist im Kern das Vorliegen (oder Fehlen) von individueller
Schuld. Was aber Schuld ist, dazu verhalten sie sich nicht; vielmehr setzen sie
diese Frage als geklärt voraus.
Immerhin sind wir beim Merkel’schen Problem der personalen Identität ange-
kommen. Denn Schuld als höchstpersönliche, unübertragbare Größe liegt nur
dann (noch) vor, wenn derjenige, der die Tat begangen hat, immer noch derselbe
Mensch ist, den wir bestrafen wollen. Ob dies aber der Fall ist, ist keine straftheore-
tische Frage mehr, sondern eine ontologisch-metaphysische, der wir uns in der Folge
zuwenden müssen.

IV. Die ontologisch-metaphysische Ebene


1. Merkel leitet das Problem mit dem klassischen Beispiel des Schiffs des Theseus
ein.34 Theseus repariert sein Schiff dadurch, dass er jede Planke sukzessiv abbaut und
durch eine neue ersetzt. Die abgebauten Planken werden von einem Beobachter auf-
gegriffen, der das alte Schiff Planke für Planke neu aufbaut. Am Ende stehen zwei
Schiffe nebeneinander; welches ist das alte Schiff? Sind es vielleicht sogar beide?
Oder keins?
Über dieses Problem, das viele Facetten aufweist, streiten sich Philosophen eif-
rig.35 Uns interessiert an der Stelle allein die Identität eines Individuums in der
Zeit, manchmal als Problem der Persistenz,36 der Kontinuität oder der diachronen
Identität37 bezeichnet (im Gegensatz zum Problem der sog. synchronen Identität,
das die Frage thematisiert, ob es zwei Schiffe gibt, oder ob die zwei Seelen, die in
Fausts Brust wohnen, zu zwei Personen führen oder es nur einen Faust gibt). Es

34
Merkel, JZ 1999, 503.
35
Sammlungen fundamentaler Aufsätze bieten Quante (Hrsg,), Personale Identität, 1999,
und Martin/Barresi (Hrsg.), Personal Identity, Malden, 2003, mit hilfreichen Einführungs-
studien; für einen instruktiven Einstieg Noonan, Personal Identity, London/New York, 2. Aufl.
2003; Shoemaker, Personal Identity and Ethics. A Brief Introduction, Ontario, 2009; sowie die
in den nachfolgenden Fn. Zitierten.
36
Quante, Personal Identity as a Principle of Biomedical Ethics, 2017, S. 4, 6.
37
Etwa Hudson, in: Gasser/Stefan (Hrsg.), Personal Identity. Complex or Simple?, Cam-
bridge, 2012, S. 236 ff.
Identität, Authentizität und Schuld 451

ginge an der Sache vorbei, sich in diesen mit großem Aufwand geführten Streit zu
vertiefen, und dies aus zwei Gründen.
2. a) Zum einen dürften die für die philosophische Diskussion tragenden, theore-
tisch-spekulativen Sorgen in unserem höchst praktischen Anlass, das Problem aufzu-
werfen, keine Entsprechung finden.
b) Dies wird bereits an der für die philosophische Diskussion charakteristischen
Methode ersichtlich. Hier wimmelt es an einer beeindruckenden Fülle kreativer,
nicht selten sogar konstruierter, skurriler Gedankenexperimente: Amnesien, Hirn-
transplantationen, Lobothomien, Hirnduplikationen, Klonierungen Erwachsener,
Teleportierungen, Backups …38 Uns geht es schlicht und ergreifend um das Altern,
also um das Verhältnis eines früheren Verhaltens zu einer Person, die von der Vor-
nahme dieses Verhaltens ca. 7 Jahrzehnte entfernt ist. Ob die aufwändigen Gedan-
kenexperimente dieses Phänomen, das so natürlich-trivial ist wie Leben und Tod, er-
hellen können, lasse ich dahingestellt.
c) Auffallend ist ferner, dass die philosophischen Theorien zum Problem der dia-
chronischen Identität zu der hier interessierenden trivialen Frage äußerst wenig zu
sagen haben. Ich erläutere das allein anhand der zwei wohl traditionelleren Theorie-
gruppen. So scheint die nachvollziehbare, vielfach auf Locke zurückgeführte These,
Kontinuität liege vor, soweit sich das Selbst durch eine Kette von psychischen Zu-
ständen, insbesondere von Erinnerungen als Einheit begreife,39 erst etwa beim Alz-
heimer-Kranken die Identität abzustreiten. Gröning und co. sind nach dieser Auffas-
sung durchgehend und völlig unproblematisch dieselbe Person. Aber auch die Ge-
genauffassung, die zeitliche Identität bzw. Persistenz als physisches Phänomen be-
greift, würde wohl wegen des Umstands, dass die alten Täter immer noch denselben
Körper bzw. dasselbe Gehirn haben (oder sogar sind), unproblematisch zur Bejahung
dieser Identität kommen.
3. Der zweite Grund liegt noch tiefer. Er würde selbst dann zum Tragen kommen,
wenn eine perfekte Entsprechung zwischen unserem Interesse und dem der Philoso-
phen bestünde. Er besteht in der schlichten Tatsache der Fülle der vorhandenen phi-
losophischen Ansätze, ihrer fachinternen Umstrittenheit und somit der Fragwürdig-
keit einer unkritischen Übertragung auf die Rechtswissenschaft (zu einer kritischen
Übertragung fühle ich mich nicht berufen). Das Recht kann die Frage, ob die Bestra-
fung des Einzelnen ihn ungerecht behandelt, nicht von der Klärung einer heillos um-
strittenen und wohl nie endgültig zu klärenden philosophischen Diskussion abhängig
machen. Es kann diese Frage nicht auf die Philosophie abwälzen, sondern ist gehal-
ten, sie in eigener Verantwortung zu beantworten.

38
Auch über die Angemessenheit der Verwendung von Gedankenexperimenten findet eine
methodische Diskussion statt, s. etwa Coleman, Philosophical Studies 98/1 (2000), 53 ff.;
Tamar Gendler, Intuition, Imagination, and Philosophical Methodology, Oxford, 2013,
S. 21 ff.
39
Für eine von vielen Darstellungen s. Schechtman, Staying Alive. Personal Identity,
Practical Concerns, and the Unity of a Life, Oxford, 2014, S. 10 ff. m. ausf. Nachw.
452 Luís Greco

V. Ein rechtliches Argument


Der Umweg in die Höhen der Philosophie führt uns also zurück zur Provinz des
Rechts, wenn auch nicht des positiven Rechts. Der Kern des Problems dürfte weniger
auf der metaphysisch-ontologischen als auf der rechtlichen Ebene zu verorten sein;
die metaphysisch-ontologische Frage bleibt immerhin von Bedeutung, wenn auch le-
diglich auf indirekte Art und Weise.

1. Der Schuldspruch als Identitätsbehauptung

Ausgangspunkt ist eine schlichte Feststellung. Unabhängig von dem endlosen


Streit der Philosophen über die personale Identität trifft das Recht Identitätsbehaup-
tungen, wenn es jemanden der Begehung einer Straftat schuldig spricht. Jeder
Schuldspruch verkörpert eine solche mehr als nur implizite Identitätsbehauptung:
er behauptet nämlich, dass der, der die Tat begangen hat, und der, an den sich das
Gericht richtet, miteinander identisch sind. Dies folgt aus dem Zusammenspiel zwei-
er Annahmen, die nicht nennenswert umstritten sind, nämlich aus der anerkannten
höchstpersönlichen Natur der Schuld und daraus, dass wir Schuld als notwendige
Voraussetzung eines Schuldspruchs ansehen. Sprechen wir nur dann schuldig,
wenn Schuld vorliegt, kann ein Individuum I allein dann der Begehung einer Tat
T schuldiggesprochen werden, wenn derjenige, der T begangen hat, auch I ist. An-
sonsten hätte man entweder eine Bestrafung eines anderen oder eine Bestrafung ohne
Schuld.

2. Von der Identität zur Authentizität

a) Diese Identitätsbehauptung erweist sich aber bei näherem Hinsehen als sehr
implikationsreich. Dies liegt weniger daran, dass sie eine Stellungnahme in einer phi-
losophischen Diskussion verkörpert, als an ihrem schlichten Aussagewert. Konkret
und aus der Perspektive des alten Ichs: Durch die Behauptung, der 90-jährige sei
immer noch der, der als 25-jähriger Straftaten begangen hat, negiert sie rückblickend,
dass es dem alten Ich gelungen sein kann, sich von seiner Vergangenheit zu distan-
zieren, sich neu zu erfinden,40 über die Tat hinaus zu wachsen. Aus der Perspektive
des jungen Ichs heißt das zugleich, dass es an seinen Fehler auf immer festgenagelt
bleibt, gleichgültig, was es tut oder lässt, gleichgültig, wie sehr es sich um einen Neu-
anfang bemüht. Saulus bleibt auf immer Saulus und kann es nie zum Paulus schaffen.
Hier dürfte meines Erachtens der Kern des Problems liegen. Diese Bestrafung er-
hebt die Tat zu einem nie mehr überwindbaren zentralen Ereignis der Biographie

40
Allgemein zur Fähigkeit zur Veränderung des eigenen Lebens im Zusammenhang der
Menschenwürdedebatte: Werkmeister (Fn. 11), S. 94: „Die Autonomie des verletzlichen und
fehlbaren Individuums besteht darin, sein Leben jederzeit radikal ändern zu können, ihm
zukünftig eine völlig andere Deutung zu geben“.
Identität, Authentizität und Schuld 453

eines Menschen, versagt ihm nahezu jede Möglichkeit, diese neuzuschreiben, sich –
in religiöser Sprache – zu bekehren, oder – existentialistisch gewendet – neu zu er-
finden. Der Weg zum Neuanfang wird ihm von Rechts wegen versperrt.
b) Es fragt sich nur, warum das so wichtig ist. Die Argumentation für die Chance
auf einen Neuanfang ist relativ einfach gestrickt. Der Ausgangspunkt liegt in dem für
die liberale Ordnung konstitutiven Gedanken der freien Entfaltung und der Autono-
mie, also im Gedankengut, das in Art. 1 I, 2 I GG seinen positivrechtlichen Ausdruck
gefunden hat. Im Grunde genommen ist der Neubeginn nicht das, worauf es an-
kommt, sondern nur eine Erscheinungsform hiervon. Vielmehr dürfte es darum
gehen, das Individuum als Autor seines eigenen Lebens bzw. seiner Biographie an-
zuerkennen – um so etwas wie Recht auf Selbsturheberschaft oder auf Authentizität.
Diese Überlegung bietet den Schlüssel zu allem weiteren.
Der zeitlich unbegrenzt strafende Staat zwingt Paulus, dem späteren Apostel, die
Selbstbeschreibung als Saulus, dem Christenverfolger, auf, gleichgültig, wie ernst-
haft und aufrichtig sich Paulus darum bemüht, seine Vergangenheit zu überwinden.
Ein solcher Staat schwingt sich selbst und seine Strafe zu einer Monopolstellung auf,
als könnte nur er über die von ihm festgelegten Mittel jemandem einen Neuanfang
ermöglichen, als wäre nur er, und niemals bloß das Individuum, dazu befugt, zu be-
stimmen, um welchen Menschen und um wessen Leben es geht. Akzeptiert man ein
Recht des Individuums, seine eigene Biographie zu schreiben, impliziert das zu-
gleich das Recht, die eigene Biographie nicht von einem anderen vorgeschrieben
zu bekommen, sowie das Recht, mit gehöriger Mühe die gehörigen Korrekturen vor-
zunehmen. Hiermit wäre ein Verständnis, das jeden (auch größeren) Fehler für einen
untilgbaren Bestandteil der Biographie eines Menschen erklärt, schwerlich verein-
bar.
c) Im Grunde geht es bei diesen Überlegungen nicht um Neuland, sondern, so gut
wie immer im Recht, um die mehr oder weniger behutsame Fortentwicklung dessen,
was es schon gibt. Die Gedanken nämlich, die in der Rspr. des BVerfG zur lebens-
langen Freiheitsstrafe entwickelt wurden – dass es mit der Menschenwürde unverein-
bar sei, „wenn der Staat für sich in Anspruch nehmen würde, den Menschen zwangs-
weise seiner Freiheit zu entkleiden, ohne daß zumindest die Chance für ihn besteht, je
wieder der Freiheit teilhaftig werden zu können“ (BVerfGE 45, 187 [229]) – können
als erste Manifestationen des hier postulierten Rechts angesehen werden, dass der
Staat den Menschen nicht mit seinen noch so entferntesten Fehlern untilgbar iden-
tifizieren darf.

3. Schranken dieses Rechts

a) Dieses Recht, Autor seines Lebens zu sein, kann natürlich nicht bedeuten, dass
man sich jederzeit nach freiem Belieben von dem Gepäck, das man mit sich trägt und
das mit jedem Schritt im Leben zunimmt, loslösen kann. Denn authentische Freiheit
ist auch Freiheit zur authentischen Bindung und zur authentischen Verantwortung;
454 Luís Greco

Verantwortung, auch frei übernommene, kann per definitionem nicht frei aufgekün-
digt werden, ansonsten wäre sie der Verantwortungslosigkeit gleich. Deshalb berech-
tigt die Authentizität weder zum Vertragsbruch noch zur Selbstbegünstigung; privat-
autonom oder schuldhaft begründete Pflichten beeinträchtigen nicht die Authentizi-
tät, sondern verwirklichen sie. Mit jeder wichtigeren Entscheidung – Aufnahme eines
Studiums oder einer Arbeitsstelle, Eheschließung, Zeugung von Kindern, Auszug
aus dem Elternhaus, Umzug in eine andere Stadt, Fertigstellung eines Buchs, aber
auch mit dem Abschluss eines Vertrags und mit der Begehung einer Straftat –
fügt der Mensch seiner Biografie einen zusätzlichen Absatz hinzu. Jede dieser Ent-
scheidungen begründet ihrerseits Rechte und Pflichten.
Damit ist auch der Weg geebnet zu einer ersten Annäherung an die Schranken die-
ses Rechts auf freie Selbsturheberschaft. Diese Schranken möchte ich nicht erst (nach
grundrechtsdogmatischem Vorbild) extern im Wege praktischer Konkordanz mit wi-
derstreitenden Belangen, sondern bereits intern im Wege einer sorgfältigen Reflexi-
on über die Möglichkeitsbedingungen einer solchen Freiheit erschließen. Sie dürften
sowohl in der Sache als auch im Subjekt begründet sein.
b) Die sachlichen Schranken werden am Beispiel des Sklavereivertrags, dem be-
reits von Mill anerkannten Beispiel einer nicht-bindenden Selbstverfügungsentschei-
dung, ersichtlich. Dieser Vertrag ist nicht erst deshalb unverbindlich, weil ihm Grün-
de des Gemeinwohls entgegenstehen, etwa weil wir keine Sklavengesellschaft sein
wollen, sondern bereits deshalb, weil auch derjenige, der diese Entscheidung frei von
jeglichem Zwang und aus kühlem Kalkül trifft, ihre Reichweite nie voll überblicken
kann – denn er übergibt sich der Willkür eines anderen, der sich somit zum eigent-
lichen Autor des Lebens seines neuen Besitzgegenstands erheben kann.41 Der Skla-
vereivertrag ist qualitativ anders als die Selbsttötung, denn er weist nicht nur die ne-
gative Dimension auf, etwas zu vernichten, sondern zugleich eine positive, indem er
ein Verhältnis der Fremdbeherrschung und der drohenden Inauthentizität begründet.
c) Die subjektbezogene Schranke hängt damit zusammen, dass individuelle Rech-
te, wie das Recht auf Selbsturheberschaft eines ist, sich in der Disposition bzw. im
Verzicht realisieren, diese bzw. dieser aber bestimmten Voraussetzungen genügen
muss, deren Strenge mit der Tragweite der jeweiligen Entscheidung zusammenhän-
gen. Auch aus diesem Grund kennt das Recht für folgenreiche Entscheidungen, von
Vertragsabschlüssen bis zur Begehung von Straftaten, Altersgrenzen oder die Figur
von Willensmängeln.

4. Die „alten Nazis“

Was noch fehlt ist eine klare Stellungnahme zum Fall unserer alten Verurteilten,
die vom Recht mit den Jugendlichen, die sie einmal waren, für identisch erklärt wer-

41
S. noch einmal Werkmeister (Fn. 11), S. 114 (Würdeverletzung, wenn man sich nicht
mehr als Mitautor des eigenen Lebens betrachten kann).
Identität, Authentizität und Schuld 455

den. Ist diese Identitätsbehauptung eine Verletzung des postulierten Rechts auf Au-
thentizität? Oder zieht sie nur die Folgen einer vom Individuum getroffenen authen-
tischen Entscheidung zur Straftatbegehung?
Ich denke, dass sich eine pauschale Antwort verbieten dürfte. Die stärkeren Grün-
de dürften aber dafür sprechen, die Bestrafung im Regelfall für illegitim zu erklären.
Denn die meisten Fälle dürften ziemlich nahe an der Grenze sowohl zu den in der
Sache als auch zu den im Subjekt begründeten Schranken liegen, was schwer zu über-
windende Zweifel an der Beachtung des Rechts dieser Menschen, ihre Biographie
selbst zu schreiben, begründet.
a) In sachlicher Hinsicht handelt es sich bei der Entscheidung des 25-jährigen,
schwere Straftaten zu begehen, um eine solche, die schwere Folgen auf sich zieht
– nämlich die Schuldigsprechung und eine langjährige Freiheitsstrafe – mit deren
Verhängung man bis zum letzten seiner Tage auf Erden rechnen muss, und dies
auch dann, wenn man viele Jahrzehnte vor sich hat. Zwar handelt es sich hierbei
um ein Minus zum Selbstverkauf in die Sklaverei; die unermessliche Reichweite
einer derartigen Entscheidung mindestens in ihrer zeitlichen Dimension rückt sie in-
soweit in die Nähe dieses Paradebeispiels für Inauthentizität.
b) Die Schwelle wird aber womöglich erst deshalb überschritten, weil zu diesen
sachlichen Überlegungen subjektbezogene hinzukommen.
aa) Ein erster, eher moralphilosophisch begründeter Umstand erschließt sich
durch die moralischen Einstellungen der Empathie und Introspektion. Die von den
noch lebenden NS-Tätern begangenen Gräueltaten sind in ihrer Abscheulichkeit ge-
schichtlich einzigartig. Dennoch sind sie von Menschen begangen worden, die sich
von uns in erster Linie durch Zufälligkeiten unterscheiden: sie sind am falschen Ort
zur falschen Zeit geboren. Wir, die das Glück haben, nichts anderes als den Rechts-
staat zu kennen, schwingen das Schwert der Gerechtigkeit gegen Menschen, denen
dieses Glück versagt blieb, die von früh auf ideologisch vergiftete Luft atmeten, für
die Lügen, Hass und Furcht das täglich Brot war. Spontan versetzt uns unsere ange-
borene Fähigkeit zur Empathie in die schwierige Situation dieser Personen hinein
und lässt deren Willfährigkeit zwar keineswegs legitim, aber immerhin als nicht völ-
lig unverständlich erscheinen. Und unsere ebenfalls angeborene Fähigkeit zur Intro-
spektion lässt unbesehen die Frage aufkommen, ob wir Menschenrechtsapostel uns
so sicher sein können, dass wir anders gehandelt hätten, wenn uns vergleichbares
Pech zuteil geworden wäre.
Zwar gibt es kein Recht darauf, sich einen Geburtsort und eine Geburtszeit aus-
zusuchen. Authentisches Leben entfaltet sich immer innerhalb eines bestimmten
Rahmens, dessen Schranken der Disposition des Individuums selbstverständlich ent-
zogen sind. Der Rahmen kann aber weiter oder enger sein. Ich behaupte nur, dass wir,
die nur weite Rahmen kennen, bei Aussagen zur Biographie von Menschen, die sich
innerhalb ganz enger Rahmen entfalten mussten, empathische und zugleich selbst-
kritische Zurückhaltung üben sollten.
456 Luís Greco

bb) Eine weitere, eher moralbiologisch begründete Sorge erinnert an das Alter
dieser Menschen, als sie der Versuchung erlagen. Diejenigen, über deren Taten
wir heute im Jahr 2019 noch richten können, waren zur Tatzeit in aller Regel
noch keine 25 Jahre. Diese Altersperiode markiert nicht zufällig den Höhepunkt
der kriminellen Karrieren.42 Es ist nicht erforderlich, sich mit den zahlreichen, an-
spruchsvollen Ansätzen auseinanderzusetzen, die die Kriminologie für die Erklärung
dieser schlichten Wahrheit anbietet, dass Kriminalität Jugendsache ist;43 vielmehr
begnüge ich mit der ebenfalls schlichten Wahrheit, dass das Gehirn seine (vorläufi-
ge44) volle Entwicklung erst nach dem 25. Lebensjahr erreicht.45 Die allseits bekannte
Impulsivität der Jugend beruht also nicht allein auf mangelnder Erfahrung, sondern
bereits auf Biologischem. Vielleicht wäre nicht einmal dieser Biologismus zur Erwe-
ckung eines Unbehagens bei der Bestrafung der alten Nazis vonnöten gewesen; es
hätte womöglich gereicht, auf die Impulsivität der Jugend hinzuweisen, an die
sich so gut wie jeder, der das 30. oder spätestens das 40. Lebensjahr erreicht hat, rück-
blickend gut erinnern kann.
c) Aus der Kombination dieser sowohl in der Sache als auch im Subjekt begrün-
deten Umstände erscheint es im Prinzip ungerecht, Menschen, auch dann, wenn sie
äußerste Gräueltaten begangen haben, nach 70 Jahren dieser Taten schuldig zu spre-
chen.46 Nicht nur gehen Demjanjuk und Gröning in die Geschichte als alte Nazis ein –
das wäre noch zu verkraften, denn die Geschichte interessiert sich in erster Linie für
unsere gemeinsame Lebenswelt, nur nachrangig für Privates –; sie bekommen es vom
Staat, in unser aller Namen, verbindlich zu hören, dass die Taten eines jungen Nazis
ihre Taten sind, m.a.W.: dass sie alte Nazis sind, und müssen aus diesem Grund den
Entzug ihrer letzten Freiheitstage erdulden. Wir drängen ihnen eine Biographie auf,

42
Vgl. nur Eisenberg/Kölbel, Kriminologie 7. Aufl. 2017, § 48 Rn. 11 ff.; Göppinger,
Kriminologie 6. Aufl. 2008; § 24 Rn. 8 ff.; Kaiser, Kriminologie 3. Aufl. 1996, § 43 Rn. 5 ff.
(Rn. 9: „Befunde von nahezu universeller Gültigkeit“), wobei diese Erkenntnisse freilich ty-
pischerweise nicht im Rahmen von Delikten im Zusammenhang mit Unrechtsregimen ge-
wonnen wurden.
43
Für eine sozialisations- und kontrolltheoretische Erklärung Kaiser (Fn. 38), § 43 Rn. 9;
ähnlich, daneben aber auch auf gesellschaftliche Kontexte hinweisend Eisenberg/Kölbel
(Fn. 38), § 48 Rn. 23 (s. auch § 55 Rn. 23 ff. mit Hinweisen zur neueren Lebenslaufkrimino-
logie).
44
Denn die sog. Plastizität des Gehirns, also dessen Fähigkeit, sich über verschiedene
Wege zu verändern, zählt zu den grundlegenden Entdeckungen der modernen Hirnforschung,
s. hierzu eindrucksvoll und allgemeinverständlich Doidge, The Brain That Changes Itself:
Stories of Personal Triumph from the Frontiers of Brain Science, London u. a. (Penguin),
2008; ders., The Brain’s Way of Healing: Stories of Remarkable Recoveries and Discoveries,
London u. a. (Penguin), 2016.
45
Sapolsky, Behave: The Biology of Humans at Our Best and Worst, New York (Penguin),
2018, S. 155 ff.
46
Wie sich diese Überlegungen strafrechtsdogmatisch operationalisieren lassen, muss im
Rahmen dieser ersten Annäherung nicht endgültig geklärt werden. Wegen ihrer schuldnahen
Fundierung dürfte Einiges für einen Strafaufhebungsgrund sprechen; die Nähe zur Verjährung
legt ein Verfahrenshindernis nahe.
Identität, Authentizität und Schuld 457

erheben uns zu Autoren ihres Lebens, und finden das gut, weil wir dabei die Worte
Gleichheit, Menschenrechte und Rechtsstaat gebrauchen, die diese Menschen, als sie
die Entscheidung trafen, an der wir sie heute, nach 70 Jahren, festnageln, allenfalls
als Schimpfworte kannten.

5. Drei Einwände

Vor Abschluss dieser Überlegungen möchte ich den Gedankengang gegen drei zu
erwartende Einwände absichern.
a) Der erste Einwand erlaubt sich keine Umwege: Ist es nicht unangemessen, dem
Täter ein Recht auf ein authentisches Leben zuzusprechen, wenn er seinen Opfern
nicht mal ein Recht auf Leben zuerkannte? Der Einwand dürfte kaum ernst zu neh-
men sein. Nach seiner talionischen Logik müsste es erlaubt sein, den Folterer zu fol-
tern und den Vergewaltiger zu vergewaltigen.
b) Gerade von der Seite grundrechtsdogmatisch geschulten Denkens liegt es nahe,
zu fragen, ob es ausreichen kann, ein subjektives Recht aufzustellen, ohne in eine
Abwägung mit möglichen Gegenbelangen einzusteigen. Was ist mit dem Rechts-
staat, der ein Zeichen setzen muss? Was ist mit den Opfern, denen zunehmend
sogar ein Recht auf Bestrafung der Täter zugesprochen wird?47 Hierzu in der gebo-
tenen Kürze: Ein nicht-instrumentalisierendes Verständnis des Rechts und von sub-
jektiven Rechten geht bei der Aufstellung dieser Rechte von Anfang an behutsam
vor; es kennt kein Recht darauf, den Arm zu schwingen, wo die Nase des anderen
beginnt,48 und dies nicht einmal als prima facie Recht, das erst im Wege der prakti-
schen Konkordanz mit dem auch prima facie bestehenden Recht des anderen auf eine
unversehrte Nase in Einklang gebracht werden muss. Das bedeutet, dass der Rechts-
staat, der auf dem hier kritisierten Weg Zeichen setzt, individuelle Rechte hierfür auf-
opfert und sich insoweit rechtswidrig verhält. Und auch dann, wenn das angebliche
Recht des Opfers auf Bestrafung des Täters anzuerkennen wäre, wogegen m. E. über-
zeugende Gründe sprechen,49 lässt sich ein Recht des Opfers auf die maßgebliche
Biographie des Täters kaum postulieren.
c) Der Weg zur Einschränkung des subjektiven Rechts darf aber nicht von außen
kommen, was Instrumentalisierung wäre, sondern vom Subjekt selbst. Hier könnte
man fragen, ob es nicht Taten gibt, die die eigene Biographie derart prägen, dass
man sich nie mehr von ihnen distanzieren kann. Hätten sich Stalin oder Hitler bekeh-
ren können? Das möchte ich nicht behaupten. Das hier entwickelte Argument besagt
nur, dass für derart folgenreiche, biographieprägende Entscheidungen bestimmte
47
Reemtsma, Das Recht des Opfers auf die Bestrafung des Täters – als Problem, 1999,
S. 26 f.; Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, Gesetz und Gerechtigkeit, 2002, S. 130 ff.;
Hörnle, JZ 2006, 950 (955 f.); dies., Straftheorien, 2. Aufl. 2017, S. 38 ff.; weitere Nachw. bei
Roxin/Greco, AT I, § 3 Rn. 36 h.
48
Vgl. Merkel, Süddeutsche Zeitung v. 30. 08. 2012 (wie Fn. 2).
49
Roxin/Greco, AT I, § 3 Rn. 36k ff.
458 Luís Greco

Voraussetzungen vorliegen müssen, die, wie gesehen, im Fall unserer noch lebenden
alten Nazis regelmäßig fehlen dürften. Anders verhält es sich bei Stalin, Hitler und
anderen Führungskräften, und dies bereits, weil die o. 3. c), 4. b) entwickelten sub-
jektbezogenen Überlegungen nicht zum Tragen kommen.

VI. Exkurs: Die jungen Mörder u. a.


vor der Unverjährbarkeit
Ist das Entwickelte abschließend gemeint? Wie verhält es sich etwa mit dem alten
Nazi, der sich sein Leben lang mit seinen Jugendsünden identifiziert, der sie bei jeder
Gelegenheit wiederholt und bestätigt? Ex-post betrachtet, also aus der Perspektive
des 90-jährigen, scheint ihm kein Unrecht zu geschehen, wenn der Staat sich nur
das Selbstbild zueigen macht, das dieses Individuum selbst gemalt hat. Aus ex-
ante-Sicht, d. h. für den 20-jährigen, liegt dennoch das Problem vor, dass diesem
jede Chance auf einen Neubeginn genommen wird (nehmen wir zur Vereinfachung
an, die Unverjährbarkeit wäre nicht erst nachträglich eingeführt worden). Authenti-
zität ist nicht nur Ergebnis, sondern auch Hoffnung.
Damit wird eine Prämisse zu einer Fundamentalkritik an der Figur der Unverjähr-
barkeit gelegt (von der lebenslangen Freiheitsstrafe, die bereits aus sonstigen Grün-
den bedenklich ist, ganz zu schweigen50), die aber erst bei anderer Gelegenheit gegen
denkbare Einwände abgesichert werden kann. Unverjährbarkeit ist nur verständlich
unter der Annahme, dem Staat stehe ein Recht zu, Menschen, die einen gewissen,
zugegeben nicht leichten Fehler begehen, für immer mit diesem Fehler zu identifi-
zieren.

VII. Schluss
Die einzelnen Ergebnisse der Abhandlung werde ich, der Gewohnheit entgegen,
nicht wiederholen; dem Eiligen sei die Einleitung anempfohlen. Ich schließe meine
Abhandlung mit der Hoffnung, die Zeilen mögen Merkel, ein persönliches Vorbild
für wissenschaftliche Authentizität, auch gefallen.

50
Greco, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, 2009, S. 187 ff.
Die Genealogie der Vergeltung, oder warum
retributiven Überzeugungen nicht zu trauen ist
Ein Beitrag zu einer neuropsychologisch informierten Strafrechtswissenschaft

Von Jan Christoph Bublitz

Dieser Beitrag möchte eine Argumentart der gegenwärtigen philosophischen De-


batte, sog. Debunking-Argumente, in die rechtswissenschaftliche Diskussion einfüh-
ren, in dem es sie auf eines ihrer klassischen Themen anwendet: Die Legitimation
von vergeltender bzw. retributiver Strafe. „Debunking“ meint in diesem Zusammen-
hang etwas zu untergraben oder zu unterminieren. Debunking-Argumente versu-
chen, von der Genese einer Ansicht oder Überzeugung auf ihre Rechtfertigung zu
schließen.1 Genauer: sie versuchen, den Grad der Gewissheit einer Überzeugung
(die Sicherheit, mit der man etwas für richtig hält) entscheidend zu verringern. In
concreto möchte das folgende Argument die Überzeugung, Strafe zum Zweck der
Vergeltung sei gerechtfertigt, aufgrund ihrer psychologischen Entstehungsbedingun-
gen unterminieren – und zwar ohne sich vertieft mit den für oder gegen sie sprechen-
den Gründen auseinanderzusetzen, und ohne sich, das sei vorweggeschickt, in Grä-
ben zwischen Sein und Sollen zu verfangen. Debunking-Argumente sind epistemi-
scher Natur. Ihr Erfolg könnte neue Perspektiven für das Zusammenwirken von Psy-
chologie und Recht eröffnen, und zwar, notabene, bezüglich normativer Fragen.2
Das Thema verbindet mehrere Interessen des Jubilars: Brücken zwischen Recht
und Philosophie, Legitimation von Strafe, rechtliche Implikationen von Psychologie
und Neurowissenschaften. Zugleich ist es eine Annäherung an die Frage, welche Be-
deutung normativen Intuitionen in rechtlichen Argumentationen zukommen und zu-
kommen sollen. Offenbar gibt es so etwas wie eine vis intuitiva, eine argumentative
Kraft, die sich aus der unmittelbaren Einsichtigkeit einer Aussage speist. Das Werk

1
Terminologisches: „Überzeugung“ wird hier gleichbedeutend mit „Ansicht“ i.S. des
Englischen „belief“ verwendet, etwa für wahr oder richtig halten, was voraussetzungsärmer ist
als die Resultate der gerichtlichen Überzeugungsbildung.
2
Die Rechtspsychologie beschäftigt sich weitüberwiegend nicht mit normativen Fragen im
engeren Sinn, sondern etwa mit dem Vorliegen psychischer Tatbestandselemente wie der
Schuldfähigkeit oder Hintergrundannahmen des Rechts. Der hier vorgeschlagene engere
Bezug auf normative Fragen würde eine jüngere Entwicklung in der Philosophie nachholen,
die zunehmend klassische Fragen mit experimentellen Methoden untersucht, siehe etwa
Grundmann/Horvath/Kipper (Hrsg.), Die experimentelle Philosophie in der Diskussion,
Suhrkamp, 2014; Paulo/Bublitz (Hrsg.), Empirische Ethik: Grundlagentexte aus Philosophie
und Psychologie. Suhrkamp (im Erscheinen).
460 Jan Christoph Bublitz

des Jubilars legt von ihr beredtes Zeugnis ab. Doch es ist alles andere als ausgemacht,
dass das intuitiv Einsichtige stets das Richtige ist oder ob die Kraft der Intuitionen
nicht bisweilen auch zum Falschen verführt. Dies gilt insbesondere für retributive
Intuitionen, grob: das Empfinden, vergeltende Strafe müsse sein. Diese zählen zu
Peter Strawsons berühmten reactive attitudes.3 In den vielen Gesprächen, die der
Verf. mit dem Jubilar über Strafbegründungen führen durfte, bildeten diese so
etwas wie einen argumentativen Fluchtpunkt. Der folgende Beitrag möchte dazu an-
regen, den gedanklichen Horizont neu auszurichten: Retributive Intuitionen sind
epistemisch unzuverlässig, ihnen ist nicht zu trauen, man sollte das eigene Denken
von ihren Einflüssen aktiv zu befreien suchen. Soweit sie retributive Ansichten stüt-
zen, sind diese zu suspendieren. All das ist freilich keine originelle, aber eine noch
immer aktuelle These, denn retributive Intuitionen prägen das alltägliche wie das ju-
ristische Denken über Strafe und wirken auf Straftheorien wie -praxen ein. Neuer-
dings wird sogar der lange (zurecht) diskreditierte Bezug auf das Strafempfinden
der Bevölkerung in der Strafrechtswissenschaft zu rehabilitieren gesucht.4
Ein ideengeschichtlicher Referenzpunkt des Arguments ist Nietzsches Genealo-
gie der Moral.5 Gleichwohl atmet das Folgende seinen Geist nicht; insbesondere be-
ruht es nicht auf seinem in der Tat „unzeitgemäßen“ Menschenbild. Vielmehr soll das
Thema im Lichte gegenwärtiger psychologischer Forschung und philosophischer
Debatten betrachtet werden.6 Das bedarf eines ungewohnt tiefen Blicks in diese Dis-
ziplinen, der aus ihrer Sicht gleichwohl oberflächlich bleiben muss: Weder den phi-
losophischen Debatten zu Intuitionismus und Sentimentalismus, noch der psycholo-
gischen und neurowissenschaftlichen Forschung kann gebührend Rechnung getra-
gen werden; Gleiches gilt für das reichhaltige rechtswissenschaftliche Schrifttum.
Doch diese Blicktiefe, so die Hoffnung, ist für die anderen Disziplinen anschlussfä-
hig und ermöglicht interdisziplinären Trialog.
Zum Gang der Darstellung: Im ersten Teil wird die Struktur von Debunking-Ar-
gumenten knapp erläutert. Der zweite Teil behandelt die faktische Prämisse des Ar-
guments. Dafür wird der Stand der Forschung zu Wesen und Entstehung retributiver
Intuitionen sowie zu post hoc Rationalisierungen dargelegt. Diese Faktoren sind bei
der Genese retributiver Überzeugungen typischerweise involviert. Zudem wird ein

3
Strawson, Freedom and Resentment (1962). In: Freedom and Resentment and Other
Essays. Routledge, 2008.
4
Walter, Strafe und Vergeltung: Rehabilitation und Grenzen eines Prinzips. Nomos, 2016.
5
Nietzsche, Zur Genealogie der Moral (1887). In: Scheier (Hrsg.), Philosophische Werke,
Bd. 6, Meiner 2013. Auch schon ders., Jenseits von Gut und Böse (1886), ebenda Bd. 5. Vgl.
auch Bung, Nietzsche über Strafe. ZStW, 119 (1), 2007.
6
In der internationalen Diskussion scheint ein solches Argument immer wieder auf, wird
aber nur selten ausformuliert, etwa bei Greene, The Secret Joke of Kant’s Soul. In: Sinnott-
Armstrong (Hrsg.), Moral Psychology, (Bd. 3), MIT Press 2008, 35 – 79; Nichols, Brute Re-
tributivism. In: ders., Bound: Essays on free will and Responsibility, Oxford University Press
2015, 119 – 140; Königs, The Expressivist Account of Punishment, Retribution, and the
Emotions. Ethical Theory and Moral Practice 16 (5), 2013, 1029 – 1047.
Die Genealogie der Vergeltung 461

neuropsychologisches Modell der Verantwortungszuschreibung skizziert, welches


erstaunliche Ähnlichkeiten mit rechtsdogmatischen Figuren aufweist und eine
Reihe unerörterter Fragen für die Strafrechtswissenschaft aufwirft. Der dritte Teil
wendet sich der normativen Prämisse des Arguments zu. Dazu werden epistemische
Kriterien für überzeugende rechtliche Argumente herausgearbeitet, v. a. die Berück-
sichtigung gegenläufiger und kontraintuitiver Ansichten. Überzeugungsbildungs-
prozesse, die diese nicht erfüllen, sind keine zuverlässigen Wege zum Finden der
am besten begründeten Position. Diese Kriterien werden im vierten Teil auf retribu-
tive Überzeugungen angewendet, deren Entstehung durch Intuitionen oder Rationa-
lisierungen geprägt sind. Die Erörterung wird zeigen, dass solche Überzeugungen
auf epistemisch unzuverlässigem Boden stehen und daher aufgegeben werden soll-
ten. Der letzte Teil verwirft drei Einwände: Die vermeintliche Unüberwindbarkeit
retributiver Intuitionen, die Verwechslung von Gründen und Ursachen sowie man-
gelnde Relevanz für die rechtswissenschaftliche Theorienbildung. Damit ist ein
schlüssiges Debunking-Argument aufgezeigt, welches in der Zukunft auch auf wei-
tere rechtswissenschaftliche Themen angewendet werden kann.

I. Zur Struktur von Debunking-Argumenten


Der direkte Schluss von Entstehungsbedingungen einer Überzeugung auf ihre
Richtigkeit ist regelmäßig unzulässig, ein genetischer Fehlschluss. Ob eine Überzeu-
gung richtig oder falsch ist, hat in der Regel nichts mit den Umständen ihres Zustan-
dekommens zu tun, sondern bemisst sich allein an ihrem Inhalt. Im Recht firmiert
diese Unterscheidung manchmal als die zwischen Genese und Geltung oder Ursache
und Begründung (Rechtfertigung), bzw. zwischen dem context of discovery und con-
text of justification. Die Pointe von Debunking-Argumenten liegt in ihrer epistemi-
schen Dimension. Sie betreffen nicht die inhaltliche Richtigkeit einer Überzeugung,
sondern die Rechtfertigung, an ihre Richtigkeit zu glauben.7 Dafür können Entste-
hungsbedingungen relevant sein. Aus dem Alltag sind solche Erwägungen vertraut.
Macht etwa jemand unter starkem Alkoholeinfluss eine überraschende Beobachtung,
sind Zweifel an der Wahrnehmung und daraus resultierenden Überzeugungen ange-
bracht. Bei einer Aussage in einem Strafverfahren wäre diese Fehleranfälligkeit der
Überzeugungsbildung im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen. Eben
das ist eine epistemische Erwägung.
Das Ungewohnte an Debunking-Argumenten ist die Anwendung solcher Erwä-
gungen auf normative Überzeugungen. Gegenstand im konkreten Fall ist die Über-
zeugung, retributive Strafe sei gerechtfertigt. Sie wird im Folgenden als retributive
Überzeugung (RÜ) bezeichnet. Diese Überzeugung bezieht sich auf die retributive
Norm, die grob lautet: Strafe (in Form von Leidzufügung) ist ungeachtet weiterer
7
Das bisher wohl umfangreichste Werk zu Debunking Argumenten stammt von Sauer,
Debunking Arguments in Ethics. Cambridge University Press, 2018. Siehe auch Nichols,
Process Debunking and Ethics. Ethics 124 (4), 2014, 727 – 749.
462 Jan Christoph Bublitz

Folgen gerechtfertigt (zulässig, ggf. geboten); sie bezieht sich allein auf die vergan-
gene Tat (nicht auf künftige Zustände) und darf nur tatproportional gegen Schuldige
verhängt werden. Diese retributive Norm ist „absolut“ in dem Sinne, dass sie keine
weiteren Zwecke verfolgt (oder verfolgen muss), insofern ist sie auch nicht-konse-
quentialistisch.8 Die retributive Überzeugung (RÜ) besteht darin, diese Norm für
richtig, also gerechtfertigt zu halten. Jeder, der Vergeltung für einen zulässigen Straf-
zweck hält – und damit viele Juristen und Laien – hat eine retributive Überzeugung in
diesem Sinne. Das folgende Argument zielt darauf ab, die Gewissheit für diese Über-
zeugung zu untergraben, und zwar durch ein auf ihre Ätiologie abstellendes Argu-
ment. In formalerer Notation:
(i) Denker D hat die Überzeugung RÜ, d. h. er hält Vergeltung für gerechtfertigt [empirische
Prämisse 1].
(ii) RÜ wurde durch den psychologischen Prozess P gebildet [empirische Prämisse 2].
(iii) P ist kein zuverlässiger Prozess, um richtige Überzeugungen zu bilden [normative Prä-
misse 1].
(iv) Unzuverlässige Prozesse verleihen keine Berechtigung, an die Richtigkeit ihrer Resul-
tate zu glauben [normative Prämisse 2].
Konklusion aus (i) – (iv): D ist nicht berechtigt, RÜ für richtig zu halten.

Hierdurch wird der Glaube an die Richtigkeit von RÜ untergraben, unterminiert


oder debunked (alle synonym). Als Konsequenz gebietet eine rationale Überzeu-
gungsbildung, RÜ zu suspendieren, also den Glauben an die Rechtfertigung von Ver-
geltung aufgeben. Die argumentative Herausforderung liegt darin, unzuverlässige
psychologische Prozesse auszuweisen, Prämissen (ii) und (iii). Hierauf wird sich
die Erörterung beschränken, Prämissen (i) und (iv) werden arguendo vorausgesetzt.
Bevor (ii) und (iii) im zweiten bzw. dritten Abschnitt genauer dargelegt werden, seien
einige einführende Bemerkungen zu epistemischen Argumenten erlaubt.
Sie betreffen nicht die, juristisch gesprochen, materielle Frage „in der Sache“,
sondern jene, ob man berechtigt ist, an ein materielles Ergebnis zu glauben. In
den Naturwissenschaften sind solche Fragen mit Blick auf die Zuverlässigkeit be-
stimmter Erkenntnismethoden verbreitet. Denn häufig lässt sich nicht über ein be-
stimmtes Messergebnis streiten, sondern nur darüber, ob die verwendete Messmetho-
de unter den gegeben Umständen zuverlässig und geeignet ist, richtige Ergebnisse
hervorzubringen. Die Fragen nach der Richtigkeit eines Ergebnisses und der Zuver-
lässigkeit einer Methode liegen auf unterschiedlichen Ebenen. Viele Debatten der
Gegenwart betreffen epistemische Fragen. Beispiel Klimawandel: Nur wenige Men-
schen dürften in der Lage sein, durch eigenes Nachdenken „in der Sache“ eine wohl-
begründete Ansicht über die Existenz des Klimawandels zu bilden. Die Zusammen-
8
Im Detail ist die Bezeichnung von Vergeltung als nicht-konseq. Strafzweck freilich un-
genau; sie könnte sich ggf. regelkonsequentialistisch begründen lassen; ebenso ist die An-
nahme, Strafe sei intrinsisch wertvoll oder führe zu einem Ausgleich von Schuld, mit konseq.
Begründungen nicht unverträglich. Hiesiges Argument betrifft alle Begründungen der retri-
butiven Norm, nicht nur deontologische.
Die Genealogie der Vergeltung 463

hänge und mögliche alternative Erklärungen sind zu komplex. Für alle anderen stellt
sich die Frage, ob man ohne eigene Erkenntnismöglichkeit an die Existenz des an-
thropogenen Klimawandels glauben darf, vor allem auch nicht glauben darf. Dieses
Verdikt fällt eindeutig aus: Die beste Methode zur Beurteilung der Frage bieten die
(empirischen) Wissenschaften, und diese scheinen ausweislich ihrer Vertreter weit-
überwiegend zu einer Ansicht zu gelangen. Rationale Überzeugungsbildung gebietet
es, diese Ergebnisse für segr wahrscheinlich richtig zu erachten. Es gibt keine epis-
temisch auch nur annähernd gleichwertige Kontraposition. Folglich ist die Leugnung
des Klimawandels epistemisch ungerechtfertigt. Zu diesem Ergebnis gelangt man
ohne Auseinandersetzung mit irgendeinem spezifischen Befund über Klimaverände-
rungen „in der Sache“.
Die „Logik“ solcher epistemischen Argumente ist auch im Recht einsichtig: Ein
Richter, der Urteile würfelt, verwendet eine untaugliche Methode. So gebildete
Überzeugungen wären mit obigem Argument unterminierbar: Würfeln ist ein unzu-
verlässiger Prozess. Auf diesem Weg von Genese zu Rechtfertigung werden keine
Gräben zwischen Sein und Sollen übertreten, da stets normative Prämissen, hier
(iii) und (iv), involviert sind. Zugleich ist die Reichweite des Arguments beschränkt.
Es betrifft nur die epistemische Rechtfertigung einer auf einem bestimmten Wege
gebildeten Überzeugung. Ein erfolgreiches Debunking-Argument schließt also
weder aus, dass die identische Überzeugung auf einem anderen zuverlässigeren
Weg gebildet werden könnte, noch dass sie inhaltlich richtig ist. Auch ein würfelnder
Richter kann richtig liegen – nur gibt es keine Berechtigung, daran zu glauben. Folg-
lich führt Debunking nicht zur Falschheit der Überzeugung, sondern zur Neubeschei-
dung der Frage, ohne Rückgriff auf den unzuverlässigen Prozess.
Nun gilt rechtswissenschaftliches Interesse zumeist dem Inhalt einer Überzeu-
gung. Dennoch kann eine epistemische Herangehensweise manchmal hilfreich
sein. Wenn etwa bei Entscheidungen aufgrund begrenzter Ressourcen eine umfang-
reiche Auseinandersetzung in der Sache unmöglich ist, können mit ihrer Hilfe unzu-
verlässige Prozesse ausgefiltert werden. Unter epistemischen Gesichtspunkten könn-
ten auch Big Data und Künstliche Intelligenz Einzug in das Rechtssystem halten:
Voraussetzung wäre, dass Entscheidungen solcher Systeme im Vergleich zu mensch-
lichen zuverlässiger sind, also häufiger in der Sache zutreffen. Dies scheint bei eini-
gen einfachen rechtlichen Entscheidungen bereits heute der Fall zu sein.9 Weichen
unter dieser Prämisse menschliche und künstliche Entscheidungen in einem konkre-
ten Fall voneinander ab, gäbe es aus epistemischer Sicht keinen Grund, die mensch-
liche Entscheidung vorzuziehen – im Gegenteil.10

9
Siehe etwa Kleinberg et al., Human Decisions and Machine Predictions. The Quarterly
Journal of Economics 133 (1), 2017, 237 – 293.
10
Das Argument lautet hier (in Modifizierung der dritten Prämisse): Ist ein Prozess epis-
temisch zuverlässiger als ein anderer, ist man nicht berechtigt, an die Resultate des letzteren zu
glauben. Es mag natürlich andere Gründe geben, warum eine menschliche Entscheidung
ausschlaggebend sein soll (wie es etwa Art. 22 der Datenschutzgrundverordnung ausdrückt).
464 Jan Christoph Bublitz

Schließlich können epistemische Erwägungen in einem Patt verharrenden Debat-


ten neue Impulse verleihen. Verbleibt nach Austausch aller Gründe ein stabiler Dis-
sens in der Sache, könnte das Wechseln auf eine andere Ebene, von Gründen auf Ur-
sachen (also kausale Erklärungen), die Debatte voranbringen. Epistemisch bessere
Entstehungsbedingungen könnten eine Position vorteilhafter erscheinen lassen.11
Eben diese Lage zeigt sich im „Ewigkeitsstreit“ über die Legitimierbarkeit vergel-
tender Strafe, in dem sich keine Ansicht entscheidend durchzusetzen vermochte.12
Vielen Vergeltungstheorien zufolge verdienen Täter Strafe, Strafe gleiche Schuld
aus; durch Vergeltung wird Gerechtigkeit wiederhergestellt. Für Kritiker bleiben
diese Argumente unverständlich, geradezu magical thinking.13 Weder gleiche Strafe
irgendetwas aus, noch mache es die Welt gerechter, wenn dem Leid durch die Straftat
weiteres hinzugefügt werde. Wenn überhaupt könne Strafe nur durch positive Fol-
gen, also relative Strafzwecke (wie Abschreckung, Normstabilisierung) gerechtfer-
tigt werden. Eine besondere Facette dieser Pattsituation ist ihre dialektische Struktur.
Es widerstreiten zwei Normen, von denen eine alle Seiten anerkennen: Niemandem
soll Leid zugefügt werden (neminem laedere). Die retributive Norm ist ihr Gegenteil,
da sie das Leidzufügen in speziellen Fällen erlaubt. Beide Normen können bezüglich
desselben Falls nicht gleichzeitig gelten. Retributivisten (und andere Befürworter
von Strafe) müssen daher zeigen, warum die neminem leadere Norm nicht gilt (Aus-
nahme, Vorrang, Verwirkung, Überwiegen, etc.). Wird das entsprechende Argument
entkräftet, lebt sie wieder auf.

II. Zur faktischen Prämisse (ii)


Die Frage ist also, inwieweit die Entstehungsgeschichte der retributiven Überzeu-
gung ihre epistemische Berechtigung zu untergraben vermag. Als psychisches Fak-
tum ist die Ätiologie bei jedem Retributivisten im Einzelnen unterschiedlich. Den-
noch scheinen retributive Intuitionen von einem basalen psychischen Mechanismus
erzeugt zu werden, und viele retributive Überzeugungen bilden sich auf der Basis
dieser Intuitionen und werden mit ihrer Unterstützung aufrechterhalten. Diese Vor-
gänge sind Gegenstand der folgenden Erörterung. Damit sei nicht behauptet, jede re-
tributive Überzeugung entstehe auf diese Weise (diese empirische Frage sei hier of-
fengelassen, wir kehren zu ihr zurück).

Gleichwohl dürfte die Begründungslast für die menschliche Entscheidung deutlich steigen,
wenn eine im Allgemeinen treffsicherere KI zu einem anderen Ergebnis gelang.
11
Diese Strategie verfolgt etwa Greene (Fn. 6).
12
Zum Stand der Debatte etwa Hörnle, Straftheorien, (2. Aufl.), Mohr Siebeck, 2017.
13
So Nussbaum, Anger and forgiveness: Resentment, Generosity, Justice. Oxford Univer-
sity Press, 2016.
Die Genealogie der Vergeltung 465

1. Wesen und Wirkung von Intuitionen

Zur Illustration ein bekannter Fall aus der angloamerikanischen Debatte: Der
Täter Harris trifft in einem fast-food Restaurant in den USA zufällig auf zwei 16-Jäh-
rige. Er lockt sie in eine verlassene Gegend. Dort verspricht er den Jugendlichen,
ihnen nichts anzuhaben und lässt sie vor ihm weglaufen. Dabei erschießt er sie
mit offensichtlicher Freude hinterrücks. Anschließend bietet er anderen Menschen
die Hamburger der Jugendlichen an. Amüsiert malt er sich aus, als Polizist verkleidet
den Eltern der Jungen die Todesnachricht zu überbringen.14
Solche Fälle lösen ein Gefühl, eine Haltung, eine Meinung aus: die Tat ist ver-
werflich, der Täter hat Schuld, es möge strafend auf sie reagiert werden.15 Das ist
die retributive Intuition. Der Begriff der Intuition ist in Psychologie und Philosophie
nicht einheitlich definiert und weicht vom Alltagsverständnis ab.16 Hier werden dar-
unter schnell auftretende, nicht-inferentielle Haltungen (oder Einstellungen) verstan-
den, die einen ersten Anschein dafür geben, dass etwas der Fall ist (etwa: Harris ver-
diene Strafe). Intuitionen haben verschiedene Gegenstände, es gibt sprachliche Intui-
tionen (z. B. bezüglich der Korrektheit einer Formulierung) oder ästhetische; viele
fassen darunter auch Phänomene wie das Einschätzen, wo ein durch die Luft fliegen-
der Ball landen wird.
Einige Intuitionen sind erlernt, andere basal. Ein im Weiteren relevant werdendes
Charakteristikum von Intuitionen ist ihre sog. Nicht-Inferentialität. Damit ist ge-
meint, dass ihr Inhalt nicht durch bewusstes Schließen gefolgert wird sondern sich
unmittelbar, spontan und ohne geistige Anstrengung im Bewusstsein zeigt. Auch
für Laien bedarf es keiner bewussten Überlegung, ob Harris Tat falsch ist und Strafe
verdient, diese Bewertung ist unmittelbar einsichtig (so wie man etwas als schön
empfindet, ohne dies zuvor aus Schönheitsidealen abzuleiten). Damit geht ein zwei-
tes Charakteristikum einher: Intuitionen sind bezüglich ihrer Ursachen opak, d. h. in-
trospektiv nicht durchschaubar. So ist man in der Regel nicht in der Lage, die Ursa-
chen dafür zu benennen, warum man etwas als schön empfindet, je ne sais quoi. In-
tuitionen lassen sich nur im Nachhinein erklären. Auf Nachfrage wird man die Ant-

14
Ausführlich schildert den Sachverhalt Watson, Responsibility and the Limits of Evil:
Variations on a Strawsonian Theme. In: ders. (Hrsg.), Agency and Answerability. Oxford
University Press, 2004, 219 – 258.
15
Die Psychologie unterscheidet zwischen second person punishment (Opfer – Täter) und
third party punishment (unbeteiligte Dritter – Täter). Die emotionalen Reaktionen Betroffener
sind komplexer als die eines strafenden Dritten. Sie bleiben hier außer Betracht, beachtlich ist
die unbeteiligte Richterperspektive.
16
Allman/Woodward, What are Moral Intuitions and why should we care about them? A
Neurobiological Perspective. Philosophical Issues 18 (1), 2008, 164 – 185; Kauppinen, Moral
Intuition in Philosophy and Psychology. In: Levy/Clausen (Hrsg.), The Springer Handbook of
Neuroethics. Springer, 2013, S. 21; Haidt, The Emotional dog and its Rational tail: A Social
Intuitionist Approach to Moral Judgment. Psychological Review 108 (4), 2001, 814 – 834.
Eine ausführliche deutsche Darstellung bei Burgbacher, Moralische Intuition. Eine Annähe-
rung an einen mentalen Zustand. Mentis, 2018.
466 Jan Christoph Bublitz

wort erhalten, Harris Tat war falsch, weil Töten falsch sei; er sei schuldig, weil er die
Jugendlichen absichtlich erschoss, usw. Diese Erklärung begründet den Inhalt der
Intuition. Doch diese Gründe sind nicht notwendigerweise identisch mit den kausa-
len Ursachen für die Entstehung der Intuition. Weitere Faktoren können eine Rolle
gespielt haben, etwa die soziale Erwartung der Anerkenntnis des Tötungsverbots,
etc. Aus der eigenen Erfahrung lässt sich über die kausalen Ursachen nicht viel be-
sagen. Es gibt keinen, das ist der entscheidende Punkt, direkten introspektiven Zu-
griff auf die Ursachen einer Intuition. Erklärungen von eigenen Intuitionen sind in-
terpretative Akte – und damit fehleranfällig.17 Allerdings muss nun hinter jeder In-
tuition ein psychischer Mechanismus liegen, der Intuitionen hervorbringt. Irgendet-
was muss etwa die Flugbahn des Balles berechnen oder visuelle Stimuli verarbeiten
und zum Ergebnis gelangen, dass es sich um ein schönes Gesicht handelt. Diese Pro-
zesse bleiben dem Bewusstsein verschlossen, die Neuropsychologie vermag jedoch
etwas über sie zu besagen (dazu sogleich).
Insbesondere in der Philosophie wurde die epistemische Funktion von Intuitionen
herausgearbeitet: Sie fungieren psychologisch als Anscheinsbeweis. Im Allgemei-
nen geht man davon aus, dass die Welt ungefähr so ist, wie sie erscheint. Der natür-
liche Umgang mit Intuitionen ist, ihnen zu trauen. Moralische Intuitionen gehen
zudem häufig mit einem hohen Grad an Gewissheit einher.18 Darüber hinaus präju-
dizieren Intuitionen die Beurteilung von Behauptungen. Stimmt eine Behauptung
mit den eigenen Intuitionen überein, schenkt man ihr Glauben, sie ist intuitiv ein-
leuchtend. Widerspricht sie der Intuition, ist sie kontraintuitiv und wird bezweifelt.
Auf diese Weise wirken Intuitionen bei der Überzeugungsbildung: Sie geben einen
Anschein der Richtigkeit, in dessen Licht Gegenteiliges überprüft wird. Die philo-
sophische Debatte um den Intuitionismus betrifft u. a. die hier sogleich relevante
Frage, ob dieser Anscheinsbeweis gerechtfertigt ist.19

17
Die Forschungslinie, die sich mit Unwissen über eigene Gründe und Einstellungen be-
fasst, hat einen Ausgangspunkte in Nisbett/Wilson, Telling more than we can know. Psycho-
logical Review 84, 1977, 231 – 259.; s. auch Haidt (Fn. 16). Auf Einzelheiten der nicht immer
unumstrittenen Forschung kommt es hier nicht an. Vgl. mit Blick auf Verantwortungszu-
schreibung auch: Hauser et al., A dissociation between moral judgments and justifications.
Mind & language 22 (1), 2007, 1 – 21; Cushman/Young/Hauser, The role of conscious rea-
soning and intuition in moral judgment testing three principles of harm. Psychological science
17 (12), 2006, 1082 – 1089.
18
Burgbacher (Fn. 16).
19
Die metaethische Position des Intuitionismus ist freilich weitreichender, oft ist sie mit
der Annahme eines moralischen Realismus verbunden. Intuitionen sind dann Erkenntnismittel
für unabhängig existierende moralische Wahrheiten. Diese Aspekte werden im Folgenden
außer Acht gelassen, der hier verwendete Begriff ist anspruchsloser. Zum Ganzen vgl.
Huemer, Ethical intuitionism. Palgrave Macmillan, 2005.
Die Genealogie der Vergeltung 467

2. Retributive Emotionen

Intuitionen lassen sich analytisch von Emotionen unterscheiden, wenngleich sie


häufig gemeinsam auftreten.20 Emotionen definitorisch zu greifen ist notorisch
schwierig. Als Arbeitsdefinition: Emotionen sind affektive Zustände mit physiolo-
gischen Dimensionen, die oft mit bewusstem Erleben (dem Gefühl) unterschiedli-
cher Art, Intensität (Erregung) und Wertigkeit einhergehen. Viele Emotionen
haben intentionale Objekte, sie sind auf etwas gerichtet. Sie aktivieren Handlungs-
tendenzen und motivieren zu deren Ausführung.
Von gegenwärtigem Interesse sind retributive (oder punitive) Emotionen. Zu
ihnen zählen Wut, Verärgerung und Empörung; auch Ekel und Abscheu.21 Sie dürften
beim Vernehmen des Harrisfall, wenn auch schwach und flüchtig, ausgelöst worden
sein. Diese Emotionen prädisponieren zu spezifischen Handlungen: Wut und Empö-
rung motivieren zu Verurteilung, Rache, Heimzahlen – und zwar durch einen aggres-
siven Akt.22 Ekel motiviert hingegen Ausschluss. Das intentionale Objekt beider
Emotionen ist der Täter (auf den man wütend ist). In der Struktur der punitiven Emo-
tionen sind also bereits zwei Reaktionsformen auf die auslösende Handlung angelegt:
Ein aggressiver Akt gegen den Täter bzw. sein Ausschluss. Diese entsprechen den
beiden zentralen strafrechtlichen Reaktionsformen: Bestrafung bzw. Sicherung –
eine erste bemerkenswerte Koinzidenz psychischer und rechtlicher Strukturen.

3. Retributive Intuitionen

Retributive Intuitionen sind Hybride aus Intuitionen und Emotionen, affektiv auf-
geladene, nicht-inferentielle Haltungen, die nach Verurteilung und Bestrafung stre-
ben.23 Dieser Doppelcharakter geht in der herkömmlichen Rede von punitiven Emo-
tionen oft unter, weswegen hier von „retributiver Intuition“ gesprochen sei. Intuition
umfasst hier also auch die affektive Seite (an Stellen, an denen sie im Vordergrund
steht, ist gleichbedeutend von „retributiver Emotion“ die Rede). Warum ist die Intui-
tion retributiv? Sie aktiviert die Handlungstendenz des Leidzufügens, wird durch die
begangene Tat ausgelöst, ist also backward-looking, und erscheint der Person als von
weitergehenden Erwägungen frei (nicht-inferentiell). Dies sind klassische Eigen-

20
Vieles in der Unterscheidung zwischen Emotion und Intuition ist begrifflich und empi-
risch nicht geklärt; je nach Begriffsverwendung haben sie Überschneidungen.
21
Eine brauchbare Definition bei Dubreuil, Punitive emotions and norm violations. Phi-
losophical Explorations 13 (1), 2010, 35 – 50.
22
Etwa: Frijda, The lex talionis: On Vengeance. In: Goozen/van de Poll/Sergeant (Hrsg.),
Emotions: Essays on Emotion Theory, Erlbaum 1994, 263 – 289.
23
Greene/Haidt, How (and where) does Moral Judgment work? Trends in Cognitive
Sciences 6 (12), 2002, 517 – 523. Prooijen, The Moral Punishment Instinct. Perspectives on
justice and morality. Oxford University Press, 2018.
468 Jan Christoph Bublitz

schaften von Vergeltungslehren.24 Auch hier zeigt sich eine Koinzidenz von Psychi-
schem und Rechtlichem.

4. Emotionen, Rationalität und die Dual-Process Hypothese

Soweit zur Oberflächenerscheinung retributiver Intuitionen. Bevor wir uns ihrer


Unterseite zuwenden, ist anzumerken, dass Emotionen hier nicht in prinzipiellem
Gegensatz zu Verstand, Vernunft oder Rationalität verstanden werden. Die affektive
Wende in den Kognitionswissenschaften der vergangenen zwanzig Jahre hebt sowohl
emotionale Anteile an rationalen Entscheidungen als auch die Rationalität von Emo-
tionen hervor.25 So gehen etwa emotionale Defizite mit Schwierigkeiten im morali-
schen Verständnis und Handeln einher. Gleichwohl können insb. starke Emotionen
andere kognitive Prozesse negativ beeinträchtigen. Der klassische rationalistische
Gegensatz zwischen Gefühl und Verstand ist dennoch nicht aufrechtzuerhalten.
An seine Stelle ist in jüngerer Zeit ein anderer gerückt, der Gegensatz zwischen In-
tuition und Deliberation.
Dieser lässt sich am sog. Dual-Process-Modell illustrieren, welches hier zugrunde
gelegt wird. Psychische Prozesse lassen sich dem Modell zufolge grob in zwei Klas-
sen und Systeme einteilen. System 1 ist intuitives, schnell urteilendes, automatisches
Denken. Es kann nicht auf komplexere kognitive Funktionen zugreifen, dafür arbei-
tet es parallel. So kann System 1 große Datenmengen in geringer Tiefe verarbeiten.
System 2 ist das phylogenetisch jüngere, rationalere System und kann komplexe ko-
gnitive Operationen durchführen. Es verfügt über Zugriff auf Erinnerungen und Wis-
sen, kann kontrafaktisch, hypothetisch und folgenorientiert denken. Dafür benötigt
es allerdings viele Ressourcen und arbeitet seriell und langsam. Das Dual-Process
Modell postuliert also zwei Modi des Denkens, die zugleich miteinander kooperieren
und konfligieren: Thinking fast and slow, wie es der Titel des Buches von Daniel
Kahneman ausdrückt.26 Diese Zweiteilung des menschlichen Denkens hat sich in vie-
len Bereichen der Psychologie, auch der Moralpsychologie, als hilfreiches Modell
erwiesen.27

24
Proportionalität hingegen scheint nicht in dieser Intuition begründet zu liegen, das Ge-
fühl der Rache ist häufig exzessiv, etwa Frijda (Fn. 22).
25
Zu allem etwa Prinz, The emotional basis of moral judgments. Philosophical Explora-
tions 9 (1), 2006, 29 – 43. Einführend: Wiegmann/Engelmann, Jüngere Entwicklungen in der
Moralpsychologie. In: Paulo/Bublitz (Fn. 1).
26
Kahneman, Thinking, fast and slow. Penguin, 2012.
27
Evans, Dual-Processing Accounts of Reasoning, Judgment, and Social Cognition. An-
nual Review of Psychology 59 (1), 2008, 255 – 278; Kahneman (Fn. 26); Sauer, Moral thin-
king, fast and slow. Routledge, 2018; Cushman/Young/Greene, Our multi-system moral psy-
chology: Towards a consensus view. In: Doris (Hrsg.), Handbook of Moral Psychology, Ox-
ford University Press 2010, 47 – 71.
Die Genealogie der Vergeltung 469

5. Neuropsychologisches Modell der Verantwortungszuschreibung

Psychologie und Neurowissenschaften eröffnen nun Blicke in die Blackbox, auf


die Mechanismen, die Intuitionen hervorbringen. Das Vernehmen eines Sachver-
halts wie dem Harrisfall löst eine Kaskade von Verarbeitungsschritten im Gehirn
aus, welche die retributive Intuition erzeugen. Einzelne Schritte lassen sich eini-
germaßen genau bestimmen und sogar im Gehirn lokalisieren.28 Aus der entspre-
chenden Forschung lässt sich ein neuropsychologisches Modell intuitiver Strafur-
teile ableiten.29
Eine grobe Skizze: In einem ersten Schritt detektiert ein kognitives Modul das
Vorliegen einer Gefahr oder einer Normverletzung und löst entsprechende aversive
Emotionen aus. Dieser Schritt gilt als emotional, weil er in einem emotionalen Hirn-
areal, der Amygdala, durchgeführt wird und der Output eine Emotion ist. Die Stärke
der Emotion wird dabei von der Schwere des eingetretenen Schadens moduliert. Par-
allel dazu beurteilt ein zweites kognitives Modul, welches im Allgemeinen mit Men-
talisieren, dem psychischen Hineinversetzen in andere, betraut ist, die Absichten und
weitere psychische Zustände des Täters. Der Output beider Module wird dann in
einem dritten Modul integriert, welches auf ihrer Grundlage eine erste Einschätzung
darüber trifft, ob die Person an dem Schaden „Schuld“ hat. Ist dies der Fall, wird die
retributive Intuition ausgelöst. Diese Verarbeitungsschritte erfolgen unbewusst,
schnell und spontan. Sie sind System 1 Prozesse. Anschließend werden in einem vier-
ten Modul weitere Einzelheiten, v. a. die Art und Schwere der Reaktion auf die Hand-
lung (also etwa die Bestrafung) verarbeitet. Dieser vierte Schritt berücksichtigt den
Entscheidungskontext, verfügt über Zugang zu höherstufigen kognitiven Prozessen
und kann weitergehende Faktoren berücksichtigen (ein System-2 Prozess).
Erstaunlich ist die Präzision, mit der einzelne Verarbeitungsschritte manipuliert
werden können. Experimentell wurde etwa die Funktion des im zweiten Schritt in-
volvierten Mentalisierungsmoduls durch transkranielle Magnetstimulation des be-
treffenden Hirnareals beeinträchtigt.30 Die Folge: Probanden unter dem Einfluss
28
Aus der psychologischen Forschung siehe die Modelle von Alicke, Culpable control and
the psychology of blame. Psychological bulletin 126 (4), 2000, 556; Oswald/Stucki, A two-
process model of punishment. In: Oswald/Bieneck/Hupfeld (Hrsg.), Social psychology of
punishment of crime. Wiley 2011, 173 – 191; vgl. auch Cushman, Crime and punishment:
Distinguishing the roles of causal and intentional analyses in moral judgment. Cognition 108
(2), 2008, 353 – 380.
29
Das Modell ist entnommen: Buckholtz et al., From Blame to Punishment: Disrupting
Prefrontal Cortex Activity Reveals Norm Enforcement Mechanisms. Neuron 87 (6), 2015,
1369 – 1380; Ginther et al., Parsing the Behavioral and Brain Mechanisms of Third-Party
Punishment. The Journal of Neuroscience 36 (36), 2016, 9420 – 9434; Krueger/Hoffman, The
Emerging Neuroscience of Third-Party Punishment. Trends in Neurosciences 39 (8), 2016,
499 – 501; Buckholtz et al., The Neural Correlates of Third-Party Punishment. Neuron 60 (5),
2008, 930 – 940.
30
Young et al., Disruption of the right temporoparietal junction with transcranial magnetic
stimulation reduces the role of beliefs in moral judgments. Proceedings of the National Aca-
demy of Sciences 107 (15), 2010, 6753 – 6758.
470 Jan Christoph Bublitz

der Hirnstimulation hielten mentale Zustände des Täters als weniger bedeutsam und
versuchte Straftaten für weniger strafwürdig als jene ohne Stimulation. Die Hirnsti-
mulation verunmöglichte also nicht das Urteilen per se, sondern störte (von Proban-
den unbemerkt) einen kognitiven Prozess, wodurch sich der Inhalt des Urteils änder-
te. Eine andere Studie beeinträchtigte mit derselben Technik die Funktion des vierten
Moduls. Dies veränderte die Beurteilung der Strafschärfe, nicht aber der Schuld.31
Auf solchen Studien basiert das neuropsychologische Modell.
Zusammenfassend: Bei Vorliegen bestimmter Umstände wird eine Intuition aus-
gelöst, die eine aggressive Reaktion gegen den Täter motiviert. Ob diese Umstände
vorliegen wird durch verschiedene kognitive Prozesse beurteilt, von denen sich je-
denfalls theoretisch bestimmen lässt, auf welche Merkmale sie reagieren. Dem
hier skizzierten Modell zufolge entsteht die retributive Intuition zwischen dem drit-
ten und vierten Verarbeitungsschritt.32 Dabei, und dies ist für die weitere Erörterung
wichtig, werden bis zum Auslösen der Intuition nur wenige Informationen in recht
spezialisierten Modulen verarbeitet. Diese sind insbesondere für Erwägungen, die
gegen Vergeltung sprechen, etwa negative Folgen der Bestrafung, nicht sensibel.
Auch die Form der Reaktion wird durch die Intuition vorgegeben: ein aggressiver
Akt gegen den Täter (ob Einwände und Alternativen in der vierten Stufe berücksich-
tigt werden, lässt sich derzeit nicht sagen).

31
Buckholtz et al., (Fn. 29).
32
Eine genauere Eingrenzung ist derzeit nicht möglich, nicht nur weil das Modell verein-
facht und die Prozesse komplexer sind, sondern weil unklar ist, ob es sich um eine retributive
Intuition oder um mehrere miteinander verwobene handelt. Auf solche Einzelheiten kommt es
im Folgenden nicht an.
Die Genealogie der Vergeltung 471

Aus rechtswissenschaftlicher Sicht ist dieses Modell überraschend und irritierend


zugleich: Offensichtlich gibt es psychologische Mechanismen, die das Verhalten
einer Person innerhalb weniger Augenblicke daraufhin beurteilen, ob es eine
Norm verletzt, einen Schaden verursacht und ob sie im untechnischen Sinn „Schuld“
hat. Diese Mechanismen suchen systematisch nach bestimmten Informationen – und
diese entsprechen grob den strafrechtlichen Tatbestandsmerkmalen, die Sequenz
ihrer Prüfung ähnelt dem Deliktsaufbau. Im bejahenden Fall wird eine psychische
Intuition ausgelöst, die eine vergeltende Handlung vorschlägt. Wohlgemerkt, diese
Mechanismen finden sich in der Psyche von Laien.33 Es bestehen also auffallende
strukturelle Ähnlichkeiten zwischen weitgehend unbewusst operierenden psycholo-
gischen Mechanismen und einer in jahrhundertelanger Debatte entstandenen Rechts-
dogmatik. Weitere Koinzidenzen – wie sie zu erklären sind und was aus ihnen folgt,
sind auch international weitgehend unerörterte Fragen.34
Eine zentrale Frage ist, ob der neuropsychologischen Ebene ein kausaler Vorrang
vor der Dogmatik zukommt. Entwickeln sich also zuerst die Mechanismen, die dann
von der Rechtsdogmatik expliziert werden, oder vice versa? Der erste Fall wäre wis-
senschaftlich ungleich spannender. Für ihn spricht, dass viele Forscher diese Mecha-
nismen sowie retributive Intuitionen und Emotionen (oder jedenfalls Prädispositio-
nen zu ihnen) für angeboren erachten.35 Inwieweit dies zutrifft und welche Rolle kul-
turelle Überformungen spielen, soll angesichts der bekannten Schwierigkeiten, das
Naturwüchsige vom Gesellschaftlichen zu trennen, hier offenbleiben. Festzuhalten
ist jedoch, dass retributive Intuitionen weit verbreitet sind, die Alltagsmoral und ge-
wöhnliche Handlungsmuster, zwischenmenschliche Beziehungen wie Gruppenkon-
flikte prägen. In vielen kulturellen Artefakten, Romanen und Filmen kommt ein in-
trinsischer Wert von Strafe zum Ausdruck; erfolgreiche Vergeltung ruft Sympathie
hervor. Verhaltensökonomische Experimente zeigen, dass unbeteiligte Dritte bereit
sind, erhebliche eigene Kosten auf sich zu nehmen, um Normverletzende zu bestra-
fen, auch wenn damit keine weiteren positiven Effekte verbunden sind.36 Prototypi-
sche Formen solcher Bestrafungen finden sich bei Kindern.37 Ekel und Wut und ihre

33
Einige vermuten, solche Grundmechanismen seien angeboren, ggf. analog zu Sprach-
kompetenzen (gemäß der These Chomskys). Neben einer Universalgrammatik der Sprache
könnte es also eine der Moral geben, Mikhail, Moral Grammar and Intuitive Jurisprudence. In:
Bartels (Hrsg.), Psychology of Learning and Motivation: Moral Judgment and Decision
Making, (Bd. 50). Elsevier, 2009, 27 – 100.
34
Aus solchen Mechanismen die Grundlage für Menschenrechte abzuleiten versucht
Mikhail, Moral Grammar and Human Rights: Some Reflections on Cognitive Science and
Enlightenment Rationalism. In: Goodman/Jinks/Woods (Hrsg.), Understanding Social Action,
Promoting Human Rights. Oxford University Press, 2012.
35
Die evolutionäre Herausbildung eines Strafinstinkts untersucht (und vermutet) etwa
Prooijen, (Fn. 23). Ähnlich Cushman, Punishment in Humans: From Intuitions to Institutions:
Punishment: Intuitions and Institutions. Philosophy Compass 10 (2), 2015, 117 – 133.
36
Fehr/Gächter, Altruistic punishment in humans. Nature 415, 2002, 137 – 140.
37
Dazu McAuliffe/Jillian/Warneken, Costly third-party punishment in young children.
Cognition 134, 2015, 1 – 10; Bregant/Shaw/Kinzler, Intuitive Jurisprudence: Early Reasoning
472 Jan Christoph Bublitz

Handlungstendenzen scheinen zum emotionalen Grundrepertoire des Menschen zu


gehören. Folglich ist davon auszugehen, dass sich diese Mechanismen ontogenetisch
herausbilden, bevor Konzepte wie Verantwortlichkeit und die Bedeutung einzelner
Merkmale wie Vorsatz reflexiv beurteilt werden können. In der Entwicklung des ei-
genen Denkens gehen diese Mechanismen dem bewussten Nachdenken über Strafe
also voraus.38

6. Rationalisierung & Deliberation

Retributive Intuitionen entstehen also angesichts konkreter Fälle, in ihnen drückt


sich ein „Gerechtigkeitsgefühl“ über den Einzelfall aus. Aus dem wiederholten Er-
leben solcher Intuitionen bildet sich die allgemeine Überzeugung, Vergeltung
„müsse sein“, was wiederum ihre Rechtfertigung voraussetzt – RÜ ist entstanden.39
Hier beginnt die deliberative und diskursive Phase, in der Überzeugungen hinter-
fragt, getestet, verworfen und neu begründet werden. Dies führt mitunter zur Aufga-
be von RÜ, vielfach scheint sich RÜ dadurch aber zu verfestigen. Nur letzteres ist
hier von Interesse, also retributive Überzeugungen, die eine deliberative Phase über-
standen haben. Obgleich diese Phasen psychologisch individuell unterschiedlich
sind und obwohl man aus unterschiedlichen Gründen an RÜ festhalten mag, kann
die Psychologie etwas über in dieser Phase typischerweise auftretenden Vorgänge
besagen. Ihr Blick liegt quasi auf der Unterseite der inhaltlichen Debatten.
Vor allem eines ist beachtlich: Die retributive Intuition kann in der deliberativen
Phase auf verschiedene Weise weiterwirken und RÜ stützten. So wird im Allgemei-
nen das für überzeugend gehalten, was mit Intuitionen und Emotionen überein-
stimmt, mit ihnen resoniert: Feeling is believing.40 Dissonanzen zwischen Intuitionen
und Überzeugungen werden hingegen vermieden. Eine Reihe von Studien zeugen
von der Stärke speziell retributiver Intuitionen. Ein bemerkenswerter Befund ist
etwa, dass retributive Intuitionen das Verhalten auch dann beeinflussen können,
wenn Personen RÜ für falsch halten. So orientieren sich Probanden bei der Zumes-
sung von Strafe an retributiven Gesichtspunkten, etwa bzgl. relevanter Kriterien und
der Strafhöhe, gleichzeitig begründen sie ihre Entscheidung aber konsequentialis-

about the Functions of Punishment: Intuitive Jurisprudence. Journal of Empirical Legal Stu-
dies 13 (4), 2016, 693 – 717.
38
Auch wenn sublime Geister solche niederen Instinkte nicht an sich zu erkennen ver-
mögen, bedeutet dies nicht, dass das Denken von ihnen frei ist. Sie können in besonderen
Situationen zum Vorschein kommen, etwa in Konflikten, Krisen oder bei Überlastung – immer
dann, wenn System 2 sie nicht überschreiben kann.
39
Übergänge von Intuitionen zu Überzeugungen sind, je nach Begriffsverständnis, flie-
ßend. Einzelheiten sind hier unerheblich.
40
Etwa: Nichols, Sentimental Rules: On the Natural Foundations of Moral Judgment.
Oxford University Press, 2004; Frijda et al., The influence of emotions on beliefs. In: Frijda et
al. (Hrsg.), Emotions and beliefs: how feelings influence thoughts, Studies in emotion and
social interaction. Cambridge University Press 2000, 1 – 10.
Die Genealogie der Vergeltung 473

tisch.41 Handlung und Begründung fallen also auseinander. Wie ist das möglich? Die
Charakteristika retributiver Intuitionen vermögen diese Diskrepanz zu erklären: In-
tuitionen schlagen eine Bewertung vor, ohne die ihr zugrundeliegenden Ursachen of-
fenzulegen, diese bleiben opak. Die Probanden handeln gemäß ihren Intuitionen. Auf
Nachfrage versuchen sie, ihr Handeln zu begründen. Da sie die Ursachen der Intui-
tion nicht introspektiv erkennen können, führen sie die ihnen am besten erscheinende
Theorie an (häufig offenbar eine konsequentialistische). Ihr Verhalten aber wurde
durch die retributive Intuition geprägt, sie erklärt es jedenfalls besser als die Selbst-
auskunft. Intuitionen besitzen also die Kraft, das Verhalten zu beeinflussen und zu
irrigen Selbstverständnissen zu verführen. Das zeugt von ihrer Wirkmächtigkeit.
Am deutlichsten kommt diese wohl dort zum Vorschein, wo relative Strafzwecke
nicht greifen. Die (etwas konstruierten) Lehrbuchfälle betreffen etwa vor der Öffent-
lichkeit verborgen bleibende Taten, die von Tätern begangen werden, die keine künf-
tige Gefahr darstellen. In solchen Fällen mangels relativer Zwecke nicht zu strafen
wird regelmäßig – auch von Konsequentialisten – als falsch erlebt. Prägnant hat die-
ses Phänomen eine Studie von Aharoni herausgearbeitet. Studierenden wurden eben-
solche Sachverhalte vorgelegt und gebeten, die Schwere der Tat sowie das ob und wie
der Bestrafung zu beurteilen. Fast alle befürworteten Strafe. Sie wurden sodann nach
den Gründen für ihr Urteil befragt. Nach und nach legten die Forscher bei jedem an-
geführten Grund (zutreffend) dar, warum er im konkreten Fall nicht greift. Dabei ver-
folgten sie das Ziel, Probanden zur Aufgabe ihrer Strafe befürwortenden Antwort zu
bewegen. Interessanterweise gelang dies nur in rund 10 % der Fälle; mehr als 70 %
der Probanden hielten an der Bestrafung fest. Die Pointe: Probanden taten dies auch
noch dann, wenn sie keine Gründe mehr für Bestrafung angeben konnten. Zusam-
menfassend schreiben die Autoren: „These findings lend … support to the theory
that such punishment is driven primarily by retribution; however, this stance we
call retribution may be better explained by heuristic processes rather than by abstract
moral principles.“42 Diese Studie zeugt von einer Eigenschaften retributiver Intuitio-
nen, die hier als ihre Störrigkeit bezeichnet sei (recalcitrant emotions): Auch im
Lichte bessere Gründe verschwinden sie nicht. Ein irrationaler Zug.43
Psychologisch fügt sich die Störrigkeit von Intuitionen in allgemeinere Phänome-
ne ein: Motiviertes Denken, Rationalisierung, Dissonanzvermeidung. Im Allgemei-
nen wird eine einmal gebildete Ansicht nicht leicht wieder aufgegeben, sondern eher

41
Carlsmith, On Justifying Punishment: The Discrepancy Between Words and Actions.
Social Justice Research 21 (2), 2008, 119 – 137.
42
Aharoni/Fridlund, Punishment without reason: Isolating retribution in lay punishment of
criminal offenders. Psychology, Public Policy, and Law 18 (4), 2012, 599 – 625, Zitat auf
S. 618. Die Studie ist angelehnt an eine andere, die ein vergleichbares Insistieren auf morali-
sche Wertungen ohne Gründe zeigte, Haidt/Björklund/Murphy, Moral dumbfounding: when
intuition finds no reason. Lund psychological reports. Department of Psychology, Lund Uni-
versity, 2000.
43
Brady, The irrationality of recalcitrant emotions. Philosophical Studies 145 (3), 2009,
413 – 430.
474 Jan Christoph Bublitz

verteidigt und post hoc rationalisiert. „Rationalisierung“ meint das einseitige „Den-
ken vom Ergebnis her“, welches Juristen als anwaltliche Berufsdenkrichtung vertraut
ist. Viele Studien zur Verantwortungszuschreibung (bei Laien) zeigen, dass die initia-
le retributive Intuition die anschließende Bewertung von relevanten Merkmalen prä-
judiziert. Es wird versucht, das getroffene Urteil aufrechtzuerhalten – einige Psycho-
logen nennen dies blame validation.44 Ein entsprechendes Phänomen, der Sprung von
der spontanen Bewertung eines Sachverhalts zum Ergebnis des Falles, welches die
erst im Anschluss vorgenommene Prüfung der Tatbestandsmerkmale beeinflusst, ist
aus jedem Anfängertutorium im Strafrecht bekannt.45 Der Forschung zufolge ist
diese Form des Denkens weit verbreitet, auch wenn sie Denkenden nur selten be-
wusst wird, sie vollzieht sich unter einer „Illusion der Objektivität“.46 Betroffene hal-
ten sich für unvoreingenommen und ergebnisoffen, auch wenn sie bloß eine bereits
gefasste Meinung rationalisieren.47 Man mag einmal an sich selbst beobachten, wie
häufig man die eigene Meinung ändert, als wie stark man den inneren Widerstand
gegen die Aufgabe einer einmal bezogenen Position erlebt, und wie sich diese psy-
chologische Revisionsfestigkeit zur Qualität der ursprünglichen Überzeugungsbil-
dung verhält.48 Bemerkenswerterweise scheinen übrigens Menschen mit höheren ko-
gnitiven Fähigkeiten verstärkt zu Rationalisierungen zu neigen.49 Die Philosophen
Schwitzgebel und Ellis ziehen aus der aktuellen Rationalisierungsforschung folgen-
den Schluss:
„It is untenable, we think, for a philosopher or scientist to maintain with confidence that his
or her moral or philosophical reasoning is not substantially impacted by rationalization. […]
We invite you to consider the possibility that the ethical and philosophical reasoning of even
the very best philosophers is rife with rationalization.“50

Und die Psychologin Sood beschließt ihr umfangreiches Review zu motiviertem


Denken im Recht:

44
Alicke (Fn. 24).
45
Leider sind die psychologischen Entwicklungen durch das Jura Studium nicht unter-
sucht. Das Insistieren auf dem Subsumtionsstil ist vermutlich eine System 2 Aktivierung.
46
Stanley et al., Reasons Probably Won’t Change Your Mind: The Role of Reasons in
Revising Moral Decisions. Journal of Experimental Psychology, 2018, 962 – 987.
47
Sood, Motivated Cognition in Legal Judgments – An Analytic Review. Annual Review
of Law and Social Science 9 (1), 2013, 307 – 325; Pronin/Lin/Ross, The bias blind spot:
Perceptions of bias in self versus others. Personality and Social Psychology Bulletin 28 (3),
2002, 369 – 381.
48
Es ist gewiss nicht irrational, an einer wohlüberlegten Ansicht festzuhalten. Doch Ra-
tionalisierungen betreffen flüchtig gebildete Ansichten, vgl. Haidt (Fn. 16).
49
Kahan, Ideology, motivated reasoning, and cognitive reflection. Judgment and Decision
Making 8 (4), 2013, 18; West/Meserve/Stanovich, Cognitive sophistication does not attenuate
the bias blind spot., Journal of Personality and Social Psychology 103/3 (2012), 506 – 519.
50
Schwitzgebel/Ellis, Rationalization in moral and philosophical thought. In: Bonnefon/
Trémolière (Hrsg.): Moral inferences, Current issues in thinking and reasoning. Routledge,
2017, 170 – 182.
Die Genealogie der Vergeltung 475

„In stark contrast to the blindfolded ideal of the Goddess of Justice holding up her objective
scales, legal decision makers may engage in judgment processes with imbalanced scales,
blinded only to their own biases. Unaware of the legally extrinsic factors that are motivating
their cognitive functioning, they might believe they are engaging in neutral perceptions, eva-
luations, and reasoning—and most significantly, the legal system seems to assume so as
well. With the fallibility of these assumptions having been demonstrated, it is essential
for experimental researchers to now turn their focus toward remedying the covert operation
of motivated cognition in legal judgments.“51

Für die Psychologie steht die Wirksamkeit von Intuitionen und Rationalisierun-
gen im Recht demnach nicht in Frage.
Zusammenfassend: Retributive Intuitionen werden angesichts von konkreten Fäl-
len spontan und automatisiert durch System 1 Mechanismen erzeugt. Sie sind in der
Regel stark und störrisch. Aus ihnen bilden sich retributive Überzeugungen. Deswei-
teren motivieren sie das Festhalten an diesen, auch durch post hoc Rationalisierun-
gen, und mitunter selbst dann, wenn keine Gründe für die Überzeugung mehr ange-
führt werden können.52 Gleichwohl ist dies kein unüberwindbarer Vorgang: Viele
Menschen verwerfen ihre retributiven Neigungen. Doch bei allen, die dieses nicht
tun, können diese Vorgänge entscheidenden Einfluss haben.
Man mag einwenden, dieses Modell sei zu simplistisch und betreffe allenfalls folk
psychology, nicht die Überzeugungsbildung von Experten. Gewiss liefert es keine
umfängliche Beschreibung von Überzeugungsbildungsprozessen. Dennoch ist un-
wahrscheinlich, dass rechtsphilosophisches Denken von solchen Gravitationskräften
frei ist. Zum einen schneiden Experten in Studien häufig nicht deutlich besser als
Laien ab, schätzen sich aber deutlich besser ein.53 Dies führt zu overconfidence
und dem sog. bias blind spot.54 Zum anderen liefern Auffälligkeiten der Debatte
um Vergeltung Hinweise auf die Wirksamkeit solcher Vorgänge. Dazu später; für
die folgende normative Erörterung kommt es auf darauf nicht an. Es reicht, dass ei-
nige retributive Überzeugungen maßgeblich durch Zusammenspiel von Intuition und
Rationalisierung zustandekommen. Bei Laien, mit denen die meisten Studien durch-
geführt wurden, dürfte dies der Regelfall sein; und damit sind wenigstens weite Teile
der öffentlichen Meinung vom folgenden Argument betroffen.

51
Sood (Fn. 48).
52
So etwa auch Prooijen (Fn. 24), S. 75.
53
Schwitzgebel/Cushman, Expertise in Moral Reasoning? Order Effects on Moral Judg-
ment in Professional Philosophers and Non-Philosophers. Mind & Language 2012, 135 – 153;
Wistrich/A. Rachlinski/J. Rachlinski, Implicit Bias in Judicial Decision Making: How it af-
fects judgment and what judges can do about it. In: Redfield (Hrsg.), Enhancing Justice.
American Bar Association 2018, 87 – 130.
54
Pronin/Lin/Ross (Fn. 47); West/Meserve/Stanovich (Fn. 49).
476 Jan Christoph Bublitz

III. Zur normativen Prämisse (iii)


1. Normativer Maßstab

Wenden wir uns nun der normativen Prämisse (iii) zu. Ihr zufolge sind einige
Überzeugungsbildungsvorgänge epistemisch unzuverlässig, mit der Konsequenz,
dass ihren Resultaten nicht zu trauen ist. Dies setzt Kriterien zur Beurteilung der Zu-
verlässigkeit von Überzeugungsbildungsprozesse voraus. Wie lassen sie sich finden
und begründen? Am einfachsten wäre ein an die Naturwissenschaften angelehntes
Vorgehen: Überzeugungsbildungsprozesse wären empirisch daraufhin zu überprü-
fen, ob sie regelmäßig richtige Ergebnisse liefern (so wie man etwa die Tauglichkeit
eines neuen Messgeräts prüfen würde). Voraussetzung dafür ist jedoch die Kenntnis
richtiger Ergebnisse, und zwar aus unabhängigen Gründen. Das ist bei rechtsphilo-
sophischen Kontroversen nicht gegeben. Alternativ lassen sich Verfahrensvorausset-
zungen für Überzeugungsbildungsprozesse aufstellen. Einige prozedurale normative
Theorien wie die Diskurstheorie tun genau das; sie erklären das Einhalten der Pro-
zedur zur notwendigen Bedingung der Richtigkeit des Ergebnisses. Allerdings wer-
den sich für rechtsphilosophische Ansichten solche prozeduralen Richtigkeitsbedin-
gungen kaum finden lassen. Debunking-Argumente setzen solche nicht voraus, denn
sie sind schwächer: Sie präsupponieren nicht, dass das Einhalten einer bestimmten
Prozedur die Richtigkeit eines Ergebnisses notwendig ist, sondern nur, dass be-
stimmte Verfahrensfehler die Möglichkeit richtiger Ergebnisses deutlich verringern.
Das Urteil des würfelnden Richters ist demnach nicht deswegen falsch, weil Würfeln
ein per se unzulässiges Verfahren ist, sondern weil es häufig unzutreffende Ergebnis-
se liefert. Debunking ist ein epistemisches Argument. Die Strategie im Folgenden ist
daher, Kriterien für gute bzw. schlechte rechtliche Argumente zu identifizieren.
Diese wiederum haben psychologische Voraussetzungen, anhand derer konkrete
Überzeugungsbildungsprozesse beurteilt werden können.
Was sind diese Kriterien? Sie können sich nach Thema und Ebene des Arguments,
nach Recht und Philosophie unterscheiden. Gegenwärtiges Interesse gilt der Recht-
fertigung von Vergeltung als staatlicher Strafzweck in westlich-liberalen Rechtsord-
nungen. Somit ist weder eine rein moralphilosophische Ebene, noch die des positiven
Rechts entscheidend, sondern so etwas wie eine rechtsprinzipielle.55 Auf dieser wir-
ken allgemeine Rechtsgrundsätze, Kerngehalte der Menschenrechte und Grundsätze
eines fairen Verfahrens, v. a. das Recht auf Gehör, die faire Verteilung von Begrün-
dungslasten sowie die Unvoreingenommenheit des Urteilenden. Verstöße gegen letz-
tere stellen nicht allein Verletzungen prozessualer Rechte dar (die auf dieser prä-po-
sitiven Ebene nicht vorauszusetzen sind), sondern widerlaufen epistemischen Bedin-
gungen überzeugender rechtlicher Argumente: Verfahren, in denen nicht alle Seiten
gehört werden, liefern regelmäßig keine guten Ergebnisse, auditatur et altera pars.

55
Ob sie eine rechtsprinzipielle ist, liegt daran, was genau ein Rechtsprinzip ausmacht.
Dies sei hier offengelassen. Jedenfalls muss diese Ebene auch außerrechtliche Erwägungen,
etwa meta-ethischer Art, berücksichtigen können (s. u.).
Die Genealogie der Vergeltung 477

Diese Verfahrensgrundsätze werden hier als ins Recht eingeschriebene epistemische


Kriterien verstanden. Nicht bloß unerhebliche Verstöße gegen sie lassen an der Rich-
tigkeit des Ergebnisses ernste Zweifel aufkommen. Somit lässt sich der Begriff der
Unzuverlässigkeit in Prämisse (iii) so fassen:
Prämisse (iii*): Unzuverlässig ist ein Überzeugungsbildungsvorgang, wenn er epistemi-
schen Kriterien allgemeiner Verfahrensgrundsätze in nicht nur unerheblichem Maße wider-
läuft.

Im Grundsatz entspricht dies der Wertung im Verfahrensrecht: Bei groben Verstö-


ßen sind Entscheidungen prozedural fehlerhaft.56 Die im Folgenden zu erörternde
Frage ist nun, ob sich mit diesem Grundbestand an Normen Interessantes über Über-
legungsbildungsprozesse aussagen lässt. Einzunehmen ist die Perspektive eines
Richters, dem auf der Suche nach dem besten Argument alle Gründe für und
wider den Retributivismus vorgelegt werden. Am Ende muss er eine Entscheidung
treffen, die erga omnes wirkt. Der relevante Maßstab liegt im besten Argument,
d. h. in der Position, für welche die besten Gründe sprechen, all-things-considered.
Was genau Gründe besser als andere macht, kann selbst zum Gegenstand der Debatte
werden.57 Da in dieser Frage jedenfalls prima facie gute Gründe für beide Seiten, also
für und wider Vergeltung sprechen, und auch der jahrzehntelange Austausch unter
Gelehrten kein Ergebnis hervorbrachte, können epistemische Erwägungen entschei-
dungserheblich werden.

2. Retributive Intuitionen & Straftheorien

Diese vorpositive Ebene kann zudem nicht frei von allgemeinen Erwägungen der
Ethik und der politischen Philosophie bleiben. Insbesondere die hier relevanten
Meta-Fragen, ob Emotionen in Rechtfertigungen eine Rolle spielen dürfen oder
wie sich Gründe zu Ursachen verhalten, kann das Recht nicht aus eigener Kraft be-
antworten. Es muss auf philosophische Überlegungen zurückgreifen. Sie fundieren
Rechts- und Verfassungsprinzipien und werden zugleich durch jene beschränkt.
Daher lässt sich also nicht jeder emotionale oder intuitive Einfluss auf Überzeugun-
gen a limine als unzulässig zurückweisen. Dies wäre zu begründen. In der (Meta-)
Ethik werden dazu verschiedene Theorien vertreten, die auch in der Straftheorie
Nachhall gefunden haben. Sie lassen sich grob in drei Klassen unterteilen: Einige
Straftheorien nehmen ausdrücklich affirmativen Bezug auf retributive Intuitionen,
etwa durch Variationen folgender Aussage: Weil der Mensch retributive Emotionen
56
Genauer auszuarbeiten wäre der Schwellenwert der Zuverlässigkeit. Kaum erhellend
wäre es, alle non dealen psychischen Bedingungen als unzuverlässig auszuweisen. Es muss
sich demnach um erhebliche Abweichungen handeln.
57
Eine Vorfestlegung sei hier getroffen: Auf die Frage, ob retributive Strafe gerechtfertigt
ist, existiert keine vom menschlichen Denken unabhängige Antwort als Faktum der Welt. Das
Recht ist ein soziales Konstrukt. Dies schließt die Richtigkeit eines moralischen Realismus
nicht aus. Doch auch dann wären moralische Normen nicht automatisch rechtliche, sondern
nur eine von mehreren zu berücksichtigenden Tatsachen.
478 Jan Christoph Bublitz

verspürt (sie gar in seiner Natur liegen), soll das Recht ihnen entsprechen bzw. könne
sich ihnen nicht entziehen (Strawson)58. Oder sentimentalistisch: Moralische Urteile
beruhen auf Emotionen und sind deswegen notwendigerweise Teil von Strafbegrün-
dungen (jüngst Shaun Nichols).59 Schließlich intuitionistisch, etwa im Stile Michael
M. Moores: Es sei self-evident, unmittelbar einsichtig, dass Straftäter Vergeltung ver-
dienen.60
Viele klassische retributive Theorien hingegen meiden solche Bezugnahmen.
Manche erwähnen Strafbedürfnisse in Abgrenzung – die eigene Position beruhe ge-
rade nicht auf Gefühlen, sondern auf Gründen (Rationalismus). Eine Spielart ist die
These, Gründe und Ursachen lägen auf unabhängigen Ebenen; emotional beeinfluss-
te Urteile seien schlicht keine genuinen moralischen (eine kantianische Position).
Diese Theorien könnten durch den empirischen Nachweis, dass die Genese von
Überzeugungen in sie auf emotionalen Prozessen beruht, in Bedrängnis gebracht
werden. Dies wäre in gewisserweise self-defeating. Andere klassische Vergeltungs-
lehren legen sich zur Rolle von Emotionen nicht fest, in ihrem Argument tauchen
Strafbedürfnisse o. ä. nicht auf (etwa sozialvertragliche Begründungen). Bei ihrer
Rechtfertigung werden die o. a. Zuverlässigkeitskriterien relevant. Dies gilt auch
für die zunächst neutrale Position, nach der Intuitionen und Emotionen zulässige Ein-
gaben in eine umfassende Abwägung sind, in der sie im Lichte zahlreicher anderer
Erwägungen bestätigt oder verworfen werden (so ein weites Rawlsches Überle-
gungsgleichgewicht).61 Dies sind die wesentlichen Theorieoptionen, die in der
Ethik in unzähligen Verästelungen ausgebaut wurden. Sie beurteilen Zulässigkeit
und Zuverlässigkeit von Emotionen und Intuitionen unterschiedlich, und keine die-
ser Theorien kann ohne weitere Begründung verworfen werden.
Das Recht geriert sich traditionell als rationalistisch. Zum Ausdruck kommt dies
in Dicta wie lex est ratio summa, law as the artifical perfection of reason oder der Idee
des Vernunftrechts, welche die Entwicklung des Rechts über Jahrhunderte prägten.62
Betont wird die Rationalität der Überzeugungsbildung, hierzulande mit subjektivis-
tischen Freiräumen, etwa im Rahmen der richterlichen Überzeugungsbildung.63 Die
dort mitunter zum Ausdruck kommende Betonung der Rationalität samt einer Ge-
ringschätzung von Emotionen und Intuitionen dürfte jedoch oft legitimitätswahrende

58
Strawson (Fn. 3).
59
Nichols (Fn. 6).
60
Moore, Justifying Retributivism. Israel Law Review 27 (1 – 2), 1993, 15 – 49.
61
Daniels, Wide Reflective Equilibrium and Theory Acceptance in Ethics. The Journal of
Philosophy 76 (5), 1979, 256.
62
Die Zitate stammen von Cicero, De legibus, I. vi. 18 sowie Sir Edward Coke, beide
zitiert nach Sellers, Law, Reason, Emotion. In: Sellers (Hrsg.), Law, Reason, and Emotion,
Cambridge University Press, 2017, 11 – 31.
63
Ausführlich: Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß: Rationalität und Intuition.
Mohr Siebeck 2015.
Die Genealogie der Vergeltung 479

Rhetorik darstellen, mehr Behauptung als empirische Feststellung.64 Denn: jenseits


des Ausschlusses von Partikularismen und willkürlich Subjektivem ist alles andere
als klar, zu welchem Maße streng rationalistische normative Entscheidungen über-
haupt möglich sind, insbesondere bei vorpositiven (Wert-)Fragen. Es ist ja gerade
die zentrale These von Intuitionisten und Sentimentalisten, dass tiefere normative
Begründungen ohne entsprechende Einflüsse nicht zu haben seien. Für Intuitionisten
gründet alles Normative letztlich auf Aussagen folgender Art: Menschen Schmerzen
zuzufügen sei prima facie schlecht, Gleichheit sei gut, Kohärenz rechtfertigend. Sol-
che Sätze ließen sich nicht weiter begründen, nur intuitiv einsehen. An ihnen biegt
sich – im Bild Wittgensteins – der Spaten der Begründung zurück: Tiefer lässt sich
nicht graben. Ohne Intuitionen drohen sich alle Begründungen in infiniten Regressen
zu verlaufen. Pointiert: Entweder Intuitionismus oder (moralischer) Skeptizismus.
Vielleicht beginnt die moderne Verfassungsgeschichte nicht zufällig mit den Worten:
We hold these truth to be self-evident …
Für Sentimentalisten sind Emotionen der menschliche Zugang zu Werten, etwa
weil sie auf das Richtige hinweisen oder moralische Urteile konstituieren. In Nietz-
sches Worten (aber ohne seine Polemik): Die Moral ist die Zeichensprache der Af-
fekte.65 Ohne sie, rein rationalistisch, bliebe die Welt der Werte verschlossen. Sen-
timentalistische Ansätze erleben durch die Auflösung der Dichotomie von Vernunft
und Gefühl und durch empirische Zusammenhänge von moralischen und emotiona-
len Defiziten derzeit eine Konjunktur.66 Und wenn das oben skizzierte neuropsycho-
logische Modell zutrifft, sind emotionale Prozesse an normativen Bewertungen von
Handlungen stets beteiligt. Beide Theoriefamilien gehen davon aus, dass Intuitionen
oder Emotionen den Boden der Normativität bilden. Das rationalistische Selbstver-
ständnis des Rechts ist auf dieser Ebene also zu hinterfragen; intuitionistische und
emotionale Einflüsse lassen sich jedenfalls nicht ex cathedra als epistemisch unzu-
verlässig zurückweisen.

IV. Zuverlässigkeit und Ätiologie retributiver Intuitionen


1. Retributive Intuitionen

Im Lichte dieser (noch zu präzisierenden) Kriterien sollen nun typisierte Entste-


hungsprozesse retributiver Überzeugungen betrachtet werden, beginnend mit der
einfachen Intuition. Es mag selbstverständlich erscheinen, dass Täter wie Harris

64
Einige sprechen auch von einem „kulturellen Skript“ der emotionsfreien Justiz, etwa
Mindus, The Wrath of Reason and The Grace of Sentiment: Vindicating Emotion in Law. In:
Sellers (Fn. 62). Die empirische Literatur zu richterlichen Entscheidungen stützt eine stark
rationalistische Sicht nicht, etwa Wistrich/Rachlinski, Heart Versus Head: Do Judges Follow
the Law or Follow Their Feelings. Texas Law Review 93, 2015, 855 – 923.
65
Nietzsche (Fn. 5).
66
Siehe nur: Prinz (Fn. 26).
480 Jan Christoph Bublitz

Strafe verdienen. Als Begründung für die Zulässigkeit von Strafe reichen entspre-
chende Intuitionen aber nicht aus. Warum nicht? Man mag antworten, Menschen hät-
ten eben divergierende Intuitionen, weswegen diese zur Begründung allgemeiner
Prinzipien ungeeignet seien. Doch bei kulturübergreifend geteilten, robusten Intui-
tionen wie der retributiven verfängt dieser Einwand nicht. In den vergangenen Jahren
ist der Intuitionismus v. a. durch psychologische Studien unter Druck geraten, die ihre
Anfälligkeit für moralisch irrelevante Faktoren zeigen.67 Am Harrisfall lässt sich dies
exemplifizieren: Harris wurde als Frühchen geboren, da sein Vater seine Mutter ver-
prügelte. Beide waren Alkoholiker und fremdelten mit ihrem Sohn, es gab keinen
körperlichen Kontakt. Seine als verzweifelt beschriebene Suche nach Nähe blieben
unerwidert, auch wurde er wiederholt missbraucht.68 Schon diese knappe Schilde-
rung lässt retributive Intuitionen spürbar verblassen. Der irrationale Zug liegt
darin, dass die Reihenfolge der Schilderung von Tat und Biographie diese Intuition
unterschiedlich verändert (ein sog. order-effect).69 Sachlich müsste die Wirkung
pfadunabhängig sein, psychologisch ist sie es offenbar nicht.
An der Anfälligkeit für solche „irrelevanten Faktoren“ entspinnt sich die gegen-
wärtige philosophische Debatte über Intuitionen.70 Doch im Folgenden seien andere
epistemische Probleme speziell der retributiven Intuition herausgearbeitet. Eine be-
trifft die spärliche Datengrundlage, auf der sie gebildet wird. Als System 1 Prozess
hat der auslösende Mechanismus weder Zugriff auf große Teile des Wissens der Per-
son, noch auf höherstufige kognitive Prozesse wie kontrafaktisches Denken. Und
noch grundsätzlicher zeigt das neuropsychologische Modell, dass der Mechanismus
hinter der Intuition keine Gründe für und wider retributive Strafe berücksichtigt, son-
dern bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen die Intuition auslöst. Mangels Aus-
einandersetzung mit relevanten Gründen und Gegenargumenten kann das Haben der
Intuition also keine Überzeugung rechtfertigen. Zudem steht die objektiv unzurei-
chende Grundlage in bemerkenswertem Kontrast zur Gewissheit, mit der die retribu-
tive Intuition erscheint: firm, nicht vorläufig. Angesichts der Datengrundlage ist die-
ser Gewissheitsgrad überzogen. Die Intuition verführt also zu übersteigertem Ver-
trauen in die Richtigkeit ihres Inhaltes. Das ist epistemisch bedenklich.

67
Maßgeblich: Sinnott-Armstrong, Moral Intuitionism Meets Empirical Psychology. In:
Timmons/Horgan (Hrsg.), Metaethics after Moore, 2006, 339 – 365. Vgl. auch Tersman, The
reliability of moral intuitions: A challenge from neuroscience. Australasian Journal of Philo-
sophy 86 (3) 2008, 389 – 405; Paulo, Moral Intuitions between Higher-Order Evidence and
Wishful Thinking. In: Klenk (Hrsg.), Higher-Order Evidence and Moral Epistemology.
Routledge (forthcoming).
68
Auch hierzu die Schilderung von Watson (Fn. 14).
69
Dieser Punkt ist wird in der phil. Literatur als gegeben angenommen, speziell mit Blick
auf retributive Emotionen scheint er noch nicht experimentell nachgewiesen, siehe Olatunji/
Puncochar, Delineating the Influence of Emotion and Reason on Morality and Punishment.
Review of General Psychology 18 (3), 2014, 186 – 207. Generell: Wiegmann/Okan/Nagel,
Order effects in moral judgment. Philosophical Psychology 25 (6), 2012, 813 – 836.
70
Greene, Beyond Point-and-Shoot Morality: Why Cognitive (Neuro)Science Matters for
Ethics. Ethics 124 (4), 2014, 695 – 726 (dt. Übersetzung in Paulo/Bublitz, Fn. 1).
Die Genealogie der Vergeltung 481

Trügerisch ist die Intuition auch in der Hinsicht, dass ihre Nicht-Inferentialität
eine inhaltliche Unbedingtheit suggeriert. Die Intuition erscheint als etwas, das
nicht durch Anderes bedingt ist und folglich auch nicht durch Anderes verändert wer-
den kann. Dies lässt die Idee absoluter, von weiteren Erwägungen gelöster Strafzwe-
cke, plausibel erscheinen. Allerdings liegen jeder Intuition Berechnungen und Be-
dingungen zugrunde, nur bleiben sie introspektiv uneinsichtig. Diese Uneinsichtig-
keit wird als Unbedingtheit fehlgedeutet. Auch das ist ein epistemischer Fehler.
Somit drängt die Offenlegung des Mechanismus hinter der Intuition auf ihre
Rechtfertigung: Ist eine retributive Reaktion auf Grundlage der wenigen verarbeite-
ten Informationen gerechtfertigt? Der Intuitionist kann sich auf diese Frage einlassen
und die Reaktion rechtfertigen – doch dann benötigt er die Intuition nicht mehr, der
Regress geht weiter. Oder er bestreitet ihre Rechtfertigungsbedürftigkeit, denn dass
Intuitionen prima facie zutreffen, ist ja Kernthese des Intuitionismus. Sie verliert an-
gesichts der Diskrepanz zwischen Input und Output jedoch an Plausibilität. Als Aus-
weg verbleibt in solchen Fällen auch für Intuitionisten nur das Senken ihrer argumen-
tativen Kraft. Intuitionen stehen dann vielleicht noch im Rang widerlegbarer Vermu-
tungen.71 Das ist eine erhebliche argumentative Schwächung: We hold these claims to
be defeasible seemings …

2. Deliberative Phase – Rationalisierungen

Hier interessierende Überzeugungen werden freilich nicht bloß auf Intuitionen


gestützt, sondern durch Erwägen von Gründen gebildet. Dabei werden Gegenargu-
mente berücksichtigt. Verschafft dieser Vorgang epistemische Rechtfertigung? Vor-
aussetzung wäre die ergebnisoffene Deliberation. Hier erlangt die Störrigkeit der In-
tuition Bedeutung. Wenn, wie in der Studie von Aharoni, Überzeugungen bei besse-
ren Gründen für ihr Gegenteil nicht aufgegeben werden, sind sie nicht reason-respon-
sive und widerlaufen einem Gebot der Rationalität: Überzeugungen sind im Lichte
besserer Gründe zu revidieren. Ein störrischer Überzeugungsbildungsprozess ist zum
Finden der am besten begründeten Position ungeeignet. Rechtlich lässt sich diese
Kraftlosigkeit von Gründen etwa im Lichte des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs
problematisieren. Dieser verlangt die Würdigung des Gehörten, und zwar auf eine
Weise, die eine Beeinflussung der Entscheidung ermöglicht. In den Worten des
BVerfG:
„Der Anspruch auf rechtliches Gehör fordert, dass das erkennende Gericht die Ausführun-
gen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis nimmt und in Erwägung zieht. Maßgebend für diese
Pflichten des Gerichts ist der Gedanke, dass der Verfahrensbeteiligte Gelegenheit haben
muss, durch einen sachlich fundierten Vortrag die Willensbildung des Gerichts zu beeinflus-

71
So etwa Van Roojen, Moral Intuitionism, Experiments, and Skeptical Arguments. In:
Booth/Rowbottom (Hrsg.), Intuitions, Oxford University Press 2014, 148 – 164. Das Argument
betrifft nicht alle Intuitionen, insbesondere nicht erlernte und durch Feedbackschliefen ver-
feinerte.
482 Jan Christoph Bublitz

sen. Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Ent-
scheidung frei von Rechtsfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme
und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben“.72

In diesen Worten klingt das hier vorgeschlagene Verständnis epistemischer Unzu-


verlässigkeit an. Möglicherweise überzeichnet die Studie von Aharoni die Störrigkeit
retributiver Intuitionen. Doch auch schwächere Einflüsse von Intuitionen auf Deli-
berationen sind nicht unproblematisch, etwa die (unbemerkt) einseitige Suche
nach intuitionsstützenden Gründen. Dann mag es für gegenläufige Gründe zwar prin-
zipiell möglich sein, sich durchsetzen, doch müssen diese schon von erheblichem Ge-
wicht sein. Im Allgemeinen verbleiben Rationalisierungen innerhalb der Grenzen
des prima facie Vertretbaren. Nicht alles lässt sich rationalisieren. Beispiele finden
sich in den bereits erwähnten Studien zu blame validation: Die Auslegung von Tat-
bestandsmerkmalen wird gemäß der initialen Intuition bis zu ihren Grenzen gedehnt,
aber nicht überschritten. Eine ähnliche Form der Rationalisierung dürfte auf viele
Straftheorien zutreffen. Am Anfang steht die retributive Intuition, für die sie eine Be-
gründung zu liefern suchen; die Theorie fängt die Intuitionen ein. Dies kann bewusst
oder unbewusst geschehen. Häufig gelingt dies nicht, weil die Theorien nicht pass-
genau, zu breit oder eng sind. Wenn dies aber gelingt dies, entsteht eine als wider-
spruchsfrei und richtig empfundene Ansicht. Dennoch ist dieses Vorgehen bloß
eine Rationalisierung von etwas bereits Feststehendem, intuition chasing, bei dem
Kontraintuitives keine Rolle spielt. Deswegen ist ein solches Vorgehen epistemisch
bedenklich, es ist einseitig, verleitet zu verfrühten Festlegungen und unzureichender
Würdigung des Widersprechenden. (Idealiter müsste mit gleichem Aufwand für kon-
traintuitive Positionen argumentiert und die Bewertung der Gründe nicht durch In-
tuitionen beeinflusst werden).73 Folglich verleihen diese Prozesse trotz Deliberation
und dem Erwägen von Gegengründen keine Berechtigung, an die Richtigkeit ihrer
Resultate zu glauben. Obwohl sich Denker auf einer unvoreingenommenen Suche
nach den besten Gründen wähnen, können sie Rationalisierungen unterliegen.

3. Emotionale Einflüsse & Beweislasten

Schauen wir schließlich auf epistemisch bedenkliche affektive Faktoren.74 Zu


ihnen zählen Beeinträchtigungen kognitiver Prozesse und Fähigkeiten sowie die ein-
seitige emotionale Färbungen von Gründen. Dies gilt insbesondere für sog. „heiße“,
also mit starker Erregung (Arousal) einhergehende Emotionen wie Wut und Empö-
72
St. Rspr., etwa BVerfG NVwZ-RR 2002, 802.
73
Hier liegt der Unterschied zu einem weiten Überlegungsgleichgewicht: Auch dieses
versucht aus einzelnen Elementen, zu denen auch Intuitionen zählen, ein Kohärentes Ganzes
zu finden. Einzelne Intuitionen werden dabei nicht nur bestätigt, sondern auch verworfen.
Dennoch trifft die Kritik an Intuitionen auch die Methode des Überlegungsgleichgewichts,
siehe Tersman (Fn. 68).
74
Ein umfassendes Review über den Einfluss von Emotionen auf Strafentscheidungen bei
Olatunji/Puncochar, (Fn. 70).
Die Genealogie der Vergeltung 483

rung. Ein einfaches Beispiel für Effekte ersterer Art: In einer Studie von Nichols und
Joshua Knobe wurden Probanden die Eigenschaften einer deterministischen Welt
samt Auswirkungen auf die Willensfreiheit geschildert und anschließend der Sach-
verhalt einer Straftat vorgelegt. Sie wurden gebeten, Freiheit und Strafbarkeit der
Protagonisten in jener Welt einzuschätzen. Bei einer Steuerhinterziehung hielten
Probanden die Täter mangels Freiheit im Determinismus mehrheitlich für nicht straf-
bar; bei körperlichem Missbrauch hingegen schon. Der entscheidende Unterschied
lag darin, dass Missbrauch stärkere retributive Emotionen hervorrief. Diese machten
Probanden offenbar zu Kompatibilisten. Doch da die Frage nach Freiheit jener nach
Strafbarkeit logisch vorgeht, interpretieren die Autoren dieses Ergebnis als Folge
eines durch retributive Emotionen ausgelösten kognitiven Denkfehlers (performance
error).75 In anderen Studien wurden weitere kognitive Beeinträchtigungen durch re-
tributive Emotionen experimentell nachgewiesen.76 Derartige Beeinträchtigungen
schlagen auf die epistemische Rechtfertigung so gebildeter Überzeugungen durch.
Pointiert formuliert Peter Goldie eine epistemische Wirkung von Emotionen:
„[E]motional feelings tend to skew the epistemic landscape to make it cohere
with the emotional experience: … we seek out and ,find‘ reasons … that are supposed
to justify what is in reality an emotional ascription.“77 Manche Emotionen geben so
dem Verstand den Inhalt vor, sie werden zu idées fixes.
Im Recht können Emotionen außerdem auf Abwägungen einwirken. Dabei dürfte
gelten: Je stärker der emotionale Einfluss, umso schwerer ist es für Gegengründe,
sich durchzusetzen. „Gründe mit Gefühlen“ überwiegen also regelmäßig gegenüber
solchen ohne affektive Unterstützung. Ein einschlägiges Beispiel ist die affektive
Präjudizierung möglicher Reaktionen auf Straftaten: Retributive Intuitionen sinnen
auf Heimzahlen, nicht auf Täter-Opfer-Ausgleich. Ein auf Vergeltung zielendes Ar-
gument findet daher in retributive Intuitionen Resonanz, ein abolitionistisches hin-
gegen nicht. Normativ lassen sich derartige Einflüsse wohl am besten als Verteilung
von Begründungslasten verstehen. Emotionen verschieben diese regelmäßig zu Las-
ten der Gegenposition. Rechtlich ließe sich eine solche Verschiebung als Voreinge-
nommenheit verstehen. Epistemisch sind so beeinflusste Vorgänge unzuverlässig.
Fassen wir zusammen: Die retributive Intuition verleiht keine Rechtfertigung für
eine entsprechende Überzeugung. Sie wird auf einer spärlichen Datengrundlage ge-
bildet, die objektiv zur Strafbegründung unzureichend ist, da relevante Erwägungen
nicht berücksichtigt werden. Zudem ist sie trügerisch, weil der von ihr vermittelte
Grad der Gewissheit häufig überzogen ist und weil ihr (nicht-inferentieller) Schein
zu der ungedeckten Annahme verleiten kann, ihr Inhalt gelte bedingungslos. Auch
75
Nichols/Knobe, Moral Responsibility and Determinism: The Cognitive Science of Folk
Intuitions, Nous 41 (4) 2007, 663 – 685.
76
Goldberg/Tetlock, Rage and reason: the psychology of the intuitive prosecutor. European
Journal of Social Psychology 1999, 15.
77
Goldie, Emotion, Feeling, and Knowledge of the World. In: Solomon (Hrsg.), Thinking
about feeling: contemporary philosophers on emotions, Series in affective science, Oxford
University Press 2004, 91 – 102, Zitat S. 99.
484 Jan Christoph Bublitz

nachfolgende deliberative Prozesse sind anfällig für ihre verzerrenden Einflüsse. Die
Intuition ist störrisch und wirkt auch dann weiter, wenn sie inhaltlich nicht geteilt
wird oder bessere Gründe gegen sie sprechen. Sie motiviert post hoc Rationalisierun-
gen. Außerdem können affektive Prozesse auf Deliberationen einwirken, kognitive
Fähigkeiten beeinträchtigen oder Gründe einseitig färben. Auch diese Einflüsse sind
epistemisch bedenklich, soweit sie die Suche nach dem besten Argument auf Abwe-
ge führen; insbesondere Gegenargumente benachteiligt werden. Solche Überzeu-
gungsbildungsprozesse sind unzuverlässig. Daraus folgt:
(i) D hat die Überzeugung RÜ (Vergeltung ist gerechtfertigt).
(ii-r) RÜ wurde auf Grundlage einer retributiven Intuition gebildet. In nachfolgenden De-
liberationen stützte diese Intuition die Überzeugung.
(iii*-r): Unzuverlässig ist ein Überzeugungsbildungsvorgang, wenn er epistemischen Krite-
rien allgemeiner Verfahrensgrundsätze in nicht nur unerheblichem Maße widerläuft. Dazu
zählt insbesondere die Würdigung aller Seiten.
(iv-r) Retributive Intuitionen werden durch einen psychischen Mechanismus erzeugt, der
nicht sensibel für Gegenargumente ist. Die Intuition vermittelt eine objektiv nicht gerecht-
fertigte Gewissheit. In nachfolgenden Deliberationen werden der Intuition entsprechende
Gründe übervorteilt, das Denken in diese Richtung verzerrt.
(v-ri): Sofern diese Effekte nicht nur unerheblich sind, ist der Überzeugungsbildungsvor-
gang unzuverlässig.
(vi) Unzuverlässige Prozesse verleihen keine Berechtigung, an die Richtigkeit ihrer Resul-
tate zu glauben.
Konklusion aus (i) – (vi): D ist nicht berechtigt, RÜ für richtig zu halten.

Als Konsequenz ist die Überzeugungen zu suspendieren oder aufzugeben (oder


durch epistemisch zuverlässigere Prozesse neu zu bilden). Das Debunking-Argu-
ment ist erfolgreich.

4. Sentimentalistische Perspektive

Es ist noch darzulegen, ob auch (Neo-)Sentimentalisten dieses möglicherweise


rationalistisch anmutende Verdikt cum grano salis teilen können. Sind solche Ein-
flüsse auch unter sentimentalistischen Vorzeichen epistemisch fehlerhaft? Da es
sich um eine heterogene Theorienfamilie handelt, lassen sich zwar keine allgemeinen
Aussagen treffen, aber doch grobe Linien ziehen. Ausgangspunkt ist die These, dass
Emotionen für moralische Urteile wesentlich und ihre Einflüsse epistemisch nicht
per se fehlerhaft sind. Manche sentimentalistische Theorien halten eine gewisse Dis-
tanz zu normativen Rechtfertigungen, etwa weil sie moralische Urteile eher wie Ge-
schmacksurteile betrachten. Diese sind bei der hiesigen Suche nicht weiterführend.78
Die meisten sentimentalistischen Theorien räumen das Offensichtliche ein: Emotio-
78
Prinz hält etwa moralische Urteile für Geschmacksurteilen ähnlich, ders., Neo-Classical
Sentimentalism. In: Debes/Stueber (Hrsg.), Ethical Sentimentalism, Cambridge University
Press 2017, 32 – 51.
Die Genealogie der Vergeltung 485

nen können fehlgehen, Falsches suggerieren, zu Unmoralischem verleiten. Daher


heiße Sentimentalismus nicht, alles Gefühlte zu beglaubigen, sondern Emotionen re-
flexiv zu bestätigen. Nur angemessene oder passende emotionale Reaktionen sollen
in evaluativen Fragen maßgebend sein.79
Im Einzelnen sind zwei Fragen zu unterscheiden: Die Rechtfertigung von Emo-
tionen und die emotionale Rechtfertigung von Strafe. Erstere fragt, ob Wut oder Em-
pörung angesichts der sie auslösenden Umstände fitting attitudes sind. Als Reaktion
auf Missachtung und Verletzung können sie das durchaus sein.80 Allerdings müsste
auch die ihnen innewohnende Handlungstendenz angemessen sein, und zwar gemäß
ihrer eigenen Logik.81 Dazu müsste also der Vollzug der Handlung die auslösende
Ursache aufheben, hier also die Leidzufügung das Gefühl der Missachtung negieren.
Ob Strafe das bewirkt, ist eine viktimologische Frage, die sich nicht einheitlich be-
antworten lässt: Für einige Verletzte trifft das zu, für andere nicht. Im ersten Fall ist
die Emotion angemessen, im letzteren nicht.82
Die zweite Frage ist, ob angemessene retributive Emotionen Strafe zu rechtferti-
gen vermögen. Angesichts ihres Fehlgeh- und Verführungspotentials wird die Not-
wendigkeit von Korrekturen anerkannt.83 Moore verweist auf „Pathologien von Emo-
tionen“, die sie heuristisch unbrauchbar machen würden.84 Nichols hält tief verwur-
zelte retributive Emotionen zwar nicht für rechtfertigungsbedürftig, räumt jedoch
ein, dass sie gegenüber dem neminem laedere Gebot gegebenenfalls zurücktreten
müssen.85 Sentimentalisten erkennen Konflikte zwischen Emotionen und die Not-
wendigkeit des Austarierens also an. Psychologisch drohen „heißere“ Emotionen
entgegenstehende „kältere“ Normen wie neminem laedere zu übertrumpfen. Norma-
tiv hingegen hält niemand die affektive Stärke für entscheidend; ebenso wie niemand
das ungeprüfte Ausleben emotionaler Handlungstendenzen für richtig hält.86 Allge-
meiner: Auch Sentimentalisten betrachten Verzerrungen, affektive Biases oder ko-
gnitive Beeinträchtigungen als übergriffige und unzulässige Einflüsse auf das Den-

79
D’Arms, Sentiment and Value. Ethics 110 (4), 2000, 722 – 748.
80
Aus der umfangreichen Debatte verneinend etwa Nussbaum (Fn. 13); bejahend: Shoe-
maker, You Oughta Know! Defending Angry Blame. The Moral Psychology of Anger, 2018,
67 – 88.; vgl. auch Frijda (Fn. 23).
81
D’Arms/Jacobson, The Moralistic Fallacy: On the ,Appropriateness‘ of Emotions. Phi-
losophy and Phenomenological Research 61 (1), 2000, 65 – 90.
82
Vermutlich sind eher Einsicht und Reue des Täters sowie die öffentliche Unterstützung,
nicht das Zufügen von Strafe, für die positiven psychischen Folgen ursächlich. Dann wäre eine
auf Rache sinnende Emotion irrational. Zu den negierenden Kräften von Strafe Frijda
(Fn. 23).
83
Kauppinen, Moral Sentimentalism. In: Zalta (Hrsg.), Stanford Encyclopedia of Philo-
sophy, Metaphysics Research Lab. Stanford University 2018.
84
Moore, The moral worth of retribution. Responsibility, character, and the emotions: New
essays in moral psychology, 1987, 179 – 219, hier S. 191.
85
Nichols (Fn. 6).
86
Für eine theoretische Möglichkeit hält dies Königs (Fn. 6).
486 Jan Christoph Bublitz

ken.87 Dies widerspricht ihrer Kernthese nicht. Diese lautet nicht, Rationalität verzer-
re das Denken, sondern dieses bedürfe emotionaler Werte als Input. Punitive Emo-
tionen sind für Sentimentalisten eben solche zulässige Inputs – aber noch keine end-
gültigen Entscheidungen. Daher dürften die hier inkriminierten Einflüsse auch von
vielen Sentimentalisten als verzerrend angesehen werden.

V. Drei Einwände
1. Vermeintliche Unentziehbarkeit

Abschließend seien drei Einwände angesprochen. Zum einen der theoretisch


langweilige aber beliebte Einwand, retributive Intuitionen seien als anthropologische
Konstante unüberwindbar. In der Tat sollte das Recht keine psychologischen Impos-
sibilia fordern. Retributive Intuitionen sind tief verankert, weit verbreitet, stark und
störrisch. Doch das macht sie nicht unüberwindbar. Im Allgemeinen wird die empi-
rische These der Unüberwindbarkeit angesichts des ihr beigelegten argumentativen
Gewichts überraschend wenig untermauert. In hiesigem Zusammenhang sind nur
ihre negativen Einflüsse auf die Überzeugungsbildung relevant. Es geht nicht um
die Leugnung punitiver Emotionen, die ein jeder hegen mag, oder ihre Verbannung
aus der Psyche, sondern darum, ihre Einflüsse auf das eigene Denken zu erkennen,
bewusst zu reflektieren – und sich ihnen zu entziehen. Wenn letzteres unmöglich ist,
sollte man jedenfalls den resultierenden Überzeugungen keinen Glauben schenken.
Doch dass das prinzipiell nicht möglich sein sollte, ist alles andere als offensichtlich.
Zahlreiche psychologische Studien beschäftigen sich mit der Stärkung oder Schwä-
chung emotionaler Einflüsse, der Aktivierung von System 2 Denken, oder allgemei-
ner: Dem De-Biasing.88
Dazu ein letzter Blick in die Forschung: Studien von Gollwitzer sowie Aharoni
zeigen, dass der Einfluss retributiver Intuitionen auf Entscheidungen verblasst,
wenn gegenläufige Gesichtspunkte angemessen berücksichtigt werden. Aharoni er-
höhte dafür die Sichtbarkeit der Kosten von Inhaftierungen.89 Das Ergebnis: Proban-
den verhängten durchschnittlich bis zur Hälfte verringerte Strafen. (Aufgrund dieses
Effekts sind Staatsanwälte in Philadelphia neuerdings gehalten, Kosten der Inhaftie-

87
Siehe dazu etwa D’Arms/Jacobson, Sentimentalism and Scientism. Moral psychology
and human agency: philosophical essays on the science of ethics. Oxford University Press,
2015.
88
Etwa: Feinberg et al., Liberating Reason From the Passions: Overriding Intuitionist
Moral Judgments Through Emotion Reappraisal. Psychological Science 23 (7), 2012, 788 –
795; Soll/Milkman/Payne, A User’s Guide to Debiasing. In: Keren/Wu (Hrsg.), The Wiley
Blackwell Handbook of Judgment and Decision Making. Wiley 2015, 924 – 951.
89
Aharoni et al., Justice at any cost? The impact of cost-benefit salience on criminal
punishment judgments. Behavioral Sciences & the Law 37 (1), 2019, 38 – 60.
Die Genealogie der Vergeltung 487

rung bei Strafanträgen anzugeben).90 Gollwitzer zeigt, dass retributive Haltungen


nachlassen, sobald das durch Bestrafung entstehende Leid ins Zentrum der Aufmerk-
samkeit rückt.91 Beide Studien zeigen, dass die Deutlichmachung gegenläufiger Ge-
sichtspunkte die Wirkung retributiver Emotionen abschwächt.

2. Verwechslung von Gründen und Ursachen

Zum anderen könnte man der Argumentation das Verwechseln von Gründen und
Ursachen vorwerfen. Die Qualität einer Ansicht bemesse sich an den sie stützenden
Gründen, nicht an Eigenschaften ihrer Entstehung – ein Kategorienfehler, ein Rück-
fall in den Psychologismus. Dieser Einwand missversteht die Natur des Arguments.
Es bestreitet nicht, dass Gründe maßgebend sind, sondern beruht darauf, dass bei
ihrem Finden und Bewerten epistemisch unzuverlässige Vorgänge am Werk sein
können. Auch wenn sich normative Fragen letztlich allein im viel beschworenen
„Raum der Gründe“ entscheiden und auch wenn dieser von naturalistischen, also
psychologisch-biologischen Prozessen vollständig entkoppelt ist (auch wenn der pla-
tonische Ideenhimmel dann nicht fern sein kann): Dennoch verlaufen alle tatsächli-
chen Möglichkeiten menschlichen Zugangs zu ihm durch physikalisch-physische
Akte des Denkens, und diese sind fehleranfällig. Das ist alles, was das Argument be-
nötigt.
Anders: Lägen alle Gründe für eine Überzeugung offen, samt der ihr zugrunde-
liegenden Wertungen und Hintergrundannahmen, könnte sich ein Bild ergeben, in
dem Intuitionen, Emotionen oder Rationalisierungen nicht vorkommen. Doch solan-
ge ihre Wirkung psychologisch nachweisbar ist, und das wird hier angenommen,
würden diese Faktoren anderweitig in die Darstellung eingehen, etwa in der Gewich-
tung eines Grundes. Die psychologische Ebene würde dann zu Gründen nichts Wei-
teres hinzufügen. Doch ohne diese Transparenz vermag die Psychologie Hinweise
auf verdeckte Faktoren bei der Überzeugungsbildung oder etwa der Gewichtung
von Gründen zu liefern. Somit besteht Raum für epistemische Erwägungen, ohne
ein Primat der Gründe zu leugnen.

3. Relevanz für rechtswissenschaftliche Theorienbildung

Kehren wir zur Frage zurück, welche Relevanz dies für die rechtswissenschaftli-
che Überzeugungsbildung haben mag. Ihre Spezifika sind empirisch nicht unter-
sucht. Selbstverständlich sind die Bahnen, auf denen sich Ansichten in jahrzehnte-
langer wissenschaftlicher Auseinandersetzung bilden, verschlungener und komple-
xer als das hier Beschriebene. Doch das heißt nicht, dass sie solchen Einflüssen ent-
90
Austen, In Philadelphia, a progressive district attorney tests the power – and learns the
limits – of his office. New York Times Magazine vom 04. 11. 2018, S. 42.
91
Gollwitzer et al., People as Intuitive Retaliators: Spontaneous and Deliberate Reactions
to Observed Retaliation. Social Psychological and Personality Science 7 (6), 2016, 521 – 529.
488 Jan Christoph Bublitz

zogen sind. Dagegen sprechen zum Beispiel Idiosynkrasien des Strafbegründungs-


diskurses: So klafft eine auffallende argumentative Leerstelle bei den entscheiden-
den Fragen, warum Strafe verdient sei oder was sie ausgleiche. Für einige ist dies
selbsteinsichtig, für andere unverständlich, Versuche der Vermittlung scheitern.
Dies ist für eine Fachdiskussion atypisch, gemeinhin werden tangierte Interessen
von allen Beteiligten verstanden und bloß anders gewichtet. Psychologisch lässt
sich dieser Befund jedoch erklären: Dass Strafe verdient werde, ist der Inhalt der re-
tributive Intuition, der sich aufgrund ihrer nicht-inferentiellen Natur jedoch nur
schwer begründen lässt. Daher verbleibt, auch wenn keine stimmige Begründung ge-
lingen mag, ein Gefühl, es müsse eine solche dennoch geben. Einige Autoren lassen
sich von diesem intuitiven Gefühl leiten und suchen nach Gründen, andere verwerfen
es. Die argumentative Leerstelle liegt also genau dort, wo die Intuition psychologisch
störrig wird. Diese Störrigkeit spiegelt sich auch in der historischen Störrigkeit, der
Kontinuität der Strafpraxis, auf die bereits Nietzsche hinwies: Die Praxis bleibt gros-
so modo bestehen, nur werden ihr wechselnde zeitgemäße Gründe untergelegt, sie
wird rationalisiert.92
Auch die zweite zentrale retributivistische These, Strafe stelle ein Gleichgewicht
wieder her oder gleiche etwas – wenngleich schwer Greifbares – aus, lässt sich nur
mit großer Anstrengung plausibilisieren, jedoch recht einfach psychologisch erklä-
ren. Das retributive Gefühl verblasst, wenn die Handlung, auf die sie drängt, umge-
setzt wird.93 Zudem ist aus der Ersten-Person-Perspektive bekannt, dass Tadel und
Strafe kathartische Wirkungen bei Schuldgefühlen zeigen können.94 Psychologisch
gleicht Strafe also Schuld aus, sie negiert ein Gefühl. Die These ist nun: Das Verblas-
sen des Gefühls wird als Ausgleich gedeutet. Und da in der realen Welt nichts aus-
geglichen wird, muss das Ausgeglichene außerhalb dieser liegen: In der Metaphysik
der Schuld.95 Die Idee des Strafausgleichs ist demnach die Rationalisierung eines
nachlassenden Gefühls. Dies ist eine jedenfalls teilweise empirisch überprüfbare
These, die das Explanandum, die Plausibilität der Idee von Strafe als Negation
einer Negation, besser (und anspruchsloser) zu erklären scheint als substantielle Be-
gründungen.96 In anderen Worten: Stellen wir uns vor, eine komplizierte Argumen-
tation, die nachzuvollziehen vielen schwer fällt, führt bzgl. einer Frage zu Ergebnis
A. Zudem führt eine intuitiv-emotionale psychische Reaktion ebenfalls zu A, und
92
Nietzsche (Fn. 5), S. 72. Sollte sich die Praxis ändern, dann aus humanistischen Grün-
den, nicht aus Strafzwecken.
93
Zu emotional ausgleichenden Wirkungen durch Strafe Frijda (Fn. 23).
94
Bastian/Jetten/Fasoli, Cleansing the Soul by Hurting the Flesh: The Guilt-Reducing
Effect of Pain. Psychological Science 22 (3), 2011, 334 – 335; Inbar et al., Moral masochism:
On the connection between guilt and self-punishment. Emotion 13(1), 2013, 14 – 18.
95
Das ist wohl die Idee u. a. von Mackie, Morality and the retributive emotions. Criminal
Justice Ethics 1 (1), 1982, 3 – 10.
96
Im Übrigen erklärt dies ebenfalls ein weiteres zentrales Element des Retributivismus:
Nur der Schuldige darf bestraft werden. Denn das intentionale Objekt der retributiven Intui-
tionen ist der Verursacher, der Täter, und kein Dritter. Letzterem Leid zuzufügen führt also
nicht zu einem Nachlassen der Emotion.
Die Genealogie der Vergeltung 489

solche Reaktionen sind im Allgemeinen geeignet, Gründe und Überzeugungen zu


beeinflussen. Was für eine wundersame Koinzidenz wäre es, wenn beide nichts mit-
einander zu tun hätten? Diese Gesichtspunkte legen die Wirksamkeit von Intuitionen
und Rationalisierungen im Strafbegründungsdiskurs nahe.
Bei Experten dürften retributive Intuitionen gewiss subtiler wirken, etwa wie ein
Prüfstein, an den das Sinnieren über Strafe immer wieder zurückkehrt. Obgleich gute
Gründe gegen Vergeltung sprechen, stößt sich das Denken an der Vorstellung, der
Täter eines konkreten Falles komme ohne Strafe davon. Dies wird als unerträglich
empfunden – dieses Ergebnis darf nicht sein. Auf diese Weise bleibt die retributive
Intuition auch dann wirksam, wenn sie nicht mehr lebendig verspürt wird. Anzeichen
für eine solche Wirkung finden sich in der Literatur, etwa in der Beschreibung der
Entwicklung seines Denkens von Jeffrie Murphy, einem prominenten Vergeltungs-
theoretiker. Seine retributiven Argumente haben für ihn im Laufe der Zeit an Über-
zeugungskraft verloren. Gleichwohl vermochte er seine Position nicht aufzugeben.
Warum? – „I still had very strong retributivist intuitions“.97 Ihretwegen sei er nun-
mehr ein „reluctant retributivist“. Auch die jahrzehntelange philosophische Ausein-
andersetzung immunisiert vor den hier beschriebenen Prozessen also nicht. Ein sol-
ches Selbstzeugnis verdient Anerkennung, es bedarf der rationalisierungsfreien
Selbstbeobachtung. Inhaltlich offenbart sich darin jene Störrigkeit der Intuitionen,
die auch Aharonis Studie zeigte: Sie bleiben auch ohne Gründe bestehen. Nun
mag man einwenden: Dann sei das eben so. Doch damit verlässt man den Bereich
der rationalen Überzeugungsbildung, denn der gegenläufigen Norm wird kein ange-
messenes Gewicht eingeräumt. Die Enthüllung der Mechanismen hinter der Intuition
zeigt, dass diese außen stark, aber innerlich weitgehend substanzlos sein können. Die
von ihr vermittelte Gewissheit ist auch in intuitionistischen Augen überzogen. Sie
kann eine widerlegbare Vermutung rechtfertigen, einen Anschein, nicht aber den An-
kerpunkt für jahrzehntelanges Nachdenken bilden – die Intuition wird zur idée fixe.
Hätte Murphy die Kraft der Intuition auf das Maß einer widerlegbaren Vermutung
gesenkt, wäre er vermutlich kein Retributivist wider Willen, sondern gar keiner.
Letztlich ist die retributive Überzeugung das Resultat eines störrischen Mechanis-
mus, der sich vermutlich als evolutionär vorteilhaft erwiesen hat. Mehr nicht. Nur
bedarf es Muts, die Radikalität der Konsequenz auch für das eigene Denken zu zie-
hen.

VI. Zusammenfassung
Die Untersuchung legte einige psychische Prozesse dar, die bei der Bildung retri-
butiver Überzeugung eine Rolle spielen können: Intuitionen, Emotionen, Rationali-
sierungen (empirische Prämisse ii). Ihr Einfluss kann Überzeugungsbildungsprozes-

97
Murphy, Some Second Thoughts on Retributivism. In: White (Hrsg.), Retributivism:
essays on theory and policy, Oxford University Press, 2011, 93 – 106.
490 Jan Christoph Bublitz

se unzuverlässig machen. Das Ziel liegt im Finden des besten Arguments, all-things-
considered. Dies setzt eine angemessene Würdigung der für und wider eine Position
streitenden Gründe voraus. Diese Idee drückt sich auch in rechtlichen Verfahrensord-
nungen aus. Überzeugungsbildungsprozesse, die ihr nicht nur unerheblich widerlau-
fen, sind epistemisch unzuverlässig. Dazu zählen v.a die Überhöhung oder Über-
schatzung einer Position sowie andersherum, die diminutive Geringschätzung
einer anderen.
Ob dies der Fall ist, wird anhand von Eigenschaften der ihnen vorausgehenden
psychischen Vorgänge oder Mechanismen nachzuweisen versucht: Sie sind vielfach
nicht hinreichend sensibel für gegenläufige Erwägungen. Retributive Intuitionen
werden auf spärlicher Datengrundlage gebildet, bei ihrer Entstehung werden Gegen-
argumente dem neuropsychologischen Modell zufolge nicht berücksichtigt. Gleich-
wohl haben sie häufig den Anschein großer Gewissheit und Unbedingtheit. Dieser
Schein ist trügerisch und überzogen. Ebenfalls können Rationalisierungen und emo-
tionale Einflüsse das Denken verzerren. Gemeinsam ist diesen Vorgängen, dass sie
der Zuverlässigkeitsvoraussetzung, Gründe angemessen zu würdigen, widerstreben.
Sie verschaffen Vergeltung befürwortenden Argumenten ungerechtfertigte Vorteile
gegenüber gegenläufigen Gründen wie neminem laedere (normative Prämisse iii).
In Verbindung mit der hier vorausgesetzten Prämisse (iv) – unzuverlässige Prozesse
verleihen keine epistemische Berechtigung – sind so gebildete Überzeugungen epis-
temisch nicht gerechtfertigt und müssen suspendiert werden.98 Damit ist ein Debun-
king-Argument für rechtsphilosophische Fragen aufgezeigt.
Grob lässt sich das Vorgehen wie folgt zusammenfassen: Epistemische Kriterien,
wie sich in den Grundlagen von Verfahrensordnungen sedimentiert haben, werden in
Anbetracht aktueller psychologischer Forschung konkretisiert und auf rechtsphiloso-
phische Überzeugungsbildungsprozesse angewendet. Hinzuweisen ist auch auf die
Grenzen des Arguments: Es bezieht sich nur auf die speziellen Eigenschaften retri-
butiver Intuitionen – nicht alle Intuitionen sind störrisch, trügerisch oder verleiten zu
Rationalisierungen;99 auch betrifft es nur Überzeugungen, in deren Ätiologie solche
Faktoren eine maßgebliche Rolle spielen. Und dennoch: Sofern die dargelegten nor-
mativen Kriterien und empirischen Befunde cum grano salis zutreffen, dürfte dieses
Argument hinreichen, um jedenfalls die retributiven Überzeugungen von Laien re-
gelmäßig zu unterminieren. Sie sind also epistemisch nicht berechtigt, an die Rich-
tigkeit der aus ihren Strafempfindungen und –bedürfnissen hervorgehenden Über-
zeugungen zu glauben. Hieraus erwachsen erhebliche Zweifel an Straftheorien,
die sich affirmativ auf Strafbedürfnisse der Bevölkerung beziehen. Ein Wert solcher
Empfindungen für Rechtfertigungen, der über das bloße Faktum ihrer Existenz hin-
ausweist, ist nicht ersichtlich. Im Gegenteil: Epistemisch bedenklich gebildete, aber
98
Zu diskutieren wären hier v. a. Schwellenwerte, um von einer Unzuverlässigkeit spre-
chen zu können.
99
Insb. erlernte Intuitionen können verlässlich sein. Dazu Railton, The Affective Dog and
Its Rational Tale: Intuition and Attunement. Ethics 124 (4), 2014, 813 – 859; Sauer, Moral
judgments as educated intuitions. MIT Press 2017.
Die Genealogie der Vergeltung 491

affektiv aufgeladene Massenüberzeugungen sind in Demokratien brandgefährlich.


Statt sie auch nur indirekt zu beglaubigen, gilt es über sie aufzuklären und die kriti-
sche Distanz zu ihnen einzuüben.
Inwieweit Überzeugungen von Experten von den inkriminierten Vorgängen ge-
prägt werden, ist eine offene empirische Frage. Vermutlich sind sie nicht vollständig
frei von ihnen. Nietzsche riet in Zarathustra, allen zu misstrauen, „in denen der Trieb
zu strafen mächtig ist“.100 Ein spätes Echo fanden seine Worte in einer Besprechung
einer der ersten neurowissenschaftlichen Untersuchungen des Strafens:
„[S]tories about severe crimes may well cause arousing emotional responses that may be
associated with a strong desire to punish. … However, the demands of impartiality often
require overriding these impulses in order to produce a reasonable judgment … [O]ne
might speculate … that the mental processes motivating judicial verdicts involve the sup-
pression of prepotent emotional reactions in favor of impartial and objective verdicts.
Thus, this new result might … elucidate the neural source of judicial impartiality.“101

Gutes und gerechtes Denken über Strafe erfordert das Unterdrücken retributiver
Intuitionen. Rechtsphilosophische Auseinandersetzungen mit dem Strafzweck der
Vergeltung sollten ihren Ausgangspunkt in der Psychologie entsprechender Intuitio-
nen nehmen. Wer sich affirmativ auf sie bezieht, trägt die Last, ihren Wert für Recht-
fertigungen entgegen der hier skizzierten Zweifel darzulegen. Wer sich nicht auf sie
bezieht, aber gleichwohl Vergeltung für einen zulässigen Strafzweck hält, sieht sich
angesichts der Forschungslage jedenfalls dem Anfangsverdacht ausgesetzt, dass die
eigene Überzeugungsbildung von derartigen Einflüssen nicht frei ist, sondern diese
nur unbemerkt bleiben. Nichtsdestotrotz mag es retributive Überzeugungen geben,
die nicht durch solche Prozesse gebildet und vom vorherigen Argument nicht berührt
werden. Nicht alle Intuitionen sind störrisch, nicht alles Nachdenken eine post hoc
Rationalisierung. Einige Forscher vermuten, dass solche epistemisch zuverlässigen
Überzeugungsbildungsprozesse inhaltlich nicht zur Bejahung sondern Ablehnung
von Vergeltung führen.102 Ob dem so ist, ist eine offene Frage. Aber, und das ist
das besondere, sie ist eine empirische und damit überprüfbare Frage. Mit ihrer Un-
tersuchung könnte psychologische Forschung die rechtswissenschaftliche Theorien-
bildung also voranbringen.
Hierin deutet sich an, wie eine künftige empirisch informierte, vielleicht sogar ex-
perimentelle Strafrechtsdogmatik beschaffen sein könnte. Denn auch viele rechts-
dogmatische Argumente beruhen und berufen sich auf Intuitionen.103 Jedes überzeu-
gende rechtliche Argument dürfte auf die ein oder andere Weise psychische Reso-

100
Nietzsche, Also sprach Zarathustra. In: Colli/Montinari (Hrsg.), Sämtliche Bände,
Bd. IV, 2. Aufl. 1999, de Gruyter, S. 123.
101
Haushofer/Fehr, You Shouldn’t Have: Your Brain on Others’ Crimes. Neuron 60 (5),
2008, 738 – 740, hier S. 739.
102
So wohl Greene (Fn. 11).
103
Beispielhaft die beiläufigen Bemerkungen Puppes, Strafrechtsdogmatische Analysen.
V & R, 2006, S. 102.
492 Jan Christoph Bublitz

nanz finden (müssen). Mehr noch: Diese Erörterung brachte eine Reihe von Koinzi-
denzen zu Tage: Zwischen psychischen Verarbeitungsschritten, Tatbestandsmerk-
malen und dem Prüfungsaufbau, oder allgemeiner, zwischen der Struktur von Emo-
tionen und Normen. Vermutlich hat insbesondere das Strafrecht eine psychologische
Tiefenstruktur, die in Begriffen wie „Schuld“ noch zum Ausdruck kommt, aber durch
Idealisierungen und Rationalisierungen verschüttet wurde. Ihre Freilegung dürfte
lohnenswert sein. Jedenfalls sollte die Ergründung der empirischen Bedingungen
des juristischen Denkens zu den Kerninteressen der Rechtswissenschaft zählen.
Schließlich lassen sich die hier entwickelten Kriterien zum Unterminieren von
Überzeugungen positiv zu Desiderata für gutes juristisches Denken wenden: Dieses
ist (i) sich des trügerischen Einflusses retributiver Intuitionen bewusst und senkt
deren argumentative Kraft. (ii) Es würdigt das Kontraintuitive und die andere Ansicht
besonders wohlwollend, denn vermutlich sind solche Positionen stärker als sie zu-
nächst erscheinen. Es versucht (iii) Rationalisierungen sowie Illusionen der Objek-
tivität im eigenen Denken zu erkennen, und es (iv) fördert die Bereitschaft, eigene
Ansichten zu revidieren. Die emotionale Stärke (v) einer Position wird nicht als Zei-
chen ihrer Richtigkeit, sondern als potentielle Verzerrung gedeutet. Diese Desiderata
werfen sogleich die Frage auf, wie sie sich denn erreichen ließen. Welche mentalen
Strategien sind etwa anzuwenden, um Intuitionen zu schwächen, Gegenansichten zu
stärken oder Rationalisierungen zu vermeiden? Antworten liegen keinesfalls auf der
Hand und bieten Stoff für neue juristisch-psychologische Kooperationen. Eines lässt
sich bereits heute sagen: Wenigstens erfordern die Desiderata Misstrauen gegenüber
dem intuitiv Einleuchtenden, dem affektiv Ansprechenden und dem Gefühl der ei-
genen Unvoreingenommenheit, im Grunde gegenüber weiten Teilen des eigenen
Denkens. Dafür, solche Verunsicherungen immer wieder in mir hervorgerufen zu
haben, möchte ich dem Jubilar von Herzen danken.
Wert und Grenzen der expressiven Theorie der Strafe
Zugleich eine Skizze über Begriff und Zweck staatlicher Strafe

Von Gerhard Seher

I. Problembefund und Gedankengang


In den letzten Jahren ist in eine scheinbar festgefahrene, fruchtlos gewordene De-
batte überraschend Bewegung gekommen: Es gibt wirklich neue Gedanken zu der
alten Frage nach Grund und Zweck staatlichen Strafens.1 Dazu hat vor allem eine
Erkenntnis beigetragen, die sich – erstaunlicherweise – erst langsam in den Fokus
wissenschaftlicher Wahrnehmung kämpfen musste: dass man grundlegend unter-
scheiden muss zwischen dem Begriff der Strafe und ihrem Zweck.
Theorien, die die Vergeltung von Unrecht und Schuld zur Begründung der Strafe
in den Mittelpunkt stellten, konnten sich zwanglos über den Vorgang des Strafens
äußern, denn dass Strafe eine Antwort auf die begangene Tat ist, war stets intuitiv
klar. Schwieriger ist es dagegen für Theorien präventiver Strafzwecke, den Vorgang
des Strafens mit seinem legitimierenden Zweck zu harmonisieren, denn Strafe lässt
sich beim besten Willen nicht als präventive Maßnahme deuten: Der Täter wird nicht
deshalb einer Strafe unterworfen, damit er selbst oder andere künftig keine Straftaten
begehen, sondern weil er eine Straftat begangen hat. Wenn jemand erfährt, dass ein
Anderer bestraft wurde, dann fragt er: „weswegen?“, niemals aber: „zu welchem
Zweck?“ Wenn aber „Strafe“ offensichtlich schon intuitiv etwas Retrospektives
ist, nämlich die autoritative Antwort auf einen vorwerfbaren Normbruch: Wie
lässt sie sich dann durch ihre – behauptete oder erhoffte – präventive Wirkung legi-
timieren?
Um eine Erklärung für diese Spannung zwischen der retrospektiven, repressiven
Struktur der Strafe und ihrer prospektiven Sinngebung bemühen sich die Vertreter
präventiver Straftheorien entweder gar nicht oder nur vereinzelt. Stattdessen wird
die Ausgestaltung der Strafe vielfach vom präventiven Zweck her unternommen:
Eine spezialpräventiv orientierte Strafe solle danach bemessen werden, was für
eine straffreie Zukunft des Täters erforderlich ist; eine generalpräventiv legitimierte
Strafe habe so auszufallen, dass sie der Akzeptanz der Normgeltung diene; eine ab-
schreckende Strafe müsse so hoch angesetzt werden, dass sie die angestrebte Wir-

1
So auch der aktuelle Befund von Frisch, GA 2019, 185.
494 Gerhard Seher

kung auch zuverlässig erreiche. Durch diese Deutung der Strafe von ihrem präventiv
verstandenen Zweck her sind Verwerfungen zwischen dem Begriff und den gesetz-
lichen Regelungen zur Strafe einerseits und den mit dieser verbundenen präventiven
Ambitionen andererseits entstanden, die bis heute nicht aufgelöst werden konnten.
In einer vom Präventionsgedanken dominierten Epoche bedurfte es einigen
Mutes, diese Spannungen zu thematisieren, indem wieder an den vergeltenden Be-
griff der Strafe erinnert wurde. Dazu hat vor allem eine Denkrichtung beigetragen,
die als „expressive Theorie der Strafe“ firmiert. Der aktuelle Gedankenstrang dieses
Ansatzes lässt sich bis in das Jahr 1965 zurückverfolgen, aber er beansprucht, dass
der Akt staatlichen Strafens schon viel länger auf expressive Weise begriffen wurde –
vielleicht gar jede ernst zu nehmende Theorie das Strafen auf diese Weise begreifen
müsse. Was aber besagt die expressive Theorie der Strafe? Worin besteht ihre diskus-
sionstreibende Pointe? Und wie verhält sie sich zu den beiden maßgeblichen Fragen,
was „Strafe“ ist und welchem Zweck sie dient?
Es ist an der Zeit, diese Fragen zu stellen, um die Bedeutung des expressiven Den-
kens über die Strafe zu bestimmen. Die Antworten, die dieser Beitrag anbietet, ver-
folgen zugleich die Hoffnung, Klärendes über den Begriff der Strafe und eine tref-
fende Perspektive des Diskurses über die Legitimation staatlichen Strafens zutage zu
fördern. Dies berührt ein Thema, mit dem sich auch Reinhard Merkel immer wieder
befasst: In seinen prägenden Beiträgen zur Diskussion um Willensfreiheit und De-
terminismus stieß er unausweichlich auf die Frage, wie angesichts der Unsicherheit
über ein Andershandelnkönnen der Begriff der Schuld zu fassen sei – und gelangte so
zu der Frage, was es eigentlich sei, das legitimerweise bestraft werden könne.2 Dabei
hat er sich explizit auf die Seite einer expressiven Theorie der Strafe geschlagen, so
dass die jetzigen Überlegungen unmittelbar an die seinen anschließen.
Der gedankliche Weg dorthin soll in vier Schritten entfaltet werden: (1) Begrün-
dungsdefizite einer präventiven Deutung der Strafe, (2) Der expressive Gehalt des
staatlichen Strafens, (3) Die strafende und die das Strafen legitimierende Ebene
und (4) Der legitimierende Zweck staatlichen Strafens.

II. Begründungsdefizite einer präventiven Deutung der Strafe


Strafe ist als belastender Eingriff in die Rechte des Verurteilten legitimationsbe-
dürftig; das ist ein fester rechtsstaatlicher Standard. Über viele Jahrzehnte hinweg
war der Legitimationsdiskurs geprägt von einem einmütigen Bekenntnis zu den Prä-
ventionstheorien, unter denen sich spätestens seit den 1990er Jahren die positive Ge-
neralprävention als Favoritin herausschälte. Aus präventiver Perspektive galt es vor

2
S. z.B. Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, Baden-Baden 2008, S. 110 ff.;
ders., Ist „Willensfreiheit“ eine Voraussetzung strafrechtlicher Schuld?, in: Gerhard Roth,
Stefanie Hubig, Heinz Gerd Bamberger (Hrsg.), Schuld und Strafe. Neue Fragen, München
2012, S. 39 ff. (insbes. S. 53 ff.).
Wert und Grenzen der expressiven Theorie der Strafe 495

allem, retributive Gründe für die Strafe abzuweisen. Zu diesem Zweck wurde eine
„absolute“ Vergeltungstheorie als Feindbild aufgebaut, die vor allem Kant und
Hegel zugeschrieben wurde und derzufolge die Strafe losgelöst von jedem denkbaren
Ziel oder Zweck zu verhängen sei, weil es eine apriorische Idee der Gerechtigkeit
oder ihr Begriff so fordere. Ob Kant und Hegel eine solche „absolute“ Strafphiloso-
phie tatsächlich vertreten haben, wurde dabei kaum je genauer geprüft – und inzwi-
schen mehren sich Stimmen, die das mit sehr guten Gründen bestreiten.3 Hat es aber
zumindest seit der Zeit der Aufklärung kaum absolute Vergeltungstheorien gegeben,
haben die Präventionstheoretiker ein Scheingefecht geführt, aus dem sie nur insoweit
als Sieger hervorgegangen sind, als sie herausstreichen konnten, dass jeder rational
vertretbare Zweck staatlichen Strafens darin liegt, für die Zukunft Kriminalität zu
reduzieren.
Dass jegliches vergeltende Denken eine scharfe Ablehnung erfuhr4, hatte nun aber
eine Konsequenz, die für erhebliche konzeptionelle Verwirrung gesorgt hat: Nicht
nur der Zweck staatlicher Strafe, sondern auch die Prozedur des Strafens wurde
unter präventiven Gesichtspunkten interpretiert. Während eine retributive Straftheo-
rie die Strafe zwanglos auf die begangene Tat zurückbeziehen und vor allem auch die
Strafzumessung anhand von Tatunrecht und Tatschuld vornehmen konnte, wirkt die-
ser strafende Blick zurück auf die Tat aus Sicht der präventiven Theorien auf mehr-
fache Weise wie ein Fremdkörper.
1. – Zumindest die Strafzumessung wurde schon seit langem vom Präventions-
gedanken vereinnahmt – prominent durch Franz von Liszt, der beispielsweise für
den „besserungsfähigen“ Täter geradezu drakonische Abschreckungsstrafen vor-
3
Diese Frage kann hier nicht vertieft werden. Daher nur in aller Kürze:
Hinsichtlich der Strafphilosophie von Kant ist bis heute vieles umstritten. Aber es würde
mit seiner formalen Konstruktion der Bestrafung als eines kategorischen Imperativs (Kant,
Metaphysik der Sitten, Werkausgabe, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. VIII, Frankfurt
1968, A 197/B 226) nicht zusammenpassen, dass er eine materiale Gerechtigkeitstheorie
vertreten hätte, die inhaltlich hätte begründen können, warum durch Strafe eine kategorische
Forderung der Gerechtigkeit erfüllt werden könnte. Näherliegend ist die Deutung, dass es ihm
vor allem darauf ankam, dass die angedrohten Strafen bedingungslos verhängt werden, weil
nur so die Autorität des Rechts, die Glaubwürdigkeit des Staates und die Sicherheit der Bürger
gewährleistet werden können; s. dazu Byrd, Kant’s Theory of Punishment: Deterrence in its
Threat, Retribution in its Execution, Law and Philosophy 8 (1989), S. 151 ff.; andeutungs-
weise auch Wohlers/Went, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Strafe – Warum?,
Baden-Baden 2011, S. 173, 174 f. m.w.N.
Dass Hegel eine absolute Philosophie des Strafens formuliert hätte, ist noch unplausibler,
denn er hat sehr genau gesehen, dass der Staat sich des Strafens nur insoweit bedienen muss,
als es der Negation des Normbruchs bedarf: Ist die bürgerliche Gesellschaft ihrer selbst sicher
geworden, kann sie sich eine milde Reaktion auf ein Verbrechen erlauben. So seien Strafko-
dices immer zeitabhängig (s. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt/Main
1972, § 218).
4
Es wurde wahlweise als „metaphysisch“ (Roxin, AT Bd. I, 4. Aufl., München 2006, 3/8),
„irrational“ oder „mystisch“ (beides bei Klug, Abschied von Kant und Hegel, in: Baumann
[Hrsg.], Programm für ein neues Strafgesetzbuch, Frankfurt am Main 1968, S. 39 und 40)
tituliert.
496 Gerhard Seher

sah5, aber auch bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts bei Karl Ludwig Grolman, der
– spezialpräventiv – mittels der Strafe einer kriminellen Neigung begegnen wollte,
welche durch die begangene Tat hervorgetreten sei, und daher das Strafmaß verlang-
te, das diese Neigung zuverlässig zu bekämpfen versprach6.
Dadurch aber geht der Sinn von Strafe verloren. Indem alles Vergeltende aus der
Betrachtung der Strafe ausgeschieden und der strafende Blick einzig in die Zukunft
gerichtet wird, verflüchtigt sich der eigentlich so enge Bezug zwischen der begange-
nen Tat und der für diese Tat verhängten Strafe.7 Der Strafe ist der Rückbezug auf die
begangene, strafwürdige Handlung immanent; sein Gehalt wird daraus gespeist, dass
„Strafe“ eine Antwort auf etwas Geschehenes ist. Eine belastende Maßnahme dage-
gen, die verhängt wird, damit der Betroffene oder gar ein Dritter sich in Zukunft bes-
ser verhält als bisher, kann man als erzieherischen oder als prophylaktischen Eingriff
kennzeichnen – aber sie „bestraft“ nichts. Ein potentielles künftiges Fehlverhalten,
das verhindert werden soll, kann schon nach dem normalsprachlichen Verständnis
des Wortes8 nicht Gegenstand einer „Strafe“ sein.
2. – Von diesem rückbezüglichen Wortverständnis geht erkennbar auch das
Grundgesetz aus, wenn es in Art. 103 Abs. 3 GG verbietet, dass jemand wegen der-
selben Tat mehrmals bestraft wird.9 In gleicher Weise ist Art. 103 Abs. 2 GG zu
lesen: Es ist nur dann aus Fairness geboten, die Strafbarkeit für eine Tat vorab gesetz-
lich anzukündigen, wenn diese Tat dann auch den Grund dafür liefert, gegenüber dem
Handelnden einen Schuldvorwurf zu erheben und ihn mit einer Strafe wegen dieser
Tat und für diese Tat zu belegen. Das aber hat wiederum Auswirkungen auf die le-
gislative Ermächtigung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG: „das Strafrecht“, für das dem
Bund die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit eingeräumt wird, bedeutet
das Recht, Taten, die als strafwürdig erachtet werden, mit einer belastenden Sanktion
zu versehen, durch die diese Taten geahndet, nicht aber unbestimmte künftige Taten

5
von Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, ZStW 3 (1883), S. 1 – 47, u. a. 40 f.
6
Grolman, Grundsätze der Criminalwissenschaft, 3. Aufl., Gießen 1818, prägnant in § 77
(S. 80).
7
Mosbacher, ARSP 2004, S. 210, 219, spricht treffend von einer „strukturbedingten
Blindheit der allein zukunftsgewandten Prävention für die vergangene Tat, an die die Strafe
begrifflich als Reaktion anknüpft“.
8
Laut Duden ist Strafe „etwas, … was jemandem zur Vergeltung, zur Sühne für ein be-
gangenes Unrecht, eine unüberlegte Tat (in Form des Zwangs, etwas Unangenehmes zu tun
oder zu erdulden) auferlegt wird“ (https://www.duden.de/rechtschreibung/Strafe – zuletzt ab-
gerufen am 27. 10. 2019). – Prägnant Neumann, Hat die Strafrechtsdogmatik eine Zukunft? in:
Prittwitz/Manelodakis (Hrsg.), Strafrechtsprobleme an der Jahrtausendwende, Baden-Baden
2000, S. 119, 124: Strafe sei „begriffsnotwendig Strafe für etwas … Das reaktive Moment ist
insofern konstitutiv … für alle Auffassungen, die beanspruchen, eine Theorie der Strafe zu
formulieren.“
9
Das Wort „wegen“ weist semantisch auf einen ursächlichen Zusammenhang hin: Der
Duden nennt als Bedeutungen: „stellt ein ursächliches Verhältnis her; aufgrund von, infolge“
(https://www.duden.de/rechtschreibung/wegen_infolge_bezueglich – zuletzt abgerufen am
27. 10. 2019).
Wert und Grenzen der expressiven Theorie der Strafe 497

Dritter verhindert werden. In diesen verfassungsrechtlichen Bezugnahmen auf das


staatliche Strafen erscheint die künftige Rechtstreue des Täters oder gar unbestimm-
ter Dritter nirgends als legitimierender Zweck.
3. – Der ethisch und verfassungsrechtlich gewichtigste Einwand soll nur kurz wie-
derholt werden, denn er gehört zum argumentativen Standardrepertoire: Jedenfalls
bei einer generalpräventiven Begründung dient die Bestrafung allein einer Kommu-
nikation mit der Gesamtheit der Bevölkerung, so dass der Verurteilte die Strafe zu
tragen hat, damit an andere die Botschaft übermittelt werden kann, dass keine Straf-
taten begangen werden sollen. Dies instrumentalisiert ihn – menschenwürdewidrig –
für staatliche Allgemeininteressen.
4. – Jedenfalls das verbreitete generalpräventive Verständnis des Strafens sieht
sich auch einer normtheoretischen Begründungslücke ausgesetzt. Straftatbestände
in gesetzessystematischem Sinne bestehen nach gut begründeter Auffassung aus
einer Verhaltensnorm, die das ver- oder gebotene Verhalten beschreibt, und einer
Sanktionsnorm, die für den Fall der Verletzung der Verhaltensnorm eine Strafdro-
hung ausspricht.10 Straftatbestände verbieten also bestimmte Handlungen und drohen
eine Strafe an, wenn und weil die Verhaltensnorm verletzt worden ist. Die Sanktions-
norm ist strikt auf die Verletzung der Verhaltensnorm hin orientiert. Mit dieser Aus-
richtung korreliert § 46 StGB, der die Tatschuld des Täters zur Grundlage der Straf-
zumessung macht. Straftatbestände werden erlassen, damit Personen, die eine Ver-
haltensnorm verletzen, einer strafenden Sanktion überantwortet werden, die als an-
gemessene Antwort auf den Schuldvorwurf gilt, welchen sie aufgrund des
Normbruchs verdienen. Kein Gesetzgeber hat jemals Straftatbestände formuliert,
damit im Falle ihrer Verletzung Dritte davon abgehalten werden, in irgendeiner Zu-
kunft gleichartige Verletzungen zu begehen. In dem normtheoretischen Gehalt der
Straftatbestände liegt gar nichts, das jenseits der potentiellen Täter und ihrer poten-
tiellen Taten auf unbeteiligte Dritte gerichtet wäre.
5. – Zusammenfassend: Eine unmittelbar präventive Deutung der Strafe kann
nicht erklären, warum „Strafe“ normalsprachlich, verfassungsrechtlich, strafrecht-
lich und normtheoretisch auf die unrechte Tat zurückverweist, um deretwegen sie
verhängt wird, ihre Legitimation aber durch einen Zweck erfahren soll, der auf
die Zukunft gerichtet ist. Hier klafft eine perspektivische Begründungslücke zwi-
schen der Struktur des Strafens und seiner Legitimation. „Präventives Strafen“ ist
– dogmatisch, verfassungsrechtlich und normtheoretisch – ein Oxymoron.

10
S. dazu Renzikowski, Die Unterscheidung von primären Verhaltens- und sekundären
Sanktionsnormen in der analytischen Rechtstheorie, in: Dölling/Erb (Hrsg.), Festschrift für
Karl Heinz Gössel, Heidelberg 2002, S. 3 ff.; ders., Normentheorie und Strafrechtsdogmatik,
ARSP-Beiheft 104, Stuttgart 2005, S. 115 ff.
498 Gerhard Seher

III. Der expressive Gehalt des staatlichen Strafens


Was vermag die expressive Theorie der Strafe dazu beizutragen, diese Spannun-
gen zwischen der Strafe und dem zu ihrer Legitimation unentbehrlichen, präventiven
Zweck aufzulösen?
Dieser Argumentationsstrang – der sich analog dem linguistic turn in der Philo-
sophie und der Juristischen Hermeneutik als Rechtsfindungstheorie in der Strafphi-
losophie etabliert hat11 – betrachtet das staatliche Bestrafungsverfahren als kommu-
nikativen Akt und stellt die Bedeutung dieser Kommunikation innerhalb der Verhält-
nisse der an ihm Beteiligten (Staat, Angeklagter, Opfer) bzw. der Allgemeinheit in
den Mittelpunkt der Überlegungen. Als sein Ursprung darf der Aufsatz The Expres-
sive Function of Punishment von Joel Feinberg aus dem Jahre 1965 gelten.12 Daran
anknüpfend hat sich in der deutschen Diskussion eine Richtung entwickelt, die von
ihrer Protagonistin, Tatjana Hörnle, als „personenorientierte“ expressive Theorie be-
zeichnet wird13 (dazu sogleich u. 1.). Unabhängig davon besteht eine zweite Rich-
tung, die ihre Wurzeln in der Systemtheorie Niklas Luhmanns hat und die Strafe
als an die Allgemeinheit gerichtete Antwort auf den in der Straftat liegenden Norm-
bruch sieht (sog. „normorientierte“ Konzeption; dazu anschließend u. 2.).

1. Die „personenorientierte“ Konzeption der expressiven Theorie

a) Der ursprüngliche Ansatz von Feinberg

Feinberg gewinnt die Idee der spezifisch kommunikativen Bedeutung der Bestra-
fung durch eine Abgrenzung der Strafe von anderen hoheitlichen Sanktionen (z. B.
Geldbußen für Ordnungswidrigkeiten oder belastende bzw. ablehnende Verwal-
tungsakte) und erkennt das Charakteristikum der Strafe in der förmlichen und ernsten
Missbilligung (reprobation) der Handlung des Täters.14 Dabei betont er, dass nicht
allein die Verurteilung, sondern speziell die „unangenehme Behandlung“ (unplea-
sant treatment) durch den Vollzug der ausgeurteilten Strafe diese Missbilligung
zum Ausdruck bringe: die Art der Sanktionierung verkörpere den spezifischen Un-
terschied zwischen diversen unerwünschten und belastenden staatlichen Maßnah-
men und einer Strafe. Speziell die Freiheitsstrafe („physical treatment“) sei der über-
kommene Ausdruck des Strafens – so wie Champagner der Ausdruck der Feier eines

11
Klaus Günther, in: Simester/du Bois-Pedain/Neumann (Hrsg.), Liberal Criminal Theory.
Essays for Andreas von Hirsch, Oxford/Portland, Oregon 2014, S. 124 spricht vom „com-
municative turn“ in der Straftheorie.
12
Feinberg, The Expressive Function of Punishment, The Monist 49 (1965), S. 397 – 423;
wieder abgedruckt in und im Folgenden zitiert aus: ders./Hyman Gross (Hrsg.), Philosophy of
Law, 4. Aufl. 1991, S. 635 ff.
13
Hörnle, Straftheorien, 2. Aufl. 2017, S. 34.
14
Feinberg (wie Fn. 12), S. 637.
Wert und Grenzen der expressiven Theorie der Strafe 499

großen Ereignisses und schwarz der Ausdruck von Trauer sei.15 Diese Vergleiche
sind keineswegs verfehlt, sondern weisen auf den wesentlichen kommunikativen As-
pekt des staatlichen Bestrafens hin: Der Staat bedient sich etablierter – und daher
allgemein verständlicher – Mittel, um die Schwere des Rechtsbruches zum Ausdruck
zu bringen. Und dabei bilden Verurteilung und Bestrafung eine kommunikative Ein-
heit, mittels derer die die Tat verdammende Reaktion der Rechtsgemeinschaft geäu-
ßert wird. Feinberg beschreibt damit nicht nur eine Form staatlicher Missbilligung,
sondern zugleich ihren kommunikativen Gehalt: Verurteilung und Bestrafung ant-
worten missbilligend auf die Straftat.
Auf diese Weise ist zwar umrissen, wie der Akt der Bestrafung zu vollziehen ist,
damit er vom Verurteilten und von Dritten als „Strafe“ verstanden wird. Aber es ist
noch nichts darüber gesagt, warum Strafe in Gestalt von Verurteilung und „harter Be-
handlung“ eine sinnvolle oder gar notwendige kommunikative Antwort auf eine
Straftat ist. Diese Frage lag jenseits von Feinbergs unmittelbarem Anliegen – aber
sie ist es ja, die im Mittelpunkt des Legitimationsdiskurses steht.
Feinberg bietet gleichwohl Antworten darauf an, die er allerdings – interessan-
terweise – als „sekundäre Funktionen“ (derivative functions) der Bestrafung qua-
lifiziert. Als wesentlich formuliert er dabei den Widerspruch gegen die Handlung
des Täters: Durch die geäußerte Missbilligung positioniere sich der Staat, indem er
das Tatgeschehen autoritativ interpretiere und ihm die Anerkennung als rechtskon-
formes Verhalten verweigere.16 Es komme also darauf an, dass die Tat auf verbind-
liche Weise als Unrecht gedeutet werde. Darin liegt einerseits eine Präzisierung
und Fortentwicklung des Rechts, das nun jeden Fall, der dem entschiedenen
gleicht, schon vorab als Unrecht brandmarkt, und andererseits – so betont Feinberg
– eine wichtige Positionierung des Staates gegen derartige Handlungen (symbolic
nonacquiescence). Die förmliche Stellungnahme gegen die Verletzung einer straf-
bewehrten Norm sei deshalb wichtig, weil mit der Verletzung des Rechts Belange
des Staates (als des Gesetzgebers) unmittelbar betroffen sind. Schwiege der Staat
dazu oder äußerte er sich nur zurückhaltend, brächte er seine Autorität in Gefahr,
die unerlässlich sei, um die kategorische Geltung rechtlicher Verhaltensnormen zu
garantieren.17

b) Der Anschluss durch von Hirsch und Hörnle

An die Argumentation von Feinberg knüpfen vor allem von Hirsch und Hörnle
an.18 In verschiedenen Beiträgen haben sie die grundlegend kommunikative Struktur

15
Feinberg (wie Fn. 12), S. 636.
16
Vgl. Feinberg (wie Fn. 12), S. 637.
17
In diesem Sinne ist, wie Feinberg (wie Fn. 12, S. 638) zutreffend anmerkt, auch Kants
Straftheorie zu verstehen.
18
Direkte Bezugnahmen von Hirschs und Hörnles auf Feinbergs frühen Beitrag habe ich
nicht finden können. Aber ich zweifle nicht daran, dass beide Autoren diesen Beitrag kennen.
500 Gerhard Seher

der Bestrafung dargelegt.19 Dabei folgen sie der inzwischen etablierten Erkenntnis,
dass Verurteilung und Strafvollstreckung getrennt voneinander zu betrachten, zu
deuten und zu legitimieren sind.20

aa) Das Strafurteil

Einig sind beide zunächst darin, den Akt der Verurteilung wesentlich als eine an
den Täter adressierte Äußerung des Tadels („sozialethisches Unwerturteil“) zu ver-
stehen. Indem der kommunikative Gehalt des Strafurteils zudem ethisch gefasst
wird21, vermeidet dieser Ansatz die generalpräventiv unvermeidliche Distanz zwi-
schen Schuldprinzip und Strafzweck und will stattdessen gerade erklären, wie der
Täter in der Verurteilung als moral agent ernst – also bei seiner Schuld und Verant-
wortlichkeit – genommen werden kann.22 Diese Ansprache an den Täter hat eine zu-
verlässige Aussicht, verstanden zu werden, denn ein Tadel für Fehlverhalten ist Be-
standteil unseres alltagsmoralischen kommunikativen Repertoirs.23 Der auf diese
Weise persönlich Angesprochene hat dadurch die Möglichkeit zu antworten und
sich selbst zu dem gegen ihn geäußerten Tadel zu positionieren. Die damit vorge-
schlagene Sinngebung des Tadels qua Verurteilung liegt – kommunikativ – in der
Einbeziehung des Betroffenen und seiner Anerkennung als Rechtsperson (trotz Be-
gehung der Straftat) sowie der rechtlich und moralisch gebotenen Einbindung dieses
Tadels in ein gesellschaftlich anerkanntes Verständnis strafrechtlicher Schuld.24
Ergänzt wird diese Konzeption durch den Hinweis auf zwei weitere kommunika-
tive Dimensionen des Strafurteils. Nicht nur der Täter, auch das Opfer der Tat wird
durch das Strafurteil angesprochen. Ihm wird vermittelt, dass ihm kein Unglück, son-
dern Unrecht widerfahren ist.25 Wie wichtig der förmliche Ausspruch dieser Wertung
für den Umgang des Opfers mit der Erinnerung an das ihm Widerfahrene ist, wird zu

19
von Hirsch/Hörnle, Positive Generalprävention und Tadel, GA 1995, S. 249 ff. (wieder
abgedruckt in: von Hirsch, Fairness, Verbrechen und Strafe, Berlin 2005, S. 19 – 39); von
Hirsch, Die Existenz der Institution Strafe: Tadel und Prävention als Elemente einer Recht-
fertigung, in: ders., Fairness, Verbrechen und Strafe, Berlin 2005, S. 41 – 66; von Hirsch,
Warum soll die Strafsanktion existieren?, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Strafe –
Warum?, Baden-Baden 2011, S. 43 – 68; Hörnle (wie Fn. 13), S. 31 – 45.
20
Dies war bei Feinberg noch nicht so – was sich dadurch erklärt, dass sein Blick zuvör-
derst auf die Bestrafung gerichtet war und von dort aus die Verurteilung als kommunikativer
Bestandteil des bestrafenden Aktes erschien.
21
von Hirsch/Hörnle (wie Fn. 19), S. 29, sprechen von einer „ethisierten Version“ des
strafrechtlichen Tadels.
22
von Hirsch (wie Fn. 19, 2005), S. 49. – Ebenso von Hirsch/Hörnle (wie Fn. 19), S. 31:
„Anerkennung des Handelnden als Person mit autonomer moralischer Selbstbestimmung“.
23
Darauf wird unter Verweis auf den wegweisenden Aufsatz von Strawson, Freedom and
Resentment, in: ders., Freedom and Resentment and Other Essays, London 1974, S. 1 ff.,
regelmäßig hingewiesen.
24
S. zu letzterem insbesondere von Hirsch (wie Fn. 19, 2011), S. 53 f.
25
von Hirsch (wie Fn. 19, 2005), S. 49.
Wert und Grenzen der expressiven Theorie der Strafe 501

Recht vielfach hervorgehoben.26 Und zugleich intendiere jedes Strafurteil die Bot-
schaft an die Allgemeinheit, dass strafbare Handlungen unterlassen werden sollen,
weil sie rechtlich (und in den meisten Fällen auch moralisch) falsch sind.27

bb) Die Bestrafung

Hinsichtlich des Bestrafungsaktes setzen Hörnle und von Hirsch dagegen unter-
schiedliche Schwerpunkte. Während Hörnle – wie Feinberg – die harte Behandlung
als essentiellen Bestandteil der strafenden Kommunikation ansieht, weil nur durch
einschneidend spürbare Maßnahmen das Gewicht des Tadels angemessen verdeut-
licht werden könne28, weist von Hirsch dem Vollzug der Strafe eine Doppelfunktion
zu: Er sei einerseits Bestandteil des Tadels – und adressiere insoweit den Täter als
moral agent –, zugleich aber eine Maßnahme mit generalpräventiver Zielrichtung,
um die Menschen dort anzusprechen, wo sie durch „Instinkte und Neigungen“ getrie-
ben werden.29 Da die Menschen weder engelsgleiche Tugendwesen seien, die allein
durch gute normative Gründe motiviert würden, noch „wie Tiere“, die nur auf Dro-
hungen reagieren, bedürfe es gleichzeitig der Auferlegung eines Übels als angemes-
senen Ausdrucks des Tadels und einer „Antwort“ auf die Straftat, die als „Entmuti-
gung“ gegen die Begehung weiterer Straftaten wirkt.30
Für diese doppelte Deutung des Bestrafungsaktes sei „gerade die Verflechtung der
Elemente der Missbilligung und der Übelszufügung“ entscheidend.31 von Hirsch er-
blickt darin die adäquate rechtliche Antwort auf das von ihm vorgestellte dichotomi-
sche Menschenbild: Der vernünftige Teil des Menschen wird mit der tadelnden Miss-
billigung konfrontiert; dem schwachen, zur Triebhaftigkeit neigenden Teil wird das
Strafübel auferlegt, um gegen künftige Versuchungen Vermeidungsgründe aufzu-
richten.
So passend dieses Modell auf den ersten Blick für die komplexe Doppelnatur des
Menschen (die hier nicht in Zweifel gezogen werden soll) zu sein scheint, so deutlich
zeigen sich bei näherem Hinsehen innere Spannungen. Der zu tadelnde homo ratio-
nalis müsse – so von Hirsch – nicht zwingend mit einem Strafübel belegt werden.32
26
S. dazu Hörnle (wie Fn. 13), S. 36 ff. mit weiterführenden Nachweisen.
27
von Hirsch (wie Fn. 19, 2011), S. 52. – Deutlich zurückhaltender insoweit Hörnle (wie
Fn. 13), S. 43: Dritte seien nicht Adressaten des Urteils, sondern hätten einzig das „Allge-
meininteresse an der Bestätigung missachteter Normen, das allen Bürgern zusteht“. – Günther
(wie Fn. 11, S. 133) betont ebenfalls die Ansprache an den Täter als vernünftige, verant-
wortliche Person und zugleich an das Opfer und die Allgemeinheit, orientiert sich aber hin-
sichtlich des Inhalts der kommunizierten Botschaft eher an der sogleich im Text thematisierten
„normorientierten“ Variante der expressiven Theorie.
28
Hörnle (wie Fn. 13), S. 43 – 45.
29
von Hirsch (wie Fn. 19, 2005), S. 53, 55.
30
von Hirsch (wie Fn. 19, 2011), S. 54 f.
31
von Hirsch (wie Fn. 19, 2005), S. 59.
32
von Hirsch (wie Fn. 19, 2005), S. 58.
502 Gerhard Seher

Wenn er als moral agent ernst genommen wird, muss man sogar erwarten, dass die
verbale Form der Missbilligung ausreicht, um in ihm eine innere Auseinandersetzung
mit dem begangenen Normbruch auszulösen. Damit aber wird die Notwendigkeit der
„harten Behandlung“ durch Strafvollzug letztlich vor allem darauf gestützt, dass der
seinen Neigungen unterliegende „homo fallibilis“ (wie ich ihn nennen möchte) des
fühlbaren Übels bedarf, um künftigen kriminellen Neigungen zu widerstehen. Das
aber setzt von Hirsch aller Kritik aus, die gegen eine Deutung der Bestrafung als un-
mittelbar präventives Sanktionsinstrument geltend gemacht wurde (s. o. II.) – und wi-
derspricht auch seiner eigenen, zustimmenden Übernahme von Hegels Diktum, die
Bestrafung sei dann nichts anderes als „eine Art Tierdressur“.33
Die als „Verflechtung“ zweier Aspekte beschriebene Sinngebung der Bestrafung
setzt sich aus zwei Elementen zusammen, die, je für sich genommen, das Ganze die-
ser Sinngebung nicht legitimieren können: Der homo rationalis bedarf der Übelszu-
fügung nicht zwingend – wodurch Tadel (durch das Urteil) und nachfolgendes Straf-
übel nur in unverbindlicher Beziehung zueinander stehen; und dem homo fallibilis
darf man das Strafübel nicht auferlegen, weil dies die Würde des Bestraften als
moral agent missachtete. Wie aber soll aus der „Verflechtung“ zweier für sich insuf-
fizienter Begründungsaspekte eine insgesamt überzeugende Begründung für den Be-
strafungsakt erwachsen? Die Einbeziehung generalpräventiver Elemente in diese ex-
pressive Theorie des Strafens bleibt also ein Fremdkörper.

2. Die „normorientierte“ Konzeption von Jakobs und Frisch

Ganz unabhängig von der eben dargestellten, auf persönliche Kommunikation


ausgerichteten Konzeption hat Jakobs eine „normorientierte“ expressive Theorie for-
muliert, die sich bekanntermaßen systemtheoretischer Argumentationsmuster be-
dient. Wie auch die „personenorientierte“ expressive Theorie unterscheidet seine
Konzeption zwischen der kommunikativen Bedeutung der Strafe, dem Sinn des
mit ihr verbundenen Zwangs und dem Zweck dieser aus Verurteilung und Zwang zu-
sammengesetzten Institution.
„Gesellschaft“ sei, so Jakobs, wesentlich durch ein normatives Gefüge definiert.
Die Verständigung darüber, welche Normen als zentral angesehen werden, konstitu-
iere überhaupt erst eine Gesellschaft.34 Daher stelle ein Normbruch einen Angriff auf
dieses Normgefüge dar, der ihren Wesenskern gefährde. Lasse die Gesellschaft –
bzw. der sie repräsentierende Staat – einen solchen Normbruch unbeantwortet,
drohe die Gefahr einer Erosion ihres Zusammenhalts. Daher sei es notwendig, auf
den Normbruch ablehnend zu reagieren – mittels Strafe.35 Die Bedeutung der Strafe
33
von Hirsch (wie Fn. 19, 2005), S. 59. Bei Hegel (wie Fn. 3, § 99 Zusatz) heißt es, der
Mensch werde wie ein Hund behandelt, gegen den man den Stock erhebt.
34
Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 3. Aufl., Berlin 2008, S. 61 ff.
35
S. etwa Jakobs, System der strafrechtlichen Zurechnung, 2012, S. 13 – 15; ausführlich
ders. (wie Fn. 34); ders., Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, Paderborn 2004.
Wert und Grenzen der expressiven Theorie der Strafe 503

liege im „Widerspruch gegen die [Norm-]Geltungsverneinung durch den Verbre-


cher“; ihr Zweck in der „kognitiven Sicherung der Normgeltung“.36 Die Strafe
wird dadurch formalisiert und zu einem rein kommunikativen Instrument umfunk-
tioniert, dessen sich der Staat bedient, um gegenüber allen Rechtsunterworfenen
die Aufrechterhaltung der gebrochenen Norm zu betonen.
In der Konsequenz dieses formalisierten Verständnisses von Strafe wird auch das
Wesen der Straftat umgedeutet: Wenn die Strafe den Zweck habe, künftige Norm-
treue zu fördern, müsse die Straftat als Verstoß gegen die Normbefolgungspflicht be-
griffen werden – was nichts anders bedeutet, als dass der Begriff der Straftat rein for-
mal als Normbefolgungsverweigerung formuliert wird.37 Dies sei das heute ange-
messene Verständnis der Straftat, da der Staat längst dazu übergegangen sei, das
Strafrecht als allgemeines Instrument der Verhaltenssteuerung einzusetzen und
das klassische Kernstrafrecht, das auf die Ahndung von Fremdschädigungen ausge-
richtet war, längst hinter sich gelassen habe.38
Dass aber die verbale Äußerung des Widerspruchs gegen den Normbruch nicht
ausreicht, um die künftige Normanerkennung hinreichend zu sichern, erklärt Jakobs
letztlich (wenn auch etwas versteckt) mit der abschreckenden Wirkung von Strafdro-
hung und -vollstreckung: Man könne – hier schimmert Luhmann durch – die Norm-
befolgung der Anderen nur mit adäquater Gewissheit erwarten, wenn deren Norm-
bruch einigermaßen unwahrscheinlich sei; also müsse der Normbruch so unattraktiv
gemacht werden, dass er höchstwahrscheinlich nicht eintrete. Dies geschehe durch
die „Zufügung eines Strafschmerzes“.39
Der expressive – d. h. kommunizierende – Charakter der Strafe liegt nach dieser
Theorie in einer Art öffentlicher Verlautbarung des Inhalts, dass der Normbruch Un-
recht war, dass staatlicherseits an der Normgeltung entschlossen festgehalten werde
und sich daher alle Bürger auch künftig darauf verlassen könnten, dass ihnen derar-
tige Normbrüche nicht jederzeit widerfahren werden. Die Art der Kommunikation
unterscheidet sich damit wesentlich von der zuvor dargestellten, „personenorientier-
ten“ Konzeption, denn dort wurde der Täter direkt – als moralisch Verantwortlicher –
angesprochen und das Echo dieser Ansprache sollte auch vom Opfer deutlich gehört
werden. Über einen für die Allgemeinheit wahrnehmbaren Nachhall dieser in den
Gerichtssälen stattfindenden Kommunikation wurde recht wenig gesagt. Für Jakobs
dagegen ist gerade die Allgemeinheit der Bürger der unmittelbare Adressat. Nur so

36
Jakobs, Staatliche Strafe (wie Fn. 35), S. 29 (Einfügung von mir; Hervorhebung im
Original).
37
So aktuell Frisch, GA 2019, 185, insbes. S. 191 ff., unter expliziter Berufung auf Jakobs.
38
So Frisch, GA 2019, 185, 191 ff.
39
S. Jakobs, Staatliche Strafe (Fn. 35), S. 26 und 28 f. – Merkel (wie Fn. 2, 2008), S. 130
mit Fn. 205, beschreibt den Zusammenhang zwischen Normbruch und erforderlichem
„Strafschmerz“ zutreffend als „tief verankert in einem komplexen Netz reaktiver Einstellun-
gen“; es gebe ein „unaufhebbares Element von Vergeltung in jeder Schuldstrafe“.
504 Gerhard Seher

lasse sich die „kognitive Sicherung der Normgeltung“ innerhalb der Gesellschaft be-
fördern.40 Jakobs nennt dies neuerdings „geltungserhaltende Generalprävention“.41
Diese Theorie verbindet in unvergleichlich eleganter Weise die normative Bedeu-
tung des Bestrafungsaktes mit seinem Zweck: Es wird – durch Strafe – dem Norm-
bruch widersprochen, weil (das ist die verbindende These) dies das allgemeine Be-
wusstsein der Normgeltung stärke und dadurch Normtreue fördere. Aber diese Strafe
kommuniziert über die Köpfe der Betroffenen hinweg. Der Täter selbst wird gar nicht
angesprochen; er wird nur verurteilt, damit alle anderen es hören – was unmittelbar
den seit Kant und Hegel bekannten Instrumentalisierungsvorwurf heraufzwingt. Das
Tatopfer, um dessentwillen ursprünglich und eigentlich der Staat das Strafen über-
nommen hatte42, kommt überhaupt nicht vor. Und die These, dass die öffentlich ge-
sprochenen Urteile das allgemeine Gefühl der Normgeltung bestärken, fordert die
Frage heraus, wie sich diese Wirkung empirisch zeigen lasse. Auch eine in der theo-
retischen Soziologie wurzelnde Theorie kann sich – gerade angesichts der notori-
schen Methodenunklarheit dieser Disziplin43 – dem Nachweis nicht entziehen,
dass sie das Funktionieren der sozialen Wirklichkeit adäquat beschreibe.44

3. Erträge: Bedeutung und Grenzen der expressiven Theorie der Strafe

Erstaunlich lange wurden zwei Argumentationsstränge unkritisch miteinander


verwoben: derjenige über die Beschreibung der Strafe als tadelnde Sanktion für
schuldhaft verwirklichtes Unrecht und derjenige über die Legitimation des strafen-
den Eingriffs in Rechtsgüter oder Interessen des Verurteilten. Strafe wurde vor allem
auf ihre präventiven Effekte hin betrachtet und deshalb wie ein präventives Zwangs-
instrument des Staates behandelt, obwohl zugleich gesehen wurde, dass der Akt der
40
Zustimmend Merkel (wie Fn. 2, 2012), S. 57.
41
Jakobs, System der strafrechtlichen Zurechnung (Fn. 35), S. 15.
42
Die Ursprünge des staatlichen Strafrechts sind noch nicht zureichend erforscht. Aber es
gilt als recht sicher, dass das staatliche Strafmonopol von Anfang an vor allem auch dem Ziel
diente, private Rache in ihrer ungezähmten Radikalität verhindern, so dass der Staat das
Strafen als Stellvertreter für das geschädigte Opfer übernahm.
43
Die Arbeitsweise der theoretischen Soziologie ist tatsächlich ein Phänomen: Soweit sie
sich von der empirischen Soziologie abgrenzen will, kann sie auf erfahrungswissenschaftliche
Befunde nicht rekurrieren. Und von der Philosophie als der Wissenschaft des richtigen Den-
kens und Argumentierens über die Grundfragen des Menschen und der Welt will sie sich
ebenfalls als eigenständig abheben. Woher gewinnt sie dann ihre Aussagen und Begründun-
gen? Es liegt der Verdacht nahe, sie arbeite vor allem mit Intuitionen und Plausibilitätsbe-
hauptungen. Gerade dann aber schuldet sie an zentralen Stellen den Nachweis, dass sie die
soziale Wirklichkeit abbildet und nicht allein systemtheoretische Abstraktionen konstruiert.
44
Merkel (wie Fn. 2 [2008], S. 125 f., insbes. in Fn. 199), sieht das im Anschluss an Jakobs
anders: Empirischen Nachweis fordernde „Beschwerden“ lägen neben der Sache, weil es
allein um die symbolisch-institutionelle „Bedeutung“ der Strafe gehe, die eben in der sym-
bolischen Wiederherstellung des verletzten Normgeltung liege. Aber gerade als symbolisch
begriffene Akte bedürfen eines besonders gewissenhaften Nachweises, dass ihre Symbolik die
erwünschten Konsequenzen hat.
Wert und Grenzen der expressiven Theorie der Strafe 505

Bestrafung nichts Präventives in sich trägt, sondern vom Gesetz und in der Recht-
sprechung auf die begangene Straftat zurückbezogen wird. Diese unaufgelöste Di-
chotomie findet sich derzeit in zahlreichen Lehrbüchern des Strafrechts.45
Vor allem die expressive Theorie der Strafe trägt nun dazu bei, das Phänomen einer
schuldvergeltenden Sanktion mit präventivem Zweck zu erhellen, indem sie den Fokus
von der Strafdrohung bzw. der Strafvollstreckung weg auf den Akt der Bestrafung
selbst legt. In diesem Akt richtet der Staat seine Botschaften an die Beteiligten und Be-
troffenen der Tat. Die Verurteilung ist das zentrale Ereignis der gesamten Bestrafungs-
prozedur: das Einlösen der Strafdrohung und die Entscheidung über Art und Höhe der
zu vollstreckenden Strafe. Und sie ist der einzige Moment, in dem der Staat zu der be-
gangenen Tat von Amts wegen Stellung nimmt, das einschlägige Ereignis verbindlich
als Straftat deutet und damit dem Täter wie dem Opfer mitteilt, wie beide das zu ver-
arbeitende Geschehen zu verstehen haben. Außerdem ist es gerade die Verurteilung, die
einschneidend in die Rechte des Verurteilten eingreift und daher eigenständig legitima-
tionsbedürftig ist. Daher ist es rechtsstaatlich geboten, sich mit diesem Akt gründlich
auseinanderzusetzen und darzulegen, welcher Sinn in ihm liegt.
Der maßgebliche Fortschritt – und damit die Leistung – der expressiven Theorien
liegt darin, den genuin repressiven Gehalt der Bestrafung wieder anerkannt und plau-
sibel gemacht zu haben. Bestrafung ist – was bei aller Verschiedenheit der personen-
und der normorientierten Richtungen beide Varianten der expressiven Theorien an-
erkennen – ein retributives Instrument: der Vorwurf ob der schuldhaft begangenen
Tat bzw. die öffentliche Brandmarkung des Normbruchs. Damit formulieren die ex-
pressiven Theorien ausdrücklich einen retributiven Begriff der Bestrafung. Nur die-
ses Verständnis des Strafens als einer vergeltenden Antwort auf den Rechtsbruch
wird der Vorstellung gerecht, die die Menschen vom Vorgang jeden Strafens
haben.46 Und das ist entscheidend für das Gelingen der Kommunikation, die in
der bestrafenden Verurteilung liegt.
Und doch sind mit beiden expressiven Konzeptionen Schwierigkeiten verbunden.
Die „personenorientierte“ Theorie intendiert von vornherein nur eine treffende Be-
schreibung des Bestrafungsaktes, liefert aber nach Hörnles eigenen Worten „keinen
eigenständigen Zweck für Strafe“.47 Das gilt besonders dort, wo die Kommunikation

45
S. etwa Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht Allgemeiner Teil, 12. Aufl., Bielefeld
2016, § 2 Rn. 20 ff., 53 ff.; Heinrich, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl., Stuttgart 2016,
Rn. 13 ff., 19 f.; Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 10. Aufl., München 2018, § 3
Rn. 21 ff.; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, 47. Aufl., Heidelberg 2017,
Rn. 21 ff; Hoffmann-Holland, Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl., Tübingen 2015, § 1
Rn. 12 ff., 20.
46
Dazu noch genauer sogleich u. IV.
47
Hörnle (Fn. 13), S. 35. – Von daher erstaunt es, dass Hörnle grundlegend differenzieren
will zwischen präventiven und expressiven Theorien (a.a.O., S. 3 und passim), denn dies stellt
beide auf dieselbe argumentative Stufe. Das wäre aber nur dann richtig, wenn auch die ex-
pressive Theorie Aussagen zur Legitimation des Rechtsinstituts „Strafe“ träfe – was aber die
personenorientierte Variante gerade nicht tut.
506 Gerhard Seher

mit dem Tatopfer betont wird – denn es gibt ja auch opferlose Straftaten (welche sich
gegen Rechtsgüter der Allgemeinheit oder des Staates richten), bei denen dieser
Kommunikationsstrang notwendigerweise fehlt.48 Anders als Hörnle bemüht sich
von Hirsch explizit um eine Verbindung jedenfalls zwischen der Übelszufügung
und einem generalpräventiv verstandenen Strafzweck – allerdings ohne eine gene-
ralpräventive Zielrichtung der Bestrafung schlüssig in seine Theorie integrieren zu
können. Der Wert der „personenorientierten“ expressiven Theorie liegt mithin in
ihrem Fokus darauf, was geschieht, indem verurteilt und bestraft wird; sie präsentiert
sich als eine Theorie über den Begriff der Strafe. Zu der Frage dagegen, warum Strafe
erforderlich und legitim ist, trägt sie von ihrem Ansatz her nichts bei.
Umgekehrt setzt die „normorientierte“ Theorie Jakobsscher Prägung bei der Legi-
timationsfrage an und deutet von dort aus – also vom Ziel der Normgeltungsbekräfti-
gung und der Normtreue in der Bevölkerung her – die Kommunikation durch Bestra-
fung. Dabei hatte sich aber gezeigt, dass die Deutung der Strafe als nur allgemein-öf-
fentlicher Verlautbarung rechtsstaatlich unzulänglich ist. Dieser Ansatz vermag also
zwar eine nachvollziehbare Legitimation für das Strafen anzubieten, aber keine nach-
vollziehbare Deutung des kommunikativen Gehalts von Verurteilung und Bestrafung.
So ergibt sich ein noch ergänzungsbedürftiges Bild des expressiven Zugangs zur
Strafe: Die „personenorientierte“ Konzeption beschreibt den Vorgang des Strafens
adäquat, trägt aber nichts zur Legitimation bei. Die „normorientierte“ Konzeption
erklärt den Strafzweck plausibel, entwirft aber ein inadäquates, obrigkeitsstaat-
lich-arrogantes Bild des Bestrafungsaktes.

IV. Die strafende und die das Strafen legitimierende Ebene


Dass die Strafe keine polizeirechtlich-präventive Maßnahme ist – und auch bei
präventiver Legitimation nicht als solche gedeutet werden kann –, wird heute
recht einhellig so gesehen. Gleichwohl aber wird die inhaltliche Ausgestaltung
der Strafe sehr verbreitet von ihrem präventiven Zweck her vorgenommen. Roxin
etwa formuliert das ausdrücklich: Die Strafe habe keinerlei „Wesen“ jenseits ihres
präventiven Zwecks49– mit anderen Worten: sie sei unmittelbar von ihrem präventiv
48
Hörnle (Fn. 13), S. 36. – Indem aber die expressive Theorie freilegt, dass die mit der
Bestrafung verbundene Kommunikation bei klassischen Schädigungsdelikten anders verläuft
als bei abstrakten Gefährdungs- und Gemeinschaftsschutzdelikten, macht sie darauf auf-
merksam, dass opferlose Straftaten ganz anders strukturiert sind und daher einer eigenen,
gründlicheren Legitimation bedürfen (s. dazu schon umfassend Feinberg, Harmless
Wrongdoing, Oxford 1988). Diese wichtige Erkenntnis wird in der deutschen Diskussion
dadurch erschwert, dass zur Rechtfertigung aller Arten von Straftatbeständen immer nur die
Standardfrage gestellt wird, ob sie denn „ein Rechtsgut schützen“ (s. zu dieser Kritik bereits
Seher, Prinzipiengestützte Strafnormlegitimation und der Rechtsgutsbegriff, in: Hefendehl/
von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, Baden-Baden 2003, S. 39, 44 f.).
49
Roxin (wie Fn. 4), 3/45: Rechtliche „Einrichtungen“ hätten kein von ihren Zwecken
unabhängiges „Wesen“, „sondern dieses ,Wesen‘ wird durch das Ziel bestimmt, das man damit
erreichen will“.
Wert und Grenzen der expressiven Theorie der Strafe 507

verstandenen Zweck her zu begreifen und auszugestalten. Und die „normorientierte“


expressive Theorie macht die Deutung von Straftat und Strafe von ihrem funktiona-
listischen Verständnis her offiziell zum Programm: Ausgehend von der Überzeu-
gung, dass die Bekräftigung der Normgeltung den legitimierenden Sinn des Strafens
liefert, wird der Boden des tradierten Verständnisses der Straftat als Verletzung ma-
terieller Güter oder Interessen und der Strafe als ausgleichender Sanktion vollständig
verlassen und an seine Stelle ein rein formales Konzept gesetzt, dass die Straftat nur
als Normbruch betrachtet und die Strafe als autoritative Antwort darauf deutet.
Eine solche präventive Deutung der Strafe verfehlt die Begriffe von Straftat und
Strafe fundamental. Strafe ist kein Instrument, dessen Charakter zur Disposition so-
ziologisch inspirierter oder rechtsdogmatisch willkürlicher Theoriebildung stünde.
Vielmehr ist es ein Mittel sozialer Kommunikation und Verhaltenssteuerung, das
in einer über Jahrtausende gewachsenen sozialen Alltagspraxis wurzelt und dessen
Struktur vergeltend geprägt ist. Daran hat Tonio Walter in einem mutigen Beitrag
erinnert.50 Vergeltung ist – anders als Rache – eine Antwort des Angemessenen,
die ebenso tadelnd wie belohnend auftritt.51 Immer geht es um den Gedanken des
Ausgleichs für eine vorangegangene Handlung – belohnend, wenn sie gut war;
schmälernd, wenn sie schädigend war. Eine solche Reaktion erwarten wir alltäglich
für all unser Tun – und wenn eine solche bewertende Reaktion ausbleibt, wird unsere
normative Wahrnehmung der einschlägigen Handlung gestört: Wir werden unsicher
darüber, ob diese Handlung (sei es unsere eigene, sei es die Handlung eines anderen)
das wert ist, was wir gedacht hatten. Eine Heldentat ohne nachfolgendes Lob wirkt
wie nicht geschehen; eine Schandtat ohne nachfolgende Ahnung wirkt wie gebilligt.
Walter nennt dies eine „ethische Werkseinstellung des Menschen“.52 Es handelt sich
dabei nicht um metaphysische Ideen einer absoluten Gerechtigkeit, sondern um eine
uns allen innewohnende, sehr irdische Intuition von Fairness. Und die Antwort, die
diese Intuition erwartet, hat nichts mit bösartiger Rache zu tun, sondern mit einer fai-
ren Zuteilung dessen, was die Handlung wert war. Deshalb hilft es der wissenschaft-
lichen Diskussion erheblich, wenn statt des pejorativ konnotierten Wortes „Vergel-
tung“ von „Retribution“ gesprochen wird: der ausgleichenden „Rückzahlung“ des-
sen, was durch die Tat als Veränderung in die Welt gesetzt wurde.
Wer strafen will, muss diese anthropologische Konstante beachten. Er muss das
tun, was „Strafen“ eben bedeutet: Dem Handelnden das „zurückgeben“, was seine
Handlung „wert“ war. Diese Retribution in ihrer eigentlichen Bedeutung53 ist der
50
Walter, ZIS 2011, 636 ff.
51
Süddeutsche wissen das bis heute aus der alltäglichen Floskel „Vergelt’s Gott“, die nach
einer mildtätigen Gabe wertschätzend gemeint ist: s. Walter, ZIS 2011, 636, 637.
52
Walter, ZIS 2011, 636, 642. – Merkel (wie Fn. 2, 2008), S. 131, spricht, die äußere
Erscheinung betrachtend, von einem „Element der institutionellen Struktur unserer gesell-
schaftlichen Lebensform“.
53
Retribuere = zurückgeben, -erstatten und jmdm. das ihm Gebührende zukommen lassen,
s. Online-Lexikon Pons: https://de.pons.com/%C3%BCbersetzung?q=retribuere&l=dela&in
=la&lf=la&qnac= (zuletzt abgerufen am 06. 11. 2019).
508 Gerhard Seher

Sinn jedes strafenden Aktes. Sein kommunikativer Gehalt liegt in der – lobenden
oder tadelnden – Bewertung der Handlung, auf die er antwortet.54
Wer die Strafe nach präventiven Gesichtspunkten zumessen will, verzerrt diese
Kommunikation durch sinnwidrige Einstreuung von Erwägungen, die mit der Ant-
wort auf die Tat nichts zu tun haben. Es ist schlicht nicht logisch, dem Täter zu sagen:
„Weil du dich durch deine Tat in bestimmter Höhe schuldig gemacht hast, wirst du
nun mit dem Strafmaß X bestraft, damit die Allgemeinheit ihr Vertrauen in die Gel-
tung des von dir verletzten Tatbestandes behält und ihre Normtreue gestärkt wird.“
Die kommunikative Bedeutung der Strafe und ihr Zweck lassen sich nicht in ein ge-
meinsames argumentatives Kausalgefüge bringen.
Offensichtlich liegt genau hier der strukturelle Fehler der zahlreichen Spielarten
präventiver Theorien. Er kann nur dadurch vermieden werden, dass man in der Theo-
rie des Strafens strikt zwischen zwei Ebenen unterscheidet. Auf der primären, rechts-
praktischen Ebene werden das Strafverfahren geführt, das Urteil gesprochen und die
Strafe verhängt. Diese Prozedur folgt dem retributiven Ritual, mit dem der Staat tief
verwurzelte soziale Praktiken übernimmt, die offensichtlich erfolgreich sind, weil sie
mit einer menschlichen Intuition von Fairness kongruieren, die sich seit Urzeiten
nachweisen lässt. Auf dieser Ebene geht es darum, was Strafe ist: eine tadelnde, re-
tributive Antwort auf gravierendes Fehlverhalten. – Auf einer davon strikt getrennten
zweiten, theoretischen Ebene wird die Prozedur, die auf der ersten Ebene abläuft,
kritisch betrachtet. Allein hierher gehören die legitimatorischen Fragen, die sich
rechtsstaatlich stellen: Warum wird (auf der Primärebene) gestraft? Welche rechts-
staatlichen Ziele können dadurch gefördert werden? Gibt es – jetzt oder in einer
nahen oder fernen Zukunft – rechtliche Alternativen zum Einsatz des Strafrituals?
Diese strikte Trennung zweier Ebenen des Nachdenkens über Strafe befolgt einen
Ratschlag, den die wissenschaftliche Debatte immer wieder bekommen55 – aber lei-
der zu oft überhört – hat und den erst kürzlich Wohlers nachdrücklich in Erinnerung
gerufen hat: dass es von entscheidender Wichtigkeit ist, zwischen dem Begriff der
Strafe und ihrer Legitimation zu unterscheiden.56 Dieselbe Intention verfolgt
Tonio Walter, wenn auch mit anderer Begrifflichkeit: Er beschreibt die Strafe unmit-
telbar als eine Maßnahme, die „als Übel wirkt“ und „eine sozialethische Missbilli-

54
Dies gilt auf allen Ebenen des sozialen Zusammenlebens: Eltern geben ihren Kindern
eine materiell spürbare Belohnung für eine gelungene Leistung und verbieten z. B. das Fern-
sehen, wenn das Kind seine Aufgaben nicht erfüllt hat; Geschäftspartner vereinbaren Ver-
tragsstrafen bei verantwortbarer Verspätung einer zugesagten Leistung; Vereine drohen mit
Ausschluss, wenn ein Mitglied seine Beiträge nicht bezahlt – die Beispiele ließen sich unbe-
grenzt vermehren.
55
Beispielsweise von Schmidhäuser, Vom Sinn der Strafe, hrsg. und mit einer Einleitung
versehen von Eric Hilgendorf, Nachdruck der 2. Auflage 1971, 2004, S. 51; Greco, Lebendi-
ges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, Berlin 2009, S. 278.
56
Wohlers, GA 2019, 425, 426.
Wert und Grenzen der expressiven Theorie der Strafe 509

gung unterstreicht“, und unterscheidet davon „Sekundärzwecke“, die mit der so


strukturierten Maßnahme intendiert werden.57
Für die strafrechtsphilosophische Diskussion bedeutet dies: Auf der primären,
strafenden Ebene sind die Fragen angesiedelt, wie (schuld)angemessen zu strafen
ist, welche kommunikative Bedeutung die Akte der Verurteilung und Bestrafung
haben und wann Strafe eine angemessene Reaktion auf einen Normbruch ist (Legi-
timität von Strafnormen). Auf der zweiten, straftheoretischen Ebene ist die Frage be-
heimatet, warum die Durchführung der strafenden Prozedur auf der primären Ebene
geboten ist.

V. Der legitimierende Zweck staatlichen Strafens


Dass auf der rechtspraktischen Ebene vergeltend gestraft wird, erfordert eine
gründliche Legitimation durch Erwägungen auf der theoretischen Ebene. Scheinbar
herrschte hier über Jahrhunderte ein heftiger Disput zwischen Konzeptionen, die in
der Vergeltung nicht nur den Begriff der Strafe verkörpert sahen, sondern in ihr zu-
gleich die erschöpfende Begründung für das staatliche Strafen erblickten. Es wurde
bereits angedeutet – und kann hier nicht weiter entfaltet werden –, dass intrinsisch
vergeltende Straftheorien nur sehr selten vertreten wurden und jedenfalls seit der
Aufklärung nicht mehr plausibel gemacht werden können. Weder eine objektiv
wahre Idee der ausgleichenden Gerechtigkeit noch eine Vergeltung zur Erfüllung
eines göttlichen Auftrages kommen als Legitimation in Betracht.
Es ist also längst entschieden, dass auf der theoretischen Ebene allein präventive
Erwägungen in Betracht kommen: Jemandem ein Strafübel aufzubürden, ist nur dann
sinnvoll, wenn dies für die Zukunft irgendeinen positiven Effekt verspricht. Solche
Effekte sind vielfältig – wie die Varianten der Präventionstheorien herausgearbeitet
haben: Eine schuldangemessene Strafe kann den Bestraften von der Begehung wei-
terer Straftaten abschrecken oder ihn zur Rechtstreue bekehren (Spezialprävention),
und eine hinreichend zuverlässige Strafverfolgung und Aburteilung begangener
Straftaten stärkt das Vertrauen der Allgemeinheit darin, dass das Recht „funktioniert“
und man sich also darauf verlassen kann, dass es auch künftig beachtet werde – und
dass es vernünftig ist, sich selbst rechtstreu zu verhalten (Generalprävention). Dass
die gesetzlichen Strafdrohungen vor einer begangenen Tat allein durch negativ-ge-
neralpräventive Erwägungen legitimierbar sind, ist sogar common sense.
Es zeigt sich, dass die zahlreichen Spannungen und Brüche in der Diskussion um
die staatliche Strafe und ihre Legitimation bereinigt werden können, wenn man sich
dem Gedanken öffnet, dass in dieser Diskussion in zwei strikt voneinander zu tren-
nenden Ebenen gedacht werden muss, denen je eigene Aspekte des Erklärens und
Legitimierens von Strafe zuzuweisen sind.

57
Walter, ZIS 2011, 636, 637. – Ebenso interessanterweise schon Feinberg (wie Fn. 12),
S. 637 (s. o. III. 1. a)).
Das Ideal des Bürgerstrafrechts vor dem Hintergrund
gesellschaftlicher Fragmentierung
Von Tatjana Hörnle

I. Einleitung
Wenn das Stichwort „Bürgerstrafrecht“ genannt wird, werden die meisten Leser
damit umgehend „Feindstrafrecht“ assoziieren.1 Die zweipolare Terminologie hat
Günther Jakobs geprägt2 und damit eine heftige Diskussion ausgelöst. Kritische
Stimmen stören sich an der Verwendung des Begriffs Feind3 sowie der Affirmation
eines Feindstrafrechts4 und warnen vor der Anwendung auf relativ harmlose Grup-
pen.5 Luís Greco argumentiert, dass sich die Kategorie des Feindstrafrechts weder für
deskriptive Zwecke (zu emotionsbeladen) noch für Kritik (zu abwertend gegenüber
konträren kriminalpolitischen Ansichten) gut eigne.6 Reinhard Merkel, dem ich die-
sen Beitrag in alter Verbundenheit und Freundschaft widme, hat hingegen darauf ver-
wiesen, dass unter engen Voraussetzungen die Einordnung eines Täters als Feind
durchaus zu begründen sei, nämlich dann, wenn sich die Tat „gegen die rechtlich ver-
fasste Gemeinschaft als ganze“ richte, also bei terroristischen Delikten.7
Mein Beitrag konzentriert sich auf den anderen Pol: die in der (Straf-)Rechtstheo-
rie zu findenden Vorstellungen von Bürgern und Bürgerstrafrecht. Es lohnt sich, den
Fokus von der Debatte über den Begriff des Feindes, die Existenz und Legitimität

1
Dies zeigen auch Verknüpfungen an, die Suchmaschinen im Internet herstellen: Wer
„Bürgerstrafrecht“ eintippt, findet fast ausschließlich Texte zum Feindstrafrecht aufgelistet.
2
Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 755 ff.; ders., HRRS 2004, 88 ff.; ders., HRRS 2006,
289 ff.; ders., in: Rosenau/Kim (Hrsg.), Straftheorie und Strafgerechtigkeit, 2010, S. 167 ff.
3
S. z.B. Hörnle, GA 2006, 80, 95; Paeffgen, FS für Amelung, 2009, S. 81, 88.
4
Unter anderem: Prittwitz, in: Pilgram/Prittwitz (Hrsg.), Kriminologie. Akteurin und
Kritikerin gesellschaftlicher Entwicklungen, 2005, S. 215, 224 ff.; Saliger, JZ 2006, 756,
761 ff.; Neumann, in: Uwer (Hrsg.), Bitte bewahren Sie Ruhe. Leben im Feindstrafrecht, 2006,
S. 299 ff.; Ambos, ZStrR 124 (2006), 1, 18 ff.; Arnold, HRRS 2006, 304 ff.; Bung, HRRS 2006,
63 ff.; Greco, Feindstrafrecht, 2010, S. 50 ff.; Paeffgen, FS für Amelung, 2009, S. 81 ff.
5
Jasch, in: Uwer (Fn. 4), S. 267, 273 ff.
6
Greco (Fn. 4), S. 53 ff.
7
Merkel, in: Kindhäuser u. a. (Hrsg.), Strafrecht und Gesellschaft: Ein kritischer Kom-
mentar zum Werk von Günther Jakobs, 2019, S. 327, 345 ff.
512 Tatjana Hörnle

eines Feindstrafrechts zu den normativen Idealen8 „Bürger“ und „Bürgerstrafrecht“


zu verschieben. Dabei gilt mein Interesse empirischen Bedingungen, die hinter die-
sen Idealen stehen. Dieser Ansatz ist in der Strafrechtstheorie wenig gebräuchlich.
Auch ausführlich entwickelte Entwürfe zum Thema Bürgerstrafrecht9 interessieren
sich nicht für Empirie, da Bezugswissenschaften und Ziele normativ sind. Die Figur
des Bürgers als Konstrukt von Staatstheorie und politischer Philosophie ist nicht mit
empirisch beschreibbaren Menschen gleichzusetzen. Kriminalpolitische Kritik be-
nötigt normative Ziele, um eine Veränderung des empirisch Beschreibbaren einzu-
fordern. Hieraus ist aber nicht zu folgern, dass Ideale sich von realen Umständen ab-
koppeln lassen. Auch normative Konstrukte setzen einen gewissen Wirklichkeitsbe-
zug voraus10 – jedenfalls dann, wenn daraus ernst zu nehmende rechtspolitische For-
derungen abgeleitet werden sollen. Der Rekurs auf ein Bürgerstrafrecht wäre wenig
überzeugend, wenn dies mit dem Eingeständnis verbunden würde, dass es sich um
eine realitätsferne, schwärmerische Utopie handle. Für die Strafrechtstheorie bedeu-
tet dies, dass es nicht damit getan ist, emphatisch normative Leitbilder zu unterstrei-
chen. Vielmehr sollten wir, was auch Reinhard Merkel betont hat,11 die Komfortzone
der idealen Theorie gelegentlich verlassen und tatsächliche Rahmenbedingungen zur
Kenntnis nehmen.
Die Idealfigur des Bürgers ist mit Verhaltenserwartungen verbunden, und das
Ideal eines Bürgerstrafrechts impliziert bestimmte sozialpsychologische Einstellun-
gen bei Reaktionen auf Straftaten. Eine Aufgabe für die Strafrechtswissenschaft liegt
darin, die Differenz zwischen diesen Idealen und tatsächlichen psychologischen wie
sozialpsychologischen Gegebenheiten auszuleuchten (dazu unten III.). Diese Diffe-
renz verdient besonders dann Aufmerksamkeit, wenn Änderungen der sozialen und
kulturellen Rahmenbedingungen befürchten lassen, dass sie zunimmt. Meine Hypo-
these ist, dass sich gesellschaftliche Entwicklungen, die als zunehmende Fragmen-
tierung beschrieben werden können, auf die psychologische und sozialpsychologi-
8
Jakobs bezeichnet sein Konzept eines Bürgerstrafrechts als Idealtypus (Jakobs, HRRS
2004, 88; ders., in: Rosenau/Kim [Fn. 2], S. 177). Max Weber, der den Begriff Idealtypus
geprägt und für seine soziologischen Überlegungen vielfach benutzt hat (s. die in Weber,
Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1922, enthaltenen Untersuchungen), betonte,
dass ein Idealtypus ausschließlich zu heuristischen Zwecken konstruiert werde. Er beinhalte
weder normative Wertungen (schließlich gebe es „Idealtypen von Bordellen so gut wie von
Religionen“, a.a.O., S. 200) noch Aussagen zur Zweckmäßigkeit. Typische Bezugnahmen auf
ein Bürgerstrafrecht sind dagegen stark normativ aufgeladen: Sie verweisen auf eine eindeutig
positiv bewertete Zielvorstellung. Im Folgenden spreche ich deshalb nicht (mehr) von Ideal-
typen (anders noch Hörnle, GA 2006, 80, 81), sondern von Idealen.
9
S. für Entwürfe, die beim Begriff des Bürgers ansetzen oder ihn mit großer Selbstver-
ständlichkeit verwenden, z. B. Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, 2012; Rostalski, Der Tatbe-
griff im Strafrecht, 2019; sowie das Lebenswerk von Antony Duff und Sandra Marshall, z. B.
Duff, The Realm of Criminal Law, 2018, Kap. 3, 4 und ibid.; Duff/Marshall, Criminal Law and
Philosophy 2018, 27 ff.
10
Jakobs: „nicht rein kontrafaktisch“, sondern „im großen und ganzen kognitiv unterfan-
gen“, HRRS 2004, 88, 91.
11
Merkel (Fn. 7), S. 356.
Bürgerstrafrecht vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Fragmentierung 513

sche Basis des Bürgerstrafrechts ungünstig auswirken (dazu unten IV.). Faktoren, die
ein Bürgerstrafrecht schwächen können, sind variationsreicher und komplexer als
eine Engführung auf „Feinde“ suggeriert, wenn man mit Reinhard Merkel davon aus-
geht, dass diese Bezeichnung allenfalls für terroristische Aktivitäten angemessen
ist.12 Die Fixierung auf ein bipolares Bürger-Feind-Analyseschema verstellt den
Blick auf soziale und kulturelle Entwicklungen, die zu einer breiteren Kluft zwischen
dem Ideal von Bürgern und Bürgerstrafrecht und der Realität führen können.

II. Idealbilder
1. Der Bürger

a) Der normgebundene Bürger

Welche Fähigkeiten und Verhaltensdispositionen werden der Figur des Bürgers


zugeschrieben? Für unser strafrechtliches Thema betrifft eine wesentliche Dimensi-
on die Fähigkeit und Bereitschaft, das eigene Verhalten an allgemeinen Verhaltens-
normen auszurichten und auf die situationsspezifische Orientierung am persönlichen
Nutzen zu verzichten. Jakobs schreibt hierzu: Bürger seien Personen, die „im großen
und ganzen“ die Gewähr bieten, sich rechtstreu zu verhalten. Anders als eine Person
sei ein Individuum ein „nach Lust und Unlust kalkulierendes Wesen“.13 Sein Aus-
gangspunkt ist ein sozialpsychologisches Phänomen, nämlich wechselseitiges Ver-
trauen in die Normtreue anderer – eine zentrale Voraussetzung für die weitgehend
anonymen, nicht auf individueller Kenntnis beruhenden Interaktionen in hochkom-
plexen, arbeitsteilig organisierten Gesellschaften.14 Dieses Vertrauen hat dann eine
stabile Basis, wenn man sich darauf verlassen kann, dass Mitbürger das Konzept
einer normativen Verpflichtung nicht nur abstrakt-intellektuell verstehen, sondern
sich auch unmittelbar gebunden fühlen. Dem Idealbild des Bürgers entsprechen
Menschen, für die Begründungen wie „Das gehört sich nicht“ oder „Das darf man
nicht“ eigenständige Handlungsgründe sind, die auch ohne zusätzliche Anreize
oder kognitiv verarbeitete Klugheitsregeln (Vermeidung von negativen Konsequen-
zen) verhaltensleitend wirken.
Eine zentrale Frage ist, wie Normen zu eigenständigen Handlungsgründen wer-
den können. In der demokratietheoretischen politischen Philosophie werden dazu ra-
tionalistische Vorstellungen vertreten, die betonen, dass Bürger in Demokratien Nor-
men mitgestalten können.15 Allerdings dürfte selbst ausgeprägtes Verständnis für die
Bedeutung von Wahlen nur bedingt geeignet sein, die Verbindung zur Verhaltensebe-
ne hinreichend verlässlich zu sichern, zumal selbst für diejenigen, die regelmäßig an
12
Merkel (Fn. 7), S. 345 ff.
13
Jakobs, HRRS 2004, 88, 91.
14
Merkel (Fn. 7), S. 343.
15
Günther, Jahrbuch für Recht und Ethik 2 (1994), 143.
514 Tatjana Hörnle

Wahlen teilnehmen, Einflussmöglichkeiten offensichtlich extrem verdünnt sind. Sta-


bile Verhaltensmuster entstehen nicht durch rationales Nachdenken über die Vorzüge
der Demokratie, sondern durch langjährige, durch kulturelle Rahmenbedingungen
geprägte Sozialisationsprozesse. Entscheidend sind sozialisationsbedingte Verhal-
tensdispositionen, die im individuellen Bewusstsein als Pflichtgefühl aufscheinen,
als primär affektive, nicht mehr rational hinterfragte Bindung an Sollenssätze wie
„Das macht man nicht“. Diese Pflichtgefühle sichern nicht nur das vorrechtliche
Ideal des moralisch Handelnden, sondern auch das Ideal des Rechtsnormen als ver-
bindlich erlebenden Bürgers.
Den Gegensatz bilden Individuen, die sich situationsspezifisch, orientiert am kon-
kreten Nutzen und den zu erwartenden Kosten entscheiden, ob sie sich an Verhaltens-
normen halten oder dies nicht tun.16 Für andere Menschen hat diese Entscheidungs-
strategie zwei entscheidende Nachteile. Erstens ist situationsspezifisches Verhalten
nur beschränkt vorhersehbar und berechenbar, vor allem deshalb, weil Präferenzen
und Abwägungen eine individuelle Komponente haben: sowohl Nutzen als auch
Kosten werden unterschiedlich gewichtet. Zweitens führt in manchen Situationen
eine rationale, nicht durch Pflichtgefühle eingeschränkte Kalkulation zum Ergebnis,
dass die Nichtbeachtung von (informellen oder in Gesetzesform vorliegenden) Ver-
haltensnormen sinnvoll wäre. Dies gilt insbesondere in modernen Wirtschafts- und
Sozialsystemen, die Trittbrettfahrern unzählige Möglichkeiten bieten, sich durch un-
faires, regelwidriges Verhalten Vorteile zu verschaffen. Unsere Institutionen und Or-
ganisationen zur sozialen Sicherung, Daseinsvorsorge und sonstigen geteilten Anlie-
gen sowie hochkomplexe wirtschaftliche Zusammenhänge geben Anreize zu ausbeu-
terischem Verhalten. Die Möglichkeiten, diese Anreize durch die Androhung von er-
höhten Kosten für Trittbrettfahrer zu neutralisieren, sind beschränkt. Wer rational
Wahrscheinlichkeiten berechnet, wird oft erkennen, dass das Risiko einer tatsächli-
chen Belastung mit Kosten gering ist, weil die Chancen, unentdeckt zu bleiben, sehr
hoch sind. Ausbeuterisches Verhalten ist nur dann in vertretbaren Grenzen zu halten,
wenn eine hinreichend große Zahl an Menschen dem Ideal des Bürgers mit interna-
lisierter, durch Pflichtgefühle gesicherter Normbefolgungsbereitschaft entspricht.

b) Der selbstbestimmt und eigenverantwortlich


sein Leben organisierende Bürger

Eine zweite zentrale Eigenschaft, die den Status als Bürger charakterisiert, ist
die Fähigkeit, eigenständig und eigenverantwortlich, ohne staatliche Anleitung
und Überwachung, Lebensbereiche selbst zu organisieren. Das Bundesverfas-
sungsgericht bringt dies mit der Formel „Selbstbestimmung und Eigenverantwor-
tung“ zum Ausdruck.17 Die ideengeschichtlichen Wurzeln sind bekannt,18 etwa bei
16
S. zur Modellierung von rational choice und dazu, dass Menschen sich teilweise so
verhalten Paternoster, Journal of Criminal Law and Criminology 100 (2010), 765, 782 ff.,
811 ff.
17
BVerfGE 41, 29, 58; 108, 282, 300.
Bürgerstrafrecht vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Fragmentierung 515

Hegel in der Unterscheidung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat angelegt19


oder bei John Stuart Mill mit der Begründung, warum die Respektierung von Pri-
vatsphären sowohl für das Individuum wertvoll als auch kollektiv sinnvoll ist.20
Basis der normativen Festlegung, Selbstbestimmung zu achten, ist eine anthropo-
logische Prämisse, nämlich die Annahme, dass erwachsene Menschen im Regelfall
selbstbestimmt und kompetent gestalten können – ohne die Unterstellung eines sol-
chen Könnens würde das Pochen auf Freiheitssphären wenig Sinn ergeben. Das At-
tribut der Eigenverantwortlichkeit sichert dabei, dass sich die vorausgesetzten
Kompetenzen in Grenzen halten: Nicht erforderlich ist der Nachweis, dass selbst-
bestimmtes Handeln zu einem Optimum an (wie auch immer bestimmbarer) Le-
bensqualität führt.

c) Der kommunikative Bürger

Nur kurz angerissen werden kann hier die Frage, ob zum Bild des Bürgers neben
Selbstbestimmungsfähigkeit und Motivierbarkeit durch Normen weitere Fähigkeiten
und Verhaltensdispositionen gehören. Es gibt Entwürfe eines Bürgerstrafrechts, die
von einem gehaltvolleren Ideal ausgehen. In Duffs idealer Theorie eines Strafverfah-
rens ist die Vorstellung des „zur Verantwortung ziehen“ (calling to account) von zen-
traler Bedeutung, was nicht als einseitiger Vorwurf zu verstehen ist, sondern als Dia-
log mit dem Angeklagten.21 Die empirischen Voraussetzungen sind noch gehaltvoller
als beim Ideal des normgebundenen Bürgers. Vorausgesetzt wird eine Sozialisation,
die mehr einfordert, als nur bestimmte Handlungen zu unterlassen: Es müssen noch
intensivere Pflicht- und Verantwortungsgefühle verankert werden.

2. Das Bürgerstrafrecht

Schon im Begriff des Bürgerstrafrechts kommt zum Ausdruck, dass die Verhal-
tensdispositionen von Menschen dem Ideal nicht entsprechen. Bei einer tief ausge-
prägten inneren Bindung an Normen blieben zwar in komplexen Gesellschaften for-
melle, also rechtliche Verhaltensnormen sinnvoll, aber Sanktionsnormen wären
überflüssig. Als normative Zielvorgabe spielt das Idealbild des Bürgers auf verschie-
denen Ebenen dennoch eine Rolle: für die Kriminalisierung von Verhalten, die Sank-
tionierung individueller Normverstöße und die Gestaltung des Strafverfahrens.

18
S. Schneewind, The Invention of Autonomy: A History of Modern Moral Philosophy,
2010; zur These, dass Individualisierung Wurzeln im Christentum habe, Siedentop, Inventing
the Individual. The Origins of Western Liberalism, 2014.
19
Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1820, 3. Teil.
20
Mill, On Liberty (1859), in: ders., On Liberty and Other Essays, Oxford 2008, S. 5 ff.
21
Duff, The Realm of Criminal Law, 2018, S. 33 ff.; Duff u. a., The Trial on Trial, Bd. 3:
Towards a Normative Theory of the Criminal Trial, 2007, S. 127 ff. S. zu Beteiligungsrechten
und dem Recht auf Schweigen als Signal der Distanzierung, Duff u. a., a.a.O., S. 203 ff.
516 Tatjana Hörnle

a) Bürgerstrafrechtliche Verbotsnormen

Das Ideal der selbstbestimmten, mit entsprechenden Freiheitssphären ausgestatte-


ten Person ist das Fundament einer bürgerstrafrechtlichen Kriminalisierungstheorie.
Die zentrale Annahme ist, dass es Lebensbereiche geben muss, die nicht durch
(straf-)rechtliche Verhaltensnormen reguliert werden dürfen. Der Verweis auf Selbst-
bestimmung bildet den Ausgangspunkt für die Kritik an paternalistischen und mora-
listischen Strafnormen. Soweit Handlungen in der eigenen Sphäre bleiben und weder
die Rechte anderer noch wichtige Kollektivinteressen tangieren, sollten sie nicht mit
dem Argument verboten werden, dass sie den „wahren“ oder langfristigen Eigeninter-
essen des Handelnden zuwiderlaufen oder mit moralischen Wertungen unvereinbar
seien.22 Was langfristig der eigenen Lebensqualität zuträglich sein dürfte, müssen
selbstbestimmt und eigenverantwortlich entscheidende Bürger selbst definieren.
Außerdem wird das Ideal eines Bürgerstrafrechts angeführt, um sog. Vorfeldkri-
minalisierung zu kritisieren (in diesem Kontext hat Jakobs erstmals Überlegungen
zum Kontrast von Bürger- und Feindstrafrecht entwickelt).23 Eindeutig mit dem
Ideal unvereinbar wäre die Pönalisierung von Einstellungen und Gedanken. Solche
Überlegungen haben aber (jedenfalls gegenwärtig) mangels Feststellbarkeit des
nicht nach außen Manifestierten keine praktische kriminalpolitische Relevanz:
Ernsthafte Kandidaten für Kriminalisierung sind nur Verhaltensweisen, die zu beob-
achten sind. Die entscheidende Frage ist, ob Verhalten der Sozial- oder der Privat-
sphäre zuzuordnen ist. An diesem Punkt ist manche Diagnose des Typus „Vorsicht,
Feindstrafrecht!“ zu hinterfragen. Nicht überzeugend ist es etwa, ein Abrücken vom
Bürgerstrafrecht schon in Gesetzesüberschriften zu sehen, die auf eine „Bekämp-
fung“ bestimmter Delikte verweisen.24 Wenn die verbotenen Handlungen tatsächlich
die Rechte anderer Personen verletzen, kommt es nicht auf derartige rhetorische
Floskeln an. Genauso wenig wäre es angemessen, pauschal alles der Privatsphäre zu-
zuordnen, was phänomenologisch-kriminologisch als Vorbereitung eines späteren
Delikts zu beschreiben ist.25 Zu beachten ist insbesondere, dass eine zeitgenössische
Strafrechtstheorie die Grenze zwischen Privat- und Sozialbereich nicht anhand von
Vorstellungen einer räumlichen Privatsphäre ziehen sollte – das Kriterium kann, an-
ders als nach traditionellen pater familias-Konzepten26 nicht sein, ob etwas „im ei-
genen Haus“ geschieht. Auch Jakobs’ These, dass die Verabredung eines Verbre-
chens „unter Freunden“, ja generell „soziale Beziehungen“ in der Privatsphäre ver-
blieben,27 ist diskussionswürdig: „Freund“ dürfte nicht leichter zu definieren sein als
„Feind“, und auch bei freundschaftlichen Beziehungen ist nicht ausgemacht, dass der
22
S. Joel Feinbergs bahnbrechendes Werk „The Moral Limits of the Criminal Law“,
Bd. 1 – 4, 1987 – 1990.
23
Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 753 ff.
24
Jakobs, HRRS 2004, 88, 92.
25
So auch Jäger, FS für Roxin zum 80. Geburtstag, 2011, S. 71, 81 ff.
26
Dazu Siedentop (Fn. 18), S. 7 ff.
27
Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 756 f.
Bürgerstrafrecht vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Fragmentierung 517

seine Meinung ändernde Part auch eine Meinungsänderung beim anderen bewirken
kann. Sobald eigenes Verhalten eine Gefahr begründet hat, die nicht mehr zu beherr-
schen ist, liegt nicht auf der Hand, dass dieses Verhalten im Privatbereich angesiedelt
sei.28
b) Bürgerstrafrechtliche Sanktionsnormen

Sanktionsankündigungen bedeuten, wie bereits festgestellt, ein Abrücken von


idealistischen Visionen. Trotzdem kann auch ein Sanktionen vorsehendes Strafrecht
als Bürgerstrafrecht bezeichnet werden, solange das Niveau der gesetzlichen Strafen
moderat bleibt. Die Ankündigung einer moderaten Strafe bringt zum Ausdruck, dass
lediglich ein kleiner, zusätzlicher abschreckender Effekt erzielt werden solle. Der an
instrumentelle Klugheit statt an genuine innere Normeinsicht appellierende Anreiz
kann so interpretiert werden, dass prinzipiell normtreue Bürger angesprochen wer-
den sollen, die gelegentlich, für antizipierte Momente der Schwäche, einer verstär-
kenden Motivierung bedürfen.29 Ein Appell an die Klugheitsregel, negative Folgen
für die eigene Person besser zu vermeiden, ist in dieser unterstützenden Funktion mit
der reinen Lehre eines Bürgerstrafrechts vereinbar (weil auch das Idealbild des Bür-
gers berücksichtigen sollte, dass Menschen keine Engel sind). Problematisch werden
Sanktionsandrohungen erst dann, wenn ihre Höhe zum Ausdruck bringt, dass die
Normadressaten ausschließlich auf (drastische) Abschreckung reagieren.30

c) Bürgerstrafrechtliche Sanktionsverhängung

Zum Ideal eines Bürgerstrafrechts gehören vor allem auch Beschränkungen bei
den tatsächlich verhängten Rechtsfolgen, die moderat ausfallen müssen. Problema-
tisch wird es, wenn verhängte Strafen so drakonisch sind, dass sie die normative Bot-
schaft völlig überlagern. Rechtsfolgen dürfen insbesondere nicht auf eine dauerhafte
Exklusion der Verurteilten hinauslaufen.31 Der Verzicht auf exkludierende Reaktio-
nen ergibt sich erstens aus der Annahme, dass Bürger grundsätzlich durch Normen
motivierbar sind. Vor diesem Hintergrund ist normwidriges Verhalten als temporäres
Sich-Überwältigen-Lassen von egoistischen Gegenmotiven, Schwäche oder Impul-
sivität zu interpretieren, ohne aber ein unumstößliches Indiz auch für zukünftiges
Fehlverhalten zu sein. Zweitens ist die Rolle eines Bürgers mit der Vorstellung ver-
bunden, dass unabhängig von den Prognosen zukünftigen Verhaltens ein bestimmtes
Mindestmaß an Respekt wechselseitig geschuldet wird, was auch im verfassungs-

28
Ähnlich Saliger, JZ 2006, 756, 760. S. für eine differenzierte Analyse der Zulässigkeit
abstrakter Gefährdungsdelikte Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts – zur Dog-
matik „moderner“ Gefährdungsdelikte, 2000, S. 305 ff.
29
von Hirsch, Censure and Sanctions, 1993, S. 12 ff.
30
Jakobs’ Verdikt gegen Strafnormen, die Tatvorbereitung erfassen (Fn. 23), überzeugt,
wenn die extreme Höhe einer Sanktionsandrohung auf „Abschreckung pur“ deutet, nicht aber,
wie oben ausgeführt, wegen einer pauschalen Zuordnung zum Privatbereich.
31
Zu dieser Kernforderung eines Bürgerstrafrechts Jakobs, HRRS 2004, 88, 90.
518 Tatjana Hörnle

rechtlichen Menschenwürdegrundsatz zum Ausdruck kommt. Vernichtung und dau-


erhafte Exklusion sind damit nicht vereinbar, deshalb das Verbot der Todesstrafe
(Art. 102 GG) und einer genuin lebenslangen Inhaftierung (Strafe oder Sicherungs-
verwahrung) ohne Überprüfungsmöglichkeit.32 Ebenso sind Nebenfolgen zu vermei-
den, die in ihrem Symbolcharakter die Bürgerrolle besonders deutlich verneinen.
Hierzu gehört der in den USA verbreitete dauerhafte Ausschluss von Wahlrechten
nach der Verurteilung wegen eines Verbrechens.33
Hinter dem Ideal bürgerstrafrechtlicher Sanktionierung stehen ebenfalls empiri-
sche, nämlich sozialpsychologische Voraussetzungen. Die Bereitschaft zu verhal-
tensunabhängigem Minimalrespekt und zur Zügelung reaktiver Emotionen muss
ein reales Substrat haben, das man als empfundene Grundsolidarität mit allen Mit-
menschen beschreiben kann, also auch mit denjenigen, die gravierendes Unrecht be-
gangen haben. Wie bei allen Idealen ist keine Deckungsgleichheit mit empirischen
Gegebenheiten vorauszusetzen – der springende Punkt bei allen normativen Anfor-
derungen (etwa beim Verweis auf Menschenrechte) ist schließlich, eine Korrektur
real abweichender Tendenzen zu bewirken. Dass manche Individuen auf Straftaten
mit unreflektierten negativen Emotionen und Ausgrenzung reagieren, ist kein Grund,
das Ideal eines Bürgerstrafrechts in Frage zu stellen. Aber vollkommen abgekoppelt
von einer sozialpsychologisch feststellbaren Grundsolidarität auch mit straffällig ge-
wordenen Menschen und der darauf beruhenden Bereitschaft, diese weiterhin als
Bürger zu behandeln, hat das Ideal „keine Exklusion“ kaum rechtspolitische Rele-
vanz.
d) Bürgerstrafrechtliche Strafverfahren

Schließlich wäre zu überlegen, wie Ermittlungsverfahren und Hauptverhandlun-


gen auszugestalten wären. Man darf vermuten: nicht so, wie es geltenden Verfahrens-
ordnungen entspricht. Sowohl das Verhalten von Beschuldigten und Angeklagten als
auch das Verhalten der Strafverfolgungsorgane wären anders zu modellieren. Nach
einem idealistischen Modell (s. oben 1. c)) könnte von kommunikativen, Verantwor-
tung für eigenes Fehlverhalten übernehmenden Bürgern in der Regel Kooperation bei
der Wahrheitsermittlung erwartet werden oder jedenfalls das Unterlassen von aktiven
Störungen (Verdunkelung) und Flucht.34 Gleichzeitig wäre Transparenz und vertrau-
ensvolles Vorgehen (insbesondere: Ernstnehmen der Unschuldsvermutung)35 bei den
Ermittlungsbehörden zu erwarten.36 Auch in der Hauptverhandlung würde die Er-
wartung von Dialog und Verantwortungsübernahme ersichtlich von Strafverfahrens-
ordnungen modernen Zuschnitts abweichen. Die interessante, den hiesigen Rahmen
32
S. zu Überprüfungspflichten im deutschen Recht §§ 57, 57a, 67a StGB.
33
Dazu Manza/Uggen, Locked Out: Felon Disenfranchisement and American Democracy,
2006; Chiao, Criminal Law in the Age of the Administrative State, 2018, S. 81 ff.
34
In diese Richtung auch Jakobs, HRRS 2004, 88, 93.
35
Dazu Jäger, FS für Roxin zum 80. Geburtstag, 2011, S. 71, 84 ff.
36
Jakobs, HRRS 2004, 88, 93, ordnet geheime Ermittlungen als prozessuales Feindstraf-
recht ein.
Bürgerstrafrecht vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Fragmentierung 519

allerdings sprengende Frage ist, wie viel Realitätsnähe eingebaut werden kann, damit
eine Verfahrensordnung insgesamt noch als Bürgerstrafverfahren gelten könnte.

III. Abgleich mit der Realität


Aus der Charakterisierung der Rolle des Bürgers als Ideal und aus dem Einge-
ständnis, dass Strafrecht auch im Reich der Bürger vorstellbar ist, ergibt sich zwangs-
läufig die Annahme, dass das reale Verhalten von Menschen dem Ideal vielfach nicht
entspricht. Diese analytische Feststellung beseitigt nicht die Notwendigkeit, sich mit
dem Ausmaß des Abstands von Ideal und Realität zu beschäftigen. Je realitätsfremder
Modelle sind, umso dringlicher stellt sich die Frage, ob das normative Bekenntnis zu
einem Bürgerstrafrecht noch zu verteidigen ist (s. unten V.).

1. Verantwortungsvolle Beschuldigte und Angeklagte?

Am deutlichsten dürfte die Differenz für das Strafverfahren ausfallen. Ohne em-
pirische Studien lässt sich zwar nicht verlässlich sagen, wie viele Beschuldigte und
Angeklagte ausschließlich in strategischer Weise agieren, um eine (objektiv ange-
messene) Verurteilung abzuwenden. Aber es dürfte eine plausible Vermutung
sein, dass die meisten oder jedenfalls viele Menschen durch (nachvollziehbare)
Furcht angetrieben werden und mit allen Mitteln, auch solchen, die dem Ideal des
Bürgers nicht entsprechen, versuchen, Verfahren zu torpedieren.

2. Selbstbestimmt handelnde Menschen?

Wie sieht es mit dem Ideal des selbstbestimmt handelnden, Lebensbereiche eigen-
verantwortlich organisierenden Bürgers aus? Zwei Fragen sind zu unterscheiden: ob
Menschen entsprechend handeln können, und ob sie es wollen. Meine These ist, dass
sich im Hinblick auf das Können keine fundamentale Kluft zwischen Ideal und Rea-
lität auftut. Natürlich wird darüber gestritten, ob bestimmte Verhaltensweisen als
selbstbestimmt gelten können, vor allem, wenn es um Existentielles geht (etwa:
dem eigenen Leben ein Ende zu setzen) oder um unangenehme oder gesundheitsge-
fährdende Entscheidungen in fragilen sozialen Lagen (zum Beispiel: Sex gegen be-
rufliche Vorteile37 oder Leihmutterschaft38). Solche Debatten stellen Selbstbestim-
mung aber nicht grundlegend in Frage. Ein ernsthaftes Problem würde nur dann ent-
stehen, wenn für einen signifikanten Anteil an erwachsenen Menschen festzustellen

37
Dazu Hörnle, ZStW 127 (2016), 851, 883 ff.
38
Dazu Baier, in: Mitra/Schicktanz/Patel (Hrsg.), Cross-Cultural Comparisons on Surro-
gacy and Egg Donation: Interdisciplinary Perspectives from India, Germany and Israel, 2018,
S. 255 ff.
520 Tatjana Hörnle

wäre, dass sie generell, nicht nur in schwierigen Grenzsituationen, unfähig seien, ihre
Angelegenheiten selbst zu regeln. Das ist keine realistische Annahme.39
Eine andere Frage ist, inwieweit Menschen von ihrer Selbstbestimmungsfähigkeit
Gebrauch machen wollen. Zeitdiagnostische Beschreibungen gehen davon aus, dass
die Notwendigkeit von Entscheidungen als Last empfunden werde.40 Diese beziehen
sich allerdings in der Regel auf zu unübersichtlich oder zu anspruchsvoll gewordene
Wahlmöglichkeiten bei Lebensstilen und Konsum in westlichen Gesellschaften. Man
kann aus postmodernem Unbehagen nicht unmittelbar ableiten, dass Menschen es in
dieser Situation vorziehen würden, durch rechtliche Verhaltensnormen mit dem
damit verbundenen Zwang eingeschränkt zu werden. Dafür dürfte vielmehr ein Zwi-
schenschritt erforderlich sein, der zunächst von Gefühlen der Überforderung zur frei-
willigen Einpassung in ein enges außerrechtliches Normensystem führt (religiöser
Art, aber auch metaphysikfreie Glaubenssysteme). Soweit Glaubenssysteme den An-
spruch auf absolute Verbindlichkeit erheben und den Unterschied zwischen Privat-
und Sozialbereich nicht anerkennen, sind auch vermehrt Forderungen nach rechtli-
cher und strafrechtlicher Verhaltensregulierung zu erwarten.

3. Normgebundene Menschen?

Für unser Thema ist eine zentrale Frage, in welchem Ausmaß die Entscheidungs-
prozesse realer Menschen dem Ideal des pflichtgebundenen Bürgers entsprechen, für
den das Wissen um eine Verhaltensnorm bereits ein hinreichender Handlungsgrund
ist. Man darf davon ausgehen, dass es nicht wenige Menschen gibt, die dem Bild tat-
sächlich nahekommen. Für diese Individuen genügt entweder schon die konventio-
nelle Vorgabe „Das gehört sich so“ oder jedenfalls eine als begründet eingestufte Ver-
haltensnorm, um entsprechend zu handeln. Eine realistische Beschreibung muss al-
lerdings von großer Heterogenität ausgehen und davon, dass andere Menschen die-
sem Bürgerideal nicht entsprechen.
Es gibt unterschiedliche Gründe, warum Normkenntnis nicht immer verhaltens-
steuernde Wirkung entfaltet. Eine erste Problemgruppe besteht aus impulsiven, wil-
lensschwachen Menschen. Diese mögen zwar den Normappell nachvollziehen und
aufgrund ihrer Sozialisation auch als grundsätzlich verpflichtend einordnen, wobei

39
Überlegungen zur Selbstbestimmungsfähigkeit sind nicht davon abhängig, was unter den
Stichworten „Willensfreiheit/Schuld“ verhandelt wird. Ein traditioneller Schuldvorwurf, der
Anders-Entscheiden-Können unterstellt (BGHSt 2, 194, 200), impliziert, dass ein Mensch, der
eine Entscheidung gefällt hat, zum selben Zeitpunkt auch eine andere Entscheidung hätte
fällen können. Das ist keine gut begründete Annahme. Grundlegend Merkel, Willensfreiheit
und rechtliche Schuld, 2008. S. zu meiner eigenen, ebenfalls skeptischen Position Hörnle,
Kriminalstrafe ohne Schuldvorwurf, 2013. Selbstbestimmt bedeutet aber nur, persönlich-
keitsadäquat zu entscheiden (was sich physiologisch in neuronalen Zuständen abbildet).
40
Ehrenburg, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, 2008.
Von einer „Überforderung des Subjekts“ spricht auch Koppetsch, Die Wiederkehr der Kon-
formität: Streifzüge durch die gefährdete Mitte, 2013, S. 70.
Bürgerstrafrecht vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Fragmentierung 521

dann aber persönliche, in der konkreten Situation verhaltenswirksame Bedürfnisse


den Normappell überlagern. Besorgniserregend im Sinne einer grundlegenden Ge-
fährdung des Bürgerstrafrechts ist diese Abweichung vom Ideal des Bürgers dann
nicht, wenn sie das Verhalten des Einzelnen nur punktuell oder jedenfalls das Ver-
halten aller Menschen nur partiell betrifft. Es ist bekannt, dass Sozialisation und
Pflichtgefühle gegenüber Sollensnormen keine perfekte Normkonformität garantie-
ren, weil sich Triebe, Impulse und Emotionen hier und da als stärker erweisen kön-
nen. In Maßen schadet Normabweichung der Existenz eines Bürgerstrafrechts nicht.
Ähnliches gilt für die zweite Problemgruppe: situationsspezifisch kalkulierende
Nutzen-Optimierer, die rational choice-Modellen entsprechend entscheiden. Das ge-
legentliche Auftreten zweckrational-egoistischer Kalkulationen ist noch kein Grund,
das Ideal eines Bürgerstrafrechts prinzipiell in Frage zu stellen. Schließlich sollen
auch (wie oben ausgeführt: moderate) Sanktionsankündigungen Kalkulationen mit-
beeinflussen. Zwar muss bei realistischer Betrachtung davon ausgegangen werden,
dass auch durch Sanktionsnormen nur in Maßen normkonformes Verhalten bewirkt
werden kann. Manche am Eigennutz orientierte Menschen vermuten oder ahnen,
dass die Wahrscheinlichkeit einer tatsächlichen Sanktionierung oft sehr niedrig aus-
fällt, was die abschreckende Wirkung herabsetzt.41 Solange sich aber insgesamt die
Zahl der Nutzen-Optimierer und vor allem die Zahl der auch durch Sanktionsandro-
hungen nur bedingt zu beeindruckenden Trittbrettfahrer in Grenzen hält, kann auch
dies ein Strafrechtssystem verschmerzen, ohne dass grundlegende Revisionen erfor-
derlich werden. Die Differenz ist kein Grund, das Ideal des Bürgerstrafrechts in Frage
zu stellen, wenn man davon ausgeht, dass zwar nicht alle, aber doch die meisten Men-
schen die elementaren, durch Strafrecht geschützten Verhaltensnormen tatsächlich
verinnerlicht haben.42
Trotzdem sollten Abweichungen vom Bürgerideal in ihrem Umfang beobachtet
werden. Problematisch wird die Kluft zwischen Ideal und Realität, wenn sich
große Teile der Bevölkerung vom Bürgerideal entfernen und die beiden eben be-
schriebenen Phänomene (emotionsgesteuerte oder am Eigennutzen orientierte Ent-
scheidungen) signifikant zunehmen. Im strafrechtlichen Schrifttum finden sich vor-
sichtige Andeutungen dazu, dass Bürgerstrafrecht „eine gewisse gesellschaftliche
und kulturelle Homogenität“43 voraussetze. Dieser Konnex verdient mehr Aufmerk-
samkeit. Zunehmende Heterogenität könnte, so eine zentrale Hypothese dieses Bei-
trags, psychologische und sozialpsychologische Einstellungen und Verhaltensdispo-
sitionen in der Bevölkerung in einer Weise beeinflussen, für die sich auch die Straf-
rechtswissenschaft interessieren sollte (dazu unten IV.).

41
Paternoster, Journal of Criminal Law and Criminology 100 (2010), 765, 780.
42
Davon geht Streng aus, in: Vormbaum (Hrsg.), Kritik des Feindstrafrechts, 2009, S. 181,
187.
43
Streng (Fn. 42), S. 189; andeutungsweise auch Jakobs, in: Eser/Hassemer/Burkhardt
(Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 47, 52 f.
522 Tatjana Hörnle

4. Bereitschaft zu moderaten, nicht exkludierenden Rechtsfolgen?

Die Bereitschaft, auf das rechtswidrige Verhalten anderer in emotional kontrol-


lierter, nicht exkludierender Weise zu reagieren, darf nicht als selbstverständlich vor-
ausgesetzt werden. Lehrreich ist die Beobachtung der US-amerikanischen Verhält-
nisse mit sehr hohen Inhaftierungszahlen und exkludierenden Reaktionen auf Straf-
taten.44 Auch für die deutsche Bevölkerung deuten empirische Studien auf punitiver
gewordene Einstellungen hin.45 Bislang zeigt sich dies nicht in den von deutschen
Gerichten verhängten Sanktionen, aus organisationssoziologischen Gründen: Die
bürokratische Organisation der deutschen Justiz (bürokratisch im Vergleich zu den
demokratischen Wahlen für Richter in den USA) wirkt puffernd und konserviert
ein niedriges Sanktionsniveau.46 Fraglich ist aber, wie nachhaltig diese isolierende
Wirkung längerfristig ausfallen wird, wenn sich wachsende gesellschaftliche Hete-
rogenität in Form von weiter zunehmender Entsolidarisierung auswirkt.

IV. Zunehmende Fragmentierung


Richtet man den Blick in die Zukunft, stellt sich die Frage, in welchem Ausmaß
sich die Einstellungen und Verhaltensdispositionen von Menschen vom Ideal des
Bürgers entfernen werden, wenn Fragmentierungsprozesse anhalten. Zwar ist es
zu vermeiden, in romantisierend-verklärender, ahistorischer Weise einen Zeitpunkt
X zu unterstellen, zu dem es kulturelle und soziale Homogenität gegeben habe – He-
terogenität dürfte historisch (und ländervergleichend) der Normalfall sein, wenn Ge-
meinschaften eine gewisse Größe erreicht haben. Genauso wenig wäre es für unser
Thema weiterführend, pauschal auf zunehmende Heterogenität abzustellen. Sicher-
lich gibt es Formen der kulturellen (und vielleicht auch der sozialen) Heterogenität,
mit denen keine schlüssige Hypothese zu verbinden ist, warum sie das Ideal des
normgebundenen und auf Straftaten anderer besonnen reagierenden Bürgers tangie-
ren könnten. Aber es gibt Entwicklungen in Richtung wachsende Heterogenität, mit
denen solche Befürchtungen zu verbinden sind. Fragmentierung kann auch die
Grundlagen des Bürgerstrafrechts erodieren, das ein Mindestmaß an Solidarität, Re-
spekt, Toleranz und Vertrauen über Gruppen, Klassen und Schichten hinweg erfor-
dert. Diese positiven Haltungen sind in mehrfacher Hinsicht wichtig. Sie sichern ers-
tens die Bereitschaft, die vielfältigen Optionen, sich zu bereichern und zu begünsti-
gen, nicht zu nutzen (und zwar auch dann nicht, wenn das Sanktionsrisiko gering ist).
44
S. zu den hohen Inhaftierungsziffern Redburn/Travis/Western (Hrsg.), The Growth of
Incarceration in the United States: Exploring Causes and Consequences, 2014; Pfaff, Locked
In. The True Causes of Mass Incarceration and How to Achieve Real Reform, 2017.
45
Streng (Fn. 42), S. 189; ders., Kriminalitätswahrnehmung und Punitivität im Wandel.
Kriminalitäts- und berufsbezogene Einstellungen junger Juristen, 2014.
46
S. zum stabilen Strafniveau Weigend, in: Tonry (Hrsg.), Sentencing Policies and Practi-
ces in Western Countries: Comparative and Cross-National Perspectives, 2016, S. 83 ff.; zu
den Ursachen Hörnle, GA 2019, 282 ff.
Bürgerstrafrecht vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Fragmentierung 523

Zweitens setzt die Zuerkennung von Freiheitssphären für selbstbestimmte Gestal-


tung, also die Basis einer liberalen Kriminalisierungstheorie, Respekt und Vertrauen
in die Kompetenz anderer voraus. Drittens ist Grundsolidarität erforderlich, um
Straftäter als Mitbürger wahrzunehmen, die moderat und nicht exkludierend zu be-
strafen sind.

1. Fragmentierung innerhalb westlicher Gesellschaften

Ein (zahlenmäßig begrenztes) Teilphänomen sind einheimische Gruppen, die sich


konsequent aus der Gemeinschaft der Personen, die Normen in Pflichtgefühl verbun-
den sind, separieren. Als bekanntes Beispiel wären die sog. Reichsbürger zu nen-
nen.47 Wichtiger für unser Thema dürften breitere Entwicklungen sein, die Zusam-
menhalt und Grundsolidarität schwächen. Zeitdiagnostische soziologische Analysen
konstatieren zunehmende Fragmentierung innerhalb von westlichen Gesellschaften.
Heinz Bude fasst Einschätzungen mit folgenden Worten zusammen: Der „prinzipi-
elle Kohäsionsoptimismus“ sei einem „prinzipiellen Pessimismus über die Eini-
gungs- und Ausgleichsfähigkeit von Gesellschaften unserer Art gewichen“.48 Facet-
ten der Fragmentierung werden aus unterschiedlichen Blickwinkeln geschildert. Der
Kultursoziologe Andreas Reckwitz beschreibt den Abstieg traditioneller, an allge-
meinen Maßstäben orientierten Mittelschichten und den Aufstieg sowie die kulturel-
le Dominanz von Gruppen, deren Lebensstil durch konsequente Individualisierung,
d. h. die Orientierung am Besonderen statt an allgemeinen Standards geprägt ist.49
Andere Analysen betonen Effekte der Globalisierung, die sich innerhalb westlicher
Gesellschaften in unterschiedlicher territorialer und nationaler Verwurzelung aus-
wirken (schlagwortartig: als Gegensatz von „anywheres and somewheres“).50 Erklä-
rungen des Rechtspopulismus51 und der Unterschiede zwischen Ost- und West-
deutschland52 beleuchten Prozesse und Hintergründe von Fragmentierungen.
Wenn der Befund richtig ist, dass neue Trennlinien nicht lediglich ältere ersetzen,
sondern insgesamt mit einer Zunahme von Fragmentierungslinien zu rechnen ist,
dürfte sich dies auch auf die Realisierungschancen eines Bürgerstrafrechts auswir-
ken. Einstellungen und Verhaltensdispositionen von Menschen sind abhängig von
Sozialisationsprozessen, die durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen geprägt
werden. Es ist nicht selbstverständlich, dass Menschen sich innerlich an rechtliche
Verhaltensnormen gebunden fühlen, anderen selbstbestimmte Lebensbereiche zuge-
stehen und bereit sind, im Fall von Straftaten auf harte Reaktionen und Exklusion zu

47
Der Verfassungsschutz geht davon aus, dass 2018 ca. 19.000 Individuen dieser Szene
angehörten: Bundesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2018, S. 95.
48
Bude, in: Mau/Schöneck (Hrsg.), (Un-)Gerechte (Un-)Gleichheiten 2015, S. 16, 17.
49
Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 2017.
50
Goodhart, The Road to Somewhere, 2017.
51
Koppetsch, Gesellschaft des Zorns, 2019.
52
Mau, Lütten Klein – Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, 2019.
524 Tatjana Hörnle

verzichten. Die erforderlichen emotionalen Grundlagen (Pflichtgefühl gegenüber


Normen, Solidaritätsgefühl gegenüber allen, also jenseits der eigenen Bezugsgruppe,
Toleranz abweichender Lebensstile) sind veränderbar. Es liegt nahe, dass eine schär-
fere Ausdifferenzierung in Gruppen zur Folge hat, dass sich für eine wachsende Zahl
an Individuen Gemeinschaftsbindung und Solidaritätsgefühle auf Bezugsgruppen
beschränken, während im Übrigen Nutzenoptimierung und Ausgrenzung zunehmen.

2. Auswirkungen von Einwanderung

Die folgenden Überlegungen sind auf makrosoziologischer Ebene angesiedelt.


Sie können nicht auf Allgemeinaussagen heruntergebrochen werden, die auf alle
Einwanderer (eine in jeder Dimension heterogene Gesamtheit) oder auf jedes Mit-
glied einer Gruppe an Migranten zutreffen. Jeder Gruppenbeschreibung lassen
sich Individuen zuordnen, für die das Beschriebene nicht zutrifft. Das muss betont
werden, weil Aussagen, die sich auf Gruppen und auf Wahrscheinlichkeiten bezie-
hen, oft missverstanden werden.
Für unser Thema relevante, mögliche Folgen von Migration können hier nur skiz-
ziert werden. Erstens gibt es Hinweise darauf, dass zunehmende ethnische Hetero-
genität jedenfalls kurz- und mittelfristig zu einer Abnahme von wechselseitigem Ver-
trauen führt.53 Dies schwächt (unter anderem) die für moderates, nicht exkludieren-
des Strafen erforderliche Grundsolidarität.54 Zweitens stellt sich die Frage, ob es in-
nerhalb der großen, in sich sehr heterogenen Gruppe aller Migranten Untergruppen
mit größerer Distanz zum Bürgerideal gibt.
In der öffentlichen Diskussion über Einwanderung nimmt das Thema Religion,
oder genauer: der Islam großen (teilweise zu großen) Raum ein. In zwei Punkten
ist es grundsätzlich plausibel, Differenzen zwischen islamisch geprägter Sozialisa-
tion und den hier zu untersuchenden Idealen zu vermuten, wobei aber zu beachten
ist, dass genauere Aussagen eine Differenzierung der heterogenen islamisch gepräg-
ten Kulturen und Gesellschaften erfordern.55 Zum einen erfordert Bürgerstrafrecht
die Bereitschaft zu moderaten Sanktionen, während islamische Texte und Rechts-
praktiken für bestimmte Formen abweichenden Verhaltens drakonische, exkludie-

53
Anderson/Just, The Journal of Politics 68 (2006), 783, 793; Putnam, Scandinavian Po-
litical Studies 30 (2007), 123 ff.
54
Zu vermuten ist, dass jenseits allgemeiner Studien zum Konnex von Heterogenität und
Vertrauen weiter differenziert werden müsste. Die vertrauensschwächenden Effekte wach-
sender Heterogenität dürften sich in Gesellschaften, in denen größere Teile der einheimischen
Bevölkerung anhaltende Zuwanderung skeptisch sehen, stärker auswirken als in traditionellen
Einwanderungsgesellschaften – unter diesen Bedingungen trägt Migration zur Binnenfrag-
mentierung bei.
55
S. zum Thema Pluralität und Einheit Krämer, in: Gethmann/Graf (Hrsg.), Identität –
Hass – Kultur, 2019, S. 172, 184 ff.
Bürgerstrafrecht vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Fragmentierung 525

rende und demütigende Strafen vorsehen.56 Es ist nicht fernliegend, dass die Einstel-
lungen von Teilen der Zuwanderer aus islamischen Ländern entsprechend geprägt
wurden. Zum anderen widersprechen eine strikte Trennung von Privatsphäre und So-
zialsphäre und das Pochen auf selbstbestimmtes Entscheiden in der Privatsphäre
Überzeugungen, die alle traditionellen monotheistischen Religionen mit das
ganze Leben erfassenden Verhaltensnormen prägen. Eine bürgerstrafrechtliche Kri-
minalisierungstheorie ist damit nicht vereinbar. Nicht plausibel wäre dagegen die
Vermutung, dass die Bindung an ein islamisches (oder anderes traditionell-religiö-
ses) Glaubensbekenntnis negative Effekte für Pflichtgefühle gegenüber säkularen
Verhaltensnormen haben könnte. Näher liegt vielmehr die umgekehrte Hypothese,
dass starke religiöse Bindungen die Wahrscheinlichkeit einer Sozialisation erhöhen,
die generell (auch mit positiven Auswirkungen für Verhaltensnormen jenseits des re-
ligiösen Katalogs) „Das macht man nicht“-Einstellungen verankert.
Zum Verständnis von psychologischen und sozialpsychologischen Faktoren dürf-
te vor allem ein genauerer Blick auf politische und soziale Verhältnisse in den Her-
kunftsländern beitragen. Der oft in Debatten über Migration, auch von Reinhard Mer-
kel,57 angeführte Topos der „kulturellen Identität“ lässt sich so besser konturieren.
Politische und soziale Bedingungen sind deshalb relevant, weil davon auszugehen
ist, dass Einstellungen und Verhaltensdispositionen, die Individuen in ihrer Soziali-
sation annehmen, an diese Umwelt angepasst sind. Zur Erfassung von Unterschieden
in den Rahmenbedingungen könnte auf die Differenzierung zwischen segmentären
und arbeitsteiligen Gesellschaften zurückgegriffen werden, die Emile Durkheim in
„Über soziale Arbeitsteilung“ entwickelt hat.58 Die Grundidee ist, dass in segmentä-
ren Gesellschaften Integration mit mechanischer Solidarität funktionieren kann,
während arbeitsteilige Gesellschaften durch organische Solidarität integriert werden.
Die Stimmigkeit des Konzepts der organischen Solidarität wird zwar in der neueren
soziologischen Literatur kritisch gesehen,59 und wie bei allen bipolaren Analyse-
schemata ist vor vereinfachenden Urteilen zu warnen, die der Komplexität zeitgenös-
sischer Gesellschaften nicht gerecht werden. Für unser Thema ist jedoch Durkheims
These von Interesse, dass die Solidaritäten von Menschen aus segmentär organisier-
ten Gesellschaften vorwiegend Bezugsgruppen gelten, die nach dem Ähnlichkeits-
prinzip funktionieren.60 Für einen nicht unbedeutenden Teil der in Deutschland an-
kommenden Migranten dürfte es nicht fernliegend sein, den Kontext im Herkunfts-
land mit dem Begriff der segmentären Gesellschaft zu erfassen. Faktoren, die zum
Länderwechsel motivieren (wirtschaftliche Rückständigkeit, gewaltsame Konflikte
zwischen konkurrierenden Gruppen, Staatenzerfall) bedeuten auch, dass diese Her-

56
Peters, Crime and Punishment in Islamic Law, 2005; Khodadadi, Theocratic Criminal
Law, Diss. Münster 2019 (noch unveröff.).
57
In seinem grundlegenden Essay in der Frankfurter Zeitung v. 22. 11. 2017.
58
Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung (Original 1893), Suhrkamp Taschenbuch 2016.
59
S. Pope/Johnson, American Sociological Review 48 (1983), 681 ff.
60
Durkheim (Fn. 58), S. 230 ff.
526 Tatjana Hörnle

kunftsgesellschaften näher am Pol der segmentären Gesellschaft angesiedelt sind


bzw. durch disruptive Ereignisse in diese Richtung zurückgeworfen wurden.
Distanz zum Bürgerideal kann entstehen, wenn Menschen unter Bedingungen so-
zialisiert wurden,61 die gruppenbezogene Kosten-Nutzen-Analysen nahelegten. Sol-
che Sozial- und Überlebensstrategien sind zu erwarten, wenn in ineffektiven oder ge-
scheiterten Staaten, unter bürgerkriegsähnlichen Zuständen oder sonst in feindlichen
Umgebungen das Wohl der eigenen Familie oder des eigenen Stammes, Clans etc.
das einzig sinnvolle Entscheidungskriterium ist. Für unser Thema ist relevant,
dass sich die Gewöhnung an mechanische, auf Gruppenähnlichkeit beruhende Soli-
darität auch nach erfolgter Migration auswirken kann. Auch dieser Gedankengang
erfordert weitere Differenzierung: Natürlich ist nicht von einem absolut determinie-
renden, bei allen zwangsläufig durchschlagenden Faktor auszugehen. Migrationsfor-
scher, die sich mit postmigrantischen Biographien beschäftigen, beschreiben die Bil-
dung von hybriden Identitäten.62 Gleichzeitig wäre es aber auch nicht plausibel,
Überlegungen zur Wahrscheinlichkeit von Verhaltensdispositionen und Einstellun-
gen von einem Blick auf die Umstände während der Sozialisation ganz zu trennen.

V. Folgerungen
1. Die Fragmentierungen innerhalb der deutschen Gesellschaft und die Auswir-
kungen von Einwanderung (sowie Wechselwirkungen dieser Phänomene) werden
wahrscheinlich die Distanz zwischen dem Ideal des Bürgers und den tatsächlichen
Einstellungen und dem Verhalten von Menschen vergrößern.
2. Auf strafrechtstheoretischer Ebene ist wesentliches Anliegen meines Beitrags,
zu betonen, dass die bipolare Entgegensetzung von Bürger- und Feindstrafrecht ir-
reführend ist. Die Faktoren, die von den Idealen des Bürgers und des Bürgerstraf-
rechts wegführen können, sind wesentlich komplexer. Mit der Fixierung auf Feinde
und Terroristen droht in Vergessenheit zu geraten, dass ein Bürgerstrafrecht von all-
täglichen, weitgehend unreflektierten Einstellungen und Leistungen vieler Men-
schen abhängt, die als staunenswerte,63 aber auch fragile Errungenschaften eingeord-
net werden müssen.

61
Und Erfahrungen an die nächste Generation der nicht mehr selbst Eingewanderten
weitergeben.
62
S. z.B. Foroutan/Schäfer, Aus Politik und Zeitgeschichte 5/2009, 11 ff.; Foroutan, in:
Brinkmann/Uslucan (Hrsg.), Dabeisein und Dazugehören, 2013, S. 85 ff.
63
Ein Beispiel in Referenz an Joel Feinbergs berühmtes Bus-Beispiel (bei ihm ging es um
die Veranschaulichung von grob anstößigem Verhalten, Feinberg, Offense to Others. The
Moral Limits of the Criminal Law, Bd. 2, 1988, S. 10 ff.): Die Berliner Verkehrsgesellschaft
lässt gelegentlich in Bahnen, aber sehr selten in Bussen Fahrscheine kontrollieren. Für Fahr-
gäste, die das System kennen, ergeben sich zwei Optionen: Bürger, die das Gebot „Kaufe ein
Ticket“ verinnerlicht haben, steigen vorne ein; Trittbrettfahrer sind nicht auf das Trittbrett
angewiesen, sondern nutzen die hinteren Eingänge und fahren kostenfrei. Staunenswert ist die
Bürgerstrafrecht vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Fragmentierung 527

3. Welche Konsequenzen sind für Strafrechtstheorie und Kriminalpolitik zu zie-


hen, wenn man die Befürchtung einer zunehmenden Differenz von Ideal und Realität
als grosso modo (vermutlich) zutreffend einordnet? Eine mögliche Folgerung ist, das
Idealbild des Bürgers und der Vision eines Bürgerstrafrechts aus unserem Bestand an
normativen Leitvorstellungen zu streichen. Klaus Gärditz hat sich jüngst dagegen
ausgesprochen, Strafrechtstheorie ausgehend vom Bild einer idealisierten Bürgerge-
sellschaft zu betreiben. Anstatt in einer „heilen Wohnzimmer-Bürgerwelt, die es nie-
mals gab“ Zuflucht zu suchen, sei „mehr Bodenständigkeit und Wirklichkeitsnähe“
zu empfehlen.64 Ein realistisches Menschenbild müsse davon ausgehen, dass Men-
schen eigennützige Interessen verfolgen, und Strafrecht sei überhaupt nur deshalb
erforderlich, weil das Verhalten von Individuen zu regulieren ist, die „(situativ
oder allgemein) keine Normtreue erwarten lassen“.65
Gärditz verdient in drei Punkten Zustimmung. Erstens ist das bipolare Analyse-
schema „Bürger-Feind“ unterkomplex.66 Zweitens sollten Rechtswissenschaftler
nicht die Realität ausblenden. Drittens ist es nicht überzeugend, Überlegungen zur
Prävention sozialschädlicher Verhaltensweisen prinzipiell kritisch zu sehen. In frag-
mentierten Gesellschaften sollte insbesondere nicht unterstellt werden, dass die Nei-
gung zu Trittbrettfahren ein zu vernachlässigendes Phänomen wäre. Entscheidend
ist, ob Verhaltensregulierung zum Schutz der Rechte anderer oder wichtiger kollek-
tiver Interessen notwendig und erfolgversprechend wäre, und wie sich dieses Anlie-
gen in einer verhältnismäßigen Weise umsetzen lässt, die sowohl Freiheitssphären als
auch öffentliche Ressourcen so weit wie möglich schont.67
Auf den ersten Blick spricht manches dafür, einer konsequent realistischen Her-
angehensweise den Vorzug zu geben. Auf den zweiten Blick gibt es aber doch Grün-
de, die Maßstabsfigur des Bürgers und das Ideal eines Bürgerstrafrechts nicht kur-
zerhand in der Schublade „Träumereien“ abzulegen. Zu fordern ist zwar ein klareres
Bewusstsein dafür, dass zwischen Ideal und Realität unterschieden werden muss und

erste Kategorie, d. h. die Passagiere, die ein Ticket erwerben: Sie tun anstandshalber oder aus
Fairnessgründen etwas, was bei instrumentell-nüchterner Kalkulation überflüssig ist.
64
Gärditz, in: Kindhäuser u. a. (Hrsg.), Strafrecht und Gesellschaft. Ein kritischer Kom-
mentar zum Werk von Günther Jakobs, 2019, S. 709, 732, mit Verweis auf Isensee, Das
Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 20. Generell skeptisch gegenüber der deutschen idealis-
tischen Tradition Gärditz, Staat und Strafrechtspflege, 2015, S. 40.
65
Gärditz, in: Kindhäuser u. a. (Fn. 64), S. 729 (Kursivsetzung durch mich).
66
Gärditz, in: Kindhäuser u. a. (Fn. 64), S. 731.
67
S. zur Orientierung am Verhältnismäßigkeitsprinzip als Filterkriterium, wenn Krimina-
lisierung von Verhalten erwogen wird, Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz
im Präventionsstrafrecht, 2014, S. 351 ff. Debattiert wird darüber, ob sich zudem die Art der
geschützten Interessen und Güter eingrenzen lässt. Wenig tauglich als Eingrenzungskriterium
ist der Begriff Rechtsgut (dazu Hörnle, Grob anstößiges Verhalten. Strafrechtlicher Schutz
von Moral, Gefühlen und Tabus, S. 11 ff.; Engländer, ZStW 127 [2015], S. 616 ff.), aber mit
der von mir präferierten Begrenzung auf Rechte anderer und wichtige kollektive Interessen
sind moralische und paternalistische Erwägungen am Anfang der Prüfung, schon vor Ein-
greifen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, auszuschließen.
528 Tatjana Hörnle

es eine wichtige Aufgabe für Rechts- und Sozialwissenschaften bleibt, das Ausmaß
der Differenz zu beobachten. Aber Ideale erfüllen ebenfalls eine Funktion. „Bürger“
und „Bürgerstrafrecht“ sind Schlagworte, die in Kurzform ausdrücken, was aus nor-
mativer Sicht wünschenswert ist. Hervorzuheben ist, dass sich das normativ Erstre-
benswerte und das funktional Erforderliche überschneiden. Das Funktionieren unse-
res Strafrechtssystems hängt davon ab, dass eine hinreichende Zahl an Menschen in
ihren Einstellungen und in ihrem Verhalten tatsächlich dem nahekommt, was das
Schlagwort „Bürger“ zusammenfasst. Verhaltensregulierung, die auf den Mechanis-
mus der Sanktionsandrohung angewiesen ist, stößt auf faktische Grenzen.68 Sankti-
onsankündigungen bleiben nur dann wirksam, wenn mit hinreichender Regelmäßig-
keit Vollstreckung wahrgenommen wird.69 Spätestens bei einem realistischen Blick
auf die Zahl qualifizierter Bewerber für Polizei- und Strafverfolgungsaufgaben zeigt
sich, dass die Möglichkeiten, Sanktionen tatsächlich zu verhängen, erheblich be-
schränkt sind. Zweitens sind die sozialpsychologischen Einstellungen, die ein zu-
rückhaltendes Strafniveau tragen, ebenfalls von funktionaler Bedeutung. Auch bei
der Vollstreckung von Sanktionen, vor allem von Freiheitsstrafen, gibt es Grenzen
des Machbaren.
An dieser Stelle könnte vorgebracht werden, dass Argumente, die in nüchtern-ra-
tionaler Weise auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip verweisen, genauso zielführend
seien wie das Evozieren des Ideals eines Bürgerstrafrechts. Rationale Abwägungen
haben allerdings weniger Überzeugungsmacht als emotional getragene Visionen.
Diese Folgerung legt ein Blick auf die US-amerikanischen Verhältnisse nahe, wo
die wohlbegründeten Hinweise auf die enormen Kosten hoher Inhaftierungszahlen
sich gegen punitiv-exkludierende Einstellungen nicht wirklich durchsetzen kön-
nen.70 Im Ergebnis ist davon abzuraten, die normativen Ideale zu verabschieden,
die mit den Begriffen Bürger und Bürgerstrafrecht zum Ausdruck gebracht werden.
Das Verhältnis von normativen Idealen und dem Verhalten realer Menschen muss
zwar als distanziert eingestuft werden, was aber nicht dasselbe ist wie gänzlich un-
verbunden. Die normativen Wertungen, die Rechtsordnungen zugrunde liegen, und
ihre Affirmation in öffentlichen Diskursen und Rechtspraktiken, dürften einen ge-
wissen Einfluss auf die Sozialisation von Menschen haben und deshalb Einstellungen
sowie Verhaltensdispositionen beeinflussen. Rückkoppelungseffekte dieser Art sind
schwierig zu messen oder gar zu quantifizieren, aber die Grundannahme ihrer Exis-
tenz erscheint hinreichend plausibel. Es ist deshalb sinnvoll, dass Rechtsordnungen
auf anthropologische, psychologische und sozialpsychologische Annahmen setzen,
die ein wenig zu optimistisch sind.

68
Darauf weist auch Pawlik hin (Fn. 9, S. 105 f.).
69
S. zur Bedeutung polizeilicher Reaktionen Paternoster, Journal of Criminal Law and
Criminology 100 (2010), 765, 789 ff.; Durlauf/Nagin, Criminology & Public Policy 10 (2011),
13, 37.
70
Dazu Chiao (Fn. 33), S. 111 ff.
Das Strafrecht einer fragmentierten Gesellschaft
Von Michael Kubiciel

I. Einleitung
„Es ist eine vielleicht unpopuläre, aber wichtige Einsicht, daß die Funktion des
rechtsstaatlichen Strafrechts nicht ganz selten gerade darin besteht, gerechte und ver-
nünftige Einzelfalllösungen zu verhindern.“1 Auf diesen Satz läuft eine Untersu-
chung hinaus, in der Reinhard Merkel vor 25 Jahren in intellektuell scharfsinniger
wie politisch unerschrockener Weise der Frage nachgegangen ist, ob der ehemalige
Vorsitzende des Staatsrates der DDR wegen der Tötung von Flüchtlingen an der in-
nerdeutschen Grenze zur Verantwortung gezogen werden kann. Merkel verneint
diese Frage mit einem Argument, dessen Aussagekraft nicht auf den von ihm behan-
delten historischen Ausnahmefall begrenzt ist: Strafe als „symbolische Demonstra-
tion des Rechts“2 setze die Verletzung einer Rechtsnorm voraus, die zur Tatzeit „we-
nigstens in einem erkennbaren Grad sozial wirksam ist.“3 Da das Recht der DDR
weder Flüchtlinge vor tödlichen Schüssen geschützt noch das Staatsoberhaupt adres-
siert habe, scheide eine Bestrafung Erich Honeckers aus. Auf überpositive Normen
der Gerechtigkeit könne man zur Korrektur dieses Ergebnisses nicht zurückgreifen,
zumal es sich bei naturrechtlichen Gerechtigkeitsvorstellungen um „ein in Einzelhei-
ten unklares, umstrittenes, jedem Wandel der Geschichte und jedem Druck der Ideo-
logien preisgegebenes Gebiet moralischer und politischer Überzeugungen“ handele.4
Diese Sätze enthalten in nuce das strafrechtstheoretische Denken Merkels: Das Straf-
recht dient der symbolischen Bestätigung der vom Täter verletzten Rechtsnorm, die
sich nicht durch ihre Kompatibilität mit abstrakten, überpositiven Gerechtigkeitsvor-
stellungen auszeichnet, sondern vor allem sozial wirksam sein muss.5

1
Merkel, in: Unseld (Hrsg.), Politik ohne Projekt, 1993, S. 298, 328 (Sperrung im Origi-
nal).
2
Ebd., S. 330.
3
Ebd., S. 324.
4
Ebd., S. 302.
5
Übertragen hat Merkel diesen Ansatz auch auf die Frage, ob dem ungeborenen Leben ein
eigener Würdeanspruch sowie ein eigenes Lebensrecht zugeschrieben werden kann, wenn
zugleich ein nicht-indizierter Schwangerschaftsabbruch straffrei möglich ist. Merkel (For-
schungsobjekt Embryo, 2002, S. 64 ff.) verneint dies. Eine an der symbolisch-kommunikati-
ven Wirkung ansetzende Straftheorie kann jedoch auch auf den Umstand hinweisen, dass das
530 Michael Kubiciel

II. Kontingenz strafrechtstheoretischer Leitbilder


Wirklichkeitsmächtig werden strafrechtlich garantierte Normen, indem sich die
Adressaten normgemäß verhalten und Gerichte auf Normverletzungen reagieren.
Indes lassen sich beide Vorgänge nicht von den vorherrschenden moralischen und
politischen Überzeugungen einer Gesellschaft trennen. Auf der einen Seite können
strafrechtlich garantierte Normen nur dann auf eine latente Befolgungsbereitschaft
hoffen, wenn sich der Inhalt der Verhaltensnormen nicht zu weit von den Angemes-
senheits- und Richtigkeitsvorstellungen der Adressaten entfernt.6 Auf der anderen
Seite – die der rechtsdurchsetzenden Sanktionsinstanzen – wird die Anwendung
des Rechts mitgeprägt von den Wertüberzeugungen und Plausibilitätsmaßstäben
jener Gesellschaft, die den Interpreten umgibt und für die er das Recht durchsetzt.7
So kommt es, dass sich der Bedeutungsgehalt von Straftatbeständen und das Ver-
ständnis zentraler Begriffe – oft schleichend, gelegentlich disruptiv – mit dem gesell-
schaftlichen Großklima ändert. Die genuine Aufgabe der Strafrechtswissenschaft be-
steht darin, jene Vorverständnisse und Grundannahmen zu explizieren, die Juristen
stets mitverwenden und voraussetzen, wenn sie Recht auslegen und anwenden.8
Diese außerrechtlichen Wertüberzeugungen und Richtigkeitsvorstellungen beein-
flussen nicht nur die Dogmatik, sondern auch die Rechtspolitik.
Die Strafrechtswissenschaft muss daher die Entwicklungen der Gesellschaft stets
mitreflektieren, wenn sie den von ihr traditionell beanspruchten dogmatischen und
kriminalpolitischen Funktionen gerecht werden will.9 Das erfordert in einem ersten
Schritt die Freilegung des gesellschaftstheoretischen Grundes, auf dem strafrechtli-
che Begriffe und Systementwürfe ruhen.10 In einem zweiten Schritt muss die Straf-
rechtswissenschaft fragen, ob dieser Grund die von ihr verwendeten strafrechtstheo-
retischen Prämissen und Leitbilder (noch) zu tragen vermag. Beide Schritte vollzieht
die Strafrechtswissenschaft nur selten; zumeist hält sie schlicht am Tradierten fest.11
Dies dürfte daran liegen, dass das Bewusstsein für die Kontingenz von Theorien in
dem Maße schwindet, in dem sich diese in das institutionelle Gedächtnis einer Pro-
fession eingeschrieben und den Status einer (scheinbar) voraussetzungslosen Gültig-
keit erlangt haben.

Strafrecht die Handlung weiterhin als rechtswidrig erachtet und die Straflosigkeit an zusätz-
liche prozedurale Voraussetzungen knüpft (§§ 218a Abs. 1, 219 StGB).
6
Dazu etwa Baurmann, Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 35 (2005), 164, 170,
173; Kubiciel, ZStW 120 (2008), 429, 439.
7
Pawlik, in: Kindhäuser u. a. (Hrsg.), Strafrecht und Gesellschaft, 2019, S. 217, 235, unter
Verweis auf Lennartz, Dogmatik als Methode, 2017, S. 101.
8
So Bumke, Rechtsdogmatik, 2017, S. 2, 10 ff.; ebenso Jansen, AöR 143 (2019), 623, 624.
9
So Jakobs, in: Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 105;
ders., ZStW 107 (1995), 844; Pawlik, FS v. Heintschel-Heinegg, 2014, S. 364, 365 f. Siehe
auch Jansen, AöR 143 (2019), 623, 631.
10
Jakobs, FS Hirsch, 1999, S. 48.
11
Siehe dazu Hörnle, in: Dreier (Hrsg.), Rechtswissenschaft als Beruf, 2018, S. 183, 197,
213.
Das Strafrecht einer fragmentierten Gesellschaft 531

Wird beispielsweise fünf Jahrzehnte lang der Satz wiederholt, dass das Strafrecht
(nur) Rechtsgüter schützen dürfe, geraten jene ideengeschichtlichen, sozialen und
wissenschaftstheoretischen Umstände in Vergessenheit, die dieser Prämisse zu
ihrem Erfolg verholfen haben. Strafrechtstheoretische Konzeptionen lösen sich
damit schleichend von der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die sie hervorgebracht
hat, ohne dass dies der Strafrechtswissenschaft überhaupt bewusst wäre. Dazu
trägt auch eine Art metaphysischer Kurzschluss bei, auf den Carl Schmitt aufmerk-
sam gemacht hat. Danach entspricht das metaphysische Bild, das sich ein Zeitalter
von der Welt macht, jener Struktur, die den Betrachtern als Form der politischen Or-
ganisation ohne weiteres einleuchtet.12 Auf die Strafrechtswissenschaft übertragen
ließe sich sagen: Wenn die Wissenschaft das Strafrecht als ein Mittel betrachtet,
mit dem der Staat die Freiheit des Einzelnen und die Integrität personaler Rechtsgüter
schützt, stützt dies ein hintergründig wirksames Weltbild, das Maß am Individuum
und seiner Ausstattung mit Gütern nimmt. Und umgekehrt gilt: Versteht man die Ge-
sellschaft als einen Ort, an dem Individuen bei der Verfolgung eigener Interessen mit-
einander interagieren, muss das Strafrecht zuallererst die äußeren Freiheitssphären
von Personen trennen und die Güter einer Person schützen. Auf diese Weise stabili-
sieren sich eine nicht mehr hinterfragte Vorstellung von der Funktion des Strafrechts
und ein unreflektierter Blick auf die Gesellschaft gegenseitig.13
Auch die Rechtsgüterschutzlehre verdankt ihren Siegeszug nicht allein einer theo-
retischen Überlegenheit gegenüber den seinerzeitigen verbrechenstheoretischen
Konkurrenzangeboten. Ihr Durchbruch basiert auch auf einem gesellschaftlichen
Umfeld, das den Einzelnen als „letztgültige Instanz des Sinnhaften“ begreift und
die überindividuellen Sinngehalte der Gesellschaft sowie ihre Institutionen in den
Hintergrund drängt.14 In den letzten Jahrzehnten hat sich jedoch zunehmend gezeigt,
dass dieser Blick auf die Gesellschaft zu einseitig ist. Die deutsche Gesellschaft hat
sich durch eine Reihe von Ursachen – die von der Wiedervereinigung über die Zu-
wanderung bis hin zu einer Ökonomisierung und Digitalisierung der Lebenswelt rei-
chen – erheblich verändert: Sie ist von anderer Gestalt als jene Gesellschaft, auf
deren Rezeptionsboden die Rechtsgüterschutzlehre entwickelt wurde und ihren
Durchbruch erlebte. In den fünfzig Jahren seit Beginn des Siegeszugs der Rechtsgü-
terschutzlehre und der darauf aufbauenden Dogmatik hat sich aber nicht nur das ge-
sellschaftliche Umfeld des Strafrechts erheblich verändert, sondern auch das Straf-
recht selbst. Beide Tendenzen – die Fragmentierung der Gesellschaft und des Straf-
rechts – sollen im Folgenden beschrieben werden, da sie der Strafrechtswissenschaft
Anlass geben, ihren Blick auf die Gesellschaft und ihre strafrechtstheoretischen
Grundlagen zu revidieren.

12
C. Schmitt, Politische Theologie, 9. Aufl. 2009, S. 50 f.
13
Vgl. Pawlik (Fn. 7), S. 236: „unreflektiertes Vertrauen auf eine Kongruenz zwischen
Gesellschaft und geltendem Recht“.
14
Vgl. zu diesem Blick auf die Gesellschaft Pawlik (Fn. 7), S. 217 f.
532 Michael Kubiciel

III. Von der formierten zur fragmentierten Gesellschaft


Gesetzgebung werde, so Lepsius, „in Deutschland bisweilen mit romantischen
Vorstellungen assoziiert.“ Danach sollen gute Gesetze „beständig, systematisch,
neutral, sachgerecht und bestimmt“ sein.15 Dazu passt die verbreitete Annahme,
dass die Wissenschaft dem Gesetzgeber vorarbeiten müsse, dass sie ihm „große“
Konzeptionen vorzulegen habe, die nicht „auf subjektiv-beliebigen, legislatorisch ir-
relevanten Ansichten“ beruhen, sondern die „Ergebnisse der internationalen Reform-
diskussion konkretisierend ausarbeiten“, wie Roxin um den Jahrtausendwechsel
schrieb.16 Kriminalpolitik wird demzufolge verstanden als die planvolle und in
sich stimmige Gestaltung der strafrechtlichen Sozialkontrolle, die anerkannten kri-
minalpolitischen Grundsätzen folge.17

1. Strafrecht in einer Gesellschaft der Individuen

Diese Art der Gesetzgebung prägte die Große Strafrechtsreform der 1960er und
1970er Jahre. Sie hatte nicht nur erhebliche Konsequenzen für die Ausgestaltung des
StGB. Man kann diese kriminalpolitische Epoche auch als Sattelzeit bezeichnen, da
sich zwischen zwei Gipfelpunkten einer gesellschaftlichen Entwicklung auch das
Strafrecht und dessen Sinndeutung veränderten.18 Auf der einen Seite steht der Ent-
wurf eines Strafgesetzbuches von 1962 (E 62), der wie das Spätwerk einer formierten
Gesellschaft erscheint.19 Die formierte Gesellschaft soll – einer berühmten Rede
Ludwig Erhards zufolge – vom Bewusstsein der schicksalhaften Verbundenheit
aller mit allen getragen und daher gerade nicht von „sozialen Kämpfen und von kul-
turellen Konflikten zerrissen“ werden; stattdessen sollten sich die gesellschaftlichen
Gruppen zu einer „großen Willenseinheit“ formieren.20 Dementsprechend sah man
Mitte der 1960er Jahre die Sozialpolitik als integrierenden Bestandteil einer „groß-
angelegten Infrastrukturpolitik“21. In diesem Programm der sozialen Infrastrukturpo-
litik sollte das Strafrecht Fälle ethisch verwerflichen Verhaltens sanktionieren,22 In-
stitutionen schützen, kurz: „sittenprägende und sittenerhaltende Wirkung“ entfal-
15
Lepsius, JZ 2018, 295.
16
Roxin, in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor
der Jahrtausendwende, 2000, S. 369, 387 f.
17
Kaiser, Kriminologie, 3. Aufl. 1996, § 99 Rn. 11; dazu Putzke, FS Schwind, 2006,
S. 111, 114.
18
Zum Begriff „Sattelzeit“ Koselleck, Einleitung, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.),
Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, 1972, S. XV.
19
Dazu Kubiciel, in: Löhnig/Preisner/Schlemmer (Hrsg.), Reform und Revolte, 2012,
S. 217, 219 ff. S. auch bereits F. C. Schroeder, JZ 1970, 393, 394.
20
So Ludwig Erhard, in: Hohmann (Hrsg.), Ludwig Erhard – Gedanken aus fünf Jahr-
zehnten, 1988, S. 915, 916 f. S. ferner R. Altmann, Abschied vom Staat, 1998, S. 61 ff. (Wie-
derabdruck des 1965 verfassten Textes).
21
Erhard (Fn. 20), S. 917.
22
Entwurf eines Strafgesetzbuchs (StGB) E 1962, BT-Drs. 4/650, S. 376.
Das Strafrecht einer fragmentierten Gesellschaft 533

ten.23 Dementsprechend hielt der Entwurf an der Kriminalisierung des Ehebruchs


und der Homosexualität ebenso fest wie an einer weitgehenden Strafbarkeit des
Schwangerschaftsabbruchs.
Als der Bundestag Ende der 1960er Jahre über die Strafrechtsreform zu entschei-
den hatte, war die Zeit über derart „perfektionierte Ordnungsvorstellungen“24 hin-
weggegangen.25 Eine Gesellschaft, die sich durch weitgehende Homogenität politi-
scher Interessen und soziokultureller Wertüberzeugungen sowie das Fehlen politi-
scher Konflikte auszeichnet, galt nicht mehr als erstrebenswert, sondern als Hemm-
nis des gesellschaftlichen Fortschritts. Stellvertretend für viele begriff Ralf
Dahrendorf kulturelle Konflikte nicht als politisch-gesellschaftlichen Problemfall,
sondern sah in ihnen die Antriebskräfte sozialen Wandels und Manifestationen indi-
vidueller Freiheit.26 Disziplin, Gehorsam, Unterordnung und andere „Plicht- und Ak-
zeptanzwerte“ traten in den Hintergrund, „Selbstentfaltungswerte“ wie Emanzipati-
on und Selbstbestimmung in den Vordergrund.27 Infolgedessen orientierten sich die
Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre entstandenen Alternativ-Entwürfe
zum StGB am Bild eines selbstbestimmten Menschen, dessen Rechtsgüter geschützt
werden sollten; Sittlichkeit und Institutionen galten hingegen nicht mehr oder allen-
falls als nachrangig schutzwürdig.28 Das ist konsequent: Für eine „Gesellschaft der
Individuen“29 bildet die Gewährleistung individueller Sicherheit bei gleichzeitig
größtmöglichem Freiraum für individuelle Selbstentfaltung auch den Ideenhorizont
der Strafgesetzgebung. Ist die Gesellschaft der Ort, an dem Individuen bei der Ver-
folgung eigener Zwecke interagieren, eint die Einzelnen der Wunsch nach größtmög-
licher Freiheit zur Selbstentfaltung. Mehr Gemeinsamkeit als der Wunsch, von dieser
Freiheit möglichst interferenzfrei Gebrauch machen zu können, verbindet die Indi-
viduen nicht. Strafe darf dann nur eine „Störung der äußeren Friedensordnung –
deren gewährleistende Elemente als Rechtsgüter bezeichnet werden – (…) nach
sich ziehen“.30 Dementsprechend kann sich auch der Staat nicht mehr als „Bewahrer
dichter, ethisch aufgeladener Orientierungsmuster“ verstehen, in denen sich die Ge-
meinschaft seiner Bürger wiederfinden soll.31
Ihren dogmatischen Ausdruck findet dieser Blick auf die Gesellschaft in der von
Roxin systematisch ausgearbeiteten Rechtsgüterlehre. Dieser zufolge soll das Straf-
23
Entwurf 1962 (Fn. 23), S. 348.
24
Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, 2000, S. 386.
25
Treffend Wolfrum, Die geglückte Demokratie, 2007, S. 219: „Dem Geist der Zeit, der
unruhiger wurde, stand ein solcher Antipluralismus diametral entgegen.“
26
Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, 1965, S. 173 f. Instruktiv
dazu Wolfrum (Fn. 25), S. 241 ff. Biographisch Meifort, Ralf Dahrendorf, 2017, S. 118 ff.
27
Treffend Wolfrum (Fn. 25), S. 254.
28
Kubiciel (Fn. 19), S. 221 ff.; Greco, JZ 2016, 1125, 1126.
29
Nolte (Fn. 24), S. 406.
30
So Roxin, ZStW 81 (1969), 613, 622, der darüber hinaus darauf hinweist, dass Moral und
Sittlichkeit keine Bedeutung für Sicherheit und Bestand der Gesellschaft hätten (624).
31
Vgl. Nettesheim, Liberaler Verfassungsstaat und gutes Leben, 2017, S. 20.
534 Michael Kubiciel

recht Rechtsgüter schützen, die der freien Entfaltung des Einzelnen, der Verwirkli-
chung seiner Grundrechte und dem Funktionieren eines daran orientierten Staates
dienen.32 Zu dieser kriminalpolitisch-straftheoretischen Aufgabenbeschreibung
passt eine Verbrechenslehre, die auf das vollendete vorsätzliche Erfolgsdelikt abhebt,
sowie eine Zurechnungslehre, die maßgeblich auf die Erhöhung eines Risikos für ein
Rechtsgut sowie dessen Realisierung in Gestalt einer Rechtsgutsverletzung abstellt.
Dieser verbrechenstheoretische Ansatz überwindet zwar den auf den Täter und des-
sen Handlung fokussierten Finalismus.33 Jedoch tauscht er nur einen einseitigen
Blickwinkel gegen einen anderen, ebenso einseitigen, aus: An die Stelle der Täter-
perspektive tritt jene des (potenziellen) Opfers, d. h. eine Konzentration auf dessen
Rechtsgüter, die vor Schädigungen bzw. einer rechtlich missbilligten Gefährdung be-
wahrt werden sollen. Insofern geht die Überwindung des Finalismus nicht mit einer
„Wiederentdeckung von Gesellschaft und Politik“34 einher.
Die Verfasser des Alternativ-Entwurfes betonten zwar die Mitverantwortung der
Gesellschaft. Damit ist aber weder die gesellschaftliche Präformierung der Zurech-
nung noch der Einfluss gesellschaftlicher Moralvorstellungen auf Kriminalisie-
rungsentscheidungen gemeint, sondern eine (unklare) „Mitschuld“ der Gesellschaft
für das „Schicksal“ des Einzelnen, das diesen zum Straftäter gemacht habe.35 Daher
müsse der Staat Verantwortung für den Straftäter übernehmen, indem er ihm im
Strafvollzug Hilfe zur Besserung anbietet. Indes verfolgen solche „Hilfsangebote“
keinen humanistisch-altruistischen Zweck, sondern sollen die Gesellschaft – diese
verstanden als Ensemble von Rechtsgutsträgern – vor künftigen Gefährdungen
schützen.

2. Das Strafrecht der Risikogesellschaft

Als Mitte der 1980er Jahre die gesellschaftliche Sensibilität für sogenannte
„Großrisiken mit Katastrophenpotenzial“ wuchs, veränderte sich mit dem Sicher-
heitsbewusstsein der Bürger auch der Blick auf das Strafrecht. Zum einen erkannte
man, dass eine Störung der äußeren Friedensordnung schon in der Schaffung (ab-
strakter) Gefahren gesehen werden muss, wenn man die Rechtsgüter der Einzelnen
vor Handlungen schützen will, deren Risiken und Folgen sich nur schwer beherr-
schen bzw. kalkulieren lassen. Zum anderen zeigte sich, dass der Schutz vor Eingrif-
fen in personale Rechtsgüter noch keine hinreichende Bedingung für eine freie Ent-
faltung des Einzelnen darstellt. Dieser benötigt neben einem Bestand an personalen
Gütern auch eine intakte natürliche, gesellschaftliche und staatliche Umwelt, d. h.
neben natürlichen Ressourcen auch Institutionen wie den Wettbewerbsmarkt als
Ort des Austausches von Waren und Dienstleistungen oder ein funktionierendes Kre-
32
Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 3 Rn. 7.
33
Roxin, GS Armin Kaufmann, 1989, S. 237 ff.
34
Pawlik (Fn. 7), S. 240.
35
Vgl. dazu und zum Folgenden Roxin, ZStW 81 (1969), 613, 647 f.
Das Strafrecht einer fragmentierten Gesellschaft 535

dit- und Versicherungswesen und dergleichen mehr. Infolgedessen überführte der


Gesetzgeber vorhandene Straftatbestände zum Schutz der Umwelt in das StGB
und schuf neue. Zudem führte er Straftatbestände ein, die Verhaltensweisen im Vor-
feld von Betrug oder Untreue kriminalisieren, um Gefahren für den Bestand des Kre-
dit- oder Versicherungswesens und anderer Institutionen entgegenzutreten.36 Pritt-
witz fasste diese gesellschaftlichen und kriminalpolitischen Tendenzen unter dem
Stichwort „Strafrecht der Risikogesellschaft“ zusammen.37 Dieses schütze „mehr
und andere Rechtsgüter und das früher, also schon im Vorfeld einer Verletzung.“38
Damit versuche der Gesetzgeber, sowohl werterhaltend als auch wertprogressiv zu
wirken. Zum einen stabilisiere er gesellschaftliche Erwartungen;39 zum anderen ver-
suche er mit einem wertprogressiven Recht, den Ursachen der sozialen Verunsiche-
rung zu begegnen40 und im Bereich des Umwelt- und Wirtschaftsrechts sittenbildend
zu wirken.41 Diese auf positive Generalprävention zielenden Tatbestände seien der
„Antwortversuch“ des Gesetzgebers auf die Verunsicherungen der Risikogesell-
schaft, lautet Prittwitz’ vielfach geteilte These.

3. Funktional differenzierte und fragmentierte Gesellschaft

So unterschiedlich die eben skizzierten kriminalpolitischen Konzeptionen und die


ihnen zugrunde liegenden Gesellschaftsmodelle auch sind; sie gehen alle von einem
konzeptionell einheitlichen Orientierungspunkt aus: der ideologisch und politisch
homogenen Gesellschaft, dem vornehmlich an individueller Autonomie interessier-
ten Einzelnen bzw. der nach Sicherheit verlangenden Gesellschaft. Derart konzen-
trierte, um nicht zu sagen: reduzierte Gesellschaftsmodelle haben den Vorteil,
dass sie die Gegenstandsbereiche der Kriminalpolitik vergleichsweise klar hervortre-
ten lassen. Eine formierte Gesellschaft muss Angriffen auf ihre Sitten und Institutio-
nen begegnen, ein am Einzelnen maßnehmendes Strafrecht personale Rechtsgüter
schützen und das Strafrecht der Risikogesellschaft Sicherheit vermitteln. Auf dieser
Grundlage kann die Wissenschaft dem Gesetzgeber vergleichsweise klare Vorgaben
machen und verfügt über konturenscharfe Prüfsteine, die sie an die Arbeit des Ge-
setzgebers anlegen kann.
Indes weisen all diese Konzeptionen blinde Flecken auf. Sie sind eng geführt und
können jene Teile der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht erfassen, die neben ihren
Orientierungsmustern liegen. Bis zu einem gewissen Grad ist dies zwar die Folge
jedes systematischen Argumentierens. Je größer aber der nicht erfasste Teil der ge-

36
Zu deren Legitimation Kubiciel, in: Jahn et al. (Hrsg.), Strafverfolgung in Wirtschafts-
strafsachen, 2015, S. 158 ff.
37
Prittwitz, Strafrecht und Risiko, 1993, S. 56 ff., 160 ff. (Zitat auf S. 61).
38
Prittwitz (Fn. 37), S. 245.
39
Prittwitz (Fn. 37), S. 234.
40
Prittwitz (Fn. 37), S. 265.
41
Prittwitz (Fn. 37), S. 263.
536 Michael Kubiciel

sellschaftlichen Wirklichkeit ist, desto mehr schwindet die Überzeugungskraft kri-


minalpolitischer Positionen und der ihnen zugrundeliegenden Maximen. Das zeigt
sich exemplarisch im Lehrbuch Roxins. Dieses verweist auf nicht weniger als
neun Straftatbestände bzw. Tatbestandstypen, die sich nicht mit dem konzeptionellen
Ausgangspunkt des Lehrbuchs – dem an der Freiheit des Einzelnen maßnehmenden
Rechtsgutsdogma – vereinbaren lassen und von denen Roxin sodann einige (Tierquä-
lerei) als zulässig anerkennt, während er andere (etwa das Verbot, den Holocaust zu
leugnen) ablehnt.42 Inzwischen stellt sich bei ganzen Deliktsfeldern die Frage, ob
diese einen gemeinsamen materiellen Unrechtskern aufweisen und ob die auf den
Rechtsgutsbegriff bezogene, an einfach gelagerten Erfolgsdelikten entwickelte
und um die Erfolgszurechnung kreisende Dogmatik jene Auslegungsfragen bewäl-
tigen kann, die Tatbestände des Wirtschafts-, Medizin- und Nebenstrafrechts aufwer-
fen. Das Strafrecht hat offenbar eine Komplexität erreicht, die tradierte kriminalpo-
litische Begriffe und Kernbestandteile der gängigen Dogmatik nicht mehr oder kaum
noch bewältigen können.
Die Komplexitätssteigerung des Strafrechts hat ihre Hauptursache in gesellschaft-
lichen Veränderungen, die sich in den letzten Jahren beschleunigt haben. Dazu zählt
zunächst die rasche Veränderung von Lebens- und Wirtschaftsbereichen wie bei-
spielsweise die Ökonomisierung des Gesundheitsmarktes und des Sports oder die Di-
gitalisierung des Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Meinungsmarktes. Schutz
und rechtliche Steuerung dieser veränderten Lebens- und Wirtschaftsbereiche über-
nehmen Rechtsnormen, die besonderen Bereichslogiken folgen und deren Ausle-
gung daher nur noch lose mit den im Kern(straf)recht entwickelten Theorienangebo-
ten verbunden ist.43 Zudem ist aus einer individualisierten Gesellschaft eine fragmen-
tierte geworden. Denn der oben beschriebene Zugewinn an Freiheit auf der Seite des
Einzelnen hat dazu geführt, dass die Möglichkeit des Staates abnimmt, die einzelnen
Formen der Selbstentfaltung und die ihnen zugrundeliegenden Maximen miteinan-
der zu „versöhnen“.44 An die Stelle dessen, was Hegel als Einheit von subjektivem
und objektivem Willen verstanden und als Sittlichkeit bezeichnet hat, ist in der heu-
tigen Gesellschaft eine Vielzahl von „Lebensstilen“ getreten.45 Indes gerät eine Ge-
sellschaft, die sich auf das Besondere konzentriert, in eine Krise des Allgemeinen.46
Verschärft wird diese Krise dadurch, dass sich neue Formen des Sozialen in unserer

42
Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 3 Rn. 43 ff. Siehe dazu Ku-
biciel, Die Wissenschaft vom Besonderen Teil des Strafrechts, 2013, S. 74 f.
43
Vgl. Paulus, ZaöRV 67 (2007), 695, 707, der meint, dass jedes neue Teilsystem sein
Recht neu erfinden müsse und nicht ohne weiteres auf die Lösungspotenziale und Theorie-
angebote anderer Teilsysteme zurückgreifen könne.
44
Dazu Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 2011, S. 332, 338.
45
Nolte, Die Ordnung der Gesellschaft, S. 406; Reckwitz, Die Gesellschaft der Singulari-
täten, 2017, S. 9, 433. S. auch Vesting, AöR 122 (1997), 337, 352: „Buntes Patchwork unter-
schiedlichster Lebensformen“ jenseits von Stand, Klasse und Schicht.
46
Reckwitz (Fn. 45), S. 434. Vgl. auch Di Fabio, Schwankender Westen, 2015, S. 58, der
meint, moderne Gesellschaften seien kaum mehr in der Lage, das „Ganze“ zu sehen.
Das Strafrecht einer fragmentierten Gesellschaft 537

Gesellschaft etabliert haben, die den Einzelnen besondere nationale, religiöse, ideo-
logische oder kulturelle Identifikationsangebote unterbreiten.47 Nicht wenige dieser
Gruppen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich auf Grundlage einer Ideologie, po-
litischer Überzeugungen, partikularer Interessen oder schlicht eines Lebensstils nach
außen abschließen.48 Die diskursive Ausmittlung eines Kompromisses zwischen sol-
chen Gruppen bzw. zwischen diesen und anderen Teilen der Gesellschaft ist dann nur
noch schwer möglich. Dies trifft, nicht nur, aber vor allem auf sog. „Ad-hoc-Öffent-
lichkeiten“49 zu, die sich themenspezifisch innerhalb und außerhalb von sozialen
Netzwerken bilden.
Diese Gruppen wirken auf die Politik nicht nur als „Dynamisierungsfaktor“50, da
sie schnell, laut und medienwirksam Druck auf politische Entscheidungsträger aus-
üben können. Die Fragmentierung verändert auch ganz grundsätzlich die Bedingun-
gen, unter denen Politik operiert und der Gesetzgeber Lösungen erarbeitet.

IV. Kriminalpolitik in einer fragmentierten Gesellschaft


1. Nebeneinander von systematischer und situativer Gesetzgebung

Mit Blick auf die Kriminalpolitik stellt sich daher die Frage, ob der Gesetzgeber
weiterhin der Erwartung gerecht werden kann, dass seine Gesetze in Form und Inhalt
rational und vernünftig sind.51 Verschwunden ist die rationale, systematisch-konzep-
tionelle und wissenschaftlich beratene Strafgesetzgebung jedenfalls noch nicht.52 Als
Beispiele können die Reform des Korruptionsstrafrechts sowie die Neuordnung des
Rechts der Vermögenabschöpfung gelten, denen man – bei aller Kritik an einzelnen
Aspekten – zugestehen muss, dass sie im Wege intensiver Beratungen mit Vertretern
von Wissenschaft und Praxis versuchen, praktische Ziele mit den Vorgaben des in-
ternationalen und europäischen Rechts zu verbinden. Für die laufende Legislaturpe-
riode hat sich die Große Koalition ausdrücklich einer rationalen und evidenzbasier-
ten Kriminalpolitik verschrieben.53 Die Reform des Unternehmenssanktionenrechts

47
Kersten, Schwarmdemokratie, 2017, S. 129; Reckwitz (Fn. 45), S. 10, 394 f.
48
Di Fabio (Fn. 46), S. 22 f.
49
Ingold, Der Staat 56 (2017), 491, 524.
50
Kersten (Fn. 47), S. 28 f.
51
An dieser Forderung festhaltend Di Fabio (Fn. 46), S. 170. Siehe hingegen Fischer-
Lescano/Teubner, in: Albter/Stichweh (Hrsg.), Weltstaat und Weltstaatlichkeit, 2007, S. 37,
60 f., die eine Rechtsfragmentierung als notwendige Folge einer Fragmentierung der Gesell-
schaft erachten.
52
Zur Kritik an der Kriminalpolitik der letzten großen Koalition Kubiciel, JZ 2018, 171 ff.
53
Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zu-
sammenhalt für unser Land, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 19. Legisla-
turperiode, 2018, Rz. 6289 – 6298.
538 Michael Kubiciel

scheint ein Beispiel für eine systematische Gesetzgebung klassischen Stils zu wer-
den.
Häufiger anzutreffen ist jedoch eine unsystematisch-sprunghafte Rechtspolitik,
die – nicht selten aus Anlass aktueller Fälle – zu kleinräumigen Änderungen des
Strafrechts führt.54 So wurde in Folge der „Böhmermann“-Affäre der Tatbestand
„Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten“ kurzerhand gestri-
chen, obgleich sich für ihn außerhalb eines satirischen Kontextes berechtigte Anwen-
dungsfälle finden ließen und der artverwandte Tatbestand der Verunglimpfung des
Bundespräsidenten erhalten blieb.55 Gegenteilige Folgen hatte die sog. Kölner Sil-
vesternacht 2015/2016, war sie doch ausschlaggebend dafür, dass die ohnehin ge-
plante Reform des Sexualstrafrechts in kürzester Zeit abgeschlossen wurde, noch
bevor die zur Vorbereitung der Reform eingesetzte Expertenkommission ihre Ergeb-
nisse vorlegen konnte. Die Gesetzgebung im Schnellverfahren bescherte dem Straf-
gesetzbuch unter anderem den Tatbestand der „Straftaten aus Gruppen“ (§ 181j
StGB), dessen Wortlaut und Unrechtsgehalt – vorsichtig formuliert – schillern. Ak-
tuelle Beispiele für eine am Einzelfall orientierte Rechtspolitik sind die Forderungen,
den Diebstahl von in Abfallbehältern entsorgten, aber noch nicht derelinquierten Le-
bensmitteln (sog. Containern) zu entkriminalisieren56 bzw. das sog. Upskirting mit-
tels eines weiteren Spezialtatbestandes (§ 184k StGB, Bildaufnahme des Intimbe-
reichs) unter Strafe zu stellen,57 anstatt die Lösung in einer umfassenden Reform
der Tatbestände des 15. Abschnitts des StGB zu suchen.
Ein wesentlicher Grund für diese Tendenz zur Einzelfallgesetzgebung dürfte sein,
dass sich für kleinräumige Lösungen mehr Aufmerksamkeit bei potenziellen Wäh-
lern generieren und auch leichter parlamentarische Mehrheiten organisieren lassen
als für größere (und damit auch rechtstechnisch kompliziertere) Reformvorhaben.58
So kommt es, dass die Legalordnung des Strafrechts zunehmend zerfasert, weil Tat-
bestände wie § 103 StGB aus dem StGB herausgebrochen oder neue einzelfallbezo-
gene bzw. sektorspezifische Tatbestände wie die §§ 263c, 263d, 299a, 299b, 315d
StGB hinzugefügt werden. Dennoch lassen sich für die Tendenz zur Kurzatmigkeit
und Kleinräumigkeit in der Strafrechtspolitik nicht (allein) der Gesetzgeber bzw. die
politischen Parteien verantwortlich machen.59 Vielmehr spiegelt sich in der Zerfase-
rung des Strafrechts auch der Zustand der fragmentierten Gesellschaft. In einer sol-
54
Kritisch dazu schon Kubiciel, ZStW 131 (2019) Heft 4; Putzke, FS Schwind, S. 111,
117.
55
Treffend Scheerer, KJ 2019, 131: „zufallsgenerierte“ Entkriminalisierung.
56
Hierbei ist jedoch im Unklaren geblieben, wie das geschehen sollte. Der Hamburger
Justizsenator Till Steffen deutete an, entweder den „Eigentumsbegriff im Bürgerlichen Ge-
setzbuch oder die Straftatbestände“ mit Blick auf dieses Phänomen ändern zu wollen. Für eine
kritische Analyse s. Lorenz, jurisPR-StrafR 10/2019 Anm. 1.
57
BR-Drs. 443/19; dazu Berghäuser, ZIS 2019, 463 ff.
58
Kritisch zum „Medien- und Twitterpopulismus der Berufspolitiker“ Walter, JZ 2019,
649, 651.
59
Zutreffend Silva-Sanchez, Die Expansion des Strafrechts, 2003, S. 3, 10, 13.
Das Strafrecht einer fragmentierten Gesellschaft 539

chen Gesellschaft ist es umso schwerer, einen Interessenausgleich und Kompromiss


auszuhandeln, je kleiner der normative Kern ist, um den sich die Gesellschaft ver-
sammeln kann.60 Dementsprechend kompromisslos sind die an den Gesetzgeber ge-
richteten Forderungen, dementsprechend konfrontativ stehen sich zunehmend die
Parteien bzw. Flügel der Parteien gegenüber. Auf die Öffentlichkeit erregende
Fälle oder Gerichtsentscheidungen kann die Politik fast gar nicht mehr mit einer
planvollen und in sich stimmigen Gesetzgebung reagieren. Ad-hoc-Gesetze mit
kleinräumigen Lösungen sind die Folge.

2. Strafrechtspolitik zur Stabilisierung von Institutionen

Manche dieser Tatbestände lassen ein weiteres Element der Kriminalpolitik einer
fragmentierten Gesellschaft aufscheinen: die wachsende Bedeutung des Schutzes
von Institutionen. So sichert der Strafgesetzgeber mit den Vorschriften gegen Do-
ping, Sportwettbetrug und der Manipulation berufssportlicher Wettbewerbe eine
der wenigen Institutionen, die sich einer großen gesamtgesellschaftlichen Anerken-
nung erfreut und daher eine gesellschaftsintegrierende Aufgabe hat: den organisier-
ten Sport. Der Gesetzgeber versucht also – zumindest symbolisch und unter Inkauf-
nahme von Widersprüchen61 – eine der letzten weithin anerkannten Institutionen zu
schützen, die für die Integration der Gesellschaft und die Vermittlung von Werten von
besonderer Bedeutung ist. Mit der Schaffung der Tatbestände gegen tätliche Angriffe
auf Vollstreckungsbeamte und vergleichbare Personengruppen reagiert der Gesetz-
geber nicht nur auf eine gestiegene Gewaltbereitschaft. Man kann darin auch einen
Impuls sehen, der sich gegen jene anti-institutionellen Affekte richtet, die eine frag-
mentierte Gesellschaft kennzeichnen. Da der Staat die Anerkennung von tradierten
Institutionen immer weniger als selbstverständlich voraussetzen kann, ist der Schutz
der Angehörigen dieser Institution nicht nur faktisch wichtig, sondern verdeutlicht in
symbolisch-rechtskommunikativer Weise den Wert solcher Institutionen, vor allem
gegenüber den Angehörigen dieser Institutionen selbst. Das Strafrecht ist folglich ein
Mittel, das – über seine generellen generalpräventiven Funktionen hinaus – Institu-
tionen die notwendige gesellschaftliche Anerkennung nach außen und innen vermit-
teln soll.62

3. Strafrechtspolitik und Sittlichkeit

Ein weiteres Kennzeichen der Kriminalpolitik der fragmentierten Gesellschaft ist


die Tendenz zur Stabilisierung tradierter oder neu entstandener Sittlichkeitsvorstel-

60
Vgl. Di Fabio (Fn. 46), S. 49.
61
Zu Widersprüchen durch die Kriminalisierung des Dopings Merkel, in: Kubiciel/Hoven
(Hrsg.), Korruption im Sport, 2018, S. 109 ff.
62
Gärditz, FS Fischer, 2018, S. 963, 976; Scheerer, KJ 2019, 131, 133: Strafgesetzgebung
mit „Überhang“ an symbolisch-expressiver Bedeutung.
540 Michael Kubiciel

lungen. In dieser „Remoralisierung“ der Kriminalpolitik wird der Versuch gesehen,


unter den Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft Konformität zu fördern63
und die schwindende integrative Kraft der Sozialmoral funktional durch Normen
des Strafrechts zu ersetzen.64 Plausibler scheint indes die Annahme, dass die Krimi-
nalisierung „bloß anstößigen“ Verhaltens keine Reaktion auf die Erosion der Sozi-
almoral ist, sondern im Gegenteil die gestiegene Bedeutung von Werten und Moral-
vorstellungen in einer re-politisierten und re-ideologisierten Gesellschaft ist, deren
Mitglieder sich ihrer (kulturellen, religiösen, ethnischen) Identitäten wieder stärker
bewusst sind. Das Strafrecht soll hier also nicht – in der Art eines „Kulturhebels“65 –
die abschüssige gesellschaftliche Entwicklung ausgleichen, sondern verdeutlicht
vielmehr die gestiegene Bedeutung der Sozialmoral. Dementsprechend lässt sich
auch die Ausweitung des Wirtschafts- und Korruptionsstrafrechts nicht (nur) als Ant-
wort auf einen angeblich fortschreitenden Sittenverfall im Wirtschaftsleben deuten.
In ihr spiegeln sich (auch) die gewachsenen wirtschaftsethischen Anforderungen an
Manager und Unternehmen, die nicht nur als rationale Nutzenmaximierer agieren
sollen, sondern auch als good (corporate) citizen.66 Zu dieser Moralisierung des Wirt-
schaftsstrafrechts passt es, dass die Kriminalisierung transnationaler Korruption
(§ 335a StGB) mit dem Ziel gerechtfertigt wird, unsere (westlichen) Vorstellungen
von good governance in den Ländern des Globalen Südens durchzusetzen.67 Da dies
weder faktisch möglich ist noch zu dem begrenzten Geltungsbereich des deutschen
Strafrechts passt, ist dieser Schritt des Gesetzgebers vor allem als eine auf das Inland
zielende symbolische Affirmation von Normen und Werten zu deuten.68
Die Bedeutung von Wirtschaftsethik, Sexual- und Sozialmoral für die Kriminal-
politik wird mit dem Veränderungsdruck, der auf die Gesellschaft einwirkt, weiter
zunehmen. Globalisierung, Migration, steigender Wettbewerbsdruck und andere
Entwicklungen werden von vielen als Bedrohung erlebt. Auf ein solches Gefühl
der Bedrohung reagiert eine Gesellschaft typischerweise damit, dass sie sich
enger zusammenschließt und sich gleichsam um geteilte Werte und Normen versam-
melt.69 Gerade in einer fragmentierten Gesellschaft wächst damit der von Gruppen
auf den Gesetzgeber ausgeübte Druck, die Bedeutung der ihnen wichtigen Werte
und Normen symbolisch und faktisch anzuerkennen. Das der Normstabilisierung
dienende Strafrecht eignet sich dazu in besonderer Weise. Von vornherein unzulässig

63
Weigend, FS Frisch, 2013, S. 25.
64
Kindhäuser ZStW 129 (2017), 382, 385; Zabel ZRP 2016, 202, 204.
65
von Liszt ZStW 38 (1917), 1, 3; s. dazu Kubiciel JZ 2015, 64, 68.
66
Vgl. dazu Kubiciel ZStW 129 (2017), 473, 491.
67
Maas, NStZ 2015, 305, 307; in diese Richtung auch Pieth, FS Fuchs, 2014, S. 367, 375;
Hoven, Auslandsbestechung, 2018, S. 532.
68
Kubiciel, in: Hoven/ders. (Hrsg.), Das Verbot der Auslandsbestechung, 2016, S, 45 ff.
69
Durkheim, Über die Teilung der sozialen Arbeit, 1977, S. 144 f.; vgl. ferner Canetti,
Masse und Macht, S. 23 ff.
Das Strafrecht einer fragmentierten Gesellschaft 541

ist der (straf-)rechtliche Schutz ethisch imprägnierter Normen jedenfalls nicht.70


Auch in einem liberalen Staat müssen Rechtsnormen nicht ethisch neutral sein.71
Sie können auch Konzeptionen des Guten schützen, die eine Mehrheit der Gesell-
schaft für schützenswert erachtet und die daher einen Beitrag zur Integration der Ge-
sellschaft leisten.72 In einer fragmentierten Gesellschaft werden sich einzelne Kon-
zeptionen des Guten und die sie schützenden Tatbestände aber nur noch schwer auf
einen einheitlichen Begriff bringen lassen.

V. Strafrechtstheorie einer fragmentierten Gesellschaft


Wagt man einen Ausblick auf die kommenden Jahre, dürfte sich die Kriminalpo-
litik durch ein Nebeneinander von systematisch angeleiteter und einzelfallorientier-
ter Gesetzgebung auszeichnen. Straftatbestände werden auch weiterhin subjektive
Rechte garantieren, zunehmend aber auch gesellschaftliche Institutionen und
ethisch-kulturell imprägnierte Konzeptionen des Guten stabilisieren. Verstärken
wird sich auch die Aufgliederung des Strafrechts in Teildisziplinen (Staatsschutz-,
Wirtschafts-, Medizin-, Unternehmensstrafrecht), in denen sich eine eigene Dogma-
tik entwickelt, die mit der tradierten Dogmatik des Allgemeinen Teils nicht mehr de-
ckungsgleich ist. All dies führt zu einer Fragmentierung und De-Systematisierung
des Strafrechts. Vorbei scheinen die Zeiten großer Systementwürfe und Meisterer-
zählungen von „dem“ Strafrecht.
Die Wissenschaft wird lernen müssen, mit Fragmenten zu arbeiten. Dabei dürfte
auch dem Satz Merkels größere Bedeutung zukommen, dem zufolge die symbolische
Wiederherstellung der verletzten Normgeltung Aufgabe und Bedeutung des Straf-
rechts ist.73 Dieser Satz eint Vertreter moderner Vergeltungstheorien74 und Anhänger
einer normorientierten-expressiven Variante der positiven Generalprävention.75 Da
er die Straflegitimation von materiell-inhaltlichen Vorgaben (Rechtsgüterschutz)
löst und an den jeweiligen Bestand an Rechtsnormen knüpft,76 weist er eine beson-
dere Nähe zur demokratischen Gesetzgebung auf.77 Offen für Norminhalte jedweder

70
Jakobs, Rechtsgüterschutz? Zur Legitimation des Strafrechts, 2012, S. 28 ff.; Nettesheim
(Fn. 31), S. 64, 87 ff.; Kubiciel/Weigend, KriPoZ 2019, 35, 36 f.; Pawlik, Festschrift für Urs
Kindhäuser, 2019, S. 351, 362 f. Zurückhaltender Hörnle, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.),
Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, 2008, S. 315 ff. A. A. Scheerer, KJ
2019, 131, 140.
71
Nettesheim (Fn. 31), S. 87 ff.
72
Nettesheim (Fn. 31), S. 64.
73
Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2. Aufl. 2014, S. 126. Im Anschluss an
Jakobs, Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, 2004, S. 26 ff.
74
Pawlik, Normbestätigung und Identitätsbalance, 2017, S. 51 ff.
75
Zur letztgenannten Theorie Hörnle, Straftheorien, 2. Aufl. 2017, S. 32 ff.
76
Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, Rn. 18; Wohlers, GA 2019, 425, 440.
77
Gärditz, Der Staat 49 (2010), 331, 357.
542 Michael Kubiciel

Art sind die positive Generalprävention und moderne Vergeltungstheorien dennoch


nicht. Denn im Unterschied zur negativen Generalprävention adressieren sie nicht
potentiell tatgeneigte Personen und versuchen auch nicht, deren Verhalten mit der
„hydraulischen Wirkung“ der Strafandrohung zu lenken. Sie sehen die Aufgabe
der Strafe vielmehr darin, das Recht sowie das Vertrauen rechtstreuer Personen in
die Geltung der Normen zu bestätigen. Da der Staat zur Steuerung gesellschaftlicher
Prozesse qua Befehl und Gehorsam nur begrenzt legitimiert und befähigt ist,78 kön-
nen in der Regel nur solche Normen strafrechtlich garantiert werden, die in einer kon-
kreten Gesellschaft tatsächlich Orientierung bieten, weil sie sozial wirksam sind.79
Letzteres setzt voraus, dass die an die Allgemeinheit der Bürger gerichteten Normen
sich nicht zu weit vom Inhalt gesellschaftlich wirksamer, außerstrafrechtlicher Ori-
entierungsnormen und den hinter diesen stehenden Wertüberzeugungen entfernen.
Nur wenn dem so ist, lässt sich die Strafe auch als ein kommunikativer Akt deuten,
der den Adressaten nicht etwas Fremdes aufzwingt, sondern der auf die Verletzung
des Rechts mit einer symbolischen Wiederherstellung des Rechts dieser Gesellschaft
antwortet. In einer fragmentierten Gesellschaft muss der Gesetzgeber daher beson-
ders gründlich prüfen, ob die Werte und Normen, die er strafrechtlich schützen will,
noch eine hinreichende soziale Verankerung haben. Ist dies nicht (mehr) der Fall,
sollte er von ihrer strafrechtlichen Erzwingung absehen. Umgekehrt kann er aber
auch gestiegene Wertsensibilitäten und neue soziale Normen in bestehende oder
neu geschaffene Straftatbestände integrieren.
Für die Strafrechtswissenschaft bedeutet das zweierlei. Wenn der Bezugspunkt
einer für diese Gesellschaft aussagekräftigen Straftheorie nicht mehr ein materielles
Unrecht (Rechtsgutsverletzung) ist, sondern der Widerspruch zu einer Norm, muss
wieder jener Aspekt in den Vordergrund der Dogmatik rücken, den die Strafrechts-
wissenschaft über Jahrzehnte in die Hinterzimmer der Verbrechenslehre verbannt
hat: die Verletzung einer Norm bzw. die Pflichtwidrigkeit. Wichtiger als die Lehre
von der objektiven Erfolgszurechnung werden dann die Kategorien der Zuständig-
keitsbegründung, d. h. die Voraussetzungen, unter denen eine Person strafrechtlich
überhaupt in die Pflicht genommen werden kann.80 Soweit die Strafrechtswissen-
schaft kriminalpolitisch arbeitet, muss sie versuchen, der Gesellschaft ihre Normen
abzulauschen – auch mit den Methoden empirischer Sozialforschung.81 Anstatt den
Gesetzgeber auf naturrechtliche Gerechtigkeitskonzeptionen zu verpflichten, sollte
sie Gesetzgebungsvorschläge auf die Vereinbarkeit mit den vorherrschenden sozia-
len Wertüberzeugungen überprüfen. Eine solche Prüfung könnte beispielsweise zei-
gen, dass der Schutz des institutionalisierten Sports gegen Doping und Korruption
78
Treffend Scheerer, KJ 2019, 131, 143.
79
Gärditz, Der Staat 49 (2010), 331, 358; Kubiciel, ZStW 120 (2008), 429, 442 f.
80
Grundlegende systematische Ausarbeitung dieser Verbrechenslehre von Pawlik, Das
Unrecht des Bürgers, 2012.
81
Vgl. auch die Forderung nach einer stärkeren Einbeziehung der Gerechtigkeitsvorstel-
lungen der Gesellschaft bei Walter, JZ 2019, 649, 654 (indes im Theorierahmen einer sozio-
logischen Vergeltungstheorie).
Das Strafrecht einer fragmentierten Gesellschaft 543

gesellschaftlich akzeptiert wird,82 während das ausnahmslose Verbot der geschäfts-


mäßigen Suizidförderung dem differenzierten Blick der Mehrheit auf die Sterbehilfe
zuwiderläuft.83
In dem Maße aber, in dem die Gesellschaft in Fragmente zerfällt und gemeinsame
Wertüberzeugungen schwinden, wird es der Strafrechtswissenschaft schwerfallen,
den Strafgesetzgeber mit eindeutigen Befunden zu versorgen bzw. zu konfrontieren.
In diesen Situationen kann sie sich nicht den Forderungen einzelner Gruppen an-
schließen, ohne vom Bezugsrahmen der Wissenschaft in den der Politik zu wechseln.
Als Wissenschaft muss sie entweder die Entscheidung des demokratischen Gesetz-
gebers abwarten oder nach Kompromisslinien suchen. Die Minimalaufgabe einer
Strafrechtswissenschaft besteht jedenfalls darin, vor scheinbar einfachen und glatten
Lösungen zu warnen. Ein simples und systematisch-stringentes Strafrecht kann es in
einer komplexen Gesellschaft nicht geben.

82
Vgl. die repräsentative Umfrage von YouGov zum Doping vom 31. 1. 2017, abrufbar
unter: https://yougov.de/news/2017/01/31/doping-legalisieren-deutsche-sind-entschieden-gege/.
83
Vgl. etwa Nationaler Ethikrat, Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende, 2006,
S. 19 ff. – Zudem widerspricht das ausnahmslose Verbot der geschäftsmäßigen Suizidförde-
rung den vom Recht anerkannten Fällen, in denen straffrei täterschaftliche Sterbehilfe geleistet
werden kann, vgl. dazu Kubiciel, NJW 2019, 3033, 3035 f.
Zur Demokratisierung des Strafrechts
Von Tonio Walter

I. Reinhard Merkel, Karl Kraus und Franz von Liszt


Reinhard Merkel ist meines Wissens bislang der einzige, dem es gelungen ist, dass
gleich zwei seiner Werke zu „juristischen Büchern des Jahres“ erkoren wurden, und
dies mit bester Berechtigung: seine Dissertation über Strafrecht und Satire im Werk
von Karl Kraus im Jahre 1995 (erschienen 1994) und, dreizehn Jahre später, seine
Monografie Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechtsphilosophische
Untersuchung. Diese an scharfen Gedanken und schlagenden Argumenten reiche,
wie stets klar und kurzweilig geschriebene Untersuchung hat jeder gelesen und
muss jeder gelesen haben, der sich mit dem Problem der Entscheidungsfreiheit
des Menschen befasst, so auch ich. Aber Reinhard Merkels Dissertation hatte ich
bis vor kurzem nur aus der Ferne bewundert und im Geiste in die Reihe jener Bücher
gestellt, die ich zwar unbedingt lesen würde, aber zu gegebener Zeit – irgendwann
einmal.
Dann wurde ich Zeuge, wie ein älterer, bereits emeritierter Kollege in kleinem
Kreise gestand, er habe eigentlich nie wieder etwas wissenschaftlich so Profundes
geleistet wie in seiner Dissertation. Mich erstaunte dieses Geständnis im ersten Mo-
ment vor allem deshalb, weil jener Kollege auf ein breites, vielfältiges und anerkann-
tes Œuvre zurückblicken konnte und vom eigenen Schaffen auch selbst keine allzu
niedrige Meinung zu haben schien. Dann dachte ich an die eigene Dissertation und
die Arbeit an ihr und hatte innerlich zuzugestehen, dass ich nie wieder so ununter-
brochen lange und intensiv über einzelne rechtliche Probleme nachgedacht habe
wie damals. Und ich vermute, dass es vielen so gegangen ist und geht; dass viele,
ohne sich dessen bewusst zu werden, bei der Arbeit an ihrer Dissertation so lange
und tief in einem Thema versinken, wie sie es später kaum noch einmal tun; vor
allem weil sie es kaum noch einmal können, da andere Pflichten und Herausforde-
rungen Zeit und Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Und das brachte mich auf die Idee,
bei der Suche nach einem Gegenstand für diesen Beitrag endlich Reinhard Merkels
Dissertation über Karl Kraus, die Satire und das Strafrecht in die Hand zu nehmen.
Dies fiel umso leichter, als ich mich ihrem Thema nahe fühle: weil es mich geistig
ins Wien des frühen 20. Jahrhunderts zieht, in dem Karl Kraus gewirkt hat, in dieses
Miteinander von Geist, Kunst und Geschmack, von Tradition und Erneuerung. Au-
ßerdem kann man Reinhard Merkels Dissertation noch immer als neues Buch kaufen,
546 Tonio Walter

denn ihr ist etwas geglückt, was nicht viele – wenn überhaupt – strafrechtliche Dis-
sertationen geschafft haben dürften: Sie ist nach ihrer ersten Veröffentlichung bei
Nomos auch noch als Sachbuch im Suhrkamp-Verlag erschienen, dem intellektuellen
Flaggschiff der deutschen Verlage.1 Und im Gegensatz zu manch anderem Suhr-
kamp-Buch macht Reinhard Merkels Werk auf jeder der gut 500 Seiten Text Lese-
freude und weitet den Horizont – wie alles, was er schreibt.
Das erste Kapitel von Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus behandelt die
Strafrechtsentwicklung im 19. Jahrhundert in ihren wichtigsten Zügen sowie deren
politische und ideengeschichtliche Hintergründe, besonders den Liberalismus. Das
zweite Kapitel nimmt das Verhältnis des Politischen und der Satire in den Blick,
die sich Karl Kraus in seiner Fackel zum Programm gemacht hatte; dem Periodikum,
dessen 37 Jahrgänge sein Hauptwerk sind und im Zentrum von Reinhard Merkels
Untersuchung stehen. Und im dritten Kapitel geht es um Franz von Liszt und Hein-
rich Lammasch als den beiden Strafrechtsgelehrten, die auf Kraus den stärksten Ein-
fluss hatten. Auf den rund dreißig Seiten, die Franz von Liszt gewidmet sind, erfährt
man Erhellendes über die – auch persönliche – Bekanntschaft zwischen ihm und Karl
Kraus und bekommt manch originellen O-Ton zu lesen. Allein der Brief von Liszts an
Kraus vom 4. Oktober 1901, in dem von Liszt die Bitte um einen Gastbeitrag ablehnt,
lässt das Herz jedes Stilisten höherschlagen, weil er derart schlank, lebendig und prä-
gnant ist, dass er nahezu unverändert auch heute noch so hätte geschrieben werden
können. Außerdem wird ein weiteres Mal deutlich, welch ungeheuren und fortwir-
kenden Einfluss von Liszt auf das strafrechtliche Denken hatte.
Hier breche ich meinen kurzen Bericht über Reinhard Merkels Buch schon wieder
ab. Zwar ließe sich dieser Aufsatz problemlos in eine begeisterte Rezension umge-
stalten, aber die käme nicht nur leicht verspätet, sondern wäre kaum der Zweck eines
Festschriftenbeitrages. Zudem haben eine solche Rezension bereits andere geschrie-
ben.2 Mich hat Reinhard Merkels Abriss über die Bedeutung Franz von Liszts für
Karl Kraus und über das Verhältnis der beiden dazu gebracht, in der aktuellen Aus-
gabe der ZStW, die Franz von Liszt begründet hat, mit besonderem Interesse einen
Aufsatz von Arnd Koch über das Spätwerk von Liszts zu lesen, dessen 100. Todestag
in das Jahr 2019 fällt.3 Dieser Aufsatz macht deutlich, wie sehr von Liszt die Demo-
kratisierung des Strafrechts ein Anliegen war.4 Und dieses Stichwort ist dann zum
Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen geworden. Ich widme sie Reinhard
Merkel in freundschaftlicher Verbundenheit und der Hoffnung, dass sie wenn
nicht auf seine Billigung, so doch auf sein Interesse stoßen.

1
Merkel, Reinhard, Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus, 2. Auflage 2016.
2
Etwa Dilcher, Gerhard, Die juristischen Bücher des Jahres – Eine Leseempfehlung, NJW
1993, 3256 – 3261 (3260 f.).
3
Koch, Arnd, Der unbekannte Franz v. Liszt (02. 03. 1851 – 21. 06. 1919) – Schlaglichter
auf das Spätwerk anlässlich des 100. Todestages, ZStW 131 (2019) S. 451 – 483.
4
Koch (Fn. 3) S. 451, 452 (mit wörtlichem Zitat von Liszts zur „Demokratisierung unserer
Strafgesetzgebung“), 462, 482.
Zur Demokratisierung des Strafrechts 547

II. Zum Ziel einer (weiteren) Demokratisierung des Strafrechts


1. Demokratie – was soll das eigentlich heißen?

Diese Frage liegt deutlich unter dem Niveau des Destinatärs der Festschrift. Dass
ich sie gleichwohl aufgreife, hat die Großzügigkeit zur Ursache, mit der man die
Worte „Demokratie“ und „demokratisch“ neuerdings im Munde führt. Sie werden
nämlich nicht nur von Politikern, sondern auch von Professoren und anderen, die
es besser wissen sollten, als verschwimmende Synonyme für „rechtsstaatlich“ und
vieles einzelne gebraucht, was sich als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips betrachten
lässt: Transparenz und Überprüfbarkeit staatlicher Entscheidungsfindung, Mei-
nungs- und Pressefreiheit, richterliche Unabhängigkeit und einiges mehr.
Seinem Ursprung nach heißt „Demokratie“ aber nicht mehr als Herrschaft durch
das Volk: „demos“ ist altgriechisch das (Staats-)Volk, „kratein“ das Herrschen. Nun
wäre es naiv zu meinen, die ursprüngliche Bedeutung eines Wortes bliebe durch die
Jahrhunderte hindurch und bis in alle Ewigkeit die gleiche und allein richtige – auch
wenn viele Sprachkritiker diesen etymologischen Holzweg gerne beschreiten.5 Viel-
mehr unterliegen Wortbedeutungen schleichendem, mitunter auch abruptem Wandel
und können Wörter sogar von Anfang an etymologisch irreführend sein, etwa weil sie
wie das Wort „Sirene“ bewusst ironisch gewählt worden sind: Sirenen singen nicht
betörend, wie es die namengebenden Damen der griechischen Mythologie taten, son-
dern machen infernalischen Lärm. Aber es gibt Fälle, in denen es die Verständigung
erleichtert, wenn man sich an eine ursprüngliche Bedeutung hält, weil der freihän-
dige Gebrauch des Wortes unklar machte, was es denn im Einzelfall eigentlich be-
zeichnen solle. Ein solcher Fall sind auch die Worte „Demokratie“ und „demokra-
tisch“. Wer meint, dass eine staatliche Behörde ihre Befugnisse überschreite oder
dass die Äußerung eines Fernsehkomikers zu Unrecht als Beleidigung verfolgt
werde, der möge dies genau so und möglichst genau zum Ausdruck bringen –
doch das Verdikt „undemokratisch“ ruhen lassen, denn mit der Frage, inwieweit
das Volk an einer Entscheidung beteiligt wird oder wurde, hat das nichts zu tun.

2. Warum Demokratie?

Aus soziologischen Studien wissen wir, dass Selbstbestimmung die Lebenszufrie-


denheit hebt und stressbedingte Krankheiten vermindert.6 Das gilt sogar noch für das
demokratischste Land Europas und der Welt, die Schweiz: Je stärker deren Bürger in
einem Kanton auf die Verhältnisse vor Ort in Abstimmungen unmittelbar Einfluss
nehmen können, desto zufriedener sind sie im Vergleich mit den Bewohnern anderer
Kantone. Amartya Sen, Träger des Nobelpreises für Wirtschaft (1998), schließt dar-
5
Zu ihm mit Beispielen in meiner „Kleinen Stilkunde für Juristen“, 3. Auflage 2017,
S. 28 f.
6
Hierzu und auch zum Folgenden mein Buch „Die Kultur der Verantwortung“, 2007,
S. 12 f. mit Nachweisen.
548 Tonio Walter

aus, dass es das wichtigste Ziel gesellschaftlicher Entwicklung sei, die Selbstbestim-
mung der Menschen zu stärken. Alles andere, auch die Erhöhung des materiellen
Wohlstands, sei weniger wichtig. Das überzeugt mich. Ich halte es für das Ziel
alles menschlichen Strebens, inneres Wohlergehen zu erreichen – im Sinne eines
Wohlseins und well being, wie es Erich Fromm in Haben oder Sein beschreibt.7
Ob man das nur als Lebenszufriedenheit bezeichnet oder, wie üblicher, als
„Glück“, ist eigentlich bloß eine Frage des sprachlichen Geschmacks. Allerdings
ist immer wieder die Erfahrung zu machen, dass der Gebrauch des Wortes
„Glück“ den Irrtum provoziert, es gehe um Vergnügen oder kurzzeitige Ekstase
oder Euphorie.
Betrachtet man es als Ziel alles menschlichen Strebens, jene Lebenszufriedenheit
zu erreichen, die durch Selbstbestimmung gefördert wird, liegt es nahe, dem Staat die
Aufgabe zuzuweisen, er möge die äußeren Bedingungen des Zusammenlebens nach
Möglichkeit so gestalten, dass seine Bürger diese Zufriedenheit erlangen können. Al-
lerdings enthält das zwei willentlich gesetzte und nicht vorgefundene oder durch ver-
nunftrechtliches Räsonieren ermittelte Setzungen (Prämissen): dass es im Leben der
Menschen darum gehe, inneres Wohlergehen zu erreichen und zu erhalten; und dass
auch der Staat im Dienste dieses Zieles zu stehen habe. Das ist insgesamt eine hu-
manistische und utilitaristische Ausgangsposition. Niemand braucht sie zu teilen.
Aber wer dies tut, wird eine weitgehende Demokratisierung der Gesellschaft verlan-
gen – und damit auch ihres Rechts und Strafrechts.
Gängig ist es wohl, die Vorzugswürdigkeit der Demokratie gegenüber anderen
Staatsformen abweichend zu begründen, etwa mit der inhaltlichen oder sittlichen
Qualität ihrer Ergebnisse oder mit den Freiheitsrechten des einzelnen. Auf solche er-
gänzenden Begründungen verzichte ich. Zu ihnen wären andere weitaus berufener.
Außerdem bin ich solchen Begründungen gegenüber skeptisch, weil sie auf metaphy-
sische Beweise hinauszulaufen pflegen, die keine sind.
Auf eines ist allerdings mit Yuval Harari hinzuweisen: Demokratie funktioniert
nur in einer Gemeinschaft, die sich auf alles Wesentliche bereits geeinigt hat.8 Sie
setzt einen Grundkonsens voraus. Nur er macht es den überstimmten Minderheiten
erträglich, den Willen der Mehrheit als Gesetz und Anweisung zu akzeptieren. Das
Verhältnis von Deutschland und Russland zum Beispiel, die gegenseitigen Rechte
und Pflichten könnten nicht in Abstimmungen geregelt werden, an denen alle Russen
und alle Deutschen mit je einer Stimme teilnähmen. Das wäre zwar dem Prinzip nach
vollendet demokratisch, doch könnten die Deutschen die Abstimmungsergebnisse
nie als demokratisch legitimiert akzeptieren. Denn sie betrachten sich nicht als
Teil einer Gemeinschaft mit den Russen, die sich über alles Wesentliche – Menschen-
und Minderheitenrechte, Rechtsstaat und so fort – bereits geeinigt hätte. Zu diesem
Wesentlichen zählen auch kulturelle und nationale Selbstdefinitionen.
7
Fromm, Erich, Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft,
1976, S. 14 und öfter (hier zitiert nach der Taschenbuchausgabe von 1979).
8
Harari, Yuval, Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen, 8. Auflage 2015, S. 385 f.
Zur Demokratisierung des Strafrechts 549

III. Schauplätze einer weiteren Demokratisierung des Strafrechts


1. Kriminalpolitik

Selbstverständlich ist in einer Demokratie auch die Kriminalpolitik demokratisch,


wenn sich alle an die Regeln halten. Doch gibt es unterschiedliche Grade des Demo-
kratischen, unterschiedliche Intensitäten demokratischer Legitimation. Ein unmittel-
bar vom Volk gewählter Schweizer Richter hat eine stärkere demokratische Legiti-
mation als ein deutscher Richter, der von der Exekutive ausgesucht wird (und dann
zum Teil noch pro forma einen halbparlamentarischen Richterwahlausschuss passie-
ren muss). Eine direktdemokratische Abstimmung hat eine stärkere demokratische
Legitimation als ein Gesetz, das Abgeordnete beschließen, die repräsentativ und
zur Hälfte über Landeslisten gewählt worden sind. Das geben Abgeordnete zwar sel-
ten zu, richten sich aber danach, da sie gegenüber Entscheidungen früherer Parla-
mente in der Regel geringeren Respekt haben als – soweit vorhanden – gegenüber
solchen des Volkes.
Eine Möglichkeit, kriminalpolitische Entscheidungen weiter zu demokratisieren,
liegt darin, empirisch zu ermitteln, welche Strafen die Bürger für gerecht erachten:
für welches Verhalten sie Kriminalstrafen als verdiente Sanktion betrachten und in
welcher Höhe. An diese Möglichkeit kann indes nur denken, wer den Sinn solcher
Strafen darin sieht, für Gerechtigkeit zu sorgen, und wer zugleich bereit ist, die Mit-
glieder einer Rechtsgemeinschaft darüber entscheiden zu lassen, was gerecht sei.
Dass ich beides tue, habe ich an anderen Stellen ausgeführt und beschränke mich
hier darauf, dies in Erinnerung zu rufen.9
Allerdings lässt sich dagegen einwenden, die repräsentative Demokratie, die wir
haben, sei bereits die demokratisch beste aller Welten, und es bedürfe für die Ent-
scheidungen der Abgeordneten keiner weiteren demokratischen Zusatzlegitimation.
Sie würden vom Grundgesetz lediglich dazu angehalten, ihren Überzeugungen,
ihrem Wissen und Gewissen zu folgen; um die Überzeugungen ihres Wahlvolkes
zu einzelnen Fragen bräuchten sie sich nicht zu kümmern und sollten es auch
nicht. Allerdings ist schwer zu übersehen, dass sie dies tun. Alle Berufspolitiker sper-
ren ihre Ohren weit auf, um dem Stimmengewirr, das unsere Welt füllt, eine Vox po-
puli abzulauschen; und sei es auch nur eine, die sich auf bestimmte Bevölkerungs-
gruppen beschränkt, weil sie diese Gruppen als ihre alten oder potentiell neuen Wäh-
ler betrachten. Alle Politiker, die sich öffentlich äußern, tun dies in der Absicht, min-
destens Hoffnung, damit bei möglichst vielen Wahlberechtigten auf Zustimmung zu
stoßen. Nur überaus selten kommt es dazu, dass Abgeordnete Gesetze sehenden

9
Siehe den als Einzelschrift veröffentlichten Vortrag „Strafe und Vergeltung – Rehabili-
tation und Grenzen eines Prinzips“, 2016; ferner die Aufsätze „Die Vergeltungsidee als
Grenze des Strafrechts“, JZ 2019, 649 – 656, und „Grundlagen einer empirisch begründeten
Vergeltungstheorie“, in: Johannes Kaspar/Tonio Walter (Hg.), Strafen „im Namen des Vol-
kes?“. Zur rechtlichen und kriminalpolitischen Relevanz empirisch feststellbarer Strafbe-
dürfnisse der Bevölkerung, 2019, 49 – 60.
550 Tonio Walter

Auges gegen eine Bürgermehrheit beschließen – wie es wohl beim neuen § 217 StGB
geschehen ist sowie bei § 1631d BGB.10 Das passiert eigentlich nur, wenn die Ver-
antwortlichen die Mehrheitsverhältnisse in der Bevölkerung falsch einschätzen oder
von den Umfrageergebnissen zu einem Zeitpunkt überrascht werden, zu dem es für
eine Umkehr ohne Gesichtsverlust zu spät ist. Zudem mögen Politiker Äußerungen in
ihrem persönlichen Umfeld und in ihrer politischen Peergroup – wenn auch irrational
– für repräsentativer halten als Umfrageergebnisse oder sich eher nach solchen Äu-
ßerungen richten, weil sie den tatsächlichen und sicheren Konflikt mit deren Urhe-
bern stärker scheuen als das Grummeln anonymer Massen in der Ferne.
Es gibt ihn also auch in einer rein repräsentativen Demokratie, den Populismus,
und es gibt ihn dort unabhängig davon, ob es zur Gründung sogenannter populisti-
scher Parteien gekommen ist. Man könnte sogar auf die Idee kommen, dass Demo-
kratie und Populismus zusammengehören – wenn Demokratie Herrschaft durch das
Volk heißt und Populismus bedeutet, dass man dem Willen des Volkes, lateinisch po-
pulus, Geltung verschafft. Und am Ende ist dies vielleicht gar nicht so furchtbar; weil
der tatsächliche Wille der Mehrheit nicht immer dem entspricht, was die lautesten
Schreihälse verlangen, und weil er nicht immer so schwankend, triebgesteuert und
kurzsichtig ausfällt, wie die meisten deutschen Politiker und Intellektuellen noch
immer glauben. Doch das mag an dieser Stelle auf sich beruhen. Hier genügt es fest-
zuhalten, dass Politiker und Abgeordnete auch in einer rein repräsentativen Demo-
kratie sehr genau darauf achten und in ihrem Handeln bis hin zur Gesetzgebung be-
rücksichtigen, was eine reale oder vermutete Mehrheit der Bevölkerung will.
Dann jedoch läuft die Empfehlung, bei der Ermittlung dieses Willens auf belast-
bare empirische Studien zurückzugreifen, lediglich darauf hinaus, die Bildzeitungs-
lektüre durch Wissenschaft zu ersetzen. Man mag einwenden, dann müssten doch zu
sämtlichen Sachfragen ständig derartige Studien in Auftrag gegeben werden, was
niemand organisieren noch gar bezahlen könne. Und ein solcher Ansatz führe die
repräsentativ-demokratische Idee ad absurdum; dann könne man doch gleich eine
umfassend direkte (Basis-)Demokratie einführen, was aber niemand wolle und prak-
tisch undurchführbar wäre. Aber ganz so ist es nicht. Zum einen erscheint es mir be-
rechtigt, für das Strafrecht, also für den Einsatz des schärfsten staatlichen Schwertes,
eine engere Anbindung an die Gerechtigkeitsvorstellungen der Bevölkerung zu emp-

10
Zu § 217 StGB eine infratest-dimap-Umfrage aus dem November 2014, im Netz unter
https://www.infratest-dimap.de/de/umfragen-analysen/bundesweit/umfragen/aktuell/sterbehil
fe-hohe-akzeptanz-in-der-bevoelkerung-ukraine-konflikt-mehrheit-gegen-ausweitung-der-sank/
(abgerufen am 21. Januar 2020). 83 % der Befragten sind für eine Legalisierung mindestens
der Beihilfe zur Selbsttötung, davon befürwortet ein Großteil, und zwar 37 Prozentpunkte
sogar aktive Sterbehilfe. Zu § 1631d BGB eine infratest-dimap-Umfrage aus dem Dezember
2012, im Netz unter https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/umfragen/
aktuell/bewertung-der-gesetzlichen-regelung-zu-beschneidungen/ (abgerufen am 21. Januar
2020). Knapp 70 % der Befragten halten die vom Bundestag im Dezember 2012 beschlossene
gesetzliche Regelung zur Beschneidung von Jungen nicht für richtig; weitere Umfrageergeb-
nisse in meinem Beitrag „Der Gesetzentwurf zur Beschneidung – Kritik und strafrechtliche
Alternative“, JZ 2012, 1110 – 1117 (1115 in Fußnote 23).
Zur Demokratisierung des Strafrechts 551

fehlen als für andere Instrumente staatlichen Handelns. Zum zweiten geht es nicht
um verbindliche Entscheidungen der Bevölkerung über Gesetze oder auch nur ein-
zelne Rechtsfragen: Die Entscheidungen bleiben beim verfassungsmäßig berufenen
Gesetzgeber. Und der hat auch in jener Straftheorie, für die ich werbe, nicht allen
Gerechtigkeitswünschen, hier: Vergeltungswünschen einer Bevölkerungsmehrheit,
Folge zu leisten.11 Auch dann nicht, wenn diese Mehrheit klar ist und diese Wünsche
nachhaltig sind.
Zum einen verpflichtet ihn das Ultima-ratio-Prinzip, lediglich Mindestwünschen
Rechnung zu tragen, das heißt der Untergrenze des Spektrums von „schon gerecht“
bis „noch gerecht“. Zum anderen ist der Gesetzgeber immer befugt und verpflichtet,
das Ziel, für Gerechtigkeit zu sorgen, mit anderen berechtigten Zielen staatlichen
Handelns abzuwägen und die Gerechtigkeit dort und in dem Maße zurücktreten
zu lassen, wie ihm anderes wichtiger erscheint. Dieses andere kann fast alles sein,
was sich der Staat legitimerweise zur Aufgabe macht, vom Umweltschutz über
den Schutz der Familie und der Beziehung zu ausländischen Staaten bis hin zur in-
neren Sicherheit. Und gerade diese innere Sicherheit kann es sinnvoll machen, bei
bestimmten Tätern, vor allem Ersttätern, Abstriche vom Maß des gerechten Schuld-
ausgleichs zu machen und auf eigentlich gerechte, aber besonders desozialisierende
Strafen, namentlich Freiheitsstrafen, vorerst zu verzichten und auf eine Besserung zu
hoffen; das nennt man Bewährung. Abwägungen dieser Art sind das Geschäft der
Politik, ihr Geschäft schlechthin – und sollen dies auch nach meiner Ansicht bleiben.
Aber wenn sich der Gesetzgeber entscheidet, etwas unter eine bestimmte Strafe zu
stellen – dann sollte er sicher sein, sich damit nach Grund und Maß, gerade im Ver-
hältnis zu anderen Strafdrohungen, auf die Gerechtigkeitsbedürfnisse der Bevölke-
rung stützen zu können.

2. Rechtsanwendung

a) Der Wille des Gesetzgebers als Auslegungsziel

Gestützt wird die Auslegung von Gesetzen bekanntlich seit Jahr und Tag auf einen
Kanon von „Auslegungsarten“, will sagen Gesichtspunkten, die man – mit zweifel-
hafter Berechtigung – auf den Titan der Zivilrechtswissenschaft zurückführt, auf Sa-
vigny:12 die Auslegung nach dem Wortlaut (grammatische Auslegung), nach der Ge-
setzessystematik (systematische Auslegung), nach der Gesetzesgeschichte (histori-
sche, insbesondere genetische Auslegung) und nach dem Gesetzeszweck (teleologi-

11
Näher mein Beitrag „Die Vergeltungsidee als Grenze des Strafrechts“, JZ 2019, 649 –
656 (656).
12
Siehe Savigny, Friedrich Carl von, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, 1840,
S. 206 ff., und dazu Adomeit, Klaus/Hähnchen, Susanne, Rechtstheorie mit Juristischer Me-
thodenlehre, 7. Auflage 2018, Rn. 66; Hohmann, Hanns, in: Gerd Ueding (Hg.), Historisches
Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, Niemeyer 1998, Stichwort „Juristische Rhetorik“ unter
B. IV.; meine „Kleine Rhetorikschule für Juristen“, 2. Auflage 2017, S. 215 ff.
552 Tonio Walter

sche Auslegung). Hinzu kommen die völkerrechts-, europarechts- und verfassungs-


konforme und -freundliche Auslegung, die darin bestehen, dass bestimmte, zunächst
denkbare Auslegungsergebnisse ausgeschlossen werden, weil sie höherrangigen
Normen aus den genannten Rechtsordnungen widersprächen.
Ein traditioneller Streit der Methodenlehre wird darüber geführt, welchem Aus-
legungsgesichtspunkt im Konfliktfall Vorrang gebühre. Die herrschende Antwort
dürfte sein: dem teleologischen Gesichtspunkt.13 Ich halte sowohl diese Antwort
als auch den Streit für unglücklich. Das ist am einfachsten mit dem Hinweis zu er-
klären, dass es keine Auslegungsprobleme gibt und auch nicht empfunden werden,
wenn der Gesetzgeber in den Materialien ausdrücklich gesagt hat, ob er den Fall, um
den es geht, mit seiner Norm erfassen will oder nicht. Denn dann haben das Grübeln
über den Wortlaut, das Wühlen in der Gesetzesgeschichte, das Durchmustern anderer
Normen sowie Gedankenspiele zum wie auch immer ermittelbaren „objektiven“
Sinn und Zweck der Norm schlagartig ein Ende, der Fall ist klar. Das halte ich
auch für richtig. Denn in einem Staat mit demokratisch gut legitimierter Legislative,
aber demokratisch schwach legitimierter Judikative, die diese Legitimation überdies
wieder nur über die Legislative herstellen kann (vermittelt über die Exekutive und
zum Teil über Richterwahlausschüsse), in einem solchen Staat sollte sich die Judi-
kative als denkender Diener des demokratischen Souveräns: des Gesetzgebers be-
greifen.
Das ist allerdings erneut eine gewillkürte Setzung, die auf einer wiederum gewill-
kürten Wertung beruht; und zwar auf jener, dass Demokratie eine gute Sache sei. Man
könnte das Ganze auch anders sehen und ein Modell für vorzugswürdig halten, in
dem die Richter als Rechtsexperten berufen wären, dem Gesetzgeber als juristischem
Laien notfalls Contra zu geben im Sinne eines „checks and balances“. Auch Zwis-
chenformen sind denkbar, etwa dergestalt, dass man die Gerichte nur dort für berech-
tigt hält, sich als autonome Rechtssetzer zu verstehen, wo kein klarer Wille des Ge-
setzgebers ermittelbar ist. Und wieder anders sieht es aus, wenn die Richter, wie in
den Schweizer Kantonen, unmittelbar vom Volk gewählt werden. Denn dann haben
sie eine mindestens ebenso gute demokratische Legitimation wie die Parlamentarier,
und das machte es leichter begründbar, ihnen gegenüber dem Gesetzgeber eine kon-
kurrierende Rechtsgestaltungsbefugnis einzuräumen, aufgrund deren sie auch eigene
Wertungen offen gegen die erklärten Absichten des Gesetzgebers in Stellung bringen
dürften.
Doch das ist nicht der bundesdeutsche Fall. Und unter der Herrschaft des Grund-
gesetzes halte ich für richtig, was in vielen Fällen längst praktiziert wird, siehe oben:
dass sich die Gerichte am Willen des Gesetzgebers orientieren (und allenfalls nach
Artikel 100 GG vorlegen, wenn sie diesen Willen für verfassungswidrig halten, oder
den allgemeinen Regeln des Völkerrechts gemäß Artikel 25 GG Vorrang geben). Le-
diglich tun sie das nach meinen Beobachtungen nicht konsequent genug, nicht immer
13
Für das deutsche Strafrecht etwa Jescheck, Hans-Heinrich/Weigend, Thomas, Lehrbuch
des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 5. Auflage 1996, § 17 IV 1 b (S. 156).
Zur Demokratisierung des Strafrechts 553

mit der wünschenswerten Sorgfalt – und vergessen es manchmal auch ganz. Verdeut-
licht habe ich das an anderer Stelle anhand eines Beispiels aus dem Nebenstrafrecht,
des § 42 Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG).14 Bei der Suche nach dem gesetzgebe-
rischen Willen können die klassischen „Auslegungsarten“ Indizien liefern, wenn es
keine klare oder gar keine Äußerung in den Gesetzesmaterialien gibt. Allein das ist,
meine ich, ihre Funktion. Eine gründliche Suche nach solchen Indizien hat auch die
Tätigkeit des Gesetzgebers an anderer Stelle einzubeziehen sowie die Begründun-
gen, die der Gesetzgeber dort für seine Entscheidungen gibt. Manchmal lassen sie
auf Wertungen und Haltungen schließen, die bei der Auslegung anderer Gesetze her-
angezogen werden können.
Gleiches gilt für Analogien und teleologische Reduktionen. Ein Beispiel bieten
die noch jungen §§ 1901a ff. BGB. Aus ihnen und ihrer Begründung in den Materia-
lien lässt sich ersehen, dass der moderne Gesetzgeber über Patientenautonomie und
das Verhältnis von Arzt und Patient anders denkt als der Gesetzgeber des Reichsstraf-
gesetzbuches von 1871. Daher hat man den § 216 StGB heute immer dann teleolo-
gisch zu reduzieren, wenn eine Heilbehandlung aktiv abgebrochen wird (Abschalten
von Apparaten und dergleichen) und dies nach den §§ 1901a ff. BGB zulässig ist.
(Streiten lässt sich dann noch darüber, ob dafür auch deren Vorschriften zu Form
und Verfahren Beachtung verlangen – was entgegen wohl herrschender Lehre zu be-
jahen ist.)15
Oft sind aber auch die klassischen Topoi der Auslegung keine Hilfe bei der Suche
nach dem Willen des Normgebers. Dann bleibt dem Rechtsanwender nichts anderes
übrig, als das „objektiv“ Sinnvolle zu tun. Die Anführungszeichen verdanken sich
hier wie schon oben der Überzeugung, dass es untunlich ist, von einem „objektiven
Sinn“ zu sprechen. Denn das Wort „Sinn“ sollte man den inneren Stellungnahmen
geistbegabter Wesen reservieren. Für rein äußere Zwecke gibt es in hinreichender
Zahl andere Wörter, etwa „Wirkung“ und „Funktion“: Es ist die Wirkung der Blätter
einer fleischfressenden Pflanze, Insekten zu fangen; ihr Sinn wird dies erst, wenn ein
Mensch die Pflanze in sein Zimmer stellt, um einer Fliegenplage zu begegnen. Und
wenn ein Nachmieter als Insektenfreund den Speiseplan der Pflanze missbilligt, sie
aber gleichwohl behält, weil er sie schön findet – dann ist ihr Sinn fürderhin allein die
optische Erscheinung, während das Fliegenfangen zum unangenehmen und lediglich
in Kauf genommenen Nebeneffekt wird.
Kann ein Rechtsanwender nicht ermitteln, was der Normgeber gewollt hat oder
mutmaßlich gewollt haben würde, muss er sich selbst an dessen Stelle setzen.
14
In meinem Beitrag „Der Wille des Gesetzgebers als höchstes Auslegungsziel, verdeut-
licht anhand des § 42 StAG“, ZIS 2016, 746 – 755.
15
BGH NJW 2011, 161 (Rn. 12, 14); mein Beitrag „Sterbehilfe: Teleologische Reduktion
des § 216 StGB statt Einwilligung! Oder: Vom Nutzen der Dogmatik, Zugleich Besprechung
von BGH, Urteil vom 25. Juni 2010 – 2 StR 454/09“, ZIS 2011, 76 – 82 (76 ff.); für die wohl
herrschende Lehre Fischer, StGB, 66. Auflage 2019, Vor § 211 Rn. 53a; Pawlik, Michael, in:
Ulrich Becker/Markus Roth (Hg.), Recht der Älteren, 2013, § 7 Fn. 43 mit zahlreichen wei-
teren Nachweisen.
554 Tonio Walter

Auch das kann mit unterschiedlichen Überlegungen geschehen. Das Spektrum reicht
von einem Rechtsanwender, der wie ein Pascha nur noch das eigene Belieben spre-
chen lässt, über einen Philosophenrichter, der seiner Weltanschauung folgt, bis hin zu
einem Rechtsanwender, der herauszufinden versucht, was wohl in einer Volksabstim-
mung herauskäme. Und an dieser Stelle können auch Straftheorien ihren Weg in die
Rechtsanwendung finden:

b) Die Straftheorie als Hilfsmittel, wenn sich kein


legislativer Wille ermitteln lässt

Scheitern alle Bemühungen eines Strafrechtsanwenders – er muss übrigens kein


Richter sein –, für seinen Fall die tatsächlichen oder mutmaßlichen Wünsche des
Normgebers zu ermitteln, so besteht eine seiner Möglichkeiten darin zu überlegen,
welches Ergebnis gemäß der Straftheorie richtig wäre, die er für vorzugswürdig hält.
Dieser Schnittpunkt von Methodenlehre und Straftheorie scheint mir als solcher bis-
lang unterbelichtet zu sein. Als Beispiel die Auslegung der Tatvariante einer „Unter-
drückung wahrer Tatsachen“ in § 263 StGB; bei ihr geht es um die Tatbestandsmä-
ßigkeit sogenannter konkludenter Täuschungen, das heißt von Täuschungen durch
Erklärungen, die einen konkludenten Teil haben und in diesem Teil falsch sind.
Das Problem besteht darin zu wissen, welche Erklärungen welche konkludenten
Teile haben. Die herrschende Meinung versucht herauszufinden, was im Rechtsver-
kehr bei einer bestimmten ausdrücklichen Äußerung als konkludent miterklärt gilt.16
Andere suchen nach Aufklärungspflichten, die auch aufgrund ausdrücklicher Äuße-
rungen entstehen oder anlässlich einer solchen Äußerung aktuell werden können.17
Beides ist nicht falsch, führt aber nicht stets zu einer überzeugenden und manch-
mal zu überhaupt keiner Lösung. So soll die Vertragsgemäßheit einer Leistung oder
Sache in der Regel nicht als „miterklärt“ gelten, wenn jemand sie zur Erfüllung des
Vertrages anbietet.18 Und dann ordnet auch das Zivilrecht keine Aufklärungspflicht
an. Vielmehr bleibt es zivilrechtlich im Grundsatz Sache des anderen Vertragspart-
ners, den Mangel oder die Unzulänglichkeit zu entdecken und entweder, wenn er
selbst noch nicht geleistet hat, die (volle) Gegenleistung zu verweigern oder Gewähr-
leistung oder eine Garantie geltend zu machen. Er wird durch das lächelnde Schwei-
gen des Anbieters nach herrschender Ansicht nicht betrogen. Das dürfte aber mit den
Gerechtigkeitsintuitionen der meisten Menschen nicht zusammenpassen. Vielmehr

16
Für die herrschende Meinung BGHSt. 46, 196 (199 ff.); BGH NStZ 2007, 151 Rn. 4 ff.,
10 (Fall Hoyzer); je mit weiteren Nachweisen.
17
Maaß, Wolfgang, Die Abgrenzung von Tun und Unterlassen beim Betrug, GA 1984,
264 – 284 (266); Seelmann, Kurt, Betrug beim Handel mit Rohstoffoptionen, NJW 1980,
2546 – 2551 (2546 f.); Volk, Klaus, Täuschung durch Unterlassen beim Betrug, JuS 1981, 880 –
883 (881 f.). So auch in meinem „Betrugsstrafrecht in Frankreich und Deutschland“, 1999,
S. 48 ff.
18
Vgl. Fischer (Fn. 15) § 263 Rn. 35; Perron, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch,
Kommentar, bearb. v. Albin Eser u. a., 30. Auflage 2019, § 263 Rn. 17b.
Zur Demokratisierung des Strafrechts 555

gehen sie vermutlich davon aus, dass ein Vertragspartner, wenn er die Erfüllung des
Vertrages anbietet, „miterklärt“, das Angebotene sei auch tatsächlich zur Erfüllung
tauglich, also vertragsgemäß und frei von Mängeln. Und wer so denkt, hält den un-
lauteren Vertragspartner nicht weniger für einen Betrüger als jenen, der schon beim
Vertragsschluss schummelt. Das lässt sich bei der Auslegung des § 263 StGB berück-
sichtigen.

c) Der allgemeine Sprachgebrauch als Grenze der Auslegung

aa) Grenzen der Auslegung im Überblick

Unstreitig hat die Auslegung unabhängig davon Grenzen, was man zu ihrem Leit-
stern erklärt. Eine wurde oben (a)) bereits gestreift: Höherrangiges Recht kann den
Willen des Gesetzgebers brechen. Solches Recht sind Verfassungs- und Völkerrecht,
in der Europäischen Union gehört auch ein Teil des Europarechts dazu. Vorausset-
zung dafür, dass sich ein Rechtsanwender auf diese Grenzen berufen darf, um
dem Willen des Gesetzgebers die Gefolgschaft zu versagen, sind die unmittelbare
Anwendbarkeit des höherrangigen Rechts sowie die Befugnis des Rechtsanwenders,
dieses Recht eigenhändig anzuwenden, also nicht verpflichtet zu sein, das einer an-
deren Instanz zu überlassen – wie es zum Beispiel Artikel 100 GG von den Gerichten
verlangt, wenn sie meinen, dass ein Gesetz oder die zugehörigen Auslegungswün-
sche des Gesetzgebers der Verfassung widersprechen. An eine weitere Grenze
stößt die Auslegung wiederum unstreitig dort, wo der Wortlaut endet: Er bildet
gemäß einer sprachlich etwas unglücklichen Formulierung die „äußerste Grenze“
der Auslegung.

bb) Bedeutung und Natur der Wortlautgrenze

Diese Wortlautgrenze hat methodisch eine klare Funktion – zumindest in der


Theorie: Sie trennt die Auslegung von der Rechtsfortbildung in Form von Analogien
und teleologischen Reduktionen. Jenseits des Wortlauts sind nur noch Analogien
möglich. Das heißt: Lässt sich ein Sachverhalt mit dem Wortlaut eines Tatbestandes
(der kein Straftatbestand sein muss) nicht mehr erfassen, ganz gleich, wie man diesen
Wortlaut auch dreht und wendet, so kann man nur noch mit einer analogen Anwen-
dung der Norm zu ihrer Rechtsfolge gelangen. Entsprechendes gilt auf der anderen
Seite im sogenannten Begriffskern: Erfasst der Wortlaut eines Tatbestandes, wie man
ihn auch dreht und wendet, einen Sachverhalt, dann lässt sich die Rechtsfolge der
Norm nur noch mit einer teleologischen Reduktion verhindern. Ein einfaches Bei-
spiel bietet § 212 StGB. Dessen Tatbestand lautet: „Wer einen Menschen tötet …“
Diese Formulierung erfasst unausweichlich auch den Suizid. Denn wie man es
sprachlich auch dreht und wendet: Der Suizident ist ein Mensch. Daran ist nicht vor-
beizukommen. Die Rechtsfolge seiner Bestrafung im Falle eines misslungenen Sui-
zidversuchs lässt sich daher nur vermeiden, indem man den Tatbestand um den Fall
556 Tonio Walter

der Selbsttötung reduziert. Das entspricht auch dem Telos der Norm, denn der his-
torische Gesetzgeber wollte den Suizid tatbestandslos lassen, und der aktuelle Ge-
setzgeber will dies auch. Telos, also Sinn und Zweck des § 212 StGB ist allein die
Bestrafung von Fremdtötungen.
So klar all dies im Grundsatz ist, so schwierig wird es, die Wortlautgrenze zu de-
finieren. Sprachwissenschaftler halten das meist von vornherein für aussichtslos, und
auch mancher Jurist zweifelt, ob es eine solche Grenze tatsächlich in dem Sinne gebe,
dass ein Wort sie um sich herum trage wie eine Rokoko-Dame ihren Reifrock. So
meint etwa Hans Kudlich, die Grenzen eines Wortlautes ließen sich nur durch Aus-
legung ermitteln.19 Zur Begründung führt er an, dass Straftatbestände zum Teil das
Handlungsobjekt nur im Plural nennen, obwohl zweifellos auch Taten mit nur einem
Handlungsobjekt erfasst werden sollen. So in §§ 152a und 152b StGB, die das Fäl-
schen von Zahlungskarten und Schecks unter Strafe stellen – was aber nach ganz
herrschender Meinung auch die Fälschung nur einer Zahlungskarte und nur eines
Schecks erfasst.20 Kudlich schließt daraus, es seien offenbar nicht allein die Regeln
unserer Sprache und Grammatik, von denen die Grenzen des Wortlautes bestimmt
würden. Folglich habe man sie ebenfalls im Wege einer Auslegung zu ziehen.
Aber so muss man es nicht sehen. Zunächst ist es fachbegrifflich verwirrend, die
Wortlautgrenze per Auslegung definieren zu wollen, wenn diese Grenze doch gerade
die Auslegung einschränken soll. Dürften die Grenzen der Auslegung durch Ausle-
gung bestimmt werden, hätte sie keine. Was wie ein Wortspiel klingt, hat einen hand-
festen Interessengegensatz zum Hintergrund; zumindest dann, wenn man die Ausle-
gung wie hier als Verwirklichung des gesetzgeberischen Willens betrachtet und den
Wortlaut als Bastion der Rechtssicherheit, die im Strafrecht nicht zum Nachteil der
Bürger überrannt werden darf. Denn dann dient die Auslegung den Interessen des
Normgebers, die Wortlautgrenze hingegen den Interessen der Normunterworfenen.
Und so sieht man es im deutschen Strafrecht; das ist der Gehalt seines Analogiever-
bots. Der Interessengegensatz bleibt strukturell der gleiche, wenn man die Auslegung
nicht unter den Leitstern des gesetzgeberischen Willens stellt, sondern einen wie
auch immer zu ermittelnden objektiven Normzweck als maßgeblich erachtet.
Auch dann steht ein solches Interesse des objektiven Normzwecks dem Interesse
der Normunterworfenen gegenüber, denen das Analogieverbot garantiert, nur dies-
seits der Wortlautgrenze in Anspruch genommen zu werden. Diese Garantie hat
Franz von Liszt in seine berühmten Worte gekleidet, das Strafgesetzbuch – will
sagen: der Wortlaut seiner Normen – sei die „Magna Charta des Verbrechers“;21
glücklicher wäre es indes, statt vom „Verbrecher“ vom Bürger zu sprechen, denn
19
Kudlich, Hans, „Regeln der Grammatik“, grammatische Auslegung und Wortlautgrenze,
in: Hans-Ullrich Paeffgen u. a. (Hg.), Strafrechtswissenschaft als Analyse und Konstruktion.
Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag, 2011, S. 123 – 136 (129 f.).
20
Grundlegend BGHSt. 46, 147 (150 f.).
21
von Liszt, Franz, Ueber den Einfluss der soziologischen und anthropologischen For-
schungen auf die Grundbegriffe des Strafrechts, in: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge,
Band 2, 1905, S. 75 – 93 (80).
Zur Demokratisierung des Strafrechts 557

unter der Herrschaft des Analogieverbots gibt es nun einmal jenseits des Wortlautes
keine Verbrechen: nullum crimen sine lege.
Ferner kann es in die Irre führen, die Sprache auf bestimmte grammatische Regeln
festlegen zu wollen, die vorgeblich keine Ausnahmen kennten, um alsdann Abwei-
chungen von den Regeln als sprachlich falsch zu betrachten. Zwar hat jede Sprache
grammatische Regeln und betrachtet man Abweichungen von ihnen als Fehler – aber
nur dann, wenn sie sich nicht als anerkannte Ausnahmen etabliert haben. So sagen
wir „studierter Herr“ und „studierte Medizinerin“, obwohl weder der Herr noch die
Medizinerin studiert worden sind, sprechen von „Tausendundeiner Nacht“, obwohl
es doch „Nächte“ heißen müsste, und umgekehrt gestattet uns der Duden zu sagen,
dass eine „Reihe von Bürgern mehr Mitbestimmung wollen“, obschon die Reihe im
Singular steht. Und bei einer regelbesessenen Betrachtung sind natürlich auch sämt-
liche unregelmäßigen Verben „falsch“. Die Liste sprachlicher Ungereimtheiten ist
lang; jeder, der eine Fremdsprache zu lernen hat, muss das leidvoll erfahren. Und
so hat sich im Deutschen für abstrakt-generelle Regelungen, will sagen Normen,
die sprachliche Übung herausgebildet, Tatobjekte auch dann in den Plural zu setzen,
wenn der Singular mitgemeint ist: Wer das Betreten einer Moschee „mit Schuhen“
verbietet, schließt auch solche Personen vom Moscheebesuch aus, die nur an einem
Fuß einen Schuh tragen, und wer vor einem Schaufenster „Fahrräder abstellen“ un-
tersagt, will dort auch kein einzelnes Fahrrad sehen – was jedes Mitglied der deut-
schen Sprachgemeinschaft auch ohne Nachhilfe in Grammatik sofort genau so und
nur so versteht.
Richtig ist allerdings, dass auch die Wortlautgrenze oft unscharf ist – unabhängig
davon, wie man sie zu definieren versucht. Aber das ist kein schlagender Einwand
gegen ihre Existenz. Auch Tag und Nacht existieren, obwohl es die Dämmerung
gibt; Rot und Blau existieren, obwohl sie übers Violette vermittelt einen fließenden
Übergang haben, und Forte und Piano sind keine musikalischen Chimären, obwohl
auch der Weg von Laut nach Leise durch eine Schallregion führt, die weder das eine
noch andere ist. In der Philosophie stehen alle diese Beispiele für das sogenannte
Haufenproblem, das ist die Frage, wie viele Sandkörner nötig seien, damit man
von einem Sandhaufen sprechen könne.22 Doch ändert dieses Problem nichts
daran, dass es Sandhaufen gibt, die jeder als solche bezeichnet, und einzelne Sand-
körner, für die niemand auf diese Idee käme. Und so gibt es auch für jedes Wort Sach-
verhalte, die klar außerhalb seiner Bedeutungsgrenzen liegen, und andere, die es
ebenso klar erfasst. Und daraus folgt, dass es zwischen diesen Sachverhalten eine
Grenze gibt; mag sie auch weniger scharf sein als die Grenzlinien im Grundbuch.
Richtig ist ferner, dass die Wortlautgrenze vom Kontext abhängt. So mag das Wort
„Asche“ für sich betrachtet nicht erlauben, auch Goldklumpen darunter zu subsumie-
ren, in der Zusammensetzung „Asche eines Verstorbenen“ aber doch, wenn diese

22
Vgl. Pardey, Ulrich, Unscharfe Grenzen. Über die Haufen-Paradoxie, den Darwinismus
und die rekursive Grammatik, Journal for General Philosophy of Science, Volume 33, Issue 2,
S. 323 – 348 (326 ff.).
558 Tonio Walter

Goldklumpen sehr klein und das Zahngold des Toten sind. Denn wenn von der
„Asche eines Verstorbenen“ die Rede ist, wird damit die Gesamtheit der Rückstände
bezeichnet, die das Krematorium vom Leichnam übrig lässt; zumindest ist das gut
möglich und verstößt gegen keine Sprachkonvention.23 Und diese Rückstände umfas-
sen jedenfalls auch unverbrannte Knochen und Zähne – die man bei isolierter Be-
trachtung so wenig als „Asche“ bezeichnen könnte wie Gold.
Schließlich noch ist zuzugestehen, dass die Wortlautgrenzen wandern. Eine Spra-
che ist etwas sich ununterbrochen Entwickelndes: Alte Wörter verschwinden aus
ihrem Gebrauch, neue kommen hinzu – und die fortexistierenden ändern ihre Bedeu-
tung. Nichts davon geschieht über Nacht, aber auf lange Sicht kann der Wandel ra-
dikal sein. Um das zu erkennen, muss man nur einen Text in die Hand nehmen, der
einige hundert Jahre alt ist. So sprach etwa das Allgemeine Landrecht Preußens von
der „Wartung“ der Kinder durch ihre Mutter; eine Behandlung, die im heutigen
Deutsch nur noch an technischem Gerät vollzogen werden kann: Die Fürsorge für
Kinder ist ein Sachverhalt, der jetzt jenseits der Grenzen des Wortes „Wartung“ liegt.
All dies zwingt aber nicht dazu, sich von der Vorstellung zu verabschieden, dass
Wörter Bedeutungsgrenzen haben. Hätten sie die nicht, so hätten sie überhaupt keine
Bedeutung. Denn sobald ein Zeichen eine Bedeutung hat, muss diese Bedeutung um-
grenzt sein. Sonst könnte es für alles stehen und für nichts. Müsste die Bedeutung
eines Wortes von Fall zu Fall im Sprachspiel der Kommunizierenden neu ausgehan-
delt werden, hätte es von Hause aus überhaupt keinen Erklärungswert, und Verstän-
digung könnte nur mit sehr viel Zeit und vor allem Glück gelingen. In jeder Kom-
munikation wäre zunächst einmal deren Sprache neu zu erfinden. So schlimm ist
es dann doch nicht.

cc) Die Wortlautgrenze als allgemeiner Sprachgebrauch

Die Einsicht, dass es Wortlautgrenzen gibt, beantwortet allerdings noch nicht die
Frage, wie sie sich ermitteln lassen. Sie führt zu zwei Unterfragen, erstens: Welche
Sprache ist zu untersuchen – die Fachsprache? Die Standardsprache? Die Umgangs-
sprache? Zweitens: Welches ist das richtige Instrument, um die Wortlautgrenze zu
ermitteln – ein Wörterbuch? Eine Umfrage? Die eigene Sprachkompetenz? Die
erste Unterfrage nach der – wie Sprachwissenschaftler sagen – Sprachvarietät ist,
was nahe liegt, in Abhängigkeit davon zu beantworten, an wen sich eine Norm wen-
det, wer also ihr Adressat ist.24 Handelt es sich um verwaltungsinterne Texte, darf
man auf die juristische Fachsprache abstellen. Geht es um Gesundheitsrecht, das
Ärzte beachten müssen, können medizinische Fachbegriffe herangezogen werden.

23
So BGH NJW 2015, 2901 = Beschluss vom 30. Juni 2015 – 5 StR 71/15 Rn. 4 ff.; OLG
Bamberg NJW 2008, 1543 ff.; anderer Ansicht OLG Nürnberg NJW 2010, 2071 ff.
24
BVerfGE 126, 170 (197); 92, 1 (12); Lorenz, Jörn/Pietzcker, Manja/Pietzcker, Frank,
Empirische Sprachgebrauchsanalyse – Entlarvt ein neues Beweismittel Verletzungen des
Analogieverbots (Art. 103 II GG)?, NStZ 2005, 429 – 434 (430).
Zur Demokratisierung des Strafrechts 559

Steht die Norm hingegen als Allgemeindelikt im Strafgesetzbuch – und nicht als Son-
derdelikt, das nur bestimmte Personen, etwa Amtsträger verwirklichen können –, so
muss sich ihr Wortlaut nach ganz herrschender und zutreffender Ansicht an der Stan-
dardsprache messen lassen, und zwar an jener der Gegenwart.25 Mit anderen Worten,
und das ist kräftig zu unterstreichen, sind Wortlautgrenzen in der Strafrechtsdogma-
tik grundsätzlich gemäß der allgemeinen, von normalen Bürgern verwendeten Spra-
che zu ziehen.

dd) Die empirische Ermittlung des allgemeinen Sprachgebrauchs

Die zweite Unterfrage nach dem Instrument, das Wortlautgrenzen aufzeigen


kann, beantworten deutsche Gerichte bislang mit großen Wörterbüchern: dem
Duden, dem Wahrig, dem Grimmschen Wörterbuch sowie großen Enzyklopädien.26
Früher taten dies auch die US-amerikanischen Gerichte.27 Diese Methode begegnet
aber durchgreifenden Bedenken. Denn Wörterbücher sind herkömmlich das Werk
einzelner Autoren, die nicht offenlegen, wie sie zu ihren Definitionen und Beispielen
kommen. Und sie wollen lediglich positive Beispiele für den Wortgebrauch nennen,
haben aber nicht den Anspruch, damit die Wortbedeutung abschließend festzulegen,
das heißt auch negativ zu definieren in dem Sinne, dass alle nicht aufgeführten Be-
deutungen ausgeschlossen werden sollten.28 Umgekehrt können auch die positiven
Beispiele Trouvaillen etwa aus dem Kanon klassischer Literatur sein, von denen
schon immer zweifelhaft war oder heute geworden ist, ob sie für den Sprachgebrauch
als repräsentativ gelten können. Aufgrund dieser Schwächen der Wörterbücher ist
die US-amerikanische Rechtsprechung dazu übergegangen, ein anderes Hilfsmittel

25
BVerfGE 130, 1 (43); 73, 206 (235 f.); 71, 108 (115) („aus der Sicht des Bürgers“);
Dannecker, in: Heinrich Wilhelm Laufhütte u. a. (Hg.), Strafgesetzbuch. Leipziger Kom-
mentar, Band 1, 12. Auflage 2007, § 1 Rn. 51 ff., 250 („der aus der Sicht des Bürgers mögliche
Wortsinn“); Hecker, in: Schönke/Schröder (Fn. 18), § 1 Rn. 54 („Alltagsgebrauch eines Be-
griffes“); Fischer (Fn. 15) § 1 Rn. 21 („allgemeiner Sprachgebrauch der Gegenwart“); Krey,
Volker, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht. Eine Einführung in die Problematik des
Analogieverbots, 1977, S. 154 ff. („Sprachgebrauch des täglichen Lebens“); Lorenz/Pietz-
cker/Pietzcker (Fn. 24) S. 430; Rengier, Rudolf, Strafrecht Allgemeiner Teil, 10. Auflage
2018, § 5 Rn. 5; Roxin, Claus, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 5
Rn. 26 ff., 28 („umgangssprachlicher Wortsinn“); Schulze-Fielitz, in: Horst Dreier (Hg.),
Grundgesetz, Kommentar, Band III, 2. Auflage 2008, Art. 102 Rn. 46 („aus Sicht des Bür-
gers“); wohl auch BGHSt. 52, 89 Rn. 8 („allgemeines Sprachverständnis“).
26
Vgl. BVerfGE 73, 206 (243) (Duden); BGHSt. 52, 89 Rn. 8 (Duden und Grimmsches
Wörterbuch); 22, 14 (16) (Grimmsches Wörterbuch und Das deutsche Wort [1953] von Ri-
chard Pekrun [als „Perkun“ zitiert]); BGH (Z) NJW 1967, 343 (346) (Grimmsches Wörter-
buch, Etymologisches Wörterbuch von Kluge/Götze, Trübners Deutsches Wörterbuch, Der
große Brockhaus, Bülows Wörterbuch der Wirtschaft sowie Gablers Wirtschaftslexikon –
jeweils zur sogenannten grammatischen Auslegung).
27
Vgl. zu einer ähnlichen Frage wie der in BGHSt. 52, 89 entschiedenen Muscarello vs.
United States 524 U. S. 125 (1998).
28
Siehe schon Lorenz/Pietzcker/Pietzcker (Fn. 24) S. 430.
560 Tonio Walter

zu verwenden: die Korpuslinguistik.29 Sie zieht eine möglichst große und repräsen-
tativ zusammengestellte Textmenge heran, das sogenannte Textkorpus, und ermittelt
dann rechnergestützt mit einem speziellen Suchprogramm, wie dort die Wörter ver-
wendet werden.30 Das ist die eine Möglichkeit der empirischen Sprachgebrauchsana-
lyse.
Eine andere Möglichkeit sind umfrageartige Erhebungen zum Sprachverständnis,
das heißt demoskopische Untersuchungen. Dass sie als Hilfsmittel der Rechtsfin-
dung nicht abwegig sind, zeigen das Wettbewerbs- und das Markenrecht. Dort
sind sie jedenfalls bis vor kurzem gang und gäbe gewesen, etwa um die Bekanntheit
einer Marke zu ermitteln oder die Gefahr der Verwechslung mit einer anderen.31 Mitt-
lerweile schreiben sich die Gerichte in Deutschland allerdings mindestens in einem
Teil dieser Fälle selbst die Fähigkeit zu, zum Beispiel die „Sicht des Durchschnitts-
verbrauchers“ zu kennen.32 Eine demoskopische Pionierstudie im Strafrecht – wenn
auch keine repräsentative – verdanken wir Jörn Lorenz sowie Manja und Frank Pietz-
cker.33
Die Korpuslinguistik wird heute auch von den großen Wörterbüchern praktiziert,
namentlich vom Duden. Es fragt sich indes weiterhin, ob die Art, in der dies ge-
schieht, zugleich rechtsverbindlich sein muss – oder ob Richter in Zweifelsfällen ei-
gene korpuslinguistische Gutachten in Auftrag geben sollten, zum Beispiel um bei
einem Sonderdelikt den Kreis der Normadressaten besser zu berücksichtigen,
indem man das Textkorpus anders zusammenstellt. Und es bleibt die Frage, ob wahl-

29
Im Anschluss an Mouritsen, Stephen C., The Dictionary Is Not a Fortress: Definitional
Fallacies and a Corpus-Based Approach to Plain Meaning, BYU Law Review, Vol. 2010 Nr. 5,
S. 1915 – 1979, obergerichtlich erstmals in In re Baby E. Z., Utah 266 P. 3d 702; später ober-
gerichtlich in People v. Harris, Michigan 885 N. W. 2d 832.
30
Vgl. Hamann, Hanjo, Der „Sprachgebrauch“ im Waffenarsenal der Jurisprudenz, in:
Friedemann Vogel (Hg.), Zugänge zur Rechtssemantik. Interdisziplinäre Ansätze im Zeitalter
der Mediatisierung, 2015, S. 184 – 204; Lukas, Christoph, Tagungsbericht: The Fabric of Law
and Language, ARSP 2017, 136 – 143; Vogel, Friedemann/Pötters, Stephan/Christensen,
Ralph, Richterrecht der Arbeit – empirisch untersucht. Möglichkeiten und Grenzen compu-
tergestützter Textanalyse am Beispiel des Arbeitnehmerbegriffs, 2015, S. 72 – 79; Vogel,
Friedemann/Hamann, Hanjo/Gauer, Isabelle, Computer-Assisted Legal Linguistics: Corpus
Analysis as a New Tool for Legal Studies, Law and Social Inquiry 2017, im Netz unter http://
onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/lsi.12305/abstract;jsessionid=7403EECD525C279A
6352584826C285B8.f04t04, abgerufen am 21. Januar 2020.
31
Umfassend Eichmann, Helmut, Gegenwart und Zukunft der Rechtsdemoskopie, GRUR
1999, 939 – 955; ders., in: Gordian N. Hasselblatt (Hg.), Münchener Anwaltshandbuch Ge-
werblicher Rechtsschutz, 4. Auflage 2012, § 9 (S. 238 – 290); Stiel, Daniel, Die Verkehrs-
durchsetzung von Marken nach § 8 Abs. 3 MarkenG unter dem Blickwinkel der Demoskopie,
Diss. Augsburg 2015, S. 5 ff.; siehe auch Benda, Ernst/Krenzer, Karl, Demoskopie und Recht,
JZ 1972, 497 – 501; alle mit weiteren Nachweisen.
32
Für die „Sicht des Durchschnittsverbrauchers“ OLG München, Urteil vom 27. Septem-
ber 2018, 6 U 1304/18 unter II A 2 a ff; FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13. Oktober 2016,
7 K 7248/14, DStRE 2017, 1067 – 1070 (1069).
33
Wie Fn. 24.
Zur Demokratisierung des Strafrechts 561

weise oder ergänzend eine demoskopische Herangehensweise gewählt werden sollte.


Ferner fragt sich für alle Formen der empirischen Sprachgebrauchsanalyse, mit wel-
chen Schwellenwerten man die Grenzen des Wortlauts bestimmen will: Reicht es,
dass überhaupt jemand dem Wort eine bestimmte Bedeutung beilegt oder dass es ir-
gendwo einmal mit dieser Bedeutung verwendet wurde? Wohl kaum, denn die
sprachliche Innovationsfreude eines Einzelnen oder einiger weniger ist noch kein all-
gemeinsprachlicher, heißt allgemeiner Sprachgebrauch. Folglich hat man Mindest-
häufigkeiten festzulegen. Deren exakte Höhe ist eine wichtige Detailfrage – doch
nicht mehr. Entsprechendes gilt für die Anforderungen, die an demoskopische Erhe-
bungen zu stellen sind sowie an die Zusammenstellung und Größe untersuchter Text-
korpora. Zudem gibt es für die deutsche Standardsprache schon ein großes und lege
artis zusammengestelltes Textkorpus: das DeReKo, das ist das Deutsche Referenz-
korpus mit über 43 Milliarden Wörtern.34
Die Grundfrage lautet allerdings, ob es überhaupt nötig sei, in der Rechtswissen-
schaft die Wortlautgrenze über empirische Sprachgebrauchsanalysen zu bestimmen.
Immerhin denkbar wäre der Einwand, dass empirische Untersuchungen zum
Sprachgebrauch nie das ermitteln könnten, worauf Juristen abstellten, nämlich
den bloß „möglichen Wortsinn“35 : Was gewöhnlich gesprochen werde, bleibe hinter
dem zurück, was die Sprachgemeinschaft einem Wort in ungewöhnlichen Fällen als
Ausnahmebedeutung zugestehe. Dieser Einwand ist aber nicht überzeugend: Kommt
eine bestimmte Bedeutung im realen Wortgebrauch einer Sprachgemeinschaft so gut
wie überhaupt nicht vor, dann gibt es sie dort auch nicht. Es handelt sich dann ent-
weder um eine historische, doch abgestorbene Bedeutung oder um eine bloß hypo-
thetisch mögliche, aber (noch) nicht existierende. Beide Fälle sind für die Rechtsan-
wendung in der Gegenwart irrelevant. Wenn Wortlautgrenzen in den Normen des
Strafrechts gemäß dem allgemeinen Sprachgebrauch zu ziehen sind – und das
sind sie, siehe oben –, dann ist ihr Verlauf empirisch zu bestimmen.
Was das in der Praxis bedeuten kann, lässt sich anhand des Wortes „geschäftsmä-
ßig“ im neuen § 217 StGB zeigen. Der Gesetzgeber wollte diesen Begriff fachsprach-
lich verstanden wissen, und in der juristischen Fachsprache hat er lediglich die Be-
deutung „mit der Absicht, das Verhalten zu einem wiederkehrenden Gegenstand der
eigenen Beschäftigung zu machen“.36 Nach einer korpuslinguistischen Studie indes,
die kürzlich der Siegener Sprachwissenschaftler Friedemann Vogel und seine Mitar-
beiter durchgeführt haben, wird das Wort „geschäftsmäßig“ in der Allgemeinsprache
mit einer deutlich anderen Bedeutung gebraucht; so anders, dass die Autoren der Stu-
die deren Ergebnis pointiert wie folgt zusammenfassen:

34
Näher unter http://www1.ids-mannheim.de/kl/projekte/korpora.html, abgerufen am 21.
Januar 2020.
35
Siehe nur BGHSt. 52, 89 Rn. 7 (ohne die Hervorhebung).
36
BT-Drs. 18/5373, 17.
562 Tonio Walter

„Aus […] [diesen] Beobachtungen könnte man vorsichtig die (zugespitzte) These ableiten,
dass sich die fachsprachlich-terminologischen und gemeinsprachlichen Bedeutungen
von ,geschäftsmäßig‘ tendenziell gegenseitig ausschließen.“37

Denn in der Allgemeinsprache hat „geschäftsmäßig“ die Bedeutung von „sach-


lich, nüchtern, emotionslos“. Nun ist sicherlich zu berücksichtigen, dass auch einfa-
che Bürger, wenn sie einen Gesetzestext lesen, nicht glauben, ein jedes seiner Wörter
hätte jene Bedeutung, die ihm standardsprachlich zukommt. Und so dürfte ein durch-
schnittlicher, juristisch ungeschulter Leser des § 217 StGB wohl ahnen, dass es dort
nicht lediglich um eine sachlich, nüchtern und emotionslos ausgeübte Beihilfe zum
Suizid gehen soll. Wahrscheinlich vermutete er, dass der Begriff des Geschäftsmä-
ßigen das bezeichnen solle, was Juristen mit dem Beiwort gewerbsmäßig erfassen;
also ein Tun, das Geld erwirtschaften soll. So ist der neue Straftatbestand der Öffent-
lichkeit auch verkauft worden: mit dem Slogan „keine Geschäfte mit dem Tod“.38
Und jedenfalls käme der juristisch ungeschulte Leser mit hoher Wahrscheinlichkeit
nicht auf die Idee, dass die „Geschäftsmäßigkeit“ des Handelns nichts, überhaupt
nichts mit Geld und wirtschaftlichem Interesse zu tun haben soll.
Wenn das so ist und wenn man dies als Definition der Wortlautgrenze akzeptiert –
dann darf niemand gemäß § 217 StGB bestraft werden, der ohne geschäftliches In-
teresse im Sinne der Allgemeinsprache, also ohne jedes wirtschaftliche Interesse
Beihilfe zu einer Selbsttötung leistet. Folglich darf niemand gemäß § 217 StGB be-
straft werden, der als Mitglied einer Non-Profit-Organisation ehrenamtlich und al-
lenfalls gegen eine angemessene Aufwandsentschädigung Hilfe zu einer Selbsttö-
tung leistet; gegenwärtig tun dies zum Beispiel Sterbebegleiter des Schweizer Ver-
eins Exit. Mit anderen Worten haben die Gerichte in solchen Fällen die Möglichkeit,
dem Willen des Gesetzgebers den Gehorsam zu verweigern, indem sie sich auf die
Grenzen des Wortlauts und damit auf das Analogieverbot aus Artikel 103 Absatz 2
GG berufen – wenn man diese Grenzen, wie es die ganz herrschende Meinung zu-
treffend verlangt, gemäß dem allgemeinen Sprachgebrauch festlegt und dabei bereit
ist, sich einer empirischen Betrachtung zu öffnen.
Auf diese Art ließen sich die übelsten Folgen des § 217 StGB schon de lege lata
eindämmen, also bevor das Bundesverfassungsgericht diesen Tatbestand für verfas-
sungswidrig erklärt. Und immerhin diese Aussicht mag auch Reinhard Merkel einen
neugierigen Blick auf die skizzierten empirischen Methoden der Sprachgebrauchs-
ermittlung werfen lassen; denn wenige haben so klar, zutreffend und nachhaltig wie

37
Veröffentlicht in LeGes – Gesetzgebung & Evaluation 30 (2019) unter dem Titel „Die
Bedeutung des Adjektivs geschäftsmäßig im juristischen Fach- und massenmedialen Ge-
meinsprachgebrauch – Eine rechtslinguistische Korpusstudie als Beispiel für computerge-
stützte Bedeutungsanalyse im Recht“.
38
Vgl. etwa die Pressemitteilung des damaligen CDU-Generalsekretärs Peter Tauber,
https://www.cdu.de/artikel/bundestag-setzt-wichtiges-signal-kein-geschaeft-mit-dem-tod (ab-
gerufen am 21. Januar 2020).
Zur Demokratisierung des Strafrechts 563

er den Missgriff gegeißelt, den sich der Gesetzgeber mit § 217 StGB geleistet hat.39
Eine Demokratisierung des Strafrechts lässt sich in jenen Methoden erkennen, weil
auch sie nach den Entscheidungen, in diesem Fall den sprachlichen Entscheidungen
des Volkes fragen: Sprache ist Sprachgebrauch, und Sprachgebrauch ist Basisdemo-
kratie. Das ist natürlich eine Zuspitzung, da nicht alle Mitglieder der Sprachgemein-
schaft auf die Sprachentwicklung den gleichen Einfluss haben: Nicht jede Stimme
hat das gleiche Gewicht und die gleiche Wirkung. Aber im Vergleich mit allen be-
stehenden staatlichen und juristischen Herrschaftsstrukturen entfaltet sich die Spra-
che doch in einem sehr freien Raum, in dem grundsätzlich jeder auch ohne beson-
deres Amt, ohne besondere Würde und ohne staatliche Ermächtigung an dieser Ent-
faltung mitwirken kann.

IV. Indirekte, direkte und repräsentative Demokratie


Reinhard Merkel nutzt diese Mitwirkungsmöglichkeit auf überaus wohltuende
Weise, seit er sich öffentlich äußert: Er gehört zu den wenigen Strafrechtslehrern,
ja Juristen, die gut schreiben können. Eine der Regeln solchen Schreibens verlangt,
sich kurz zu fassen und Weitschweifiges, erst recht Abschweifendes zu vermeiden.
Der Schlussteil eines Textes bietet die Chance, dies in einer Zusammenfassung noch
einmal mit größerem Erfolg zu versuchen als in den voraufgegangenen Abschnitten:
Dieser Beitrag möchte für drei Demokratisierungen des Strafrechts werben. An
erster Stelle steht der Vorschlag, schon in der Kriminalpolitik die Gerechtigkeitsin-
tuitionen der Bürger zu berücksichtigen, die auf dem Gebiet des Strafrechts die Form
von Vergeltungsbedürfnissen haben (oben III. 1.). Wer sie, wie empfohlen, empirisch
ermittelt und zur Grundlage der Kriminalpolitik macht, bewirkt im Ergebnis – nur im
Ergebnis – eine basisdemokratische Grundierung des Strafrechts. Das ließe sich auch
als indirekte direkte Demokratie bezeichnen, da der Einfluss jener Gerechtigkeitsin-
tuitionen ein mittelbarer bliebe. Ähnlich verhält es sich bei einer weiteren hier be-
worbenen Demokratisierung des Strafrechts, und zwar der Definition der Wortlaut-
grenzen des geschriebenen Strafrechts durch empirische, insbesondere korpuslingu-
istische Sprachgebrauchsanalysen (oben III. 2. c)). Auch auf diesem Weg fließen
mittelbar Mehrheitsentscheidungen, hier sprachliche Mehrheitsentscheidungen des
Volkes in die Rechtsschöpfung ein.
Anders hingegen bei der dritten Demokratisierung des Strafrechts, für die ich wer-
ben will, das ist eine konsequentere Ausrichtung der Auslegung am ermittelten oder
mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers (oben III. 2. a), b)). Sie stärkt in der reprä-
sentativen Demokratie, in der wir leben, zwangsläufig einen repräsentativ-demokra-

39
Siehe namentlich seine Stellungnahme für den Rechtsausschuss des Bundestages unter
https://www.bundestag.de/resource/blob/388404/ad20696aca7464874fd19e2dd93933c1/mer
kel-data.pdf (abgerufen am 21. Januar 2020) und sein Interview mit der taz vom 31. Januar
2016 unter https://taz.de/!5267393/ (abgerufen am 21. Januar 2020).
564 Tonio Walter

tischen Gesetzgeber. Spätestens das mag zeigen, dass es mir nicht um einen politi-
schen Paradigmenwechsel geht oder um eine Unterhöhlung der bestehenden Ord-
nung mit rechtswissenschaftlichen Mitteln. Reinhard Merkel widme ich diese Ge-
danken mit zwei großen Wünschen: einem herzlichen Glückwunsch zu seinem Ge-
burtstag und dem Wunsch, dass dieses Datum für das, was er ist, und das, was er
schreibt, ohne Belang bleiben möge. Die Strafrechtswissenschaft und die Kriminal-
politik brauchen ihn!
Strafrecht und Verfassung:
Gibt es einen Anspruch auf Strafgesetze,
Strafverfolgung, Strafverhängung?
Von Kai Ambos*

Als Strafrechtler und Rechtsphilosoph befasst sich Reinhard Merkel nicht zuletzt
mit Themen, die an das Grundsätzliche rühren, so etwa mit der Rechtsstellung von
Embryonen1, mit der ewigen Frage nach dem Wesen der (Schuld-)Strafe2 und derje-
nigen danach, inwieweit der Schutz der Menschenwürde staatliche/hoheitliche Ein-
griffe in Drittrechtssphären zu rechtfertigen vermag3. Ich möchte ihn ehren mit einem
Text zu einer Themenstellung, die Bezüge zu allen drei genannten Problemfeldern
aufweist: Das ius puniendi des Staates lässt sich auf grund- bzw. menschenrechtliche
Gewährleistungen, etwa solche zugunsten des ungeborenen Lebens zurückführen;
derselbe Bezug steht im Raum, wo es um die Folgefrage geht, ob bzw. inwieweit
eine obligatio puniendi existiert. Zum Ende hin werde ich aufzeigen, dass sich An-
sprüche Verletzter auf den staatlichen Einsatz des Strafrechts aus dem Wesen eines
Schuldstrafrechts bzw. seiner durch das Klageerzwingungsverfahren abgesicherten
Genugtuungsfunktion ableiten lassen.

I. Ius puniendi und Verfassung


Der Gedanke einer „axiologische[n] Verknüpfung zwischen Straf- und Staats-
funktion“4, der in der Ansicht Gustav Radbruchs, die Existenz des Staates umfasse
sein Recht, (zu dem Zweck seiner Bewahrung) zu strafen, eine – durchaus autoritä-
re5 – Verdichtung erfahren hat6, findet sich bemerkenswerterweise nicht lediglich im

* Ich danke Herrn apl. Prof. Dr. Peter Rackow für viele weiterführende und kritische
Hinweise und Ergänzungen.
1
Merkel, DriZ 2002, 184; ders. ZfL 2008, 38.
2
Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2. Aufl. 2014; ders., in: Schmidt-Quern-
heim/Sax-Schoppenhorst (Hrsg.), Praxishandbuch forensische Psychiatrie, 3. Aufl. 2018, S. 77.
3
Merkel, in: FS Jakobs, 2007, S. 375 (zur „Rettungsfolter“).
4
Mir Puig, ZStW 95 (1983), 413 (413).
5
Der staatsbezogen autoritär-positivistische Unterton des in der folgenden Fn. wiedergege-
benen Zitats ist im (begrenzenden) Kontexts der Radbruch’schen Vorstellung vom Recht als
Gerechtigkeit zu sehen (vgl. Ambos, Nationalsozialistisches Strafrecht, 2019, S. 83 ff. m.w.N.).
6
Radbruch, Rechtsphilosophie, 1932, zit. nach Studienausgabe (hrsg. v. Dreier/Paulson),
2. Aufl. 2003, S. 151 ff., insbes. S. 152: „Die staatsfremde Rechtfertigung der Strafe gehört …
566 Kai Ambos

Civil-Law-Rechtskreis, sondern klingt bspw. auch in der kanadischen Rechtspre-


chung7, mitunter sogar mit hegelianischem Unterton8, an. Nicht selten wird in diesem
Zusammenhang (insbesondere hierzulande) von den das Strafrecht betreffenden
Kompetenznormen9 darauf geschlossen, dass seine Existenz von Verfassungs
wegen vorausgesetzt sei10. Neben Zuständigkeitsregelungen finden sich diverse wei-

der Vergangenheit an. Der auf den Volkswillen, sei es auf die arithmetische Mehrheit, sei es
auf eine andere Art der ,Integration‘, gegründete Staat ist dem Einzelnen gegenüber nicht
mehr ,ein Anderer‘, ist vielmehr ,wir alle‘. Die Rechtfertigung des so verstandenen Volks-
staates schließt die Berechtigung der zu seiner Erhaltung notwendigen Strafe in sich ein. Die
Lehre vom Grunde der Strafe geht also auf in der Lehre von der Rechtfertigung des Staates
und übrig bleibt nur die Lehre vom Zweck der Strafe, d. h. von der Notwendigkeit der Strafe
für den Staat oder, genauer gesprochen, für den Staat, die Gesellschaft oder die Staatsord-
nung“. Dem folgend Schütz, Strafe und Strafrecht im demokratischen und sozialen Rechts-
staat, 1997, S. 13; Wilfert, Strafe und Strafgesetzgebung im demokratischen Verfassungsstaat,
2017, S. 30.
7
So haben das Judicial Committee of the Privy Council (JCPC) – in seiner Funktion als
oberstes Berufungsgericht für brit. Überseegebiete und Commonwealth-Staaten – und später der
Supreme Court of Canada (SCC) – 1875 gegründet und seit 1933 Berufungsinstanz in Strafsa-
chen – das Strafrecht seinem Wesen nach mit staatlicher Autorität verknüpft (Proprietary Ar-
ticles Trade Ass’n v. A.-G. Can. [1931], 2 DLR, 1 (9) [„Criminal law connotes only the quality of
such acts or omissions as are prohibited under appropriate penal provisions by authority of the
State.“]; R. v. Miller and Cockriell [1975], 63 DLR [3d], 193 (272) [„… undoubted right of the
State to punish infractions of the law …“]. Aus der Lit. vgl. etwa Binder, Univ. of Toronto LJ 63
(2013) 278 (289) (die Bedeutung einer institutionalisierten „punishing authority“ betonend, bei
welcher es sich typischerweise um den Staat handele); ferner Chehtman, Law and Philosophy 29
(2010) 127 (131) („necessary link between a legal system being in force and a particular body
holding the power to punish offenders“). Vor diesem Hintergrund stünde dem Parlament im
strafrechtlichen Bereich eine praktisch uneingeschränkte Gesetzgebungsbefugnis zu, vgl. Pro-
prietary Articles Trade Ass’n v. A.-G. Can. [1931], 2 DLR, 1 (9) unter Bezugnahme auf A.-G.
Ont. v. Hamilton Street Railway [1903], 7 Can. C.C. 326 (Gesetzgebungsbefugnis zum Erlass
von „criminal law in its widest sense“, insbesondere „to make new crimes“); Goodyear Tire &
Rubber Co. of Canada Ltd. et al. v. R. [1956], SCR 303 (308) (Gesetzgebungsbefugnis „for the
prevention of crime as well as punishing crime“); R. v. Smith [1987], 1 S.C.R. 1045 (1070) („…
broad discretion in proscribing conduct as criminal and in determining proper punishment“). Die
zitierte Rspr. ist verfügbar auf der Webseite des Canadian Legal Information Institute: https://
www.canlii.org/en/.
8
In Sauvé wird das ius puniendi auf das Menschsein bzw. die Staatsbürgereigenschaft des
Beschuldigten und die aus deren Anerkennung folgenden Pflichten zurückgeführt (Sauvé v.
Canada [Chief Electoral Officer] [2002], 3 S.C.R. 519, para. 47: „… right of the state to
punish and the obligation of the criminal to accept punishment is tied to society’s acceptance
of the criminal as a person with rights and responsibilities“). In diesem Sinne auch Duff, in:
Besson/Tasioulas (Hrsg.), The Philosophy of International Law, 2010, S. 589 (595): Verant-
wortlichkeit gegenüber der Gesellschaft/dem Gemeinwesen für „,public‘ wrongs“.
9
Vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG oder bspw. Section 91 no. 27 der kanadischen Verfassung.
10
Sax, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 3, Hbd. 2,
Rechtspflege und Grundrechtsschutz, 1959, S. 954 („geht davon als selbstverständlich
aus …“); Schütz (Fn. 6), S. 13; Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, 1998, S. 82
(„Grundgesetz setzt … das Strafrecht als existierend voraus“); auf derselben Linie Wilfert (Fn.
6), S. 31; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 1 („Bestehen eines
staatlichen Bestrafungsrechts vorausgesetzt“); vgl. auch Klose, ZStW 86 (1974), 33 (55 ff.),
Strafrecht und Verfassung 567

tere Verfassungsvorschriften11, die das Strafrecht erwähnen bzw. sich auf dieses be-
ziehen und es damit in Rechnung zu stellen scheinen, ohne ihm freilich – so wenig
wie die Kompetenznormen – ein materielles verfassungsrechtliches Fundament zu
verschaffen12, aus dem sich (Sach-)Grund und Grenzen eines staatlichen Rechts
(bzw. eventuell sogar einer Pflicht), für bestimmtes Verhalten Strafe vorzusehen,
diesbezügliche Taten zu ermitteln und Strafe zu verhängen, ersehen ließe13. Im Ge-
samtbild stellt sich daher, wenn man sich nicht im Radbruch’schen Sinne damit zu-
frieden gibt, dass sich (zumindest) das ius puniendi des (demokratisch legitimierten)
Staates letztlich „von selbst versteht“14, (nach wie vor) die Frage einer der (explizi-
ten) Verfassungsebene vor- bzw. eingelagerten Basis des staatlichen ius puniendi15
(bzw. gar einer obligatio puniendi).

II. Abwehrrechte und (strafrechtliche) Schutzpflichten? –


Die „Schild-Schwert-Dichotomie“
1. Das BVerfG und der verfassungsrechtliche Rahmen
des Schwangerschaftsabbruchs

So naheliegend es nun an dieser Stelle auch erscheinen mag, strafrechtliche


Schutzrechte bzw. sogar -pflichten des Staates – auf der Linie der Rechtsprechung
des BVerfG zum Schwangerschaftsabbruch16 – aus verfassungsrechtlich verankerten

der in Art. 74 Nr. 1 GG [a.F.] eine Norm mit lediglich „formale[m] Kompetenzregelungs-
charakter“ erblickt (59), resümiert, dass nach wie vor das „ius puniendi … als ein ,eminentes‘,
vorgegebenes, autonomes Staats-Recht, das sich angeblich von selbst versteht und keiner
weiteren Rechtfertigung bedarf, als Hoheitsrecht des Staates, dem bei Lichte betrachtet noch
manches vom Untertanenstaat anhaftet“, in Geltung ist (67) und (ebd.) auf die Ersetzung des
Strafrechts durch „ein erfolgreicheres, humaneres Maßnahmenrecht“ hofft. Aus der kanadi-
schen Literatur etwa Bryant, Canadian Encyclopedic Digest, Constitutional Law VIII.9.[e],
§§ 266 ff. mit Schwerpunktsetzung auf der Abgrenzung von Bundes- und Provinzkompeten-
zen; Funston/Meehan, Canada’s Constitutional Law in a nutshell, 4. Aufl. 2013, S. 88 ff. (das
Parlament könne Strafrecht schaffen „as it sees fit“ [89]).
11
Vgl. etwa Art. 9 Abs. 2; 46 Abs. 2; 102; 103 Abs. 2; 103 Abs. 3 GG.
12
Deutlich und überzeugend Klose, ZStW 86 (1974), 33 (60). Die in der deutschen Ver-
fassung vorgesehene Pflicht zur Pönalisierung des Angriffskrieges (Art. 26 GG) bildet inso-
weit eine Ausnahme, die sich bekanntlich vor ihrem historischen Hintergrund erklärt (so auch
Stächelin [Fn. 10], S. 83).
13
Vgl. Stächelin (Fn. 10), S. 82: „Das Grundgesetz benennt kein ius puniendi des Staates
und folglich auch keine expliziten Grenzen desselben“.
14
Vgl. erneut Klose, ZStW 86 (1974), 33 (67).
15
Sax, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (o. Fn. 10), S. 955 meint freilich, dass eine
solche i.S.e. „Grundprinzips“, das Strafe „unangesehen ihrer zeitbedingten Bezüge zum ein-
zelnen und zur Gemeinschaft“ gar nicht existiert und will letztlich (957) analog der Notwehr
(„Verbrechen als Angriff“) die Strafe als „Sozialverteidigung“ erklären.
16
BVerfGE 39, 1 = NJW 1975, 573 (573), Leitsatz a): „Das sich im Mutterleib entwi-
ckelnde Leben steht als selbständiges Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung (Art. 2 II 1,
568 Kai Ambos

(gewichtigen) Individual-/Grundrechten17 abzuleiten18, wirft dieser Ansatz bei nähe-


rer Betrachtung doch nach wie vor nicht abschließend gelöste Probleme auf: Bereits
unsicher ist es, an welche Gewährleistungen sich entsprechende Schutzpflichten an-
schließen sollen. Eine diesbezügliche Klärung, die über die Aussage hinausführt,
dass eine strafrechtliche Schutzpflicht umso eher in Betracht kommt, je gewichtiger
das fragliche verfassungsrechtlich gewährleistete (und damit durch den Staat zu
schützende) Recht bzw. Rechtsgut ist19, ist nicht ersichtlich; die Unsicherheit ver-
stärkt sich, wenn Schutzpflichten aus der unscharfen Menschenwürdegarantie20 ge-
folgert werden sollen21. Hinzu kommt, dass das BVerfG selbst – schon in seiner ersten
Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch – erklärt hat, dass der Rückgriff auf das
Strafrecht lediglich eine von verschiedenen Optionen des Staates bilde, um einer et-
waigen Schutzpflicht gerecht zu werden.22 So ist es eine gesetzgeberische Entschei-
dung, welche konkreten Schutzmaßnahmen geboten seien23, und insbesondere ob

Art. 1 I GG). Die Schutzpflicht des Staates verbietet nicht nur unmittelbare staatliche Eingriffe
in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd
vor dieses Leben zu stellen.“; NJW 1993, 1751 (1751), Leitsatz 6: „Der Staat muß zur Er-
füllung seiner Schutzpflicht ausreichende Maßnahmen normativer und tatsächlicher Art er-
greifen, die dazu führen, daß ein – unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter –
angemessener und als solcher wirksamer Schutz erreicht wird (Untermaßverbot). Dazu bedarf
es eines Schutzkonzepts, das Elemente des präventiven wie des repressiven Schutzes mitein-
ander verbindet.“; detaillierter noch auf, S. 1755 ff.
17
Der Problematik der überindividuelle Rechtsgüter schützenden Strafgesetze kann im
gegebenen Rahmen nicht nachgegangen werden. Vgl. bspw. zur Legitimation des Staats-
schutzstrafrechts Wilfert (Fn. 6), S. 185 ff.
18
Letztlich bedürfen Rechte eines Schutzes, um volle Effektivität und Wirksamkeit, um
also soziale Relevanz zu entfalten (in den Worten des SCC: um „meaningful“ zu sein, Dun-
more v. Ontario [Attorney General] [2001], 3 S.C.R. 1016 [1043]).
19
Vgl. nur BVerfG NJW 1975, 573 (575) („Die Schutzverpflichtung des Staates muß um
so ernster genommen werden, je höher der Rang des in Frage stehenden Rechtsgutes innerhalb
der Wertordnung des Grundgesetzes anzusetzen ist.“).
20
Dass sich ein supranationales ius puniendi prinzipiell auf die Vorstellung universeller
Menschenrechte im Sinne des kantischen Menschenwürdeverständnisses stützen lässt (vgl.
Ambos, Oxf.J.L.S. 33 [2013], 293 [304 ff.]), ändert nichts an der gegebenen Trennschärfe-
problematik.
21
Zur Ableitung konkreter Schutzpflichten unter Bezugnahme auf Art. 2 Abs. 2 i.V.m.
Art. 1 Abs. 1 GG mit Blick auf Gewaltverbrechen und vergleichbare Straftaten gegen die
körperliche Integrität, die Freiheit und sexuelle Selbstbestimmung vgl. BVerfG, Beschl. v.
26. 06. 2014 – 2 BvR 2699/10, Rn. 8 u. 10; BVerfG StV 2015, 203 (204); JZ 2015, 890 (891);
ferner BVerfG NStZ-RR 2015, 347 (348).
22
BVerfG NJW 1975, 573 (573), Leitsatz d) („Der Gesetzgeber kann die grundgesetzlich
gebotene rechtliche Mißbilligung des Schwangerschaftsabbruchs auch auf andere Weise zum
Ausdruck bringen als mit dem Mittel der Strafdrohung.“).
23
BVerfG NJW 1975, 573 (576) („Wie der Staat seine Verpflichtung zu einem effektiven
Schutz des sich entwickelnden Lebens erfüllt, ist in erster Linie vom Gesetzgeber zu ent-
scheiden. Er befindet darüber, welche Schutzmaßnahmen er für zweckdienlich und geboten
hält, um einen wirksamen Lebensschutz zu gewährleisten.“); auf derselben Linie BVerfG
NJW 1993, 1751 (1754) („Art und Umfang des Schutzes im einzelnen zu bestimmen, ist
Strafrecht und Verfassung 569

Rechtsgüterschutz mit dem Mittel des Straf- oder Ordnungswidrigkeitenrechts zu be-


treiben ist24.
Aus grundsätzlicher Sicht ist zu konstatieren, dass die Vorstellung verfassungs-
rechtlich begründeter Pflichten des Staates zum strafrechtlichen Rechtsgüterschutz
das klassische liberale Verständnis der Verfassungsgewährleistungen als Abwehr-
rechte des Einzelnen gegenüber staatlichen Eingriffen erkennbar auf den Kopf stellt.
Deutlich ausgesprochen im Minderheitsvotum zur ersten Abtreibungsentschei-
dung25, findet sich der diesbezügliche prinzipielle Zweifel noch wesentlich stärker
im anglo-amerikanischen Verfassungsrechtsdiskurs26, was sich mit unterschiedli-
chen Verfassungstraditionen erklären lassen dürfte27. Das insoweit im Raum stehen-

Aufgabe des Gesetzgebers. Die Verfassung gibt den Schutz als Ziel vor, nicht aber seine
Ausgestaltung im einzelnen.“).
24
Vgl. die Entscheidung zum EGOWiG von 1968 BVerfGE 27, 18, (29 f.), in der das Gericht
erklärt: „die exakte Grenzlinie zwischen dem Kernbereich des Strafrechts und dem Bereich der
bloßen Ordnungswidrigkeiten […] unter Berücksichtigung der jeweiligen konkreten historischen
Situation im einzelnen verbindlich festzulegen, ist Sache des Gesetzgebers.“
25
Abw. M. der Richter Rupp-v. Brünneck und Simon (NJW 1975, 573 [581 f.]: „verkehrt
die Funktion der Grundrechte in ihr Gegenteil“). Auf derselben Linie Schütz (Fn. 6), S. 62.
26
Charakteristisch etwa die Entscheidung des US-amerikanischen Supreme Courts in
DeShaney v. Winnebago County Department of Social Services, U.S. 489 (1989), 189 (195)
(„nothing in the language of the Due Process Clause itself requires the State to protect the life,
liberty, and property of its citizens against invasion by private actors“). Hierzu Grimm, in:
Nolte (Hrsg.), European and US Constitutionalism, 2005, S. 137 (138 ff.). Eine vorsichtige
Öffnung gegenüber der Schutzpflichtidee weist dagegen bemerkenswerterweise die Rspr. des
SCC zur kanadischen Charta der Rechte und Freiheiten auf: vgl. Delisle v. Canada, [1999] 2
S.C.R. 989 (991) („The fundamental freedoms protected by s. 2 of the Charter do not impose a
positive obligation of protection or inclusion on Parliament or the government, except perhaps
in exceptional circumstances which are not at issue here.“); des Weiteren Dunmore v. Ontario
(Attorney General) [2001], 3 S.C.R. 1016 (1018) („Ordinarily, the Charter does not oblige the
state to take affirmative action to safeguard or facilitate the exercise of fundamental freedoms.
There is no constitutional right to protective legislation per se. However, history has shown
and Canada’s legislatures have recognized that a posture of government restraint in the area of
labour relations will expose most workers not only to a range of unfair labour practices, but
potentially to legal liability under common law inhibitions on combinations and restraints of
trade. In order to make the freedom to organize meaningful, in this very particular context,
s. 2(d) of the Charter may impose a positive obligation on the state to extend protective
legislation to unprotected groups.“). Die beiden Entscheidungen sollten in ihrer Bedeutung
freilich auch nicht überschätzt werden, zumal der Supreme Court den Ausnahmecharakter
einer Schutzpflicht („except perhaps in exceptional circumstances“) bzw. die Besonderheiten
des die Vereinigungsfreiheit betreffenden Dunmore-Falles betont hat („very particular con-
text“). Eingehend (vor dem Hintergrund der BVerfG-Rspr.) zur kan. Rechtslage bzw. Rspr.
MacDonnell/Hughes, Osgoode Hall L.J. 50 (2013), 999 (1022 ff.), die das Bestehen von
Schutzpflichten de lege lata für möglich halten („it might be argued that the state is consti-
tutionally obligated to identify threats to Charter-protected interests posed by private actors
and to address those threats in some way, whether by criminal prohibition, regulation, or
administrative action“). Vgl. auch Weinrib, Nat’l J.Const.L. 17 (2005), 325 ff. (Schutz-
pflichtableitung aus Menschenwürde).
27
Instrukt. Grimm, in: Nolte (Fn. 26), S. 137 (139 f.) zu dem Bedürfnis der amerikanischen
Kolonien der englischen Krone nach Freiheitsräumen gegenüber (englischen) Parlamentsgeset-
570 Kai Ambos

de „Schild-Schwert-Dilemma“28 lässt sich bei alldem auf die Frage zuspitzen, wes-
halb objektive Wertentscheidungen des (Verfassungs-)Gesetzgebers29 die Beschnei-
dung subjektiver Rechte rechtfertigen können sollen, etwa des Rechts auf Freiheit
des Verurteilten (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) im Falle der Verhängung von Freiheitsstrafe.
Trotz dieser Bedenken hat das BVerfG bekanntlich durchaus Zustimmung darin
erfahren, dass der Gesetzgeber von Verfassungs wegen zumindest in denjenigen Fäl-
len auf das Mittel der Kriminalisierung verwiesen sei, in denen andere geeignete bzw.
angemessene Mittel zum (Rechtsgüter-)Schutz fehlen, sodass das Strafrecht unter
Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und des Ultima-ratio-Gedan-
kens als einzige Option verbleibt30, soll nicht unter Verstoß gegen das Untermaßver-
bot der (verfassungsrechtlich) gebotene Minimalschutzstandart verfehlt werden31.
Betont wird dabei in der Literatur indes die Ablehnung aus dem Grundgesetz abge-
leiteter genereller Kriminalisierungspflichten32 (diesseits der Fälle der Untermaßver-
botsverletzung33) sowie zudem das Gebotensein eines weiten gesetzgeberischen Er-
messens34.

zen (140: „To fulfill this function negative rights were sufficient“) und dazu, dass die Verfas-
sungen der deutschen Partikularstaaten des 19. Jahrhunderts den Untertanen im Sinne eines
politischen Entgegenkommens der Monarchen Bürgerrechte gewährten (141 f., 143: „mere ex-
pression of political intent“). Krieger, in: Nolte (Fn. 26), S. 181 (192 f.) verweist auf den unter-
schiedlich stark ausgeprägten Sozialstaatsgedanken. Ganz auf der angelsächsischen Linie indes
der österr. VfGH Slg. Nr. 7400/1974, 221 (224) mit dem Hinweis, „daß der Grundrechtekatalog
des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867, RGBl. Nr. 142, über die allgemeinen Rechte
der Staatsbürger … von der klassischen liberalen Vorstellung getragen ist, dem Einzelnen Schutz
gegenüber Akten der Staatsgewalt zu gewähren“. Hierzu vgl. Grimm a.a.O.
28
Der Begriff Schild-Schwert-Dichotomie wird Judge Christine van den Wyngaert zuge-
schrieben, vgl. Tulkens, JICJ 9 (2011), 577 (577). Van den Wyngaert bestätigte dem Autor per
E-Mail v. 24. 8. 2018, dass sie die Dichotomie „in a presentation at Louvain on the occasion of
the Journees Jean Dabin in … 1982“ entwickelt hat.
29
Vgl. BVerfG NJW 1975, 573 (577) („wertentscheidende Grundsatznorm“); insoweit
abweichend Rupp-v. Brünneck u. Simon, NJW 1975, 573 (582).
30
BVerfG NJW 1975, 573 (573), Leitsatz d) („Im äußersten Falle, wenn der von der
Verfassung gebotene Schutz auf keine andere Weise erreicht werden kann, ist der Gesetzgeber
verpflichtet, zur Sicherung des sich entwickelnden Lebens das Mittel des Strafrechts einzu-
setzen.“); vgl. auch S. 576 f.
31
BVerfG NJW 1993, 1751 (1751), Leitsatz 8 („Das Untermaßverbot läßt es nicht zu, auf
den Einsatz auch des Strafrechts und die davon ausgehende Schutzwirkung für das mensch-
liche Leben frei zu verzichten.“), vgl. auch S. 1754.
32
So streicht Appel,Verfassung und Strafe, 1998, S. 68 heraus, dass das BVerfG keine
„Aussagen darüber, daß der ,grundgesetzlichen Wertordnung‘ Gemeinschaftsbelange ent-
nommen werden könnten, die per se ,strafschutzwürdig‘ sind“, getroffen habe; anders insoweit
freilich Vogel, StV 1996, 110 (111 f.) („Zweifellos strafschutzwürdige … Gemeinschaftsbe-
lange sind solche, die Teil der grundgesetzlichen Wertordnung selbst sind.“); vgl. ferner
Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 445 f.; Stächelin (Fn. 10),
S. 82 f; Schütz (Fn. 6), S. 62.
33
Eingehend zum Untermaßverbot Lagodny (Fn. 32), S. 254 ff., dabei S. 262 ff. zu den
Kriterien unter dem Aspekt des Untermaßverbots „zwingende[r] Verhaltensvorschriften“; vgl.
auch Appel (Fn. 32), S. 72; Wilfert (Fn. 6), S. 33.
Strafrecht und Verfassung 571

2. Die Schärfung des Schwertes

Neben der durch die BVerfG-Rechtsprechung zum Schwangerschaftsabbruch


vorgespurten Linie existierten weitere (neuere) Ansätze35, die eine Kriminalisie-
rungspflicht bzw. ihre prozeduralen Spiegelungen – Pflichten also, zu ermitteln
und abzuurteilen – aus der Verfassung ableiten wollen. Gemeinsamer Nenner ist
dabei, dass weniger der pflichtige Staat als vielmehr das (Straftat-)Opfer, welches
ein Recht auf effektiven staatlichen Schutz gegenüber (schwerwiegenden) Rechts-
gutsverletzungen bzw. auf (Wieder-)Herstellung seines Vertrauens in die normative
Ordnung habe36, ins Zentrum der Überlegungen zu stellen ist. Nicht mehr geht es in-
folgedessen (nur) um das Schild-Schwert-Dilemma, sondern, um im Bild zu bleiben,
darum, ob das Schwert nun auch noch dadurch geschärft werden soll, dass man An-
sprüche des Einzelnen gegenüber dem Staat auf Strafrechtsanwendung entstehen
lässt. Unterschiedliche Akzentuierungen finden sich dann hinsichtlich der konkreten
verfassungsrechtlichen Radizierung derartiger Opferrechte (bzw. der mit diesen kor-
respondierenden staatlichen Pflichten).
Während Weigend Ermittlungs- und Strafpflichten und diesen entsprechende
Opferrechte im (aus der allgemeinen Handlungsfreiheit [Art. 2 Abs. 1 GG] und
der Menschenwürde [Art. 1 Abs. 1 GG] abzuleitenden) allgemeinen Persönlich-
keitsrecht des Straftatopfers verankern möchte37, operiert Holz im Rahmen eines
mehrstufigen Argumentationsgangs mit einer umfassend (objektiv-subjektiv) ge-
dachten staatlichen Sicherheitsgewährungspflicht, welcher Opferrechte auf Krimi-
nalisierung und Strafverfolgung korrespondieren sollen38. Last but not least, wählt
Hörnle einen straftheoretisch unterlegten „vergangenheitsorientiert-norma-
tiv[en]“ Ansatz, der das „,berechtigte[]‘ Genugtuungsinteresse“ des Opfers in
den Mittelpunkt rückt, um dann für den weiteren Schritt hin zu einer entsprechen-
den „verfassungsrechtliche[n] Pflicht des Staates“ und (weiter noch) zu einem
„subjektiven Recht[] auf effektive Strafverfolgung“ im Wesentlichen auf Holz
und Weigend zu verweisen39.

34
Appel (Fn. 32), S. 70 ff.; Lagodny (Fn. 32), S. 257 ff., 417, 446, 448 (wo zutreffend
betont wird, dass der Gesetzgeber nur zur „Herbeiführung eines bestimmten Schutzerfolgs“
verpflichtet ist, sich hierzu also der Mittel bedienen darf, die er für sachgerecht erachtet),
prägnant dann S. 541 („Das Verfassungsrecht verweist das Strafrecht letztlich also wieder
dorthin, wo Gesetze gemacht werden: in die gesellschaftliche Diskussion, die im Parlament
entschieden wird.“). Vgl. schließlich auch Wilfert (Fn. 6), S. 33 f.
35
Holz, Justizgewährungsanspruch des Verbrechensopfers, 2007, S. 52 ff., 200 ff.; Wei-
gend, RW 2010, 39 (50 ff.); Hörnle, JZ 2015, 893 (895 f.).
36
Zur Schutzfunktion von Opferrechten auch schon Lagodny (Fn. 32), S. 420, 448 ff.
37
Weigend, RW 2010, 39 (50 ff.).
38
Holz (Fn. 35), S. 54 ff., 61, 97 ff., 109 ff., 217 f., 221 f. Holz weist die h.M., die den
Justizgewähranspruch im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) verankert sieht, zurück, vgl.
S. 53 ff., 61, m.w.N.
39
Hörnle, JZ 2015, 893 (895 f.).
572 Kai Ambos

Betrachtet man nun deren Modelle genauer, so ergibt sich das folgende Bild: Wei-
gend erblickt dort eine Persönlichkeitsrechtsverletzung und, wichtiger noch, eine
Verletzung der Menschenwürde, wo der Staat das Opfer einer (schweren) Straftat al-
leinlässt, wo also Staatsorgane nicht ermitteln bzw. sich gegenüber dem Schicksal
des Opfers desinteressiert zeigen40. Von einer schweren Straftat betroffen zu sein,
könne „Teil der Persönlichkeit“ des Opfers werden41. Wo dies nun geschehen ist,
liege eine Menschenwürdeverletzung vor, wenn die Behörden dem „Opferstatus“
der betreffenden Person nicht dadurch Rechnung tragen, dass sie diese „mit der ge-
bührenden Achtung behandel[n]“. Dies bedeute, dass, worauf dem Opfer ein Recht
zustehe, die staatlichen Organe den Fall ernst nehmen und sachangemessen ermitteln
müssen. Zwar betreffe dann die Frage, ob gegen einen bestimmten Beschuldigten
Anklage zu erheben ist, „nicht mehr die persönliche Rechtsstellung des Opfers“, je-
doch habe dieses, kommt es zur Feststellung der Schuld des Angeklagten, einen An-
spruch auf „unrechtsangemessene Sanktionierung des Täters“42. Eine unrechtsunan-
gemessene Sanktionierung stelle nämlich (vor dem Hintergrund des Opferstatus)
eine grundrechtsrelevante „Missachtung der Person“ dar, wenn „das Urteil – aus-
nahmsweise – durch Tenor und Begründung eine Geringschätzung des Opfers deut-
lich macht“43.
Holz wiederum entwickelt seinen Ansatz, wie erwähnt, in mehreren Einzelschrit-
ten. Zunächst macht er sich den Schutzpflichtengedanken44 unter Akzentsetzung auf
eine (die Basis staatlicher Legitimität45 bildende) Staatspflicht, die öffentliche Si-
cherheit zu gewährleisten, zu eigen. Dieser Pflicht, den Bürgern (objektiv) Sicherheit
zu gewährleisten, korrespondiere eine staatliche Pflicht, die subjektive Sicherheit,
also das (subjektive) Sicherheitsgefühl der Bürger, zu schützen46. Diese umfassende
(auf Objektives wie Subjektives) gerichtete Sicherheitsgewährpflicht des Staates
zöge sodann eine staatliche Pflicht nach sich, (jedenfalls in einem gewissen Um-
fang47) rechtsverletzendes Verhalten zu kriminalisieren48, mit welcher wiederum

40
Weigend, RW 2010, 29 (51) („dass die Würde eines Menschen verletzt sein kann, wenn
ihm, nachdem er Opfer einer schweren Straftat geworden ist, von staatlichen Organen ohne
nähere Untersuchung bedeutet wird, dieser Vorgang interessiere niemanden, er habe sich
seinen Schaden allein selbst zuzuschreiben oder er sei der eigentlich Schuldige“).
41
Weigend, RW 2010, 29 (52).
42
Weigend, RW 2010, 29 (52 f.).
43
Weigend, RW 2010, 29 (53).
44
Holz (Fn. 35), S. 61 ff., insbes. S. 62 f. („Verfassungsrechtlich verhakt ist die staatliche
Pflicht zur Sicherheitsgewähr in den Freiheitsgrundrechten.“) u. ebd. Fn. 55.
45
Holz (Fn. 35), S. 63 („als Kehrseite zum Gewaltmonopol [hat] fortan der Staat für Si-
cherheit zu sorgen“).
46
Holz (Fn. 35), S. 64 ff., 79. Für Holz folgt dies aus der Janusköpfigkeit des Begriffs der
Sicherheit (70 ff.).
47
Holz (Fn. 35), S. 92.
48
Holz (Fn. 35), S. 80 ff. u. 88 ff.
Strafrecht und Verfassung 573

ein subjektives (Bürger-)Recht auf entsprechende Strafgesetze korrespondiere49. Der


(umfassende) „Anspruch auf strafrechtliche Sicherheitsgewährleistung“50 werde
dann einfachrechtlich durch die jeweils einschlägige individualrechtsgutsschützende
Strafnorm konkretisiert51, welche wiederum dem „realen Verletzten … ein subjekti-
ves öffentliches Recht auf Restitution dieser Norm in Form des Ausspruchs eines so-
zialethischen Unwerturteils zu[ge]steht“52 ; die Möglichkeit, dass dieses Recht im
konkreten Fall verletzt ist, aktiviere schlussendlich den Justizgewähranspruch des
Art. 19 Abs. 4 GG53. Sozusagen hinter dem subjektiven öffentlichen Recht auf Ge-
nugtuung sieht Holz bei alldem ein (Opfer-)„Interesse an der Restitution seines
Normvertrauens“54.
Eine Verwandtschaft weisen diese Überlegungen mit mehreren neueren (Kam-
mer-)Entscheidungen des BVerfG auf, welche zwar (nach wie vor) davon ausgehen,
dass grundsätzlich kein Recht auf Strafverfolgung besteht55, dann jedoch erklären,
ein solches könne (ausnahmsweise) in Fällen sowohl schwerwiegender Straftaten
gegen das Leben, die körperliche Integrität, die sexuelle Selbstbestimmung und
die Freiheit als auch solchen, die von Amtsträgern begangen werden oder sich
gegen im Freiheitsentzug befindliche Opfer richten, gegeben sein56. Bemerkenswert
ist insoweit die mehrfache Bekräftigung eines „Anspruchs [!] auf effektive Strafver-
folgung“, nämlich:
„… dort, wo der Einzelne nicht in der Lage ist, erhebliche Straftaten gegen seine höchstper-
sönlichen Rechtsgüter – Leben, körperliche Unversehrtheit, sexuelle Selbstbestimmung und
Freiheit der Person – abzuwehren und ein Verzicht auf die effektive Verfolgung solcher
Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und einem all-
gemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt führen kann. In solchen Fällen kann, ge-
stützt auf Art. 2 Abs. 2 Sätze 1 und 2 i.V. mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, ein Tätigwerden des
Staates und seiner Organe auch mit den Mitteln des Strafrechts verlangt werden.“57

49
Holz (Fn. 35), S. 92 ff.
50
Holz (Fn. 35), S. 97.
51
Holz (Fn. 35), S. 109, 109 ff.
52
Holz (Fn. 35), S. 204.
53
Holz (Fn. 35), S. 109, 109 ff., insbes. 114 ff.
54
Holz (Fn. 35), S. 135.
55
BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 2014 – 2 BvR 2699/10, Rn. 8; BVerfG StV 2015, 203 (203 f.);
JZ 2015, 890 (891); NStZ-RR 2015, 347 (348).
56
BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 2014 – 2 BvR 2699/10, Rn. 8; BVerfG StV 2015, 203 (204); JZ
2015, 890 (891); NStZ-RR 2015, 347 (348).
57
BVerfG JZ 2015, 890 (891); zuvor bereits auf dieser Linie BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 2014
– 2 BvR 2699/10, Rn. 10; BVerfG StV 2015, 203 (204); NStZ-RR 2015, 347 (348), die
sämtlich hinzufügen, dass ein solches Recht (bei Kapitaldelikten) gem. Art. 6 Abs. 1 i.V.m.
Art. 2 Abs. 2 S. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG auch durch enge Verwandte ausgeübt werden kann.
Krit. insoweit Sachs, JuS 2015, 376 (378) eine tragfähige Begründung vermissend. Von In-
teresse ist, dass BVerfG EuGRZ 2010, 145 (147) über den Bezug auf ein „allgemeine[s] Klima
der Rechtsunsicherheit und Gewalt“ hinaus mit der Situation einer „im Einzelfall zu einer
Gefahrenlage für Leben und Gesundheit“ führenden Lage argumentiert hat.
574 Kai Ambos

Ein solcher kann sich ferner ergeben:


„… aus einer spezifischen Fürsorge- und Obhutspflicht des Staates gegenüber Personen …,
die ihm anvertraut sind. Vor allem in strukturell asymmetrischen Rechtsverhältnissen, die
den Verletzten nur eingeschränkte Möglichkeiten lassen, sich gegen strafrechtlich relevante
Übergriffe in ihre Rechtsgüter aus Art. 2 Abs. 2 GG zu wehren (z. B. im Maßregel- oder
Strafvollzug), obliegt den Strafverfolgungsbehörden eine besondere Sorgfaltspflicht bei
der Durchführung von Ermittlungen und der Bewertung der gefundenen Ergebnisse“58.
„… Ein Anspruch … kommt ferner in Fällen in Betracht, in denen der Vorwurf im Raum
steht, dass Amtsträger bei Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben Straftaten begangen
haben. Ein Verzicht auf eine effektive Verfolgung solcher Taten kann zu einer Erschütterung
des Vertrauens in die Integrität staatlichen Handelns führen. Daher muss bereits der An-
schein vermieden werden, dass gegen Amtswalter des Staates weniger effektiv ermittelt
wird oder dass insoweit erhöhte Anforderungen an eine Anklageerhebung gestellt wer-
den.“59

Ich werde mich mit dieser Rspr. im Rahmen der Entwicklung meines Standpunkts
(u. III.) kritisch auseinandersetzen. Zustimmung verdient das BVerfG jedenfalls
darin, dass zumindest kein subjektives Recht auf bestimmte Ermittlungsmaßnahmen
anzuerkennen ist. Die Vorstellung, dass Straftatopfer (bzw. im Falle von Tötungsde-
likten deren Angehörige) bspw. einen Anspruch auf Verhängung von Untersuchungs-
haft gegen einen Beschuldigten (gerichtlich) durchsetzen können, fügt sich bei aller
Aufwertung, die der Verletzte/das Opfer erfahren hat60, offensichtlich nicht in das
Verfahrensmodell der StPO ein.61 Anderseits ergibt sich – ganz im Holz’schen
Sinne – aus Art. 19 Abs. 4 GG,62 dass ein Recht auf effektive Strafermittlung/-ver-
folgung gerichtlicher Kontrolle unterliegen muss63.

58
BVerfG JZ 2015, 890 (891 f.); NStZ-RR 2015, 347 (348); StV 2015, 203 (204): zuvor
schon BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 2014 – 2 BvR 2699/10, Rn. 12.
59
BVerfG JZ 2015, 890 (892). Bereits zuvor auf dieser Linie BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 2014
– 2 BvR 2699/10, Rn. 11; BVerfG StV 2015, 203 (204); auch BVerfG NStZ-RR 2015, 347
(348).
60
Vgl. etwa Weigend, RW 2010, 39 (39 ff. m.w.N.).
61
I. E. zutreffend insoweit auch Hörnle, JZ 2015, 893 (894), wobei deren Hinweis auf die
fehlende „emotionale Distanz“ potenzieller Anspruchsinhaber problematisch erscheint, da
sich eine emotionale Aufgewühltheit bzw. ggf. (zudem) eine fehlende Sachkunde auch i.R. des
de lege lata vorgesehenen Klageerzwingungsverfahrens auswirkt, welches darauf ausgerichtet
ist, die Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung zu verpflichten (vgl. § 175 StPO), so dass
sich zudem (entgegen Hörnle a.a.O.) durchaus über die Existenz eines Rechts auf Anklage-
erhebung diskutieren lässt (vgl. u. Haupttext zu Fn. 118 ff.).
62
Interessanterweise existiert in Form von s. 24(1) der Charter ein funktional entspre-
chendes Recht auch in Kanada. Werden Charter-Rechte kan. Bürger im Ausland verletzt, etwa
in Form einer unrechtmäßigen Freiheitsentziehung oder inhumaner Behandlung durch einen
anderen Staat, so obliegt es – infolge des Justizgewähranspruchs nach s. 24(1) of the Charter
(vgl. Canada [Prime Minister] v. Khadr [2010], 1 S.C.R. 44, (47)) – dem kan. Staat, seinen
Bürger aktiv zu schützen (vgl. Khadr v. Canada [Prime Minister] [2009], FC (Federal Court)
405, paras. 50 ff. [64: „Canada had a duty to protect Mr. Khadr from being subjected to any
torture or other cruel, inhuman or degrading treatment or punishment, from being unlawfully
detained, and from being locked up for a duration exceeding the shortest appropriate period of
Strafrecht und Verfassung 575

3. Ius und obligatio puniendi: Ansprüche auf strafrechtlichen Schutz


und die Menschenrechte

Die Ableitung von Kriminalisierungs-, Ermittlungs-, Strafverfolgungs- und Be-


strafungspflichten (bzw. entsprechenden subjektiven Rechten) aus verfassungsrecht-
lich verankerten opferbezogenen Rechtsgewährungen stößt auf Parallelen in der
Menschenrechtsrechtsprechung.
Zwar enthalten die einschlägigen Menschenrechtskonventionen, also der Interna-
tionale Pakt für bürgerliche und politische Rechte vom 16. Dezember 1966
(IPbPR)64, die Amerikanische Konvention zum Schutz der Menschenrechte vom
22. November 1969 (AMRK)65 sowie die Europäische Konvention zum Schutz
der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (EMRK)66, nicht
anders als nationale Verfassungen, keine ausdrücklich auf Kriminalisierung etc. aus-
gerichteten Normen, doch haben der Interamerikanische Gerichtshof für Menschen-
rechte (IAGMR), der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und der
UN-Menschenrechtsausschuss (Human Rights Committee – HRC) entsprechende
Pflichten in die „ensure“- und „right-to-remedy“-Klauseln der jeweiligen Konventio-
nen bzw. auch in deren Fair-Trial-Regelungen hineingelesen67; zudem werden
Schutzpflichten bisweilen auch von den Menschenrechtsgewährleistungen selbst ab-
geleitet68. Auch die (Menschenrechts-)Rechtsprechung hat sich insoweit von der
Schild- kontinuierlich zur Schwertfunktion fortentwickelt69, was – wie schon im Zu-
sammenhang mit dem nationalen Verfassungsrecht zu den Grundrechten ange-
merkt – die herkömmliche Abwehrfunktion der Menschenrechte auf den Kopf stellt:
Menschenrechte begrenzen nicht mehr das ius puniendi, sondern sollen stattdessen

time.“], 71 ff. [Schutzpflicht als „principle of fundamental justice“]). Hierzu (unter besonderer
Berücksichtigung des Völkerrechts) Orange, Nat.’l J.Const.L. 28 (2011), 207 (208 u. 232: „the
courts should acknowledge that a new model of ,sovereignity as responsibility provides a
constitutional obligation for states to act to protect individuals‘“); zurückhaltender noch
Forcese, U.N.B.L.J. 57 (2007) 102 (112 ff.) mit der Einschätzung, dass „no clear legal obli-
gation to protect exists in Canadian public law“.
63
Vgl. §§ 172 ff. StPO und den Hinweis des BVerfG auf die Möglichkeit, das Klageer-
zwingungsverfahren zu betreiben: BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 2014 – 2 BvR 2699/10, Rn. 11;
BVerfG StV 2015, 203 (204); JZ 2015, 890 (892); NStZ-RR 2015, 347 (348 f.).
64
BGBl 1973 II, S. 1534.
65
OAS Treaties Series B-32.
66
European Treaties Series Nr. 5.
67
Art. 2 Abs. 1 Alt. 2, 3 u. 14 IPbpR; Art. 1 Abs. 1 Alt. 2, 25 u. Art. 8 Abs. 1 AMRK;
Art. 1, 13 u. 6 EMRK.
68
Eingehende Analyse der Rspr. bei Seibert-Fohr, Prosecuting Serious Human Rights
Violations, 2009. Für eine völkergewohnheitsrechtliche Pflicht der Tatortstaaten zur Bestra-
fung der core crimes bspw. Werle/Vormbaum, Transitional Justice, 2018, S. 43 f. Vgl. auch
Ambos, in: Haldemann/Unger (Hrsg.), The UN Principles to Combat Impunity, 2018, Prin-
ciple 19 Rn. 18 ff.; ders., AVR 37 (1999), 318 (319 ff.).
69
Vgl. o. Fn. 28.
576 Kai Ambos

Pflichten des Staates zur Betreibung strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes bzw. sogar


diesbezüglicher Opferansprüche begründen70.
Wegweisend war insoweit zunächst das Urteil des IAGMR im Fall Velasquez-Ro-
driguez71, demzufolge die „ensure“-Klausel des Art. 1 Abs. 1 AMRK dazu verpflich-
tet, „den Regierungsapparat und alle Strukturen, durch die öffentliche Gewalt ausge-
übt wird, so zu organisieren“, dass es möglich ist, „jede Verletzung der in der Kon-
vention anerkannten Rechte [zu] verhindern, untersuchen und bestrafen“; ferner
müsse versucht werden, „das verletzte Recht wiederherzustellen und die erforderli-
che Entschädigung für aus der Verletzung resultierende Schäden zur Verfügung“ zu
stellen72. Der IAGMR hat sein Verständnis im Weiteren in einer Reihe von Folgeent-
scheidungen bekräftigt73, die sich (neben Art. 1 Abs. 1) auch auf Art. 8 Abs. 1 und 25
AMRK stützen74. Von größter Bedeutung ist schließlich seine Rechtsprechung zu
Strafverfolgungspflichten in Fällen des Verschwindenlassens, der extralegalen Hin-
richtungen und Folter75. Insoweit hat das Gericht etwa in dem Fall Rodríguez Vera et
al. v. Colombia76 entschieden, dass die staatliche Pflicht, die in der Konvention ge-
schützten Menschenrechte zu respektieren und ihre Ausübung zu gewährleisten
(Art. 1 Abs. 1 und 2 AMRK), die Vertragsstaaten verpflichte, strafrechtliches, kon-
ventionswidriges Unrecht zu verfolgen77.
Auch der EGMR hat in ähnlicher Weise sein ursprünglich konservativeres Ver-
ständnis der EMRK – ganz im Sinne der Schild-Funktion lediglich negative Rechte
gegenüber dem Staat gewährleistend – dahingehend weiterentwickelt, dass den Ver-
70
Malarino, in: Gil/Maculan (Hrsg.), La influencia de las víctimas en el tratamiento jurí-
dico de la violencia colectiva, 2017, S. 23 (24).
71
IAGMR, Judg., 29. 7. 1988 (Velásquez-Rodríguez v. Honduras). Eingehend zu dieser
Rspr. Ambos/Malarino (Hrsg.), Sistema interamericano de protección de los derechos huma-
nos y derecho penal internacional, 3 Bde., 2010, 2011 u. 2013), verfügbar unter: http://www.
cedpal.uni-goettingen.de/index.php/investigacion/grupo-latinoamericano-de-estudios-sobre-der
echo-penal-internacional; Ambos, AVR 37 (1999), 318 (319 f.).
72
IAGMR, Judg., 29. 7. 1988 (Velásquez-Rodríguez v. Honduras), para. 166; deutsche
Übersetzung in: EuGRZ 1989, 157 (171).
73
Vgl. nur IAGMR, Judg., 14. 3. 2001 (Barrios Altos v. Peru), paras. 41 ff.; Judg., 25. 10.
2012 (Massacres of El Mozote and nearby Places v. El Salvador), paras. 143 ff.; Judg., 26. 11.
2013 (Osorio Rivera y Familiares v. Perú), para. 177; Judg., 19. 5. 2014 (Veliz Franco y otros v.
Guatemala), paras. 183, 250 f.
74
So kürzlich: IAGMR, Judg., 15. 3. 2018 (Herzog y otros v. Brasil), para. 312; hierzu
eingehend Coelho de Andrade, Mandados Implícitos de Criminalização, 2019, S. 191 ff.; zur
älteren Rspr. siehe Seibert-Fohr (Fn. 68), S. 55 ff.
75
Ferrer Mac-Gregor/Pelayo Möller, in: Steiner/Uribe (Hrsg.), Convención Americana
sobre Derechos Humanos. Comentario, 2014, 42 (48).
76
Nach Beendigung einer Geiselnahme der FARC durch die Armee „verschwanden“ 11
Personen, die sich im Justizpalast aufgehalten hatten (1985).
77
IAGMR, Judg., 14. 11. 2014 (Rodríguez Vera et al. v. Colombia), para. 459 („In light of
Articles 1(1) and 2 of the Convention, States have a general obligation to ensure respect for the
human rights protected by the Convention, and the duty to prosecute wrongful acts that violate
rights recognized in the Convention is derived from this obligation“).
Strafrecht und Verfassung 577

tragsstaaten positive Schutzpflichten im Sinne der Schwert-Funktion unter Ein-


schluss des Erlasses von Strafgesetzen78 und der Durchführung effektiver staatlicher
Ermittlungen mit dem Ziel der Identifizierung und Bestrafung der Verantwortli-
chen79 zukommen sollen. Von besonderem Interesse ist in unserem Zusammenhang,
dass sich nach Ansicht des Gerichtshofs in diesen staatlichen Pflichten in Fällen
schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen eine effektive Rechtsgewähr und
damit ein Recht des Opfers verwirklicht80. Während die frühe EGMR-Rechtspre-
chung das Recht auf ein faires Verfahren als Grundlage von Opferrechten noch zu-
rückgewiesen hatte81, hat sich der EGMR im Jahre 2009 bezüglich des Anhörungs-
rechts gerade auf diese berufen82. Konkreter noch hat das Straßburger Gericht dann
entschieden, dass eine Strafermittlung, um „effektiv“ zu sein, fallangemessen zu sein
hat, was voraussetze, dass „it must be capable of leading to the establishment of the
facts and, where appropriate, the identification and punishment of those responsi-
ble“83. Im Gesamtbild stellt die Anerkennung von Schutzpflichten in Fällen schwer-
wiegender Menschenrechtsverletzungen und die Forderung nach effektiven Ermitt-
lungen inzwischen eine Konstante der relevanten Rechtsprechung des EGMR dar84.

78
EGMR, Urt. v. 26.3. 1985 (X und Y v. Niederlande), Rn. 27; Urt. v. 28. 3. 2000 (Kaya v.
Türkei), Rn. 85; Urt. (Große Kammer) v. 17. 1. 2002 (Calvelli und Ciglio v. Italien), Rn. 51; Urt.
v. 24. 6. 2008 (Issak v. Türkei), Rn. 106; Urt. (Große Kammer) v. 12. 11. 2013 (Söderman v.
Schweden), Rn. 82. Vgl. zu alldem auch Holz (Fn. 35), S. 89; Ambos, AVR 37 (1999), 318
(321 f.).
79
Vgl. nur EGMR, Urt. v. 27. 9. 1995 (McCann et al. v. Großbritannien), Rn. 161; Urt. v.
28. 3. 2000 (Kaya v. Türkei), Rn. 102; Urt. v. 13. 12. 2012 (El-Masri v. ehem. jugosl. Republik
Mazedonien), Rn. 182; Urt. (Große Kammer) v. 12. 11. 2013 (Söderman v. Schweden), Rn. 83;
Urt. v. 27. 5. 2014 (Marguš v. Kroatien), Rn. 125, 127; Urt. v. 24. 6. 2014 (Husayn [Abu Zu-
baydah] v. Polen), Rn. 540 ff. und passim. Vgl. auch Ambos, European Criminal Law, 2018,
S. 120, 123 (mit Bezug auf Art. 2, 3 EMRK) m.w.N.
80
EGMR, Urt. v. 19. 2. 1998 (Kaya v. Türkei), Rn. 107; Husayn (Abu Zubaydah) v. Polen,
(oben Fn. 79), Rn. 540 ff.
81
EGMR, Entsch. v. 16. 5. 1985 (Wallén v. Schweden), Nr. 10877/84, Rn. 185 („Accord-
ingly, the applicant has no right under Article 6 para 1 of the Convention to have criminal
proceedings instituted against the artist in question.“); Urt. v. 5. 10. 1999 (Grams v. Deutsch-
land), Nr. 33677/96 (keine Rn. [„That requirement can be distinguished from those under
Article 6 of the Convention, which does not guarantee the right to bring a prosecution against
third parties“]).
82
EGMR, Urt. v. 3. 10. 2009 (Kart v. Türkei), Nr. 8917/05, Rn. 87 u. 111, wo vor dem
Hintergrund parlamentarischer Immunität, „the applicant’s right to have his case heard by a
court as secured under Article 6 § 1“ betont wird.
83
EGMR, Urt. v. 26. 4. 2016 (Cangöz et al. v. Türkei), Rn. 114; vgl. auch Urt. v. 30. 3. 2016
(Armani da Silva v. Großbritannien), Rn. 229; vorgehend Urt. v. 14. 4. 2015 (Mustafa Tunç
and Fecire Tunç v. Türkei), Rn. 172; Urt. v. 24. 3. 2011 (Giuliani und Gaggio v. Italien),
Rn. 301.
84
Zur neuesten Rspr. vgl. EGMR, Urt. v. 17. 11. 2015 (M. Özel et al. v. Türkei), Rn. 187 ff.;
Urt. v. 15. 10. 2015 (Abakarova v. Russland), Rn. 70 (sect. V); Entsch. v. 29. 9. 2015 (Zoltai v.
Ungarn und Irland), Rn. 27 ff.; Urt. v. 14. 4. 2015 (Mustafa Tunç und Fecire Tunç v. Türkei),
Rn. 171 ff.; Urt. v. 24. 3. 2015 (Association for the Defence of Human Rights in Romania –
578 Kai Ambos

Der UN-Menschenrechtsausschuss schließlich geht ebenfalls von einer positiven


staatlichen Verpflichtung aus, in Fällen mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen
zu ermitteln und Täter zu bestrafen85. Fehlende Ermittlungen könnten als solche
einen Bruch des Paktes darstellen. Ferner hat der Ausschuss festgestellt, dass ein le-
diglich administratives Verfahren in Fällen schwerwiegender Menschenrechtsverlet-
zungen nicht ausreiche, sondern ein Strafverfahren erforderlich sei86. Auch wenn der
Ausschuss – im Gegensatz zum EGMR – kein Opferrecht auf Strafverfolgung sieht,
anerkennt er zumindest implizit gewissenhafte Ermittlungen als Form eines Justiz-
gewähranspruchs87. In der jüngeren Vergangenheit hat er unter Bestätigung seiner
Position zum Recht auf „effective remedy“ entschieden, dass eine Menschenrechts-
verletzung unverzüglich, gewissenhaft und unparteiisch durch die zuständigen Be-
hörden ermittelt und die sachgerechten Maßnahmen gegen den Verantwortlichen er-
griffen werden müssten88. Dies umfasse als effektive Abhilfe für unmittelbare Opfer
und deren Familienangehörige Strafermittlungen, die dazu führen, dass dem Verant-
wortlichen ein rechtsstaatlicher Prozess gemacht werde89.
Trotz aller prinzipiellen Bedenken lässt sich nach alldem festhalten, dass die auf
die BVerfG-Rechtsprechung zurückführbare Ableitung (strafrechtlicher) Schutz-
pflichten90 von Grund- bzw. Menschenrechten im nationalen und auch im interna-
tionalen Rahmen (abgesehen insbesondere vom Common-Law-Rechtskreis) in-
zwischen eine feste Größe darstellt. Namentlich die EGMR-Rechtsprechung
lässt dabei gegenüber der nationalen Verfassungsrechtspraxis eine sozusagen sub-
jektivere Tendenz erkennen91, wobei der Gerichtshof für die „Subjektivierung“ der
„Schutzpflichtendimension der EMRK-Garantien“ die Rechtsschutzgarantie des

Helsinki Committee on behalf of Ionel Garcea v. Rumänien), Rn. 67; Urt. v. 27. 1. 2015 (Asiye
Genç v. Türkei), Rn. 68 ff.
85
Z. B. HRC, General Comment No. 20 (1992), paras. 13 ff.; General Comment No. 31
(2004), paras. 15, 18; Nijaru v. Cameroon, Communication No. 1353/2005, para. 8; Saker v.
Algeria, Communication No. 992/2001, para. 11. Zur Entwicklung der HRC-Rechtsprechung
Seibert-Fohr (Fn. 68), S. 11 ff.
86
Vgl. z. B. HRC, Bautista de Arellana v. Colombia, Communication No. 563/1993, paras.
8.2, 10; Coronel et al. v. Colombia, Communication No. 778/1997, paras. 6.2, 10.
87
Vgl. Seibert-Fohr (Fn. 68), S. 22 ff., insbes. 25 („Committee regularly distinguishes
between the right to an effective remedy pursuant to art. 2[3], including an investigation and
compensation, and the general State party obligation to prosecute the crimes and prevent
similar violations“).
88
S. z. B. HRC, MacCallum v. South Africa, Communication No. 1818/2008, para. 6.7.;
Sathasivam/Saraswathi v. Sri Lanka, Communication No. 1436/2005, paras. 6.3, 6.4.
89
S. z. B. HRC, Ernesto Benitez Gamarra v. Paraguay, Communication No. 1829/2008
paras. 7.5, 9; Zyuskin v. Russian Federation, Communication No. 1605/2007, para. 13.
90
Vgl. Michelman, in: Nolte (Fn. 26), S. 156 (167): Schutzpflichtgedanke „appears to be
of mainly German origin“. Zur „Schutzpflichtdimension“ der EGMR-Rechtsprechung Holz
(Fn. 35), S. 98 ff.
91
Vgl. Holz (Fn. 35), S. 100 („Schutzpflichtendimension der EMRK-Garantien vollständig
subjektiviert … keine Unterscheidung zwischen objektiv-rechtlichen und subjektiv-rechtli-
chen Schutzpflichten“).
Strafrecht und Verfassung 579

Art. 13 EMRK als wesentlich erachtet92, die letztlich dieselbe Funktion wie die na-
tionalen Justizgewähransprüche hat93. Angesichts dessen kann es nicht überra-
schen, dass sowohl die oben erwähnten neueren BVerfG-Entscheidungen94 als
auch die Lehre95 im gegebenen Zusammenhang auf die Rechtsprechung des
EGMR Bezug nehmen.

III. Kritische Bewertung/Schlussfolgerungen


1. Vorfragen

Tritt man nach alldem nun ein wenig zurück und betrachtet das große Bild, so
dürfte die grund- bzw. menschenrechtliche Ableitung staatlicher Pflichten zum straf-
rechtlichen Rechtsgüterschutz und, mehr noch, deren Subjektivierung von gewissen
Grundwertungen bzw. Vorbedingungen abhängen, die die einschlägigen gerichtli-
chen Entscheidungen zumindest implizit prägen:
- Zunächst von der Vorstellung, dass das strafrechtliche „Schwert“ ein effektives
Mittel zur Verwirklichung von Grund- bzw. Menschenrechten sein kann96 und
dass strafrechtliche Schutzpflichten aus Individualrechten abgeleitet werden kön-
nen, obwohl diese herkömmlich als strafrechtsbegrenzend gedacht sind.
- Weiterhin von einer Bereitschaft, innerhalb der durch das Gewaltenteilungsprin-
zip markierten Grenzen, d. h. unter Wahrung der Stellung bzw. Funktion der
Legislative97, richterrechtliche Fortentwicklungen zu akzeptieren, die – man
bedenke das Schild-Schwert-Dilemma! – durchaus grundlegende Fragen betref-
fen98.
Diese Vorbedingungen – die selbst von rechtspolitischen, dogmatisch nicht voll-
ständig hinterfragbaren Wertungen abhängen – als gegeben unterstellt, soll nun im
92
Ähnlich Holz (Fn. 35), S. 104.
93
S. insoweit zur identischen Reichweite des Art. 13 EMRK einerseits und des Art. 19
Abs. 4 GG andererseits Frowein, NVwZ 2002, 29 (30): „Art. 13 EMRK enthält dasselbe
Grundrecht wie Art. 19 IV GG“.
94
BVerfG, Beschl. v. 26. Juni 2014 – 2 BvR 2699/10, Rn. 15; BVerfG StV 2015, 203
(204); NStZ-RR 2015, 347 (348).
95
Holz (Fn. 35), S. 89, 98 ff.; krit. Weigend, RW 2010, 39 (46 ff.).
96
Krit. insoweit etwa Gärditz, JZ 2015, 896 (899).
97
R. v. Mills [1999], 3 SCR 668 (712) („… this court has an obligation to consider res-
pectfully Parliaments attempt to respond to such voices.“); s. auch Irwin Toy v. Quebec (At-
torney General) [1989], 1 SCR 927 (993) („Thus, as courts review the results of the legisla-
ture’s deliberations, particularly with respect to the protection of vulnerable groups, they must
be mindful of the legislature’s representative function.“). Zur Sicht des Appeals Court vgl. R.
v. Miller and Cockriell, 63 D.L.R. (3d) 193 (246) („… not open to this Court, or any other
Court, to substitute its opinion on a matter of fact for that of ,Her Majesty, by and with the
advice and consent of the Senate and House of Commons of Canada‘…“).
98
MacDonnell/Hughes, Osgoode Hall L.J. 50 (2013), 999 (1037).
580 Kai Ambos

Weiteren die eigene Sicht der Dinge hinsichtlich der Schlüsselfrage entfaltet werden,
nämlich ob und ggf. wie ein subjektives Recht auf Kriminalisierung/Strafverfolgung/
Bestrafung begründbar ist.

2. Mängel der verfassungs- und


menschenrechtlichen Rechtsprechung

Der Rückgriff der erwähnten BVerfG-Kammerentscheidungen auf die „Erschüt-


terung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates“ bzw. ein „allgemeine[s]
Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt“, auf deren Abwehr ein subjektives
Recht bestehen soll99, ist insoweit aus mehreren Gründen nicht überzeugend. Erstens
werden hiermit reichlich diffuse100 Voraussetzungen für die Entstehung subjektiver
Rechte formuliert. Auf der Ebene eines potentiell weltweiten Rechtsvergleichs dürf-
te ein „allgemeine[s] Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt“ Formen genereller
Gesetzlosigkeit bzw. Zustände in (teilweise) gescheiterten Staaten beschreiben; ein
solches entsteht – begreift man den Anknüpfungspunkt des BVerfG als empirisch –
jedenfalls nicht bereits durch eine gewisse Anzahl von (selbst schwerwiegenden)
Straftaten101. Zweitens muss die Anknüpfung an ein allgemeines (Unsicherheits-)Ge-
fühl die Frage nach sich ziehen, wem diesbezüglich subjektive Rechte zukommen
sollen. In letzter Konsequenz müsste jedem Bürger eines Gemeinwesens, das von
einem derartigen (allgemeinen) Klima der Unsicherheit beherrscht wird, unabhängig
von seinem Opferstatus bzw. einer konkreten Betroffenheit, ein Recht auf Strafver-
folgung zugesprochen werden. Dies wäre ersichtlich unpraktikabel und unsinnig102.
Last but not least fehlt eine Erklärung dafür, dass Opferrechte (lediglich) im Fall von
Straftaten gegen das Leben und die Freiheit entstehen sollen, nicht dagegen z. B. im
Fall von Taten gegen das Eigentum103. Werden nämlich (etwa in einer Bürgerkriegs-
situation) massenhaft Eigentumsdelikte begangen, so dürfte durchaus ein Klima der
Unsicherheit die Folge sein. Soweit das BVerfG weiterhin mit dem Unvermögen des
Einzelnen argumentiert, „erhebliche Straftaten gegen seine höchstpersönlichen
Rechtsgüter … abzuwehren“104, lässt sich auch insoweit ein subjektives Recht
(des Einzelnen konkret betroffenen Opfers) auf Strafverfolgung nicht überzeugend
begründen. Denn in dem Zeitpunkt in dem sich die Frage eines Rechts (des Opfers)
auf Strafverfolgung stellt, sind dessen Interessen bereits verletzt. Besonders augen-
fällig ist dies bei Tötungsdelikten, wie sie drei der Kammerentscheidungen zugrunde
99
Oben Fn. 57 und des Weiteren Fn. 59 („… Erschütterung des Vertrauens in die Integrität
staatlichen Handelns …“); auf einer ähnlichen Linie Holz (o. Haupttext zu Fn. 44 ff.).
100
Letztlich bleibt völlig unklar, ob ein Zustand gemeint ist, der empirischer Feststellung
zugänglich ist, oder ob es um eine ideell-(straf-)theoretische Normdestabilisierung gehen soll.
Zutreffend Gärditz, JZ 2015, 896 (897); vgl. auch Weigend, RW 2010, 39 (48).
101
Krit. auch Hörnle, JZ 2015, 893 (895) („erstaunlich“, „Unrechtsstaat“).
102
Krit. Hörnle, JZ 2015, 893 (895) („Denkfehler“); Gärditz, JZ 2015, 896 (897).
103
Krit. insoweit auch Gärditz, JZ 2015, 896 (898).
104
O. Fn. 57.
Strafrecht und Verfassung 581

lagen. Das Lebensrecht des Opfers ist nicht wiederherzustellen und das seiner Ver-
wandten durch die Tat nicht berührt105. Eine fortwirkende (strafrechtliche) Schutz-
pflicht kann nur gegeben sein in Bezug auf fortbestehende Gefahren106, wie sie
etwa in den ebenfalls vom BVerfG behandelten Haft-Fällen107 und zudem dort plau-
sibilisierbar sind, wo ein die Tat überlebendes Opfer fortdauernd unter den (psycho-
logischen) Auswirkungen des Angriffs leidet und daher sein Vertrauen in die norma-
tive Ordnung bzw. eigene Sicherheit wiederhergestellt werden muss108. Was die letzt-
genannte Fallgruppe anbelangt, ist allerdings freilich keineswegs gesichert, dass das
Strafrecht bzw. Strafverfahren geeignet ist, bei der Überwindung traumatischer Op-
fererfahrungen entscheidend zu helfen109.
Hintergrund der Schwächen der Argumentation der einschlägigen BVerfG-Ent-
scheidungen scheint bei alldem zu sein, dass diese im Gegensatz zu einer weiteren
(Kammer-)Entscheidung, die zwischen einer Schutz- und einer Ermittlungspflicht
unterschied110, nicht hinreichend differenzieren zwischen staatlicher Verpflichtung,
präventiv vor Gefahren zu schützen, und einer etwaig (zum entsprechenden An-
spruch subjektivierten) Pflicht, repressiv gerade mit dem Mittel des Strafrechts
Rechtsgüterschutz zu betreiben111. Beide Ebenen werden insoweit vermengt als ne-
beneinander, d. h. scheinbar gleichzeitig bzw. gleichgewichtig auf die Abwendung
(das Prävenieren) schwerwiegender Straftaten gegen persönliche Interessen und
auf die Wiederherstellung des Vertrauens in die normative Ordnung und die allge-
meine Sicherheit durch Anwendung des Strafrechts abgestellt wird112.
Eine vollauf befriedigende Erklärung subjektivierter Pflichten zum strafrechtli-
chen Rechtsgüterschutz bietet (bei Lichte betrachtet) aber auch die einschlägige

105
Krit. auch Weigend, RW 2010, 39 (48 f.); Hörnle, JZ 2015, 893 (894) („Eingriff in das
höchstpersönliche Rechtsgut … beendet …“); ferner mit Bezug auf die IAGMR-Rechtspre-
chung Malarino (Fn. 70), S. 43.
106
Hörnle, JZ 2015, 893 (894).
107
O. Fn. 58.
108
Vgl. Weigend, RW 2010, 39 (49).
109
Krit. auch Weigend, RW 2010, 39 (50): „Letztlich wird man wohl zu dem Ergebnis
kommen müssen, dass die Einleitung eines Strafverfahrens jedenfalls in der großen Mehrzahl
der Fälle nicht das Mittel der Wahl ist, um ein beeinträchtigtes Sicherheitsgefühl des Ver-
letzten zu restituieren“.
110
BVerfG EuGRZ 2010, 145 (147) („… vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer
zu bewahren … Davon unterscheidet sich aber ein Anspruch gegen den Staat auf effektive
Untersuchung von verdächtigen Todesfällen.“). Beachte insoweit aber auch Hörnle, JZ 2015,
893 (894) mit dem Hinweis, dass die a.a.O. zunächst hervorgehobene Differenzierung im
Weiteren nicht konsequent durchgehalten wird.
111
Krit. auch Hörnle, JZ 2015, 893 (894) sowie Sachs, JuS 2015, 376 (377), der darauf
hinweist, dass die Merkmale einer Gefahrenlage bzw. eines Klimas der Rechtsunsicherheit in
BVerfG EuGRZ 2010, 145 (147) noch alternativ, im Weiteren dann aber kumulativ neben-
einandergestellt werden.
112
O. Fn. 57.
582 Kai Ambos

Menschenrechtsrechtsprechung nicht113, bleibt sie doch letztlich im Vagen, was die


genaue Ableitung entsprechender Rechte anbelangt, die jedoch erforderlich ist, um
die Reichweite etwaiger Opferansprüche bestimmen zu können. Eine der erörterten
neueren BVerfG-Rechtsprechung ähnliche Verschleifung der präventiven und der re-
pressiven Perspektive ist dabei bereits darin angelegt, dass der EGMR retrospektiv
über die Verletzung von Konventionsgewährleistungen zu entscheiden hat114. Die
einschlägigen Entscheidungen wechseln bei alldem zwischen der Perspektive objek-
tiver „Gewährleistungs“-Pflichten und derjenigen subjektiver Opferrechte, ohne dies
näher auszuarbeiten115. In einer dogmatisch nicht hinreichend abgesicherten, letzten
Endes pragmatischen Weise scheinen sie vor allem auf einen „präventiven Abschre-
ckungseffekt“ staatlicher Ermittlungen in Fällen des Todes Inhaftierter abzuzielen,
welche (ergebnisorientiert) durch die im Wege der Subjektivierung geschaffene Be-
schwerdemöglichkeit gewährleistet werden sollen116 und berufen sich einigermaßen
beliebig auf deontologische wie auch auf konsequentialistische Argumente117.

3. Kombination von opferorientierter Argumentation


und effektiver Justizgewährung

Letztlich kann eine subjektivierte obligatio puniendi ihre Stütze nur in einer Kom-
bination aus einer opferorientierten und an effektiver Justizgewährung ausgerichteten
Argumentation finden. Auf dieser Grundlage erweist sich die Möglichkeit einer Kla-
geerzwingung – wie sie hierzulande nach den §§ 172 ff. StPO vorgesehen ist118 – als
weiterführend119. In dieser drückt sich nämlich richtigerweise kein ausschließlich ob-
jektives Rechtsprinzip aus,120 hängt die Einleitung eines solchen Verfahrens doch allei-

113
Eine allgemeine Kritik des IAGMR liefert Malarino (Fn. 70), S. 23 ff. (37 ff.); einge-
hend Coelho de Andrade (Fn. 74), S. 277 ff. mit einer systematischen Untersuchung der Be-
denken gegenüber einer subjektivierten obligatio puniendi bis hin zum Rechtstatsächlichen
(drohende Überlastung des Gefängnissystems); bzgl. des EGMR s. Weigend, RW 2010, 39
(47 f.); Hörnle, JZ 2015, 893 (894).
114
Vgl. Weigend, RW 2010, 39 (47) („Herleitung und Inhalt des ,Anspruchs‘ … dunkel“).
115
Malarino (Fn. 70), S. 39 f.
116
Prägnant Gärditz, JZ 2015, 896 (899): „Die subjektivierende Verknüpfung mit Art. 2
EMRK dient vor allem der Eröffnung einer Beschwerdebefugnis und ist insoweit eher ein
prozessualer Kunstgriff, um in Fällen des ,Verschwindenlassens‘ oder der Tötung überhaupt
judizieren zu können, weil anderenfalls allgemeine Rechtlosigkeit und staatliche Willkür in
justizfreien Dunkelkammern drohen würde“.
117
Malarino (Fn. 70), S. 42.
118
Vgl. schon o. Fn. 63 f. Zum Entstehungshintergrund der § 172 ff. StPO vgl. Machalke,
Die Funktion des Oberlandesgerichts im Klageerzwingungsverfahren, 1996, S. 35 ff. und im
gegebenen Zusammenhang insbes. Hall/Hupe, JZ 1961, 360 (362); vgl. auch u. Fn. 123.
119
Vgl. Hörnle, JZ 2015, 893 (894).
120
Wollte man dies anders sehen, bestünde dringender Reformbedarf, zumal das Klageer-
zwingungsverfahren äußerst selten vorkommt und (bzgl. der Zahl der Verfahrenseinstellungen)
i.E. praktisch nie erfolgreich ist. Vor diesem Hintergrund lässt sich das Klageerzwingungsver-
fahren insbes. nicht überzeugend als (ausschließliche) Sicherung des Legalitätsprinzips erklären.
Strafrecht und Verfassung 583

ne von der subjektiven Entscheidung des (ggf. unverständigen) Verletzten ab.121 So


kann man im Klageerzwingungsverfahren ein am Gedanken des effektiven Rechts-
schutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) ausgerichtetes Instrument sehen, das sich als dessen straf-
rechtsspezifische Vorwegnahme in das normative Koordinatensystem des Grundgeset-
zes einfügt und dem Schutz subjektiver Rechte des Verletzten dient, welche sich wie-
derum vom Legalitätsprinzip und Anklagemonopol des Staates her ableiten lassen.122
Eine Verfahrensordnung, die wie die StPO ein solches Recht vorhält, stellt damit ge-
wissermaßen in Rechnung, dass sich – kommt es zu einer Straftat – der diesbezügliche
staatliche Strafanspruch mit subjektiven Rechtspositionen des Verletzten/Opfers über-
schneidet123. Sie erkennt ein subjektives Recht auf die Durchführung von (Straf-)Er-
mittlungen124 und auf die Erhebung der öffentlichen Klage125, hinter dem gerade aus
der Straftat erwachsende subjektive Rechte stehen, an. Geht man damit davon aus,
dass einem Klageerzwingungsverfahren ein subjektives Recht auf Ermittlungen
bzw. Klageerhebung zugrunde liegt, spiegelt die Suche nach einer – vom Gesetz gerade
nicht gelieferten – sachgerechten Umschreibung des „Verletzten“, der das Klageer-
zwingungsverfahren betreiben kann, die Frage nach der Inhaberschaft des zugrunde-
liegenden (materiellen) subjektiven Rechts: Dies dürfte sich dann dahingehend wenden
lassen, dass ein (zumindest auch) subjektiv unterlegtes Recht des Staates auf Strafe dort
gegeben ist, wo jemand – d. h. eine natürliche oder juristische126 Person – unmittelbar in

Vgl. insoweit insbes. Kirstgen, Das Klageerzwingungsverfahren, 1989, S. 49 („Es ist doch kaum
anzunehmen, daß der Gesetzgeber, hätte er wirklich ausschließlich eine effektive Sicherung des
Legalitätsprinzips beabsichtigt, nur ein derart unvollkommenes Element wie das KEV bereit-
gestellt hätte.“); ferner Gössel, in: FS Dünnebier, 1982, S. 121 (143 m.w.N.).
121
Vgl. Maiwald, GA 1970, 33 (51 f.) (keine Orientierung „an einer objektiv wirksamen
Kontrolle der Einhaltung des Legalitätsprinzips“, „da der Verletzte das Betreiben der Strafver-
folgung ja aus gänzlich unsachlichen und willkürlichen Motiven heraus unterlassen mag …“).
122
Überzeugend Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 29. Aufl. 2017, § 41 Rn. 2.
123
Hall/Hupe, JZ 1961, 360 (362) („… Parallelität der Strafansprüche des Staates und des
Verletzten …“); des Weiteren deutlich Kalsbach, Die gerichtliche Nachprüfung von Maß-
nahmen der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren, 1967, S. 96 („Innerhalb der Grenzen
des Legalitätsprinzips hat der Verletzte ein materielles öffentliches Recht darauf, daß die StA
seinem Antrag auf Erhebung der öffentlichen Klage stattgibt, wenn die Ermittlungen genü-
genden Anlass hierzu bieten [§ 170 I]. Dieses Recht ist grundsätzlich bereits in § 172 aner-
kannt.“); Maiwald, GA 1970, 33 (52) (Verletzter habe „einen über den gleichsam anonymen
Strafanspruch des Staates hinausgehenden, persönlichen Genugtuungsanspruch“); etwas vage
Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, 14. Aufl. 2018, Rn. 344 (auch „Schutz des Verletzten, der
ein Interesse daran hat, dass die Straftat, deren Opfer er geworden ist, tatsächlich auch verfolgt
wird“) u. ähnl. Jans, Die Aushöhlung des Klageerzwingungsverfahrens, 1990, S. 12 (auch
„Durchsetzung der Interessen des Verletzten“).
124
Arg. ex § 173 Abs. 3 StPO: Das OLG kann Ermittlungen zum hinreichenden Tatver-
dacht anordnen (vgl. etwa HK-GS/Pflieger/Ambos, 4. Aufl. 2017, § 173 Rn. 2). Soweit er-
sichtlich ist, dass diese den hinreichenden Tatverdacht erwarten lassen, wird das OLG Er-
mittlungen veranlassen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019, § 173 Rn. 3 m.w.N.).
125
Vgl. § 175 StPO.
126
Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt (Fn. 124), § 172 Rn. 10.
584 Kai Ambos

einem Rechtsgut verletzt127 bzw. „in … berechtigten Interessen so beeinträchtigt ist,


dass sein Verlangen nach Strafverfolgung einem als berechtigt anzuerkennenden Ver-
geltungsbedürfnis entspringt“128.
So geht auch die jüngere höchstrichterliche Rechtsprechung davon aus, dass die
aktuelle Verfassungsrechtsprechung dazu „verpflichtet …, bei der Durchführung des
Klageerzwingungsverfahrens nach den §§ 172 ff. StPO die Erfüllung“ eines „An-
spruch[s] des Bürgers auf effektive Strafverfolgung“, der eine „Konkretisierung
der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 und 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 S. 2
GG dar[stellt]“, „zu kontrollieren“.129 Soweit demgegenüber nicht selten recht apo-
diktisch, jedenfalls aber in einer sachlich-verkürzenden Weise behauptet wird, das
Klageerzwingungsverfahren diene (ausschließlich) der Absicherung des Legalitäts-
prinzips,130 lässt sich so weder erklären, weshalb lediglich ein begrenzter Personen-
kreis das Klageerzwingungsverfahren in Gang setzen kann, noch, weshalb für die
Fälle der Delikte ohne individuellen Verletzten kein Popularklageverfahren vorgese-
hen ist.131
Was nun die Qualität dieser im Raum stehenden Rechte angeht, so erscheint es
notwendig, von verfassungsrechtlichen subjektiven Rechten auszugehen. Denn ein
vorfindliches subjektives Recht auf Ermittlungen bzw. Klageerhebung konkurriert
mit den (subjektiven), verfassungsrechtlich garantierten Freiheitsrechten des Straf-
täters132. Es muss, denkt man es sich als den Klageerzwingungsverfahrensregeln vor-
gelagert und insoweit unabhängig von diesen, vor den Rechten des Beschuldigten als
solches bestehen können. Begründen lassen sich solche Rechte jedoch nicht general-
präventiv. Alle diesbezüglichen Ansätze müssen auf kaum überwindbare Schwierig-
127
Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt (Fn. 124), § 172 Rn. 9 m.w.N.
128
Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO II, 1957, § 171 Rn. 12 m.w.N.; zust. Roxin/
Schünemann (Fn. 122), § 41 Rn. 5 („heute überwiegende Meinung“); krit. LR/Graalmann-
Scheerer, StPO, 27. Aufl. 2018, § 172 Rn. 48. Vgl. hier unter rechtshistorischer Perspektive
noch Hall/Hupe, JZ 1961, 360 (362) mit Bezug auf die Materialien zur StPO (Hahn, Die
gesamten Materialien zur StPO, 1888). Des Weiteren Maiwald, GA 1970, 33 (52), der die
oben im Haupttext genannte Definition als Umschreibung eines in der rechtsgüterschützenden
Funktion der Strafrechtsordnung wurzelnden „persönlichen Genugtuungsanspruch[s]“ sieht.
129
OLG Bremen StV 2018, 268 (270) auf BVerfG NJW 2015, 150 (= StV 2015, 203) u.
3500; NStZ-RR 2015, 347 bezugnehmend; zust. Zöller, StV 2018, 274 (275) unter verglei-
chendem Verweis auf die „,positive obligations‘“, die der EGMR aus Art. 2 Abs. 1 EMRK
ableitet (hierzu näher ders., in: FS Kühne, 2013, S. 629 [632 ff.]). Vgl. schließlich auch
BVerfGE 116, 1 (11) („Das Grundgesetz garantiert umfassenden Rechtsschutz nur zu dem
Zweck des Schutzes subjektiver Rechte …“) sowie v. Münch/Kunig/Krebs, GG, 6. Aufl. 2012,
Art. 19 Rn. 64 ff. u. Maunz/Dürig/Schmidt/Aßmann, GG, 72. Lfg. Juli 2014, Art. 19 Abs. 4
Rn. 116 dazu, dass aus verfassungsrechtlicher Perspektive die Einräumung einer Gerichts-
schutzgarantie i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG ein subjektives Recht voraussetzt.
130
Vgl. etwa LR/Graalmann-Scheerer (Fn. 128), § 172 Rn. 1: „Nach allgemeiner Auffas-
sung dient es [das Klageerzwingungsverfahren] der Kontrolle des Legalitätsprinzips.“).
131
Vgl. insoweit nur MüKo/Kölbel, StPO, 1. Aufl. 2016, § 172 Rn. 2 m.w.N.
132
Dieser Gedanke erinnert an das Schild-Schwert-Problem, s. o. Haupttext bei Fn. 28 und
passim.
Strafrecht und Verfassung 585

keiten stoßen, wenn es darum geht, den Kreis der potenziellen Rechteinhaber nach-
vollziehbar zu begrenzen133. Bereits dieser Aspekt deutet darauf hin, dass es keinen
Rückschritt darstellen muss, wenn man im gegebenen Zusammenhang die retrospek-
tive Sicht heranzieht und subjektive Rechte auf Ermittlungen/Strafverfolgung/An-
klageerhebung/Bestrafung im Ausgangspunkt auf das – hierzulande in Art. 1
Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG verankerte134 – Schuldprinzip stützt: Nur soweit dem Straf-
täter seine Tat zum Vorwurf gemacht werden kann, darf der Staat eine Strafe gegen
ihn verhängen (nulla poena sine culpa)135. Und gleichzeitig kann nur dort von einem
„als berechtigt anzuerkennenden Vergeltungsbedürfnis“136 die Rede sein, wo Vor-
werfbarkeit gegeben ist. Die These lautet damit: Bereits dem Schuldprinzip
kommt eine subjektive Seite zu, weil seine sachliche Anforderung – Vorwerfbarkeit
der Rechtsverletzung (als Voraussetzung staatlicher Strafe) – den rechtfertigenden
Grund eines subjektiven Rechts auf Strafermittlung/Strafverfolgung/Anklageerhe-
bung/Bestrafung bildet; eben dieser sachliche Gehalt wird dann prozessual (insbe-
sondere durch das Legalitätsprinzip) weitervermittelt und schließlich durch den
(gleichfalls verfassungsrechtlich verankerten) Justizgewährungsanspruch (Art. 19
Abs. 4 GG) in Gestalt eines Klageerzwingungsverfahren aktiviert137.
Leitet man nun subjektive Rechte gerichtet auf Ermittlung und eventuell Ankla-
geerhebung vom Schuldprinzip, vermittelt insbesondere über Legalitätsprinzip und
Klageerzwingung, ab, so muss ein solches Modell allerdings in der Lage sein, die
Beschränkungen von Legalitätsprinzip und Klageerzwingungsverfahren (auf verfas-
sungsrechtlicher Ebene) erklären zu können. Insoweit lassen sich mehrere Fallgrup-
pen unterscheiden. So kann zunächst bei Einstellungsvorschriften, die – wie §§ 153,
153a StPO – auf dem Gedanken geringer oder (anderweitig) kompensierter Schuld
beruhen, nicht bzw. nicht mehr von einem berechtigten Vergeltungsbedürfnis des
Verletzten gesprochen werden. Umgekehrt verbietet sich eine Bagatelleinstellung
(nach § 153 StPO) insbesondere dann, wenn die Schuld sich nach dem Ausmaß
der Pflichtwidrigkeit bzw. der verschuldeten Auswirkungen der Tat nicht mehr als
erheblich unterdurchschnittlich darstellt138 oder wenn – trotz geringer Schuld –
ein öffentliches Verfolgungsinteresse gegeben ist, weil namentlich außergewöhnli-
che Tatfolgen eingetreten sind, die dem Beschuldigten nicht als verschuldet zuge-

133
Warum sollte bspw. den Angehörigen eines bei einem Raubüberfall ermordeten Geld-
transportfahrers ein subjektives Recht auf Ermittlungen etc. zustehen, nicht aber den Kollegen
des Toten, die jeden neuen Tag die mit ihrem Beruf verbundenen gesteigerten Gefahren, Opfer
eines Gewaltverbrechens zu werden, auf sich nehmen? Vgl. schon o. Haupttext zu Fn. 102.
134
BVerfGE 25, 269 (285); auch BVerfGE 20, 323 (331); 50, 125 (133); 50, 205 (214 f.);
128, 326 (376); 123, 267 (413); 133, 168 (197).
135
Vgl. etwa Frisch, NStZ 2013, 249 (250) m.w.N.
136
Oben Haupttext zu Fn. 128.
137
Vgl. erneut Roxin/Schünemann (Fn. 122), § 41 Rn. 2.
138
Vgl. HK-GS/Pfordte (Fn. 124), § 153 Rn. 2.
586 Kai Ambos

rechnet werden können139. Diese Kriterien korrelieren mit einem berechtigten oder
zumindest nachvollziehbaren Vergeltungsinteresses des Verletzten. Was § 153a
StPO anbelangt, dürfte ein ursprünglich „als berechtigt anzuerkennende[s] Vergel-
tungsbedürfnis“140 hinfällig werden, wenn der Beschuldigte sich bestimmten Sank-
tionen unterwirft, die zwar nichtstrafrechtlicher Natur sind, jedoch „der Genugtuung
für das begangene Unrecht dienen“141. Die Privatklage betrifft andererseits Fälle, in
denen von dem Verletzten nach Lage der Dinge verlangt werden kann, die Umset-
zung seines Genugtuungsinteresses selbst in die Hand zu nehmen.142
Lassen sich die vorstehend in den Blick genommenen Konstellationen auf den ge-
meinsamen Nenner einer Reduzierung des berechtigten Interesses an staatlicher
Strafverfolgung bringen, kommen bei einer Vorschrift wie § 153c StPO dem (staat-
lichen) Interesse an Strafverfolgung entgegenstehende (überwiegende) öffentliche
Interessen ins Spiel, die z. T. „jenseits der Strafrechtspflege liegen“143. Insoweit las-
sen sich allerdings Vorschriften wie etwa auch § 153d StPO strafprozessual nicht er-
klären und müssen daher unter strafprozessualem Blickwinkel zwangsläufig auf Be-
denken stoßen144. Insbesondere lassen sich Fälle der „Rücksichtnahme auf außer-
strafrechtliche, politische Belange, die selbst bei schweren Straftaten durchschlagen
können145, nur dann als Frage der Verhältnismäßigkeit der Strafverfolgung146 auswei-

139
BGHSt 10, 259 (263 f.); HK-GS/Pfordte (Fn. 124), § 153 Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt
(Fn. 124), § 153 Rn. 7.
140
O. bei Fn. 128.
141
Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt (Fn. 124), § 153a Rn. 12.
142
Dies tritt besonders klar in Nr. 86 Abs. 2 RiStBV zutage, wo auf die Betroffenheit des
„Lebenskreis[es] des Verletzten bzw. darauf abgestellt wird, ob es diesem „zugemutet werden
kann“, die Privatklage zu erheben. Ist dies der Fall, kann man nicht davon sprechen, dass die
Umsetzung eines subjektiven Rechts auf durch den Staat betriebene Strafverfolgung erfor-
derlich ist.
143
Vgl. SK-StPO/Weßlau/Deiters, 5. Aufl. 2016, § 153c Rn. 1; Bock, GA 2010, 589 (591).
144
Deutlich etwa Rüping, Das Strafverfahren, 3. Aufl. 1997, Rn. 342: „rechtsstaatlich
zweifelhaft[]“.
145
Vgl. Bock, GA 2010, 589 (590).
146
Ob die Verfolgung einer ggf. schweren Straftat nach Lage der Dinge die diplomatischen
Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland oder bestimmte außenpolitische Ziele der
Bundesregierung zu stören geeignet ist (vgl. SK-StPO/Weßlau/Deiters [Fn. 143], § 153c
Rn. 1), hat nichts damit zu tun, ob die Strafverfolgung des Beschuldigten erforderlich ist oder
ob weniger einschneidende Maßnahmen (bspw. ein Disziplinarverfahren) hinreichen; ebenso
wenig geht es um das Übermaßverbot: unter Abwägung aller (insoweit einschlägiger) Um-
stände kann es ohne Weiteres für den Beschuldigten zumutbar sein, mit einem Strafverfahren
belastet zu werden (zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Strafverfahren vgl. etwa LR-StPO/
Kühne, 27. Aufl. 2016, Einl. I, Rn. 97 m.w.N.); dass dem Verfahren keine außenpolitischen
Erwägungen entgegenstehen, ist damit aber natürlich nicht gesagt. Dass (außen-)politische
und rechtliche Erwägungen durchaus auseinanderfallen können, zeigt sich etwa in der Droh-
nen-Entscheidung des OVG Münster, Urt. v. 19. 3. 2019 – 4 A 1361/15 (mündliche Urteils-
begründung: http://www.ovg.nrw.de/behoerde/presse/pressemitteilungen/11_190319/Muendli
che_Urteilsbegruendung.pdf), S. 6 („Die Frage, ob und ggf. in welchen Grenzen Völkerrecht
bewaffnete Drohneneinsätze im Jemen zulässt, ist deshalb keine politische Frage, sondern eine
Strafrecht und Verfassung 587

sen, wenn man erklärt, dass das Anliegen, Gefährdungen des Rechtsfriedens zu ver-
meiden, auf einer Linie liegt mit der Vermeidung (außen-)politischer Unzuträglich-
keiten147. Überzeugender dürfte es sein, dem Umstand, dass strafverfahrensfremde
Gesichtspunkte den Ausschlag geben (können), dadurch Rechnung zu tragen, dass
man den Betrachtungshorizont konsequent erweitert, um strafrechtliche und außer-
strafrechtliche Interessen miteinander ins Verhältnis setzen zu können148. Dies läuft
dann auf eine auf das „Interessenabwägungsprinzip“ als „allgemeine[r] Rechts-
grundsatz, der mit sachlogischer Notwendigkeit gilt“149, aufsetzende „überstrafrecht-
liche Interessenabwägung [hinaus], die gewissen Belangen der staatlichen Ordnung
vor kriminalpolitischen Zielsetzungen den Vorrang einräumt“150. Wo dies dann der
Fall ist, muss es der Verletzte hinnehmen, dass sein ggf. an sich berechtigtes Interesse
an Strafverfolgung durch den Staat nicht umgesetzt wird. Man mag dies (bei verletz-
ten Staatsbürgern) auf staatsvertraglicher Basis bereits damit begründen, dass der
Verletzte zwangsläufig auch ein Interesse an der Wahrung der „staatlichen Ordnung“
hat bzw. haben muss, von der er ja schließlich auch profitiert. Insoweit lässt sich eine
grundsätzliche Parallelität der auf dem Spiel stehenden staatlichen und individuellen
Interessen151 plausibilisieren. Schwerer fällt die Parallelisierung der überstrafrecht-
lichen Abwägung öffentlicher Interessen auf der Ebene subjektiver Rechte bzw. in-
dividueller Interessen, wo es – wie bspw. in der Drohnen-Entscheidung des OVG
Münster vergleichbaren (Straf-)Rechtsfällen – um gesellschaftsexterne Verletzte
geht. Insoweit wird man jedenfalls das Kriterium der entgegenstehenden überwie-
genden Interessen restriktiv zu handhaben haben, um eine substanzielle Entwertung
verfassungs- bzw. auch menschenrechtlicher Positionen Verletzter zu vermeiden152.
Die Einordnung der Einstellungsoptionen, denen außerstrafrechtliche Belange
zugrunde liegen, weist bei alldem eine gewisse Schnittmenge mit der weiteren

Rechtsfrage.“) u. passim. Vgl. nunmehr auch die etwas vorsichtigere Schriftfassung bei ebd.,
(juris-)Rn. 561: „Die Qualifizierung einer Person oder eines Objekts als legitimes militäri-
sches Ziel im Rahmen eines bewaffneten Konflikts oder in Wahrnehmung des Selbstvertei-
digungsrechts ist keine politische Entscheidung, die einer gerichtlichen Kontrolle von vorn-
herein entzogen wäre, sondern eine Frage des Völkerrechts“.
147
So Rieß, NStZ 1981, 2 (5 f.); anders freilich ders., in: FS Dünnebier, 1982, S. 149 (156).
148
Vgl. insoweit hier nun Rieß, in: FS Dünnebier, 1982, S. 149 (156), wo (einleuchtend)
ausgeführt wird, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip „als Bezugspunkt eines individuellen
Betroffenen“ bedürfe, „an dessen Belastung sich die ,Verhältnismäßigkeit‘ messen läßt“.
149
Rieß, in: FS Dünnebier, 1982, S. 149 (156 f.).
150
So Bloy, GA 1980, 161 (178); LR-StPO/Beulke, 26. Aufl. 2008, § 153d Rn. 1 m.w.N.
spricht von einer „Ausprägung des Notstandsgedankens“.
151
Strafverfolgungsinteresse/-anspruch vs. Interesse an Wahrung staatlicher Ordnung (von
der auch der Verletzte profitiert).
152
Somit wird der Rückgriff etwa auf § 153d StPO eher dort angängig sein, wo es um
Einzelfallgestaltungen mit Notstandscharakter geht, etwa um die Ermöglichung von Freilas-
sungsaktionen zugunsten Dritter, deren Rechtsgüter bzw. Grund- und Menschenrechte auf
dem Spiel stehen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt [Fn. 124], § 153d Rn. 1 i.V.m. § 153c Rn. 15),
weniger aber dort, wo dieser letztlich auf die Sanktionierung fortlaufender rechtswidriger
Praktiken hinausläuft.
588 Kai Ambos

Frage auf, inwieweit sich aus dem Schuldprinzip subjektive Rechte nicht nur auf
Strafverfolgung, sondern auch auf Pönalisierung herleiten lassen. Denn hier wie
da stehen Gesichtspunkte im Raum bzw. ggf. entscheidend im Vordergrund, die –
anders als bei Einstellungsentscheidungen nach den §§ 153, 153a StPO – nichts
mit dem konkreten Fall zu tun haben. Was insoweit die Frage eines subjektiven An-
spruchs auf Pönalisierung anbelangt, kommt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zum
Tragen: ein bislang noch nicht unter Strafe gestelltes Verhalten, kann mit Blick auf
den hierin liegenden Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit von vornherein nur
dann mit staatlicher Strafe belegt werden, wenn dies wegen seiner Gefährlichkeit
zum Zwecke des Gesellschaftsschutzes unerlässlich ist153. Wesentlich ist dann ferner
insbesondere der Rang des vermeintlich zu schützenden Rechtsguts: ist dieses von
besonders hohem Rang, steht es dem Gesetzgeber eher offen, insbesondere in
Form von Verletzungs-/Gefährdungserfolgsdelikten alle möglichen Begehungsfor-
men unter Strafe zu stellen; geht es um weniger bedeutsame Rechtsgüter oder
eher unscharfe Rechtsgüter, ist besonderes Gewicht auf den Handlungsunwert zu
legen und es werden dann ggf. nur gesteigert gefährliche Angriffsweisen unter Strafe
gestellt werden können154. Aus der Sicht von Personen, die von entsprechenden Ver-
haltensweisen betroffen sind (und damit im Falle der Pönalisierung Verletzte wären),
bedeutet dies, dass ein subjektives Recht auf Pönalisierung jedenfalls dort nicht zum
Zuge kommen kann, wo dem Staat nach dem Vorstehenden bereits die Möglichkeit
zur Pönalisierung fehlt. Umgekehrt lassen sich die vorstehenden, aus dem Anliegen
des Rechtsgüterschutzes anhand von Strafwürdigkeit und -bedürftigkeit unter Be-
grenzung durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip abgeleiteten (strafrechtlichen) Kri-
terien als Indiz für die grundsätzliche Richtigkeit eines Verfassungsverständnisses
lesen, das davon ausgeht, dass sich die Möglichkeit legitimer Strafrechtssetzung
im Bereich des Rechtsguts Leben bzw. menschenwürdebezüglicher Rechtsgüter
zu einer Pönalisierungspflicht verdichten kann: Ist die Unerlässlichkeit der Krimina-
lisierung eines bestimmten Verhaltens festgestellt155, mag die damit eröffnete staat-
liche Option, durch Androhung von Strafe zu reagieren, etwa dann in eine entspre-
chende Pflicht umschlagen, wenn das fragliche Verhalten „unverhandelbare“ Rechts-
güter verletzt bzw. gefährdet156 und der einzelne (potenziell) Verletzte dem besonders
schutzlos gegenübersteht157.

153
Vgl. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 50 f.
154
Vgl. zum Beispiel Stalking Rackow, GA 2008, 552 (556 ff.) m.w.N.
155
Vgl. o. Fn. 153.
156
In den Fällen der Abwägungsfestigkeit (insbes. auch i.R.d. § 34 StGB) bzw. men-
schenwürdebezüglichen Rechtsgüter muss die Handlungsfreiheit des Täters nämlich von
vornherein zurücktreten.
157
Dieser Gedanke tritt bei konstitutionsbedingter Schutzlosigkeit (Abtreibungsrechtspre-
chung des deutschen BVerfG) besonders augenfällig hervor, mag aber auch für Fälle organi-
satorisch-struktureller Unterlegenheit zu plausibilisieren sein, etwa bei Taten von Amtsträgern
oder bei Formen organisierter bzw. politischer Kriminalität, die dem Einzelnen aus Macht-
gefügen heraus gegenübertritt, welche die staatliche Ordnung und damit den – wenn man so
will – „Basisschutz“ des Rechts zu erodieren in der Lage sind.
Der EuGH und die Strafrechtsdogmatik
Grund und Grenzen einer Harmonisierung
des Allgemeinen Teils

Von Martin Böse

I. Einleitung
„Ich bin überzeugt, dass der Gesetzgeber mit Art. 1 Abs. 1 Buchst. 1 der Richt-
linie 2002/90 nicht jene unter Strafe stellen wollte, die das Risiko eingehen, einer
illegal aufhältigen Person Beihilfe bei der Einreise in das Hoheitsgebiet zu leisten
(dolus eventualis) … Diese Form von Vorsatz zielt auf eine Person ab, die die Zuwi-
derhandlung nicht in vollem Umfang ausführen wollte … Der französische Begriff
„sciemment“, der mit den Termini „vorsätzlich“, „absichtlich“ oder auch „willent-
lich“ ohne Abweichung in die anderen Sprachfassungen der Richtlinie übersetzt
wurde, verdrängt per se den Begriff dolus eventualis …“1
Mit diesen Worten skizziert Generalanwalt Yves Bot eine unionsrechtliche Kon-
zeption des Vorsatzes, die das deutsche Strafrecht auf den ersten Blick in seinen
Grundfesten erschüttert, indem sie den bedingten Vorsatz (dolus eventualis) aus
dem Vorsatzbegriff herausnimmt. Wenngleich der EuGH diese Begriffsbestimmung
in seinem Urteil nicht aufgegriffen hat, zeigen die Ausführungen des Generalan-
walts, dass sich die unionsrechtlichen Einflüsse auf das Strafrecht der Mitgliedstaa-
ten keineswegs auf die Tatbestände des Besonderen Teils beschränken, sondern auch
auf den Allgemeinen Teil erstrecken. Die – zumindest in der Regel vorgenommene –
Beschränkung der sekundärrechtlichen Pönalisierungspflicht auf vorsätzliches Ver-
halten ist ebenso wie die Erfassung von Teilnahme und – zum Teil – auch Versuch zu
einem Standardbestandteil von Richtlinien zur Strafrechtsangleichung geworden.2
Vor diesem Hintergrund scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis der EuGH
von einem nationalen Gericht ersucht wird, sich zum Inhalt dieser Regelungen im
Wege der Vorabentscheidung zu äußern und damit zu klären, ob und inwieweit
die unionsrechtlichen Vorgaben es zulassen, dass die Mitgliedstaaten in Bezug auf

1
Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 6. September 2018, Verb. Rs. C-412/17
und C-474/17, Touring Tours und Travel GmbH und Sociedad de Transportes SA, Rn. 137,
138, 142.
2
Überblick bei Stuckenberg, in: Böse (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd. 9: Euro-
päisches Strafrecht mit polizeilicher Zusammenarbeit, 2013, § 10 Rn. 8 ff., 20 ff., 36 ff., 44 ff.
590 Martin Böse

harmonisierte Straftatbestände weiterhin an den Regelungen „ihres“ Allgemeinen


Teils festhalten. Der folgende Beitrag geht dieser Frage nach und beginnt mit
einer Darstellung des Verfahrens, aus dem das Eingangszitat stammt und das die Pro-
bleme einer Harmonisierung des Allgemeinen Teils durch die Unionsgerichte exem-
plarisch vor Augen führt (II.). Anschließend wird die These, wonach die in den Richt-
linien zur Strafrechtsangleichung verwendeten Begriffe aus dem Allgemeinen Teil
autonom, d. h. unabhängig von den nationalen Strafrechtsordnungen, auszulegen
seien, kritisch hinterfragt und für eine Auslegung der unionsrechtlichen Vorgaben
plädiert, die den Mitgliedstaaten substantielle Spielräume bei der Umsetzung der
unionsrechtlichen Vorgaben zum Allgemeinen Teil belässt (III.).

II. Das Verfahren „Touring Tours“:


„Dolus eventualis“ – kein Vorsatz?
Ausgangspunkt der weitreichenden Aussagen des Generalanwalts zum Vorsatz
war nicht etwa ein Strafverfahren, sondern ein Verfahren vor dem Bundesverwal-
tungsgericht, das dem EuGH mehrere Fragen zur Auslegung des Schengener Grenz-
kodex3 vorgelegt hatte. Im Kern ging es dabei um die Frage, ob es gegen den Grenz-
kodex und die darin vorgesehene Abschaffung der Personenkontrollen an den Bin-
nengrenzen verstößt, Beförderungsunternehmen zu verpflichten, Ausländer nicht
ohne den erforderlichen Pass oder Aufenthaltstitel in das Bundesgebiet zu befördern
und zu diesem Zweck vor der Fahrt die Grenzübertrittspapiere aller Fahrgäste zu kon-
trollieren (vgl. § 63 AufenthG).4 Um diese Verpflichtung unionsrechtlich zu rechtfer-
tigen, hatte der Vertreter der Bundesregierung auf die Richtlinie 2002/90/EG5 und die
in dem zugehörigen Rahmenbeschluss 2002/946/JI6 enthaltene Verpflichtung der
Mitgliedstaaten hingewiesen, die Beihilfe zur unerlaubten Einreise unter Strafe zu
stellen; sei der betreffende Unternehmer von der zuständigen Behörde davon unter-
richtet worden, dass seine Busverbindungen bereits zur unerlaubten Einreise genutzt
worden seien, und befördere er gleichwohl Ausländer in das Bundesgebiet, ohne die
erforderlichen Kontrollmaßnahmen durchzuführen, so verwirkliche er mit beding-
tem Vorsatz den Tatbestand der Beihilfe zur unerlaubten Einreise.7 Den Bestimmun-
3
Verordnung (EG) 562/2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der
Grenzen durch Personen vom 15. 3. 2006, ABl. EU L 105 vom 13. 4. 2006, S. 1; s. nunmehr
Verordnung (EU) 2016/399 vom 9. 3. 2016, ABl. EU L 77 vom 23. 3. 2016, S. 1.
4
BVerwG, Beschl. v. 1. 6. 2017 – 1 C 23/16 [juris]; s. insoweit EuGH, Urt. v. 13. 12. 2018,
Verb. Rs. C-412/17 und C-474/17, Touring Tours und Travel GmbH und Sociedad de Trans-
portes SA, Rn. 32.
5
Richtlinie 2002/90/EG zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise
und zum unerlaubten Aufenthalt vom 28. 11. 2002, ABl. EG L 328 vom 5. 12. 2002, S. 17.
6
Rahmenbeschluss 2002/946/JI zur Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die
Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufent-
halt vom 28. 11. 2002, ABl. EG L 328 vom 5. 12. 2002, S. 1.
7
Schlussanträge des Generalanwalts (Fn. 1), Rn. 121.
Der EuGH und die Strafrechtsdogmatik 591

gen des Grenzkodex wurde mithin die unionsrechtliche Pflicht zur Ahndung der (vor-
sätzlichen) Einschleusung von Ausländern (vgl. § 96 AufenthG) entgegengehalten.
Diesem Argument ist der Generalanwalt seinerseits mit dem Einwand begegnet, ein
vorsätzlicher Verstoß liege in derartigen Fällen gar nicht vor, da die unionsrechtliche
Kriminalisierungspflicht nur Zuwiderhandlungen erfasse, die mit der Absicht began-
gen worden seien, die verbotene Handlung vorzunehmen (dolus specialis), nicht aber
ein Verhalten, bei dem der Täter nur bewusst ein entsprechendes Risiko eingegangen
sei (dolus eventualis).8
Mit dieser Unterscheidung knüpft der Generalanwalt an die französische Doktrin
an, wonach der dolus eventualis für eine Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Begehung
nicht ausreichend ist, sondern nur eine Strafbarkeit wegen Fahrlässigkeit begründet.9
Das der Argumentation des Generalanwalts zugrunde liegende Verständnis wird in
den nachfolgenden Ausführungen deutlich, wonach ein Handeln mit dolus eventualis
dadurch gekennzeichnet sei, dass der Täter „aus Leichtsinn, Unvorsichtigkeit oder
fahrlässig handelt“10, während der Vorsatz bzw. die verbrecherische Absicht
(dolus specialis) zu verneinen sei, wenn der Täter die unrechtmäßige Einreise
eines Drittstaatsangehörigen „nur fahrlässig in Kauf nimmt“11. Mit dieser Gleichstel-
lung von dolus eventualis und Fahrlässigkeit wird jedoch die in der deutschen Straf-
rechtsdogmatik anerkannte Unterscheidung von bedingtem Vorsatz und bewusster
Fahrlässigkeit ignoriert, so dass der Hinweis auf den (vermeintlich) in allen Sprach-
fassungen eindeutigen Wortlaut12 fehlgeht, denn der deutsche Begriff „vorsätzlich“
schließt auch den bedingten Vorsatz ein.13 Aus den gleichen Gründen verfängt auch
der Verweis auf die Systematik (Parallele zu Versuch und Teilnahme, Art. 2 Richt-
linie 2002/90) nicht, denn diese Begriffe knüpfen wiederum an die jeweilige Vorsatz-
konzeption an, und die These, eine abschreckende Wirkung könnten die vom Rah-
menbeschluss geforderten Sanktionen (negative Generalprävention) nur auf denjeni-
gen Täter haben, der die Absicht habe, die verbotene Handlung zu begehen14, er-
scheint wenig überzeugend, zumal das Unionssekundärrecht an anderer Stelle

8
Schlussanträge des Generalanwalts (Fn. 1), Rn. 137.
9
Lelieur/Pfützner/Volz, in: Sieber/Cornils (Hrsg.), Nationales Strafrecht in rechtsverglei-
chender Darstellung, Allgemeiner Teil, Teilband 3, 2008, S. 678, 681 f.; s. ferner Bouloc, Droit
pénal général, 22e édition 2012, Rn. 283. Auch im englischen Recht unterfällt der dolus
eventualis nicht dem Vorsatz („intent“), sondern der eigenständigen Kategorie „recklessness“,
s. dazu Blomsma, Mens rea and defences in European criminal law, 2012, S. 8 ff., 134 ff.; zur
recklessness: Ormerod/Laird, Smith, Hogan and Ormerod‘s Criminal Law, 15th edition, 2018,
S. 101 ff.
10
Schlussanträge (Fn. 1), Rn. 138.
11
Schlussanträge (Fn. 1), Rn. 142.
12
Schlussanträge (Fn. 1), Rn. 140 ff.
13
Dies gilt entsprechend für den niederländischen Begriff „opzettelik“, s. zum bedingten
Vorsatz im niederländischen Strafrecht: Kelk/de Jong, Studieboek materieel strafrecht,
5. Aufl. 2013, S. 261.
14
Schlussanträge (Fn. 1), Rn. 143.
592 Martin Böse

auch für Fahrlässigkeitstaten abschreckende Sanktionen fordert15. Im Ergebnis ist


dem Generalanwalt allerdings darin zuzustimmen, dass nicht jeder Busunternehmer,
der seine Fahrgäste in das Bundesgebiet verbringt, ohne vorher deren Reisedokumen-
te zu kontrollieren, zwangsläufig den Tatbestand der Schleusung (§ 96 AufenthG)
erfüllt.16 Mit seinen allgemeinen Ausführungen zum dolus eventualis geht der Gene-
ralanwalt indes weit über diese – grundsätzlich berechtigten (s. dazu sogleich) – Be-
denken gegen die Strafbarkeit des verfahrensgegenständlichen Verhaltens der betref-
fenden Busunternehmer hinaus.
Der EuGH hat von einer Stellungnahme zum strafrechtlichen Vorsatzbegriff ab-
gesehen, da er sich an den Vorlagebeschluss des Bundesverwaltungsgerichts gebun-
den sah.17 Dieses hatte in Bezug auf die Richtlinie und den zugehörigen Rahmenbe-
schluss keinen Klärungsbedarf gesehen, weil nach den Grundsätzen der neutralen
Beihilfe allein aufgrund der unterbliebenen Kontrolle der Reisedokumente keine
Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Schleusung begründet werden könne.18 Auf diese
Weise kam es glücklicherweise nicht zu einer Entscheidung, die ein unionsrechtli-
ches Begriffsverständnis zum Vorsatz geprägt hätte, das sich mit dem in einer
Reihe von Mitgliedstaaten vorherrschenden Einordnung des dolus eventualis19,
aber auch mit einem früheren Urteil des EuGH nicht vereinbaren ließe, wonach
auch vorsätzlich handelt, wer den Erfolgseintritt für möglich hält und diesen billi-
gend in Kauf nimmt20. Das Verfahren führt damit deutlich die Gefahren vor
Augen, die mit einer Übernahme von Begrifflichkeiten aus den mitgliedstaatlichen
Rechtsordnungen in das Unionsrecht verbunden sind; dies gilt insbesondere, wenn in
einigen Sprachfassungen der Begriff aus der jeweiligen Rechtssprache übernommen
wird („vorsätzlich“), in anderen hingegen nicht („sciemment“).21 Derartige begriff-
liche Unklarheiten finden sich nicht nur in Bezug auf den Vorsatz, sondern auch in

15
Art. 3, 5 Richtlinie 2008/99/EG über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt vom
19. 11. 2008, ABl. EU L 328 vom 6. 12. 2008, S. 28.
16
Schlussanträge (Fn. 1), Rn. 145 f.
17
EuGH (Fn. 4), Rn. 37.
18
BVerwG, Beschl. v. 1. 6. 2017 – 1 C 23/16 [juris] Rn. 24; s. zum Vorsatzausschluss bei
neutralen Handlungen: Bergmann, in: Huber (Hrsg.), AufenthG, 2. Aufl. 2016, § 96 Rn. 12,
unter Hinweis auf BGHSt 46, 107, 112.
19
S. etwa § 5 Abs. 1 des österreichischen StGB; Cornils in: Sieber/Cornils (Fn. 9), S. 759,
762 f. (Schweden); Jarvers, ebenda, S. 685, 698 (Italien); Manso Porto, ebenda, S. 773, 776
(Spanien); Weigend, ebenda, S. 740, 742 (Polen); Rankinen, European Criminal Law Review
2016, 117, 122 f. (Finnland).
20
EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011, Rs. C- 72/11, Afrasiabi, Slg. 2011, I-14308 Rn. 67. Es ist
bemerkenswert, dass Generalanwalt Yves Bot auch an diesem Verfahren beteiligt war und in
seinen Schlussanträgen die Auffassung vertreten hatte, dass mit den Begriffen „vorsätzlich“
und „wissentlich“ sowohl die vorsätzliche als auch die fahrlässige Begehung erfasst werden
sollte, Schlussanträge vom 16. 11. 2011, Rn. 86 ff.
21
Der Code pénal verwendet für Vorsatz den Begriff „intention“ (Art. 121 – 3); in der
Doktrin ist daneben der Begriff „dol“ üblich, s. Bouloc (Fn. 9), Rn. 269.
Der EuGH und die Strafrechtsdogmatik 593

Bezug auf andere Begriffe des Allgemeinen Teils.22 Das Verfahren und die Schluss-
anträge des Generalanwalts wecken damit auch grundsätzliche Zweifel, ob es einer
Entwicklung unionsrechtlicher Vorgaben zum Allgemeinen Teil des Strafrechts be-
darf oder ob die mit der Strafrechtsangleichung verfolgten Ziele nicht auch erreicht
werden können, wenn die Regelungen über Vorsatz, Irrtum, Versuch, Anstiftung,
Beihilfe etc. nach Maßgabe des jeweils anwendbaren nationalen Strafrechts ausge-
legt werden. Mit anderen Worten, die den Ausführungen des Generalanwalts zugrun-
de liegende Prämisse, wonach diese unionsrechtlichen Begriffe autonom und einheit-
lich auszulegen sind23, ist auf ihre Tragfähigkeit zu überprüfen.

III. Autonome Begriffsbestimmung oder Verweisung


auf das nationale Strafrecht?
Auf den ersten Blick erscheint es folgerichtig, dass die in den Rechtsakten zur
Strafrechtsangleichung verwendeten Begriffe unionsweit einheitlich ausgelegt wer-
den, denn eine Anknüpfung an die jeweilige nationale Strafrechtsordnung liefe dem
mit dem betreffenden Rechtsakt verfolgten Ziel zuwider, das Strafrecht der Mitglied-
staaten zu harmonisieren.24 Mit der Rechtsprechung des EuGH wird gewissermaßen
nur das nachgeholt, was eigentlich Aufgabe des Unionsgesetzgebers ist, nämlich für
die harmonisierten Deliktsbereiche eine unionsrechtliche Dogmatik des Allgemei-
nen Teils zu entwickeln.25 Nach Auffassung des EuGH folgen aus dem Gebot zur
Wahrung der Einheitlichkeit des Unionsrechts und dem Gleichheitsgrundsatz,
dass die Begriffe des Unionsrechts in der Regel in der gesamten Union autonom
und einheitlich auszulegen sind, es sei denn, die betreffende Vorschrift26 verweist
ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten.27 So hat der EuGH den in einer
EU-Verordnung zu Sanktionen gegen den Iran verwendeten Begriff „vorsätzlich“
als unionsrechtlichen Begriff qualifiziert, der autonom auszulegen sei und nach die-
ser Auslegung auch den bedingten Vorsatz einschließe.28 Andererseits hat der EuGH
22
S. die weiteren Beispiele bei Maiwald, in: Freund/Murmann/Bloy/Perron (Hrsg.), FS
Frisch, 2013, S. 1375, 1383 ff.
23
Schlussanträge (Fn. 1), Rn. 141; ebenso Blomsma (Fn. 9), S. 8; Keiler, Actus reus and
participation in European criminal law, 2013, S. 3; Satzger, ZIS 2016, 771, 774.
24
Blomsma (Fn. 9), S. 8; Grünewald, JZ 2011, 972, 976; Keiler (Fn. 23), S. 3 f.; Satzger,
ZIS 2016, 771, 774.
25
Satzger, ZIS 2016, 771, 774 f., der insoweit für den Erlass einer Rahmenrichtlinie zum
Allgemeinen Teil plädiert.
26
S. etwa Art. 3 Abs. 1 Richtlinie (EU) 2017/541 zur Terrorismusbekämpfung vom 15. 3.
2017, ABl. EU L 88 vom 31. 3. 2017, S. 6 („entsprechend ihrer Definition als Straftaten nach
den nationalen Rechtsvorschriften“).
27
EuGH, Urt.v. 18. 1. 1984, Rs. C-327/82, Ekro, Slg. 1984, 107 Rn. 11; Urt. v. 19. 9. 2000,
Rs. C-287/98, Linster, Slg. 2000, I-6917 Rn. 43; Urt. v. 18. 10. 2011, Rs. C-34/10, Brüstle,
Slg. 2011, I-9849 Rn. 25 m.w.N.
28
EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011, Rs. C-72/11, Afrasiabi, Slg. 2011, I-14308 Rn. 63 ff.
594 Martin Böse

in einem anderen Verfahren, in dem es um die Begriffe Vorsatz, Leichtfertigkeit und


grobe Fahrlässigkeit bei der Einleitung von Schadstoffen in das Küstenmeer ging,
darauf hingewiesen, dass diese Begriffe nicht durch das Gemeinschaftsrecht definiert
würden, sondern in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen integriert seien, und
sich darauf beschränkt, die grobe Fahrlässigkeit als eine qualifizierte Sorgfalts-
pflichtverletzung zu definieren und damit den Mitgliedstaaten insoweit einen Umset-
zungsspielraum zu belassen.29 Bei dieser Lesart wäre das Fehlen eines unionsrecht-
lichen Allgemeinen Teils also nicht als Versäumnis, sondern im Sinne einer Selbst-
beschränkung des Unionsgesetzgebers zu verstehen, welche die strafrechtsdogmati-
sche Konzeption des Allgemeinen Teils der Gesetzgebung und Rechtsprechung in
den Mitgliedstaaten überlässt.
Ob und inwieweit das Unionssekundärrecht es den Mitgliedstaaten erlaubt, bei
dessen Umsetzung in das innerstaatliche Recht an den bestehenden Regelungen
zum Allgemeinen Teil festzuhalten, ist in erster Linie eine Frage der Auslegung
der jeweiligen Richtlinie bzw. der darin enthaltenen Vorschriften. Aus der vertragli-
chen Ermächtigung und der darin angelegten Funktion der Strafrechtsharmonisie-
rung, der bisherigen Gesetzgebungspraxis und dem Vergleich mit der völkervertrag-
lichen Strafrechtsangleichung lassen sich jedoch grundsätzliche Aussagen zur nor-
mativen Reichweite der unionsrechtlichen Vorgaben zum Allgemeinen Teil ableiten;
aufgrund der unterschiedlichen Ziele der Strafrechtsharmonisierung ist dabei zwi-
schen der Bekämpfung der schweren grenzüberschreitenden Kriminalität (Art. 83
Abs. 1 AEUV) und der Durchsetzung von Unionsrecht (Art. 83 Abs. 2 AEUV) zu
unterscheiden.

1. Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität


(Art. 83 Abs. 1 AEUV)

Das Postulat einer autonomen Auslegung unionsrechtlicher Begriffe wird im We-


sentlichen aus dem mit der Strafrechtsangleichung verfolgten Ziel abgeleitet, die
Einheitlichkeit des Unionsrechts zu wahren.30 Diese Begründung ist jedoch nichts-
sagend bzw. zirkelschlüssig, solange offen bleibt, aus welchem Grund eine Verein-
heitlichung des Strafrechts (einschließlich des Allgemeinen Teils) anzustreben ist.31
Die Strafrechtsangleichung ist kein Selbstzweck, sondern die insoweit bestehenden
Kompetenzen der Union sind funktional auf bestimmte Ziele bezogen. Eine Ausle-
gung der sekundärrechtlichen Vorgaben sollte daher an diesen Zielen ansetzen und
fragen, inwieweit ein einheitliches (bzw. harmonisiertes) Verständnis zentraler Be-
griffe des Allgemeinen Teils erforderlich ist, um diese Ziele zu erreichen.
29
EuGH, Urt. v. 3. 6. 2008, Rs. C-308/06, Intertanko, Slg. 2008, I-4100 Rn. 73 ff.; s. auch
die Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 20. 11. 2007, ebenda, Rn. 144 (zur Kon-
kretisierung der Sorgfaltspflichten durch das nationale Recht).
30
Grünewald, JZ 2011, 972, 976; Klip, in: ders. (Hrsg.), Substantive Criminal Law of the
European Union, 2011, S. 15, 16.
31
Stuckenberg, in: Böse (Fn. 2), § 10 Rn. 70; Vogel, in: Böse (Fn. 2), § 7 Rn. 21.
Der EuGH und die Strafrechtsdogmatik 595

Art. 83 Abs. 1 AEUV ermächtigt die Union zur Festlegung eines strafrechtlichen
Mindeststandards in Bereichen besonders schwerer Kriminalität, die aufgrund der
Art oder der Auswirkungen der Straftaten oder aufgrund der besonderen Notwendig-
keit, sie auf einer gemeinsamen Grundlage zu bekämpfen, eine grenzüberschreitende
Dimension haben. Der Strafrechtsangleichung wird damit die Funktion zugewiesen,
eine gemeinsame Grundlage für die grenzüberschreitende Strafverfolgung innerhalb
der Union zu schaffen und dadurch bestehende Hindernisse in der strafrechtlichen
Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten abzubauen.32 Dieser Zusammenhang
zeigt sich besonders deutlich in den Rechtsakten zur Umsetzung des Prinzips der ge-
genseitigen Anerkennung, in denen auf eine Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit
verzichtet wird, soweit der betreffende Deliktsbereich bereits durch unionsrechtliche
(oder ggf. auch völkervertragliche) Vorgaben harmonisiert worden ist33, oder auf an-
dere Weise auf harmonisierte Kriminalitätsbereiche Bezug genommen wird34. Die
Ausübung der Ermächtigung setzt allerdings nicht zwingend voraus, dass die Harmo-
nisierung zur Verbesserung der grenzüberschreitenden Strafverfolgung notwendig
ist, sondern lässt es alternativ genügen, dass die betreffenden Straftaten aufgrund
ihrer Art oder Auswirkungen eine grenzüberschreitende Dimension haben. Beide
Aspekte lassen sich indes nur schwer trennen, da bei derartigen Taten in der
Regel auch ein besonderes Bedürfnis bestehen wird, die grenzüberschreitende Zu-
sammenarbeit zu verbessern.35 Dessen ungeachtet folgt aus der Eigenständigkeit bei-
der Alternativen, dass eine Strafrechtsangleichung auch allein auf Art und Auswir-
kungen der jeweiligen Straftaten gestützt werden kann; die Funktion der Strafrechts-
angleichung bestünde in diesem Fall darin, übergreifende Unionsinteressen (gemein-
same fundamentale Werte, z. B. die in der Grundrechte-Charta garantierten Rechte)
zu schützen und „sichere Häfen“ für Straftäter zu beseitigen.36
Die Strafrechtsangleichung nach Art. 83 Abs. 1 AEUV entspricht damit in ihrer
Finalität weitgehend der entsprechenden Ermächtigung im Rahmen der früheren
„dritten Säule“ (Art. 31 EUVa.F.), die ihrerseits auf dem Grundgedanken der völker-
rechtlichen Strafrechtsharmonisierung durch deliktsspezifische Übereinkommen

32
F. Meyer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht,
7. Aufl. 2015, Art. 83 AEUV Rn. 3; Satzger, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018,
Art. 83 AEUV Rn. 3.
33
Art. 2 Abs. 2 Rahmenbeschluss 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl und
die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten vom 13. 6. 2002, ABl. EU L 190 vom
18. 7. 2002, S. 1; Art. 11 Abs. 1 g) i.V.m. Anhang D Richtlinie 2014/41/EU über die Euro-
päische Ermittlungsanordnung in Strafsachen vom 3. 4. 2014, ABl. EU L 130 vom 1. 5.
2014, S. 1.
34
Art. 4 Abs. 1 Rahmenbeschluss 2006/960/JI über die Vereinfachung des Austauschs von
Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten
der Europäischen Union vom 18. 12. 2006, ABl. EU L 386 vom 29. 12. 2006, S. 89.
35
BVerfGE 123, 267, 410 f.
36
F. Meyer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Fn. 32), Art. 83 Rn. 14 ff.; Vogel, in:
Böse (Fn. 2), § 7 Rn. 24.
596 Martin Böse

(„crime control treaties“) beruhte.37 Zwar zielen diese Verträge in erster Linie darauf
ab, die strafrechtliche Zusammenarbeit zwischen den Vertragsstaaten zu erleich-
tern38, werden aber (zumindest zum Teil) auch von dem Ziel getragen, universelle
Werte (Menschenrechte) effektiver zu schützen39. Die materiell-rechtlichen Vorga-
ben dieser Übereinkommen beziehen sich dabei mitunter auch auf den Allgemeinen
Teil, indem die Vertragsstaaten verpflichtet werden, in Bezug auf die harmonisierten
Straftaten auch die Teilnahme (Anstiftung, Beihilfe) und den Versuch unter Strafe zu
stellen.40 Diese Verpflichtung wird jedoch zum Teil dadurch eingeschränkt, dass sie
nur vorbehaltlich der Grundzüge der Rechtsordnung des jeweiligen Vertragsstaates
gilt.41 Auf diese Weise soll den Unterschieden der nationalen Strafrechtsordnungen,
etwa bei der Abgrenzung von Versuch und (strafloser) Vorbereitung, Rechnung ge-
tragen werden.42 Besonders deutlich kommt diese ratio in dem UN-Übereinkommen
gegen Korruption zum Ausdruck, wonach der Vertragsstaat Teilnahme und Versuch
„in Übereinstimmung mit seinem innerstaatlichen Recht“ als Straftat zu umschrei-
ben hat.43
Allerdings werden die völkerrechtlichen Vorgaben zum Allgemeinen Teil nicht
durchgängig derartigen Einschränkungen unterworfen.44 Indes liegt auch nicht aus-
drücklich unter einen Vorbehalt gestellten Vorgaben die Vorstellung zu Grunde, dass
zentrale strafrechtsdogmatische Begriffe des Allgemeinen Teils nicht durch das
Übereinkommen, sondern durch das jeweils anwendbare nationale Recht definiert

37
Böse, in: ders. (Fn. 2), § 4 Rn. 7; F. Meyer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje
(Fn. 32), Art. 83 Rn. 16.
38
Art. 1 Übereinkommen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität vom
15. 11. 2000 (Palermo-Konvention), BGBl. 2005 II S. 956.
39
Art. 2 Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhan-
dels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels, zum UN-Übereinkommen gegen die
grenzüberschreitende organisierte Kriminalität vom 15. 11. 2000, BGBl. 2005 II S. 995.
40
Art. 6 Abs. 1 b) ii) Palermo-Konvention (Fn. 38); s. auch Art. 5 Abs. 2 a) Zusatzproto-
koll zum Menschenhandel (Fn. 39).
41
Art. 6 Abs. 1 b) Palermo-Konvention (Fn. 38), Art. 5 Abs. 2 a) Zusatzprotokoll zum
Menschenhandel (Fn. 39).
42
McClean, Transnational Organized Crime – A Commentary on the UN Convention and
its Protocols, 2007, S. 83 (zu Art. 6 Palermo-Konvention, Fn. 38); s. zu den Zusatzprotokol-
len: Report of the Ad Hoc Committee on the Elaboration of a Convention against Transna-
tional Organized Crime on the work of its first to eleventh sessions, Addendum, Interpretative
notes for the official records (travaux préparatoires) of the negotiation of the United Nations
Convention against Transnational Organized Crime and the Protocols thereto, A/55/383/
Add.1, S. 13, 17; s. ferner zu Art. 3 Abs. 1 c) iv) UN-Suchtstoff-Übereinkommen: Commen-
tary on the United Nations Convention against Illicit Traffic in Narcotic Drugs and Psycho-
tropic Substances, New York, 1998, S. 75 f.
43
Art. 27 UN-Übereinkommen gegen Korruption vom 31. 10. 2003, BGBl. 2014 II S. 763.
44
S. zur Teilnahme: Art. 5 Abs. 2 b) Zusatzprotokoll zum Menschenhandel (Fn. 39);
Art. 21 des Europarats-Übereinkommens zum Menschenhandel vom 16. 5. 2005, BGBl. 2012
II S. 1108.
Der EuGH und die Strafrechtsdogmatik 597

werden.45 Mit anderen Worten, die Vertragsstaaten werden verpflichtet sicherzustel-


len, dass der Versuch, die Teilnahme etc. nach innerstaatlichem Recht mit Strafe be-
droht sind; es bleibt aber Sache des nationalen Gesetzgebers festzulegen, wie diese
Begriffe (und damit auch die Reichweite der Strafbarkeit) nach Maßgabe der natio-
nalen Strafrechtsordnung inhaltlich ausgestaltet werden.
Der Vergleich mit den völkerrechtlichen Vorgaben zum Allgemeinen Teil lässt
es zweifelhaft erscheinen, dass eine unionsrechtliche Harmonisierung des Allge-
meinen Teils notwendig ist, um auf der Grundlage von Art. 83 Abs. 1 AEUV weit-
gehend ähnliche Ziele zu erreichen, vor allem die strafrechtliche Zusammenarbeit
zu erleichtern.46 Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass bereits die Har-
monisierung der Straftatbestände zu einer Erleichterung der grenzüberschreiten-
den Zusammenarbeit geführt hat (Verzicht auf die Prüfung der beiderseitigen Straf-
barkeit).
Gegen die Parallele zu der völkervertraglichen Strafrechtsharmonisierung lässt
sich freilich einwenden, dass dieser Vergleich die Unterschiede zwischen der völker-
rechtlichen Zusammenarbeit und einer supranationalen Kompetenz zur Strafrechts-
angleichung nicht angemessen berücksichtigt und die Einbeziehung der „dritten
Säule“ in den supranationalen Rahmen und den Integrationsprozess mit einer weiter-
gehenden Strafrechtsharmonisierung verbunden ist, die auch den Allgemeinen Teil
einschließt. Allerdings scheint auch der Unionsgesetzgeber der Auffassung zu sein,
dass eine Vereinheitlichung insoweit nicht zwingend geboten ist.47 So heißt es in den
Schlussfolgerungen des Rates über Musterbestimmungen als Orientierungspunkte
für Beratungen im Bereich des Strafrechts in Bezug auf Vorgaben zu Anstiftung, Bei-
hilfe und Versuch: „Die verschiedenen Regelungen der nationalen Rechtsordnungen
sollten berücksichtigt werden.“48 Die Entschließung des Europäischen Parlaments zu
einem EU-Ansatz im Strafrecht verhält sich zu dieser Frage nicht, erkennt aber aus-
drücklich an, dass die Mitgliedstaaten bei Richtlinien über einen gewissen Umset-
zungsspielraum verfügen, so dass nicht nur das Unionssekundärrecht, sondern
auch dessen Umsetzung in nationale Gesetzgebung den Anforderungen des Be-

45
S. zur Strafbarkeit der Beteiligung an Korruptionsdelikten (Art. 8 Abs. 3 Palermo-Kon-
vention, Fn. 38) den Legislative Guide for the United Nations Convention against Transna-
tional Organized Crime and the Protocols thereto, S. 62, abrufbar unter https://www.unodc.
org/unodc/en/treaties/CTOC/legislative-guide.html (4. 6. 2019); s. zum Vorsatz den erläutern-
den Bericht zum Europarats-Übereinkommen gegen Menschenhandel, Rn. 228, abrufbar unter
https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?documen
tId=09000016800d3812 (4. 6. 2019).
46
Stuckenberg, in: Böse (Fn. 2), § 10 Rn. 70; s. dagegen Keiler (Fn. 23), S. 4.
47
Rankinen, European Criminal Law Review 2016, 117, 126, 140, mit dem Hinweis,
dass die vereinzelte Forderung nach einer präzisen Vorsatzdefinition keinen Widerhall ge-
funden hat, s. insoweit die Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialaus-
schusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs
und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie, SOC/377 – 15. 20.
2010, S. 9.
48
Rats-Dok. 16542/2/09 REV 2, S. 6.
598 Martin Böse

stimmtheitsgebotes (lex certa) entsprechen muss.49 Diese Erwägungen sind bei-


spielsweise dadurch aufgegriffen worden, dass der deutsche Gesetzgeber als Tatbe-
standsmerkmal für den qualifizierten Menschenhandel nicht den unionsrechtlichen
Begriff des „schweren Schadens“50 in das deutsche Recht übernommen hat, sondern
insoweit an bestehende Qualifikationen (z. B. § 250 Abs. 2 Nr. 3 a) StGB) ange-
knüpft und das Merkmal über den Begriff der schweren körperlichen Misshandlung
präzisiert hat (§ 232 Abs. 3 Nr. 2 StGB).51 Demgegenüber wurde der Begriff des
„schweren Schadens“ bei Angriffen auf Informationssysteme52 im materiellen
Sinne verstanden und über den „Vermögensverlust großen Ausmaßes“ (§ 303b
Abs. 4 S. 2 Nr. 1 StGB) umgesetzt. Da das Unionsrecht nach dem gegenwärtigen
Stand keinerlei Maßstäbe bzw. Ansatzpunkte bereithält, um diese unbestimmten
Rechtsbegriffe zu konkretisieren, kann dem Bestimmtheitsgebot nur durch eine Be-
zugnahme auf das nationale Strafrecht Rechnung getragen werden. Dies ist bei Vor-
gaben zu erschwerenden Umständen auch deshalb angezeigt, weil die Höhe bzw. Zu-
messung der Strafe in weiten Teilen in der Regelungskompetenz der Mitgliedstaaten
verbleibt. Zum Teil werden den Mitgliedstaaten aber auch bei der Festlegung des
strafwürdigen Unrechts kriminalpolitische Spielräume belassen, indem „leichte
Fälle“ von der Kriminalisierungspflicht ausgenommen werden.53 Ausweislich der
Präambel können die Mitgliedstaaten insoweit festlegen, was nach dem innerstaat-
lichen Recht als „leichter Fall“ gilt und aus diesem Grund kein Strafunrecht dar-
stellt.54
Diese Erwägungen lassen sich ohne Weiteres auch auf den Allgemeinen Teil über-
tragen55, so dass für den nationalen Gesetzgeber nicht nur eine Befugnis, sondern
sogar eine Pflicht besteht, die im jeweiligen Rechtsakt verwendeten Begriffe (Ver-
such, Anstiftung, Beihilfe etc.) nach Maßgabe der eigenen Rechtsordnung zu kon-
kretisieren und zu präzisieren. In der Regel verbürgt die Orientierung an der natio-
nalen Strafrechtsdogmatik sogar ein höheres Maß an Rechtssicherheit als eine uni-
onsrechtliche Begriffsbestimmung, da das zuständige Gericht bei der Auslegung und
Anwendung an ein gefestigtes und ausdifferenziertes Begriffssystem anknüpfen
kann.

49
Entschließung vom 24. 4. 2012 – 2010/2310(INI), A7/0144/2012, unter L.; s. auch
Generalanwältin Kokott, Schlussanträge vom 20. 11. 2007, Rs. C-308/06, Intertanko,
Rn. 144.
50
Art. 4 Abs. 2 d) Richtlinie 2011/36/EU zur Verhütung und Bekämpfung des Men-
schenhandels, ABl. EU L 101 vom 15. 4. 2011, S. 1
51
BT-Drucks. 18/9095, S. 31; s. dazu Böse, KriPoZ 2018, 16, 18.
52
Art. 9 Abs. 4 lit. b) Richtlinie 2013/40/EU über Angriffe auf Informationssysteme vom
12. 8. 2013, ABl. EU L 218 vom 14. 8. 2013, S. 8.
53
Art. 3, 4, 5 und 6 Richtlinie 2013/40/EU über Angriffe auf Informationssysteme vom
12. 8. 2013, ABl. EU L 218 vom 14. 8. 2013, S. 8.
54
Erwägung (11) der Richtlinie, mit Beispielen.
55
Vgl. Klip, European Criminal Law, 3. Aufl. 2016, S. 42 (in Bezug auf den in derselben
Bestimmung verwendeten Begriff „vorsätzlich“).
Der EuGH und die Strafrechtsdogmatik 599

Dieses Verständnis der unionsrechtlichen Vorgaben, das es den Mitgliedstaaten


ermöglicht, auch für die harmonisierten Straftaten an der nationalen Dogmatik
des Allgemeinen Teils festzuhalten, wird auch dadurch bestätigt, dass die vertragli-
che Ermächtigung (Art. 83 Abs. 1 AEUV) auf das Instrument der Richtlinie begrenzt
ist, das den Mitgliedstaaten einen Umsetzungsspielraum belässt (Art. 288 Abs. 3
AEUV). Den Mitgliedstaaten wird damit die Möglichkeit eingeräumt, die unions-
rechtlichen Vorgaben so umzusetzen, dass es nicht zu inneren Widersprüchen und
Verwerfungen innerhalb derselben nationalen Strafrechtsordnung kommt (vertikale
Kohärenz).56 In dem kürzlich von der rumänischen Ratspräsidentschaft vorgelegten
Bericht zur Zukunft des EU-Strafrechts wird denn auch die Bedeutung dieses Hand-
lungsspielraums und die daraus folgende Notwendigkeit betont, den Mitgliedstaaten
eine ausreichende Umsetzungsfrist von mindestens zwei Jahren einzuräumen.57
Zudem ist zum Schutz von wesentlichen Grundsätzen der nationalen Strafrechtsord-
nung ein Notbremsemechanismus vorgesehen (Art. 83 Abs. 3 AEUV), der nicht da-
durch unterlaufen werden darf, dass die dogmatische Begriffsbildung nicht im Wege
der Gesetzgebung (die möglicherweise nach Art. 83 Abs. 3 AEUV gescheitert wäre),
sondern durch unionsrichterliche Rechtsfortbildung vorgenommen wird.58 Wenn-
gleich der Begriff der „grundlegenden Aspekte“ einer Strafrechtsordnung nicht über-
dehnt werden darf, so liegt es doch auf der Hand, dass die Lehren des Allgemeinen
Teils in einem engen Zusammenhang mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen ste-
hen und aus diesem Grund für die nationale Strafrechtsordnung eine fundamentale
Bedeutung haben können.59
Schließlich ist die Strafrechtsangleichung auf den Erlass von „Mindestvorschrif-
ten“ beschränkt (Art. 83 Abs. 1 AEUV). Dies bedeutet, dass der Unionsgesetzgeber –
und damit auch der EuGH im Wege der Auslegung – nur eine Untergrenze dafür fest-
legen kann, was nach dem Recht der Mitgliedstaaten „mindestens“ von dem jewei-
ligen Begriff (Versuch, Anstiftung etc.) umfasst sein muss.60 Die Mitgliedstaaten
wären aber weiterhin frei, über dieses Minimum hinauszugehen, indem sie an
einer weitergehenden („punitiveren“) Begriffskonzeption festhalten. Dies würde
für die zu Beginn zitierten Ausführungen des Generalanwalts bedeuten, dass ein uni-
onsrechtlicher (restriktiver) Vorsatzbegriff, der den dolus eventualis nicht ein-
schließt, die Bundesrepublik Deutschland nicht daran hinderte, im Bereich der
Schleusungsdelikte (§§ 96, 97 AufenthG) an dem herkömmlichen, auch den beding-

56
S. das Manifest zur Europäischen Kriminalpolitik, ZIS 2009, 697, 699, 705 f., allerdings
vor allem mit Bezug auf die unionsrechtlichen Vorgaben zur Rechtsfolgenseite (Strafrahmen);
s. im vorliegenden Zusammenhang Brons, Binnendissonanzen im AT, 2013, S. 165 ff.
57
Rats-Dok. 9318/19, S. 10.
58
Vgl. Böse, Common Market Law Review 48 (2011), 189, 200 f.
59
S. zur Straflosigkeit des untauglichen Versuchs nach italienischem Recht: Maiwald in:
FS Frisch (Fn. 22), S. 1381.
60
Weißer, GA 2014, 433, 451.
600 Martin Böse

ten Vorsatz umfassenden Begriffsverständnis des deutschen Strafrechts festzuhal-


ten.61
Die an der bisherigen Gesetzgebungspraxis geübte Kritik, die formelhafte Ver-
wendung allgemeiner Begriffe des Allgemeinen Teils führe nur zu einer „Scheinhar-
monisierung“62, geht daher in zweifacher Hinsicht fehl: Einerseits wird verkannt,
dass – wie im Völkerrecht – dem nationalen Gesetzgeber vorgegeben wird, dass
die innerstaatlichen Vorschriften über den Versuch, die Teilnahme etc. auf den har-
monisierten Deliktsbereich Anwendung finden und die Entscheidung über das „Ob“
der Strafbarkeit nicht mehr im Belieben des nationalen Gesetzgebers steht. Anderer-
seits wird bei dieser Kritik ausgeblendet, dass harmonisierte Mindestvorgaben nicht
zu einem einheitlichen Begriffsverständnis führen, solange die Mitgliedstaaten über
die unionsrechtliche Konzeption hinausgehen können.63 Die systembildende Kraft
einer solchen „Untergrenze“ ist vielmehr von vornherein begrenzt, da sie aufgrund
ihrer Offenheit „nach oben“ zu einer trennscharfen Begriffsbildung nicht in der Lage
ist.
Soweit der Unionsgesetzgeber von Begriffsbestimmungen abgesehen hat, müsste
auch die Auslegung durch den EuGH an einer rechtsvergleichenden Analyse der
Strafrechtsordnungen der Mitgliedstaaten ansetzen64, so dass sich die Frage nach
dem Mehrwert stellt, die eine auf dieser Grundlage gewonnene „Untergrenze“ ge-
genüber einer Auslegung hat, die von vornherein auf die einschlägigen Regelungen
des jeweiligen Mitgliedstaates verweist. Dabei ist einzuräumen, dass eine einheitli-
che Auslegung dogmatischer Begriffe im Einzelfall dazu führen mag, dass ein Mit-
gliedstaat im harmonisierten Bereich nicht mehr an dem innerstaatlichen Begriffs-
verständnis festhalten kann. In diesem Fall stellt sich allerdings wiederum die
Frage, ob eine solche Vorgabe tatsächlich notwendig ist, um die mit der Strafrechts-
angleichung verfolgten Ziele zu erreichen. Konkret: Ist die unionsweite Strafbarkeit
des untauglichen Versuchs65 notwendig, um die grenzüberschreitende Zusammenar-
beit bei der Verfolgung der betreffenden Straftaten zu erleichtern? Auch wenn dem
Unionsgesetzgeber bei der Beurteilung, inwieweit eine Harmonisierung notwendig
ist, ein Spielraum zusteht, sollte die Bedeutung des Allgemeinen Teils für die Effek-
tivität der Verfolgung der grenzüberschreitenden Kriminalität nicht überschätzt wer-
den.66
61
Dies bestätigt zugleich die These des BVerwG sowie des EuGH, dass die (strafbewehr-
ten) Pflichten des Busunternehmers nicht durch die Richtlinie, sondern allein durch den
Schengener Grenzkodex begrenzt werden können (s. oben II.).
62
Satzger, in: Böse (Fn. 2), § 2 Rn. 38.
63
S. auch Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. 2015, § 8 Rn. 38, § 11 Rn. 6.
64
Ambos, in: Klip (Fn. 30), S. 227, 229 ff.; s. beispielhaft die Arbeiten von Blomsma
(Fn. 9) und Keiler (Fn. 23).
65
Vgl. das Beispiel bei Satzger, in: Böse (Fn. 2), § 2 Rn. 38.
66
Stuckenberg, in: Böse (Fn. 2), § 10 Rn. 70, mit dem überdies berechtigten Hinweis, dass
Unterschiede im Strafprozessrecht einen ungleich größeren Einfluss auf die Strafverfol-
gungspraxis haben.
Der EuGH und die Strafrechtsdogmatik 601

Abschließend spricht noch die folgende Überlegung gegen eine Auslegung der
Rechtsakte zur Strafrechtsangleichung, wonach der EuGH den Mitgliedstaaten
über die Auslegung autonomer Begriffe des Unionsrechts Vorgaben für die nationale
Strafrechtsdogmatik entwickeln kann. Eine solche Auslegung nähme den Mitglied-
staaten nicht nur den Ermessensspielraum, die Voraussetzungen für eine Versuchs-
strafbarkeit nach dem innerstaatlichen Recht festzulegen, sondern auch die Befugnis,
Ausnahmen von der Versuchsstrafbarkeit (z. B. den Rücktritt, § 24 StGB) vorzuse-
hen.67 Ein solches Verständnis widerspricht indes der bisherigen Umsetzungspraxis,
wonach auch für den harmonisierten Bereich davon ausgegangen wird, dass die uni-
onsrechtliche Kriminalisierungspflicht die Anwendung der allgemeinen Rechtferti-
gungs-, Entschuldigungs- und Strafaufhebungsgründe keineswegs ausschließt.68 Für
eine solche Auslegung der sekundärrechtlichen Vorgaben spricht auch der Umkehr-
schluss aus den Bestimmungen, mit denen diese nationalen Vorschriften etwa da-
durch modifiziert werden, dass das Einverständnis des Opfers mit Blick auf das tat-
bestandliche Unrecht für unerheblich erklärt wird.69 Noch deutlicher zeigen sich die
den Mitgliedstaaten belassenen Spielräume bei den Regelungen zur Teilnahme, die
sich gleichermaßen an Rechtsordnungen mit einem Einheitstätermodell wie an
solche richtet, die nach der Art der Tatbeteiligung differenzieren.70 Auf diese
Weise können die harmonisierten Straftatbestände in die nationalen Strafrechtsord-
nungen eingebettet werden71, während ein unionsrechtlicher Allgemeiner Teil für
den harmonisierten Bereich zu erheblichen Verwerfungen und unter Umständen
sogar dazu führen könnte, dass in ein und demselben Strafverfahren zwei Allgemeine
Teile Anwendung fänden.72

67
Zweifelnd Satzger, in: Böse (Fn. 2), § 2 Rn. 38.
68
Klip, European Criminal Law (Fn. 55), S. 229; Miettinen, Criminal Law and Policy in
the European Union, 2013, S. 135.
69
Art. 2 Abs. 4 Richtlinie 2011/36/EU zur Verhütung und Bekämpfung des Menschen-
handels vom 5. 4. 2011, ABl. EU L 101 vom 15. 4. 2011, S. 1; s. dagegen Art. 8 Richtlinie
2011/93/EU zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von
Kindern sowie der Kinderpornographie vom 13. 12. 2011, ABl. EU L 335 vom 17. 12. 2011,
S. 1, berichtigt durch ABl. L 18 vom 21. 1. 2012, S. 7. Dort wird den Mitgliedstaaten bei
sexuellen Handlungen Minderjähriger, die auf gegenseitigem Einverständnis beruhen, ein
Ermessensspielraum zugestanden und die in den vorangehenden Vorschriften begründete
Kriminalisierungspflicht insoweit eingeschränkt.
70
Vgl. die entsprechende Kritik bei Grünewald, JZ 2011, 972, 975; Satzger, ZIS 2016,
771, 774; Weißer, GA 2014, 433, 451.
71
Tiedemann, NJW 1993, 23, 27; Sieber, ZStW 121 (2009), 1, 47 f.
72
Stuckenberg, in: Böse (Fn. 2), § 10 Rn. 70; Weigend, in: Schünemann/Achenbach/Bott-
ke/Haffke/Rudolphi (Hrsg.), FS Claus Roxin, 2001, S. 1375, 1380 f.; s. auch Grünewald, JZ
2011, 972, 976.
602 Martin Böse

2. Durchsetzung von Unionssekundärrecht


(Art. 83 Abs. 2 AEUV)

Eine weitergehende Harmonisierung, die sich auch auf eine Vereinheitlichung des
Allgemeinen Teils erstreckt, könnte sich aus Rechtsakten ergeben, die auf die straf-
rechtliche Annexkompetenz gestützt worden sind, um die wirksame Durchführung
der Unionspolitiken zu gewährleisten (Art. 83 Abs. 2 AEUV). Dafür könnte zum
einen sprechen, dass die Annexkompetenz an bereits harmonisierte Verhaltensnor-
men anknüpft und sich daraus auch eine größere Harmonisierungsdichte für die straf-
rechtlichen Vorgaben ergeben könnte. Eine weitergehende Angleichung des Allge-
meinen Teils könnte aber auch auf das mit der Annexkompetenz verfolgte Ziel ge-
stützt werden, das Unionsrecht effektiv durchzusetzen.73
Was den ersten Punkt angeht, so ist zunächst festzuhalten, dass die Strafrechtsan-
gleichung nach Art. 83 Abs. 2 AEUV akzessorisch zu Verhaltensnormen ist, die be-
reits auf der Grundlage einer anderen Unionskompetenz normiert worden sind. Diese
sekundärrechtlichen Verhaltensnormen können unmittelbar in einer Verordnung
festgelegt worden sein74, unter Umständen aber auch in einer Richtlinie, die erst
durch die Umsetzung in innerstaatliches Recht für den Einzelnen verbindlich
wird. Jedenfalls soweit sich diese unionsrechtlichen Verbote aus einer Verordnung
ergeben, ist es den Mitgliedstaaten grundsätzlich verwehrt, die Verbotsnorm durch
innerstaatliches Recht zu erweitern, d. h. es handelt sich insoweit nicht um einen
Mindeststandard, sondern um eine „Vollharmonisierung“, die konsequenterweise
auch den Erlass weitergehender nationaler Strafvorschriften ausschließt.75 Exempla-
risch sei an dieser Stelle nur auf die Frage verwiesen, ob und inwieweit die abschlie-
ßende Festlegung der unionsrechtlichen Verbote im Bereich des Kapitalmarktrechts
es ausschließt, nach deutschem Recht auch die Marktmanipulation durch Unterlas-
sen (§ 119 Abs. 1 WpHG i.V.m. § 13 StGB) mit Kriminalstrafe zu ahnden.76 Das Uni-
onsrecht legt also nicht nur eine Untergrenze (strafrechtlicher Mindeststandard), son-
dern auch eine Obergrenze (Harmonisierung der tatbestandlichen Verbotsnorm) fest.
Der Spielraum des nationalen Strafgesetzgebers beschränkt sich mithin darauf fest-
zulegen, unter welchen Voraussetzungen ein Verstoß gegen das unionsrechtliche Ver-
bot so schwer wiegt, dass es mit Kriminalstrafe zu ahnden ist.77

73
Vgl. insoweit zu den Unterschieden zu Art. 83 Abs. 1 AEUV: F. Meyer, in: von der
Groeben/Schwarze/Hatje (Fn. 32), Art. 83 AEUV Rn. 63 f.
74
S. etwa die Verordnung (EU) Nr. 596/2014 über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchs-
verordnung) vom 16. 4. 2014, ABl. EU L 173 vom 12. 6. 2014, S. 1.
75
S. auch zur früheren Marktmissbrauchsrichtlinie Klip, European Criminal Law (Fn. 55),
S. 182.
76
S. dazu einerseits Bator, BKR 2016, 1 ff., andererseits Böse, wistra 2018, 22 ff.
77
Vgl. Art. 3 Abs. 1, 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 Richtlinie 2014/57/EU vom 16. 4. 2014 über
strafrechtliche Sanktionen bei Marktmanipulation vom 16. 4. 2014 (Marktmissbrauchsrichtli-
nie), ABl. EU L 173 vom 12. 6. 2014, S. 179, wonach eine unionsrechtliche Kriminalisie-
rungspflicht bei schweren und vorsätzlichen Zuwiderhandlungen besteht.
Der EuGH und die Strafrechtsdogmatik 603

Die größere Harmonisierungsdichte, die sich aus der Bezugnahme auf sekundär-
rechtliche Verhaltensnormen ergibt, lässt indes nicht die Schlussfolgerung zu, dass
auch die im Rahmen der Annexkompetenz angenommenen Rechtsakte und die
darin enthaltenen Vorgaben zum Allgemeinen Teil einen stärkeren Grad an Harmo-
nisierung oder sogar eine einheitliche strafrechtsdogmatische Begriffsbildung erfor-
dern. Der Grund dafür liegt schlicht und einfach darin, dass sich die größere Harmo-
nisierungsdichte nicht aus der nach Art. 83 Abs. 2 AEUV erlassenen Richtlinie er-
gibt, sondern aus dem Rechtsakt, mit dem die jeweils einschlägige Verhaltensnorm
festgelegt worden ist.78 So ist es zwar keineswegs ausgeschlossen, dass sich auch aus
der Auslegung der tatbestandlichen Verbotsnorm Konsequenzen für das – insoweit
akzessorische – Strafrecht und dessen Allgemeinen Teil ergeben.79 Die Auslegung
der nach Art. 83 Abs. 2 AEUV erlassenen Vorgaben für das Strafrecht der Mitglied-
staaten vermögen sie indes nicht zu determinieren.
Dies gilt auch in den Politikbereichen, in denen der Vollzug des Unionsrechts
nicht allein den Mitgliedstaaten, sondern ausnahmsweise (auch) der Union obliegt.
So ist bei einer Befugnis der Kommission, Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht
(Art. 101, 102 AEUV) durch Verhängung einer Geldbuße zu ahnden, die Entwick-
lung eines Allgemeinen Teils nur folgerichtig, um auf dieser Grundlage eine konsis-
tente und vorhersehbare Sanktionspraxis zu entwickeln.80 Soweit diese Grundsätze
aus einer Auslegung des materiellen Unionsrechts gewonnen werden, sind sie
auch von den Behörden und Gerichten der Mitgliedstaaten zu beachten; beispielhaft
sei insoweit nur auf die strengen Anforderungen des EuGH an einen unvermeidbaren
Verbotsirrtum im Wettbewerbsrecht verwiesen.81 Solange die Union noch keine ei-
gene Strafgerichtsbarkeit ausübt, besteht eine solche Notwendigkeit allerdings nicht
für das Kriminalstrafrecht, da die entsprechenden Sanktionen weiterhin allein durch
die Gerichte der Mitgliedstaaten auf der Grundlage des innerstaatlichen Straf- und
Strafverfahrensrechts verhängt werden. Mit der Errichtung einer Europäischen
Staatsanwaltschaft ändert sich daran nichts:82 Zwar wird die sachliche Zuständigkeit
für Straftaten gegen die finanziellen Interessen der Union per Verweisung auf die ein-
schlägige Richtlinie festgelegt83, aber das auf die Anklageerhebung folgende Haupt-
verfahren findet vor dem zuständigen nationalen Gericht nach dem Straf- und Straf-

78
S. am Beispiel der Marktmanipulation: Böse, wistra 2018, 22, 23 f.
79
Vgl. z. B. zum fehlenden Vorsatzerfordernis bei Verstößen gegen das unionsrechtliche
Insiderhandelsverbot: EuGH, Urt. v. 23. 12. 2009, Rs. C-45/08, Spector Photo Group,
Rn. 32 ff., und dazu Klip, European Criminal Law (Fn. 55), S. 182.
80
S. dazu Vogel/Brodowski, in: Sieber/Satzger/von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäi-
sches Strafrecht, 2. Aufl. 2016, § 5 Rn. 42 ff. m.w.N.
81
EuGH, Urt. v. 18. 6. 2013, Rs. C-681/11, Schenker, NJW 2013, 3083 Rn. 36 ff.
82
S. dagegen Blomsma (Fn. 9), S. 13 f.; Grünewald, JZ 2011, 972, 975 f.; Keiler (Fn. 23),
S. 5; Klip, European Criminal Law (Fn. 55), S. 539 f.
83
Art. 22 Abs. 1 Verordnung (EU) 2017/1939 zur Durchführung einer verstärkten Zu-
sammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft vom 12. 10. 2017 (EUStA-
VO), ABl. EU L 283 vom 31. 10. 2017, S. 1.
604 Martin Böse

verfahrensrecht des betreffenden Mitgliedstaates statt.84 Eine vom nationalen Recht


der Mitgliedstaaten unabhängige Sanktionsbefugnis der Europäischen Staatsanwalt-
schaft besteht hingegen nicht.
Um eine unionsweite Vereinheitlichung der Vorgaben zum Allgemeinen Teil zu
begründen, ist daher bei der Funktion der Annexkompetenz anzusetzen, mit dem Ein-
satz des Strafrechts zu einer wirksamen Durchsetzung des Unionsrechts beizutragen.
Dass dieser Zweck auch eine weitergehende Harmonisierung gebieten kann als eine
Strafrechtsangleichung nach Art. 83 Abs. 1 AEUV, zeigt sich in Vorgaben, die z. B.
auch Regelungen zur Verjährung enthalten, um sicherzustellen, dass für die Aufklä-
rung und Verfolgung von Betrügereien zum Nachteil der Union ein ausreichender
Zeitraum zur Verfügung steht.85 Soweit sich der Richtlinie keine derartigen Vorgaben
entnehmen lassen, bleibt es indes grundsätzlich Sache des nationalen Gesetzgebers
zu entscheiden, auf welche Weise er die Richtlinie in das innerstaatliche Strafrecht
umsetzt.86 Die Vorgaben zum Allgemeinen Teil (Strafbarkeit von Versuch, Teilnah-
me etc.) lassen daher auch in diesem Kontext Raum für eine Auslegung, welche es
den Mitgliedstaaten ermöglicht, an den dogmatischen Grundlagen ihrer Strafrechts-
ordnung festzuhalten. In diesem Sinne wurde in dem erläuternden Bericht zu dem
Übereinkommen zum Schutz der finanziellen Interessen der Union, dem Vorläufer
der oben genannten Richtlinie, ausdrücklich darauf hingewiesen, dass für die Vor-
schriften zu Versuch und Beteiligung die Definitionen gelten, die in den strafrecht-
lichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten enthalten sind.87
Der Umsetzungsspielraum wird allerdings nicht nur durch die sekundärrechtli-
chen Vorgaben, sondern auch durch die allgemeine Pflicht der Mitgliedstaaten zur
effektiven Durchsetzung des Unionsrechts begrenzt. Mit Blick auf den Schutz der
finanziellen Interessen der Union ist diese Pflicht in Art. 325 Abs. 1 AEUV dahin-
gehend präzisiert worden, dass die Mitgliedstaaten Betrügereien und andere gegen
die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrigen Handlungen mit
Maßnahmen bekämpfen, die abschreckend sind und einen wirksamen Schutz bewir-
ken. In der Rechtssache „Taricco“ hat der EuGH festgestellt, dass ein Mitgliedstaat
gegen diese Pflicht verstößt, wenn in einer beträchtlichen Anzahl von Fällen Taten,
die einen schweren Betrug zum Nachteil der Union begründen, wegen Eintritts der
Verfolgungsverjährung nicht strafrechtlich geahndet werden können.88 Diese Recht-

84
Art. 36 EUStA-VO; s. auch zur Einstellung und alternativen Verfahrensabschlüssen:
Art. 39, 40 EUStA-VO.
85
Art. 12 Richtlinie (EU) 2017/1371 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die
finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug vom 5. 7. 2017, ABl. EU L 198 vom
28. 7. 2017, S. 29.
86
EuGH, Urt. v. 5. 12. 2017, Rs. C-42/17, M.A.S. und M.B., Rn. 44 f.
87
Erläuternder Bericht zum Übereinkommen über den Schutz der Finanziellen Interessen
der Europäischen Gemeinschaften, ABl. EU C 191 vom 23. 6. 1997, S. 1, 5.
88
EuGH, Urt. v. 8. 9. 2015, Rs. C-105/14, Taricco, Rn. 47; s. auch EuGH, Urt. v. 5. 12.
2017, Rs. C-42/17, M.A.S. und M.B., Rn. 35. Auf die Frage, ob der Vorrang des Unionsrechts
(Art. 325 AEUV) damit eine Verjährung nach Maßgabe des innerstaatlichen Strafverfahrens-
Der EuGH und die Strafrechtsdogmatik 605

sprechung wurde in der Folgezeit auf eine Regelung im nationalen Strafverfahrens-


recht übertragen, wonach ein Ermittlungsverfahren auf Antrag des Beschuldigten
einzustellen ist, wenn dieses nicht innerhalb von zwei Jahren abgeschlossen ist.89
Andererseits hat der EuGH es nicht beanstandet, wenn eine nationale Regelung
die Nichtabführung von Umsatzsteuer, für die bereits eine Erklärung abgegeben wor-
den ist, nur mit Sanktionen gegen die steuerpflichtige juristische Person ahndet, ohne
zugleich auch deren Organ als natürliche Person zu sanktionieren; der den Mitglied-
staaten insoweit verbleibende Spielraum wurde mit deren verfahrensrechtlicher und
institutioneller Autonomie begründet.90 Aus ähnlichen Erwägungen hat es der EuGH
abgelehnt, aus Art. 325 Abs. 1 AEUV eine unionsrechtliche Pflicht zur Verwertung
von Erkenntnissen aus einer rechtswidrigen Telefonüberwachung abzuleiten, mit der
ein strafprozessuales Verwertungsverbot verdrängt würde, da dieses seinerseits auf
der unionsrechtlichen Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und zur Wahrung
eines rechtsstaatlichen Verfahrens beruhe.91 Die Pflicht zur wirksamen Durchsetzung
des Unionsrechts gilt also nicht „um jeden Preis“92, sondern nur dann, wenn die be-
treffende Regelung des nationalen Rechts die systemische Gefahr begründet, dass
Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union ungeahndet bleiben.93
Solche systemischen Mängel weisen die Bestimmungen des Allgemeinen Teils (und
die ihnen zu Grunde liegende Dogmatik) in aller Regel nicht auf, was sich wiederum
darin bestätigt, dass der Unionsgesetzgeber bislang davon abgesehen hat, die in den
einschlägigen Richtlinien verwendeten Begriffe sekundärrechtlich zu konkretisie-
ren. Mit der Aufnahme dieser Begriffe (Versuch, Anstiftung etc.) in das Sekundär-
recht werden zwar Ansatzpunkte für die Entwicklung einer unionsrechtlichen Dog-
matik des Allgemeinen Teils geschaffen, und darin liegt ein Unterschied zu den all-
gemeinen Vorgaben, die dem nationalen Gesetzgeber durch das Effektivitätsprinzip
gesetzt sind.94 Letztlich ist die strafrechtliche Annexkompetenz (Art. 83 Abs. 2
AEUV) jedoch ebenso wie die allgemeine Loyalitätspflicht (Art. 4 Abs. 3 EUV)
als Grundlage des Effektivitätsprinzips auf die Durchsetzung des Unionsrechts be-
zogen, so dass die oben genannten Erwägungen auch auf die nach Art. 83 Abs. 2
AEUV erlassenen Rechtsakte übertragen werden können.

rechts ausschließt oder einer Nichtanwendung der Verjährungsvorschriften das Rückwir-


kungsverbot entgegensteht, kommt es im vorliegenden Zusammenhang nicht an, s. dazu
EuGH, Rs. C-105/14, Rn. 54 ff., und EuGH, Rs. C-42/17, Rn. 45, 58 ff.; s. dazu Wegner, wistra
2018, 107 ff. m.w.N.
89
EuGH, Urt. v. 5. 6. 2018, Rs. C-612/15, Kolev, Rn. 63, 76.
90
EuGH, Urt. v. 2. 5. 2018, Rs. C-574/15, Scialdone, Rn. 51.
91
EuGH, Urt. v. 17. 1. 2019, Rs. C-310/16, Dzivev, Rn. 38 f.
92
Vgl. die pointierte Zuspitzung bei Generalanwalt Bobek, Rs. C-310/16, Rn. 122 f.
93
EuGH, Urt. v. 5. 6. 2018, Rs. C-612/15, Kolev, Rn. 65.
94
S. im vorliegenden Zusammenhang zu den indirekten Kollisionen des nationalen Rechts
mit dem Unionsrecht, in denen sich Ersteres als „Umsetzungsverhinderungsrecht“ erweist:
Classen, in: Dünkel/Fahl/Hardtke/Harrendorf/Regge/Sowada (Hrsg.), GS Joecks, 2018, S. 9,
10 f. m.w.N.
606 Martin Böse

IV. Fazit
Nach alledem besteht also Grund, bei der Auslegung unionsrechtlicher Begriffe
des Allgemeinen Teils Zurückhaltung walten zu lassen und den Mitgliedstaaten bei
der Umsetzung der jeweiligen Richtlinie zur Strafrechtsangleichung einen Ermes-
sensspielraum zu belassen, der es ihnen ermöglicht, an den Grundsätzen und Begrif-
fen der nationalen Strafrechtsdogmatik festzuhalten. Diese Forderung widerspricht
dem vom EuGH entwickelten Postulat, dass unionsrechtliche Begriffe einheitlich
und autonom auszulegen sind, und es deutet wenig darauf hin, dass der EuGH
diese Position aufgeben und die unionsrechtlichen Vorgaben als Verweisungen auf
das nationale Recht interpretieren wird. Es wäre aber bereits viel gewonnen, wenn
mit einer unionsrechtlichen Begriffsbildung nicht der Anspruch erhoben wird, auf
jede Auslegungsfrage zur Dogmatik des Allgemeinen Teils eine unionsweit einheit-
liche Antwort zu geben, sondern stattdessen einer Auslegung der Vorzug gegeben
wird, die den jeweiligen Mitgliedstaat nicht zur Übernahme dogmatischer Begriffe
zwingt, die seiner Strafrechtsordnung fremd sind.
Dies muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass sich der EuGH jedweder inhaltli-
chen Aussage zu zentralen Begriffen des Allgemeinen Teils enthält. Es geht vielmehr
darum, dass bei der unionsrechtlichen Begriffsbildung die unterschiedlichen Tradi-
tionen der Mitgliedstaaten nicht aus dem Blick geraten. Dass die deutsche Straf-
rechtsdogmatik zur internationalen Diskussion um Grundfragen des Allgemeinen
Teils einen substantiellen Beitrag leisten kann, hat Reinhard Merkel für das Völker-
strafrecht mit Recht betont und zugleich angemahnt, die Unterschiede zwischen den
Regelungen im Statut über den Internationalen Strafgerichtshof und dem deutschen
Völkerstrafrecht offen zu diskutieren und sie nicht durch die vordergründige Behaup-
tung weitgehender inhaltlicher Parallelen zu überdecken.95 Auch im europäischen
(besser: europäisierten) Strafrecht können die Standardelemente der nach Art. 83
AEUV erlassenen Rechtsakte nicht darüber hinwegtäuschen, dass man noch weit
von einer einheitlichen Strafrechtsdogmatik entfernt ist. Anders als im Völkerstraf-
recht, das von dem Internationalen Strafgerichtshof ausgelegt und angewandt wird,
ergibt sich daraus jedoch nicht zwangsläufig ein Handlungsbedarf für den Unions-
gesetzgeber oder den EuGH. Mit anderen Worten: Bevor darüber diskutiert wird,
wie die Voraussetzungen des Versuchs, der Anstiftung, der Beihilfe etc. im Unions-
recht auszugestalten sind, sollte man sich fragen, ob es einer solchen Festlegung
durch den Unionsgesetzgeber bedarf. Solange dieser den Mitgliedstaaten einen wei-
ten Umsetzungsspielraum belässt, ist zu hoffen, dass der EuGH auch weiterhin der
Versuchung widersteht, sich in strafrechtsdogmatischen Grundsatzfragen mit einer
autonomen Begriffsbildung zu positionieren.

95
Merkel, ZStW 114 (2002), 437, 447, 454.
IV. Strafrecht Allgemeiner Teil
Auslandsrechtsanwendung,
Auslandsrechtsprüfung,
Auslandsrechtsberücksichtigung und
Auslandsrechtsermittlung
im deutschen Strafverfahren
Von Peter Mankowski

I. Einleitung
Anwendung ausländischen Rechts, Fremdrechtsanwendung im Strafverfahren und
durch Strafgerichte? Das muss in den Augen echter Strafrechtler zuerst wie eine große
Provokation aussehen. Ist denn nicht die Kognitionskompetenz der deutschen Strafge-
richte durch die Anwendung des deutschen Strafrechts begrenzt? Wird nicht gemein-
hin1 die Zuständigkeit der deutschen Strafgerichte daran gekoppelt, dass nach §§ 3 – 7
StGB deutsches Strafrecht anwendbar ist,2 weil §§ 3 – 7 StGB Grundlage sowohl für
die jurisdiction to prescribe als auch für die jurisdiction to adjudicate seien3 ? Ist
damit die causa Fremdrechtsanwendung im Strafprozess nicht schon beendet, bevor
sie überhaupt begonnen hat?
Indes wissen auch Strafrechtler um das immer stärkere Zusammenwachsen der
Welt. Globalisierung und Internationalisierung machen vor dem Strafrecht nicht
halt. Straftaten und Strafverfolgung machen an der Grenze des einzelnen Staates
nicht halt. Wer wüsste das besser als Strafrechtler? Vor allem aber: Wenn die Frage-
stellung denn eine Provokation wäre – umso besser und umso geeigneter für eine Fest-
schrift zu Ehren von Reinhard Merkel! Denn der Jubilar hat sich immer einen offenen
und erfrischenden Geist bewahrt. Grenzen waren und sind ihm nichts. Er liebt Provo-
kationen nachgerade. Denn sie regen ihn zum Nachdenken und zur gedanklichen Aus-
1
Zu einem Alternativkonzept mit internationaler Zuständigkeit als eigenständiger Kate-
gorie im Strafprozessrecht Mankowski/Stefanie Bock, JZ 2008, 555.
2
Siehe nur BGHSt 20, 22; BGHSt 34, 1, 3; BGH NStZ-RR 1997, 257; OLG Saarbrücken
NJW 1975, 406; Jeßberger, Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts,
2011, S. 115 f.; Löwe/Rosenberg/Heiner Kühne, StPO, Bd. 1: Einl.; §§ 1 – 47 StPO, 27. Aufl.
2016, Einl. E Rn. 5; Ambos, Internationales Strafrecht, 5. Aufl. 2018, § 1 Rn. 4; Bertram
Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019, Einl. Rn. 211; Thomas Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, Vor
§§ 3 – 7 StGB Rn. 1.
3
Deutlich insbesondere Brutscher, Zivilrechtsakzessorietät des Strafrechts bei Sachver-
halten mit Auslandsbezug – am Beispiel des § 242 StGB, 2014, S. 41.
610 Peter Mankowski

einandersetzung an. Nichts ist für den Jubilar langweiliger als Routine. Einstimmigkeit
und allgemeines Konformgehen wären ihm nachgerade verdächtig.
Mich verbindet mit Reinhard Merkel ein Jahrzehnt nettester Flurnachbarschaft im
zweiten Stock des Hamburger Rechtshauses. Aus dieser langjährigen Verbundenheit
heraus hoffe ich auf sein Wohlwollen für die hier versuchte Grenzüberschreitung im
doppelten Sinne (zum einen geographisch, zum anderen thematisch).

II. Der Unterschied zwischen Anwenden einerseits und Prüfen


bzw. Berücksichtigen ausländischen Rechts andererseits
1. Grundsätzliches

Zuerst ist eine Abgrenzung geboten: Man muss deutlich zwischen der eigentlichen,
echten Anwendung einerseits und der bloßen Prüfung bzw. Berücksichtigung auslän-
dischen Rechts andererseits unterscheiden.4 Als tragendes Recht ist ausländisches
Recht nur dann im eigentlichen Sinne anwendbar, wenn es von einer Rechtsanwen-
dungsnorm, einer Kollisionsnorm, des deutschen Rechts für anwendbar erklärt
wird.5 Ohne Rechtsanwendungsbefehl des forumeigenen Kollisionsrechts kann es
keine echte Anwendung fremden Rechts geben. Ausländisches Recht ist dem deutschen
Recht nur dann Recht, wenn das deutsche Recht selber dieses ausländische Recht als
Recht beruft. Als Recht berufen heißt: in Tatbestand und Rechtsfolge berufen.6 Prüfen
bzw. Berücksichtigen ausländischen Rechts7 vollzieht sich dagegen inzident und
gleichsam „akzessorisch“ im Rahmen des Tatbestands der im eigentlichen Sinne an-
wendbaren Norm.8 Prüfen ausländischen Rechts ist daher keine Anwendung ausländi-
schen Rechts im strengen, engeren Sinne.9 Berücksichtigen ausländischen Rechts10

4
Siehe nur Dannemann, FS Hans Stoll, 2001, S. 417, 419; Bollée, Mélanges Bertrand
Ancel, 2018, S. 203, 205 f.
5
Siehe nur Ohler, Die Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005,
S. 42 – 47; Böse, in: Nomos Kommentar StGB, Bd. 1: §§ 1 – 79b StGB, 5. Aufl. 2017, Vor
§§ 3 ff. StGB Rn. 63.
6
Auf den Punkt Dannemann, Die ungewollte Diskriminierung in der internationalen
Rechtsanwendung, 2004, S. 77 f., 92 f.; Bollée, Mélanges Bertrand Ancel, 2018, S. 203, 205.
Außerdem Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, S. 349; Jochen Schröder,
Die Anpassung von Kollisions- und Sachnormen, 1961, S. 63; Jayme, GS Albert Ehrenzweig,
1976, S. 35, 45; Hans Stoll, FS Kurt Lipstein, 1980, S. 259, 260; Heßler, Sachrechtliche
Generalklausel und internationales Familienrecht, 1985; S. 149, 169; Schlechtriem, IPRax
1996, 184.
7
Eingehend dazu Fohrer, La prise en considération des normes étrangères, 2008.
8
Siehe nur Böse, in: Nomos Kommentar StGB, Bd. 1: §§ 1 – 79b StGB, 5. Aufl. 2017, Vor
§§ 3 ff. StGB Rn. 63; Marc-Philippe Weller, RabelsZ 81 (2017), 747, 775 f.; Bollée, Mélanges
Bertrand Ancel, 2018, S. 203, 205 f.; Matthias Lehmann/Ungerer, YbPIL 19 (2017/2018), 53,
75.
9
Entgegen Mosiek, StV 2008, 94, 98.
Auslandsrechtsanwendung, -prüfung, -berücksichtigung und -ermittlung 611

heißt Heranziehen, Einfließenlassen gerade nicht im strengen Sinne anwendbarer


Rechtsnormen.11 Art. 17 Rom II-VO macht dies im geltenden IPR deutlich, indem
er das Berücksichtigen sogar zum „faktisch Berücksichtigen“ deklariert.12 Auch
Art. 9 III Rom I-VO mit seiner besonderen Rechtsfolge „kann Wirkung verliehen wer-
den“ eröffnet Ermessen und zwingt nicht zur unbedingten Anwendung von Eingriffs-
normen eines forumfremden Erfüllungsorts.13 Berücksichtigen ist also in der Rechts-
folge ein deutliches Minus zur Anwendung im strengen Sinne.14 Anwenden, Prüfen
und Berücksichtigen sind verschiedene Kategorien. Dies ist nicht nur eine terminolo-
gische Unterscheidung, sondern sogar zuvörderst eine sachliche. Die Terminologie
vollzieht nur nach und setzt nur um, was die Sache gebietet.

Terminologisch unglücklich Ambos, in: Münchener Kommentar StGB, Bd. 1: §§ 1 – 37


StGB, 3. Aufl. 2017, § 7 StGB Rn. 8: Prüfung sei Fremdrechtsanwendung, aber nur deutsches
Strafrecht werde angewendet.
Ähnlich wie hier Werle/Jeßberger, in: Leipziger Kommentar StGB, Bd. I, 13. Aufl. 2019,
Vor § 3 StGB Rn. 350: „Fremdrechtsanwendung in einem weiteren Sinne“ (Hervorhebung
hinzugefügt).
10
Noch jenseits dessen ist das etwaige Berücksichtigen ausländischer Rechtsvorstellungen
und kultureller Prägungen eine weitere Kategorie. Gerade dem Strafrecht ist sie nicht fremd,
besonders prominent mit der Berücksichtigung kultureller Prägungen beim Mordmerkmal der
niedrigen Beweggründe; BGH NJW 1980, 537 einerseits; BGH NJW 1995, 602 andererseits;
Versuch eines theoretischen Überbaus bei Grundmann, NJW 1985, 1251; Marc-Philippe
Weller, in: Die Person im Internationalen Privatrecht – Liber amicorum Erik Jayme, 2019,
S. 53, 65 f.
11
Dannemann, Die ungewollte Diskriminierung in der internationalen Rechtsanwendung,
2004, S. 78.
12
Begründung der Kommission zum Vorschlag für eine Verordnung über das auf außer-
vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, KOM (2003) 427 endg. S. 25; Betlem/
Bernasconi, (2006) 122 LQR 124, 150; v. Hein, VersR 2007, 440, 446; Leible/Matthias Leh-
mann, RIW 2007, 721, 725; Dickinson, Rome II Regulation, 2008, Rn. 15,33; Peter Huber/
Bach, Rome II Regulation, 2011, Art. 17 Rome II Regulation Rn. 6; v. Bar/Mankowski, In-
ternationales Privatrecht II: Besonderer Teil, 2. Aufl. 2019, § 2 Rn. 421; siehe auch Thomas
Pfeiffer, Liber amicorum Klaus Schurig, 2012, S. 229, 233 – 236.
13
Siehe nur Freitag, IPRax 2009, 109, 114; Kurt Siehr, RdA 2014, 206, 209 f.; Thomale,
EuZA 2016, 116, 124; v. Bar/Mankowski, Internationales Privatrecht II: Besonderer Teil,
2. Aufl. 2019, § 1 Rn. 966 – 969.
Anders indes Thomas Pfeiffer, EuZW 2008, 622, 628; Leible/Matthias Lehmann, RIW
2008, 528, 542; Remien, FS Bernd v. Hoffmann, 2011, S. 334, 345.
14
Thomas Pfeiffer, Liber amicorum Klaus Schurig, 2012, S. 229, 235; Marc-Philippe
Weller, in: Die Person im Internationalen Privatrecht – Liber amicorum Erik Jayme, 2019,
S. 53, 78.
612 Peter Mankowski

2. § 7 I und II Nr. 1 StGB als Beispiele für die Bedeutsamkeit


der Unterscheidung

Für § 7 I und II Nr. 1 StGB ist die Strafbarkeit nach dem Recht eines ausländischen
Tatorts Anwendungsvoraussetzung15 (es sei denn, der Tatort unterläge überhaupt kei-
ner staatlichen Strafgewalt). Ein deutsches Strafgericht ist also gehalten, zu prüfen, ob
das ausländische Tatortrecht im konkreten Fall eine Strafbarkeit bejahen würde.16 Es
muss das ausländische Tatortrecht dabei aber nicht im strikten, engen Sinn anwenden.17
Denn es prüft das ausländische Tatortrecht eben nur hypothetisch, stützt seinen eigenen
Ausspruch jedoch allein auf Normen des deutschen Rechts, niemals auf Normen des
ausländischen Tatortrechts.18 Die deutsche Strafnorm ist gleichsam Transformations-
regel für die ausländische Strafnorm.19 Sie ist die eigentliche, genauer: die einzige zur
Anwendung kommende Sanktionsnorm.20 Dabei ist sie nicht Sekundärnorm,21 sondern
Primärnorm. § 7 StGB wiederum ist – wie seine Schwesternormen aus §§ 3 – 6 StGB –
einseitige Kollisionsnorm des deutschen Strafrechts.22
Bejaht das deutsche Strafgericht eine hypothetische Strafbarkeit unter dem auslän-
dischen Tatortrecht, so hat es damit noch nicht mehr getan, als eine Tatbestandsvoraus-
setzung in einem Tatbestand des deutschen Strafanwendungsrechts zu bejahen. Es hat
den nötigen, weil vom deutschen Strafanwendungsrecht vorgeschriebenen Abgleich
mit dem betreffenden ausländischen Recht vorgenommen.23 Die eigentliche Rechtsan-
wendung steht dann noch bevor, und diese eigentliche Rechtsanwendung ist Anwen-
15
Siehe nur Werle/Jeßberger, in: Leipziger Kommentar StGB, Bd. I, 13. Aufl. 2019, § 7
StGB Rn. 23.
16
Mustergültig geschehen durch den GBA in BGH NStZ-RR 2016, 213 = NZFam 2016,
576 m. Anm. Rentsch.
Außerdem z. B. RGSt 5, 424; RGSt 27, 135, 136 f.; RGSt 40, 402, 403 f.; RGSt 42, 330,
331 f.; RGSt 54, 249; RGSt 70, 324, 325 f.; BGH NJW 1954, 1086; BGHSt 27, 5, 6 f.; BGH
NJW 1997, 334; OLG Celle NJW 2001, 2734; LG Krefeld StV 1984, 317; Ambos, in: Mün-
chener Kommentar StGB, Bd. 1: §§ 1 – 37 StGB, 3. Aufl. 2017, § 7 StGB Rn. 6; Schönke/
Schröder/Eser/Weißer, StGB, 30. Aufl. 2019, § 7 Rn. 4; Werle/Jeßberger, in: Leipziger
Kommentar StGB, Bd. I, 13. Aufl. 2019, § 7 StGB Rn. 29.
17
Werle/Jeßberger, in: Leipziger Kommentar StGB, Bd. I, 13. Aufl. 2019, § 7 StGB
Rn. 23.
18
Vorbildlich OLG Hamm NStZ 2018, 292 = MMR 2019, 53.
19
Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 1991, S. 112; Böse, in: Nomos Kommentar
StGB, Bd. 1: §§ 1 – 79b StGB, 5. Aufl. 2017, § 7 StGB Rn. 14.
20
BGH NJW 1997, 334; Dietrich Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. 1993, S. 152;
Böse, in: Nomos Kommentar StGB, Bd. 1: §§ 1 – 79b StGB, 5. Aufl. 2017, Vor §§ 3 ff. StGB
Rn. 10; Eser/Weißer, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 7 StGB Rn. 18; Werle/
Jeßberger, in: Leipziger Kommentar StGB, Bd. I, 13. Aufl. 2019, § 7 StGB Rn. 23 sowie
Pawlik, ZIS 2006, 286 (286 f.); Deiters, ZIS 2006, 472.
21
So aber Böse, in: Nomos Kommentar StGB, Bd. 1: §§ 1 – 79b StGB, 5. Aufl. 2017, Vor
§§ 3 ff. StGB Rn. 10.
22
Siehe nur Mankowski/Stefanie Bock, ZStW 120 (2008), 704, 720 mwN.
23
Beispielhaft OLG Hamm NStZ 2018, 292 = MMR 2019, 53 (dazu Lilie-Hutz, FD-StrafR
2018, 407453; Tausch, NJW-Spezial 2018, 538).
Auslandsrechtsanwendung, -prüfung, -berücksichtigung und -ermittlung 613

dung allein des jetzt ja kraft § 7 II StGB anwendbaren deutschen Strafrechts. Dies un-
termauert das Prinzip: Fremdrechtsanwendung im Sinne der unmittelbaren Anwen-
dung ausländischer Strafrechtsnormen ist im geltenden deutschen Strafrecht und vor
deutschen Strafgerichten nicht vorgesehen.24
Verneint das deutsche Strafgericht dagegen eine hypothetische Strafbarkeit unter
dem ausländischen Tatortrecht, so muss es in der Konsequenz die Anwendbarkeit deut-
schen Strafrechts verneinen und nach herrschendem Verständnis die Anklage abwei-
sen. Denn nach herrschendem Verständnis fehlt es bei Nichtanwendbarkeit deutschen
Strafrechts an einer Voraussetzung für einen Strafprozess in Deutschland: Das her-
kömmlich verstandene Zuständigkeitsrecht des deutschen Strafprozesses koppelt die
internationale Zuständigkeit der deutschen Strafgerichte eben an die Anwendbarkeit
deutschen Strafrechts und sieht ein Prozesshindernis, wenn deutsches Strafrecht
nicht anwendbar ist.25 Anderes kann sich nur ergeben, wenn man die internationale Zu-
ständigkeit als eigenständige Kategorie versteht und – entsprechend dem Grundsatz der
Doppelfunktionalität, bekannt aus dem deutschen Internationalen Zivilprozessrecht –
mit einer Analogie zu den Regeln über die örtliche Zuständigkeit ausfüllt.26 Im schluss-
endlichen Ergebnis, dass ein deutsches Strafgericht keine Verurteilung aussprechen
würde, trifft man sich dabei wieder mit dem herrschendem Verständnis. Nur würde
man nicht durch Prozessurteil abweisen, sondern ein Sachurteil begründen.

III. Anwendungsfelder für eine echte Anwendung


ausländischen Rechts in Strafverfahren
vor deutschen Strafgerichten
1. Zivilrechtliche Vorfragen

a) Materielles Strafrecht

Nicht wenige Straftatbestände enthalten indes zivilrechtliche Vorfragen. Die ent-


sprechenden Merkmale des Straftatbestands sind zivilrechtlich determiniert, und das
Strafrecht enthält sich einer eigenen, genuin strafrechtlichen Ausfüllung, sondern ak-
zeptiert die Vorgaben des Zivilrechts. Die Beispiele für solche Straftatbestände mit zi-
vilrechtlichen Vorfragen sind zahlreicher, als man intuitiv annehmen würde: §§ 242,
246 StGB („fremd“), § 170 StGB (Unterhaltspflicht), § 172 StGB (Ehe), § 235
StGB (Sorgerecht),27 § 266 StGB (Pflichtenpositionen), § 283 StGB (Insolvenz),
§ 283b StGB (Buchführungspflicht), § 288 StGB (Pfändung), ja selbst § 263 StGB
24
Werle/Jeßberger, in: Leipziger Kommentar StGB, Bd. I, 13. Aufl. 2019, Vor § 3 StGB
Rn. 349; Dannemann, Die ungewollte Diskriminierung in der internationalen Rechtsanwen-
dung, 2004, S. 43.
25
Nachweise in Fn. 1.
26
Mankowski/Stefanie Bock, JZ 2008, 555.
27
BGH NStZ-RR 2016, 213 = NZFam 2016, 576 m. Anm. Rentsch.
614 Peter Mankowski

(Forderung als Vermögensbestandteil; Rechtswidrigkeit der beabsichtigten Bereiche-


rung) sind nur die prominentesten im StGB selber.28 Das Nebenstrafrecht wimmelt gar
von solchen Straftatbeständen mit zivilrechtlichen Vorfragen, insbesondere im Gesell-
schaftsrecht.29 Man denke nur an die Diskussion, ob sich Directors einer Limited nach
§ 266 StGB, § 266a StGB oder § 84 GmbHG strafbar machen können.30
Fremdrechtsanwendung in deutschen Strafverfahren darf man deshalb in der not-
wendigen Folge nicht unbesehen mit „Anwendung fremden Strafrechts in deutschen
Strafverfahren“ gleichsetzen. Denn auch die Anwendung fremden Zivilrechts ist,
ganz wörtlich verstanden, Fremdrechtsanwendung. Die Anwendung fremden Zi-
vilrechts muss nicht die entscheidende Hürde überwinden, dass die deutsche Strafjustiz
keine Strafansprüche ausländischer Staaten durchsetzt. Denn bei einer Anwendung
bloß ausländischen Zivilrechts steht überhaupt kein Strafanspruch eines ausländischen
Staates in Rede. Gegen sie gibt es keine Sperrwirkung aus §§ 3 – 7 StGB.31 Vielmehr
folgt aus der Einheit der Rechtsordnung: Was zivilrechtlich erlaubt ist, soll nicht straf-
rechtlich verboten sein;32 und zivilrechtlich erlaubt ist, was die Rechtsordnung unter
Einschluss des Internationalen Privatrechts und des nach diesem berufenen Rechts er-
laubt.33

b) Strafprozessrecht

Zivilrechtliche Vorfragen können sich jedoch nicht nur in Tatbeständen des mate-
riellen Strafrechts stellen. Vielmehr können sie auch in Normen des deutschen Straf-
prozessrechts auftreten, wie eine vor kurzem erschienene Hamburger Dissertation ein-

28
Siehe nur Mankowski/Stefanie Bock, ZStW 120 (2008), 704, 705; Böse, in: Nomos
Kommentar StGB, Bd. 1: §§ 1 – 79b StGB, 5. Aufl. 2017, Vor §§ 3 ff. StGB Rn. 63.
29
Siehe nur Mankowski/Stefanie Bock, ZStW 120 (2008), 704, 753 – 757.
30
Siehe nur BGH NStZ 2010, 632 = ZIP 2010, 1233; Rönnau, ZGR 2005, 832; Altenhain/
Wietz, NZG 2008, 569; Radtke, GmbHR 2008, 729; Ransiek/Hüls, ZGR 2009, 157; Weiß,
Strafbare Insolvenzverschleppung durch den Director einer Ltd., 2009; Worm, Die Strafbar-
keit eines directors einer englischen Limited nach deutschem Strafrecht, 2009; Wietz, Ver-
mögensbetreuungspflichtverletzung gegenüber einer im Inland ansässigen Auslandsgesell-
schaft, 2009; Pattberg, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Directors einer englischen
Limited in Krise und Insolvenz, 2010; Edward Schramm/Hinderer, ZJS 2010, 494; Beckem-
per, ZJS 2010, 554; Schlösser/Mosiek, HRRS 2010, 424; Rubel/Nepomuck, EWiR 2010, 761;
Wegner, GWR 2010, 267; Niels Hoffmann, StRR 2010, 432; Mankowski/Stefanie Bock,
GmbHR 2010, 822; Kraatz, JR 2011, 58; Radtke/Rönnau, NStZ 2011, 556.
31
Eingehend Brutscher, Zivilrechtsakzessorietät des Strafrechts bei Sachverhalten mit
Auslandsbezug – am Beispiel des § 242 StGB, 2014, S. 71 – 77.
32
BVerfG NJW 2010, 3209 Rn. 96, 130, 139 – 142; LG Düsseldorf NJW 2004, 3275, 3276;
Günther Tiedemann/Harro Otto, ZStW 111 (1999), 673, 695; Spickhoff, FS Erwin Deutsch
zum 80. Geb., 2009, S. 907, 914; Kraatz, ZStW 123 (2011), 447, 449 f.; Gössl, in: Effer-Uhe/
Hoven/Kempny/Rösinger (Hrsg.), Einheit der Prozessrechtswissenschaft, 2016, S. 127, 128.
33
Gössl, in: Effer-Uhe/Hoven/Kempny/Rösinger (Hrsg.), Einheit der Prozessrechtswis-
senschaft, 2016, S. 127, 128.
Auslandsrechtsanwendung, -prüfung, -berücksichtigung und -ermittlung 615

drucksvoll belegt hat.34 Prominentestes Beispiel sind die Zeugnis- bzw. Aussagever-
weigerungsrechte für Ehegatten,35 Verlobte und Verwandte. Auch insoweit erfolgt
keine eigene strafprozessuale Ausfüllung, sondern macht sich das Strafprozessrecht
die Vorgaben des Zivilrechts zu eigen. Typischerweise geht es bei diesen Vorfragen
um Statusverhältnisse oder Verwandtschaftsverhältnisse. Es wäre merkwürdig und
nicht zu begründen, wenn diese Fragen im Strafprozessrecht eigenständig und anders
beurteilt würden als im Zivilrecht. Die Vorstellung, dass es etwas so Kurioses geben
könnte wie ein nach Rechtsgebieten getrenntes Verheiratetsein (man könnte dann
für die Zwecke des Unterhaltsrechts verheiratet sein, für jene des Strafprozessrechts
aber nicht), hat etwas Erheiterndes36 und ist in den Kategorien der Methodenlehre ge-
sprochen ein valides argumentum ad absurdum. Status hat einheitlich Status zu sein,
rechtsgebietsübergreifend.

2. Adhäsionsverfahren

Eine Sonderrolle spielt wegen seiner zivilrechtlichen Zusammenhänge das Adhäsi-


onsverfahren, das hier dementsprechend gesonderte und besondere Aufmerksamkeit
verdient. Denn das Adhäsionsverfahren ist seinem Charakter nach ein zivilrechtliches
Schadensersatzverfahren, verlagert vor ein Strafgericht. Bezweckt ist, die Prozessöko-
nomie zu erhöhen, indem ein gesonderter Zivilprozess vor einem Zivilgericht, das sich
in den Fall mit entsprechendem Zeit- und Arbeitsaufwand einarbeiten müsste, vermie-
den wird.37 Außerdem soll so der Opferschutz gefördert werden.38 Die Prozessökono-
mie kommt aber auch dem Angeklagten und dem Gerichtswesen insgesamt zugute.39
Obendrein wird die Gefahr einander widersprechender straf- und zivilgerichtlicher
Entscheidungen zu demselben Sachverhalt vermindert.40 Der Sachzusammenhang
wird besser abgebildet.41 Die Trennung zwischen straf- und zivilrechtlicher Erledigung
ein und desselben Sachverhalts erscheint vielen Laien sowieso künstlich und unorga-
nisch; das Adhäsionsverfahren überwindet sie.42 Das Strafgericht übt im Adhäsions-

34
Strobel, Internationales Privatrecht in der Strafprozessordnung am Beispiel der §§ 52,
395 und 406 StPO, 2019.
35
Z. B. BGH NStZ-RR 2018, 20 = StV 2018, 557; Ebner/Martin Müller, NStZ 2010, 657.
36
Vgl. Staudinger/Mankowski, BGB, HUP, 2016, Vorbem. HUP Rn. 33.
37
Dölling/Duttge/Stefan König/Rössner/Weiner, Gesamtes Strafrecht, 4. Aufl. 2017, § 403
StPO Rn. 1; Satzger/Schluckebier/Widmaier/Schöch, StPO, 3. Aufl. 2018, Vor § 403 StPO
Rn. 1; Dauer, Das Adhäsionsverfahren im Rechtsvergleich, 2018, S. 20, 45; Grau, in: Mün-
chener Kommentar zur StPO, Bd. 3/1: § 333 – 349 StPO, 2019, § 403 StPO Rn. 1.
38
Insbesondere Dauer, Das Adhäsionsverfahren im Rechtsvergleich, 2018, S. 20, 45.
39
Klaus Schroth, Die Rechte des Verletzten im Strafprozess, 3. Aufl. 2018, Rn. 317;
Satzger/Schluckebier/Widmaier/Schöch, StPO, 3. Aufl. 2018, Vor § 403 StPO Rn. 1.
40
KMR/Stöckel, StPO, Losebl., Vor § 403 StPO Rn. 1 (Mai 2013).
41
Dauer, Das Adhäsionsverfahren im Rechtsvergleich, 2018, S. 20.
42
Satzger/Schluckebier/Widmaier/Schöch, StPO, 3. Aufl. 2018, Vor § 403 StPO Rn. 1.
616 Peter Mankowski

verfahren gleichsam stellvertretende Zivilrechtspflege aus.43 § 404 II 1 StPO misst


der Antragstellung im Adhäsionsverfahren die Wirkungen einer Klagerhebung in
einem Zivilprozess bei; § 405 I 1 StPO erlaubt den Parteien des Adhäsionsverfahrens
sogar einen Vergleich; § 406 II StPO erlaubt ein Anerkenntnis des Angeklagten und
führt damit – neben § 405 I 1 StPO – ein weiteres Element der Dispositionsmaxime
ein;44 § 406 III 1 StPO stellt die Entscheidung im Adhäsionsverfahren einem zivil-
gerichtlichen Urteil gleich.
Im eigentlichen Adhäsionsverfahren selber kommt es45 nicht zur Anwendung ma-
teriellen Strafrechts. Niemand wird aufgrund einer Norm des StGB als Anspruchs-
grundlage (dieser Begriff ist hier notwendig in strikt zivilrechtlicher Terminologie
zu verstehen) zu Schadensersatz verurteilt. Das StGB enthält überhaupt keine An-
spruchsgrundlagen für Schadensersatz. Auch deshalb gibt es § 823 II BGB als Schar-
niernorm im deutschen Deliktsrecht, damit Straftaten Schadensersatzansprüche des
Opfers nach sich ziehen. Selbst eine Verurteilung zur Wiedergutmachung als jugend-
straffolgenrechtlicher Wiedergutmachung des Täters gegenüber dem Opfer nach § 15
I 1 Nr. 1 JGG beruht nicht auf einem eigenen, einklagbaren Wiedergutmachungsan-
spruch des Opfers,46 der mit etwaigen zivilrechtlichen Schadensersatzansprüchen kon-
kurrieren würde.
Im Adhäsionsverfahren gelten daher für die Frage, welches Recht bei Auslandsbe-
rührung anwendbar ist, die Kollisionsregeln des Internationalen Privatrechts und nicht
jene des Internationalen Strafrechts. Das Adhäsionsverfahren koppelt als Zivilprozess
die internationale Zuständigkeit nicht an die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts,
sondern folgt den eigenen Zuständigkeitsregeln des Internationalen Zivilverfahrens-
rechts. Artt. 7 Nr. 3 Brüssel Ia-VO; 5 Nr. 4 LugÜbk 2007 statuieren dafür sogar
einen eigenen besonderen Gerichtsstand als zusätzliche Option neben dem allgemei-
nen Gerichtsstand des Beklagten in dessen Wohnsitzstaat aus Artt. 4 I Brüssel Ia-VO;
2 I LugÜbk 2007.47

43
Theresa Wilhelmi, IPRax 2005, 236, 237 (in Anlehnung an Krey); Mankowski, FG Ru-
dolf Machacek und Franz Matscher, 2008, S. 785, 786.
44
BGH 15. 1. 2014 – 4 StR 532/13 Rn. 4; BGH 21. 1. 2014 – 2 StR 434/13 Rn. 12 f.; BGH
7. 11. 2018 – 4 StR 353/18 Rn. 7.
45
Anders als in dem Anklage- oder Privatklageverfahren, an das sich das Adhäsionsver-
fahren anschmiegt.
46
Siehe nur BGH StV 2017, 713; LG Zweibrücken NStZ 1997, 283; Eisenberg, Jugend-
gerichtsgesetz (20. Aufl. 2018) § 15 Rn. 6.
47
Zu Artt. 7 Nr. 3 Brüssel Ia-VO; 5 Nr. 4 LugÜbk 2007 näher Christian Kohler, in: Will
(Hrsg.), Schadensersatz im Strafverfahren, 1990, S. 74; Schoibl, FS Rainer Sprung, 2001,
S. 321; Mankowski, FG Rudolf Machacek und Franz Matscher, 2008, S. 785; ders., in: Magnus/
Mankowski, Brussels Ibis Regulation, 2016, Art. 7 Brussels Ibis Regulation Rn. 399 – 406.
Auslandsrechtsanwendung, -prüfung, -berücksichtigung und -ermittlung 617

IV. Ermittlung anzuwendenden oder zu berücksichtigenden


ausländischen Rechts
Soweit ausländisches Recht eine Rolle spielen kann, stellen sich Folgefragen: Wie
ist dieses ausländische Recht zu ermitteln? Welche Quellen sind dafür heranzuziehen?
Welche Intensität und welche Tiefe müssen walten? Im Zivilprozess versucht sich
§ 293 ZPO an Antworten auf diese Fragen. Die Fragen haben Einfluss auf die prakti-
sche Durchführbarkeit einer Fremdrechtsanwendung im Strafverfahren.48

1. Anklageverfahren

a) Keine ausdrückliche Verweisung der StPO auf die ZPO


und § 293 ZPO in Anklageverfahren

Die StPO verweist indes nirgends für Anklageverfahren, also gleichsam „echte“
Strafverfahren, auf die ZPO. Nirgends beruft sie insoweit die ZPO explizit zur Ergän-
zung. Darin unterscheidet sie sich fundamental von VwGO, FGO, SGG und ArbGG.
Alle diese Prozessordnungen berufen nämlich ergänzend die ZPO (und als deren Teil
§ 293 ZPO49), wenn sie selber eine Lücke enthalten: § 173 S. 1 VwGO; § 155 S. 1
FGO; § 202 S. 1 SGG; § 46 II 1 ArbGG. Die StPO enthält dagegen keine solche Brü-
ckennorm.50 Mangels Verweisung auf die ZPO überhaupt kann in einem Anklagever-
fahren daher auch § 293 ZPO als Teil der ZPO nicht direkt zur Anwendung kommen.
Andererseits hat der BGH Fragen nach der Rechtslage in einem ausländischen Staat als
Rechtsfragen eingestuft, welche der eigenständigen Beurteilung durch den BGH als
deutsches Revisionsgericht unterliegen.51 Daraus wird eine Revisibilität ausländischen
Rechts unter § 337 StPO abgeleitet.52 Ob das Revisionsgericht zur Überprüfung der
Anwendung und Feststellung ausländischen Rechts berechtigt ist oder nicht, hängt
stets davon ab, ob nach der Formulierung der jeweiligen Prozessnorm die Revision
nur auf die Verletzung von Bundesrecht oder – ganz allgemein – auf die Verletzung

48
Vgl., kritisch, Mosiek, StV 2008, 94, 99.
49
Siehe nur BFHE 260, 312 Rn. 33 mwN = BStBl. II 2018, 444 = BB 2018, 687 m. zust.
Anm. Sebastian Heß = HFR 2018, 324 m. zust. Anm. Baldauf; BFH BFH/NV 2018, 440
Rn. 37; Binnewies/Estevez Gomez, AG 2018, 219; Norbert Mückl, DStR 2018, 119; Böing/
Dokholian, EStB 2018, 87; Michael Wendt, BFH/PR 2018, 123; Aweh, AO-StB 2018, 119;
Florian Haase, BB 37/2018, I.
50
Siehe nur Strobel, Internationales Privatrecht in der Strafprozessordnung am Beispiel der
§§ 52, 395 und 406 StPO, 2019, S. 327 mwN.
51
BGHSt 52, 67 Rn. 45 = NJW 2008, 595 m. Anm. Rübenstahl = JZ 2008, 366 m. Anm.
Heger (dazu Schlegel, jurisPR-SozR 5/2008 Anm. 6; Trüg, IBR 2008, 298).
52
Vallender/Felix Fuchs, FS Bruno M. Kübler, 2015, S. 731, 735; Gössl, in: Effer-Uhe/
Hoven/Kempny/Rösinger (Hrsg.), Einheit der Prozessrechtswissenschaft, 2016, S. 127, 136 –
138.
618 Peter Mankowski

einer Rechtsnorm gestützt werden kann.53 Im letzteren Sinn ist § 337 StPO formuliert
(ebenso wie § 73 ArbGG). Im Strafprozessrecht54 wird daraus jeweils ganz konse-
quent auf die Revisibilität heranzuziehenden ausländischen Privatrechts geschlossen
(ebenso wie parallel im Arbeitsprozessrecht55).
§ 293 ZPO befasst sich vorrangig mit den Modalitäten für die Ermittlung anwend-
baren ausländischen Rechts.56 Er weist im Zivilprozess einem anwendbaren Auslands-
recht eine Art Zwitterstellung zu: Zwar ist ihm dieses Auslandsrecht Recht, nicht Tat-
sache.57 Aber trotzdem ist Auslandsrecht zu beweisen. Es ist sozusagen „besonderes“
Recht. Bei ihm kann man nicht mit der Unterstellung „iura novit curia“ arbeiten.58 Bei
ihm kann man nicht voraussetzen, dass die an einem Prozess in Deutschland Beteilig-
ten es kennen, weil sie es gelernt haben und weil es ihnen sprachlich wie systematisch
zugänglich ist.59 Indes greift keine objektive oder subjektive Beweislast im strikten
Sinne.60 Es waltet ein Freibeweisverfahren,61 und die Parteien eines Zivilprozesses trifft

53
Mankowski, in: Christian v. Bar/Mankowski, Internationales Privatrecht I: Allgemeine
Lehren, 2. Aufl. 2003, § 5 Rn. 107.
54
RGSt 10, 285, 287; RGSt 57, 48; BGH GA 1976, 218; BayObLG VRS 29, 354; Bay-
ObLG NJW 1972,1222; KMR-Momsen, StPO (Losebl.) § 337 StPO Rn. 3; Franke, in: Löwe/
Rosenberg, StPO, Bd. 7/2 §§ 312 – 373a StPO 26. Aufl. 2013, § 337 StPO Rn. 8; Kuckein, in:
Karlsruher Kommentar zur stopp (8. Aufl. 2019) § 337 StPO Rn. 8; Temming, in: Heidelber-
ger Kommentar zur StPO (6. Au, 6. Auflage 2019) § 337 StPO Rn. 4; Schmitt, in: Meyer-
Goßner/Schmitt, StPO (62. Aufl. 2019), § 337 StPO Rn. 2; Gerd Pfeiffer, StPO (5. Aufl.
2005), § 337 StPO Rn. 2.
55
BAGE 27, 99 = AP Int. Privatrecht Arbeitsrecht Nr. 12 m. zust. Anm. Beitzke, ebd.,
Bl. 7, 8R (Jan. 1976) = MDR 1975,874; BAGE 63, 17; RAG ARS 15, 307, 309 f. m. zust.
Anm. Dersch, ebd., 319, 320; RAG ARS 17, 28 m. zust. Anm. Volkmar, ebd., 34, 35; Ga-
millscheg, Internationales Arbeitsrecht, 1959, S. 330 Nr. 371; ders., AP Int. Privatrecht Ar-
beitsrecht Nr. 10 Bl. 3 R. 4 R (März 1968); Grunsky, ArbGG (8. Aufl. 2014) § 73 ArbGG
Rn. 12; Matthias Jacobs/Frieling, ZZP 127 (2014), 137, 142; Müller-Glöge, in: Germelmann/
Matthes/Prütting, ArbGG, 9. Aufl. 2017, § 73 ArbGG Rn. 6; Düwell, in: Düwell/Lipke, Ar-
beitsgerichtsverfahren, 3. Aufl. 2012 (3. Aufl. 2012) § 73 ArbGG Rn. 23; vgl. auch BAG NZA
2016, 473 Rn. 41.
56
Dazu monographisch zuletzt Michael Stürner/Franziska Krauß, Ausländisches Recht im
deutschen Zivilverfahren, 2018.
57
Siehe nur BGHZ 36, 348, 353; Mankowski, in: v. Bar/Mankowski, Internationales Pri-
vatrecht I: Allgemeine Lehren, 2. Aufl. 2003, § 5 Rn. 75; Kropholler, Internationales Privat-
recht, 6. Auf. 2006, S. 212; Trautmann, Europäisches Kollisionsrecht und ausländisches Recht
im nationalen Zivilverfahren, 2011, S. 165.
58
Siehe nur Kindl, ZZP 111 (1998), 177, 180; Trautmann, Europäisches Kollisionsrecht
und ausländisches Recht im nationalen Zivilverfahren, 2011, S. 167.
59
Siehe nur Flessner, in: 30 Jahre österreichisches IPR-Gesetz, 2009, S. 35, 39; Rudolf
Hübner, Ausländisches Recht vor deutschen Gerichten, 2014, S. 25 f.
60
Siehe nur BGHZ 120, 334, 342; BGH NJW 1978, 496, 498; Huber, in: Musielak/Voit,
ZPO, 16. Aufl. 2019 (16. Aufl. 2019), § 293 ZPO Rn. 13; Prütting, in: Münchener Kom-
mentar zur ZPO, Bd. 1: §§ 1 – 354 ZPO, (5. Aufl. 2016), § 293 ZPO Rn. 14; Saenger, in:
Saenger, Zivilprozessordnung, (8. Aufl. 2019), § 293 ZPO Rn. 11.
61
Siehe nur BGH NJW-RR 2017, 902, 903; Huber, in: Musielak/Voit, ZPO (16. Aufl.
2019), § 293 ZPO Rn. 1, 4 – 6; Prütting, in: Münchener Kommentar zur ZPO, Bd. 1: §§ 1 –
Auslandsrechtsanwendung, -prüfung, -berücksichtigung und -ermittlung 619

keine strikte Beweisführungslast für ein anwendbares ausländisches Recht.62 Anderer-


seits trifft die Parteien im Zivilprozess eine Mitwirkungslast nach § 293 S. 2 ZPO. Wer
sich auf einen bestimmten Inhalt eines bestimmten ausländischen Rechts beruft, ist
stärker zur Mitwirkung bei der Ermittlung von Inhalten ebendieses Auslandsrechts ge-
halten (und kann durch Auflagenschluss zu solcher Mitwirkung angehalten werden) als
derjenige, der dies nicht tut.63 Wer einfachen Zugang zum ausländischen Recht hat, soll
diesen nutzen.64 Dass es sich um einen Freibeweis handelt, befreit von der Beschrän-
kung auf das Quintett der normalerweise unter der ZPO zulässigen Beweismittel für
den Strengbeweis (SAPUZ – Sachverständige, Augenschein, Parteivernehmung, Ur-
kunden, Zeugen).65 Vielmehr kann das Gericht auf alle ihm zielführend erscheinenden
Mittel zurückgreifen oder sich selbst kundig machen, z. B. durch eigene Bibliotheks-
oder Internetrecherche.66 Mögliches Mittel sind auch Anfragen an deutsche diploma-
tische oder konsularische Stellen im Staat des anzuwendenden Rechts oder Anfragen
an ausländische Stelle nach dem Londoner Auskunftsübereinkommen von 1968.67
Zu ermitteln ist das in einem anderen Staat tatsächlich praktizierte Recht, die dortige
Rechtswirklichkeit.68 Denn die deutsche Entscheidung soll derjenigen so nahe wie
möglich kommen, die im Lande der lex causae gefällt werden würde, wenn das Ver-
fahren dort stattfinden würde.69 Der deutsche Richter soll so entscheiden, als säße er

354 ZPO (5. Aufl. 2016), § 293 ZPO Rn. 23; Saenger, in: Saenger, Zivilprozessordnung
(8. Aufl. 2019), § 293 ZPO Rn. 14.
62
Siehe nur BGHZ 120, 334, 342; BGH NJW-RR 2005, 1071, 1072; Mankowski, in: v.
Bar/Mankowski, Internationales Privatrecht I: Allgemeine Lehren, 2. Aufl. 2003, § 5 Rn. 98;
Schilken, FS Ekkehard Schumann, 2001, S. 373, 379; Jansen/Michaels, ZZP 116 (2003), 3,
53.
63
Siehe nur KG IPRspr. 1962/63 Nr. 202 S. 658; OLG Frankfurt MDR 1983, 410; OLG
Koblenz MDR 2003, 894; Huzel, IPRax 1990, 77, 80.
64
Siehe nur BGH NJW 1976, 1581, 1583; BGHZ 118, 151, 164; BGHZ 118, 321, 329 f.;
BGH NJW 1995, 1032 f.; BGH IPRspr. 1996 Nr. 177 S. 422 f.; BGH IPRspr. 2011 Nr. 3 S. 1,
Huzel, IPRax 1990, 77, 80; Rudolf Hübner, Ausländisches Recht vor deutschen Gerichten,
2014, S. 294 f.
65
Siehe nur BGH NJW 1961, 410, 411; BGH NJW 1963, 252, 253; BGH NJW 1966, 296,
298; BGH NJW 1976, 1581, 1583; Gerhard Wagner, ZEuP 1999, 6, 16; Schilken, FS Ekke-
hard Schumann, 2001, S. 373, 377; Mankowski, in: v. Bar/Mankowski, Internationales Pri-
vatrecht I: Allgemeine Lehren, 2. Aufl. 2003, § 5 Rn. 101; Trautmann, Europäisches Kollisi-
onsrecht und ausländisches Recht im nationalen Zivilverfahren, 2011, S. 169.
66
Siehe nur Kindl, ZZP 111 (1998), 177, 186; Edward Schramm/Hinderer, ZIS 2010, 494,
499; Brutscher, Zivilrechtsakzessorietät des Strafrechts bei Sachverhalten mit Auslandsbezug
– am Beispiel des § 242 StGB, 2014, S. 80 f.
67
Europäisches Übereinkommen betreffend Auskünfte über ausländisches Recht vom 7. 6.
1968, BGBl. 1974 II 938.
68
Siehe nur BGH ZIP 2001, 675, 676 m.w.N. = IPRax 2002, 302 (dazu Hüßtege, IPRax
2002, 292); BGH NJW 2003, 2685; BVerwGE 87, 52, 59; BVerwG Buchholz 130 § 3 RuStAG
Nr. 2.
69
BGH IPRspr. 1968/69 Nr. 3; BGH IPRax 1981, 130, 134; BayObLGZ 1972, 204; Günter
Otto, FS Karl Firsching, 1985, S. 209, 213.
620 Peter Mankowski

an der Stelle eines in dem betreffenden Recht heimischen Richters.70 Diese Zielvor-
gabe schließt auch die Pflicht zur Ermittlung ausländischen Kollisionsrechts ein, so-
fern das deutsche IPR nicht von vornherein nur eine Sachnormverweisung (Verwei-
sung direkt auf das ausländische Sachrecht unter Ausschluss einer Verweisung auf
ausländisches IPR) ausspricht. Gelegentlich hat der deutsche Richter auch auf höher-
rangiges ausländisches Verfassungsrecht zu achten, wenn dieses die jeweils anwend-
bare Norm des einfachen Rechts überlagern, modifizieren oder verdrängen könnte.71

b) Analogie zu § 293 ZPO in Anklageverfahren

Das Fehlen einer direkten Verweisung auf § 293 ZPO schließt dessen analoge An-
wendung in strafprozessualen Anklageverfahren nur dann zuverlässig aus, wenn darin
ein beredtes Schweigen liegt, das einen Umkehrschluss zu tragen vermag. Im normalen
Strafverfahren steht der Strafanspruch des Staates ganz im Vordergrund. Im deutschen
Strafverfahren geht es als eigentlichen Gegenstand nur und ausschließlich um den
Strafanspruch des deutschen Staates. Schon zivilrechtliche Vorfragen in Straftatbestän-
den des deutschen Strafrechts geraten nicht spezifisch in den Blick. Sachverhalte mit
Auslandsbezug sind eine Querschnittskategorie, der sich der Gesetzgeber des deut-
schen Strafprozessrechts ebenfalls nicht spezifisch zugewendet hat. Eine Lücke kom-
biniert sich mit einer weiteren Lücke. Beide liegen am Rande des strafrechtlichen
Wahrnehmungshorizonts. Für eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers der
StPO gegen eine Analogie speziell zu § 293 ZPO ist nichts ersichtlich. Vielmehr be-
steht eine planwidrige Lücke. An der weiteren Voraussetzung für eine Analogie, näm-
lich Rechtsähnlichkeit und Vergleichbarkeit der zu regelnden Sachverhalte, besteht
kein grundsätzlicher Zweifel.72
Allerdings ist eine Analogie zu § 293 ZPO im Strafprozess insoweit ausgeschlos-
sen, als § 293 ZPO im Zivilprozess Mitwirkungslasten Privater bei der Ermittlung aus-
ländischen Rechts nach sich ziehen würde.73 Eine Mitwirkungslast der Staatsanwalt-
schaft dagegen erscheint mindestens diskutabel, da diese ja den Strafanspruch des deut-
schen Staates „einklagt“ und die Verantwortung für dessen Bestehen auch hinsichtlich
aller Tatbestandsmerkmale etwaiger zivilrechtlicher Vorfragen trägt.74 Dies kann sogar

70
Siehe nur ebenso für die Schweiz BGE 126 III, 492, 495 und vorbildlich § 3 östIPRG:
„Ist fremdes Recht maßgebend, so ist es von Amts wegen und wie in seinem ursprünglichen
Geltungsbereich anzuwenden.“
71
Siehe OLG Bremen IPRspr. 1958/59 Nr. 7 A S. 760; grundlegend zu diesem Fragenkreis
Niboyet, Rev. dr. int. lég. comp. 1928, 753; Neumayer, RabelsZ 23 (1958), 573.
72
Im Ergebnis übereinstimmend Gössl, in: Effer-Uhe/Hoven/Kempny/Rösinger (Hrsg.),
Einheit der Prozessrechtswissenschaft, 2016, S. 127, 130.
73
Ebenso Gössl, in: Effer-Uhe/Hoven/Kempny/Rösinger (Hrsg.), Einheit der Prozess-
rechtswissenschaft, 2016, S. 127, 131.
74
Ganz ähnlich Gössl, in: Effer-Uhe/Hoven/Kempny/Rösinger (Hrsg.), Einheit der Pro-
zessrechtswissenschaft, 2016, S. 127, 132.
Auslandsrechtsanwendung, -prüfung, -berücksichtigung und -ermittlung 621

so weit gehen, dass – anders als grundsätzlich75 im Zivilprozess – keine Grenze der
Unwirtschaftlichkeit in Relation zum Streitwert greift, denn im Strafprozess gibt es kei-
nen Streitwert und zählt die Wahrheitsermittlung.76 Da § 293 ZPO schon im Zivilpro-
zess keine objektive und subjektive Beweislast, also auch keine Beweisführungslast,
kennt,77 kann es jedoch im Strafprozess erst recht keine echte Beweislast für ausländi-
sches Recht geben. Trotzdem sollten jedem Beteiligten Beweisanträge zum Inhalt
eines kollsionsrechtlich berufenen ausländischen Rechts gestattet sein.78 Das Aufklä-
rungs- oder Inquisitionsprinzip des Strafprozesses schließt indes eine Bindung des Ge-
richts an etwaige Beweisanträge als Obergrenze aus.79 Die Formvorschriften der
§§ 243 ff. StPO sind nur zu wahren, wenn ein Rückgriff auf Beweismittel des Streng-
beweises erfolgt.80 Ist der Inhalt des anzuwendenden ausländischen Rechts nicht zu er-
mitteln, so erscheint es problematisch, ein Ersatzrecht heranzuziehen und nicht freizu-
sprechen.81

c) Rechtsmittelfähigkeit der Analogie zu § 293 ZPO


in Anklageverfahren

§ 293 ZPO ist eine Norm des deutschen Rechts, nämlich des deutschen Zivilverfah-
rensrechts. Im Zivilprozess lässt sich daher ein Rechtsmittel erfolgreich auf eine Ver-
letzung des § 293 ZPO stützen, wenn auch nur unter der einengenden Voraussetzung
der konkreten Ergebnisrelevanz, dass also konkret ein anderes Ergebnis erzielt worden
wäre, wenn § 293 ZPO beachtet worden wäre.82 Wendet man § 293 ZPO analog im

75
Siehe im Zivilprozess aber auch BGH NJW 2014, 1245.
76
Gössl, in: Effer-Uhe/Hoven/Kempny/Rösinger (Hrsg.), Einheit der Prozessrechtswis-
senschaft, 2016, S. 127, 133.
77
Oben IV. 1. a) a.E.
78
Gössl, in: Effer-Uhe/Hoven/Kempny/Rösinger (Hrsg.), Einheit der Prozessrechtswis-
senschaft, 2016, S. 127, 133.
79
Siehe nur Strobel, Internationales Privatrecht in der Strafprozessordnung am Beispiel der
§§ 52, 395 und 406 StPO, 2019, S. 327.
80
Gössl, in: Effer-Uhe/Hoven/Kempny/Rösinger (Hrsg.), Einheit der Prozessrechtswis-
senschaft, 2016, S. 127, 132.
81
Siehe (mit Unterschieden im Einzelnen) Mankowski/Stefanie Bock, ZStW 120 (2008),
704, 742 und Gössl, in: Effer-Uhe/Hoven/Kempny/Rösinger (Hrsg.), Einheit der Prozess-
rechtswissenschaft, 2016, S. 127, 135.
82
BGH NJW 1991, 2214; allgemein zur Ergebnisrelevanz BGH NJW 1995, 1841, 1842;
BGH NJW 2016, 3092, 3095; Ball, in: Musielak/Voit, ZPO (16. Aufl. 2019), § 545 ZPO
Rn. 11; Krüger, in: Münchener Kommentar zur ZPO, Bd. 2: §§ 355 – 945b ZPO (5. Aufl.
2016), § 293 ZPO Rn. 14.
Ebenso für eine Missachtung deutscher Kollisionsnormen Mankowski, TranspR 1991, 253,
254; ders., LAGE Art. 30 EGBGB Nr. 4, S. 4, 5 (Okt. 1999); ders., in: Christian v. Bar/
Mankowski, Internationales Privatrecht I: Allgemeine Lehren, 2. Aufl. 2003, § 5 Rn. 64 sowie
BGH WM 1988, 1433, 1434 f. = NJW-RR 1988, 814, 815; RGZ 24, 383, 391; RGZ 167, 274,
280; Lewald, Das deutsche internationale Privatrecht, auf Grundlage der Rechtsprechung,
1931, S. 229; Bülow-Buschbeck, WuB VII A. § 549 ZPO 1.89, 119, 120.
622 Peter Mankowski

strafprozessualen Anklageverfahren an, so ergibt sich die notwendige Folgefrage, ob


ein strafprozessualer Rechtsbehelf Erfolg hat, wenn den Maßstäben des § 293 ZPO
analog nicht genügt wurde. Auch diese Analogie wäre Teil des deutschen Rechts, näm-
lich diesmal des deutschen Strafverfahrensrechts. Ausländisches Recht wäre nur Ge-
genstand des Freibeweises.83 Umfang und Tiefe der Ermittlung orientieren sich grund-
sätzlich an den zu § 293 ZPO entwickelten Maßstäben.84 Dass die Analogie kein ge-
schriebenes Strafverfahrensrecht ist, kann kein entscheidender Faktor sein. Für die
Rechtsmittelfähigkeit strafprozessualer Regeln gibt es kein Pendant zu nulla poena
sine lege scripta. Das ultimative Beweismittel unter § 293 ZPO ist ein Sachverständi-
gengutachten. Die StPO gibt dem Strafgericht mit § 244 IV 1 StPO ein freibeweisähn-
liches Mittel an die Hand, um bei eigener Sachkunde auf ein Sachverständigengutach-
ten zu verzichten.

2. Adhäsionsverfahren

Das Adhäsionsverfahren ist auch hier ein gesondert zu betrachtender Spezialfall.


Funktional ist es zwar ein vor Strafgerichte verlagerter Zivilprozess. Das heißt aber
nicht, dass es automatisch zivilprozessualen Regeln oder allen Regeln der ZPO unter-
liegen würde. Vielmehr erheben §§ 403 ff. StPO grundsätzlich einen eigenen Rege-
lungsanspruch. Im Adhäsionsverfahren gelten neben diesen Modifikationen für das
Verfahrensrecht sogar grundsätzlich, soweit diese passen, lückenfüllend die allgemei-
nen Regeln des Strafprozesses.85 Dies meint insbesondere das Amtsprinzip des Straf-
prozesses, die Beweisaufnahme und die Formen ihrer Durchführung.86 Das Amtser-
mittlungsprinzip kommt dem Verletzten zugute, denn diesen trifft im Adhäsionsverfah-
ren keine Beweisführungslast.87 Eine Ausnahme ist für die Schadenshöhe zu machen,
bei der § 287 ZPO und nicht das Amtsuntersuchungsprinzip greift.88 Auch im Übrigen
ist so weit wie möglich eine Orientierung an der zivilrechtlichen Beweislastverteilung
veranlasst, um nicht mit zweierlei Maß zu messen und das Adhäsionsverfahren nicht zu

83
Mindestens im Ergebnis übereinstimmend BGH NStZ 1983, 181; BGH NJW 1994,
3364; Strobel, Internationales Privatrecht in der Strafprozessordnung am Beispiel der §§ 52,
395 und 406 StPO, 2019, S. 332 mwN.
84
Strobel, Internationales Privatrecht in der Strafprozessordnung am Beispiel der §§ 52,
395 und 406 StPO, 2019, S. 333.
85
Siehe nur Löwe/Rosenberg/Hilger, StPO, Bd. 8, §§ 374 – 448 StPO, 26. Aufl. 2009,
§ 403 StPO Rn. 10; Zander, Das Adhäsionsverfahren im neuen Gewand, 2011, S. 76 f.; Grau,
in: Münchener Kommentar zur StPO, Bd. 3/1: § 333 – 349 StPO, 2019, § 403 StPO Rn. 18.
86
Löwe/Rosenberg/Hilger, StPO, Bd. 8: §§ 374 – 448 StPO, 26. Aufl. 2009, Vor § 403
StPO Rn. 6.
87
Gehrke/Karl-Peter Julius/Dieter Temming/Mark A. Zöller/Kurth, StPO, 6. Aufl. 2019,
§ 403 StPO Rn. 1; Grau, in: Münchener Kommentar zur StPO, Bd. 3/1: § 333 – 349 StPO,
2019, § 403 StPO Rn. 7.
88
Zander, Das Adhäsionsverfahren im neuen Gewand, 2011, S. 79.
Auslandsrechtsanwendung, -prüfung, -berücksichtigung und -ermittlung 623

einer zu günstigen Option gegenüber dem isolierten zivilrechtlichen Schadensersatz-


prozess werden zu lassen.89
Materielle Anspruchsgrundlage ist im Adhäsionsverfahren, wenn er Geldeswert
hat,90 ein deliktsrechtlicher Schadensersatz- oder Schmerzensgeldanspruch, ein pres-
serechtlicher Widerrufsanspruch, ein vertragsrechtlicher Anspruch auf Feststellung
der Unwirksamkeit eines Vertrags, ein deliktsrechtlicher Unterlassungsanspruch
oder ein bereicherungsrechtlicher Anspruch, vorzugsweise auf Herausgabe.91 Die An-
spruchsgrundlage ist und bleibt zivilrechtlich.92
Ausdrücklich auf die ZPO verweisen die §§ 403 ff. StPO nur ganz vereinzelt und
selektiv in §§ 404 V 2; 406 I 3; 406 III 2; 406b I 2 StPO. Unter den dort verwiesenen
Normen der ZPO findet sich § 293 ZPO nicht. Dies sollte aber keine Basis für einen
strikten Umkehrschluss sein, dass eine Verweisung auf § 293 ZPO bewusst ausge-
schlossen wäre. Denn an die am Rande gerade des strafverfahrensrechtlichen Horizonts
liegende Konstellation des Auslandsbezugs und der möglichen Einschlägigkeit auslän-
dischen Rechts wird auch der Gesetzgeber der §§ 403 ff. StPO kaum gedacht haben.
Insoweit dürfte er vielmehr überhaupt keinen Willen gebildet haben, erst recht keinen,
der einer Anwendung des § 293 ZPO strikt entgegenstünde. Die Gesetzesmaterialien
zum Adhäsionsverfahren, sowohl die zur Ursprungsfassung93 als auch die zur novel-
lierten Fassung,94 lassen jedenfalls keine gesetzgeberische Willensbildung spezifisch
für diesen Punkt erkennen. Der Gesetzgeber hat vielmehr den Normalfall Inlandssach-
verhalt gedanklich verabsolutiert. In methodischer Hinsicht handelt es sich wiederum
um eine planwidrige Lücke, die einem Umkehrschluss aus dem engen Zuschnitt der in
der StPO vorfindlichen Verweisungen auf die ZPO entgegensteht. § 293 ZPO heran-
zuziehen ist vielmehr sachgerecht.

89
LG Berlin NZV 2006, 389, 390; Zander, Das Adhäsionsverfahren im neuen Gewand,
2011, S. 78.
90
Löwe/Rosenberg/Hilger, StPO, Bd. 8: §§ 374 – 448 StPO, 26. Aufl. 2009, Vor § 403
StPO Rn. 6.
91
Siehe nur Velten, in: Systematischer Kommentar zur StPO, Bd. 8: §§ 374 – 495 StPO,
4. Aufl. 2013, § 403 StPO Rn. 8; KMR/Stöckel, StPO, Losebl., § 403 StPO Rn. 8 (Mai 2013);
Graf/Ferber, StPO, 3. Aufl. 2018, § 403 StPO Rn. 11.
92
Siehe nur LG Hamburg NZI 2019, 137 m. Anm. Köllner.
93
Dritte Verordnung zur Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 29. Mai 1943, RGBl.
1943 I 342, Art. 5. Hierzu lässt sich keine amtliche Begründung finden (so auch Brokamp, Das
Adhäsionsverfahren (1990), S. 12, Fn. 43), siehe aber für die Gründe und Erläuterungen die
Darstellung des damaligen Ministerialrats im Reichsjustizministerium Grau, DJ 1943, 331
sowie den Überblick bei Brokamp, Das Adhäsionsverfahren (1990), S. 12 – 15.
94
Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Verletzten im Strafverfahren (Opferrechtsre-
formgesetz – OpferRRG) vom 24. Juni 2004, BGBl. 2004 I 1354; siehe hierzu den Gesetz-
entwurf vom 11. 11. 2003, BT-Drucks. 15/1976; Plenarprotokoll 15/75 vom 13. 11. 2003,
S. 6462C-6475D; Beschlussempfehlung und Bericht Rechtsausschuss vom 3. 3. 2004, BT-
Drucks. 15/2609; Plenarprotokoll 15/94 vom 4. 3. 2004, S. 8400 A-8409C, 8465B-8466 A/
Anl. 2.
624 Peter Mankowski

Es ist umso sachgerechter, weil eine deliktsrechtliche Anspruchsgrundlage und


damit materielle Grundlage im Adhäsionsverfahren bei ausländischem Erfolgsort
und Fehlen einer Rechtswahl über Art. 4 I Rom II-VO (vorbehaltlich Art. 4 II, III
Rom I-VO) aus einem ausländischen Deliktsrecht stammen kann; wenn es eine Rechts-
wahl gibt, geht man über Art. 14 Rom II-VO. Bei bereicherungsrechtlichen Anspruchs-
grundlagen ist Art. 10 Rom I-VO das internationalprivatrechtliche Zwischenglied, bei
presserechtlichen (wegen der Ausnahme in Art. 1 II lit. g Rom II-VO) Artt. 40 – 42
EGBGB. Der vor die Strafgerichte verlagerte Zivilprozess des Adhäsionsverfahrens
arbeitet eben definitions- und bestimmungsgemäß mit zivilrechtlichen Anspruchs-
grundlagen. Für die zivilrechtlichen Anspruchsgrundlagen gelten deren eigene Regeln,
soweit dies irgend möglich ist. § 293 ZPO ist zwar eine zivilprozessuale Regel, und
liegt deshalb außerhalb des sachlichen Anwendungsbereichs des Internationalen Pri-
vatrechts. Trotzdem gilt auch im deliktischen Bereich die prägende, das ganze IPR
durchziehende Hypothese95 von der Gleichwertigkeit und funktionellen Austauschbar-
keit der Privatrechte. Ausländisches Recht ist eben Recht, sofern es von deutschen Kol-
lisionsnormen berufen ist, und keine bloße Tatsache.96

95
Grundlegend v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. VIII, 1849, S. 24 f.
Außerdem z. B. Vitta, Riv. trim. dir. proc. civ. 1947, 1578, 1585 f.; Helmut J. Weber, Die
Theorie der Qualifikation, 1986, S. 9; v. Hoffmann/Thorn, Internationales Privatrecht, 9. Aufl.
2007, § 1 Rn. 13; Matthias Weller, (2015) 11 JPrIL 64, 72 f.
96
Oben IV. 1. a).
Die Expansion des Strafens
durch § 9 II 2 StGB
Drohende Friktionen und vorsichtige Einhegungsversuche

Von Hans Kudlich

I. Hinführung
An mein erstes (jedenfalls näheres persönliches) Zusammentreffen mit dem Ju-
bilar habe ich noch eine sehr intensive Erinnerung: Im Sommer 2002 war Reinhard
Merkel externes Mitglied einer Berufungskommission an der Bucerius Law
School, an der ich mich kurz vor Fertigstellung meiner Habilitationsschrift zur neu-
tralen Beihilfe um einen Lehrstuhl beworben hatte. Ich habe keine Ahnung, ob sich
der Jubilar innerhalb dieser Kommission besonders für mich stark gemacht hat
(und ich daher mit umso größerer Dankbarkeit an dieser Festschrift mitwirken
darf), ob die Kommission sich letztlich nur gegen seinen erbitterten Widerstand
für mich entschieden hat (sodass ich hier eigentlich gar nichts schreiben sollte)
oder wie es sich sonst verhalten hat. Sehr wohl erinnern kann ich mich aber an
die erste inhaltliche Frage, die er mir im Rahmen der meiner Probevorlesung nach-
folgenden Aussprache gestellt hat.
Reinhard Merkel nahm Bezug auf meine der Berufungskommission in einem sehr
weit fortgeschrittenen Entwurf vorliegende Habilitationsschrift und bildete den Fall
eines Gynäkologen, der seiner Patientin nach Ablauf der 12-Wochen-Frist des § 218a
I StGB den Rat gibt, einen gewünschten Schwangerschaftsabbruch in dort legaler
Weise im Ausland vornehmen zu lassen, und ihr auch die Adresse einer entsprechen-
den Klinik gibt. Problematisch war hier nicht nur, ob eine solche Auskunft gegebe-
nenfalls noch ein neutrales, berufsbedingtes Verhalten darstellen könnte, sondern
darüber hinaus auch, ob im Falle eines im Ausland vorgenommenen Schwanger-
schaftsabbruchs auf einen präsumtiv gehilfenschaftlichen Rat des deutschen Arztes
überhaupt deutsches Strafrecht anwendbar ist – eine Frage, die im Ausgangspunkt
durch § 9 II StGB beantwortet wird.
Mit dieser Kombination aus Problemen der Teilnahmestrafbarkeit für inländische
Teilnahmehandlungen an Auslandstaten und einer Restriktion der Beihilfestrafbar-
keit über die Figur einer „neutralen Beihilfe“ hat der Jubilar nicht nur intuitiv
zwei Fragen zusammen gespannt, die nur scheinbar auf unterschiedlichen Ebenen
626 Hans Kudlich

liegen, tatsächlich aber durchaus (auch innere1) Berührungspunkte miteinander


haben; vielmehr hat er durchaus auch zutreffend die praktische Relevanz der Kom-
bination gerade dieser beiden Fragestellungen erkannt, die gut zehn Jahre später in
einer Entscheidung des OLG Oldenburg deutlich zu Tage trat: Dort hatte ein Gynä-
kologe seiner Patientin, die in der 17. Woche schwanger war und das Kind abtreiben
wollte, einen Zettel mit der Adresse einer niederländischen Abtreibungsklinik aus-
gehändigt, woraufhin diese in den Niederlanden die Schwangerschaft abbrechen
ließ. Während das Amtsgericht sowie auf die Berufung der Staatsanwaltschaft hin
auch das Landgericht den Arzt vom Vorwurf der Beihilfe zum unerlaubten Schwan-
gerschaftsabbruch frei gesprochen hatte, hob das OLG auf die Revision der Staats-
anwaltschaft hin den Freispruch auf.2 Voraussetzung hierfür musste – obgleich in der
Entscheidung nicht thematisiert – sein, dass nicht nur eine (auf Grund der leichten
anderweitigen Auffindbarkeit solcher Adressen) fehlende Gefahrsteigerung oder
strafbarkeitsausschließende Sozialadäquanz abgelehnt wird, sondern dass auf das
Verhalten des Arztes trotz der Straflosigkeit der Haupttat im Ausland nach § 9 II
1, 2 StGB deutsches Strafrecht anwendbar ist.

II. Der Wirkmechanismus des § 9 II 2 StGB


und seine fragwürdigen Auswüchse
1. Regelungsgehalt des § 9 II 2 StGB

Die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts wird durch die §§ 3 ff. StGB geregelt.
Zentral ist hierbei das so genannte Territorialitätsprinzip nach den §§ 3, 9 StGB, wo-
nach deutsches Strafrecht auf Inlandstaten anwendbar ist, d. h. auf solche Taten,
deren Tathandlung oder aber Tatort in Deutschland liegt. Für die Teilnahme wird die-
ses Prinzip in doppelter Hinsicht erweitert: Zum einen gilt als Tatort nicht nur der Ort
der Haupttat, sondern auch derjenige der Teilnahmehandlung, vgl. § 9 II 1 StGB;
eine Teilnahmestrafbarkeit ist daher auch für ausländische Haupttaten nach deut-
schem Recht möglich. Darüber hinaus beurteilt sich für den inländischen Teilnehmer
an einer Auslandstat seine Strafbarkeit nach deutschem Strafrecht, auch wenn die
Haupttat nach dem Recht des Tatorts nicht mit Strafe bedroht ist (§ 9 II 2 StGB).

1
Diese Berührungspunkte bestehen darin, dass sowohl bei der neutralen Beihilfe als auch
bei der strafbaren Teilnahme an einem am Tatort gerade straflosen Verhalten das Strafrecht
weit in den Bereich zumindest vermeintlicher gesellschaftlicher Normalität hineingreift.
2
Vgl. OLG Oldenburg BeckRS 2013, 04777 m. Anm. Kudlich, JA 2013, 791. Vgl. zu
einem weiteren Beispiel aus dem medizinrechtlichen Bereich etwa zur Frage einer Kinder-
wunschbehandlung im Ausland Magnus NStZ 2015, 57. Dass die Vorschrift gerade bei sol-
chen Delikten bedeutsam wird, über deren Verhaltensnorm gesellschaftlich kein breiter Kon-
sens besteht, ist nicht überraschend, sind hier deutsche Bürger vielleicht in besonderer Weise
geneigt, ein bestimmtes (dann als ausländische Haupttat außerhalb des Anwendungsbereich
deutschen Strafrechts relevantes) Angebot eben im Ausland in Anspruch zu nehmen, wenn es
im Inland pönalisiert wird. Vgl. hier sogleich auch das Fallbeispiel des Suizid-Tourismus.
Die Expansion des Strafens durch § 9 II 2 StGB 627

Eine solche Ausweitung der Strafbarkeit ist nun evident zumindest bemerkens-
wert. Dies weniger deshalb, weil grundsätzlich bei einer unterschiedlichen rechtspo-
litischen Bewertung eines Verhaltens diejenige des deutschen Strafrechts derjenigen
einer ausländischen Rechtsordnung vorgezogen wird – dieses Recht hat jedenfalls im
Geltungsbereich seiner eigenen Jurisdiktion erst einmal jede einzelne Strafrechtsord-
nung. Beachtenswert ist aber die Abweichung von der rechtlichen Bewertung am
Tatort im Allgemeinen sowie hinsichtlich der Haupttat im Besonderen, vermittelt
doch die Teilnahmestrafbarkeit grundsätzlich einen akzessorischen Rechtsgüter-
schutz zur Haupttat;3 aus diesem Grund ist zumindest nicht selbstverständlich,
dass ein von der für die Haupttat zuständigen Rechtsordnung insoweit schutzlos ge-
stelltes Rechtsgut jedenfalls noch des akzessorischen Schutzes durch das deutsche
Teilnahmestrafrecht teilhaftig werden soll. So konstatiert etwa Kai Ambos, dass
eine „konsequente Anwendung von Abs. 2 S. 2 (…) zu einer erheblichen Erweiterung
der Strafbarkeit auf jegliche Teilnahmehandlungen im Inland (führt), unabhängig
von der Strafbarkeit der ausländischen Haupttat und der Staatsangehörigkeit des
Teilnehmers. (…). Auch wenn der Verzicht auf das Erfordernis der identischen Straf-
norm (…) aus generalpräventiven Gründen nachvollziehbar ist, stellt Abs. 2 S. 2 eine
mit dem Nichteinmischungsgrundsatz kaum vereinbare Ausdehnung der deutschen
Strafgewalt dar.“4
Darüber könnte man nun viel Kritisches oder Affirmatives schreiben – letztlich
handelt es sich hier um eine (in den Grenzen des völkerrechtlichen Nichteinmi-
schungsgrundsatzes) hinzunehmende kriminalpolitische Entscheidung, ebenso wie
etwa über den Inhalt des Katalogs der §§ 5 und insbesondere 6 StGB, den man
auch nicht überall für zwingend halten, letztlich aber de lege lata mehr oder weniger
anwenden muss.5 In einzelnen Fällen freilich scheint die ohnehin nicht ganz glück-
liche Regelung jedoch zu erheblichen Restriktionen zu führen bzw. über das Ziel hin-
aus zu schießen. Im Folgenden soll anhand von zwei Beispielen untersucht werden,
woran dies liegt und ob nicht für solche Fälle eine einschränkende Auslegung mög-
lich erscheint.

3
H.M., vgl. statt vieler nur m.w.Nachw. BeckOK-StGB/Kudlich, 43. Ed . 2019, § 26 Rn. 3.
4
Vgl. MüKo-StGB/Ambos, Bd. I, 3. Aufl. 2017, § 9 Rn. 39 f. Zur Kritik auch LK/Werle/
Jeßberger, Bd. Abs. 1 2007, § 9 Rn. 52: „Es liegt auf der Hand, dass der Gesetzgeber (…) mit
der Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 2 teilweise übers Ziel hinausgeschossen ist“; Nomos-Kom-
mentar zum StGB/Böse, Bd. I, 5. Aufl. 2017, § 9 Rn. 22 („konsequente Umsetzung des Ubi-
quitätsprinzip[s] bei der Teilnahme z. T. bedenklich“).
5
„Mehr oder weniger“ insoweit, als die Rechtsprechung davon ausgeht, dass das Welt-
rechtsprinzip des § 6 StGB dadurch einzuschränken sei, dass ein gewisser „Inlandsbezug“ der
Tat erforderlich ist, vgl. nur Münchener Kommentar zum StGB/Ambos, Bd. I, 3. Aufl. 2017,
§ 6 Rn. 4 und Vor § 3 Rn. 13.
628 Hans Kudlich

2. Suizid-Tourismus

a) Die problematische Einführung des § 217 StGB

Im November 2015 ist die Vorschrift zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Un-
terstützung beim Suizid in § 217 StGB n.F. eingeführt worden. Die Verfassungsmä-
ßigkeit der Vorschrift erscheint in hohem Maße zweifelhaft,6 da das Leben des akut
betroffenen Suizidenten keines Schutzes vor sich selbst bedarf und die Sorge vor
einem „suizidfreundlichen Klima“ in der Gesellschaft empirisch deutlich zu
wenig abgesichert sein dürfte, um die massiven Beschränkungen des Selbstbestim-
mungsrechts am Lebensende zu rechtfertigen.7 Nicht auflösbare Wertungswider-
sprüche liegen etwa zur Regelung des § 1901a BGB auf der Hand, nach der –
unter im Wesentlichen nicht überprüfbaren Voraussetzungen errichtete – Patienten-
verfügungen für Zeitpunkte und Situationen möglich sind, die im Moment der Ver-
fügung noch gar nicht bedacht werden konnten.
Gleichwohl: Unter der Geltung des § 217 StGB dürften sich Personen oder Insti-
tutionen, die bislang eine Suizidassistenz in Deutschland angeboten haben, an der
Fortsetzung ihrer Unterstützung gehindert sehen.8 Daher liegt die Annahme nicht
fern, dass suizidwillige Personen eine Reise in Länder mit liberaleren und autono-
miefreundlicheren Regelungen, wie etwa der Schweiz, antreten. Hier stellt sich
die Frage, wie solche Fälle – gerade auch mit Blick auf einen etwaigen Gehilfen
in Deutschland – vom deutschen Strafrecht erfasst werden.9

b) Die Verschärfung der Problematik durch § 9 II 2 StGB

Der Schweizer Suizidhelfer, der ausschließlich in seinem Heimatland tätig wird,


dürfte keine größeren Schwierigkeiten mit dem deutschen Strafrecht haben. Dies
sollte selbst für vorbereitende Telefonate aus der Schweiz nach Deutschland gelten.
Hier ist bereits fraglich, ob eine telefonische Beratung tatbestandlich als Gewährung
einer Gelegenheit eingestuft werden kann. Ferner wird keine Gelegenheit „in
6
Krit. aus der Kommentarliteratur MüKo-StGB/Brunhöber, Bd. IV, 3. Aufl. 2017, § 217
Rn. 25 ff.; Fischer, StGB, 66. Aufl., 2019, § 217 Rn. 3a; Momsen, in: Satzger/Schluckebier/
Widmaier (Hrsg.), StGB, 4. Aufl., 2019, § 217 Rn. 2; BeckOK-StGB/Oğlakcıoğlu, 43. Ed.
2019, § 217 Rn. 12a; Saliger, in: Nomos Kommentar zum StGB, 5. Aufl., 2017, 37 § 217
Rn. 6. Dass auch der Jubilar der Strafdrohung des § 217 StGB gegenüber kritisch ist, ist kein
Geheimnis. U. a. unter dem Aktenzeichen 2 BvR 2347/15 wird gegen das Gesetz eine Ver-
fassungsbeschwerde geführt, die bereits im Dezember 2015 eingegangen ist; der damit ver-
bundene Antrag auf einstweilige Anordnung wurde mit Beschluss vom 21. 12. 2015 (NJW
2016, 558) abgelehnt, eine mündliche Verhandlung fand im April 2019 statt; der Ausgang des
Verfahrens ist zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Manuskripts noch offen.
7
Eingehend zur Problematik Hoven, ZIS 2016, 1; vgl. ferner Duttge, NJW 2016, 120.
8
Vgl. etwa die Pressemitteilung des Vereins Sterbehilfe Deutschland, Abruf etwa unter:
http://www.sterbehilfedeutschland.de/sbgl/files/PDF/2015 - 11 - 27 Bundesrat billigt %A7 217
StGB.pdf (29. 2. 2016).
9
Vgl. Zu Folgenden auch bereits Kudlich/Hoven, ZIS 2016, 345 (347 f.).
Die Expansion des Strafens durch § 9 II 2 StGB 629

Deutschland“ gewährt, sondern es werden Rahmenbedingungen in der Schweiz ge-


schaffen.
Nicht plausibel begründbare Strafbarkeitsrisiken drohen jedoch solchen Perso-
nen, welche dem Suizidwilligen bei seiner Reise ins Ausland helfen. Denn darin
könnte nicht nur eine Unterstützung des deutschen Suizidenten, sondern – je nach
Lage des Einzelfalles – auch des schweizerischen Haupttäters gesehen werden. So-
weit dies der Fall ist, greift § 9 II 2 StGB ein, nach welcher die Teilnahme an einer im
Ausland begangenen Haupttat auch dann verfolgt werden kann, wenn die Haupttat
am Tatort selbst nicht unter Strafe steht. Dies droht zu schwer erklärbaren Wertungs-
widersprüchen zu führen, wenn etwa ein Freund des Suizidwilligen (der nicht unter
den privilegierten Personenkreis des § 217 II StGB fällt) der lebensmüden Person in
Deutschland zwar (sofern er nicht geschäftsmäßig handelt) die Mittel für einen Sui-
zid verschaffen, nicht hingegen die Reise zu einem Schweizer Sterbehilfeverein or-
ganisieren dürfte.10
Im Zusammenspiel der tendenziellen Überkriminalisierung11 durch § 217 StGB
wird dann auch der in problematischer Weise strafbarkeitsausweitende Charakter
des § 9 II 2 StGB deutlich, der im konkreten Fall auch kriminalpolitisch nicht über-
zeugen kann. Denn der vom Gesetzgeber vorgeblich verfolgte Zweck des Schutzes
vor einem „suizidfreundlichen Klima“ in der deutschen Gesellschaft dürfte – unab-
hängig davon, wie man generell zu diesem Zweck steht – jedenfalls kaum erfordern,
dass Privatpersonen bestraft werden, die (nicht geschäftsmäßig) suizidwillige Perso-
nen unterstützen, welche infolge der restriktiven deutschen Regelung Hilfe im Aus-
land suchen.12

3. Förderungshandlungen für ausländische Glücksspielaktivitäten

a) Ausländische Glücksspielangebote und Zahlungsauslösungsdienste

aa) Ein weiteres Beispiel für ein erstaunlich anmutendes (wenigstens) Strafbar-
keitsrisiko liegt in der Unterstützung von in Deutschland nicht zertifizierten Glücks-
spielangeboten. Colorandi causa mag man hier etwa an die Dienstleistungen eines
10
Hoven, ZIS 2016, 1 (8). Eine Gegenüberstellung strafloser und strafbarer Teilnahme-
handlungen am Suizid findet sich auch bei Oğlakcıoğlu, KriPoZ 2019, 73 (76).
11
Eindrucksvoll wird diese auch dadurch, dass nach allgemeinen dogmatischen Grund-
sätzen davon ausgegangen werden müsste, dass den Suizidwilligen, der bei einem Anderen um
die Gewährung der Gelegenheit zum Suizid bittet, insoweit eine Anstiftungsstrafbarkeit trifft;
glücklicherweise hat hier das BVerfG (Beschl. v. 21. 12. 2015 @ 2 BvR 2347/15) mit einer
dogmatisch zwar vielleicht nicht ganz einwandfreien Argumentation, aber mit einem guten
Judiz eine – auch historisch-genetisch fundierte (vgl. BT-Drs. 18/5373) – Restriktion des
Tatbestandes angenommen.
12
In den Fällen, in denen es dann um einen Suizid im Ausland geht, ist offensichtlich, dass
den Betroffenen vom Gesetzgeber ein Bärendienst erwiesen worden ist, wenn sie ihr Selbst-
bestimmungsrecht nur durch eine beschwerliche Reise trotz im Einzelfall gesundheitlich
prekärer Verhältnisse und fern der Heimat verwirklichen können.
630 Hans Kudlich

Zahlungsauslösedienstleisters (vgl. § 1 I 2 Nr. 7 und Abs. 33 ZAG) denken. Dieser


stößt Zahlungsvorgänge mittels Datenübermittlung bei einem kontoführenden Zah-
lungsdienstleister an und informiert sogleich in Echtzeit den Zahlungsempfänger – in
unserem Beispiel also einen ausländischen Glücksspielveranstalter – darüber, dass
der Zahlungsauftrag an die Bank übermittelt worden ist.13 Diese Nachricht, die
den Veranstalter viel schneller erreicht als die Gutschrift auf seinem Konto, kann
für diesen Grund genug sein, seinem Kunden seine Leistung zur Verfügung zu stel-
len, also etwa eine bestimmte Spielteilnahme zu ermöglichen. Auf den ersten Blick
mag man hierin nun eine Förderung (§ 27 StGB) eines Glücksspielangebotes sehen,
das in Deutschland nicht lizensiert und damit i.S. des § 284 StGB unerlaubt ist.
bb) Nun mag man an einer Strafbarkeit einer solchen Unterstützung aus verschie-
denen Gründen – etwa auch mit Blick auf den Topos der „neutralen Beihilfe“14 –
zweifeln. Unter anderem hat das Beispiel aber auch eine strafanwendungsrechtliche
Dimension, bei der § 9 II 2 StGB und seine Auslegung eine Rolle spielen: Wenn-
gleich höchstrichterlich noch nicht entschieden, spricht nämlich viel dafür, dass
auf das Veranstalten des Glücksspiels im Ausland (etwa auf einem Server auf
Malta oder in Gibraltar) selbst deutsches Strafrecht keine Anwendung findet.
Dass die Tathandlungen allein in dem Land stattfinden, in dem der Spielserver
steht und in dem auch die entsprechenden Inhalte erstellt werden, dürfte auf der
Hand liegen. Aber auch ein Erfolgsort i.S. des § 9 I Var. 3 StGB dürfte nach der neue-
ren Rechtsprechung des BGH nicht vorliegen. In Abkehr von dem extensiven Ver-
ständnis des Erfolgsortes bei Gefährdungsdelikten insbesondere in der Toeben-Ent-
scheidung15 hat etwa der 2. Strafsenat des BGH bereits im Jahr 2013 zum abstrakten
Gefährdungsdelikt des § 261 II Nr. 1 StGB bei einer im Ausland begangenen Geld-
wäsche festgestellt, dass § 261 II Nr. 1 StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt keinen
inländischen Erfolgsort i.S. von § 9 I StGB aufweist.16 Diese Auslegung bestätigte
der 3. Strafsenat des BGH in einer Entscheidung aus dem Jahr 2014, in welcher er
die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts auf einen Fall ablehnte, in dem von Tsche-
chien aus ins Internet eingespeiste Bilder von Hakenkreuzen in Deutschland abrufbar
sind;17 der Senat argumentiert insoweit zutreffend nicht maßgeblich in den Katego-
rien unterschiedlicher Gefährdungsdelikte, sondern stellt orientiert am Wortlaut des
§ 9 I StGB die Frage nach dem Verständnis des Begriffs Erfolg, für den er „eine von

13
In der „offline-Welt“ könnte man die Dienstleistung mit einem Boten vergleichen, der
ein ausgefülltes Überweisungsformular des Bankkunden entgegennimmt, dieses dann für
Dritte nicht einsehbar vertraulich an die Empfängerbank übergibt.
14
Vgl. hierzu vertiefend für solche Fälle Kudlich, in: Böse/Schumann/Toepel (Hrsg.),
Kindhäuser-FS, 2019, S. 231 ff.
15
BGHSt 46, 212. Zu den nachfolgend skizzierten neuen Entwicklungen vgl. ausf. Kud-
lich/Berberich, NStZ 2019, 633 ff.
16
BGH NStZ-RR 2013, 253.
17
Vgl. BGH NStZ 2015, 81 (82): „Das abstrakte Gefährdungsdelikt des § 86a StGB (…)
umschreibt keinen zum Tatbestand gehörenden Erfolg, so dass eine Inlandstat über § 9 Abs. 1
Var. 3 oder 4 StGB nicht begründet werden kann.“
Die Expansion des Strafens durch § 9 II 2 StGB 631

der tatbestandsmäßigen Handlung räumlich und/oder zeitlich abtrennbare Außen-


weltsveränderung“ fordert, so dass „jedenfalls an dem Ort, an dem die hervorgeru-
fene abstrakte Gefahr in eine konkrete umgeschlagen ist oder gar nur umschlagen
kann“ nicht automatisch auch ein „zum Tatbestand gehörender Erfolg eingetreten“
ist. Endgültig vollzogen18 wird die Abkehr von der Toeben-Entscheidung dann in
einer Entscheidung aus dem Jahr 2017 (ebenfalls zu § 130 StGB), in dem zwar
eine auf § 7 StGB gestützte Anwendbarkeit deutschen Strafrechts angenommen,
zuvor aber dezidiert klargestellt wird, dass eine solche auf § 9 StGB nicht gestützt
werden könne.19

b) § 9 II 2 StGB bei verwaltungsakzessorischen Strafvorschriften?

aa) Aber auch, wenn man die Veranstaltung des Glücksspiels nicht dem deutschen
Strafrecht unterwirft, könnte durch Unterstützungshandlungen der Veranstaltung im
Inland (hier: Erbringung der Zahlungsauslösungsdienstleistungen) nach Maßgabe
des § 9 II StGB eine nach deutschem Recht strafbare Beihilfe begangen werden. Ins-
besondere scheint nach § 9 II 2 StGB dabei unschädlich zu sein, dass für das Angebot
des Glücksspiels im Ausland jeweils Lizenzen vorliegen und daher die Auslandstat
selbst am Tatort nicht mit Strafe bedroht ist.
bb) Indes ist fraglich, ob § 9 II 2 StGB auch bei verwaltungsakzessorischen Tat-
beständen wie § 284 StGB in dieser Weite verstanden werden kann. Zwar lässt trotz
verschiedener völkerrechtlicher und kriminalpolitischer Bedenken (vgl. bereits oben
II.1.) der Wortlaut des § 9 II 2 StGB in vielen Fällen, in denen kontrovers diskutierte
Rechtsfragen im Ausland anders beantwortet werden als in Deutschland und eine
Anknüpfung an die deutsche Bewertung für die Unterstützung für Auslandstaten zu-
nächst erstaunt, kaum eine Auslegung zu, die diese Ergebnisse verhindert, so dass
Lösungen dann ggf. auf prozessualem Wege (insbesondere über § 153c I 1 Nr. 1
StPO) gesucht werden müssten.20 Bei verwaltungsakzessorischen Straftatbeständen
könnte sich die Situation aber anders darstellen.
Die nachfolgend diskutierte Frage ist – soweit ersichtlich – in dieser Form in
Rechtsprechung und Literatur noch nicht vertieft behandelt worden21 und geht im

18
Vgl. auch auch Müko-StGB/Ambos, 3. Aufl. 2017, § 9 Rn. 32 (noch „abwartend“ for-
muliert).
19
Vgl. BGH NStZ 2017, 146 (147): „Unabhängig von der Frage, ob die Regelung (sc. des
§ 9 I Var. 3) nicht nur auf Erfolgsdelikte im Sinne der allgemeinen Deliktslehre abstellt, ist
jedenfalls an dem Ort, an dem – wie hier – die hervorgerufene abstrakte Gefahr in eine
konkrete lediglich umschlagen kann, kein zum Tatbestand gehörender Erfolg eingetreten
(ebenso Schönke/Schröder/Eser, StGB, 29. Aufl., § 9 Rn. 6 a m.w.N.; Satzger, NStZ 1998,
114 f.; a.A. BGH Urt. v. 12. 12. 2000 – BGHSt 46, 212, 221).“.
20
Vgl. LK/Werle/Jeßberger, § 9 Rn. 52 f.
21
Beiläufig und ohne Auseinandersetzung mit dem Problem oder gar Begründung streift
die zivilrechtliche Entscheidung OLG Bremen v. 11. 11. 2004 – 2 U 39/2004 – juris Rn. 35 a.E.
den Punkt (eine Strafbarkeit bejahend und damit im Ergebnis der Klage stattgebend); aller-
632 Hans Kudlich

Kern darum, ob bei der durch § 9 II 2 StGB letztlich für ausschlaggebend erachteten
Beurteilung der Auslandstat nach deutschem Strafrecht22
- allein das im Ausland ausgeübte Verhalten samt Fehlen einer deutschen verwal-
tungsrechtlichen Erlaubnis
oder aber
- das Verhalten mit einer hypothetischen deutschen Erlaubnis an Stelle der vorlie-
genden ausländischen Erlaubnis
zugrunde zu legen ist. Oder anders gewendet: Betrachtet man die Auslandstat aus
dem Blickwinkel der fehlenden deutschen Erlaubnis? Oder prüft man, ob nach
den Wertungen des deutschen Rechts im Ausland das Verhalten mit einer wirksamen
nationalen Erlaubnis auch strafbar wäre?
Obwohl die enge Orientierung am deutschen Recht in § 9 II 2 StGB auf den ersten
Blick dafür sprechen könnte, das Vorliegen gerade einer deutschen Genehmigung zu
verlangen, würde dies für verwaltungsakzessorische Straftatbestände ersichtlich zu
abenteuerlichen Ergebnissen führen: Für praktisch alle Vorgänge, für die nach den
Wertungen des deutschen Rechts Genehmigungen oder andere Hoheitsakte erforder-
lich sind, also neben der Veranstaltung eines Glücksspiels etwa auch der Betrieb ver-
schiedenster Anlagen, und für die verwaltungsakzessorische Straftatbestände beste-
hen, müsste dann nämlich eine hypothetische Prüfung mit Erfordernis gerade einer
wirksamen deutschen Genehmigung zu einer Teilnahmestrafbarkeit desjenigen füh-
ren, der etwa durch die Lieferung von Rohstoffen, Arbeitsmaterialien etc. dieses Ver-
halten im Ausland unterstützt. Gleiches würde etwa für denjenigen gelten, der einen
Arzt in Österreich mit Praxisbedarf beliefert, welcher dort zulässigerweise den Titel
„Arzt“ führt, obwohl er dazu nur eine österreichische, nicht aber eine deutsche Be-
fugnis hat (§ 132a StGB).
Das kann als Ergebnis kaum gewollt sein, und eine nahezu flächendeckende ma-
teriell-rechtliche Kriminalisierung lässt sich auch nicht im Lichte etwaiger strafpro-
zessualer Lösungen mittels des Opportunitätsprinzips legitimieren. Denn über die –
schon per se fragwürdige – Wertung des § 9 II 2 StGB hinaus, im Ausland unge-
schützten Rechtsgütern akzessorischen Schutz gegen eine Unterstützung ihrer Ver-
letzung zukommen zu lassen, müssten dann regelmäßig, wenn ein Handeln ohne ver-
waltungsrechtliche Erlaubnis unter Strafe steht, auch Unternehmen und Personen au-
ßerhalb Deutschlands zusätzlich noch immer deutsche Genehmigungen einholen.

dings wurde diese Entscheidung durch BGH v. 14. 02. 2008 – Abs. 1 ZR 187/04 gerade auf-
gehoben und die Klage abgewiesen. In der Kommentarliteratur findet sich bei LK/Böse, § 9
Rn. 22 i.V.m. Vor § 3 Rn. 63 ff. ein Hinweis, der bei aller Ausdifferenziertheit im Ergebnis als
Indiz gegen eine Strafbarkeit gelesen werden könnte. Ebenso – losgelöst von § 9 II 2 StGB –
allgemein zur (außerstrafrechtlichen) Fremdrechtsanwendung im Strafanwendungsrecht LK/
Werle/Jeßberger, Vor § 3 Rn. 330 ff.
22
Vgl. zu dieser Beschreibung der Funktionsweise des § 9 Abs. 2 S. 2 StGB Jung, JZ 1979,
325 (328) sowie dem Grunde nach zustimmend LK/Werle/Jeßberger, § 9 Rn. 50.
Die Expansion des Strafens durch § 9 II 2 StGB 633

Es dürfte aber nicht Ziel des Gesetzgebers sein, Details (etwa wirtschafts-)verwal-
tungsrechtlicher Regelungsmechanismen in ausländischen Rechtsordnungen mittel-
bar kontrollieren zu wollen. Dann kann sich aber der durch § 9 II 2 StGB angeordnete
„Gleichklang“ mit dem deutschen Recht beim strafrechtlichen Schutz gegen inlän-
dische Teilnahmehandlungen als akzessorische Rechtsgutsverletzungen nur auf den
strafrechtlichen Kern der verwaltungsakzessorischen Strafnorm beziehen, oder an-
ders gewendet: Es liegt zwar eine hinreichende ausländische Haupttat zu einer In-
landsbeihilfe vor, wenn das Verhalten im Ausland nach den Vorschriften des deut-
schen Strafrechts gegen ein strafbewehrtes Verbot mit Erlaubnisvorbehalt verstoßen
würde; ob aber die eine Strafbarkeit ausschließende Erlaubnis für die Auslandstat
vorliegt, muss sich nach dem jeweiligen nationalen (ausländischen) Recht richten.
Würde man das anders sehen, könnte u. U. trotz Einhaltung des am Handlungsort
vorgesehenen Verfahrens und (hypothetischer) materieller Genehmigungsfähigkeit
des Verhaltens nach Maßstäben des deutschen Rechts die ohnehin als zumindest teil-
weise als zu weitgehend erachtete Vorschrift des § 9 II 2 StGB vor Auslandstaten
einen weitergehenden strafrechtlichen Schutz gewähren als für Inlandstaten.
cc) Das alles spricht dafür, bei verwaltungsakzessorischen Straftatbeständen eine
einschränkende Auslegung vorzunehmen und für die hypothetische Betrachtung
nach deutschem Strafrecht gleichwohl zu fragen, ob ein Glücksspiel durch eine Er-
laubnis am Tatort „erlaubt“ ist. Eine – angesichts der überschießenden Weite des § 9
II 2 StGB rechtspolitisch gebotene – Einschränkung ist hier auch (anders als mögli-
cherweise in anderen Fällen einer überbordenden Pönalisierung durch deutsches
Strafrecht) mit dem Wortlaut unproblematisch zu vereinbaren, ordnet § 9 II 2
StGB doch für die Teilnahme nur die Anwendung „deutschen Strafrechts“, nicht
aber deutschen Verwaltungsrechts23 an.24
Dieses Auslegungsergebnis findet schließlich dadurch Bestätigung, dass nach
dem ausländischen Verwaltungsrecht gerade eine grenzüberschreitende Veranstal-
tung über das Internet lizenziert wird, wenn das veranstaltende Unternehmen die lo-

23
Zur Anwendung ausländischen Verwaltungsrechts bei verwaltungsakzessorischen Tat-
beständen vgl. auch Cornils, Die Fremdrechtsanwendung im Strafrecht, 1978, S. 99 (Aus-
druck des Respekts vor fremder Hoheitsgewalt). Ob dies auch dann gelten sollte, wenn im
Ausland möglicherweise nicht einmal ein Erlaubnisvorbehalt besteht, mag man noch näher
diskutieren – besteht aber auch dort das Erfordernis eines Genehmigungsverfahrens, hieße es
ein Stück weit, das ausländische Verfahren zu desavouieren, wenn man ein dort genehmigtes
Verhalten als „unerlaubt“ einstufen würde.
24
Nur ergänzend sei bemerkt, dass in Konstellationen wie der vorliegenden auch nicht der
in der Literatur (vgl. etwa LK/Werle/Jeßberger, § 9 Rn. 53; NK/Böse, § 9 Rn. 21) angeführte
Aspekt für eine Anwendung von § 9 II 2 StGB ins Feld geführt werden kann, dass bei einer
mittäterschaftlichen Begehung der im Inland tätige Mittäter schon nach allgemeinen Grund-
sätzen (§§ 3, 9 I StGB) dem deutschen Strafrecht unterfallen würde und die Abgrenzung
zwischen Mittäterschaft und Teilnahme schwierig sein könne. Denn dass die bloße Erleich-
terung der Abwicklung von Zahlungsflüssen jedenfalls kein mittäterschaftliches Veranstalten
des Glücksspiels, sondern geradezu prototypisch „nur“ (bzw. allenfalls) eine Teilnahme sein
kann, liegt auf der Hand.
634 Hans Kudlich

kalen Vorgaben bzw. Lizenzbedingungen erfüllt. Aufgrund des Gebots der Respek-
tierung fremder Hoheitsgewalt erscheint es deshalb geboten, autonom nach dem aus-
ländischen Verwaltungsrecht zu klären, ob am Tatort ein Handeln „ohne behördliche
Erlaubnis“ zu bejahen ist. Soweit daher am jeweiligen Handlungsort im Ausland eine
entsprechende behördliche Erlaubnis vorliegt und diese auch eine grenzüberschrei-
tende Veranstaltung zulässt, ist deshalb in (scheinbarer) Abweichung vom Wortlaut
des § 9 II 2 StGB keine Strafbarkeit für inländische Teilnahmehandlungen anzuer-
kennen bzw. deutsches Strafrecht auch für mögliche Beihilfehandlungen in Deutsch-
land schon nicht anwendbar.25

III. Problem-Dimensionen des § 9 II 2 StGB und Lösungsbedarfe


1. Ausgangspunkt

Die unter II. skizzierten Beispiele haben bestätigt, dass es sich bei § 9 II 2 StGB
um eine problematische Vorschrift handelt, die im Einzelfall zu fragwürdigen Ergeb-
nissen führen kann. Auf den ersten Blick mag sie ihren berechtigten Anwendungs-
bereich haben, zum einen weil ein nationaler Strafgesetzgeber Verhaltensweisen
eben typischerweise nach seinem Rechtsverständnis regelt, und zum anderen weil
möglicherweise Fälle einer „Umgehung“ deutschen Strafrechts oder auch einer
rein zufälligen Verlagerung der Haupttat ins Ausland damit aufgefangen werden kön-
nen. Wirklich zwingend erscheint diese Regelung jedoch auch unter diesem Ge-
sichtspunkt nicht, und die grundsätzliche Anwendbarkeit deutschen Rechts im
Sinne einer Unterwerfung der deutschen Strafgerichtsbarkeit wie in § 9 II 1 StGB
würde durchaus genügen; immerhin mag es ja auch ein sehr deutliches Indiz

25
Eine ähnliche Argumentation erscheint nebenbei auch angebracht, wenn es um die Frage
nach einer Strafbarkeit deutscher Spieler an einer im Ausland angebotenen Veranstaltung
geht: Auf den ersten Blick würde auch für § 285 StGB gelten, dass die Tathandlung hierzu im
Inland stattfindet, selbst wenn das Glücksspiel selbst im Ausland veranstaltet wird und dabei
nach vorzugswürdiger Auffassung eine reine Auslandstat darstellt. Das zumindest kontrain-
tuitive Ergebnis der Strafbarkeit eines deutschen Spielers an einem Glücksspiel, das im Aus-
land nicht von deutschem Strafrecht reglementiert wird, lässt sich mit einem ähnlichen Ar-
gument vermeiden: Da der Anbieter im Ausland für sein Angebot explizit eine Lizenz inne-
hält, ist das Angebot (dort) gerade nicht „unerlaubt“. Wenn ein Spieler von Deutschland aus an
einem allein im Ausland bzw. vom Ausland aus organisierten Glücksspiel teilnimmt, bezieht
sich seine Tathandlung mithin auf ein Glücksspiel, welches explizit lizenziert ist, er nimmt
also an keinem „unerlaubten Glücksspiel“ teil. Man könnte auch formulieren: Der Umstand,
dass es für das Spiel als solches keinen (strafrechtlichen) Veranstaltungsort im Inland gibt,
mag für das Strafanwendungsrecht des Spielers irrelevant sein, nicht aber für die tatbestand-
liche Reichweite des § 285 StGB. Nach seinem Schutzzweck und seiner akzessorischen Ge-
staltung kann er sinnvollerweise nur bei der Teilnahme an einem Glücksspiel erfüllt sein, das
auch nach strafrechtlicher Wertung verboten ist. Findet das Spiel aber ausschließlich im
Ausland statt und begründet keinen Tatort und damit keinen Anknüpfungspunkt für eine
strafrechtliche Bewertung im Inland, kann es für die Frage, ob das Glücksspiel „erlaubt“ oder
„unerlaubt“ veranstaltet wird, nur auf die Rechtslage im Ausland ankommen.
Die Expansion des Strafens durch § 9 II 2 StGB 635

dafür sein, dass das konkrete Verhalten jedenfalls an der Grenze der Strafwürdigkeit
liegt, wenn es im Ausland nicht unter Strafe steht. Konstruktiv müsste man sich na-
türlich angesichts des akzessorischen Charakters der Teilnahmestrafbarkeit dann die
Frage stellen, nach welchem Recht dann die Haupttat bewertet werden soll. Indes
könnte dies ja durchaus deutsches Strafrecht sein, soweit es jedenfalls auch eine ver-
gleichbare Strafbarkeit im Ausland gibt; ein entsprechender Mechanismus ist dem
Strafanwendungsrecht des StGB etwa aus § 7 StGB durchaus bekannt.

2. Problemebenen des § 9 II 2 StGB

Die Probleme des § 9 II 2 StGB liegen auf durchaus unterschiedlichen Ebenen:


a) So ist ganz generell und unabhängig vom konkreten Einzelfall und vom kon-
kreten Delikt fraglich, warum akzessorischer Rechtsgüterschutz gewährt werden
muss, wenn ein Verhalten am Tatort nicht unter Strafe steht. Dies betrifft freilich
die kriminalpolitische Grundentscheidung, und wollte man hier Abhilfe schaffen,
so müsste § 9 II 2 StGB aufgehoben werden, was allein Sache des Gesetzgebers ist.
b) Eine vielleicht nicht qualitativ, aber doch zumindest quantitativ neue Ebene er-
reicht die Vorschrift, wenn es sich um kriminalpolitisch ohnehin fragwürdige Straf-
drohungen handelt. Hier könnte es nämlich zum einen legitime, zumindest aber nach-
vollziehbare Gründe dafür geben, warum von Täter- bzw. Opferseite das Ausland
aufgesucht wird; zum anderen könnte sich der Haupttäter im Ausland bei einer als
Anstiftung oder Beihilfe in Betracht kommenden vorhergehenden Teilnahmehand-
lung in Deutschland zumindest mittelbar zum Schutz im Interesse des potentiellen
Teilnehmers gedrängt sehen, sein Verhalten zu unterlassen, obwohl es an seinem
Aufenthaltsort und in seiner Heimatrechtsordnung erlaubt ist.
Indes ist zuzugeben, dass die Kategorie der „problematischen“ oder „fragwürdi-
gen“ Strafdrohung, für die oben § 217 StGB geradezu als Paradebeispiel angeführt
wurde, wahrscheinlich nicht weiterhilft. Denn Fälle, in denen ein in Deutschland
strafbares Verhalten im Ausland gerade straflos ist, werden sehr häufig Tatbestände
betreffen, welche rechtskulturell und rechtspolitisch unterschiedlich bewertet wer-
den können und daher von zumindest Teilen der Bevölkerung als „fragwürdig“ emp-
funden werden. Auch hier erscheint daher eine generelle Restriktion anhand eines
solchen Kriteriums nicht zielführend, ohne dass damit die Grundentscheidung des
§ 9 II 2 StGB weitgehend konterkariert würde. Im hier erwähnten Fall des § 217
StGB besteht freilich eine Besonderheit, denn selbst dann, wenn man das nach
dem Willen des Gesetzgebers von der Vorschrift vorgeblich geschützte Rechtsgut
der Verhinderung eines „suizidfreundlichen Klimas“ zur Stärkung der Autonomie
am Lebensende26 anerkennt, droht durch die Möglichkeit einer Suizidbeihilfe im
26
Gemeint ist selbstverständlich nicht die Autonomie des Sterbewilligen, die durch § 217
StGB unzweifelhaft gerade auf das Massivste eingeschränkt wird, sondern eine Autonomie
dahingehend, dass niemand durch die Existenz geschäftsmäßiger Suizidförderer einen laten-
ten Druck zum Suizid verspüren kann, obwohl er selbst an einen solchen nicht denken würde.
636 Hans Kudlich

Ausland ein entsprechendes Klima innerhalb von Deutschland nicht ernsthaft zu ent-
stehen (bzw. es zumindest nicht Sache des deutschen Gesetzgebers ist, eventuelle
grenzüberschreitende Effekte der Rechtslage im Ausland regeln zu wollen). Deshalb
würde auch die Teilnahme an solchen Auslandstaten dieses (hier einmal unterstellte)
Rechtsgut jedenfalls nicht in rechtlich signifikanter Weise berühren.
c) Strukturell am ehesten einer spezifischen Strafbarkeitseinschränkung zugäng-
lich erscheint die hier zuletzt behandelte Fallgruppe der verwaltungsakzessorischen
Straftatbestände. Wenn eine Strafbarkeit in Deutschland nur bei einem unerlaubten
Verhalten in dem Sinne besteht, dass es an einer erforderlichen Genehmigung bzw.
Lizenz fehlt, droht in solchen Fällen, in denen für das Verhalten eine Lizenz im Aus-
land vorliegt, in Deutschland dagegen fehlt, jedenfalls bei reinen Auslandstaten
(ohne Handlungs- oder Erfolgsort im Inland) eine Erschwerung eines im Ausland
explizit erlaubten Verhaltens dadurch, dass seine Unterstützung von Deutschland
aus verboten wird. Das ist (abgesehen von einem engen Kreis von Straftaten, bei
denen schon nach §§ 5 und 6 StGB das deutsche Strafrecht unabhängig vom
Recht des Tatorts gilt) problematisch.
Dogmatisch ließe sich hier eine unsachgemäße Ausdehnung des deutschen Straf-
rechts dadurch vermeiden, dass man entsprechend dem Wortlaut des § 9 II 2 StGB
eben nur auf das deutsche Strafrecht, nicht aber auf das deutsche Verwaltungsrecht
abstellt, sondern die verwaltungsrechtlichen Vorfragen konsequent nach dem Recht
des Tatorts beurteilt. Dies erscheint insoweit auch wertungsmäßig stimmig, als die
ohnehin nicht unproblematische Ausweitung der deutschen Strafbarkeit nach
§ 9 II 2 StGB dann bei solchen Delikten eingeschränkt wird, die nicht per se verbo-
tene Verhaltensweisen unter Strafe stellen, sondern durchaus die Legalisierungsmög-
lichkeit durch ein verwaltungsrechtliches Verfahren vorsehen.

IV. Fazit
Die Frage, wie weit ein nationaler Gesetzgeber den Anwendungsbereich seines
Strafrechts ausdehnt, ist zunächst eine kriminalpolitische. Dabei ist er zwar dennoch
nicht ganz frei, sondern insbesondere durch das völkerrechtliche Gebot der Nichtein-
mischung gebunden. Indes dürfte dieses letztlich keine unüberwindbare Hürde sein,
soweit es „nur“ um eine Strafbarkeit inländischer Teilnahmehandlungen nach Maß-
gabe von § 9 II 1, 2 StGB geht.
Eine andere Frage ist aber, ob es schon allein deshalb (immer) überzeugend ist, ein
Verhalten mit Strafe zu belegen, weil man dies als nationaler Gesetzgeber ohne Ju-
risdiktionskonflikte oder Verstoß gegen völkerrechtliche Grundsätze könnte. Hier ist
die Regelung des § 9 II 2 StGB durchaus Zweifeln ausgesetzt: Die kurzen Beispiele
oben haben einerseits Konstellationen beschrieben, in denen die Anwendung der
Norm – aus verschiedenen Gründen – zu fragwürdigen Ergebnissen führt; anderer-
seits erscheint aber auch jenseits solche Sonderfälle der Bedarf dafür, bei der Teil-
Die Expansion des Strafens durch § 9 II 2 StGB 637

nahme an einem am Tatort straflosen Verhalten pauschal und ohne Beschränkung


etwa auf die Verletzung besonders zentraler Rechtsgüter deutsches Strafrecht anzu-
wenden, jedenfalls nicht übermäßig groß.
Der Rechtsanwender muss die Gesetzeslage zwar zunächst einmal so hinnehmen.
Er sollte aber nicht zögern, nach Argumenten zu suchen, um in besonders zweifel-
haften Konstellationen auch die Normanwendung – freilich lege artis – vermeiden zu
können. Wie der Jubilar den eingangs erwähnten Fall, den er mir in dem Berufungs-
verfahren gestellt hat, selbst lösen würde, ist damals nach meiner Erinnerung nicht
explizit von ihm mitgeteilt worden (wenngleich man hier eine Vermutung haben
kann, welches Ergebnis ihm „vernünftig“ vorkommen würde). Dass ich mich aber
jenseits der Entscheidung von ganz konkreten Fällen in meinem Interesse an
einem kritischen Umgang mit fragwürdigen gesetzgeberischen Leistungen mit
ihm einig wähnen darf, wird in seinen Publikationen bis in die jüngste Vergangenheit
deutlich.27

27
Vgl. zuletzt nur Merkel, ZfL 2018, 114.
Garantenstellung bei tätiger Verletzung
negativer Pflichten
Von Günther Jakobs

I. Begehung als Verletzung der Verkehrssicherungspflicht


Die Erörterung einer Garantenstellung beim Begehungsdelikt (durch Tun!) wird
bei negativen Pflichten1 in der Regel für überflüssig gehalten, und zwar weil die ver-
meidbare Schädigung eines anderen generell verboten sei und nicht nur besonders
verpflichteten Personen. Diese Sicht verkürzt das Problem doppelt: Sie bezieht
sich allenfalls (!) auf einen Kernbereich des Begehens und klärt auch für diesen
nicht den Grund der Haftung.
Zunächst zum Haftungsgrund! Lässt man positive Pflichten, also solche zu hel-
fender Zuwendung,2 beiseite, so bleibt bei einem Unterlassungsdelikt als Haftungs-
grund die Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht mit ihren „Ingerenz“ und
„Übernahme“ genannten Verlängerungen. Wenn einer Person ein Organisations-
kreis3 zur ungestörten Gestaltung zugewiesen wird, so folgt daraus bei einem – zu-
mindest praktisch – unentrinnbar dichten Nebeneinander vieler Personen die Not-
wendigkeit, bei der Verwaltung des Kreises auf den Bestand der Kreise anderer Per-
sonen Rücksicht zu nehmen; denn ohne diese Rücksicht ließe sich das ungestörte Ge-
stalten nicht dulden. Bei diesem Synallagma von ungestörtem Gestalten und
Rücksicht handelt es sich um eine Notwendigkeit, deren trivialer Name „Verkehrs-
sicherungspflicht“ lautet.

1
Jakobs, Negative Pflichten, in: Charalamis (Hrsg.), jus, ars, philosophia et historia.
Festschrift für Johannes Strangas, 2017, S. 245 ff.; jüngst auch ders., Der Organisationskreis.
Versuch einer systematischen Bestimmung, in: Barton u. a. (Hrsg.), Festschrift für Thomas
Fischer, 2018, S. 115 ff. – Auch historisch grundlegend zur Pflichtenlehre: Pawlik, „Das
dunkelste Kapitel der Dogmatik des Allgemeinen Teils“. Bemerkungen zur Lehre von den
Garantenpflichten, in: Heinrich u. a. (Hrsg.) Strafrecht als Scientia Universalis. Festschrift für
Claus Roxin, 2011, Bd. 1, S. 931 ff.; ders., Das Unrecht des Bürgers. Grundlinien der Allge-
meinen Verbrechenslehre, 2012, S. 162 ff., 174 ff.
2
Dazu Pawlik, „Das dunkelste Kapitel“ (Fn. 1), S. 942 ff.; ders., Unrecht (Fn. 1),
S. 174 ff.; Jakobs, Positive Pflichten, in: Faria Costa u. a. (Organisadores), Estudos em Ho-
menagem ao Prof. Doutor Manuel da Costa Andrade, Volume I, Direito Penal, Coimbra 2017,
S. 689 ff.
3
Jakobs, Organisationskreis (Fn. 1).
640 Günther Jakobs

Fälle bestehender Verkehrssicherungspflichten sind allgemein bekannt und de-


cken alle Gestaltungen eines Organisationskreises ab, von der Pflicht zur Sicherung
eines aggressiven Tiers über diejenige zur Sicherung der Ziegel auf dem Dach bis hin
zur Pflicht, beim Betrieb eines Chemiewerkes für die sichere Verwahrung von gifti-
gen Stoffen zu sorgen. Der Grund für solche Pflichten ist, abstrakt gesehen, stets der-
selbe: Wer andere Personen von der Verwaltung dessen, was ihm selbst „eigen“ ist,
ausschließen kann, ist die „geborene“, in erster Linie stehende Person, die für die
Schadlosigkeit des Verwaltungszustands des „Eigenen“, eben des Organisationskrei-
ses, zu sorgen hat. Insoweit lassen sich gewiss noch Konkretisierungen anbringen
(etwa dazu, wann der potenziell Geschädigte selbst die Gefahr abwenden muss),
aber prinzipieller Widerspruch gegen den – im Kern ja auch simplen – Gedanken-
gang ist wohl nicht zu erwarten.
Nun darf man sich einen Organisationskreis nicht als Summe von Gütern vorstel-
len, die um einen beseelten Leib lagern und von diesem gelenkt werden, vielmehr
besteht er aus denjenigen Rechten, die eine Person konstituieren; eine Person als Trä-
gerin von Rechten (und Pflichten)4 entsteht gleichursprünglich mit ihrem Organisa-
tionskreis. Insbesondere ist der Wille zum Gestalten des Kreises keine seelische Re-
gung außerhalb des Kreises, keine externe Lenkung, sondern ein dem Kreis zuge-
schriebener Teil seiner selbst, sodass sich die Verwaltung eines Organisationskreises
– genau formuliert – als Selbstverwaltung darstellt. – Dass allein ein Wille, gleich
welchen Inhalts, nicht in den Organisationskreis eines anderen eingreift,5 hindert
seine Eigenschaft als Akt der Verwaltung nicht; denn es mag auch Akte ohne Außen-
wirkung geben, die sozial so irrelevant sind wie ein Wimpernschlag (wenn dieser
nicht ein Zeichen bildet) oder zwar sozial relevant, aber nicht eingreifend, etwa su-
pererogatorischer Art wie eine wohltätige Spende. Nicht jede Verwaltung eines Or-
ganisationskreises führt zu Außenwirkungen, aber jede Außenwirkung ist das Ergeb-
nis der Verwaltung des Kreises und bei einer deliktischen Außenwirkung eben das
Ergebnis rechtlich fehlerhafter Verwaltung.
Was daraus folgt, liegt auf der Hand: Der sich verwaltende Organisationskreis
verwaltet sich auch, wenn er einen Willen zum Tun oder Unterlassen bildet, und
er trägt deshalb für die Willensbildung eine Verkehrssicherungspflicht.6 Deliktisches
Handeln oder Unterlassen ist bei Personen ohne einen besonderen (positiven) Status

4
Th. I. Tit. I. § 1 ALR.
5
Beim Versuch muss die Externalisierung des Willens in verstehbarer Art und Weise
erfolgen; dazu Jakobs, Der Versuch des Versuchs, in: Safferling u. a. (Hrsg.), Festschrift für
Franz Streng, 2017, S. 37 ff.
6
Dagegen insbesondere mit seinem dogmatikinternen und gesellschaftsfernen Logizismus
Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959, S. 228 Fn. 301: „Der vom
Verwirklichungswillen getragene Handlungsablauf kann nicht die Grundlage einer Garanten-
pflicht zur Verhinderung dieser Handlung sein.“ – Aber darum geht es so wenig, wie beim
Unterlassungsdelikt der mangelnde Wille zur Schadensverhütung Grundlage der Garanten-
pflicht ist. Vielmehr ist die rechtlich garantierte Selbstverwaltung Grundlage der Garanten-
pflicht zur Rücksicht auf andere.
Garantenstellung bei tätiger Verletzung negativer Pflichten 641

nichts anderes als die (externalisierte) Verletzung der Verkehrssicherungspflicht für


sich selbst, mit anderen Worten, der Haftungsgrund für aktives Tun oder Unterlassen
findet sich in der Verletzung der Verkehrssicherungspflicht, für die eigene Unschäd-
lichkeit zu sorgen.7 Dadurch verliert die These, ein Begehungsdelikt bedürfe keiner
Garantenstellung, jede Plausibilität. Auch beim Tun geht es um die Verletzung der
Pflicht eines Garanten,8 nämlich der Verkehrssicherungspflicht. Die Verletzung die-
ser Pflicht liegt allerdings häufig solchermaßen evident vor, dass sie keiner Erörte-
rung bedarf, was aber nichts am Bestand dieser Pflicht als Haftungsgrund ändert.

II. Ingerenz. Abbruch rettender Verläufe


Vom Unterlassungsdelikt her ist bekannt, dass jedenfalls ein rechtswidriges Ver-
halten, vielleicht sogar ein zwar rechtmäßiges, aber besonders riskantes,9 die Pflicht

7
Dass eine rechtliche Beurteilung von Verwaltungsvorgängen ohne deren Externalisierung
nicht erfolgt, da ein nichttotalitärer Staat an die isolierten Interna einer Person (eines Orga-
nisationskreises) keine Konsequenzen knüpft, hindert es nicht, bei gegebenem Anlass (bei
einer Externalisierung oder dem Verdacht einer solchen) zur Gewichtung des Verwaltungs-
fehlers darauf zurückzugreifen.
8
So bereits Herzberg, Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip, 1972,
S. 174: „Handlung ist das vermeidbare Nichtvermeiden eines Erfolges in Garantenstellung“
(Hervorhebung nicht original). – Explikationen finden sich S. 174 ff.; teils korrigierend
Herzberg, Gedanken zum strafrechtlichen Handlungsbegriff und zur „vortatbestandlichen“
Deliktsverneinung, GA 1996, S. 1 ff. – Der hiesige Begriff lautet in größtmöglicher Allge-
meinheit: Handlung ist das Sich-zuständig-Machen für ein Ereignis (und solches kann auch
ein lobenswertes Werk sein; dann hat der Verkehrssicherungspflichtige seinen Bereich eben
lobenswert verwaltet). Immerhin hat Herzberg die Koinzidenz von – bei ihm – deliktischem
Tun und Unterlassung in einer Garantenstellung erkannt (dazu Walter, Der Kern des Straf-
rechts. Die allgemeine Lehre vom Verbrechen und die Lehre vom Irrtum, 2006, S. 36 f.; NK-
Puppe, Kindhäuser u. a. (Hrsg.), NomosKommentar Strafgesetzbuch, Bd. 1, 5. Auflage 2017,
vor § 13 Rn. 52; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1, Grundlagen. Der Aufbau der
Verbrechenslehre, 4. Auflage, 2006, 8/33 ff.). – Wenn Herzberg – seinerzeit naheliegend – die
„kleinen“ echten Unterlassungsdelikte (die allerdings auch durch Aktivität begangen werden
können) mangels einer Garantenstellung aus dem Handlungsbegriff ausklammert (Unterlas-
sung, S. 176), so erfolgt das – was hier allerdings nicht vertieft werden kann – voreilig: Auch
diese Delikte sind Garantendelikte, nur gilt die Garantie nicht einzelnen Personen als poten-
ziellen Opfern, vielmehr dem Schutz der Erträglichkeit einer liberalen Ordnung durch den
Ausschluss ihres exzessiven und deshalb anstößigen Gebrauchs, durchaus vergleichbar dem
Wucher; siehe dazu unten Fn. 12. – Zur normativen Gleichstellung von Begehung (Tun) und
Unterlassung Pawlik, „Das dunkelste Kapitel“ (Fn. 1), S. 938 ff.; Freund, Jakobs und die
Unterlassungsdelikte, in: Kindhäuser u. a. (Hrsg.), Strafrecht und Gesellschaft. Ein kritischer
Kommentar zum Werk von Günther Jakobs, 2019, S. 379 ff., 390 ff.; schon ders., Strafrecht
Allgemeiner Teil, 2. Auflage, 2009, S. 216 ff.
9
Die Möglichkeit einer Ingerenzhaftung wird vereinzelt überhaupt abgelehnt, so insbe-
sondere bei Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971,
S. 231 ff., 313 ff.; weitere Nachweise bei Jakobs, Die Ingerenz in der Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs, in: Roxin u. a. (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Bd. IV, 2000,
S. 29 ff. Fn. 4, S. 33 Fn. 18. – Die Rechtsprechung hat, was die Qualifikation des Vorverhal-
642 Günther Jakobs

erzeugt, als Folge dieses Verhaltens drohende Gefahren zu inhibieren. Es handelt


sich, wie leicht zu erkennen ist, um das Zurechnungsinstitut der Ingerenz, bei dem
es sich um eine Verlängerung der Verkehrssicherungspflicht in eine Zeit handelt,
zu der eine Gefahr den Organisationskreis des Sicherungspflichtigen bereits verlas-
sen hat. Klassisches Beispiel, wer als Fahrer eines Kraftfahrzeugs wegen eines Fahr-
fehlers einen sich korrekt verhaltenden Fußgänger verletzt (rechtswidriges Vorver-
halten; bei korrektem Verhalten bleibt das Sonderrisiko der Benutzung eines Kraft-
fahrzeugs),10 hat die dem Fußgänger drohenden weiteren Schäden abzuwenden, also
die geschehene Usurpation gering zu halten. Das Vorverhalten begründet also das
Gebot,11 Schadensfolgen zu mindern. Dieses Gebot hat nicht eine helfende Zuwen-
dung, also keine positive Pflicht zum Inhalt, verpflichtet vielmehr dazu, Ausreißer
der eigenen Organisation zurückzuholen. Grund für die Pflicht ist die ausschließliche
Zuständigkeit für die Genese der Gefahrenlage im eigenen Organisationskreis. Das
Gebot folgt also aus der Zuständigkeit für die eigene Organisation: eine negative
Pflicht.
Das betrifft jedoch nur einen phänotypisch bestimmten Ausschnitt des Ingerenz-
instituts. Abstrakt formuliert geht es darum, dass Gefahren mit Leistungen desjeni-
gen Organisationskreises zu revozieren sind, aus dessen rechtswidriger oder doch
sonderriskanter Verwaltung sie resultieren. Die Leistungen bestehen in den üblicher-
weise behandelten Fällen in einer gebotsgemäßen tätigen Rücknahme, sie mögen
aber auch durch eine verbotsgemäße Verkleinerung des Handlungsspielraums er-
bracht werden, also durch die Pflicht, an sich zustehende Potenziale nicht zu nutzen.
– Eine vergleichbare Verkleinerung zeigt sich übrigens nicht weniger im Fall eines
Gebots: Gebotserfüllung verkleinert den Bereich freier Selbstverwaltung.
Eine Verbote generierende Ingerenz liegt vor, wenn das rechtswidrige oder son-
derriskante Vorverhalten Gefahren erzeugt, die vom Opfer selbst oder einer dritten
Person mit Mitteln des Kreises, aus dem die Gefahr stammt, neutralisiert werden
können. Hier ist es dem Inhaber des Kreises verboten, die Nutzung seiner Potenziale

tens betrifft, zumindest verbal stets geschwankt. Kristallisationspunkte waren bislang die
Beteiligung des von der Ehefrau beklagten Ehebrechers an der Falschaussage seiner Partnerin
(etwa BGHSt 2, 129 ff.; weitere Nachweise bei Jakobs, a.a.O., S. 32 ff.), die Haftung des
Gastwirts für die Straftat eines betrunkenen Gastes (sehr weit BGHSt 4, 20 ff.; einengend
BGHSt 19, 152 ff., 155), Verkehrsunfälle mit Kraftfahrzeugen (gut abwägend BGHSt 25,
218 ff.), der Rückruf schädigender Industrieprodukte (BGHSt 37, 106 ff.) und die Beteilig-
tenhaftung, insbesondere bei einem Exzess des Ausführenden (BGH NStZ 1998, 83 ff., mit
überflüssiger Festlegung auf ein rechtswidriges Vorverhalten). – Eingehendere Darstellung bei
Jakobs, a.a.O., S. 31 ff.
10
Eine Variante von BGHSt 25, 218 ff.
11
Simples Beispiel für ein Verbot: Der gestürzte Fußgänger richtet sich an dem Fahrzeug
auf, von dem er angefahren wurde: Es ist dem Fahrer verboten, dieses fortzubewegen. Hat der
Fahrer den Unfall durch ein Unterlassen herbeigeführt, folgt aus der Gebotsverletzung (oder
aus der Nutzung eines besonderen Risikos) ein Verbot. – Ist der Fußgänger betrunken gegen
das korrekt geführte Fahrzeug getorkelt, bestehen für dessen Fahrer nur Pflichten gemäß
§ 323c StGB.
Garantenstellung bei tätiger Verletzung negativer Pflichten 643

zu verhindern: Die Verhinderung wäre ein garantenpflichtwidriges Begehungsdelikt


mit der Folge der Haftung für die Konsequenzen. Das heißt, die Verhinderung wäre
als garantenpflichtwidriges Verhalten nicht davon abhängig, ob sich die gefahrredu-
zierende Person im Rahmen der Proportionalität des aggressiven Notstands12 hält
oder nicht, vielmehr darf diese Person auch dann nicht gehindert werden, wenn
sie zur Vermeidung einigermaßen geringer Schäden in einigermaßen gewichtige
Güter eingreift. Das heißt weiterhin, hier erübrigten sich Überlegungen, ob wegen
der Verwandtschaft der Pflicht zur Duldung eines aggressiven Notstandseingriffs
mit der unterlassenen Hilfeleistung nach § 323c StGB13 die Strafe zu reduzieren
ist, wenn das ausersehene Eingriffsopfer (oder eine dritte Person) den Eingriff inhi-
biert. Vielmehr handelt es sich im Fall der Ingerenz schlicht um eine Verletzung des
in der Gefahr Belassenen durch ein Tun, im Fall mangelnder Verwirklichung der Ge-
fahr um einen entsprechenden Versuch.
Dagegen lässt sich nicht einwenden, diese Verletzung durch Tun sei nichts als ein
Fall der Hinderung eines rettenden Verlaufs und damit eine Variante der Erfolgskau-
sierung; denn der Abbruch eines rettenden Verlaufs führt nur dann zu einem Verlet-
zungsunrecht, wenn er in einen fremden Organisationskreis eingreift. Allein dass die
Welt für eine Person günstig gestaltet ist, gibt dieser nicht das Recht, von allen an-
deren den Verzicht auf eine Umgestaltung dieser Welt zu verlangen. Vielmehr muss,
soll der Abbruch zu einem Verletzungsunrecht führen, dem dadurch Geschädigten

12
Zu diesem Rechtfertigungsgrund eingehend Merkel, Zaungäste?, in: Institut für Krimi-
nalwissenschaften Frankfurt a. M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1996,
S. 171 ff. Merkel verwirft jede utilitaristische Deutung, beziehe sie sich auf einen addierten
Gesamtnutzen oder den Nutzen einer Gesamtheit (S. 178 ff., 187 ff.). Auch in anderem Zu-
sammenhang (Notwehrfolter) verwirft Merkel das utilitaristische Argument, die Werthaltung
der Gesamtheit werde durch die Zulassung solchen Verhaltens pervertiert (Merkel, Folter und
Notwehr, in: Pawlik u. a. [Hrsg.], Festschrift für Günther Jakobs, 2007, S. 375 ff., 380): „Wer
mit einem Durchgriff auf solche Argumente (,Gesamtheit‘, G. J.) die Klärung individueller
Rechte überspringt oder präjudiziert, der folgt – bewusst oder nicht – einer unrechtlichen
Maxime.“ – Beim aggressiven Notstand soll es sich vielmehr um ein „moralisches Prinzip“
mit rechtlicher Auszeichnung handeln (Zaungäste, S. 185, Hervorhebung original). Das
Strafrecht müsse „seine tragenden Grundsätze auf das Fundament der Ethik stellen“ (Zaun-
gäste, S. 174). – Hier wird eher Pawlik gefolgt (Pawlik, Der rechtfertigende Notstand. Zu-
gleich ein Beitrag zum Problem der strafrechtlichen Solidaritätspflichten, 2002, S. 113 ff.), der
den Duldungspflichtigen pro magistratu dulden lässt. – Mehr noch, es dürfte zu erörtern sein,
ob bei einer nicht einmal kleinen Gruppe von Delikten das Unrecht darin liegt (und damit der
Strafgrund darin besteht), dass der Täter eine die Gesellschaft prägende Institution an ihren
Rändern zur Fratze verzerrt und damit ihre Geltung gefährdet: etwa der eine Duldung Ver-
weigernde beim aggressiven Notstand (§ 34 StGB), der im Katastrophenfall Hilfe Verwei-
gernde (§ 323c StGB), der bestimmte schwere Straftaten, die bevorstehen, nicht Anzeigende
(§ 138 StGB), der wucherisch Drohende (§ 240 StGB) oder Wuchernde (§ 291 StGB). – Zu
den beiden letztgenannten Tatbeständen eingehender Jakobs, Nötigung. Darstellung der ge-
meinsamen Wurzel aller Delikte gegen die Person, 2015, S. 25 ff.
13
Diese Verwandtschaft ist Merkel sehr wohl bekannt: Zaungäste (Fn. 12), S. 184 und
passim; dazu auch Pawlik, Notstand (Fn. 12), S. 152 ff. und passim.
644 Günther Jakobs

garantiert sein, dass die für ihn günstige Gestaltung der Welt erhalten bleibt.14 Nie-
mand muss darauf verzichten, seine Geschäfte zu besorgen oder sonstige Interessen
zu verfolgen, nur weil dies für einen anderen nützlich wäre.15 Im Fall des hindernden
Ingerenzpflichtigen bedarf es also zur Begründung eines Verletzungsunrechts dieser
Garantenpflicht.16 – Allerdings bleibt die Pflicht, auf ein bestimmtes Tun zu verzich-
ten, als Ausprägung der Pflicht zur Hilfeleistung gemäß § 323c StGB möglich.

III. Garantenpflicht durch Übernahme


Die Übertragung der Überlegungen zur Ingerenz auf die Übernahme sollte keine
Schwierigkeiten bereiten, wenn die Pflicht wegen einer Übernahme streng als eine
Verlängerung der negativen Pflicht verstanden wird, den eigenen Organisationskreis
in einem ordnungsgemäßen Zustand zu halten. Es handelt sich um Fälle, in denen die
garantierten kognitiven Bestandsbedingungen eines Organisationskreises gestört
werden, wobei es nicht darauf ankommt, ob diese dem Inhaber nur faktisch den Be-
stand erhalten, ihm allerdings als garantiertes Recht (etwa als sein Eigentum) zuste-
hen, oder ob es sich um Leistungen von Garanten handelt (etwa des anwesenden
Hausarztes) oder um solche von Nichtgaranten, die allerdings in den Organisations-
kreis des Bedürftigen aktuell eingebunden und dadurch zu (auch) dessen Teil gewor-

14
Eingehend behandelt von Haas, Kausalität und Rechtsverletzung. Ein Beitrag zu den
Grundlagen strafrechtlicher Erfolgshaftung am Beispiel des Abbruchs rettender Kausalver-
läufe, 2002. Haas verneint beim Abbruch rettender Verläufe zwar eine Verursachung im en-
geren Sinn, stellt aber neben diese die „Rechtsfiktion“ einer Verursachung, wenn der abge-
brochene Rettungszweig ein „Teil der dem Opfer dinglich zugeordneten Rechtssphäre ist und
nach dessen Willen die Integrität desjenigen Teils seiner Rechtssphäre garantieren (!, G. J.)
sollte, in dem der Rechtsgutsschaden eingetreten ist […]“ (S. 217). – In hiesiger Terminolo-
gie: Erfolgshaftung erfordert die Verletzung eines garantierten Rechts; eingehender Jakobs,
Organisationskreis (Fn. 1), S. 118 ff. mit Fn. 11 – 13.
15
Eine Ausnahme bildet wohl das Schikaneverbot (§ 226 BGB); Haas, Kausalität (Fn. 14),
S. 264 ff. – Die Vorschrift könnte allerdings auch der in Fn. 12 a. E. skizzierten Deliktsgruppe
zuzuordnen sein.
16
Gewiss sind auch als Verletzungen zurechenbare Hinderungen rettender Verläufe mög-
lich, ohne dass der Hindernde die Notwendigkeit der Rettung herbeigeführt hat (etwa, ein
Passant hindert den sich aktuell mit dem Organisationskreis des Opfers verbindenden oder
ohnehin als Garant verbundenen Notarzt). Aber auch in solchen Fällen muss eine Garantie-
verletzung dargetan werden, was nur dergestalt möglich ist, dass der Hindernde die Nutzung
der dem Opfer zustehenden Potenziale unmöglich macht, und zu diesen Potenzialen gehört die
Summe aller im Organisationskreis befindlichen Rechte, garantierte Rechte auf die Mitwir-
kung anderer eingeschlossen. – Was hingegen nur obligatorische Ansprüche angeht oder
Leistungen, auf die nicht einmal ein solcher Anspruch besteht, so sind sie dem Inhaber eines
Organisationskreises nicht garantiert; wenn sich der Verpflichtete allerdings aktuell in diesem
Kreis bewegt, so mag man argumentieren, für dritte Personen gehöre er zu dessen Bestand.
Beispielhaft, wer den Dachdecker hindert, der aktuell ein Hausdach saniert, haftet für die
Folgen eines Regenschadens (Sachbeschädigung).
Garantenstellung bei tätiger Verletzung negativer Pflichten 645

den sind.17 – Irgendwelcher Vereinbarungen bedarf es nicht; beispielhaft, wer einen


zerbrechlichen fremden Gegenstand ergreift, der beim Eigentümer sicher gelagert
ist, übernimmt es, erneut für sichere Lagerung zu sorgen.
Die aus der Übernahme resultierende Pflicht mag eine Gebotsbefolgung zum In-
halt haben, aber auch diejenige eines Verbots. Zu ersterem, wer ein kleines Kind
scherzend in die Luft wirft, muss es auch wieder auffangen (Übernahme neben In-
gerenz). Zu letzterem, wer eine extrem gegen Rauch empfindliche Person zu sich ein-
lädt, darf nicht das Fenster öffnen, wenn der Nachbar grillt. Ein Beispiel für fehlende
Garantie, wer eine Person, die sich, ohne ihrerseits Garantin zu sein, hilfswillig zu
einem Unfallort aufmacht, durch die Erklärung aufhält, selbst die Hilfe leisten zu
wollen, nimmt dadurch dem potenziellen Opfer nichts, was diesem garantiert
wäre (der Hilfswillige ist allein durch seinen Willen nicht bereits in die Organisation
des Hilfsbedürftigen eingegliedert), und haftet deshalb seinerseits aufgrund der täti-
gen (!) Abstiftung nur wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB). – Die Ver-
wandtschaft der als verlängerte negative Pflicht verstandenen Übernahme mit der In-
gerenz dürfte deutlich geworden sein, sollte aber auch nicht verwundern; denn es
geht gleichermaßen um negative Pflichten.

IV. Konkretisierungen
Bislang wurden Organisationskreise ohne Blick auf qualitative Besonderheiten
behandelt. Auf quantitative ist hier nicht einzugehen: Der Organisationskreis
eines Regierungschefs ist nun einmal größer als derjenige einer „auf der Straße“ le-
benden Person. Bei den qualitativen Besonderheiten sind hier nicht alle, sondern nur
diejenigen zu behandeln, die sich auf den Bestand von Garantieverhältnissen im Rah-
men negativer Pflichten auswirken. Es kommen zwei Arten in Betracht: opferbezo-
gene und täterbezogene Besonderheiten.
Bei den opferbezogenen Besonderheiten wird ein Organisationskreis wegen sei-
ner Gestalt partiell aus einer Garantie ausgenommen, genauer formuliert, insoweit
wird sein Inhaber im rechtlichen Sinn überhaupt nicht Opfer. Ein Organisationskreis
kann durch zurechenbar schlechte Verwaltung oder durch natürliche Vorgänge in
einen solchermaßen „gebrechlichen“ Zustand geraten, dass die Berücksichtigung
dieser Schwäche den Aktionsradius anderer Personen, die nur negativ verpflichtet
sind, in einem Maß einschränken würde, das mit einem glatten Verlauf alltäglicher
Verrichtungen unverträglich wäre. Anders formuliert, führt das Tun einer Person
wegen einer solchen Schwäche einer anderen zu einem Schaden, muss das als
casus und nicht als zurechenbarer Eingriff abgearbeitet werden. Beispielhaft, eine
auf bestimmte Pollen extrem allergisch (körperlich verletzt) reagierende Person
hat keinen Anspruch darauf, dass in einem größeren Umkreis jeder Gartenbesitzer

17
Nicht erfasst sind also nur vorbereitende und noch nicht einbindende Leistungen nach
§ 323c StGB; dazu Jakobs, Organisationskreis (Fn. 1), S. 116 Fn. 5.
646 Günther Jakobs

die Kultivierung der bestimmten Pflanzen unterlässt. Die allergische Person muss
sich eben selbst schützen, und wenn das unmöglich ist, den Schaden ihrer Schwäche
und nicht den Aktionen anderer Personen zuordnen: Diese haben insoweit nichts zu
garantieren.
Eine nur phänotypisch unterscheidbare opferbezogene Schwäche liegt vor, wenn
der Bestand eines Organisationskreises von den Leistungen eines anderen Kreises
abhängt und insoweit an diesem schmarotzt. Solches führt nicht zum Verbot für
den Inhaber des ausgesaugten Kreises, den Leistungstransfer aktiv zu unterbinden,
weil eine rein faktische Abhängigkeit rechtlich leer bleibt, also das Faktum keine Ga-
rantie erzeugt. Beispielhaft, wenn bestimmte Pflanzen einen bestimmten Dünger be-
nötigen, um zu gedeihen, erstarkt allein deshalb der Lieferant des Düngers nicht zum
Garanten. Das wohl bekannteste Beispiel lautet, die üppige Verteilung von existenz-
notwendigen Vorteilen, etwa das Sprengen von Wasser mit Spritzwirkung auf des
Nachbars randständige Pflanzen, führe nicht zu dem Verbot, aktiv handelnd das Ver-
teilgerät abzuschalten.
Bei täterbezogenen Besonderheiten könnte der Inhaber eines Organisationskrei-
ses die Schadlosigkeit eines anderen – vielleicht sogar leichthin – erhalten, aber es
fehlt eine entsprechende Pflicht. Den Grund dafür bildet folgende Überlegung: „Der
Ressourcenbesitz des einen gibt einem anderen grundsätzlich keinen Rechtstitel auf
einen Ressourceneinsatz zu seinen Gunsten.“18 Für Unterlassungen ist das wohl un-
bestritten: Kein Starker muss allein wegen seiner Stärke einen Schwachen stützen.
Das gilt auch für „geistige Stärke“; wer also bei seinem Tun um eine üble Folge
bei einem anderen weiß, haftet für diese nur dann, wenn er den Einsatz seines Wis-
sens zu garantieren hat, und das ergibt sich allein aus dem psychischen Faktum des
Wissens (oder der Fähigkeit, Wissen zu erlangen) gerade nicht19 – dies entgegen der
üblichen Meinung, die allerdings, kategorial verfehlt, einen normativen Zusammen-
hang durch einen faktischen ersetzt. Wenn der Wissende dem potenziell Geschädig-
ten nur eine rechtlich als begrenzt definierte Leistung zu erbringen hat, muss erst ein-
mal ermittelt werden, ob der Wissende dabei seinen Ressourcenüberschuss einsetzen
muss oder darauf verweisen kann, die begrenzte Leistung sei nach ihrer rechtlichen
Definition korrekt erbracht worden. Beispielhaft, ein servierender Kellner hat nicht
die Bekömmlichkeit der Speisen zu garantieren, der Mieter eines Leihwagens bei der
Rückgabe nicht dessen Verkehrssicherheit etc. Auf die Spitze getrieben mag man
sich vorstellen, die Leistung werde eingeklagt und der Titel vollstreckt (im Fall
des Kellners allerdings eine sehr lebensfremde Vorstellung): Dadurch würde für
das Ausbleiben eines Schadens nichts gewonnen. Das lässt erkennen, dass es
nicht um die Leistung selbst geht, vielmehr um das Fehlen einer Offenbarung der
Lage. Eine Offenbarungspflicht als Garantenpflicht lässt sich nicht begründen
(aus nur obligatorischen Bindungen [oder solchen rein faktischer Art], also aus

18
Pawlik, Unrecht (Fn. 1), S. 343 mit Fn. 528.
19
Eingehender Jakobs, Zuständigkeit durch Wissen?, in: Bockmühl u. a. (Hrsg.), Fest-
schrift für Bernd von Heintschel-Heinegg, 2015, S. 235 ff.
Garantenstellung bei tätiger Verletzung negativer Pflichten 647

dem Anspruch gegen den Mieter auf Rückgabe, gegen der Kellner auf ein Servieren,
ohne Flecken auf der Robe anzurichten) entstehen keine Garantien;20 so bleibt eine
Haftung für mangelnde Hilfeleistung nach § 323c StGB durch ein Tun (!).
Das Problem wird in der Literatur – praktisch spielt es keine Rolle – unter dem nur
schlecht passenden Namen des „Sonderwissens“ behandelt;21 der Sache nach geht es
aber um den Umfang der Garantie, die bei einer rechtlich definierten Leistung er-
bracht werden muss.t

V. Skizze zum Regressverbot


Zum Abschluss folgen einige nur apodiktische und deshalb weiter begründungs-
bedürftige Bemerkungen zur Aktivitätssequenz mehrerer Personen. Das Schema lau-
tet: Eine Person erbringt einer anderen eine Leistung; hat jene zu garantieren, dass
diese damit nicht sich selbst oder eine dritte Person schädigt? Wenn die Leistung so-
zialadäquat ist (bildlich, sie könnte auch „unter den Augen“ der Polizei erfolgen) und
auch keine bestimmte Art der Verwendung ihre Bedeutung bestimmt, erschöpft sich
die Beziehung zwischen Leistendem und Empfänger in der stattfindenden Übertra-
gung, und ihre Organisationskreise bleiben ansonsten getrennt (Regressverbot). Ins-
besondere ist irrelevant, ob und was der Leistende von der später stattfindenden Ver-
wendung weiß; denn diese Fortführung vollzieht sich nicht mehr in seinem Organi-
sationskreis, es sei denn, er habe die Leistung speziell auf eine bestimmte Fortfüh-
rung hin gestaltet; dann geht es um Beteiligung an dieser Fortführung.22 Die übliche
Lehre, die in ihrem nach psychischen Fakten gierenden Verständnis auf die psychi-
sche Lage abstellt, begeht erneut23 einen kategorialen Fehler. Bei großem Schaden
mag die Leistung als „unterlassene“ Hilfeleistung (§ 323c StGB) zu beurteilen
sein. Ein letztes Beispiel, ein Darlehnsschuldner muss fristgemäß oder nach entspre-
chender Aufforderung die Valuta zurückzahlen; er weiß genau, und die Schlüssigkeit
dieses Wissens kann er durch Beweismittel belegen, dass der Gläubiger das Geld zur
Finanzierung eines Bravos, eines verbotenen Waffengeschäfts etc. verwenden wird.
Verklagt, verteidigt er sich vor Gericht mit der Einlassung, er dürfe nicht zahlen, da,
wie er wisse, eine rechtswidrige Verwendung der Schuldsumme geplant sei. Das Ge-
richt wird diese Einlassung nicht als rechtsgültig akzeptieren, vielmehr zur Zahlung
verurteilen (allerdings die Beschlagnahme des Geleisteten veranlassen). Kurzum, der
Schuldner ist wegen der rechtlichen Bestimmung des Umfangs des Geschuldeten
nicht Garant für den Umgang des Gläubigers mit dem Geleisteten, wobei das

20
Zum Regressverbot (sogleich V.) wird bei dem Beispiel der Begleichung einer Geld-
schuld auf die rechtliche Beschränkung des zu Leistenden zurückzukommen sein.
21
Eingehend und kritisch Sacher, Sonderwissen und Sonderfähigkeiten in der Lehre vom
Straftatbestand, 2006, S. 187 ff.
22
Jakobs, Theorie der Beteiligung, 2014, S. 28 ff. und passim.
23
Oben Text zu Fn. 19.
648 Günther Jakobs

Recht nicht auf das Schuldnerwissen, sondern auf den Inhalt des sozialen Kontakts
zwischen Gläubiger und Schuldner abstellt.

VI. Zusammenfassung

1. Ein Begehungstäter leistet nicht die ihn verpflichtende Garantie, seinen Organi-
sationskreis in einem verkehrssicheren Zustand zu halten. (I.)
2. Ingerenz verlängert die Verkehrssicherungspflicht und generiert nicht nur Gebo-
te, sondern auch Verbote. (II.)
3. Der Abbruch eines rettenden Verlaufs führt nur dann zu einem Verletzungsdelikt,
wenn der Bestand dieses Verlaufs dem Opfer garantiert ist. (II.)
4. Eine garantiebegründende Übernahme setzt voraus, dass aus dem garantierten
Organisationskreis des potenziellen Opfers übernommen wird. (III.)
5. Die Berücksichtigung besonderer Schwächen eines potenziellen Opfers ist nicht
garantiert; auf die Nutzung besonderer Ressourcen eines Täters besteht kein An-
spruch. (IV.)
6. Die Verbindung mehrerer Organisationskreise erfolgt rechtlich nicht stets umfas-
send (etwa: Regressverbot). (V.)
Der Unterschied zwischen Töten
und Sterbenlassen und die Bedeutung
von Handlungssphären
Von Ralf Stoecker

Klausuren im Jurastudium zu schreiben ist vermutlich nie ganz einfach. Reinhard


Merkels Studierende wurden allerdings vor ein paar Jahren mit einem besonders ver-
zwickten Fall konfrontiert, den ich hier in eigenen Worten und um viele liebevolle
Details gekürzt wiedergebe:
August Aschenbrenner, Besitzer eines exklusiven Modehauses, sieht, als er eines Abends als
letzter seinen Laden verlässt, dass der Obdachlose Olmütz in der eisigen Nacht einen Schlaf-
platz auf dem Abwärmeschacht der Heizung des Geschäfts gefunden hat. Aschenbrenner
befürchtet negative Reaktionen seiner Kundschaft und will, dass der ungebetene Gast ver-
schwindet. Es gelingt ihm jedoch nicht, den stark alkoholisierten Mann dazu zu bringen, sich
von der Stelle zu rühren. Also kehrt Aschenbrenner noch einmal ins Haus zurück und stellt
die Heizung ab, damit die Kälte den Mann vertreibe, dann geht der Ladenbesitzer nach
Hause. Doch der Obdachlose ist zu betrunken, um der Gefahr zu entgehen, und erfriert
vor dem Geschäft.

Die Frage ist, ob Aschenbrenner Olmütz getötet hat oder nicht. – Dass es sich um
eine besonders verzwickte Frage handelt, erkennt man daran, dass Merkel den Fall
zum Ausgangspunkt von gleich zwei Aufsätzen genommen hat, in denen er auf ela-
borierten, mit zahlreichen Beispielen unterlegten Wegen zu zeigen versucht, dass der
Modehausbesitzer den Wohnungslosen nicht getötet, sondern nur sterben gelassen
hat.1 Ich glaube, dass nicht nur das Strafrecht, sondern auch die philosophische Hand-
lungstheorie ganz erheblich von den Überlegungen Merkels profitieren kann, und
dies nicht nur deshalb, weil Merkels Antwort in meinen Augen die richtige ist, son-
dern auch weil die Idee der individuellen Sphären, die ihr zugrunde liegt, ein wesent-
liches, aber häufig übersehenes Element unseres alltäglichen Handlungsverständnis-
ses darstellt. Was damit gemeint ist, möchte ich in meinem Beitrag skizzieren. Dabei
ist es mir aber wichtig, dass ich mich auch in einer anderen Hinsicht eng an Merkel
orientieren werde. Einer der beiden Artikel trägt den schönen Untertitel „Altes,
Neues, Ungelöstes“. Dasselbe möchte ich auch für meinen Beitrag in Anspruch neh-

1
Merkel, Reinhard, „Die Abgrenzung von Handlungs- und Unterlassungsdelikt. Altes,
Neues, Ungelöstes“, in: Putzke et al. (Hrsg.) Strafrecht zwischen System und Telos. Fest-
schrift für Rolf D. Herzberg, 2008, S. 193 – 223 [im weiteren: „Abgrenzung …“], und „Killing
or letting die? Proposal of a (somewhat) new answer to a perennial question“, in: Journal of
Medical Ethics 42 2016: 353 – 360 [im weiteren: „Killing …“].
650 Ralf Stoecker

men. Es ist ein Versuch, die Nähe zwischen Reinhard Merkels Vorstellungen und
meinen eigenen handlungstheoretischen Versuchen herauszuarbeiten, ganz ohne
den Anspruch, am Ende einen klaren, in jeder Hinsicht wasserdichten Vorschlag prä-
sentieren zu können.

I. Die Ausgangsfrage
Hat Aschenbrenner Olmütz getötet? – Auf den ersten Blick scheint die Antwort
einfach zu sein. Aschenbrenner ist extra in sein Geschäft zurückgekehrt, um die Hei-
zung auszuschalten, er hat also eine ganze Reihe von Dingen getan, die letztlich den
Tod des Obdachlosen verursacht haben. Wäre die Heizung hingegen weitergelaufen,
wäre der Mann nicht erfroren. Wenn man davon ausgeht, dass man einen Menschen
dann tötet, wenn man etwas tut, das den Tod dieses Menschen kausal zur Folge hat,
dann hat Aschenbrenner Olmütz getötet.
Beim genaueren Hinsehen können aber Zweifel auftreten, ob diese Bedingung tat-
sächlich schon ausreichend ist. Merkel weist zunächst darauf hin, dass man in ähnlich
gelagerten Fällen intuitiv anders urteilen würde. In einem seiner Beispiele geraten
zwei Nachbarn in Streit. Daraufhin baut der eine Nachbar die Bewässerungsanlage
in seinem Garten so um, dass damit, anders als zuvor, nicht mehr stillschweigend
auch noch das Beet des zweiten Nachbarn mitbewässert wird. Dieser bemerkt die
Veränderung nicht und die Pflanzen verwelken. Sicherlich ist der Umbau der Bewäs-
serungsanlage moralisch fragwürdig, aber hat der erzürnte Gärtner die Pflanzen
wirklich dadurch getötet und dem Eigentum des Nachbarn damit aktiv Schaden zu-
gefügt, dass er auf seinem eigenen Grundstück die Rasensprenger anders postiert
hat? Merkel hält das jedenfalls für kontraintuitiv.
Aufschlussreicher ist ein zweites Szenario. Eine Ärztin beendet die künstliche Be-
atmung eines Patienten, indem sie das Beatmungsgerät abstellt. Auch hier wird die
Akteurin aktiv, so wie der Geschäftsinhaber an der Heizung und der Gärtner an seiner
Bewässerungsanlage. Nach herrschender rechtlicher und ethischer Überzeugung ist
die Beendigung einer künstlichen Beatmung, aufgrund derer der Patient dann stirbt,
aber gerade kein Töten, sondern das paradigmatische Beispiel für ein Sterbenlassen.
Einen Patienten sterben zu lassen, kann darin bestehen, überhaupt nicht aktiv zu wer-
den, beispielsweise wenn eine Ärztin auf eine Reanimation verzichtet, es kann aber
auch mit einer Aktivität verbunden sein, wie dann, wenn der Respirator abgestellt
werden muss. Und gegeben, dass dies ebenfalls ein Fall von Sterbenlassen ist und
kein Töten, dann sieht es so aus, als könne auch Aschenbrenner den Obdachlosen
sterben gelassen haben, indem er die Heizung abstellte. Die Frage, ob er ihn getötet
oder sterben gelassen hat, ist wieder offen.
Allerdings scheint diese Unterscheidung damit insgesamt deutlich an Konturen zu
verlieren. Während es zunächst den Anschein hatte, als ginge es um einen leicht fass-
baren Unterschied zwischen aktivem Eingreifen in die Welt und passivem Nichtstun,
fragt es sich nun, woran man den Unterschied dann festmachen könnte. Das Problem
Der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen 651

verschärft sich noch durch die Feststellung, dass die Einschätzung, mit welcher Art
von Handlung man es zu tun habe, unter Umständen gar nicht von dem Handlungs-
geschehen selbst abhängt, sondern vom jeweiligen Handlungskontext. Merkels Bei-
spiel ist das eines Neffen des Patienten, der den Respirator mit exakt denselben Hand-
griffen abstellt wie die Ärztin. Wenn der Neffe es tut, ist es aber, so Merkel, kein Ster-
benlassen mehr, sondern ein Töten. Irgendwie scheint es also gar nicht nur von der
Handlung selbst abzuhängen, ob sie ein Töten oder ein Sterbenlassen ist.
Bevor man jetzt weiter untersucht, wovon diese Unterscheidung stattdessen ab-
hängen könnte, liegt es an dieser Stelle allerdings nahe, einen Schritt zurück zu treten
und sich zu fragen, warum es überhaupt interessant ist, zwischen Töten und Sterben-
lassen zu unterscheiden. Für den Juristen Merkel ist das offenkundig. Es gibt im
Strafrecht Verbote, die sich ausdrücklich auf Tötungshandlungen beziehen, z. B.
die fahrlässige Tötung in § 222 StGB, die im Fall von Aschenbrenner und Olmütz
in Frage käme. Wenn der Geschäftsinhaber den Obdachlosen nicht getötet hat,
kann er ihn auch nicht fahrlässig getötet haben. Aus Sicht des Moralphilosophen
ist die Situation komplizierter. Sie führt unmittelbar in die Debatte, ob es einen mo-
ralisch signifikanten Unterschied zwischen Tun und Geschehenlassen gibt.2

II. Die moralphilosophische Debatte über die Signifikanz


von Tun und Geschehenlassen
Die Ausgangsfrage dieser Debatte lautet: Ist es für die moralische Bewertung
einer Handlung signifikant, ob es sich bei ihr um ein Tun oder um ein Geschehen-
lassen handelt? Oder sind zwei Handlungen, die sich nur darin unterscheiden,
dass das eine ein aktives Tun und das andere ein Geschehenlassen ist, und die ansons-
ten in all ihren (deskriptive) Eigenschaften übereinstimmen, moralisch äquivalent.
Erstere Position wird gewöhnlich als Signifikanzthese bezeichnet, letztere als Äqui-
valenzthese. Die Frage ist, welche dieser beiden Thesen richtig ist.
Auf den ersten Blick scheint das keine allzu schwierige Frage zu sein, denn of-
fenkundig bildet die Signifikanzthese einen zentralen Bestandteil unseres morali-
schen Denkens, während die Äquivalenzthese absurd klingt. In der medizinischen
Ethik ist es eine weltweit verbreitete Praxis, den Verzicht auf lebenserhaltende Maß-
nahmen anders zu bewerten als die Tötung von Patienten, auch dann, wenn es keine
weiteren Unterschiede, beispielsweise in der Person des Akteurs oder seiner Motive
gibt. Weniger offensichtlich, aber für uns alle viel wichtiger, spricht auch unser mo-
ralisches Selbstverständnis insgesamt für die Signifikanzthese. Wir geben ganz
selbstverständlich den größten Teil unseres Geldes für unser Wohlergehen aus, ob-
wohl wir es auch einsetzen könnten, Menschen in fremden Ländern vor dem Hun-

2
Zu dieser Debatte vgl. Steinbock, Bonnie/Norcross, Alastair (Hrsg.) Killing and letting
die. New York: Fordham Univ. Press. 2. Aufl. 2007, und Birnbacher, Dieter, Tun und Unter-
lassen, 1995.
652 Ralf Stoecker

gertod oder tödlichen Krankheiten zu retten. Gegeben, dass sich niemand von uns
berechtigt fühlen würde, einen dieser Menschen zu töten, während wir sie guten Ge-
wissens tatenlos sterben lassen, scheinen unsere moralischen Prinzipien offensicht-
lich der Signifikanzthese verpflichtet zu sein.
Das gilt zudem nicht nur für den speziellen Fall von Töten und Sterbenlassen, son-
dern ganz generell für den Unterschied zwischen Tun und Geschehenlassen. Ein
Fahrgast in der U-Bahn, der zulässt, dass ein anderer Passagier von einem Raufbold
schikaniert wird, fühlt sich vermutlich nicht sehr wohl in seiner Haut, er würde aber
sicher die Idee weit von sich weisen, dass er durch sein Geschehenlassen ebenso ver-
werflich handelte wie der aktive Raufbold. Wer die Signifikanzthese bestreitet, stellt
also nicht nur unser Verhältnis zum Töten und Sterbenlassen in Frage, sondern auch
unsere moralische Haltung zu vielen anderen, ganz alltäglichen Handlungsweisen.
Doch trotz dieser anscheinend tiefen Verwurzelung der Signifikanzthese in unse-
rer Praxis moralischer Bewertungen, vertreten viele Philosophinnen und Philosophen
die Äquivalenzthese. Die Gründe für die Äquivalenzthese lassen sich in vier Gruppen
unterteilen. Erstens gibt es Gedankenexperimente, die belegen sollen, dass die Signi-
fikanzthese doch nicht so intuitiv einleuchtend ist, wie es zunächst den Anschein hat.
So hat beispielsweise James Rachels zu zeigen versucht, dass es Situationen gibt, in
denen unmoralische Taten, die sich nur darin unterscheiden, ob sie ein Tun oder Ge-
schehenlassen sind, moralisch gleichermaßen verwerflich sind.3 Bei ihm ist es ein
Onkel, der seinen Neffen in der Badewanne ertränken möchte, um dann aber festzu-
stellen, dass dieser ohnehin gerade in der Wanne ausgerutscht und am Ertrinken ist.
Also lässt er ihn sterben, anstatt ihn zu töten, was aber Rachels zufolge nichts am
Ausmaß der Verwerflichkeit seiner Tat ändere.
Gestützt wird diese Position durch eine zweiten Gruppe von Überlegungen, die
belegen sollen, dass sich unsere alltäglichen moralischen Urteile, die vermeintlich
auf der Signifikanzthese beruhen, in Wirklichkeit auf andere moralisch relevante Ei-
genschaften der betreffenden Handlungen stützen (dass es beispielsweise in der
Regel einfacher sei, jemanden sterben zu lassen, als ihn zu töten, dass Akten des Tö-
tens und Sterbenlassens häufig unterschiedliche Motive zugrunde lägen, dass bei ers-
teren die Dammbruchgefahr größer sei, etc.).
In eine ganz andere, philosophischere Richtung weisen Argumente eines dritten
Typs. Sie lösen sich von unseren alltagsmoralischen Vorstellungen und gründen die
Äquivalenzthese stattdessen direkt in der normativen Ethik. Wenn es einen Unter-
schied in der Bewertung von Tun und Geschehenlassen gäbe, dann müsste sich dieser
moralisch begründen lassen. Doch eine derartige Begründung existiere nicht – unab-
hängig davon, wie wir alltäglich urteilen. Typischerweise ist dies die Argumentati-
onsweise konsequentialistischer (utilitaristischer) Ethiker, die nicht selten auch be-
reit sind, radikale Revisionen unserer moralischen Überzeugungen zu fordern.

3
Vgl. Rachels, James, „Aktive und passive Sterbehilfe“. In: Hans-Martin Sass (Hrsg.),
Medizin und Ethik. 1989, S. 254 – 264.
Der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen 653

Kommt es allein auf die Folgen unseres Handelns an, dann gibt es tatsächlich keinen
Spielraum für einen signifikanten Unterschied zwischen Tun und Geschehenlassen.
Ich möchte an dieser Stelle aber nicht weiter auf diese drei Argumente gegen die
Signifikanzthese eingehen4, sondern mich vielmehr ganz auf eine vierte Kritik kon-
zentrieren. Sie besagt, dass diese These bereits handlungstheoretisch auf tönernen
Füßen stehe, weil sich Tun und Geschehenlassen entweder nicht klar unterscheiden
lassen oder weil sich dieser Unterschied nicht mit den paradigmatischen Beispielen
für die Signifikanzthese decke. Hier wird nun deutlich, wie groß die Rolle ist, die
Merkels Frage für die Philosophie spielen kann. Nicht nur ethisch, sondern auch me-
taphysisch, in der Handlungstheorie, ist es interessant, ob es eine einleuchtende Un-
terscheidung zwischen Tun und Geschehenlassen und folglich zwischen Töten und
Sterbenlassen gibt.

III. Handlungstheoretische Probleme mit dem Geschehenlassen


Im Zentrum der philosophischen Handlungstheorie steht die Frage, was Handlun-
gen sind. Eine naheliegende Antwort lautet: Wenn jemand handelt, dann greift diese
Person absichtlich, willentlich in den Lauf der Welt ein. Nach der weithin geteilten
Standardkonzeption bedeutet dies, dass ein Ereignis geschieht, das die Handlung die-
ser Person ist und das weitere Ereignisse nach sich zieht, die dann jeweils die Welt
verändern. Das Besondere von Handlungen wird dann zumeist darin gesehen, dass
sie von den Absichten der handelnden Person hervorgerufen werden.
Akzeptiert man diese Antwort aber, dann steht man unmittelbar vor dem Problem,
dass es auch Handlungen des Geschehenlassens gibt, obwohl doch eine Person, die
etwas geschehen lässt, gerade nicht in den Lauf der Welt eingreift. Ihre Handlung,
möchte man sagen, besteht vielmehr darin, nicht einzugreifen. Das zeigt sich viel-
leicht am besten daran, dass eine Person, während sie etwas geschehen lässt, mit
ganz anderen Dingen beschäftigt sein kann. Ein Mann, der sich einen Vollbart wach-
sen lässt, denkt wahrscheinlich stundenlang nicht an sein Gesicht und macht auch
nichts damit, trotzdem ist es seine Handlung, dass er sich den Bart stehen lässt.
Immerhin rasiert er sich nicht. Man könnte also annehmen, dass ein Geschehen-
lassen darin besteht, dass etwas in der Welt geschieht, das der Handelnde zwar nicht
aktiv hervorruft, das er aber verändern könnte. Problematisch ist an dieser Idee aller-
dings zweierlei. Zum einen lassen wir nicht alles geschehen, was wir ändern könnten.
Wenn ich eine Freundin besuche, die eine sehr nette Katze hat, dann wäre ich ver-
mutlich in der Lage, diese Katze umzubringen. Das bedeutet aber sicher nicht,

4
Ich habe diese Argumente an anderer Stelle ausführlich diskutiert: Stoecker, Ralf, „Töten,
Sterbenlassen und die Mehrdimensionalität moralischen Werts“. In: Bluhm, R./Nimtz, C.
(Hrsg.), Ausgewählte Beiträge zu den Sektionen der GAP.5, 2004. Vgl. auch: Stoecker, „Tun
und Lassen – Überlegungen zur Ontologie menschlichen Handelns. Erkenntnis. 1998;
48(2 – 3):395 – 413.
654 Ralf Stoecker

dass ich bei meinem Besuch zwei Handlungen vollziehe: erstens die Katze zu strei-
cheln und zweitens sie am Leben zu lassen. Es reicht für eine Handlung des Gesche-
henlassens also nicht aus, dass ich das Geschehen (z. B. das Katzenleben) auch ver-
hindern könnte. Was aber muss hinzukommen?
Interessanterweise thematisiert Merkel dieses Problem nicht. Er setzt vielmehr
voraus, dass der Ladeninhaber, wenn er den Clochard nicht tötet, ihn jedenfalls ster-
ben lässt. Zumindest bei dem Gärtner ist diese Annahme aber nicht selbstverständ-
lich. Lässt er Nachbars Blumen wirklich vertrocknen, nur weil er sie anders als früher
nicht noch nebenbei mitbewässert?! Auf diese Frage werde ich weiter unten zurück-
kommen.
Das zweite Problem für die These, dass Handlungen des Geschehenlassens darin
bestehen, etwas nicht zu tun, das man tun könnte, liegt darin, dass dadurch nicht viel
gewonnen zu sein scheint. Denn damit wird nur eine enge Verbindung zwischen dem
Geschehenlassen und einer weiteren Gruppe von Handlungen hergestellt, die hand-
lungstheoretisch nicht weniger problematisch sind, den Unterlassungen. Auch Un-
terlassungen sind zweifellos Handlungen. Wer beispielsweise eine Kollegin nicht
grüßt, scheint gerade nicht in die Welt einzugreifen, und dennoch ist es manchmal
eine durch und durch bewusste, willentliche Handlung, jemanden nicht zu grüßen.
Aber Unterlassungen sind keine Ereignisse. Wenn jemand eine Kollegin nicht
grüßt, geschieht nichts, das die Handlung des Nichtgrüßens wäre.
Das Verhältnis von Töten und Sterbenlassen wirft also offenkundig nicht nur ethi-
sche, sondern auch metaphysische Fragen auf. Wie könnte man dieses Verhältnis be-
friedigend beschreiben? – An diesem Punkt möchte ich zunächst versuchen, die
Grundidee Merkels herauszuarbeiten.

IV. Die Bedeutung von Organisationskreisen


Im Zentrum von Merkels Lösung steht eine Idee, die auf einen Vorschlag Günther
Jakobs’ zurückgeht.5 Personen haben so etwas wie Sphären der Zuständigkeit, inner-
halb derer eine Person ein Alleinverfügungsrecht und auch ein Recht auf Ausschluss
aller anderen hat. Er bezeichnet sie im Anschluss an Jakobs als „Organisationskrei-
se“, also als Sphären, in denen es Sache der betreffenden Person ist, das Geschehen
und Handeln zu organisieren. Ich werde deshalb im Weiteren auch manchmal von
„Handlungssphären“ sprechen. Zu den Organisationskreisen zählen z. B. der eigene
Körper, der eigene Besitz, unter Umständen auch das Lebensnotwendige, selbst
wenn es einem nicht gehört.
Ob jemand getötet oder sterben gelassen wird, hängt nun nach Merkel davon ab,
ob eine Handlung in den Organisationskreis eines anderen eindringt oder ob sie sich
nur im eigenen Organisationskreis des Handelnden bewegt. Sterbenlassen kann man
5
Vgl. Jakobs, Günther, Die strafrechtliche Zurechnung von Tun und Unterlassen. Vorträ-
ge/Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften 344, 1996.
Der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen 655

jemanden nur dann, wenn man im eigenen Organisationskreis verbleibt, während


man jemanden tötet, sobald man aus dem eigenen in dessen Organisationskreis ein-
greift. Dieses Bild der Kreise, aus denen ein Akteur heraus in andere Kreise eingreift
oder nicht, illustriert Merkel mit weiteren Beispielen. Ein Motorbootfahrer, der aus
der Ferne einen Ertrinkenden sieht, aber ungerührt weiterfährt, ohne zu helfen, be-
geht eine Unterlassung (der Hilfeleistung). Wie sich das Boot bewegt, ist Sache des
Organisationskreises des Motorbootfahrers, deshalb ist sein Tun nur ein Geschehen-
lassen (was allerdings nichts daran ändert, dass er für seine hartherzige Unterlassung
moralisch und rechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann). Klammert sich
der Ertrinkende aber bereits an die Bordwand und der Fahrer entzieht sich ihm da-
durch, dass er Gas gibt, dann tötet er ihn, denn dann war das Boot schon im Orga-
nisationskreis des Opfers (als Lebensnotwendigkeit) und es ihm zu entreißen war
ein Übergriff in diesen Kreis. Wie aktiv oder passiv der Akteur innerhalb seines Krei-
ses ist, spielt dafür keine Rolle.
Wie lässt sich dieser Lösungsvorschlag auf den paradigmatischen Fall der künst-
lichen Beatmung übertragen? Hier lohnt es sich, Merkel etwas ausführlicher zu zi-
tieren:
„What is decisive for the question whether switching off a respirator and thereby bringing
about a patient’s death is a form of active killing is not the obvious fact that the switching-off
is an activity; nor is it that this action (arguably) is causal for the ensuing death. Rather,
what’s decisive is whether it amounts to transgressing the boundaries of the victim’s own
domain by positively causing harmful effects. This is not so, if it is done by the provider
of the respirator’s function. What such a person does is to actively make his or her sphere
hermetic so that no more helpful effects originating from within–that is, the respiratory air
diffusing from the machine–can cross those boundaries to the benefit of someone outside: a
case of actively organising ones omission. In contrast, any third party who switches the re-
spiratory off intervenes in a life-sustaining causal circuit set up by others, hence transgresses
the bounds of their own domain by transferring harmful effects into that of another: a clear
case of active killing. […] The boundaries of rights and duties, be they legal or moral, that
delineate personal domains are not necessarily congruent with the lines that divide natural
states of affairs.“ („Killing …“, S. 360, Hervorhebungen RS)

Den Patienten sterben zu lassen bedeutet also abermals, keine lebenserhaltenden


Wirkungen (mehr) aus dem eigenen Organisationskreis herauszulassen. Ihn zu töten
bedeutet hingegen, in einen anderen Organisationskreis einzudringen und dadurch
den Tod des Patienten zu verursachen.
Dabei hängen die Organisationskreise, wie Merkel am Ende deutlich sagt, nicht
von natürlichen Umständen, sondern von Rechten und Pflichten ab. Diese Feststel-
lung zeigt schon, dass Merkels Konzeption eng mit der Signifikanzthese verbunden
ist, aber sozusagen in umgekehrter Richtung. Handlungen werden nicht unterschied-
lich bewertet, weil die einen aktiv und die anderen passiv sind, sondern sie sind aktiv
oder passiv, weil sie unterschiedliche evaluative Rollen spielen. Die so verstandene
Signifikanzthese setzt dann nicht bei einer vorausgesetzten handlungstheoretischen
656 Ralf Stoecker

Unterscheidung zwischen Tun und Geschehenlassen an, sie bildet vielmehr die
Grundlage dieser Unterscheidung.
Es gibt in dem Zitat allerdings auch eine Unklarheit. Welche Rolle spielen die Or-
ganisationskreise genau? Sterbenlassen ist dadurch gekennzeichnet, dass eine be-
stimmte Wirkung den eigenen Organisationskreis des Handelnden nicht verlässt,
Töten besteht hingegen darin, dass eine bestimmte Wirkung in den Organisations-
kreis des Opfers eindringt. Man könnte sich nun fragen, ob es nicht auch denkbar
wäre, dass eine Handlung in den Organisationskreis des Opfers eindringen könnte,
ohne den eigenen Organisationskreis zu verlassen. Ein mögliches Beispiel wäre das
Abschalten des Beatmungsgeräts. Offenkundig gehört die Beatmung zum Organisa-
tionskreis des Patienten, sonst wäre es nicht übergriffig, wenn der Neffe die Maschine
abschaltet. Andererseits scheint sie auch zum Organisationskreis der Ärztin bzw. der
Klinik zu gehören, sonst könnte sie den Patienten nicht dadurch sterben lassen, dass
sie das Gerät ausschaltet. Letzteres sagt Merkel auch an anderer Stelle ausdrücklich:
„Die Quelle der atemspendenden Leistung [also der künstlichen Beatmung, R.S.] verbleibt
im Organisationskreis der Klinik, auch wenn sich ihre Wirkung unmittelbar am und im Kör-
per des Patienten entfaltet. […] Wohl liegen Quelle und Mündung der Leistung räumlich eng
beieinander.“ („Abgrenzung …“ S. 222)

Es entsteht das Bild von aneinandergrenzenden Organisationskreisen, bei denen


die künstliche Beatmung in den Kreis der Klinik fällt und deshalb beendet werden
kann, ohne in einen anderen Organisationskreis einzudringen. Doch das passt, wie
gesagt, nicht zu der Analyse der Handlung des Neffen. Dieser tötet seinen Onkel
nicht deshalb, weil er in den Organisationskreis der Klinik eingreift („transferring
harmful effects“, s. o.), sondern in den des Onkels. Nicht irgendeine Überschreitung
des eigenen Organisationskreises macht die Handlung zu einem aktiven Töten, son-
dern ein Übergriff in den Organisationskreis des Opfers. (Der Gärtner tötet ja nicht
schon deshalb Nachbars Blumen, weil er mit seiner neuen Bewässerungsanlage die
Scheiben einer benachbarten Bäckerei vollspritzt, also, anstatt die Nachbarsblumen
weiter zu bewässern, in den Organisationskreis der Bäckerei eingreift.)
Merkels Beschreibung des Unterschieds zwischen Töten und Sterbenlassen im
Fall der künstlichen Beatmung kann also nur dann zutreffen, wenn man bereit ist,
ein Überlappen der Organisationskreise zuzulassen. Und das ist auch unmittelbar
einleuchtend. Man muss nur daran denken, dass Organisationskreise nicht dadurch
gekennzeichnet sind, dass niemand in sie eingreifen darf, sondern dadurch, dass die
betreffende Person ein Privileg hat, Eingriffe zu steuern und auch zu verwehren. Man
darf also durchaus in den Organisationskreis eines Menschen eingreifen, wenn man
nur die entsprechende Erlaubnis dafür hat. Medizinische Behandlungen sind typi-
sche Beispiele für derartige Eingriffe. Die hohen Vorbedingungen für die Legitimität
medizinischer Behandlungen (in der Regel: aufgeklärte Einwilligung) basieren dar-
auf, dass hier ärztlich in einen stark privilegierten Bereich eingedrungen wird. Sobald
diese Behandlung aber begonnen hat, dehnt sie den Organisationskreis der Behan-
Der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen 657

delnden entsprechend in den Kreis des Patienten hinein. Denn mit der Behandlung
ergeben sich eine Vielfalt von Handlungsoptionen und Verbindlichkeiten.
In diesem Sinne bildet auch die künstliche Beatmung einen Eingriff in den Orga-
nisationskreis des Patienten, der zugleich eine Ausdehnung des Organisationskreises
der Ärztin erzeugt. Bildlich gesprochen ist das Abschalten des Beatmungsgeräts also
deshalb kein Übergriff in den Organisationskreis des Patienten, weil sich die Ärztin
ohnehin schon dort aufhält. Der Neffe hingegen, der den Respirator abstellt, befindet
sich noch nicht im Organisationskreis des Onkels, er greift erst dort ein, insofern tötet
er seinen Onkel.
Eine weniger bildliche Beschreibung stützt dieses Verständnis. Handlungen set-
zen sich häufig aus Teilhandlungen zusammen. Wir handeln, indem wir erst das eine
tun, dann etwas anderes, usw. Das gilt auch für medizinische Behandlungen, zum
Beispiel für eine künstliche Beatmung, und nicht zuletzt auch für den Abschluss
einer derartigen Behandlung. Die künstliche Beatmung insgesamt ist eine aktive
Handlung; als die Beatmung aufgenommen wurde und der Patient an den Respirator
angeschlossen wurde, hat die Ärztin in dessen Organisationskreis eingegriffen. Wenn
sie nun den Respirator abstellt, dann bildet das die letzte Teilhandlung der Beatmung.
Sie greift nicht erneut in den Organisationskreis des Patienten ein, sondern handelt
dort ohnehin schon, durch die künstliche Beatmung, zu der auch der letzte Akt, das
Beenden der Behandlung zählt. Stellt hingegen der Neffe den Respirator ab, dann ist
das keine Teilhandlung einer laufenden Handlung des Neffen, sondern eine Interven-
tion in die ärztliche Handlung, die im Organisationskreis des Patienten stattfindet.
Deshalb lässt die Ärztin den Patienten sterben, der Neffe hingegen tötet ihn.
Ich bin nicht sicher, ob Reinhardt Merkel dieser Erläuterung letztlich genau so
zustimmen würde.6 Jedenfalls lässt sie sich aber auch gut auf das Ladenbeispiel über-
tragen und macht dabei deutlich, wie weitreichend ihre Folgen sind. – Zunächst
scheint der Blick auf die Organisationskreise allerdings den entgegengesetzten
Schluss nahezulegen, dass Aschenbrenner, anders als die Ärztin den Patienten, Ol-
mütz durchaus getötet hat. Als der Ladenbesitzer den Obdachlosen entdeckt, nutzt
dieser schon eine Zeit lang die Wärmezufuhr und erhält sich dadurch am Leben
(auch wenn er sich dessen wegen seiner Trunkenheit kaum bewusst ist). Die Wärme-
zufuhr gehört damit zu Olmütz’ Organisationskreis. Dadurch, dass Aschenbrenner
die Wärmezufuhr unterbricht, scheint er also in diesen Organisationskreis einzugrei-
fen, und weil daraus der Tod des Wohnungslosen resultiert, scheint er ihn getötet zu
haben. Diese Beschreibung wäre wohl auch richtig, wenn nicht Aschenbrenner, son-
dern ein Nachbar auf den Clochard aufmerksam geworden wäre und aus Sorge über
den guten Ruf der Wohngegend in den Laden eingestiegen und die Heizung ausge-
schaltet hätte. Sein Übergriff in den Organisationskreis des Betrunkenen hätte seine
Tat zu einer Tötungshandlung gemacht.

6
Merkels eigene Falllösungen finden sich in „Abgrenzung …“ S. 221 f. und „Killing …“
S. 359 f.
658 Ralf Stoecker

Für den Geschäftsinhaber Aschenbrenner gilt dies aber nicht. Anders als der
Nachbar hat er zu dem Zeitpunkt, als er Olmütz vor seinem Schaufenster findet, be-
reits eine Beziehung zu ihm. Ohne es selbst zu wissen, ist er schon eine Zeit lang
dabei, den Obdachlosen zu wärmen, und ist damit bereits in dessen Organisations-
kreis involviert. Von seinem Organisationskreis, zu dem auch die Heizung seines Ge-
schäfts gehört, ging die Wärme aus, die für Olmütz so lebenswichtig war, dass sie
einen Teil von dessen Organisationskreis bildete. Deshalb greift Aschenbrenner
nicht in Olmütz’ Organisationskreis ein, wenn er ihm jetzt die Wärme entzieht. Er
ist bereits drin. Die Heizung abzustellen ist der letzte Akt der Handlung, die darin
besteht, den Obdachlosen zu wärmen. Aschenbrenner lässt Olmütz deshalb sterben,
während sein übereifriger Nachbar ihn getötet hätte.
Ein Problem scheint allerdings darin zu liegen, wie sich diese Diagnose zu dem
oben erwähnten Bootsbeispiel verhält. Wenn sich ein Ertrinkender an der Bordwand
festklammert, dann scheint auch hier der Bootsbesitzer diesen zunächst über Wasser
zu halten, genauso wie Aschenbrenner Olmütz gewärmt hat. Warum soll man also
nicht auch sagen, dass er, wenn er das Boot durchstartet und dadurch von dem Ertrin-
kenden losreißt, diesen nur sterben lässt und nicht tötet, wie Merkel behauptet.
Warum soll das Wegfahren des Bootes, anders als das Abstellen der Heizung, eine
Tötungshandlung sein?
Die Antwort Merkels findet sich in beiden der genannten Artikel, bezogen auf
eine analoge Überlegung zum Beatmungsfall:
„Das rechtswidrige, aber heimliche Abschalten seitens des Arztes während des Schlafs des
Patienten wäre (noch immer) ein durch Unterlassen begangener Totschlag. Das gewaltsame
Abschalten gegen den Widerstand des Patienten, der den Respirator vergeblich vor dem Zu-
griff des Arztes zu schützen versuchte, wäre dagegen als aktives Begehen strafbar.“ („Ab-
grenzung …“ S. 223)
„By breaking this resistance and actively shutting the respirator off, D actively intervenes
into a domain of external legal authority though the respirator may be his own or property
of the hospital he works for.“ („Killing …“ S. 360)

Erstens zeigt es sich, dass ein ärztliches Sterbenlassen durchaus nicht immer mo-
ralisch erlaubt sein muss. Der Unterschied zwischen Sterbenlassen und Töten deckt
sich sicher nicht mit dem zwischen erlaubten und verbotenen Handlungen, die einen
Tod zur Folge haben. Der Arzt, der heimlich und aus niederen Beweggründen die
Behandlung beendet und den Patienten sterben lässt, handelt nicht nur rechtswidrig,
sondern auch moralisch verwerflich. Vor allem wird aber deutlich, wie aus einem
Sterbenlassen ein Töten werden kann: durch einen mit der Handlung verbundenen
neuen, weiteren Übergriff in den Organisationskreis des Patienten. Indem eine Ärztin
den letzten Akt ihrer Beatmungsbehandlung (das Abschalten) gegen den Widerstand
des Patienten durchsetzt, greift sie zwar insofern nicht in den Organisationskreis des
Patienten ein, als sie Änderungen an der Behandlung vornimmt, wohl aber durch die
Art und Weise, in der sie dies tut, nämlich dadurch, dass sie Gewalt gegen den Pa-
tienten ausübt und damit auf eine neue, weitere Art in seinen Organisationskreis (ins-
Der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen 659

besondere sein Selbstbestimmungsrecht) eingreift. Entsprechendes müsste man auch


über das Bootsbeispiel sagen. Das Boot durchzustarten und dadurch dem Griff des
Ertrinkenden zu entreißen, tut diesem körperlichen Zwang an und greift damit
noch auf andere Weise in seinen Organisationskreis ein als dadurch, dass man ihn
mit dem eigenen Boot am Ertrinken hindert. Das zeigt, so anschaulich die Rede
von Organisationskreisen ist, sie darf nicht überinterpretiert werden. Man kann
sich mit einer Handlung im Organisationskreis eines Menschen befinden und zu-
gleich mit einer anderen Handlung oder sogar mit der Art und Weise der Handlung
selbst in dessen Organisationskreis eingreifen.
Es ist deshalb sinnvoll, den Organisationskreisen noch etwas mehr Aufmerksam-
keit zu schenken. Ihre Bedeutung zeigt sich gerade in einem wichtigen Unterschied
zwischen dem medizinischen und dem Bootsbeispiel auf der einen und dem Laden-
beispiel auf der anderen Seite. Die Ärztin hat den Patienten bewusst und absichtlich
beatmet, der Bootsführer den Ertrinkenden zumindest wissentlich kurz über Wasser
gehalten (bis er dies dann gewaltsam beendet hat). Aschenbrenner hatte dagegen
lange Zeit keine Ahnung, dass er dabei war, Olmütz zu wärmen. Dass er ihn gewärmt
hat, war eine ihm zunächst ganz unbekannte Nebenfolge seiner Handlung, das Haus
zu beheizen. Indem er das Haus heizte, sorgte er für Abwärme, die wiederum den
Frierenden wärmte.
Das sieht nach einem sehr weiten und entsprechend unplausiblen Handlungs-Ver-
ständnis aus. Es sieht so aus, als würden wir immer dann, wenn aus unserem Orga-
nisationskreis Folgen nach außen dringen, handeln, unabhängig davon, ob wir die
Folgen beabsichtigen oder als Nebenfolgen in Kauf nehmen oder überhaupt keine
Ahnung von ihnen haben. Doch ich glaube weder, dass Merkel das sagen möchte,
noch dass es plausibel wäre. Man stelle sich beispielsweise vor, es ist ein herrlicher
Sonntag im Sommer und Olmütz interessiert sich nicht für die Heizungsabwärme,
sondern nutzt die ausgerollte Markise des Geschäfts für ein Schläfchen im Schatten.
Abermals möchte Aschenberger den ungebetenen Gast vertreiben und rollt deshalb
die Markise ein. Olmütz schläft aber weiter und wacht mit starken Kopfschmerzen
auf, hervorgerufen durch die Sonne. War dieser Sonnenstich etwas, das Aschenber-
ger dadurch hat geschehen lassen, dass er seine Handlung beendet hat, Olmütz Schat-
ten zu spenden? Ich glaube nicht. Die Tatsache, dass das Geschäft zu Aschenbergers
Organisationskreis gehörte und die Markise eine Zeit lang als Schattenspender fun-
gierte, reicht für eine unabsichtliche Handlung des Ladenbesitzers, Schatten zu spen-
den, noch nicht aus. Was aber muss hinzukommen?
Reinhard Merkel illustriert den Unterschied abermals anhand des Motorboot-Bei-
spiels. Wenn der Motorbootfahrer es nicht mit einem Ertrinkenden zu tun hat, der
sich an sein Boot klammert, sondern mit einer Frau auf einer Luftmatratze, deren
Handy Gefahr läuft, vom einsetzenden Regen ruiniert zu werden, ist es keine Sach-
beschädigung, wenn sich der Bootsbesitzer statt dessen brüsk losreißt und Gas gibt.
Die Gefahr für das Handy ist nicht wichtig genug, um das Boot in den Organisati-
onskreis der Handybesitzerin zu integrieren (während die Lebensgefahr das Boot
660 Ralf Stoecker

zu einem Teil des Organisationskreises des Ertrinkenden gemacht hat). Ob wir etwas
tun, das in den Organisationskreis eines Menschen eingreift, kann also davon abhän-
gen, wie wichtig dieser Eingriff für diesen Menschen ist. Wichtig im Heizungsbei-
spiel ist die existentielle Bedeutung der ungewollten Handlung Aschenbergers, doch
nicht jede Folge dessen, was der Ladenbesitzer tut, konstituiert eine unabsichtliche
Handlung.
Bei Aschenberger, der Ärztin und dem Bootsführer liegt diese existentielle Be-
deutung in der rettenden Funktion der jeweiligen Handlung. Es gibt aber auch den
umgekehrten Fall, wenn die Folgen, die aus dem eigenen Organisationskreis erwach-
sen, für jemanden so bedrohlich sind, dass sie ein Tun konstituieren. Das ist zumin-
dest die These in einem weiteren Artikel Merkels, in dem es nicht um den Unter-
schied zwischen Töten und Sterbenlassen geht, sondern stattdessen um Umstände,
unter denen es zulässig ist, getötet zu werden. In seinem Beitrag zur Debatte um
die ursprünglich geplante Fassung von § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz und das an-
schließende Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2006 versucht Merkel zu zeigen,
inwiefern der staatlich befohlene Abschluss einer Passagiermaschine, die von fest
entschlossenen Terroristen auf ein voll besetztes Fußballstadion gelenkt wird,
nicht mit Art. 1 GG vereinbar ist.7 Den Kern von Merkels Beitrag bildet die Feststel-
lung, dass der Staat nur dann einen Menschen töten dürfe, wenn von diesem eine sehr
große Gefahr für andere Menschen ausgehe. Von den Passagieren im Flugzeug gehe
aber keine Gefahr aus. Schießt der Staat trotzdem die Maschine ab, dann nähme er
den Tod dieser Menschen im Tausch für das Leben vieler Stadionbesucher in Kauf,
und eine derartige Abwägung stehe ihm nicht zu.
An dieser These ließe sich vieles diskutieren, für die Zwecke meines Beitrags ist
aber nur die Feststellung wichtig, dass sich die Situation ändern würde, wenn die Be-
troffenen zugleich eine Quelle der Gefahr wären, und zwar auch dann, wenn sie es
nicht wollen und nicht einmal wissen, welche Gefahr von ihnen ausgeht. Sein Bei-
spiel ist ein ahnungsloses Kind auf dem Weg in den Kindergarten, dem Terroristen
eine Sprengstoffweste angezogen haben, um sie dann in der Einrichtung zu zünden.
Das Kind, so Merkel, bedroht den Kindergarten, während die Passagiere nicht das
Fußballstadion bedrohen. Deshalb dürfe das Kind zur Not getötet werden, um die
anderen Kinder zu retten, nicht aber das Flugzeug abgeschossen werden, um die Fuß-
ballfans zu retten. Und wenn die Terroristen Erfolg haben, müsste man vermutlich
sagen – auch wenn Merkel dies nicht ausdrücklich tut –, dass das Kind den Kinder-
garten (unwissentlich) gesprengt hat, die Passagiere aber nicht das Stadion zerstört
haben.
Das Handlungsverständnis, das Merkel in diesen drei Aufsätzen entwickelt, setzt
also zunächst ganz breit an. Natürlich liegt nicht alles, was auf der Welt passiert, an
uns. Manchmal sind aber wir selbst oder unser Nahbereich, unser Organisationskreis,
auf eine Weise in ein Geschehen involviert, dass man geneigt ist, uns als eine Quelle
7
Merkel, Reinhard, 㤠14 Absatz 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und warum darf der Staat
töten?“, in: Juristenzeitung 62 (2007), S. 373 ff.
Der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen 661

dieses Geschehens zu betrachten. Meistens ist das eine belanglose Redeweise.


Manchmal ist das betreffende Geschehen aber wichtig und dann kann es unsere recht-
liche und moralische Situation verändern. Weil wir die Quelle des Geschehens sind,
stehen wir anders da, als andere Menschen. Wir haben beispielsweise eine stärkere
Verantwortung als diese. Und vielleicht, wenn Merkel recht hat, müssen wir auch
mehr mit uns machen lassen. Unser handlungstheoretisches Vokabular dient dazu,
diese besondere Situation auszudrücken, indem wir sagen, jemand tue etwas – ab-
sichtlich, wissentlich, oder auch ohne es zu ahnen.
Bevor ich im folgenden Abschnitt versuche zu skizzieren, wie sich dieses Hand-
lungsverständnis in die philosophische Handlungstheorie überführen lässt, möchte
ich es noch mit einem eigenen Beispiel illustrieren, das vielleicht plausibler ist als
die schwierigen Fälle von Töten und Sterbenlassen. B, der Besucher eines Biergar-
tens, möchte gerne aufstehen und gehen, da wird ihm klar, dass auf der anderen Seite
der ansonsten leeren Bank Zecher Z so sitzt, dass die Bank unweigerlich hochwippen
und Z zu Boden stürzen wird, wenn B aufsteht. B versucht Z darauf aufmerksam zu
machen, doch der Mann ist sichtlich betrunken und schläft mit dem Kopf auf der
Tischplatte. Alles Rufen und Anstoßen führt zu nichts. Dem Mann ist bislang nichts
passiert, weil B ihn im Gleichgewicht gehalten hat. Wenn B aufsteht, wird der Mann
höchstwahrscheinlich schmerzhaft stürzen, sich vielleicht sogar verletzen.
Ich glaube, hier ist es noch offensichtlicher als in anderen der genannten Fälle,
dass B den Z bislang unbeabsichtigt und ohne es zu wissen gestützt hat. Würde er
jetzt aufstehen, dann würde er seine Unterstützung beenden und Z dadurch von
der Bank stürzen lassen. Die Gefahr, in der Z schwebt, lässt B’s Hocken am Biertisch
zu einer Stabilisierungsmaßnahme für Z werden, und das heißt zumindest, dass er
nicht einfach aufstehen kann. Er muss sich irgendwie darum kümmern, was mit Z
geschieht.

V. Merkels relationales Handlungsverständnis


Welche Konsequenzen ließen sich aus Merkels Überlegungen zum Unterschied
zwischen Töten und Sterbenlassen für die Handlungstheorie ziehen? – Grundlegend
scheint mir zu sein, dass die Überlegungen für ein relationales Handlungsverständnis
sprechen, dem zufolge Handlungen nicht als Ereignisse betrachtet werden sollten,
die von Akteuren hervorgebracht werden, um dann weitere Handlungsfolgen nach
sich zu ziehen, sondern als das Hervorbringen der Handlungsfolgen selbst. Eine
Handlung, kann man grob sagen, ist das Hervorbringen der Folgen.
Was das heißt und inwiefern es etwas Besonders ist, lässt sich zunächst gut am
Beispiel der Ärztin illustrieren. Wie oben schon gesagt, kann eine Ärztin mehr
oder weniger aktiv darin sein, einen Patienten sterben zu lassen. Wenn es nur
darum geht, auf eine Widerbelebung zu verzichten, muss sie überhaupt nichts tun.
Soll hingegen die Beatmung beendet werden, muss sie den Respirator abstellen.
Was beides zu einem Akt des Sterbenlassens macht, so Merkel im Anschluss an Ja-
662 Ralf Stoecker

kobs, ist nicht das damit verbundene Ausmaß an Aktivität, sondern dass die Hand-
lungsfolgen (also der Tod des Patienten) im Organisationskreis der Ärztin liegen. Sie
liegen im Organisationskreis der Ärztin, weil es der Aufgabenbereich der Ärztin ist,
sich um Gesundheit und Wohlergehen des Patienten und vor allem um seine Lebens-
erhaltung bzw. den Verzicht darauf zu kümmern. Weil es ihre Aufgabe ist, sich um
das Geschehen in diesem Bereich zu kümmern, liegt das, was dort geschieht, an ihr.
Sie ist die Akteurin in diesem Bereich, ob sie aktiv ist oder nichts tut, weil wir, um zu
verstehen, was dort geschieht, auf sie schauen können. Wenn wir verstehen wollen,
warum der Patient gestorben ist, dann können wir die Erklärung bei ihr finden, in der
Art und Weise, wie sie ihre Verantwortung ausgeübt hat. Von X zu sagen, sie habe Y
sterben gelassen, bedeutet also so etwas zu sagen wie: Wenn Du verstehen willst,
wieso Y gestorben ist, schau bei X nach, denn sie hatte die Aufgabe, sich um das
Leben von Y zu kümmern. Dabei drückt der erste Teil („schau bei X nach“) aus,
dass es eine Handlung des X ist, und der zweite („denn sie hatte die Aufgabe …“),
dass es eine Handlung des Sterbenlassens ist.
In welchem Sinn versteht man den Tod des Patienten, wenn man erfährt, dass die
Ärztin ihn hat sterben lassen? – An dieser Stelle kommt eine weitere wichtige Ein-
sicht Merkels ins Spiel. Organisationskreise sind normativ charakterisiert, durch
Rechte und Pflichten, z. B. durch die Pflicht, sich um den Patienten zu kümmern. Die-
ses normative Gerüst hat aber wiederum Auswirkungen auf die Erwartungen an die
betreffende Person und macht es im Normalfall wahrscheinlicher, dass sie ihrer Ver-
pflichtung nachkommt. Zu sagen, die Ärztin habe den Patienten sterben gelassen,
bedeutet deshalb häufig, dass sich sein Tod gut aus ihren Absichten, Überlegungen
etc. erklären ließe, und das wiederum ist letztlich eine Spielart kausaler Erklärun-
gen.8 Und selbst dort, wo sich der Tod nicht auf diese Weise als beabsichtigte Hand-
lungsfolge erklären lässt, greifen wir auf Erklärungen zurück, die sich speziell auf die
Ärztin beziehen, wie beispielsweise, dass sie ihn sterben gelassen hat, weil sie nicht
aufgepasst und deshalb übersehen habe, dass er dringend ein weiteres Medikament
benötigte.
Hier wird nun auch deutlich, wie z. B. das Abstellen des Respirators mit dem Ster-
benlassen zusammenhängt. Indem wir sagen, die Ärztin hätte den Patienten dadurch
sterben gelassen, dass sie seine Beatmung beendet hat, geben wir eine nähere Erläu-
terung für die Aussage, dass man bei der Ärztin nachschauen sollte, um den Tod des
Patienten zu verstehen. Man erfährt nun, dass es beispielsweise nicht daran lag, dass
sie fahrlässig ein Medikament nicht eingesetzt hat. Die Grundlage für das Gesche-
henlassen ist aber immer noch die gleiche: ihre Verantwortung für den Patienten.
Schaltet hingegen der Neffe die Beatmung ab, dann wollen wir zwar auch sagen,
dass man bei ihm nachschauen sollte, um den Tod des Patienten zu verstehen. Die
Erklärungsgrundlage ist aber dieses Mal nicht die Aufgabe, sich um Leben und
Tod des Onkels zu kümmern, denn diese Aufgabe hat der Neffe nicht. Erklärungs-
8
Zur näheren Erläuterung vgl. Stoecker, Ralf, „Wie erklären Handlungserklärungen?“
Internationale Zeitschrift für Philosophie. 2008 (1):38 – 66.
Der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen 663

grund sind hier vielmehr die Organisationskreise, in die der Neffe eingreift. Indem er
die künstliche Beatmung unterbricht, greift er auf jeden Fall in den Organisations-
kreis des Onkels ein, und da es sich um eine medizinische Behandlung durch die Ärz-
tin handelt, greift er auch in ihren Organisationskreis ein. Da die Organisationskreise
aber, wie gesagt, normativ geschützt sind, gibt es abermals eine Erwartung, dass man
sich daran hält, und folglich ist es explanatorisch erhellend zu erfahren, dass jemand
sich nicht daran gehalten hat. Das sagen wir, so Merkel, wenn wir behaupten X habe
Y getötet. Wenn Du verstehen willst, wieso Y gestorben ist, schau bei X nach, denn er
war übergriffig gegenüber Y’s Recht auf die Unversehrtheit seines Lebens. Und aber-
mals können wir diese Behauptung dadurch verstärken, dass wir Details der Über-
griffigkeit spezifizieren: Er hat die Beatmung abgeschaltet (anstatt ihm beispielswei-
se ein Messer zwischen die Rippen zu stoßen). (Auch ein Arzt hätte den Patienten,
wie schon angesprochen, töten können, beispielsweise wenn er die Beatmung gegen
dessen Sträuben beendet hätte. Dem Patienten Zwang anzutun, war auf jeden Fall
jenseits seines Aufgaben- und Verantwortungsbereichs, es wäre also ebenso übergrif-
fig gewesen wie die Tat des Neffen.)
Die Idee, dass es das Kennzeichen des Tötens ist, in den Organisationskreis des
Opfers einzugreifen, erklärt nun auch die prima facie befremdliche Unterscheidung
zwischen dem Kind mit der Sprengstoffweste und den Flugzeugpassagieren. Wenn
die Terroristen Erfolg haben, dann tötet das Kind seine Spielkameraden, weil man
deren Tod im Rückgriff auf das Eindringen des Kindes in die Unversehrtheit ihres
Lebens erklären kann. Es ist eben mit der Sprengstoffweste in den Kindergarten ge-
laufen, die dort dann explodiert ist, deshalb erklärt sein Tun den Tod der Kinder, an-
ders als man den Tod der Fußballfans durch die Passagiere erklären könnte.
Ein Aspekt des relationalen Handlungsverständnis, das sich aus Merkels Überle-
gungen extrahieren lässt, ist allerdings noch nicht angesprochen. Er führt zurück zu
seinem Heizungsbeispiel. Warum lässt Aschenbrenner Olmütz sterben, anstatt ihn zu
töten? Die Antwort lautete: Weil sich Olmütz bereits in Aschenbrenners Organisa-
tionskreis aufhielt, dieser also nicht übergriffig handelte, als er die Heizung abstellte.
In meinen Augen steht dahinter die wichtige Einsicht, dass wir nicht nur dadurch,
dass wir z. B. explizit ärztliche Aufgaben übernehmen, unseren Organisationskreis
erweitern, sondern dass vieles von dem, was wir tun, zugleich auch unseren Organi-
sationskreis so erweitert, dass wir neue Verpflichtungen erwerben, uns zu kümmern,
die wir vorher nicht hatten. Handlungen, die in andere Organisationskreise eingrei-
fen, haben häufig Auswirkungen auf unsere zukünftigen Verantwortlichkeiten. Wenn
ich netterweise dem Nachbarjungen bei den Schulaufgaben helfe, bin ich nicht mehr
so frei darin, plötzlich aufzustehen und ihn allein zu lassen, wie es mir vorher frei-
stand, gar nicht erst mit der Nachhilfe anzufangen. Was Merkel mit dem Heizungs-
beispiel deutlich gemacht hat, ist nun, dass dies u. U. auch dann gilt, wenn ich gar
nicht merke, was ich tue. Aschenbrenner hat dadurch, dass er die Heizung betreibt,
ohne es zu merken, in das Leben von Olmütz eingegriffen, er hat es ihm (eine Zeit
lang) gerettet. Wie die Überlegungen Merkels gezeigt haben, ist das aber eine Art und
Weise, den eigenen Verantwortungsbereich (ungewollt) auszudehnen. Die (unbe-
664 Ralf Stoecker

merkte) Nähe, die zwischen Aschenbrenner und Olmütz entstanden ist, hat zu Folge,
dass wir von Aschenbrenner erwarten, sobald er sich dieser Beziehung bewusst wird,
bei ihm Aufschluss darüber zu erhalten, was mit Olmütz weiter geschieht. Verant-
wortung kann man nicht nur übernehmen, sie kann einem eben auch zufallen.
Noch deutlicher wird das im Biergartenbeispiel. Hier ist es, wie gesagt, offenkun-
diger als im Heizungsfall, dass Besucher B Zecher Z die ganze Zeit, ohne sich dessen
bewusst zu sein, im Gleichgewicht gehalten hat. Das unterscheidet ihn von einem
unbeteiligten Biergartenbesucher U*, der sieht, dass an einer der anderen Bänke
ein Besucher B* aufzustehen droht und dadurch dessen Bankgenossen Z* gefährdet.
Dadurch dass B ohne es zu wissen Z vor dem Sturz bewahrt hat, hat er eine stärkere
Verantwortung dafür, die Situation glimpflich für Z zu beenden, als der bloße Zu-
schauer U* gegenüber Z*. Ich glaube, man sollte es so sagen: B hat die Verantwor-
tung, sich um die Lösung zu kümmern, U* hat die Verantwortung nicht, aber es wäre
gut, wenn er Verantwortung übernehmen und sich ebenfalls kümmern würde, z. B.
indem er den aufbrechenden Besucher B* warnt. Er könnte z. B. rufen: „Achtung,
wenn Sie aufstehen, kippt die Bank um und der Mann fällt.“, und sich damit einmi-
schen. – Allerdings könnte es ihm daraufhin auch geschehen, dass B* unwirsch ant-
worten: „Was geht Sie das an?! – Dem Suffkopp geschieht das ganz recht!“. Sich
solchen Reaktionen nicht auszusetzen, sich herauszuhalten, ist ein Motiv gegen
eine Einmischung, das es im Fall von U* normativ zu bewerten gälte, nicht aber
bei B. Für eine Handlungstheorie, die auf Verantwortungsbereichen aufbaut,
macht es einen interessanten Unterscheid aus, ob jemand in seinem Verantwortungs-
bereich agiert oder ob er Verantwortung für etwas übernimmt, wofür er sie bislang
nicht hatte.9
Das also ist ganz grob das handlungstheoretische Bild, das sich meines Erachtens
gut an Merkels Überlegungen zum Töten und Sterbenlassen anschließt. Von jeman-
dem zu sagen, er handele, setzt ihn in Beziehung zu einem Geschehen und behauptet,
dass dieses Geschehen entweder daraus erklärlich sei, dass es im Verantwortungsbe-
reich des Handelnden stattfinde (dann ist es z. B. ein Sterbenlassen) oder dass es in
den Verfügungsbereich des Betroffenen eingreift (dann ist es z. B. ein Töten). Diese
Erklärungen sind deshalb möglich, weil diese Bereiche jeweils normativ charakteri-
siert sind und von den Akteuren erwartet werden kann, dass sie sich normkonform
verhalten. Deshalb ist es interessant, im Fall des Sterbenlassens zu erfahren, dass
sich das Geschehen daraus erklären lässt, dass jemand unter der speziellen Verpflich-
tung stand, sich zu kümmern, und im Fall des Tötens daraus, dass es jemanden gab,
der der generellen Pflicht nicht gefolgt ist, sich nicht einzumischen.
Der Umfang dieser Handlungssphären hängt von verschiedenen Faktoren ab.
Manche haben wir einfach deshalb, weil wir Menschen sind, mit körperlicher Inte-
grität, einem Recht auf eine Intim- und Privatsphäre und Selbstbestimmungsrechten.

9
Vgl. Stoecker, Ralf, „Das Pilatus-Problem und die Vorzüge eines dynamischen Verant-
wortungsbegriffs“. In: Berendes, J. (Hrsg.), Autonomie durch Verantwortung: Impulse für die
Ethik in den Wissenschaften, 2007: 147 – 160.
Der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen 665

Manche können wir gezielt beeinflussen, z. B. dadurch, dass wir uns als Ärztin auf die
Behandlung eines Patienten einlassen. Wieder andere fallen uns zu, wie z. B. spezi-
elle Fürsorgeverpflichtungen, die entstehen, wenn wir gewollt oder unbeabsichtigt
etwas tun, das stark in das Leben eines anderen Menschen eingreift. Nicht jeder Ein-
griff zieht aber eine solche Ausweitung des Verantwortungsbereichs nach sich. Im
Fall der schattenspendenden Markise ist die Bedeutung für Olmütz zu gering, um
Aschenbrenner die Verpflichtung zuzuschreiben, ihn vor dem Sonnenstich zu bewah-
ren, und ähnlich würde ich es auch (anders als Merkel) für die Bewässerung von
Nachbars Garten sehen. Allein die prinzipielle Möglichkeit, irgendwo Einfluss zu
nehmen, ist jedenfalls keine hinreichende Bedingung dafür, dass wir uns kümmern
müssen, auch wenn es gelegentlich gut wäre, wenn wir Verantwortung übernehmen
und uns auf diese Weise verpflichten würden (z. B. gegenüber der Not vieler Men-
schen weltweit).

VI. Fazit
„Altes, Neues, Ungelöstes“ lautet, wie gesagt, der Untertitel eines der Artikel, mit
denen ich mich in meinem Beitrag auseinandergesetzt habe. Ich hoffe, es ist mir ge-
lungen zu zeigen, dass Reinhard Merkels Verständnis des Unterschieds zwischen
Töten und Sterbenlassen sehr gut zu einem relationalen Handlungsverständnis
passt und dass diese Kombination insgesamt sehr attraktiv ist. Gleichwohl lässt
meine Darstellung noch vieles ungelöst. Man möchte erstens genauer verstehen,
wie diese individuellen Sphären (Organisationskreise, Verantwortungsbereiche)
genau funktionieren und inwiefern der Rückgriff auf sie tatsächlich dazu passt,
dass Akteure die Welt kausal beeinflussen. Zweitens gilt es, die charakteristischen
psychischen Handlungsmerkmale – Absichten, Gründe, Motive – in das Bild einzu-
bauen. Und drittens bleibt die moralphilosophische Skepsis, dass auch die Feststel-
lung, wie eng die Signifikanzthese mit unserer handlungstheoretischen Zuschrei-
bungspraxis verwoben ist, nichts daran ändern könnte, dass es ungerechtfertigt
sei, eine Handlung für sich gesehen anders zu bewerten, weil sie ein Töten ist und
kein Sterbenlassen.
Ich habe in den letzten Jahren versucht, in diesen Fragen in der einen oder anderen
Hinsicht weiter zu kommen10, und würde mich sehr freuen, wenn die skizzierten Ge-
meinsamkeiten Reinhard Merkel motivieren könnten, sich diesem Projekt ebenfalls
wieder zuzuwenden. Schließlich hat er mit diesem wichtigen Thema vor gut zehn
Jahren angefangen – und wie wir von ihm gelernt haben, kann so etwas leicht in
der Verpflichtung münden weiterzumachen.11

10
Vgl. auch Stoecker, Ralf, „Acting for Reasons – a Grass Root Approach“. In: Sandis, C.
(Hrsg.), New Essays on the Explanation of Action. Basingstoke, UK: Palgrave Macmillan,
2009.
11
Ich danke Jens Kulenkampff für viele hilfreiche Anmerkungen.
Causa efficiens
Von Sebastian Simmert und Joachim Renzikowski

I. Einleitung
In der Festschrift für Ingeborg Puppe hat Reinhard Merkel dafür plädiert, dem Be-
griff der „causa efficiens“, den er als „physikalistischen Kausalbegriff“ bezeichnet,
mehr Aufmerksamkeit zu schenken.1 Nun genießt zwar in der deutschen Strafrechts-
wissenschaft und -praxis die sog. „Äquivalenztheorie“ seit langem die uneinge-
schränkte Vorherrschaft.2 Aber immer wieder wurden abweichende Konzepte vertre-
ten, von den sog. „individualisierenden Kausalitätstheorien“3 bis heute. Dazu gehört
neben dem von Volker Haas mit der Reichweite des subjektiven Rechts begründeten
Begriff der Kausalität als Bewirken4 die neuerdings von Kindhäuser vorgestellte For-
mel der conditio per quam.5 Beide Konzepte beruhen letztlich auf der causa efficiens,
die nicht in einem bloß physikalischen Sinn verstanden wird.

1
Merkel, Über einige vernachlässigte Probleme des Kausalitätsbegriffs im Strafrecht und
Ingeborg Puppes Lehren dazu, in: Paeffgen u. a. (Hrsg.), Strafrechtswissenschaft als Analyse
und Konstruktion. Festschrift für Ingeborg Puppe, 2011, S. 151 (166 ff.).
2
Vgl. RGSt 66, 181 (184); 69, 44 (47); BGHSt 39, 195 (197 f.); Eisele, in: Schönke/
Schröder, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 30. Aufl. 2018, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 76 m.w.N.
3
S. etwa Birkmeyer, Ueber Ursachenbegriff und Causalzusammenhang im Strafrecht, GS
37 (1885), 257 (272 ff.) – Ursache als wirksamste Bedingung für den Erfolg; Ortmann, Zur
Lehre vom Kausalzusammenhang, GA 1875, 268 ff. – Ursache als letzte Bedingung für einen
Erfolg; Kohler, Studien aus dem Strafrecht. I, 1890, S. 83 ff. – Lehre von der qualitativ be-
stimmenden Bedingung; sowie die Gleichgewichtstheorie von Binding, Die Normen und ihre
Übertretung, Bd. 1, 2. Aufl. 1890, S. 113 ff., und die Lehre von der ausschlaggebenden Be-
dingung von Nagler, in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 7. Aufl. 1954,
S. 26 ff.; dazu gehört auch die Lehre vom „Regressverbot“ von Frank, Das Strafgesetzbuch für
das Deutsche Reich, 18. Aufl. 1931, S. 14 f.; näher dazu Diel, Das Regressverbot als allge-
meine Tatbestandsgrenze im Strafrecht, 1996, S. 31 ff.; Ling, Die Unterbrechung des Kau-
salzusammenhangs durch willentliches Dazwischentreten eines Dritten, 1996, S. 44 ff., 101 ff.
et passim. Diese Lehren werden heute zumeist nicht mehr für erwähnungswürdig gehalten und
tauchen daher in den Lehrbüchern nicht mehr auf.
4
Haas, Kausalität und Rechtsverletzung, 2002, S. 185 ff.; ablehnend Puppe, in: Nomos
Kommentar zum Strafgesetzbuch, 5. Aufl. 2018, Vor §§ 13 ff. Rn. 180; dies., Zum gegen-
wärtigen Stand der Lehre von der Verursachung im Recht, RW 2011, 411 ff., 419 ff.; Roxin,
Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 46 Fn. 105.
5
Kindhäuser, Zur Kausalität im Strafrecht, in: Albrecht u. a. (Hrsg.), Festschrift für Kargl
2015, S. 253 (270); ders., Verursachen und Bedingen, in: Stuckenberg/Gärditz (Hrsg.), Strafe
668 Sebastian Simmert und Joachim Renzikowski

Eine nähere Auseinandersetzung mit dem Begriff der „Wirkursache“ lohnt sich
schon deshalb, weil die üblicherweise auf Aristoteles zurückgeführte causa efficiens
gerade kein bloß physikalischer Kausalbegriff ist. Sein Potential dürfte also noch viel
größer sein. Im Folgenden soll daher ausgehend von einer Analyse der Herkunft des
Wortes ,Kausalität‘ (II.) und ihres Begriffs (III.) gezeigt werden, dass wahrheitsde-
finite6 Kausalurteile auf Einzeldinge in der Welt und ihren Zusammenhang referieren
(III.–V.). Anders formuliert: Kausalität bezeichnet einen singulären Vorgang.
Gleichwohl müssen Kausalurteile begründet werden, und da Begründungen verall-
gemeinerbar sein müssen, haben dort die Naturgesetze und andere Gesetzmäßigkei-
ten ihren Platz (VI.). Der Beitrag schließt mit einer kurzen Bemerkung zu Kausal-
aussagen über menschliches Verhalten (VII.).

II. Die Herkunft des Wortes ,Kausalität‘


Gemeinhin leitet man das Wort ,Kausalität‘ vom lateinischen causa ab. Heutzu-
tage übersetzt man es als ,Ursache‘. Doch besteht diese Bedeutung nicht unabhängig
von einem Wort anderen Ursprungs. Dieses Wort ist das altgriechische aQt_a, welches
neben der Bedeutung ,Ursache‘ auch die Bedeutungen ,Schuld‘, ,Grund‘ oder ,Be-
schuldigung‘ aufwies. Erst als Übersetzung von aQt_a erlangte das Wort causa die
Bedeutung ,Ursache‘.7 Dabei scheint es ,Übersetzung‘ nicht richtig zu treffen. Ethy-
mologen sahen bis zum 19. Jahrhundert in causa ein lateinisches Lehnwort des alt-
griechischen jaOsir,8 dem neben der Bedeutung ,das Verbrennen‘ die Bedeutung ,die
Anregung zum Tätigsein‘ zukommt.9 Zwar ist gegenüber solchen Annahmen grund-
sätzlich Zurückhaltung geboten, sofern keine zeitgenössischen Schriftstücke existie-
ren, die die Abstammung oder Entlehnung eines Wortes aus einem anderen belegen.
Allerdings legen einige von Caelius Aurelianus (ca. 500 n. Chr.) erhalten gebliebene
lateinische Übersetzungen der altgriechisch medizinischen Schrift „peq· an]ym ja·
wqom_ym pah_m“10 des Soran von Ephesos (98 – ca. 138 n. Chr.) nahe, dass sich die
Bedeutungen von jaOsir und causa überschneiden.11 Die lateinische Sprache kennt

und Prozess im freiheitlichen Rechtsstaat. Festschrift für Paeffgen 2015, S. 129 (142 f.); zur
Kritik s. Puppe, Und führen, wohin du nicht willst, ZIS 2015, 426 ff.
6
Wahrheitsdefinit heißt, das eine Aussage war oder falsch ist.
7
Vgl. Broadie, The Ancient Greeks, in: Beebee/Hitchcock/Menzies (Hrsg.), The Oxford
Handbook of Causation, 2012 , S. 21 f.; Vaniček, Griechisch-Lateinisches Etymologisches
Wörterbuch. Erster Band, 1877, S. 79.
8
Vgl. Vossius, Etymologicon Linguae Latinae. Editio Nova, 1695, S. 141.
9
Vgl. Valpy, A Manual of Latin Etymology, from the Greek Language, 2. Aufl. 1852,
S. 25.
10
Aurelianus’ Übersetzung ist das einzige überlieferte Zeugnis von Sorans Schriften: „peq·
an]ym ja· wqom_ym pah_m“ [Über akute und chronische Krankheiten].
11
Vgl. Aurelianus, in: Bendz (Hrsg.), Corpus Medicorum Latinorum, Bd. VI 1, Caelii
Aureliani Celerum passionum libri III, Tardarum passionum libri V, edidit in linguam ger-
manicam transtulit Ingeborg Pape, 1990, lib. 1 cap. 2, §§ 31 – 33.
Causa efficiens 669

mehrere Wörter für ,das Verbrennen‘ bzw. für Arten des Verbrennens (adustio, cre-
matio, exustio, flammatus), die jedoch nicht zugleich auch ,Anregung zum Tätigsein‘
bedeuten. Betrachtet man das Wort jaOsir in seiner vermeintlich ursprünglichen Be-
deutung im Vergleich mit der Vielzahl lateinischer Wörter für ,Verbrennen‘, wird die
Verkürzung der Bedeutung von causa durch die Gleichsetzung mit aQt_a deutlich.
Das zeigt der Blick auf die Vier-Ursachen-Lehre des Aristoteles, hinsichtlich der
aQt_a und causa für gewöhnlich gleichgesetzt werden. Aristoteles unterscheidet zwi-
schen vier aQt_ai, nach denen die artspezifische Seinsweise eines Einzeldings in der
Welt12 bestimmt ist.13 Diese sind die vkg (causa materialis), eXdor (causa formalis),
!qwµ t/r jim^seyr (causa efficiens), und t¹ t]kor (causa finalis). Eine causa mate-
rialis bezeichnet das, woraus etwas besteht (z. B. das Erz des Standbilds);14 eine
causa formalis die Gestalt, die etwas aufweist („was es wirklich ist“);15 eine
causa efficiens, was die Veränderung von etwas ermöglicht, aufrecht erhält oder her-
beiführt;16 eine causa finalis, weshalb bzw. in Bezug worauf eine Veränderung be-
steht.17
Wenn und insoweit diese aQt_ai als Ganzes bestimmt sind, kann ein Einzelding als
solches von anderen Einzeldingen in der Welt unterschieden werden. Denn seine art-
spezifische Seinsweise in der Welt ist zwangsläufig von der Seinsweise anderer Ein-
zeldinge aufgrund der Bestimmtheit seiner causa finalis verschieden. Schließlich ist
durch sie bestimmt, in Bezug worauf die Einheit aus causa materialis, causa formalis
und causa efficiens bestimmt ist, was letztlich wiederum nur selbst etwas Bestimmtes
sein kann. Das Wort causa bezeichnet somit dasjenige, wodurch man erkennt, dass
etwas in der Welt in bestimmter Weise ist oder wurde. Die Erkenntnis über das Tä-
tigsein eines Einzeldings ist die Erkenntnis seiner artspezifischen Seinsweise in der
Welt. Diese Gleichsetzung rechtfertigt sich dadurch, dass ein Einzelding nur in der
Weise tätig sein kann, wie seine artspezifische Seinsweise es gestattet. Daher kann
die artspezifische Seinsweise nicht vom Tätigsein eines Einzeldings getrennt wer-
den, sofern es in der Welt ist.

12
Dabei wird die artspezifische Seinsweise eines Einzeldings in der Welt mit seinem Tä-
tigsein gleichgesetzt, was bei Aristoteles gleichbedeutend mit seiner artspezifischen Bewe-
gung (j_mgsir) ist.
13
Aristoteles, Metaphysik, I A 983 a25 – 27; ders., Physik,. II 194b 16 – 24; eingehend dazu
Aichele, Ontologie des Nicht-Seienden, 2009, S. 121 ff.
14
Aristoteles, Physik, II 194b 25 – 27.
15
Ibid., 27 – 29. Aristoteles nennt als ein Beispiel das Verhältnis von 2 zu 1 beim Oktav-
klang.
16
Ibid., 30 – 32.
17
Ibid., 32 – 35.
670 Sebastian Simmert und Joachim Renzikowski

III. Zum Begriff der Kausalität


In diesem Sinn lässt sich das Wort ,Kausalität‘ als die Bezeichnung für einen Zu-
stand von etwas in der Welt bzw. der Welt selbst verstehen, der durch das bestimmt
ist, was man Ursache nennt. Ohne Ursache also auch keine Kausalität.
Dass dieses Verständnis nicht unproblematisch ist, haben die Leibniz-Wolff’sche
Philosophie der Aufklärung sowie ihre Kritiker gezeigt.18 Was auch immer man
durch causa aussagt, lässt sich vielfach durch die Begriffe ratio oder principium aus-
sagen und umgekehrt. Alle drei Termini wurden zur damaligen Zeit gleichermaßen
als ,Grund‘ übersetzt. Deshalb war unklar, ob diese Ausdrücke Unterschiedliches be-
deuten. Zwar haben Leibniz und Wolff zu einer inhaltlichen Ausdifferenzierung der
Begriffe beigetragen.19 Doch erst Kant konnte auf der Grundlage seiner Auseinander-
setzung mit der wolffschen Metaphysik und mit Crusius‘ Kritik an Wolff und Leibniz
herausstellen, dass der Begriff des Grundes (ratio) die anderen Begriffe enthält oder
m.a.W.: dass Ursachen als Arten von Gründen zu verstehen sind.
Ein Grund ist, so Kant, „[q]uod determinat subiectum respectu praedicati (…).“20
Subjekt und Prädikat haben hierbei eine allgemeine Bedeutung, die sich jeweils auf
ihre Funktion bezieht. Das Subjekt ist, was einer Prädikation unterliegt, und das Prä-
dikat ist, was etwas bestimmt. Subjekt und Prädikat sind dabei nicht nur logische oder
metaphysische Begriffe. Diese Einschränkung ist erst zu machen, wenn man einen
Begriff in Zusammenhängen verwendet, in denen es um Wahrheit oder Existenz
geht. Im Hinblick auf die Existenz kann ein Grund eine ,Ursache‘ genannt werden,
weil man durch sie das bezeichnet, was das Dasein – in Form einer bestimmten Prä-
dikation – von etwas – dem Subjekt – in der Welt bestimmt.21 Daraus folgt, dass die
Erkenntnis der Ursachen den Erkenntnissen von den Dingen in der Welt vorgelagert
ist, weil sie ohne sie nicht bestehen würden. Ohne eine Ursache gäbe es schlicht kein
Ding, das man in der Welt erkennen könnte.
Aus dieser begrifflichen Präzisierung heraus lässt sich genauer auf einzelne Kau-
salitätslehren eingehen. Sie lassen sich idealtypisch entsprechend der möglichen
Kausalitätsaussagen einteilen, die von ihnen behandelt werden, in singuläre oder all-
gemeine Kausalitätsaussagen. Singuläre Kausalitätsaussagen sagen einen Zusam-

18
Allen voran Christian August Crusius, Ausführliche Abhandlung von dem rechten Ge-
brauch und der Einschränkung des sogenannten Satzes vom zureichenden oder besser deter-
minierenden Grunde, 1744.
19
Wolff, Deutsche Metaphysik, § 29, S. 15 (GW I .2.2); ders., Cosmologia, §§ 18, 23, 24,
S. 16, 19, 20 (GW II 4); ders., Philosophia prima, § 887, S. 654 (GW II 3); Leibniz, Mona-
dologie, in: Die philosophischen Schriften, hrsg. v. Carl Immanuel Gerhardt, 6. Bd., 1885,
§§ 30 – 32, 35, 36 (S. 612 f.); ders., Essais de Théodicée, ibid., § 44 (S. 127).
20
Kant, Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio (1755), in:
Kants gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaf-
ten. Erste Abteilung, Band 1, 1902, S. 385 (391) (Sec. II, Prop. IV): „Was ein Subjekt in
Hinsicht auf ein Prädikat bestimmt …“.
21
Vgl. Kant, AA I, S. 394 (Sec. II, Prop. VI).
Causa efficiens 671

menhang zwischen zwei Aussagen über singuläre Weltzustände bzw. deren Bestand-
teile aus. Sie werden grammatikalisch mit „weil“ gebildet: „Weil x war, ist y gewe-
sen.“ Allgemeine Kausalitätsaussagen geben hingegen einen gesetzmäßigen Zusam-
menhang an, der sich als Konditionalaussage ausdrücken lässt: „Immer wenn etwas
der Klasse X auftritt, dann tritt auch etwas der Klasse Y auf.“ Bei beiden Arten von
Aussagen sagt man aus, dass ein y bzw. etwas der Klasse Y seine Bestimmtheit durch
ein x bzw. etwas der Klasse X erlangt, wobei y und Y Platzhalter für die Bezeichnung
des Verursachten und x bzw. X für eine Ursache sind. Jedoch ist der Gültigkeitsbe-
reich des Begriffes des Verursachten und der Ursache jeweils verschieden, denn sin-
guläre Kausalitätsaussagen beziehen sich auf Singuläres und allgemeine Kausalitäts-
aussagen auf Universales. Dementsprechend können drei Arten von Kausalitätsleh-
ren gemäß der idealtypischen Einteilung der Kausalitätsaussagen unterschieden wer-
den: Kausalitätslehren können entweder nur singuläre22 oder nur allgemeine
Kausalitätsaussagen23 oder beide zugleich24 zum Gegenstand haben.
Freilich sind diese Überlegungen sehr allgemein. Doch verdeutlichen sie, was
spätestens seit Mackies Auseinandersetzung mit Hume bekannt ist:25 Die Auseinan-
dersetzung mit Kausalitätslehren umfasst drei Analyseebenen. Kausalitätsaussagen
können zunächst logisch analysiert werden, denn Aussagen haben stets logische Ei-
genschaften, entweder von sich aus oder in Bezug zu anderen Aussagen. Entspricht
der Kausalaussage etwas in der Welt, so ist dieses Etwas einer metaphysischen Ana-
lyse zugänglich. Denn solche Analysen beschäftigen sich mit den Eigenschaften des
Seienden, sofern es in der Welt ist, d. h. mit Eigenschaften, die sich über etwas Sei-
endes in der Welt in bestimmter Weise aussagen lassen. Da die begriffliche Erkennt-
nis bzw. das Wissen davon nicht unmittelbar besteht, ist fraglich, wie und ob man
überhaupt davon Erkenntnis und Wissen erlangen kann. Antworten darauf liefern
epistemologische Auseinandersetzungen.
Alle drei Ebenen greifen ineinander, denn ohne metaphysische Untersuchung ist
nicht ersichtlich, ob einer Aussage irgendetwas in der Welt entsprechen kann. Ohne
epistemologische Untersuchung ist nicht begründet, wie man von den Dingen in der
Welt Erkenntnis oder Wissen haben kann, das Gegenstand einer Aussage ist. Ohne
logische Analyse bleibt dunkel, ob das durch die Aussagen Ausgesagte überhaupt
den Dingen in der Welt oder der Erkenntnis und dem Wissen von ihnen entsprechen
kann. Diese drei Analyseebenen sollten daher bei der Untersuchung von Kausalitäts-
lehren nicht unabhängig voneinander betrachtet werden.

22
Z. B. Russell, On the Notion of Cause, in: Proceedings of the Aristotelian Society 1912/
13, 1 – 26; Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Historisch-kritisch dargestellt, Nach-
druck der 9. Auflage 1933, 1991, S. 459.
23
Z. B. Mackie, The Cement of the Universe, 1974, S. 59 – 87.
24
Z. B. Kant, Kritik der reinen Vernunft (2. Aufl. 1787), in: Kants gesammelte Schriften,
Band 3, Berlin 1911, B 560 – 562.
25
Vgl. Mackie (Fn. 23), S. 29 – 142.
672 Sebastian Simmert und Joachim Renzikowski

IV. Einzeldinge in der Welt


Puppe spricht in ihrer Kommentierung den philosophischen Streit zwischen Sin-
gularisten und Generalisten an.26 Dem regularitätstheoretischen Ansatz, wie er auch
von Puppe favorisiert wird,27 steht die Sichtweise gemäßigter Nominalisten bzw.
Konzeptualisten wie etwa Ockham, Leibniz, Boole oder Kant28 gegenüber, dass Kau-
salgesetze bzw. -gesetzmäßigkeiten das Resultat der Interaktion verschiedener Enti-
täten untereinander bzw. miteinander bezeichnen. Das bedeutet, dass die Bestimmt-
heit von Kausalgesetzen von der Interaktion von Einzeldingen abhängt, aber die In-
teraktion von Einzeldingen nicht durch Kausalgesetze bestimmt ist. Denn Kausalge-
setze sind (nur) begriffliche Zuschreibungen, die die Interaktion zwischen
Einzeldingen verstandesgerecht aussagen.
Diese Position impliziert bestimmte metaphysische Annahmen über die Welt.
Eine Grundannahme regularitätstheoretischer Ansätze für das Bestehen von Kausal-
beziehungen ist, dass Regularitäten als Universale irgendwie geartete unveränderli-
che Eigenschaften der Welt bzw. eines ihrer essentiellen Bestandteile darstellen. Da-
durch kann die Welt als Menge aller Regularitäten definiert werden, die die Möglich-
keit des Seins determiniert, ohne dadurch zugleich dessen Wirklichkeit zu bestim-
men. In dieser Weise sind die Eigenschaften der Welt also nicht davon abhängig,
dass überhaupt irgendeine Entität in ihr gegeben ist, die die Möglichkeiten des
Seins verwirklicht. Für ihre Erkenntnis kann das aber nicht gelten, denn ohne Enti-
täten, durch die Möglichkeiten Wirklichkeit werden, blieben die Eigenschaften der
Welt unerkennbar. Somit kann man nur induktiv auf Regularitäten schließen.29
Wie spätestens seit Newtons Philosophiae Naturalis Principia Mathematica er-
sichtlich ist, lassen sich auf dieser Grundlage viele mögliche Phänomene der Verän-
derung in der Welt erfolgreich mathematisch beschreiben und erklären.30 Doch stößt
man bei dieser Grundlage auch in ihrer modernen weiterentwickelten Form, worauf
Merkel zu Recht hinweist, an Grenzen der Erklärbarkeit von Kausalbeziehungen.
Das ist immer dann der Fall, wenn man aufgrund von Regularitäten einen Kausalzu-
sammenhang zwischen verschiedenen Gliedern einer Kausalkette nicht vollständig
beschreiben kann.31 Das betrifft etwa den Transfer der physikalischen Erhaltungsgrö-
ßen von aktiv bewegbaren Körpern auf passiv bewegbare Körper zu aktiv bewegba-
ren Körpern – Merkel nennt als Beispiel das Durchschneiden der Tragseile eines Las-

26
Puppe (Fn. 4), Vor §§ 13 ff. Rn. 109.
27
Ibid., Rn. 82.
28
Vgl. Swoyer, Conceptualism, in: Strawson/Chakrabati (Hrsg.), Universals, Concepts and
Qualities. New Essays on the Meaning of Predicates, 2006, S. 131 ff.; Di Bella, Some Per-
spectives on Leibniz’s Nominalism and Its Sources, in: Di Bella/Schmaltz (Hrsg.), The Pro-
blem of Universals in Early Modern Philosophy, 2017, S. 207 ff.
29
Vgl. auch Puppe (Fn. 4), Vor §§ 13 ff. Rn. 82 m. Fn. 71.
30
Vgl. Newton, Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, Editio tertia aucta &
emendate, 1726, XIII-XV.
31
Vgl. Merkel (Fn. 1), S. 165 – 169.
Causa efficiens 673

tenaufzugs, der alsdann abstürzt und einen anderen erschlägt – oder mentale Verur-
sachungen.32 Diese Probleme bestehen, weil hierbei die Veränderung der Dinge in
einer vordefinierten Welt passieren,33 da die Welt unabhängig von den Dingen zu
denken und somit selbst unveränderlich ist. In einer solchen Welt können Kausalket-
ten zwischen den Dingen nur bestehen, wenn sie durch Regularitäten als Relata sin-
gulärer Kausalbeziehungen definit sind. Daraus folgt, dass überhaupt nur solche ver-
änderlichen Dinge in der Welt sein können, die durch Regularitäten definit sind. Mer-
kels Beispiele enthalten unmögliche Kausalbeziehungen für solche Welten, weil sie
lückenhafte Kausalketten exemplifizieren.
Geht man hingegen davon aus, dass die aktuale Welt mit allen aktual eineindeutig
bestimmten Einzeldingen identisch ist, ist jede Eigenschaft der Welt auf die Beschaf-
fenheit der Einzeldinge selbst zurückzuführen. Denn die Identität der Welt konstitu-
iert sich durch die eineindeutig bestimmten Einzeldinge. Eineindeutig bestimmt sind
nur solche Einzeldinge, die sowohl artspezifische Eigenschaften aufweisen als auch
zu allen anderen Einzeldingen durch relationale Eigenschaften bestimmt sind. Denn
erst dann sind sie von allen anderen Einzeldingen unterschieden und zugleich unter
allen Einzeldingen identifizierbar.
Ein solches Verständnis von Einzeldingen impliziert bestimmte Annahmen über
die Möglichkeit von Veränderung. Sofern ein Einzelding artspezifische Eigenschaf-
ten aufweist, ist seine Veränderbarkeit bei Beibehaltung seiner Artzugehörigkeit be-
grenzt. Denn nur solche Veränderungen können stattfinden, die durch die jeweiligen
artspezifischen Eigenschaften der Einzeldinge möglich sind. So wird eine Gans auf-
grund ihrer körpereigenen Merkmale fliegen können, während einem Bär dies auf-
grund seiner körpereigenen Merkmale nicht möglich ist. Veränderungen, die mit den
aktualen artspezifischen Eigenschaften eines Einzeldings nicht vereinbar sind, müs-
sen folglich zum Wechsel der Artzugehörigkeit des Einzeldings führen. Denn sofern
ein Einzelding eine Veränderung vollzieht, die mit seiner Artzugehörigkeit nicht ver-
einbar ist, ist dies nur möglich, sofern es einer anderen Art zugehörig wird. Damit
kann letztlich nicht mehr von ein und demselben Einzelding gesprochen werden, son-
dern von zwei Einzeldingen, obwohl die relationalen Eigenschaften identisch sind.
Schließlich lassen sich beide entsprechend ihrer Artzugehörigkeit unterscheiden. So
kann zwischen einem Menschen auf einem Bett und seiner Leiche auf demselben
Bett unterschieden werden, obwohl der Mensch und die Leiche hinsichtlich ihrer Be-
stimmtheit zum Bett identisch sind.
Besteht die Welt nur aus Einzeldingen, ist Veränderung nur durch andere Einzel-
dinge möglich. Veränderung umfasst dabei nur artspezifische oder relationale Eigen-
schaften von Einzeldingen und kann nur aufgrund dieser Eigenschaften bestehen.
Damit müssen Kausalbeziehungen auf die artspezifischen Eigenschaften von Einzel-

32
Ibid., S. 166 – 168.
33
,Welt‘ wird hier im üblichen Sprachgebrauch der Physik verstanden, nämlich als ma-
thematisch-physikalistisches Modell, welches auf der Grundlage vordefinierter Begriffe und
Regeln zur Verknüpfung dieser Begriffe die Beschreibung von Phänomenen ermöglicht.
674 Sebastian Simmert und Joachim Renzikowski

dingen zurückgeführt werden. Schließlich sagt eine Kausalbeziehung eine bestimm-


te Art der Relation zwischen Einzeldingen aus, die nicht bestehen könnte, wenn sie
keine artspezifischen Eigenschaften aufweisen würden. Ein Einzelding ohne artspe-
zifische Eigenschaften wäre formal unbestimmt und könnte damit nicht einmal als
ein mögliches Seiendes gedacht werden.

V. Kausalität in der Welt voll Einzeldinge


Wie bereits erwähnt, bezeichnet Kausalität einen Zustand von etwas in der Welt
bzw. der Welt selbst, der durch das bestimmt ist, was man Ursache nennt. Dabei wird
durch eine Ursache das bezeichnet, von dem die Anregung zum Tätigsein ausgeht.
Da das Tätigsein identisch mit der artspezifischen Seinsweise eines Einzeldings in
der Welt ist, ist unter Kausalität der Zustand der artspezifischen Seinsweise eines
Einzeldings in der Welt selbst zu verstehen, wie er aufgrund von Ursachen besteht.
Eine Kausalbeziehung zwischen Einzeldingen kann damit nur dann wahrheitsdefinit
ausgesagt werden, wenn die Einzeldinge ihre artspezifischen Eigenschaften aufwei-
sen. Damit scheinen Ursachen artspezifische Eigenschaften von Einzeldingen zu
sein,34 sofern sie als solche in der Welt sind. Andernfalls bestünde kein Einzelding
in der ihm artspezifischen Weise in der Welt und somit könnten auch keine Kausal-
beziehungen zwischen bestimmten Einzeldingen wahrheitsdefinit ausgesagt werden.
Es könnte schlicht kein vollkommen unterscheidbares und identifizierbares Einzel-
ding in der Welt gefunden werden, welches ein Referenzobjekt einer Aussage sein
könnte. Kurz: Erst aufgrund der Ursache hat ein Einzelding eine Identität in der
Welt, die ausschließlich ihm zukommt. Deshalb sind die artspezifischen Eigenschaf-
ten eines Einzeldings singuläre Eigenschaften, auch wenn sie der Mensch aufgrund
seines endlichen Verstandes zumeist durch Artbegriffe und somit als Universale zu
erfassen versucht.35
Auf den ersten Blick erscheinen diese Ausführungen widersprüchlich zu sein,
denn sie scheinen die Annahme zu implizieren, dass die Einzeldinge selbstursächlich
für ihre artspezifischen Seinsweisen sind, schließlich ist eine ihrer artspezifischen
Eigenschaften die Ursache für ihre jeweilige artspezifische Seinsweise. Dies
würde die Gegebenheit der Ursache voraussetzen, bevor das Einzelding seine artspe-
zifische Seinsweise aufweist, aber zugleich kann die Ursache erst dann gegeben sein,
wenn ein Einzelding in artspezifischer Weise ist. Dieser scheinbare Widerspruch
lässt sich auflösen, wenn man die artspezifische Seinsweise der Einzeldinge nicht
losgelöst voneinander betrachtet. Dann lässt sich sagen, dass die artspezifische
Seinsweise eines Einzeldings aufgrund des Tätigseins eines anderen Einzeldings be-
steht, indem das letztere das erstere kausiert. Kausieren bedeutet, dass ein Einzelding
bestimmte Umstände hervorbringt oder bereitstellt, sodass ein Einzelding in artspe-

34
Vgl. O’Connor, Person & Causes: The Metaphysics of Free Will, 2000, S. 73.
35
Entgegen O’Connor, ibid., S. 73.
Causa efficiens 675

zifischer Seinsweise sein kann. Indem die Eigenschaft ,Ursache-sein-zu-können‘ ak-


tualisiert wird, wird ein Einzelding in einen kausierenden Zustand versetzt, wobei die
Bestimmtheit dieses Zustands maßgeblich durch die Umstände bedingt ist, innerhalb
derer das Einzelding bestimmt sein kann.36 Denn wie ein Einzelding aktual artspe-
zifisch ist oder sein kann, hängt unter anderem davon ab, inwiefern die Umstände, in
denen es sich befindet, sein artspezifisches Sein ermöglichen. So mag ein Mensch im
Winter in einem See schwimmen gehen wollen. Doch wird das nicht funktionieren,
wenn der See vollständig zugefroren ist.
In diesem Sinne lässt sich Kausalität als ein Zustand von Einzeldingen verstehen,
der in zweierlei Hinsicht bestimmt ist. So ist er zum einen durch die Eigenschaft eines
Einzeldings ,Ursache-sein-zu-können‘ bestimmt wie auch durch die Umstände, die
die artspezifische Seinsweise eines Einzeldings ermöglichen. Dabei liegt die Eigen-
schaft ,Ursache-sein-zu-können‘ nur dann aktual vor, wenn auch die Umstände vor-
liegen, dass ein Einzelding in einer seiner artspezifischen Seinsweisen sein kann. In-
sofern ist für die artspezifische Seinsweise eines Einzeldings beides als Ursache an-
zusehen.
Betrachtet man diese Ausführungen philosophiegeschichtlich, so ist klar, dass es
sich bei diesen Ursachen um causae efficientes handelt, also nicht lediglich entspre-
chend einem verbreiteten Irrtum um eine Wirkkraft.37 Ein Blick in die Logique de
Port-Royal der Jansenisten Arnauld (1612 – 1694) und Nicole (1625 – 1695) gibt je-
doch Aufschluss, dass man sehr viel mehr unter einer causa efficiens zu verstehen hat.
Insgesamt verzeichnen die beiden Jansenisten 23 causae efficientes.38 Darunter fällt
alles, was ein Ding bzw. eine Entität als solches hervorbringt bzw. erkennbar macht.39
Dieses Verständnis einer causa efficiens ist also nicht gleichzusetzen mit dem Ver-
ständnis einer Kraft, wie sie etwa seit Newton Eingang in den naturwissenschaftli-
chen Diskurs gefunden hat. Denn ,Kraft‘ ist ein abstrakter physikalischer Begriff, der
dazu dient, die Veränderungen eines Körpers im Rahmen eines physikalischen Mo-
dells zu beschreiben.40 Diese Beschreibung besteht in der Angabe des mathemati-
schen Verhältnisses von Massewert und Beschleunigungswert. Sie ist folglich rein
begrifflicher Natur.

36
S. Dretske, Explaining Behavior. Reasons in a World of Causes, 1991, S. 39 f.
37
So aber Puppe (Fn. 4), Vor §§ 13 ff., Rn. 81; Hilgendorf, Fragen der Kausalität bei
Gremienentscheidungen am Beispiel des Lederspray-Urteils, NStZ 1994, 561 (564).
38
Arnauld/Nicole, Logique de Port-Royal, 1854 [1662], S. 216 f.
39
Ibid., S. 216. Es sei darauf hingewiesen, dass sich das Wort produit im modernen Fran-
zösisch zwar mit ,hervorbringen‘ übersetzen lässt, entsprechend dem zeitgenössischen
Sprachgebrauch aber seit 1643 als ,erkennbar machen‘ bzw. ,erfahrbar machen‘ übersetzbar
ist, vgl. Wartburg, Französisches etymologisches Wörterbuch : Eine Darstellung des galloro-
manischen Sprachschatzes, Bd. 9: Palacabilis-Pyxis, 1959, S. 424.
40
Vgl. Mahnken, Lehrbuch der Technischen Mechanik – Statik: Grundlagen und Anwen-
dungen, 2012 , S. 13 – 17.
676 Sebastian Simmert und Joachim Renzikowski

VI. Was sagt eine Kausalitätsaussage aus?


In ihrer Antrittsvorlesung in Cambridge verweist Anscombe darauf, dass „causa-
lity consists in the derivativeness of an effect from its causes. This is the core, the
common feature, of causality in its various kinds. Effects derive from, arise out
of, come of, their causes.“41 Entsprechend dem Verständnis der causa efficiens ist
eine Wirkung (effect) identisch mit der artspezifischen Seinsweise eines Einzeldings.
Die Möglichkeiten eines Einzeldings, in artspezifischer Weise zu sein, sind durch
seine artspezifischen Eigenschaften bestimmt. Welche Möglichkeiten aktual wer-
den, sodass die artspezifische Seinsweise eines Einzeldings bestimmt ist, ist durch
die causa efficiens eines Einzeldings in Hinsicht auf die causae efficientes aller an-
deren Einzeldinge definit. Also lässt sich Anscombe zufolge bei der Kenntnis der
möglichen artspezifischen Eigenschaften eines Einzeldings unter Berücksichtigung
bestimmter Umstände ableiten, welche artspezifischen Seinsweisen es aktualisieren
könnte. Mit einer retrospektiven Sichtweise auf eine aktualisierte artspezifische
Seinsweise könnte indes aus der Kenntnis der möglichen artspezifischen Eigenschaf-
ten des Einzeldings sowie der Umstände, in denen es sich befunden hat, nur abgeleitet
werden, was seine artspezifische Seinsweise ermöglicht hat.
Demnach kann durch eine Kausalitätsaussage zweierlei ausgesagt werden. Ent-
weder wird ausgesagt, was die artspezifische Seinsweise eines Einzeldings ermög-
licht hat oder wodurch die Aktualisierungen von möglichen artspezifischen Seins-
weisen eines Einzeldings ermöglicht werden könnten. Im ersten Fall wird eine Aus-
sage über die Art und Weise getroffen, wie bestimmte Einzeldinge durch ihre artspe-
zifische Seinsweise die Aktualisierung der artspezifischen Eigenschaften eines
Einzeldings bedingt haben, sodass es in artspezifischer Weise sein konnte. Das
hängt maßgeblich von der Eigenschaft eines jeden Einzeldings ,Ursache-sein-zu
können‘ ab, da ohne diese Eigenschaft überhaupt kein Einzelding artspezifisch
sein würde und somit auch nichts über die artspezifische Seinsweise eines bestimm-
ten Einzeldings ausgesagt werden könnte. Im zweiten Fall sagt man indes nur etwas
über die Möglichkeit aus, wie bestimmte Einzeldinge durch ihre artspezifische
Seinsweise die Aktualisierung der artspezifischen Eigenschaften eines Einzeldings
bedingen könnten.

VII. Die Begründung von Kausalurteilen


Entgegen Puppes Einwand42 hat Hume in seiner berühmten „Untersuchung über
den menschlichen Verstand“ aus dem Jahr 1748 mitnichten gezeigt, dass der Begriff
der causa efficiens zirkelschlüssig ist. Die entsprechende Passage lautet wörtlich: „It
appears that, in single instances of the operation of bodies, we never can, by our ut-
41
Anscombe, Causality and Determination, in: Sosa/Tooley (Hrsg.), Causation, 1993, S. 88
(92).
42
Puppe (Fn. 4), Vor §§ 13 ff. Rn. 81.
Causa efficiens 677

most scrutiny, discover anything but one event following another, without being able
to comprehend any force or power by which the cause operates, or any connexion
between it and its supposed effect. (…) So that, upon the whole, there appears
not, throughout all nature, any one instance of connexion which is conceivable by
us. All events seem entirely loose and separate. One event follows another; but
we never can observe any tie between them. They seem conjoined, but never connec-
ted.“43 Die kausale Verknüpfung zweier Ereignisse kann nicht beobachtet („obser-
ve“) werden, ist also kein Gegenstand der Erfahrung, sondern beruht auf einer Vor-
stellung („idea“).44 Über die nähere Ausgestaltung dieser ,Idee‘ macht sich Hume
keine Gedanken, weil er es ablehnt, über den Begriff ,Kausalität‘ a priori überhaupt
nachzudenken.45 Humes Kritik richtet sich daher nicht, wie Puppe meint, nur gegen
die Vorstellung der causa efficiens, sondern gegen jede Kausalitätstheorie über-
haupt.46
Interessant ist aber eine weitere Bemerkung Humes. Er meint nämlich, dass wir
aus der Häufigkeit des (aus seiner Sicht zufälligen) zeitlichen und räumlichen Zu-
sammentreffens von Ereignissen dazu neigen, das frühere Ereignis die Ursache
und das spätere Ereignis die Wirkung zu nennen. Diese Redeweise beruhe auf
dem Glauben an die Gleichförmigkeit der Natur.47 Oder m.a.W.: Die Vorstellung
einer gewissen Gleichförmigkeit der Einzeldinge in der Welt ist eine metaphysische
Annahme, die eine notwendige Voraussetzung für die Möglichkeit von Erkenntnis
und Erfahrung ist.48
Diese metaphysische Voraussetzung weist allen möglichen Gesetzmäßigkeiten
ihren Platz in der Begründung von Kausalurteilen zu: Sie bezeichnen die Anwen-
dungsbedingungen, unter denen eine Kausalaussage auf Einzeldinge in der Welt be-
zogen werden kann. Das erste, erkenntnistheoretische, Problem besteht hierbei darin,
wie generelle Sätze, in denen Begriffe auf verschiedene Weise miteinander verknüpft
werden, auf Einzeldinge in der Welt angewendet werden können. Während es näm-
lich in der Wirklichkeit immer um Einzelnes geht, sind Begriffe zwangsläufig allge-
mein-abstrakt, weshalb nur ein gesetzmäßiger Zusammenhang zwischen Ereignisty-
pen formuliert werden kann. Üblicherweise wird ein generelles Gesetz benannt,

43
Hume, An Enquiry Concerning Human Understanding (1748), Nachdruck der Ausgabe
von 1777, 3. Aufl. 1975, S. 73 (Hervorh. hier).
44
Ibid., S. 73 f.
45
Ibid., S. 27: „I shall venture to affirm, as a general proposition, which admits of no
exception, that the knowledge of this relation is not, in any instance, attained by reasonings a
priori.“
46
Vgl. hierfür auch: Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und
Analytischen Philosophie. Band I. Erklärung. Begründung. Kausalität. Zweite, verbesserte
und erweiterte Auflage, 1983, S. 512 f.
47
Hume, Enquiry, S. 78.
48
Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781), in: Kants gesammelte Schriften, Band 4,
1911, A 112: Ursache bezeichnet „eine Synthesis (dessen, was in der Zeitreihe folgt, mit
anderen Erscheinungen) nach Begriffen (…), die ihre Regel a priori hat.“
678 Sebastian Simmert und Joachim Renzikowski

unter das ein konkreter Geschehensablauf subsumiert werden kann.49 Hierbei handelt
es sich jedoch nicht um einen gültigen Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere.
Gewissheit kann allein bei universalen Urteilen durch eine Analyse des Subjektterms
erreicht werden, während die Wahrheit von singulären synthetischen Urteilen wie
dem Kausalurteil nicht logisch bewiesen werden kann. Der Subsumtionsschluss
kann daher nur eine Hypothese mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit generieren,
deren Grad sich aus einem Vergleich des Inhalts der Aussage mit der konkreten Vor-
stellung des in Bezug genommenen Einzeldings ergibt. Stimmen Aussage und Vor-
stellung in dem Sinn überein, dass vernünftige und nicht bloß auf denktheoretischen
Möglichkeiten gegründete Zweifel nicht mehr aufkommen50, dann kann die Aussage
als wahr behandelt werden; es besteht – subjektive – „praktische Gewissheit“.51
Allerdings können dabei nicht beliebige Regularitäten herangezogen werden. Ein
zweites Problem liegt in der Unterscheidung von Verursachung und Regularität. Jede
Bewegung und jede Veränderung setzt einen bestimmten Ausgangszustand voraus,
und die bloße Beschreibung des Ausgangszustands besagt über die Verursachung
noch gar nichts. So liegt etwa die Ursache dafür, dass sich der Mond in einer kreis-
förmigen Bahn um die Erde dreht, nicht in dem Ort, an dem er sich auf dieser Bahn
vor fünf Stunden befunden hat, sondern in der Schwerkraftwirkung der Erde. Nur
solche Gesetzmäßigkeiten sind also für Kausalurteile relevant, die eine causa effici-
ens ausweisen. Darauf läuft letztlich auch Puppes Kritik am hier vorgestellten Kon-
zept hinaus. Sie verweist auf ein berühmtes Beispiel von Mackie: Wenn in Manches-
ter um sechs Uhr die Sirenen heulen, legen die Arbeiter in London ihre Arbeit nieder
und gehen nach Hause.52 In der Tat sprechen wir hier nicht von Kausalität, aber wenn
„ein Gesetz, wonach die Arbeiter von London auf die Sirene von Manchester reagie-
ren, (…) nicht zu allgemeinen Gesetzen der Akustik [passt]“, wie Puppe zutreffend
meint,53 dann referiert sie auf eine causa efficiens, an der es in Mackies Beispiel fehlt.
Warum sollte es sonst darauf ankommen, dass die Arbeiter die Sirene hören?54
49
Vgl. Puppe (Fn. 4), Vor § 13 Rn. 82; sog. „Hempel-Oppenheim-Schema“, s. Hempel,
Studies in the Logic of Explanation, in: Philosophy of Science 15 (1948), S. 135 ff.
50
Vgl. BGH, NStZ 1988, 236; NStZ-RR 2008, 350.
51
Das damit verbundene Problem der Anwendung von Begriffen auf einen Sachverhalt
wird seit der Aufklärung unter dem Stichwort „species facti“ diskutiert, näher dazu Hruschka,
Die species facti und der Zirkel bei der Konstitution des Rechtsfalles in der Methodenlehre des
18. Jahrhunderts, in: Schröder (Hrsg), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur
Romantik, 2001, S. 203 ff.; Aichele, Enthymematik und Wahrscheinlichkeit. Die epistemolo-
gische Rechtfertigung singulärer Urteile in Universaljurisprudenz und Logik der deutschen
Aufklärung: Christian Wolff und Alexander Gottlieb Baumgarten, Rechtstheorie 42 (2011),
495 ff..
52
Mackie (Fn. 23), S. 83 ff.
53
Puppe (Fn. 4), Vor §§ 13 ff. Rn. 82 Fn. 71.
54
Bemerkenswerterweise behandelt Aristoteles den Ratschlag als causa efficiens, s.
Fn. 15. Dabei wird – erneut – deutlich, dass aQt_a mehr bedeutet, als ,Ursache‘ in unserem
heutigen Sprachgebrauch, nämlich ,Grund‘. Heutzutage würden wir von einem ,Handlungs-
grund‘ sprechen. Zur Erklärung von Handlungen durch Gründe s. Renzikowski, Ist psychische
Kausalität dem Begriff nach möglich?, in: Festschrift für Puppe, 2011, S. 201 (212 ff.).
Causa efficiens 679

Die letzte Schwierigkeit, die hier angesprochen werden soll, besteht in der Art der
anzuwendenden Gesetze. Eben wurde schon geklärt, dass nur solche Regularitäten
herangezogen werden dürfen, mit denen ein praktischer Schluss auf eine causa effi-
ciens möglich ist. Die Schwierigkeiten, entsprechende Kausalgesetze zu formulie-
ren,55 sollen hier dahinstehen; wir haben halt nichts anderes als derartige Kausalver-
mutungen. Auch ein Rückgriff auf statistische Gesetze ist dabei nicht von vornherein
ausgeschlossen.56 Allerdings ist zunächst darauf hinzuweisen, dass aus einer Wahr-
scheinlichkeitsaussage über Ereignistypen kein singuläres Urteil abgeleitet werden
kann,57 sondern bestenfalls dieselbe Wahrscheinlichkeit für das einzelne Ereignis.
Eine probabilistische Verursachung ist schlicht nicht möglich. Freilich mag man
damit im besonderen Fall ein Kausalurteil begründen, wenn alle denkbaren Alterna-
tiven ausgeschlossen werden können. Auch dann behauptet man, mit welchen zusätz-
lichen Annahmen auch immer, eine causa efficiens. So ist der BGH im Lederspray-
Urteil verfahren.58 Eine Zurechnung nach Wahrscheinlichkeitsgesetzen unter der
Voraussetzung nicht vollständig determinierter Prozesse, für die Puppe plädiert,59
ist nicht dasselbe wie ein Urteil über die wahrscheinliche Abfolge von zwei Ereig-
nissen, und insoweit greift der Grundsatz „in dubio pro reo“ ein.60
Man kann also durchaus angeben, wann man ein bestimmtes Ereignis als causa
efficiens für ein anderes, dadurch bewirktes Ereignis ansehen darf.61

VIII. Kausalaussagen über das menschliche Handeln?


Bei Menschen setzt man die Eigenschaft ,Ursache-sein-zu können‘ für gewöhn-
lich mit dem Willen gleich. Denn durch ihn bestimmt ein Mensch im Rahmen seiner
Möglichkeit seine artspezifische Seinsweise und damit auch die artspezifische Seins-
weise anderer Einzeldinge, sofern die Aktualisierung ihrer artspezifischen Eigen-
schaften durch die Bestimmtheit seines Willens ermöglicht ist.
55
S. nur Cartwright, How the Laws of Physics Lie, 1983; näher dazu Keil, Handeln und
Verursachen, 2000, S. 151 ff.
56
Vgl. Puppe (Fn. 4), Vor § 13 Rn. 135; s. ferner Hilgendorf, Der „gesetzmäßige Zusam-
menhang“ im Sinne der modernen Kausallehre, Jura 1995, S. 514 (519 f.); Dencker, Kausa-
lität und Gesamttat, 1996, S. 36 ff.; Hoyer, Kausalität und/oder Risikoerhöhung, in: Rogall
u. a. (Hrsg.), Festschrift für Rudolphi, 2004, S. 95 (102).
57
S. etwa Davis, Probabilistic Theories of Causation, in: Fetzer (Hrsg.), Probability and
Causality, 1988, S. 133 (145); Menzies, Probabilistic Causation and the Preemption Problem,
Mind 105 (1996), S. 85 ff.; weitere Einwände bei Keil (Fn. 54), S. 213 ff.
58
BGHSt 37, 106 (111 ff.); zustimmend etwa Hilgendorf, Strafrechtliche Produzenten-
haftung in der „Risikogesellschaft“, 1993, S. 121 ff.; auf die damit verbundenen Schwierig-
keiten hat Puppe, Naturgesetze vor Gericht, JZ 1994, 1149 f. hingewiesen.
59
Puppe (Fn. 4), Vor §§ 13 ff. Rn. 135 ff.
60
Das verkennt Puppe in ihrer Erwiderung (Fn. 4), Vor §§ 13 ff. Rn. 147, weil sie nicht
zwischen Verursachung und bloßer Sukzession unterscheidet.
61
Dem Einwand von Puppe (Fn. 4), Vor §§ 13 ff. Rn. 81 wird damit Rechnung getragen.
680 Sebastian Simmert und Joachim Renzikowski

Versteht man unter einer menschlichen Handlung die Ermöglichung der Aktua-
lisierung von artspezifischen Eigenschaften aufgrund des Willens eines Menschen,
sagt eine Kausalaussage über menschliche Handlung aus, wie aufgrund der Aktua-
lisierung bestimmter artspezifischen Eigenschaften des Menschen durch seinen Wil-
len dieser selbst in artspezifischer Weise war, welche Umstände diese Aktualisierung
durch seinen Willen ermöglicht haben und welche artspezifischen Seinsweisen von
Einzeldingen er dadurch ermöglicht hat.
Dass hierbei Kausalaussagen keine endlosen temporalen Kausalketten aussagen
können,62 ist leicht zu sehen. Denn letztlich sagt man nach dem geschilderten Ver-
ständnis allein etwas über die Bestandteile aus, die die Aktualität eines bestimmten
Ist-Zustand der Welt bzw. eines Teils der Welt ermöglicht haben.63 Inwiefern für die
Gegebenheit dieser Bestandteile andere Ist-Zustände der Welt innerhalb einer be-
stimmten Abfolge vorausgesetzt werden müssen, ist eine vollkommen andere
Frage. Ihre Antwort zielt darauf ab, die Ordnung der Abfolge von Ist-Zuständen
der Welt zu erklären bzw. zu erklären, inwiefern ein Ist-Zustand selbst eine bestimm-
te Ordnung einer Abfolge umfassen kann; nicht aber, wie die Bestimmtheit der Ist-
Zustände der Welt erklärt werden kann. Nach dem hier vorgestellten Weltverständnis
erfolgt durch eine Kausalaussage genau letzteres, während man ersteres wohl eher
durch Temporalaussagen im Sinne der Zeitlogik Priors leisten würde.64

IX. Schluss
Der hier vorgestellte Begriff der causa efficiens hat in Puppes Augen den Nachteil,
dass er die Kausalität durch Informationen, durch Anwendung von Rechtsverfahren,
bei Verhinderung rettender Kausalverläufe oder von Unterlassungen nicht erklären
kann.65 Im Gegenteil ist es ein Vorzug, zwischen verschiedenen Arten von ,Gründen‘
unterscheiden zu können, statt alle unter einen Unbegriff zu mengen.

62
So aber die h.L., vgl. statt vieler Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, Vor
§§ 13 ff. Rn. 77 m.w.N.
63
S. auch die Bestimmung der Ursache als conditio per quam von Kindhäuser, Zur Kau-
salität im Strafrecht, in: Albrecht u. a. (Hrsg.), Festschrift für Kargl, 2015, S. 253 ff., insbes.
S. 266 ff.; ders., Verursachen und Bedingen, in: Stuckenberg/Gärditz (Hrsg.), Strafe und
Prozess im freiheitlichen Rechtsstaat. Festschrift für Paeffgen, 2015, S. 129 ff., insbes. S. 136.
64
S. einführend Prior, Time and Modality, 1957, S. 8 – 28 sowie ders., Papers on Time and
Tense, 1968. S. 1 – 14, 116 – 134.
65
Puppe (Fn. 4), Vor §§ 13 ff. Rn. 81.
Über einige Probleme des Kausalitätsbegriffs im Strafrecht
und Merkels Lehren dazu
Von Ingeborg Puppe

I. Einleitung
In seinem Aufsatz über einige vernachlässigte Probleme des Kausalitätsbegriffs
im Strafrecht und Puppes Lehren dazu1, diskutiert Merkel drei Kausalitätsbegriffe,
den kontrafaktischen, also die Lehre von der notwendigen Bedingung, den sog.
NESS- oder INUS-Test, also die Lehre von der Ursache als notwendiger Bestandteil
einer hinreichenden Mindestbedingung und den physikalistischen Ursachenbegriff,
wonach Ursache der „Transfer einer physikalischen Erhaltungsgröße“, also Transfer
von Energie oder Masse ist. Sein Fazit ist, dass keiner dieser Begriffe alle Anforde-
rungen an einen Kausalitätsbegriff erfüllt und wir daher einen kausalitätstheoreti-
schen Pluralismus anwenden müssen, also einmal diesen, ein andermal jenen Kau-
salitätsbegriff.2 Eine solche Lösung des Problems kommt nur dann in Betracht, wenn
wir zugleich allgemeine Regeln darüber angeben können, wann wir den einen und
wann wir den anderen Begriff anwenden.
Es sind nun zwei kontrafaktische Kausalitätsbegriffe zu unterscheiden, ein singu-
laristischer und ein regularistischer. Merkel diskutiert nur den letzteren, also dieje-
nige Version der Conditio-sine-qua-non-Formel, wonach anhand allgemeiner Kau-
salgesetze zu entscheiden ist, ob eine Tatsache (nach anderer Auffassung ein Ereig-
nis) wirklich notwendige Bedingung einer anderen Tatsache (bzw. eines anderen Er-
eignisses) ist. Die Einwände, die Merkel gegen diesen Begriff erhebt, beziehen sich
auf das Problem, dass es Bedingungssätze gibt, die offensichtlich keine Kausalgeset-
ze sind, sodass sich die Frage stellt, wie wir solche Bedingungsätze von den Kausal-
gesetzen unterscheiden und aussondern können. Da Merkel den gleichen Einwand
gegen die NESS-Theorie erhebt, können wir seine Kritik an beiden Theorien zusam-
menfassen.

1
Merkel, Über einige vernachlässigte Probleme des Kausalitätsbegriffs im Strafrecht und
Ingeborgs Lehren dazu, Puppe-FS (2011), 150 ff.
2
Merkel (Fn. 1), 169.
682 Ingeborg Puppe

II. Kausale und nicht kausale Regularitäten


Seine These, dass wir keine Möglichkeit haben, Kausalgesetze von anderen Re-
gularitäten zu unterscheiden, obwohl wir intuitiv erkennen, dass bestimmte Regula-
ritäten keine Kausalgesetze sind, demonstriert Merkel zunächst an vier Beispielen:

1. Wäre gestern nicht Freitag gewesen, dann wäre heute nicht Samstag.
Dieser Satz bezeichnet eine nach allgemeinen Regeln notwendige Bedingung für
die Tatsache, dass heute Samstag ist. Trotzdem wird niemand behaupten, dass die
Tatsache, dass gestern Freitag war, die Tatsache, dass heute Samstag ist verursacht
hat.3

2. Wäre Sokrates nicht gestorben, dann wäre Xanthippe nicht zur Witwe geworden.
Auch dieser Satz bezeichnet eine Bedingungsbeziehung zwischen Sokrates Tod
und dem Witwewerden der Xanthippe, trotzdem wäre die Behauptung befremdlich,
dass der Tod des Sokrates die Ursache für den Witwenstand der Xanthippe ist.4

3. Wäre der Schlüssel nicht von mir gedreht worden, dann hätte ich die Tür nicht
aufgeschlossen.
Nach Merkel ist das Drehen des Schlüssels zwar notwendige Bedingung für das
Ausschließen der Tür, „trotzdem ist mein Drehen des Schlüssels nicht die Ursache
meines Aufschließens der Tür“.5

4. Wäre das Barometer nicht abrupt und stark gefallen, so hätte es kein Unwetter
gegeben.6
Auch dieser Bedingungssatz ist richtig, aber es wäre falsch, daraus zu schließen,
dass das Fallen des Barometers die Ursache des Sturmes war. Beide haben vielmehr
eine gemeinsame Ursache, nämlich den plötzlichen Abfall des Luftdrucks.
Gegen die NESS-Theorie, also den Begriff der Ursache als notwendiger Bestand-
teil einer hinreichenden naturgesetzlichen Bedingung erhebt Merkel nun noch drei
weitere Einwände.
1. Immer wenn Wasserstoff und Sauerstoff in hinreichender Menge und im Verhält-
nis H2O zusammenkommen, entsteht ein Stoff mit den Makroeigenschaften des
Wassers.

3
Merkel (Fn. 1), 157.
4
Merkel (Fn. 1), 157.
5
Merkel (Fn. 1), 158.
6
Merkel (Fn. 1), 158.
Probleme des Kausalitätsbegriffs im Strafrecht und Merkels Lehren dazu 683

Trotzdem hält es Merkel für unsinnig, zu behaupten, „die Mikrostruktur H2O ver-
ursache das Wasser (permanent aufs Neue?). Wohl aber konstituiert, determiniert,
bedingt sie es.“7
Naturgesetzliche Korrelationen erlauben nicht nur einen Schluss von der Ursache
auf die Wirkung, sondern unter bestimmten Bedingungen auch einen Schluss von der
Wirkung auf die Ursache, sodass die Wirkung die Ursache erklärt und nicht umge-
kehrt. Als Beispiel dient ihm folgender Satz:
2. „Ein Turm der Höhe H wirft nachmittags um 16:00 Uhr im Sonnenschein einen
Schatten der Länge L.“ Messen wir um 16:00 Uhr an einem bestimmten Tag den
Schatten des Turms, so können wir mithilfe physikalischer, astronomischer und
mathematischer Gesetze aus der gemessenen Länge des Schattens die Höhe des
Turms errechnet.8

III. Tatsachen oder „konkrete“ Ereignisse als Ursachen


Das seiner Ansicht nach wohl schlagendste Argument gegen die Lehre von der
kausalen Erklärung mithilfe allgemeiner Kausalgesetze diskutiert Merkel an folgen-
dem Beispiel: Ein Autofahrer fährt auf einer Straße, auf der 90 km/h als Höchstge-
schwindigkeit zugelassen ist, mit einer Geschwindigkeit von 70 km/h. Er kommt von
der Fahrbahn ab und verursacht einen Unfall. Da auf der Straße durch Regen und her-
abgefallene Blätter ein schmieriger Belag entstanden ist, wäre maximal eine Ge-
schwindigkeit von 50 km/h angemessen, also nach § 9 StVO erlaubt gewesen.
Man könne nun zwei verschiedene Erklärungen des Unfalls formulieren, die das glei-
che „Ereignis“ beschreiben, von denen aber nur die eine richtig, die andere aber un-
sinnig ist.
Die richtige lautet:
A hat den Unfall dadurch verursacht, dass er 20 km/h schneller gefahren ist, als
wegen des schmierigen Straßenbelages erlaubt war.
Die unsinnige lautet:
A hat den Unfall dadurch verursacht, dass er 20 km/h langsamer gefahren ist, als
auf dieser Strecke generell erlaubt war.
Mit dieser Argumentation möchte ich mich sofort auseinandersetzen, weil sie von
gänzlich anderer Art ist, als die übrigen, die miteinander zusammenhängen. Außer-
dem möchte ich es vermeiden, diesen gesamten Gedankengang nochmals zu wieder-
holen.

7
Merkel (Fn. 1), 161.
8
Merkel (Fn. 1), 162, dazu auch Töpel, Hinreichende Mindestbedingung, Puppe-FS 289
(292 f.).
684 Ingeborg Puppe

Merkel bezeichnet hier als Ursachen nicht Tatsachen, sondern Ereignisse und be-
hauptet, der Ausdruck, A ist 20 km/h schneller gefahren, als unter den gegebenen
Umständen erlaubt war, und der Ausdruck, A ist 20 km/h langsamer gefahren, als
auf der Strecke generell erlaubt war, bezeichnen das gleiche Ereignis, nämlich
„A‘s konkretes Fahren“ und seien daher in der kausalen Erklärung des Unfalls ge-
geneinander austauschbar.9 Das erinnert mich an den Begriff vom Erfolg in seiner
ganz konkreten Gestalt, mit dessen Hilfe die Lehre von der notwendigen Bedingung
Ersatzursachen ausscheiden will.10 Was ist das Ereignis, das sowohl durch den Satz A
ist 20 km/h langsamer gefahren, als auf der Strecke generell zulässig, als auch durch
den Satz, A ist 20 km/h schneller gefahren als in der Situation zulässig, gleicherma-
ßen bezeichnet wird? Was gehört zu diesem Ereignis, beispielsweise auch die Tat-
sache, dass A während der Fahrt schwarze Halbschuhe trug?11 Die Tatsache, dass
A 20 km/h langsamer gefahren ist, als auf dieser Strecke generell erlaubt, ist für
die Erklärung des Unfalls gänzlich uninteressant. Man kann die Tatsache, dass A
20 km/h schneller gefahren ist, als in der konkreten Situation angemessen, in der kau-
salen Erklärung nicht durch sie ersetzen, ebensowenig wie durch irgendeinen ande-
ren wahren Satz.12

IV. Empirische und analytische Regularitäten


Ein Kriterium kausaler Regularitäten ist, dass sie empirischer Natur und nicht
analytisch sind. Um festzustellen, ob eine bestimmte Verknüpfung, etwa eine
wenn dann Verknüpfung analytisch oder empirisch ist, müssen wir den Sinn der ver-
knüpften Relater genau ermitteln. Wir wollen das anhand der von Merkel gegebenen
Beispiele versuchen.
Beginnen wir mit dem Satz, wäre gestern nicht Freitag gewesen, dann wäre heute
nicht Sonnabend. Dieser Satz enthält zwei Eigennamen, Freitag und Sonnabend. Ei-
gennamen dürfen in kausalen Regularitäten nicht vorkommen. Ersetzen wir nun aber
diese Eigennamen durch allgemeine Beschreibungen, so erhalten wir für Freitag den
fünften Tag der Woche und für Samstag den sechsten Tag der Woche. Der Satz, wenn

9
Merkel (Fn. 1), 163 f.
10
Kritisch dazu Puppe, Der Erfolg und seine kausale Erklärung, ZStW 92 (1980), 863
(871 ff.); dies., Die Beziehung zwischen Sorgfaltspflichtverletzung und Erfolg bei den Fahr-
lässigkeitsdelikten, GA 1987, 595 (595 ff.).
11
Die Unbestimmtheit des Begriffs Ereignis ist ein prinzipieller Grund dafür, nicht Er-
eignisse als Relata der Kausalbeziehung anzuerkennen, sondern nur Tatsachen. Auch wenn
Tatsachen etwas über die Welt und nicht etwas in der Welt sind, ist die Formulierung eines
Satzes doch unsere einzige Möglichkeit, etwas Wohlbestimmtes über die Welt auszusagen,
näher dazu Grosse-Wilde, Die Relata eines juristischen Kausalbegriffs und der juristische
Syllogismus, in: Bäcker/Ziemann (Hrsg.), Junge Rechtsphilosophie, ARSP-Beiheft 135
(2012), 45 (48 ff.).
12
Eine kausale Erklärung ist eben kein extensionaler Kontext, sondern ein intensionaler.
Probleme des Kausalitätsbegriffs im Strafrecht und Merkels Lehren dazu 685

gestern nicht der fünfte Tag der Woche gewesen wäre, dann wäre heute nicht der
sechste Tag der Woche, ist analytisch.13
Auch der nächste Satz enthält Eigennamen. Wäre Sokrates nicht gestorben, dann
wäre Xanthippe nicht zur Witwe geworden. Ersetzen wir diese durch allgemeine Be-
griffe, so lautet der Satz: Wäre der Ehemann nicht gestorben, dann wäre die Ehefrau
nicht zur Witwe geworden. Aber was bedeutet nun der Ausdruck Witwe? Wenn wir
ihn beispielsweise so definieren: Eine Witwe ist eine Frau, deren Ehemann während
der Ehe verstorben ist, so ist der Satz, wenn der Ehemann nicht verstorben wäre, dann
wäre die Ehefrau nicht Witwe geworden, analytisch. Wir können aber den Ausdruck
Witwe auch ganz anders verstehen, nämlich als Sammelbegriff für die Rechte und
Pflichten, die eine Witwe nach dem BGB hat, beispielsweise den Erbanspruch
oder den Anspruch auf Zugewinnausgleich, das alleinige Sorgerecht für minderjäh-
rige eheliche Kinder oder das Recht, den ehelichen Namen weiterzuführen. Dann ist
der Satz, wenn der Ehemann stirbt, wird seine Frau zur Witwe synthetisch, aber man
kann ihn durchaus als Beschreibung einer Kausalregulariat auffassen, die allerdings
nicht von der Physik, sondern vom Recht bestimmt ist. Das wäre dann auch ein Bei-
spiel für einen Kausalzusammenhang, der gar nichts mit Energieübertragung zu tun
hat. Dasselbe gilt auch für das Zustandekommen eines Gremien-Beschlusses, eines
Gesetzes, einer Wahl oder eines Gerichtsurteils.
Auch bei seiner Erläuterung des Satzes: Wäre der Schlüssel nicht von mir gedreht
worden, dann hätte ich die Türe nicht aufgeschlossen, spricht Merkel von Ereignis-
sen und nicht von Tatsachen. Er behauptet, dass das Drehen des Schlüssels und das
Öffnen der Tür verschiedene Ereignisse seien. Das hängt aber davon ab, was man
unter Öffnen der Tür versteht. Versteht man darunter allein den Erfolg, dass die
Tür aufgeht, so handelt es sich um einen schlichten Kausalsatz. Indem ich den
Schlüssel im Schloss drehe, verursache ich, dass der Riegel zurückweicht, und das
ist das Öffnen der Tür als Erfolg. Versteht man aber unter dem Ausdruck ich
öffne die Tür dasselbe wie etwa ich drehe den Schlüssel und verursache dadurch
das Aufgehen der Tür, so erhalten wir wieder einen analytischen Satz, in dem das
Konsequenz das Antezedens enthält, was dadurch etwas verschleiert wird, dass
beide in einen Begriff, Öffnen der Tür, zusammengefasst werden. Der Satz würde
etwa lauten: Wenn ich den Schlüssel nicht gedreht hätte, so hätte ich nicht die Tür
durch Drehen des Schlüssels geöffnet.
Aus Gründen des Zusammenhangs übergehe ich zunächst das 4. Beispiel und
wende mich dem 5. zu. Der Satz, „immer wenn Wasserstoff und Sauerstoff in hin-
reichender Menge und im Verhältnis H2O zusammenkommen, entsteht ein Stoff
mit den Makroeigenschaften von Wasser“ ist eine kausale Regularität. Wenn ich
eine Menge Sauerstoff und Wasserstoff im Verhältnis 1:2 mische, sog. Knallgas,
dann entsteht eben Wasser. Merkel setzt aber diesen Satz gleich mit dem Satz
„die Mikrostruktur H2O verursacht Wasser (permanent aufs Neue?)“. Nun ist es si-
13
Hart/Honoré, Causation in the Law, 2. Aufl. 1985, 114 f.; Puppe, Zum gegenwärtigen
Stand der Lehre von der Verursachung im Recht, Rechtswissenschaft 2011, 400 (421 f.).
686 Ingeborg Puppe

cherlich möglich, bestimmte Eigenschaften eines Stoffes mit bestimmten anderen


Eigenschaften des gleichen Stoffes im Sinne einer Regularitätsbeziehung zu erklä-
ren, aber eine Kausalbeziehung besteht nicht zwischen zwei gleichzeitigen Tatsa-
chen, sondern zwischen einem Antezedens und einem Konsequenz.14

V. Epiphänomene oder die kausale Verzweigung


Mit Beispiel 4 spricht Merkel einen alten Einwand gegen die Regularitätsthese an.
Das Beispiel, wäre das Barometer nicht abrupt und stark gefallen, so hätte es kein
Unwetter gegeben, ist bekannt.15 Es stellt ein Bedingungsverhältnis zwischen zwei
Tatsachen dar, das empirisch begründet und trotzdem keine kausale Regularität
ist, denn dass das Konsequenz dem Antezedens stets folgt, liegt hier nicht daran,
dass letzteres die Ursache von ersterem ist, sondern daran, dass beide eine gemein-
same Ursache haben, sog. kausale Verzweigung und das Antezedens vor dem Kon-
sequenz auftritt. Aber allein mithilfe des Erfordernisses der Regularität können wir
die kausale Verzweigung weder begrifflich aus der Kausalität ausscheiden, noch fak-
tisch feststellen. Auf die Frage, wie diese Regularität begrifflich auszuscheiden ist,
würde Merkel wohl antworten, indem man den Energiefluss untersucht. Das Fallen
des Barometer ist mit dem Auftreten des Sturmes eben nicht direkt durch einen Vor-
gang der Energieübertragung verbunden, sondern der Energiefluss verzweigt sich
gewissermaßen in einen Strom, der vom Luftdruckabfall zum Sinken des Barometers
führt und einen anderen, der vom Luftdruckabfall zum Sturm führt.
Es gibt aber auch andere Möglichkeiten, festzustellen, ob ein empirisches Bedin-
gungsverhältnis ein Kausalverhältnis ist oder darauf beruht, dass Antezedens und
Konsequenz eine gemeinsame Ursache haben. Kann man etwa in einem Experiment
die übrigen Bedingungen bestehen lassen und nur das Antezedens beseitigen, ohne
dass das Konsequenz entfällt, so ist das Antezedens kein notwendiger Bestandteil der
gegebenen hinreichenden Bedingung des Konsequenz, es sei denn, es sind mehrere
hinreichende Bedingungen des Konsequenz erfüllt. Ist dies der Fall, so muss man die
mehreren hinreichenden Bedingungen zunächst gedanklich oder experimentell von-
einander trennen. Wenn wir beispielsweise das Barometer zerstören und der Sturm
trotzdem kommt, so zeigt sich, dass das Fallen des Barometers nicht die Ursache des
Sturms war. Beobachten wir, dass der Schatten des Turmes seine Länge mit dem Lauf
der Sonne verändert, aber der Turm seine Höhe nicht und verschwindet der Schatten
am Ende bei Sonnenuntergang, während der Turm immer noch dasteht, so wissen
wir, dass die Länge des Schattens nicht die Ursache der Höhe des Turmes ist.16

14
Mackie, The cement of the Universe (1974), 85; Toepel, Puppe-FS (Fn. 8), 289 (293 ff.).
15
Vgl. z. B. Furmerton/Kress, Causation and the Law, in: Law and Contemporary Pro-
blems, Vol. 64 (2001), 83 (93).
16
Puppe (Fn. 13), Rechtswissenschaft 2011, 400 (422 ff.).
Probleme des Kausalitätsbegriffs im Strafrecht und Merkels Lehren dazu 687

VI. Der physikalistische Kausalbegriff


Merkel kommt zu dem Ergebnis, dass die Lehre von der Ursache als notwendiger
Bestandteil einer gesetzmäßigen Bedingung zwar nicht falsch, aber unvollständig ist.
Wir brauchen „noch etwas dazu“, nämlich ein Kriterium, anhand dessen wir die Kau-
salgesetze von anderen Regularitäten unterscheiden können.17 Dieses Kriterium fin-
det Merkel im physikalistischen Kausalbegriff. Danach ist eine Ursache allein die
Übertragung einer physikalischen Erhaltungsgröße, also von Masse oder Energie.18
Für die Lösung eines Problems scheint allerdings die Vorstellung von der Verur-
sachung als eine Übertragung von irgendetwas oder einer Art Fluss unerlässlich zu
sein. Das ist die Unterscheidung zwischen Ursachen und Ersatzursachen. Auch eine
Ersatzursache ist eine nach Kausalgesetzen hinreichende Minimalbedingung für den
Eintritt des Erfolges, die im Einzelfall auch erfüllt ist. Aber der Energiefluss, der von
dieser Bedingung zum Erfolg hin führen würde, wird an irgendeiner Stelle unterbro-
chen. Trotzdem brauchen wir uns nicht auf einen Kausalbegriff der Energieübertra-
gung festzulegen, um die Unterscheidung zwischen Ursachen und Ersatzursachen
begrifflich zu bestimmen und faktisch festzustellen. Wir benötigen dazu lediglich
eine Eigenschaft, die auch ein Energiefluss aufweist, die zeitliche Kontinuität
einer Kette kausaler Verknüpfungen. In der Wissenschaftstheorie spricht man von
Nahwirkungen und Nahwirkungsgesetzen. Die Kausalkette wird dadurch gebildet,
dass das jeweils vorausgehende Glied der Kausalkette eine hinreichende Minimal-
bedingung des folgenden Gliedes ist. Ein Antezedens erweist sich als bloße Ersatz-
ursache dadurch, dass bestimmte Glieder der kausalen Kette, durch die es mit dem
Konsequenz gesetzmäßig verknüpft ist, in der Wirklichkeit fehlen.19
Ein physikalistisches Kausalmodell bietet bei einer vollständigen Kette von Ener-
gieübertragungen eine begrifflich einfache und oft auch technisch einfache Methode,
einen Kausalzusammenhang festzustellen oder auszuschließen, indem wir eine Ener-
gieübertragung feststellen und verfolgen. Aber der moderne physikalistische Ursa-
chenbegriff ist nicht der Begriff der Kraft oder der causa efficiens, mit dem sich
Hume auseinandergesetzt hat. Energie, Impuls und Masse sind hochtheoretische Be-
griffe und außer dem letzteren bezeichnen sie nicht etwas, was unmittelbar sinnlich
wahrnehmbar ist. Auch um einen Energietransfer im Einzelfall zu verfolgen, benö-
tigen wir Kausalgesetze, die wir von anderen Regularitäten unterscheiden müssen,
und Messgeräte, deren Konstruktion auf Kausalgesetzen beruht. Wenn wir also
17
Merkel (Fn. 1), 159 und 161 f.
18
Merkel (Fn. 1), 164 f.
19
Puppe (Fn. 10), ZStW 92 (1980), 863 (888 ff.). Dass Merkel mir nun mit einem gewissen
Recht vorhalten kann, diese Methode der Ausscheidung von Ersatzursachen beruhe auf dem
von mir selbst abgelehnten Begriff der Ursache als Energiefluss ,Puppe-FS‘ (Fn. 1), 150 (165),
liegt an einem Druckfehler in einer späteren Veröffentlichung, der mir leider entgangen ist,
ZStW 99 (1987), 595 (610). Dort hätte es nicht „kinetische Kausalerklärung“ heißen sollen,
sondern „genetische Kausalerklärung“. Gegen den Einwand, dass die genetische Kausaler-
klärung notwendig auf einen physikalistischen Kausalbegriff hinausläuft, hatte ich mich schon
1980 zur Wehr gesetzt (Fn. 10), ZStW 92, 863 (888).
688 Ingeborg Puppe

davon ausgehen, dass wir entweder keine Kausalgesetze besitzen oder sie nicht von
kausal irrelevanten Regularitäten unterscheiden können, so können wir auch keine
Energieübertragungen feststellen.
Merkel räumt selbst ein, dass nicht jede kausale Verknüpfung eine Energieüber-
tragung ist. Er demonstriert das an dem einfachen Beispiel eines Aufzugs, dessen Ab-
sturz dadurch verursacht wird, dass man die Seile anschneidet. Wenn nun der Aufzug
mit einem zulässigen Gewicht beladen wird, die Seile reißen und die Gondel abstürzt,
so sind an diesem Vorgang verschiedene Übertragungen von Energie beteiligt, aber
es führt keine Kette von Energieübertragungen von der Energie, die der Täter aufge-
wandt hat, um die Seile anzuschneiden, zu der Energie, die die Gondel zum Absturz
gebracht hat. Die Energie, die der Täter aufgewandt hat, um die Seile anzusägen,
überträgt sich beim Absturz nicht auf die Gondel. Die Energie, die erst die Seile zer-
reißt und dann die Gondel abstürzen lässt, ist die Schwerkraft.20 Das Kriterium der
Energieübertragung kann also nicht das allgemeingültige Kriterium sein, um Kausal-
regularitäten von anderen Regularitäten zu unterscheiden. Wir müssen das also auf
andere Weise versuchen.
Die begriffliche Grundlage der Erfolgszurechnung im Strafrecht bietet ein physi-
kalistischer Ursachenbegriff aber schon deshalb nicht, weil er jede Zurechnung von
Erfolgen wegen Unterlassens ausschließen würde. Da hilft auch das Wort Quasikau-
salität wenig. Auch beschränken sich unsere Möglichkeiten, Kausalverläufe durch
positives Tun zu beeinflussen, nicht auf die Initiierung oder Steuerung von Energie-
flüssen. Wir können auch eine nicht energetische Bedingung dafür herstellen oder
auch beseitigen, dass ein bestimmter Kausalverlauf abläuft. Das können wir an Mer-
kels Aufzugsbeispiel gut demonstrieren. Die Seile des Aufzugs verhindern den Kau-
salverlauf, dass die Gondel abstürzt. Indem der Täter die Seile ansägt, stellt er eine
Bedingung dafür her, dass der Kausalverlauf Absturz der Gondel stattfinden kann.
Genau genommen handelt es sich hier um eine Kausalität durch Verhinderung
eines rettenden Kausalverlaufs. Auch diese Form der Kausalität lässt sich mit
einem physikalistischen Kausalmodell nicht erfassen. Jede Tötung eines Menschen
lässt sich als Verhinderung eines rettenden Kausalverlaufs, beispielweise des Blut-
kreislaufs oder des Atemkreislaufs beschreiben, nicht aber als ein geschlossener
Energiefluss von der Handlung des Täters zum Tod des Opfers. Letztendlich stirbt
jeder wegen des Fehlens von etwas, nämlich der ausreichenden Versorgung der Ge-
hirnzellen mit Sauerstoff.21 Wenn wir stattdessen die genauen Zerfallsprozesse der
Gehirnzellen beschreiben, die mangels Sauerstoffs stattfinden, so erhalten wir
eine perfekte physikalistische Kausalerklärung für den Tod des Opfers, die in
einer lückenlosen Kette gesetzlich determinierter Energieübertragungen besteht.
Nur der Mord kommt darin nicht vor.

20
Merkel (Fn. 1), 166, mit anderen Beispielen Puppe (Fn. 13), Rechtswissenschaft 2011,
400, 414 ff.
21
Puppe (Fn. 13), Rechtswissenschaft 2011, 400 (413 ff.).
Probleme des Kausalitätsbegriffs im Strafrecht und Merkels Lehren dazu 689

Auch das Problem der Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung, genauer der Kau-
salität der sorgfaltswidrigen Eigenschaften der Handlung, können wir mit Hilfe eines
physikalistischen Kausalbegriffs nicht lösen. Der BGH hat zu Recht verlangt, dass
nicht nur die Handlung als solche, also etwa die Energieübertragung durch Bewe-
gung des Körpers, kausal für den Erfolg sein muss, sondern gerade diejenigen Eigen-
schaften dieser Handlung, die mit einer Sorgfaltsnorm unvereinbar sind, beispiels-
weise die überhöhte Geschwindigkeit eines Autofahrers, das Schneiden eines ande-
ren Fahrzeugs in zu knappem Abstand oder das Überholen eines Radfahrers durch
einen Lkw in einem zu geringen Seitenabstand.22 Der BGH hat diese seine Erkenntnis
allerdings sofort wieder verdorben, indem er die Kausalität mit Hilfe der sog. Weg-
denkt-Methode geprüft hat, wobei es nicht genügen kann, dass man sich die rechts-
widrige Handlung oder deren rechtswidrige Eigenschaften aus dem wirklichen Kau-
salverlauf wegdenkt, man vielmehr anstelle der sorgfaltswidrigen Handlung eine
sorgfaltsgemäße hinzudenken muss.23 Genauso müsste man bei Anwendung eines
physikalistischen Kausalbegriffs verfahren. Dabei wäre dieses Verfahren nicht ein-
mal eindeutig, weil man je nachdem, welche sorgfaltsgemäße Handlung man hinzu-
denkt, zur Bejahung oder Verneinung der Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung
kommen kann.24 Nach der Lehre von der hinreichenden Minimalbedingung
kommt man aber zu einer eindeutigen und auch richtigen Entscheidung der Frage
nach der Kausalität der sorgfaltswidrigen Eigenschaften des Täterhandelns, indem
man prüft, ob deren Erwähnung in der wahren Kausalerklärung des Unfalls erforder-
lich ist.25

VII. Drei Kausalitätskonzepte


Den Anspruch, der allein gültige allgemeine Begriff der Ursache zu sein, könnte
der Begriff des notwendigen Bestandteils einer gesetzmäßigen Minimalbedingung
aber nur dann erheben, wenn wir voraussetzen könnten, dass alle Veränderungen
in der Welt kausalgesetzlich determiniert sind, jedenfalls all diejenigen, mit denen
wir es im Strafrecht zu tun haben. Diese Voraussetzung können wir aber nicht
ohne weiteres machen. Nicht nur in der Quantenphysik, sondern auch in der Biologie
und damit in der Medizin setzt man eine solche kausale Determiniertheit aller Pro-
zesse nicht mehr voraus. Die These, dass menschliche Entscheidungen durch physi-
kalische Vorgänge im Gehirn, insbesondere Energieübertragungen, vollständig de-
22
BGHSt 11, 1, dazu Puppe, Die Beziehung zwischen Sorgfaltswidrigkeit und Erfolg bei
den Fahrlässigkeitsdelikten, ZStW 99 (1987), 595 (601 f.).
23
Puppe, Die Lehre von der objektiven Zurechnung und ihre Anwendung, ZJS 2008, 488
(493); dies., NK/Puppe, 5. Aufl. 2017, Vor § 13 Rn. 202.
24
NK/Puppe, 5. Aufl. 2017, Vor § 13 Rn. 212; dies. (Fn. 22), ZJS 2008, 488 (493).
25
Puppe, ZStW 99 (1987), 595 (601); Honoré, „Necessary and Sufficient Conditions in
Tort Law“, in: ders., Responsibility and Fault (1999), 94, 104 f.; Wright, Causation in Tort
Law, California Law Review 73 (1985), 1735 (1768); ders., „The Grounds and Extent of Legal
Responsibility,“ San Diego Law Review 40 (2003), 1425 (1494 ff.).
690 Ingeborg Puppe

terminiert sind, hat zwar in neuerer Zeit viele Anhänger26, aber noch können wir diese
Gesetze nicht namhaft machen. Auf das Zustandekommen von Handlungsentschlüs-
sen, etwa beim Betrug, bei der Nötigung oder bei der Anstiftung können wir also die
Lehre von der gesetzmäßigen Minimalbedingung als Ursache auch nicht anwenden.
Merkel ist also darin zuzustimmen, dass wir uns „an den Gedanken gewöhnen
müssen“, dass wir zur Begründung der Zurechnung eines Erfolges zu einer Handlung
(oder Unterlassung) verschiedene Kausalbegriffe anwenden müssen, uns aber dar-
über einigen müssen „in welchen Zusammenhängen der eine oder der andere die bes-
seren Dienste leistet“.27 Ob wir diese verschiedenen Begriffe zur Grundlegung der
Zurechnung alle als Kausalbegriffe bezeichnen, oder uns andere Ausdrücke dafür
ausdenken, ist von untergeordneter Bedeutung. Aber jedenfalls können wir nicht
so verfahren, wie es die h.L. tut, in dem sie von einem kontrafaktischen Kausalbegriff
im Sinne der Wegdenk-Methode ausgeht und sich auf einen Begriff der Wirkursache
beruft, wenn die Wegdenk-Methode nicht das Ergebnis hat, das man intuitiv für rich-
tig hält.28 Wir müssen vielmehr für jedes der drei oben genannten Anwendungsge-
biete einen eigenen Begriff der Ursache als Grundlage von Zurechnung festlegen.
Bei makrophysikalischen Prozessen, die wir uns trotz der Quantenphysik immer
noch als durch allgemeine Naturgesetze vollständig determiniert vorstellen, können
wir die Ursache als notwendigen Bestandteil einer nach Naturgesetzen hinreichen-
den und wahren Minimalbedingung des Erfolges bestimmen. Für Prozesse, von
denen wir annehmen, dass sie durch Wahrscheinlichkeitsgesetze regiert werden,
wie etwa die Entwicklung einer Infektionskrankheit oder eines Krebses, benötigen
wir die Risikoerhöhungstheorie, wonach eine menschliche Handlung dann kausal
für den Erfolg ist, wenn sie das objektive Risiko seines Eintritts erhöht.29 Denn
wenn ein Prozess nicht vollständig durch strikte Gesetze bestimmt ist, so ist die
Frage, wie er sich mit Gewissheit entwickelt hätte, wenn einer der beteiligten Kau-
salfaktoren, eben die beteiligte menschliche Handlung, nicht stattgefunden hätte,
nicht sinnvoll. Sie lässt sich nicht beantworten und darüber liegt auch kein Zweifel

26
Vgl. dazu Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld (2008), 80 ff.
27
Merkel (Fn. 1), 151 (169).
28
BGHSt 39, 195, 197 = NStZ 1993, 386 (387); Spendel, Kausalitätsformel der Bedin-
gungstheorie für die Handlungsdelikte (1947), 38 (44 ff.); E. A. Wolff, Der Handlungsbegriff in
der Lehre vom Verbrechen (1965), 14; Erb, Rechtmäßiges Alternativverhalten und seine
Auswirkungen auf die Erfolgszurechnung im Strafrecht (1991), 46; Murmann, Die Nebentä-
terschaft im Strafrecht (1993), 148 ff.; S/S-Eisele, 30. Aufl. 2019, Vor § 13 Rn. 75; Mü-
KoStGB/Freund, 3. Aufl. 2017, Vor § 13 Rn. 333 f.; Otto, Lampe-FS (2003), 491 (493), ders.,
AT 6/22 ff.; Roxin, AT/1 11/21; Jakobs, 7/13u. 21; Köhler, AT 140; Rotsch, Roxin-FS (2011),
377 (382 f.), Haas (2002), 19 f.; Pérez-Barberá, Kausalität und Determiniertheit, ZStW 114
(2002), 600 (608).
29
Stratenwerth, Bemerkungen zum Prinzip der Risikoerhöhung, Gallas-FS (1973), 227
(233); Puppe, Zurechnung und Wahrscheinlichkeit, ZStW 95 (1983), 287 (293 ff.) = (2006),
143 (149 ff.); dies., Strafrecht Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung, 4. Aufl.
(2019), 2/20 ff.; dies., Brauchen wir eine Risikoerhöhungstheorie, Roxin-FS (2001), 287
(302 f.).
Probleme des Kausalitätsbegriffs im Strafrecht und Merkels Lehren dazu 691

im Sinne des Zweifelsgrundsatzes des Prozessrechts vor. Deshalb verstößt unter die-
sen Voraussetzungen die Anwendung der Risikoerhöhungstheorie entgegen der h.L.
nicht gegen den Grundsatz in dubio pro reo.30 Schließlich gibt es einen Bereich, in
dem wir eine zurechnungsbegründende Kausalität weder auf strikte Kausalgesetze
noch auf Wahrscheinlichkeitsgesetze gründen können. Das ist die Beeinflussung
menschlicher Entschlüsse.

VIII. Motivationskausalität
Um das Problem der Verursachung menschlicher Handlungsentschlüsse zu lösen,
für deren Zustandekommen wir keine allgemeinen Kausalgesetze zur Verfügung
haben, hat der BGH zwei verschiedene Kausalbegriffe angewandt. Der eine ist der
kontrafaktischen Kausalbegriff, wonach die Verursachung eines Handlungsent-
schlusses durch psychische Beeinflussung nur dann gegeben ist, wenn der Beein-
flusste sich nicht so entschlossen hätte, wenn der Einfluss nicht stattgefunden
hätte, wobei auf die Beantwortung dieser von mir sog. Hätte-Frage, der Zweifels-
grundsatz anzuwenden ist. So hat der BGH noch vor nicht allzu langer Zeit die Ver-
urteilung eines Arztes wegen Betruges an seinen Patienten mit der Begründung auf-
gehoben, es sei nicht feststellbar, dass die Patienten sich anders verhalten hätten,
wenn sie von dem Arzt richtig informiert worden wären. Es handelte sich um austhe-
rapierte Krebspatienten, denen der Arzt vorspiegelte, dass das Medikament Galavit
in Russland erfolgreich an Krebspatienten getestet worden sei. Auch ließ er in einer
Fernsehsendung einen Schauspieler auftreten, der wahrheitswidrig bekundete, er sei
allein durch Galavit von einem Prostatakrebs geheilt worden. Er verkaufte nun dieses
Medikament, das in Deutschland nicht zur Krebsbehandlung zugelassen war, zu
einem weit überhöhten Preis an diese Patienten. Der BGH sah den Nachweis
eines Betruges durch dieses Verhalten des Arztes deshalb als nicht erbracht an,
weil nicht ausgeschlossen sei, dass die Patienten das Medikament auch dann gekauft
hätten, wenn der Arzt ihnen keinen Wirksamkeitsnachweis vorgespiegelt hätte, auf
die bloße Hoffnung hin, dass das Medikament gleichwohl wirksam sei. Denn, aus-
therapierte Krebspatienten müssten „nach jedem Strohhalm greifen“.31
In einem früheren Fall hatte der BGH die Verteidigung des Angeklagten, dass der
Getäuschte auch ohne die Täuschung zu seinen Gunsten verfügt hätte, als irrelevant
zurückgewiesen, obwohl der Getäuschte als Zeuge dies selbst versichert hatte. Denn
es komme nicht darauf an, welcher Kausalverlauf abgelaufen wäre, wenn die Täu-
schung nicht erfolgt wäre, sondern darauf, welcher tatsächlich abgelaufen ist.32 Hat
also die Falschinformation des Opfers bei seiner Entscheidung eine motivierende
Rolle gespielt, so war die Falschinformation für diese ursächlich.

30
NK/Puppe, 5. Aufl. 2017, Vor § 13 Rn. 141 ff.; dies., AT (Fn. 29), 2/21.
31
BGH NStZ 2010, 88 (89).
32
BGHSt 13, 13 (14 f.).
692 Ingeborg Puppe

Dies von der Frage abhängig zu machen, ob das Opfer sich bei richtiger Informa-
tion anders entschieden hätte, verbietet sich aus zwei Gründen, einem erkenntnis-
theoretischen und einem rechtspolitischen. Der erkenntnistheoretische besteht
darin, dass wir darüber, wie eine Person sich verhalten hätte, wenn sie in einer an-
deren Situation gestanden hätte, als sie wirklich gestanden hat, keine belastbaren
Aussagen machen können. Das führt dann dazu, dass man, sofern man diese
Frage als zulässig erachtet, sie konsequenterweise in allen Fällen nach dem Grund-
satz in dubio pro reo verneinen müsste.33 Der rechtspolitische Grund ist das Recht des
Täuschungsopfers, über sein Schicksal selbst bestimmen zu können. Dieses Selbst-
bestimmungsrecht des Opfers verletzt der Täter, indem er es dazu veranlasst, unter
anderen tatsächlichen Voraussetzungen seine Entscheidung zu treffen, als die wirk-
lich gegebenen. Indem nun der Richter seine Entscheidung über die Kausalität der
Täuschung von der Frage abhängig macht, ob das Opfer sich ebenso oder anders ent-
schieden hätte, wenn der Täter ihm die Wahrheit gesagt bzw. es nicht getäuscht hätte,
ersetzt er die fehlende selbstbestimmte Entscheidung des Opfers durch eine fiktive.
Das stünde ihm selbst dann nicht zu, wenn er tatsächlich positiv feststellen könnte,
wie das Opfer sich in diesem Fall entschieden hätte. Denn dadurch nimmt er dem
Opfer das Recht auf eine selbstbestimmte Entscheidung.34
Da die Ersetzung des nicht abgelaufenen freien Entscheidungsprozesses des Op-
fers durch einen fiktiven um des Selbstbestimmungsrechts des Opfers Willen unzu-
lässig ist, ist dieses Ergebnis auch unabhängig davon gültig, ob wir an eine vollstän-
dige kausale Determination psychischer Entscheidungsprozesse durch allgemeine
Gesetze oder durch Energieübertragungen im mikrophysikalischen Bereich glauben
oder nicht. Es geht um die äußere, nicht um die innere Entschlussfreiheit. Die äußere
Entschlussfreiheit ist verletzt, wenn der Entschluss unter falschen Voraussetzungen
gefasst wird. Auch die Anwendung einer Wahrscheinlichkeitstheorie der Kausalität,
die erkenntnistheoretisch möglich wäre, verbietet sich hier deshalb.
Wir haben es hier mit einem singularistischen Kausalbegriff zu tun, der nicht auf
allgemeine Gesetze der Verursachung rekurriert, sondern auf Einzelvorgänge. Die
Verursachung eines Entschlusses durch psychische Beeinflussung, also etwa durch
Täuschung, Vorenthaltung einer Information, Drohung oder Anstiftung besteht
darin, dass man dem anderen einen Grund gibt, einen bestimmten Entschluss zu fas-
sen und der andere den Entschluss aus diesem Grunde, wenn auch nicht notwendig
allein aus diesem fasst.35 Nur das Opfer der Täuschung oder Drohung oder auch der
Angestiftete kann Auskunft darüber geben, ob die falsche Information, die Ankün-
33
Puppe, in: NK, 30. Aufl. 2017, Vor § 13 Rn. 130.
34
Puppe, Die psychische Kausalität und das Recht auf die eigene Entscheidung, JR 2017,
513 (517); dies., Die hypothetische Einwilligung und das Selbstbestimmungsrecht des Pati-
enten, ZIS 2016, 366 (367).
35
Puppe, in: NK, Vor § 13 Rn. 131; dies., Der objektive Tatbestand der Anstiftung, GA
1984, 101 (109 f.); Renzikowski lehnt die Anwendung dieses Begriffs auf die Beeinflussung
menschlicher Entscheidungen ab. Ist psychische Kausalität dem Begriff nach möglich?,
Puppe-FS (2011), 201 (212 ff.).
Probleme des Kausalitätsbegriffs im Strafrecht und Merkels Lehren dazu 693

digung des Übels oder die Verbrechensanregung durch den Täter bei seiner Entschei-
dung eine Rolle gespielt hat oder nicht, d. h. ob er sie als Grund seiner Entscheidung,
wenn auch nicht als einzigen, anerkennt. Ob wir die Lieferung eines solchen Hand-
lungsgrundes Verursachung des Handlungsentschlusses nennen wollen36 oder nicht,
ist eine terminologische Frage. Jedenfalls kann sie von Rechts wegen Verantwortung
für den Entschluss und seine Folgen begründen.

36
Dagegen Renzikowski (Fn. 35), 201 (214 f.).
Zurechnung zu künstlicher Intelligenz?
Von Kurt Seelmann

Zugerechnet werden in Moral und Recht gewöhnlich Handlungen,1 die einen be-
stimmten Taterfolg zumindest kausal verursacht haben. Als Zurechnungsadressat gilt
gewöhnlich ein Mensch, allerdings in der Regel nicht als biologisches Individuum,
sondern bereits als ein auf die moralische oder juridische Funktion abstrahierter Trä-
ger von Rechten und Pflichten, meist „Person“ genannt. Davon, dass diese Person
zugleich auch ein einzelner Mensch ist, gibt es im Recht bereits bisher eine Ausnah-
me: die sog. „juristische Person“, eine mit eigener Personalität ausgestattete Perso-
nenmehrheit, die als solche, und nicht nur in den einzelnen ihr angehörenden Men-
schen, Rechtsgeschäfte tätigen kann.2 Auch wenn es noch viel Streit über die Frage
insbesondere einer strafrechtlichen Zurechnung zu „juristischen Personen“ gibt, ist
diese Rechtsfigur heute doch im Prinzip anerkannt. Korrekt muss man deshalb bei
jeder Zurechnung von der Zurechnung zu einer Person sprechen – denn auch sog.
„juristischen Personen“ können Handlungen oder Unterlassungen zugerechnet wer-
den. Denkt man jedoch an die Voraussetzungen einer Zurechnung, so orientiert man
sich in der Zurechnungsdebatte nach wie vor primär am einzelnen Menschen,3 dessen
für die Zurechnung erforderliche Eigenschaften dann mehr oder weniger fiktiv auf
andere Entitäten übertragen werden.
Sind diese anderen Entitäten im geltenden Recht nur Personengesamtheiten, so
hat man doch auch schon bisher über weitere mögliche Zurechnungsadressaten nach-
gedacht. In der Rechtsgeschichte finden sich oft Hinweise auf Tierprozesse, die ja
eine Zurechnung von Handlungen zu Tieren voraussetzen würden. Hier hat sich al-
lerdings inzwischen Skepsis verbreitet, eine wirkliche Zurechnung zu Tieren scheint

1
Mitunter, im Fall einer Pflicht zum Handeln, auch Unterlassungen, wenn sie hypothetisch
kausal sind, also ein Handeln den Taterfolg (wahrscheinlich) verhindert hätte.
2
Zu ihrer ideengeschichtlichen Entwicklung vgl. Martin Lipp, „persona moralis“, „Juris-
tische Person“ und „Personenrecht“ – Eine Studie zur Dogmengeschichte der „Juristischen
Person“ im Naturrecht und frühen 19. Jahrhundert, in: Quaderni Fiorentini 11/12 (1982/83) –
Itinerari moderni della persona giuridica, Tomo 1, S. 217 – 262.
3
Zur Geschichte und zum systematischen Umfang der Debatte über die individuelle Zu-
rechnung zu Personen vgl. Kurt Seelmann, Personalität und Zurechnung von der Aufklärung
bis zur Philosophie des Idealismus, in: Marianne Heer u. a. (Hrsg.), Toujours agité – jamais
abattu, Festschrift für Hans Wiprächtiger, Basel 2011, S. 575 – 585.
696 Kurt Seelmann

es auch in Prozessen früherer Jahrhunderte nicht gegeben zu haben,4 eher Tötungen


aus rituellen oder symbolischen Gründen. Das ändert natürlich nichts daran, dass
man über „subjektive Rechte“ von Tieren und damit ihren Status als „moral patients“
diskutieren kann, „moral agents“ und damit zurechnungsfähig (vgl. unten I. 2.) wer-
den sie dadurch aber nicht.
Die Debatte darüber, wem man, über menschliche Personen hinaus, Handlungen
moralisch oder rechtlich sollte zurechnen können, breitet sich heute mehr in Rich-
tung künstliche Intelligenz und „e-person“ aus.5 So hat etwa das Europäische Parla-
ment die Kommission aufgefordert, jedenfalls für weit entwickelte Roboter einen
speziellen rechtlichen Status als elektronische Person zu schaffen.6 Bei künstlicher
Intelligenz sind wir uns zwar gegenwärtig noch darüber einig, dass den jeweiligen
Agenten, seien es Computer, lernfähige Drohnen oder selbstfahrende Autos, ihr Ver-
halten nicht zugerechnet werden kann. Das könnte sich aber nach Meinung vieler
Autoren in Zukunft ändern – und das wiederum wirft die Frage auf, welche Anfor-
derungen wir an künstliche Agenten stellen müssten, damit auch sie als Zurech-
nungsadressaten gelten könnten. Der Jubilar, dem diese Zeilen gewidmet sind, for-
muliert die Frage an einer Stelle ganz grundsätzlich: „Warum bestrafen wir über-
haupt und was genau passt davon nicht mehr auf das Verantwortlichmachen eines
solchen Systems?“7
Dieser Frage ist nachzugehen. Zu ergründen ist in einem ersten Teil, worin die
gewöhnlich genannten Bedingungen für die Zurechnung von Handlungen zu Perso-
nen bestehen (I.), und zwar im Hinblick auf mentale Eigenschaften der jeweiligen
Menschen, auf ihre Kommunikation miteinander und auf die ihr Verhalten betreffen-
den Normen. In einem zweiten Teil gilt es dann zu klären, wie frei der Gesetzgeber
darin ist, auch anderen Entitäten, und hierbei insbesondere Robotern oder „e-per-
sons“, ebenfalls etwas zuzurechnen – oder ob es gute Gründe dafür gibt, Zurechnung
auf Wesen zu beschränken, die bestimmte für Menschen typische insbesondere men-
tale Elemente (und ggf. welche?) aufweisen (II.)

4
Gut belegt bei Eva Schumann, „Tiere sind keine Sachen“ – Zur Personifizierung von
Tieren im mittelalterlichen Recht, in: Bernd Hermann (Hrsg.), Beiträge zum Göttinger um-
welthistorischen Kolloquium 2008 – 2009, Göttingen 2009, S. 181 – 207.
5
Wieweit sie in ihrer Funktion, vergleichbar der „Juristischen Person“, auch nur „ein
künstliches, ausschliesslich des Vermögens fähiges Subjekt“ (M. Lipp, o. Fn. 2, S. 262) wäre,
kann hier offen gelassen bleiben.
6
Entschliessung des Europäischen Parlaments vom 16. 3. 2017 (2015/2013 (INL)) sub 59
lit. f.
7
Reinhard Merkel, Stellungnahme in: Deutscher Ethikrat, Jahrestagung 2017, Autonome
Systeme. Wie intelligente Maschinen uns verändern – Forum A: Selbstfahrende Autos, S. 51 –
54, 52.
Zurechnung zu künstlicher Intelligenz? 697

I. Gewöhnliche Zurechnungserfordernisse
Die für eine Zurechnung beim Zurechnungsadressaten zu stellenden Anforderun-
gen sollen im Folgenden in drei Sphären unterteilt werden. Zum einen geht es offen-
bar um gewisse mentale Fähigkeiten beim Zurechnungsadressaten, die wir für eine
Zurechnung praktisch unstreitig fordern und die schon einer Handlung als Zurech-
nungsgegenstand zugrunde liegen (1.). Zum anderen bedarf es für eine gelingende
Zurechnung offenbar auch bestimmter Anforderungen an die kommunikative Rela-
tion zwischen Zurechnendem und Zurechnungsadressaten (2.). Und drittens schliess-
lich ist zwischen diesem Adressaten und der Normordnung ihrerseits eine bestimmte
Beziehung erforderlich (3.). Diese drei Voraussetzungen für eine Zurechnung sollen
im Folgenden kurz angesprochen werden.

1. Zurechnung und mentale Fähigkeiten

Betrachten wir zunächst die nötigen mentalen Fähigkeiten des Adressaten, ohne
die eine Zurechnung leer liefe. Wenn Zurechnung heisst, den Anderen zum Urheber
eines bestimmten Erfolgs oder als verantwortlich für dessen Ausbleiben zu erklären,
so setzt dies, wie schon zu Beginn erwähnt, zuerst einmal das kausale Handeln des
Zurechnungsadressaten (bzw., bei Unterlassen, dessen hypothetische Kausalität und
eine Rechtspflicht zum Handeln) voraus.8 Für die meisten Fälle moralischer oder
rechtlicher Zurechnung reicht uns aber diese blosse (ggf. hypothetische) Kausalität
noch nicht, sondern wir erwarten auch eine innere Beziehung des Wissens und Wol-
lens auf Seiten des Zurechnungsadressaten im Verhältnis zum Geschehen.
Schon im Begriff des Handelns sehen wir gewöhnlich einen denkenden Vorgriff –
im Sinne des Vorhersehens und des Beabsichtigens – auf das Resultat des Handelns
als darin enthalten an. Nur wer sich kognitiv und volitiv selbst bestimmt, autonom
verhält und somit Herr seiner Entschlüsse ist, kann als Handelnder verstanden wer-
den.9 Eine innere mentale Beziehung beim Adressaten der Zurechnung ist also für
eine Zurechnung vorausgesetzt. Worin aber diese innere Beziehung genau zu beste-

8
Sandra Ausborn-Brinker, Person und Personalität – Versuch einer Begriffserklärung,
Tübingen 1999, geht davon aus, in der gegenwärtigen Philosophie werde unter Person „nahezu
übereinstimmend ein Wesen verstanden, welchem man Handlungen zurechnen kann“, vgl.
S. 139.
9
Frauke Rostalski, Verantwortung und künstliche Intelligenz. Wer ist für den Einsatz von
auf künstlicher Intelligenz basierenden Systemen verantwortlich – und wofür wollen und
können wir als Gesellschaft die Verantwortung übernehmen?, in: REthinking Law 2019, 37 –
32, 37. Unter welchen Voraussetzungen von einer künstlichen Intelligenz gesprochen werden
kann, sucht Gabriel Hallevy, The Criminal Liability of Artificial Intelligence Entities – from
Science Fiction to Legal Social Control, Akron Intellectual Property Journal, vol. 4, 2010,
S. 171 – 201, 175 f., in fünf Fähigkeiten zusammenzufassen: „communication“, „internal
knowledge“ (Selbsbezüglichkeit), „external knowledge“ (Bewusstsein), „goal-driven beha-
viour“(zweckorientiertes Handeln) und „creativity“(im Sinne der Fähigkeit, beim Scheitern
eines Plans einen anderen Plan zugrunde zu legen).
698 Kurt Seelmann

hen habe, das ist, seit man im 17. Jahrhundert ausführliche Zurechnungslehren ent-
wickelt hat, nicht ganz unumstritten. Man hat darüber noch keine Klarheit gewonnen,
obwohl schon das römische Recht und Aristoteles einen subjektiven Bezug des Tä-
ters auf seine Tat für die Zurechnung voraussetzten10 und die Verantwortung allein
für die kausale Verursachung des Erfolgs („Erfolgshaftung“) nur in der Frühzeit
der europäischen Antike, insbesondere im Mythos, eine zentrale Rolle spielte.
Samuel von Pufendorf verlangt für eine Zurechnung die Fähigkeit zum Wissen
vom Geschehen und zum Wollen des Geschehens, also die Einsichts- und Steue-
rungsfähigkeit. John Locke legt den Schwerpunkt auf die innere Einheit des Zurech-
nungsadressaten über die Zeit hinweg, streicht also besonders die Bedeutung des Er-
innerungsvermögens für die Zurechnung heraus, da sich für ihn aus diesem Erinne-
rungsvermögen die Identität der Person ergibt.11 Henry Frankfurt sieht die entschei-
dende Voraussetzung für die Zurechenbarkeit in „second order volitions“, einem
durch den Willen zweiter Ordnung kontrollierten Willen. Die von Locke wie von
Frankfurt genannten Kriterien sind allesamt Elemente von Selbstbezüglichkeit,
bei Locke reflexiv in Bezug auf das Wissen, bei Frankfurt reflexiv bezogen auf
das Wollen, bei beiden also wird die Reflexivität ausdrücklich zum Thema. Bei
Pufendorf werden mit intellectus und voluntas, Einsichts- und Steuerungsfähigkeit,
Fähigkeiten genannt, die formell auf der Ebene von Bewusstsein angesiedelt sind,
aber unvermeidlich präreflexiv doch auch, also wie bei Locke und bei Frankfurt,
auf das Selbst-Bewusstsein Bezug nehmen. Zurechnung setzt also nach verbreiteter,
in den Einzelheiten allerdings nicht identischer Meinung ein Selbstverhältnis beim
Adressaten voraus.
In den juristischen Zurechnungsmodellen werden die mentalen Erfordernisse
beim Zurechnungsadressaten in der Regel auf zwei Ebenen aufgeteilt: Handlung
und Schuld. Für die Handlung setzt man als Minimalvoraussetzung eine Prägung
durch ein Normverstehen voraus, für die Schuld ein Andershandelnkönnen (man
hätte die Handlung auch unterlassen oder anders ausführen können) oder eine pro-
blematisierende Stellungnahme zur Normgeltung.12
Ob solche Fähigkeiten als mentale Gegebenheiten tatsächlich vorliegen müssen
(was eine Stellungnahme zur Willensfreiheit erfordern würde) oder ob es genügt,
sie als gesellschaftliche Interaktionen lediglich zuzuschreiben, wird unterschiedlich
betrachtet. Mindestens die Zuschreibung solcher Fähigkeiten muss aber gegeben
sein.

10
Dazu Robert Spaemann, Nebenwirkungen als moralisches Problem, in: Philosophisches
Jahrbuch 82 (1975), S. 323 ff., 324.
11
Zu Pufendorf und Locke vgl. ausführlich Seelmann (o. Fn. 3), S. 581 f. bzw. 576 ff.
12
Ausführlich dazu Gerhard Seher, Intelligente Agenten als „Personen“ im Strafrecht?, in:
Sabine Gless/Kurt Seelmann (Hrsg.), Intelligente Agenten und das Recht, Baden-Baden 2016,
S. 45 – 60, 48 ff., 56 ff.
Zurechnung zu künstlicher Intelligenz? 699

2. Zurechnung unter der Voraussetzung eines bestimmten Verhältnisses


zwischen Zurechnungsadressat und Zurechnendem

Eine weitere Voraussetzung der Zurechnung, die teilweise auf der eben genannten
Voraussetzung mentaler Fähigkeiten aufbaut, kommt noch hinzu: Die Antwort auf
die Frage, ob jemandem etwas zugerechnet werden kann, hängt auch von Vorausset-
zungen im Verhältnis zwischen dem Zurechnenden und dem Zurechnungsadressaten
ab, ist also von deren Kommunikation bestimmt. Zugerechnet wird nur unter „moral
agents“, also den Mitgliedern einer moralischen Gemeinschaft i.S. von Personen, die
sich in ihrem Handeln an der Moral orientieren und nicht nur als „moral patients“
Nutzniesser der Moral anderer sind. Unbelebter Natur, Pflanzen und Tieren sowie
Kindern bis zu einem bestimmten Alter rechnen wir deshalb nichts zu, nur „Unse-
resgleichen“ rechnen wir etwas zu.13
Zurechnung setzt also nicht einfach nur bestimmte Eigenschaften beim Zurech-
nungsadressaten voraus, sondern verlangt zudem notwendig ein Element des Kom-
munikativen: Als Personen werden gewöhnlich nur Entitäten eingeschätzt, die ihrer-
seits anderen Entitäten Personalität zuschreiben.14 Die Einschätzung eines Objekts
als eine Person hängt davon ab, welche Haltung ihm gegenüber eingenommen
wird und ob dieses Objekt seinerseits diese Haltung auch uns gegenüber einnehmen
kann.15
Die gemeinsame Inklusion von Personen in diese moralische Gemeinschaft hat
allerdings etwas Ambivalentes: Wir respektieren einen Teil unserer lebendigen
Umwelt (in der Regel Menschen) als Unseresgleichen und machen diesen Respekt
doch zugleich zur Voraussetzung dafür, dass wir andere für ihre Handlungen ta-
deln. Anders formuliert: Indem wir tadelnd zurechnen, nehmen wir den Anderen
für „voll“, behandeln ihn nicht als einen „Kranken“, dem etwas zuzurechnen sinn-
los ist. Der von uns bestrafte Verbrecher wird nach Hegel in der Zurechnung „als
Vernünftiges geehrt“16, wir nehmen, um mit Strawson zu sprechen, ihm gegenüber

13
„For identification to operate there must be some sense of ,likeliness‘ that leads us to
emphatic understanding,“ Joanna J. Bryson/Philip P. Kime, Just an Artifact: Why Machines
are Perceived as Moral Agents (Conference Paper, Barcelona, 16 – 22 July 2011, S. 1641 –
1646, 1644).
14
Sandra Ausborn-Brinker (o. Fn. 8), S. 134. Zum Erfordernis der Kommunikation im
Zurechnungsprozess vgl. auch Frauke Rostalski, Legal Tech now and then. Sollte Technik den
Menschen in der Rechtsfindung ersetzen?, in: REthinking law 2019, 1 – 13, 12 f.
15
Daniel C. Dennett, Conditions of Personhood, in: Amélie Oksenberg Rorty (Hrsg.), The
Identities of Persons, Berkeley 1976, S. 175 ff.; dazu Jonathan Erhardt/Martino Mona,
Rechtsperson Roboter – Philosophische Grundlagen für den rechtlichen Umgang mit künst-
licher Intelligenz, in: Sabine Gless/Kurt Seelmann (Hrsg.), Intelligente Agenten und das
Recht, Baden-Baden 2016, S. 61 – 93, 79.
16
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Rechtsphilosophie. Die
„Rechtsphilosophie“ von 1820. Edition Ilting, Bd. 2, Stuttgart-Bad Cannstatt 1973/74, § 100,
Anmerkung 2, S. 364.
700 Kurt Seelmann

eine Teilnehmer- und nicht nur eine Beobachterperspektive ein17 – ja indem wir mit
ihm über die Zurechnung in eine Kommunikation treten und ihn tadeln und ihn
nicht einfach nur psychiatrisch behandeln, zählen wir ihn zu uns. Tadelnde Zu-
schreibung und Wahrung von Achtungsansprüchen bedingen einander offenbar ge-
genseitig.18 „Die Entwicklung ist janusköpfig. Während der Person auf der einen
Seite Schuld zugeschrieben werden kann, vermag sie auf der anderen Achtungsan-
sprüche zu erheben.“19
Das Kriterium dafür, warum wir jemand für unsere Kommunikation zu uns zäh-
len, dürfte allerdings, wenn nicht unmittelbar so doch mittelbar, in erster Linie wie-
der von den Fähigkeiten, wie sie im vorherigen Kapitel beschrieben werden, her-
rühren. Dafür spielen individuelle Fähigkeiten eine Rolle – Zurechnungsunfähige
werden individuell ausgeschieden aus dem Zurechnungsprozess. Vorausgesetzt für
die Zurechnung ist aber vorher schon, dass man der Gattung angehört, der im Prin-
zip zugerechnet wird, man nach gegenwärtiger Situation also eine natürliche oder
juristische Person ist. Das zeigt erneut: Wir rechnen jemanden zu uns, erklären ihn
zu „Unseresgleichen“, wenn wir ihn zu denjenigen Wesen zählen, die Pflichten
haben und nicht nur Rechte, also unter eben die „moral agents“ und nicht unter
die, deren Status sich auf den von „moral patients“ beschränkt, wie eben beispiels-
weise die Tiere.

3. Zurechnung und Normordnung

Aus diesem Gedanken des Verantwortlichen als eines Pflichtenträgers erwächst


nun eine weitere, dritte Voraussetzung für die Zurechnung, neben derjenigen be-
stimmter Fähigkeiten und derjenigen einer Zugehörigkeit zur moralischen Gemein-
schaft: Zurechnung erfordert auch die Fähigkeit zur Orientierung an gemeinsamen
Normen.20
Das hat einen anthropologischen und einen pragmatischen Grund.
Betrachten wir zuerst den anthropologischen Grund. Eine Orientierung an einer
Norm, also an einer sicheren gesetzlichen Grundlage, scheint die Identität der Person
überhaupt erst zu gewährleisten. Eine solche persönliche Identität lässt sich nicht ein-
richten, wenn „das heute Erlaubte oder Gebotene morgen verboten wird“ oder wenn
gar der Mensch nur „ein in sich zerrissenes, den jeweiligen Augenblickserwartungen
unterworfenes Naturwesen“ wäre, „dem es verwehrt ist, den Sprung vom biologi-
17
P. F. Strawson, Freedom and Resentment, in: ders., Freedom and Resentment and other
Essays, London/New York 2008, S. 1 ff.
18
Lorenz Schulz, Strukturen von Verantwortung in Recht und Moral, in: ders. (Hrsg.),
Verantwortung zwischen materialer und prozeduraler Zurechnung, Stuttgart 2000, S. 175 ff.,
189; Kurt Seelmann, Strafe als Ehre?, in: Basler Juristische Mitteilungen, Nr. 6, November
2014, S. 285 – 301.
19
Schulz (o. Fn. 18), S. 189.
20
Dazu auch Erhardt/Mona (o. Fn. 15), S. 89.
Zurechnung zu künstlicher Intelligenz? 701

schen Menschen zur sittlichen Person zu tun.“21 Die (oben 2.) erwähnte Kommuni-
kation über die Zurechnung würde also von vornherein fehlgehen, wenn nicht beide,
der Zurechnende und der Zurechnungsadressat, sich an einer (gemeinsamen) Norm
orientieren würden.
Daneben gibt es noch einen pragmatischen Grund, den Vorgang des Zurechnens
mit einer Norm zu verbinden: Wenn wir jemandem etwas zurechnen, hat dies meist
damit zu tun, dass wir davon ausgehen, er schade mit der ihm zuzurechnenden Tat
einer Norm – nämlich derjenigen Norm, die er durch sein Verhalten übertritt.
Denn er verletzt nicht nur die Norm im Einzelfall, sondern vergrössert durch sein
von der Norm abweichendes Verhalten auch das generelle Risiko, dass andere, die
diese Abweichung zur Kenntnis nehmen, sich ihrerseits infolge dessen nicht mehr
an die Norm halten. Aber wann ist dies der Fall? Offenbar auch nur, wenn eine ge-
wisse beispielgebende Kompetenz beim Handelnden besteht. Ein Naturgeschehen
würde unser Normvertrauen nicht beeinträchtigen – so wenig wie ein Mensch,
den wir als psychisch krank definieren können, unser Vertrauen in die Geltung der
Norm beeinträchtigen könnte. Wir rechnen nur dann zu, „wenn ein Ereignis als
Normwiderspruch einer zur Äusserung im öffentlichen Raum kompetenten Person
zu verstehen ist“.22
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass wir, um zurechnen zu können, ers-
tens bestimmte Fähigkeiten eines Selbstverhältnisses beim Zurechnungsadressaten
voraussetzen müssen. Zweitens setzen wir für die Zurechnung voraus, dass der
Adressat zusammen mit den Zurechnenden einer moralischen Gemeinschaft ange-
hört, die zugleich eine Pflichtengemeinschaft ist, in der beide Seiten Pflichten ein-
zuhalten haben. Und drittens verlangt eine Zurechnung, dass jemand durch ein
pflichtwidriges Verhalten eine Norm schädigt, indem er als kompetente Person
etwas tut, was von Dritten als Widerspruch gegen die Norm verstanden werden kann.

II. Wie normativ und bedürfnisabhängig


sind unsere Zurechnungen?
Eine Reihe von Voraussetzungen, wie sie für die Zurechnung zum menschlichen
Handeln vorliegen müssen, sind im Fall von künstlicher Intelligenz nicht gegeben –
weder die beschriebenen mentalen Eigenschaften noch die angeführte Kommunika-
tion oder die Reaktion auf Normen existieren im Fall von künstlicher Intelligenz. Die
Beschreibungen menschlichen Verhaltens wie eines Handelns „lassen sich … nicht
adäquat auf die Wahrnehmungen von Maschinen übertragen.“23 Es ist umstritten, ob
21
Reinhard Brandt, John Lockes Konzept der persönlichen Identität. Ein Resümee, in:
Aufklärung – Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner
Wirkungsgeschichte, Bd. 18 (2006), S. 37 ff., S. 46.
22
Günther Jakobs, System der strafrechtlichen Zurechnung, Frankfurt a.M. 2012, S. 15 f.
23
Susanne Beck, Der rechtliche Status autonomer Maschinen, Archiv für juristische Praxis
(AJP) 2017, S. 183 – 191, 187.
702 Kurt Seelmann

sich an dieser Situation je grundlegend etwas ändern wird – ob also irgendwann in der
Zukunft künstliche Intelligenz diese Voraussetzungen aufweisen könnte. Jedenfalls
für die Gegenwart lässt sich sagen: „Existierende künstliche Intelligenzen sind noch
keine Rechtspersonen und haben auch noch keinen Personenstatus.“24
Möglicherweise aber kommt es auf derlei Übereinstimmungen in den Zurech-
nungsvoraussetzungen gar nicht wirklich an, sondern eine Zurechnung zu künstli-
cher Intelligenz kann bereits bei geringeren Voraussetzungen erfolgen. Künstliche
Intelligenz wäre dann entweder nicht im vollständigen Sinn eine Rechtsperson, son-
dern nur so etwas wie ein „Bote“ oder „Vertreter“ oder nur teilweise rechtsfähig.25 Ihr
würde, insoweit vergleichbar mit der „juristischen Person“, als Vermögensmasse
eine Zahlungspflicht auferlegt, deren Ausgleichung wie im Fall der „juristischen Per-
son“ letztlich den beteiligten Menschen (Aktionären etc.) zur Last fiele.
Man könnte sogar noch einen Schritt weiter gehen und gänzlich in der Kategorie
von Fiktionen denken: Es wäre in der Kompetenz des Rechts, sich von den für Men-
schen geltenden Voraussetzungen der Zurechnung zu lösen und aus dem einen oder
anderen guten Grund auch anderen Entitäten, wie etwa der künstlichen Intelligenz,
etwas zuzurechnen.

1. Die Normativität des Rechts und ihre Grenzen

Diese Abstraktion von mentalen Eigenschaften, Kommunikation und Normorien-


tierung bei der Zurechnung wird nicht selten getragen durch die Auffassung, Be-
griffsdefinitionen stünden generell dem Recht frei, auch wenn es um die Zurechnung
und die Anerkennung als Person gehe. „Diese Anerkennung des Menschen als
Rechtsperson“, so die wohl herrschende Auffassung, „erfolgt durch die Rechtsord-
nung, ist also ein Rechtsakt. Sie ergibt sich deshalb nicht unmittelbar aus bestimm-
ten, tatsächlich vorhandenen Eigenschaften des konkreten Menschen …“26 Es steht
danach der Rechtsordnung prinzipiell frei, vom dogmatischen Bedürfnis her, also
„normativ“, den Begriff zu bestimmen.
Der Gedanke der Konstruktion von Personalität und Zurechnung auf funktionaler
Grundlage wird noch verstärkt in der modernen Systemtheorie. Personalität dient
dort primär der Ordnung von Verhaltenserwartungen. Die Person wird zur „Adresse
innerhalb der Kommunikation“27. Welche Kollektive man zurechnungs- und damit
rechtsfähig mache, sei „eine Frage sinnvoller Regelung, bei der dem Rechtssystem
24
Erhardt/Mona (o. Fn. 15), S. 87.
25
Zu solchen Modellen vgl. Stefan Klingbeil, Schuldnerhaftung für Roboterversagen, JZ
2019, 718 – 725,
26
Volker Lipp, Freiheit und Fürsorge: Der Mensch als Rechtsperson, Tübingen 2000, S. 44.
Ähnlich Klingbeil (o. Fn. 25), 721.
27
Stephan Kirste, Dezentrierung, Überforderung und dialektische Konstruktion der
Rechtsperson, in: Verfassung – Philosophie – Kirche. FS Hollerbach, Berlin 2001, S. 319 ff.,
325 f.
Zurechnung zu künstlicher Intelligenz? 703

weitgehende Freiheit eingeräumt wird“28. Das Rechtssystem müsse „die rechtlich re-
levante Grenze zwischen instrumentalisiertem und autonomem Handeln selbst fest-
legen.“29 Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass die Anerkennung des Menschen als
eine Rechtsperson durch einen Rechtsakt erfolge und nicht schon durch das Mensch-
sein als solches determiniert sei,30 die „attribution of legal personhood“ sei ein „per-
formative act“.31
Grundsätzlich muss das Recht diese Befugnis zur Askription von Rechtsfähigkeit
und damit auch der Zurechnungsvoraussetzungen haben – denn wer sonst hätte diese
Befugnis? Aber führt dies zu einer Beliebigkeit der Zurechnungsadressaten? Sollen
wir schon immer dann zurechnen, wenn wir aus praktischen Gründen einen Zurech-
nungspunkt brauchen, selbst wenn dieser Zurechnungspunkt bestimmte traditionell
typische Merkmale eines Zurechnungsadressaten nicht erfüllt?
Mit anderen Worten geht es um die Frage, “wie normativ“ Zurechnung sein darf.
Wie sehr darf sich der Zurechnungsadressat unterscheiden von einem traditionellen,
am Menschen orientierten Verständnis als selbstbezüglicher, mit anderen Personen
kommunizierender und Normen unterworfener „moral agent“?32 Diese Frage bewegt
sich auf einer Metaebene zu der Frage, welche Eigenschaften ein Zurechnungsadres-
sat normalerweise braucht. Es geht nämlich nun um das Problem, ob in bestimmten
Fällen eine Zurechnung auch im Fall des Fehlens dieser traditionell verlangten Ei-
genschaften vorgenommen werden darf.
Dass dieses Problem besteht, nämlich das Problem einer Grenze der „Normativi-
tät“ an den Gegebenheiten der biologischen und sozialen Realität, wurde durchaus
auch früher schon gesehen. Wenn es um Vorgegebenheiten für die rechtliche Ein-
schätzung ging, sprach man von der „Natur der Sache“ oder von „sachlogischen
Strukturen“33. So hat man auch im Hinblick auf Zurechnung und Personalität kon-
statiert, dass etwa die mit der Mündigkeit verbundene Rechtsposition eines Men-
schen „auf seine tatsächliche Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Entscheidung be-

28
Kirste (o. Fn. 27), S. 325.
29
Günther Teubner, Digitale Rechtssubjekte? Zum privatrechtlichen Status autonomer
Softwareagenten, Ancilla Iuris 2018, S. 35 – 78, 51.
30
V. Lipp (o. Fn. 26), S. 44 f.; zu dieser „Definitionsmacht des positiven Rechts und dessen
Konstruktions- und Fiktionspotentials“ schon bei v. Savigny vgl. auch Susanne Beck/Benno
Zabel, Person, Persönlichkeit, Autonomie, in: Orsolya Friedrich/Michael Zichy, Persönlich-
keit. Neurowissenschaftliche und neurophilosophische Fragestellungen, Münster 2014, S.49 –
82, 58.
31
Mireille Hildebrandt, Criminal Liability and „smart“ Environments, in: R. A. Duff/
Stuart Green, Philosophical Foundations of Criminal Law, Oxford 2013, S. 507 – 532, 513.
32
Zur Person als „ens morale“ in der mittelalterlichen Diskussion vgl. Theo Kobusch, Die
Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Freiburg
i.Br. 1997, S. 23 ff.
33
Dazu Kurt Seelmann, Hans Welzels „sachlogische Strukturen“ und die Naturrechtslehre,
in: Wolfgang Frisch u. a. (Hrsg.), Lebendiges und Totes in der Verbrechenslehre Hans Welzels,
Tübingen 2015, S. 7 – 19.
704 Kurt Seelmann

zogen“ ist und diese Fähigkeit voraussetzt.34 Der Gesetzgeber, so wird zu Recht ge-
sagt, „orientiert sich … an den vorhandenen Erkenntnissen über die menschliche Ent-
wicklung und den gesellschaftlichen Verhältnissen,…“.35 Aber auch „vor dem inter-
disziplinären Diskussionsstand“ solle das gewählte Autonomiekriterium „vertretbar
sein“.36 Denn Normativität enthebe nicht von der Notwendigkeit anzugeben, worauf
ein Begriff sich beziehe.37 Die Einbettung der Rechtsordnung in eine bestimmte Ge-
sellschaft setze nämlich Grenzen für normative dogmatische Konzeptionen, die in
der Gesellschaft verständlich sein sollten, um operabel und akzeptabel zu sein.38
Auch wenn der Gesetzgeber also eine grosse Freiheit bei der Begriffsbildung hat,
so gibt es doch eine Reihe von Klugheitsregeln, die es angemessen erscheinen lassen,
sich wo möglich nicht zu weit vom üblichen Sprachgebrauch zu entfernen.
Wenn wir also im Fall der Zurechnungsvoraussetzungen gewisse mentale, kom-
munikative und normbezogene Voraussetzungen für alle Zurechnungsadressaten
aufstellen, so sollten wir dies zunächst einmal schon aus solchen allgemeinen Erwä-
gungen heraus tun. Aber genauer betrachtet kommen bei der Zurechnung noch zwei
spezielle Gründe (unten 2. und 3.) für die Anwendung der üblichen Voraussetzungen
hinzu:

2. Zurechnung von Handlungen: durch Gründe motivationsfähig sein

Wir sollten zunächst einmal bei allen Akten von Zurechnung deshalb auf die üb-
lichen Voraussetzungen für Zurechnungen abstellen, weil wir nur so die Zurechnung
an die Motivationsfähigkeit knüpfen können. Ohne Motivationsfähigkeit aber würde
Zurechnung nicht „sinnvoll“ sein.39 Es wäre nicht klar, warum jemand eine spezielle
Verantwortung für einen bestimmten Bereich überhaupt haben sollte, also z. B. scha-
densersatzpflichtig sein sollte, wenn er zur Befolgung der primären Handlungs-
pflicht gar nicht motiviert hätte werden können. Motivationsfähigkeit heisst, dass
der Adressat der Zurechnung durch das Vorbringen von Gründen beeinflussbar
und nicht einfach nur ein Glied in der Kausalkette des Geschehens ist. Eben diese
Motivierbarkeit muss ich ihm deshalb bei einer Zurechnung unterstellen. Wenn
ich ihm ein Handeln zurechne, muss ich ihm mithin eine Absicht unterstellen. Rech-
net man also zu, ohne eine Handlung eines mit sich identischen und Absichten ver-
folgenden Wesens vor sich zu haben, so gibt es keinen vernünftigen („sinnvollen“)
Grund dafür, jemanden mehr als einen beliebigen anderen Kausalfaktor als zuständig
34
V. Lipp (o. Fn. 26), S. 44.
35
V. Lipp (o. Fn. 26), S. 44.
36
Teubner (o. Fn. 29), S. 51 f.
37
Carl Friedrich Stuckenberg, Vorstudien zu Vorsatz und Irrtum im Völkerstrafrecht,
Berlin 2007, S. 45 f.
38
Stuckenberg (o. Fn. 37), S. 46 f.
39
Susanne Beck (o. Fn. 23), S. 186: „Die Möglichkeit einer gesetzgeberischen Zuschrei-
bung eines rechtlichen Status sagt noch nichts darüber aus, dass bzw. wann diese Zuschrei-
bung sinnvoll ist.“
Zurechnung zu künstlicher Intelligenz? 705

für ein bestimmtes Ergebnis anzusehen und ihm einen Einfluss auf das Handlungs-
ereignis40 zuschreiben – ich darf, um einem anderen zurechnen zu können, das von
ihm erzielte Handlungsergebnis nicht an ihm vorbei zu erklären versuchen.
Diese schon lange kontrovers erörterte Differenz von Ursachen und Gründen zu-
grunde zu legen macht nicht nur Sinn, wenn man beide Grössen kategoral unter-
schiedlichen Sphären zuweist, sondern auch dann, wenn man Gründe als eine Unter-
art der Ursachen erfasst: In beiden Fällen muss man eingestehen, dass Gründe eine
besondere Bedeutung für die Zurechnung haben. Auch wenn die Attribution von Ver-
antwortlichkeit zunächst einmal Kausalität voraussetzt, erfordert sie doch in der Zu-
ordnung von subjektiven Taterfordernissen mehr als nur Kausalität im naturgesetz-
lichen Sinn.41

3. Tadel für schuldhaftes Unrecht

Eine Zurechnung, wenn sie mit tadelnden Sanktionen verbunden ist, setzt weiter
voraus, dass die zugerechneten Handlungen tadelnswert sind. Tadelnswert ist aber
eine Handlung nur dann, wenn wir sie jemandem zur Schuld zurechnen können.
Wir entnehmen dann aus dieser Schuld, der Freiheit zugrunde liegt, die erhöhte Zu-
ständigkeit des Zurechnungsadressaten. Auch hierfür brauchen wir wieder „Grün-
de“, denn was von Natur abläuft, lässt sich nicht nur nicht beabsichtigen, sondern
auch nicht tadeln.
Zurechnung gibt sogar in aller Regel nicht nur eine Deskription einer absichtli-
chen Handlung mit Einfluss des Handelnden auf das Handlungsergebnis, sondern
sie gibt auch ein Urteil über diese Handlung ab, sie rechnet diese Handlung entweder
zum Lob oder zum Tadel zu.
Der Tadel richtet sich im rechtlichen Kontext auf einen schuldhaften Verstoss
gegen eine Rechtsnorm, also auf die Rechtswidrigkeit und Schuld einer Handlung.
Tadel als Grundlage der Zurechnung setzt deshalb Autonomie, das heisst ein selbst-
bestimmtes Handeln des Zurechnungsadressaten voraus. Dies bedeutet weiter, dass
der Zurechnungsadressat die Tat auch hätte unterlassen können – sei es tatsächlich
oder sei es in der gesellschaftlichen Wahrnehmung – da andernfalls die Zurechnung
wieder keinen Sinn ergäbe.

40
Christoph Möllers, Die Möglichkeit der Normen. Über eine Praxis jenseits von Moralität
und Kausalität, Berlin 2015, S. 32. Diese Erfordernisse gelten jedenfalls für die im Strafrecht
sog. „finale Handlungslehre“ – ob auch für die „kausale Handlungslehre“ kann hier offen
bleiben, da es bei Nichtvorhandensein der Finalität dann zumindest an der Schuld fehlen
würde, vgl. Sabine Gless/Thomas Weigend, Intelligente Agenten und das Strafrecht, ZStW 126
(2014), S. 561 – 591, 573.
41
Vgl. etwa die Übersicht zur Thematik bei Klaus Günther, Schuld und kommunikative
Freiheit. Studien zur personalen Zurechnung strafbaren Unrechts im demokratischen Rechts-
staat, Frankfurt a.M. 2005, S. S. 137 ff.
706 Kurt Seelmann

Rechnet man also ein Tun eines Anderen diesem tadelnd zu, ohne das Geschehen
einerseits als Handlung und andererseits als schuldhaftes Unrecht kennzeichnen zu
können, so hat man keinen sinnvollen Grund, einen Handelnden mehr als einen an-
deren Handelnden für organisatorisch zuständig zur Behebung eines Schadens zu
halten.42

IV. Ergebnis
Zurechnungslehren, wie sie sich im Lauf der Entwicklung herausgebildet haben,
stellen gewöhnlich Anforderungen an die mentale Situation beim Zurechnungsadres-
saten, an die kommunikative Situation zwischen Zurechnungsadressat und Zurech-
nendem und schliesslich an die normative Situation, unter der die zuzurechnende
Handlung erfolgt.
Dem Recht steht es frei, für die Zurechnung an andere, weniger weit gehende An-
forderungen anzuknüpfen, wie dies bei der „juristischen Person“ bereits geschehen
ist und wie es von einigen Autoren für die „e-Person“, insbesondere für künstliche
Intelligenz, auch gefordert wird. Sinnvoll wäre eine solche Ausweitung der Zurech-
nungsadressaten nicht wirklich:
Bei einem „Nicht-Handelnden“, dem die Motivation für sein Tun fehlt, wäre nicht
verständlich, warum er mehr als andere zuständig sein sollte für ein bestimmtes Ge-
schehen oder sein Ergebnis. Umso mehr muss dies für jemanden gelten, der generell
gar keine Motivationsfähigkeit besitzt.
Desgleichen wäre, ohne dass zusätzlich ein schuldhaftes Unrecht beim Handeln-
den vorliegt, ebenfalls die gesteigerte Zuständigkeit fraglich. Mit der Androhung des
Tadels für schuldhaftes Unrecht soll nämlich die Motivation in eine bestimmte Rich-
tung gelenkt werden.
Eine „künstliche Intelligenz“ müsste also grosso modo die bei Menschen üblichen
Zurechnungsvoraussetzungen aufweisen, wenn man sie sinnvoll zu einem Zurech-
nungsadressaten machen wollte.

42
Für weder handlungs- noch schuldfähig halten deshalb auch Nora Markwalder und
Monika Simmler die künstliche Intelligenz, vgl. Nora Markwalder/Monika Simmler, Robo-
terstrafrecht. Zur strafrechtlichen Verantwortung von Robotern und künstlicher Intelligenz,
AJP 2017, S. 171 – 181, 173.
Der Irrtum als Seismograph des Strafrechts
Ein Fallbeispiel

Von Lorenz Schulz

In der modernen Gesellschaft wächst die Regelungsdichte systematisch. Nicht nur


kognitive Risiken wachsen, sondern auch normative Risiken nehmen kontinuierlich
zu.1 Um diese letzteren Risiken geht es hier. Im ersten Schritt (I.) wird sub specie
Irrtumsregeln der Frage nachgegangen, wer diese Risiken tragen soll. Im zweiten
Schritt (II.) wird dies an einem Fallbeispiel illustriert.

I.
Die Verteilung des genannten Risikos in der parlamentarischen Demokratie ist
Aufgabe des demokratischen Gesetzgebers. Dem entspricht rechtsphilosophisch ins-
besondere das Verständnis von Jürgen Habermas.2 Die Rechtsprechung ist dann
Rechtsanwendung, die dem „Sinn für Angemessenheit“ (Klaus Günther) anheim
steht.3 Unabhängig von der Frage des Verhältnisses von Begründungs- und Ange-
messenheitsdiskurs4 und der Frage, in welchem Maß und in welcher Weite dabei
der Anspruch einer einzig richtigen Entscheidung zur Geltung kommt, bleiben die
Bedenken, ob diese Konzeption von Begründungs- und Angemessenheitsdiskurs
rechtsvergleichend allgemeine Geltung beanspruchen kann und ob sie den komple-
xen Prozess der Rechtskonkretisierung begrifflich abbildet. Rechtsvergleichend be-
steht die Schwierigkeit darin, dass die weitgehend konsentierte Dreigliederung der
Gewalten unterschiedlich akzentuiert wird.5 Im Hinblick auf die Konkretisierung be-
darf es, selbst wenn hier nur das deutsche Rechtssystem der Ausgangspunkt ist, einer

1
Grundlegend Prittwitz, Strafrecht und Risiko, 1993.
2
Faktizität und Geltung, 4. Aufl. 1994.
3
Günther, Der Sinn für Angemessenheit, 1998. Diese Konzeption wurde von Habermas
übernommen, siehe ders. (Fn. 2), Kap. V, 238 ff.
4
Kritisch zu Günther Alexy, Normenbegründung und Normanwendung, in: ders., Recht,
Vernunft, Diskurs. Studien zur Rechtsphilosophie, 1995, 52 – 71; siehe auch ders., Justifica-
tion and Application of Norms, Ratio Juris 6 (1993), 157 als Replik auf Günther, Ratio Juris 6
(1993), 143.
5
Möllers, Gewaltengliederung. Legitimation und Dogmatik im nationalen und internatio-
nalen Rechtsvergleich, 2005. Einigkeit besteht immerhin darin, dass die Staatsgewalt
(rechtsstaatlich) dreifach zu gliedern ist.
708 Lorenz Schulz

differenzierten Betrachtung. Dafür muss man nicht Niklas Luhmann folgen, der die
Rechtsprechung als Herz des Rechtssystems betrachtet und ihr die verbindliche
Grenzziehung zwischen Recht und Unrecht überträgt.6 Es genügt, auf das allseits be-
kannte Gebrechen des Gesetzgebers hinzuweisen. Er unterliegt nicht dem Gebot op-
timaler Präzisierung, anders als die Rechtsprechung.7 Im politischen Betrieb sind die
Fälle Legion, in denen sich der Gesetzgeber nicht wirklich entscheidet und zu For-
melkompromissen greift. Dafür soll ein Beispiel genügen. Der 1. Strafsenat des BGH
hatte am 20. Mai 2010 eine scharfe Beschneidung des Instituts der strafbefreienden
Selbstanzeige im Steuerstrafrecht (§ 371 AO) bewirkt.8 Dieses Institut wurde damit
praktisch ins weite Feld von Strafbarkeitsrisiken verlagert, in dem auch darauf spe-
zialisierte Anwälte nicht mehr mit Sicherheit Auskunft über die Strafbarkeit geben
können. Beim Gesetzgeber stand zu Beginn die Beibehaltung des Instituts als solches
in Frage. Im Ergebnis behielt man es bei, regelte es aber überaus komplex, mit der
vielleicht beabsichtigten Folge starker Rechtsunsicherheit.9
Davon lassen sich Fälle unterscheiden, in denen der Gesetzgeber sich vergleichs-
weise unbeschwert an einer Regulierung versuchen kann. Aber auch hier sind nor-
mative Risiken programmiert. Davon zeugt, um auch hierfür ein Beispiel zu
geben, das Bemühen, den vorgeblichen Missbrauch von Werkverträgen, manchmal
auch Scheinselbständigkeit genannt, zu bekämpfen. Am 16. Nov. 2015 legte die da-
malige Arbeitsministerin Nahles einen Gesetzesentwurf vor, mit der Behauptung, er
würde die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung abbilden. Nach einer geharnischten
Stellungnahme des Bundes der Richterinnen und Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit10
folgte schon am 17. Febr. 2016 ein gravierend überarbeiteter Entwurf.11 Erst mit ihm
wurde nun tatsächlich die ständige Rechtsprechung des BAG abgebildet. Um die
Grenze zwischen abhängiger und selbständiger Beschäftigung zu präzisieren,
wurde § 611a ins BGB eingefügt.12 Demnach gilt: „Durch den Arbeitsvertrag
wird der Arbeitnehmer im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener,
fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet.“ (Abs. 1 S. 1).
Die angestrebte Präzisierung blieb gleichwohl in einer zentralen Hinsicht Stückwerk.
Der Gesetzgeber regelte nicht, in welchem Verhältnis die Regelungen von § 7 Abs. 1
6
Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993.
7
BVerfGE 126, 196, hierzu s. u.
8
BGH, Beschl. v. 20. 5. 2010 – 1 StR 577/09 = NStZ 2010, 642.
9
Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Selbstanzeige. In der Praxis führte es dazu, dass Steu-
erberater jedenfalls unter der Hand dem Mandanten empfehlen, das Risiko der Entdeckung
mit den Risiken einer Selbstanzeige abzuwägen (dazu gehören nicht nur das Risiko, dass sie
am Ende nicht wirksam ist, sondern auch, dass das Finanzamt bei künftigen Steuererklärungen
genauer hinblicken dürfte).
10
NZA 2016, H. 3, VIII-X.
11
Der im Kabinett und unter den Parteien schnell auf Zustimmung stieß. Die zeitweise
Ablehnung seitens der CSU diente vornehmlich dazu, bei der Gesetzgebung im Erbrecht zum
Ziel zu kommen.
12
Rechtshistorisch ein Markstein, weil damit nach 117 Jahren erstmals der Arbeiter in den
Text des BGB Eingang fand.
Der Irrtum als Seismograph des Strafrechts 709

SBG IV13 und § 611a BGB stehen. Damit entfaltet § 611a BGB nur indirekt Folgen
für die Frage, ob § 266a Abs. 1 StGB sozial- oder arbeitsrechtsakzessorisch ist.14
Die Frage einer Akzessorietät des Tatbestands zu anderen Rechtsgebieten ist bei
§ 266a StGB zwar komplexer, sofern noch weitere Rechtsgebiete betroffen sind, aber
der Streit zwischen einer Sozialrechts- und Zivilrechtsakzessorietät steht mit Recht
im Vordergrund.15 Für eine Reduzierung normativer Risiken ist es methodisch ein-
deutig vorzugswürdig, den Begriff des Arbeitgebers (resp. Arbeitnehmers) einheit-
lich zu bestimmen.16 Deshalb verdienen hier die Konfliktlinien Aufmerksamkeit,
zumal der Streit darüber Aufschluss geben könnte, welcher Gerichtsbarkeit der Pri-
mat zukommt. Wenngleich nach häufiger Auffassung der Arbeitgeberbegriff sozial-
rechtlich bestimmt werden soll,17 halten manche Vertreter dieses Lagers den Streit für
praktisch folgenlos, weil § 7 Abs. 1 SGB IV auf das Dienst- und Arbeitsrecht abstel-
le, so dass wieder andere auf eine Positionierung verzichten.18 Die Schwäche der So-
zialrechtsakzessorietät erweist sich in der Frage der Verjährung von § 266a StGB.19
Für die Arbeitsrechtsakzessorietät spricht neben einigen Vorzügen, die sich aus dem
zu Lasten der abweichenden Auffassung Gesagten auch, dass sie dem Wortlaut des
§ 266a StGB gerecht wird.20
Die Akzessorietät disponiert das Verhältnis der Gerichtsbarkeiten von Sozial- und
Arbeitsrecht und verdient deshalb große Aufmerksamkeit. Bei näherem Zusehen de-
terminiert seine Bestimmung dieses Verhältnis jedoch nicht. Wie im Strafrecht ge-
nerell, ist das Prozessrecht zum Leidwesen des in Deutschland materiell geprägten
Common Sense nicht einfach die Magd des materiellen Rechts. Das erweist sich an
dem Umstand fehlender (formaler) Bindungswirkungen von Entscheidungen der Ge-
richtsbarkeiten untereinander. Deshalb hätte hier eine ausdrückliche Maßgabe des
Gesetzgebers normative Risiken mindern können. Weil diese ausblieb, bleibt die Be-
stimmung des Verhältnisses von Sozial- und Arbeitsrecht bis auf Weiteres der Recht-
sprechung überlassen. Diese folgt aber weitgehend dem Eigensinn des je befassten
Gerichtsgebiets und seiner Gerichtsbarkeit. Konflikte waren und sind hier deshalb

13
„Beschäftigung ist die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhält-
nis. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Ein-
gliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers.“
14
Siehe Schulz, Im Kreisverkehr des Rechts, FS Neumann, 2018, 1215 m.N.
15
So wird i.W. weder die Anknüpfung an das Steuerrecht vertreten noch ein strafrechtli-
cher Arbeitgeberbegriff.
16
Dem folgt die h.M., siehe ErfK-Preis, § 611 BGB Rn. 35 m.N.
17
Siehe nur MüKo-Radtke, 3. Aufl. 2019, § 266a Rn. 9 und Perron, in: Schönke/Schröder,
31. Aufl. 2019, § 266a Rn. 11, jeweils m.w.N.
18
Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, § 266a Rn. 4, 9a m.N.
19
Weil im Sozialrecht die Annahme des Vorsatzes die Beitragspflicht einer Verjährung von
30 Jahren unterwirft (§ 25 Abs. 1 S. 2 SGB IV), bewirkt die Engführung von Straf- und So-
zialrecht, dass es praktisch keine Verjährung mehr gibt, siehe Schulz (Fn. 14) m.N.
20
Für viele Esser, in: Leipold/Tsambikakis/Zöller (Hrsg.), AnwaltKommentar StGB,
2011, § 266a Rn. 14 m.w.N.
710 Lorenz Schulz

programmiert.21 Auch hierfür ein Beispiel: Das BSG hat jüngst in mehreren Urteilen
vom 4. Juni 2019 zum Status von Honorarärzten22 zwar eingeräumt, dass der ver-
tragsrechtliche Status der Honorarärzte im Krankenhaus durch die Rechtsprechung
des BSG nicht vorgeprägt sei und dass Honorarärzte in dieser Hinsicht in der arbeits-
gerichtlichen Rechtsprechung als Selbständige tätig sind. Um davon abweichen zu
können, berief es sich jedoch auf unterschiedliche Wertungen des BAG und des
BSG. Im Arbeitsrecht gehe es, so das Gericht, im Wesentlichen um die privatauto-
nome Entscheidung der Vertragsparteien, während bei der Sozialversicherung neben
der sozialen Absicherung des Einzelnen der Schutz der Solidargemeinschaft maß-
geblich sei. Weil die Träger der Sozialversicherung Einrichtungen des öffentlichen
Rechts seien, wäre es ausgeschlossen, „dass über die rechtliche Einordnung einer Tä-
tigkeit allein die von den Vertragschließenden getroffenen Vereinbarungen entschei-
den (Rn. 19)“. Damit adelt das Gericht zwar die Praxis der Sozialversicherungsträ-
ger, im Zweifel auch gegen arbeitsrechtliche Wertungen eine abhängige Beschäfti-
gung anzunehmen und dabei § 266a StGB nicht als ultima, sondern als effektive
prima ratio zu handhaben.23 Dogmatisch kohärent ist dies nicht,24 soweit zutrifft,
dass wie erwähnt bei allem Streit um die Akzessorietät weitgehende Einigkeit dar-
über besteht, dass auch § 7 Abs. 4 SGB IV auf das Arbeitsrecht verweist. Die Har-
monisierung der Divergenzen zwischen den Gerichtsbarkeiten dürfte aufgrund der
fehlenden formalen Bindungswirkung von Entscheidungen untereinander sich allen-
falls ,in the long run‘ ergeben.25
Die Beispiele sollen genügen. Im Ergebnis mag es dahinstehen, ob der Gesetzge-
ber es nicht besser kann oder die Lösung des „Kreisverkehrs des Rechts“26 den Ge-
richten überlässt, zum Nachteil der Normadressaten, die ihre Entscheidungen ex ante
zu treffen haben und keine rechtskräftige Entscheidung abwarten können, weil schon
vorher erhebliche Strafbarkeitsrisiken auftreten.27
Die Verteilung der normativen Risiken ist zwar eine Frage der Verteilungsgerech-
tigkeit, doch kann dafür nicht auf das Schema von Aristoteles zurückgegriffen wer-
den. Aristoteles unterscheidet nämlich nicht einfach, wie oft angenommen, die Ge-

21
Schulz (Fn. 14).
22
Leitfall BSG, Urt. v. 4. 6. 2019, – B 12 R 11/18 R, NZA 2019, 1583.
23
Vgl. Schulz, ZIS 2014. Näheres zur Praxis des Rechts der Rentenversicherung siehe
Schulz (Fn. 14).
24
Zutr. Hanau, NZA 2019, 1552, 1553.
25
Der Verweis auf den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmS-
OGB) würde nur beschwichtigen. Er ist nur on paper dafür eingerichtet, die Einheitlichkeit der
Rechtsprechung zu gewährleisten; siehe Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Recht-
sprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes.
26
Schulz (Fn. 14).
27
In der Folge der zivilrechtlichen Vorsatztheorie, wonach der Wille vorauszusetzen ist,
die Abführung der Beiträge bei Fälligkeit zu unterlassen, hat das LG Bochum am 28. 05. 2014
(I-4 O 39/14) mit Bezug auf § 266a StGB mutig auf das Vorliegen einer rechtskräftigen
Entscheidung abgestellt.
Der Irrtum als Seismograph des Strafrechts 711

rechtigkeit als solche mit dem Schema von kommutativer und distributiver Gerech-
tigkeit, sondern bezieht die Unterscheidung auf die spezielle, nicht generelle Gerech-
tigkeit.28 Eben diese vorgängige, generelle Gerechtigkeit besteht im Normgehorsam.
Gerade hier tritt aber das Problem der normativen Ungewissheit auf. Was nämlich ist
die Folge, wenn dem Normadressaten nicht klar ist, worin der Normbefehl besteht?29
Dem Prüfschema im Unterricht folgend, das dem dreigliedrigen Tatbestandsauf-
bau entspricht, folgt die Antwort auf die Frage nach der Folge fehlender Normkennt-
nis bei unklarer Rechtslage der Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit. Damit wird das
Problem objektiviert. Hier ist zunächst zu fragen, ob der Tatbestand überhaupt hin-
reichend bestimmt ist. Wäre das Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG) verletzt,
käme es auf die subjektive Seite nicht mehr an, der Einzelne wäre zu Lasten des Staa-
tes entlastet. Für eine solche Lösung ist die bereits erwähnte Entscheidung des
BVerfG vom 23. Juni 2010 der Ausgangspunkt.30 Demnach ist zwar nicht der Gesetz-
geber, aber die Rechtsprechung dem Gebot optimaler Präzisierung unterworfen. Der
Witz dieser Konzeption ist, dass damit das Rückwirkungsverbot mehr oder weniger
auch auf die Rechtsprechung bezogen wird.31 Dies ist der Fall, weil die Rechtspre-
chung zur Bestimmtheit einer Norm wesentlich beiträgt. Sie ist, mit anderen Worten,
für den Schritt von der Bestimmbarkeit zur Bestimmtheit verantwortlich und kann
deshalb in die Pflicht genommen werden, soweit rückwirkend belastende Entschei-
dungen ergehen. Diese hat sie, gewissermaßen als Nebenpflicht, rechtzeitig anzu-
kündigen. Das kann etwa in Form des obiter dictum erfolgen.32 Wie weit diese Lö-
sung, die so auch im Schrifttum vertreten wird,33 praktisch trägt, bleibt abzuwarten,
insbesondere seit der Berichterstatter der Entscheidung und zugleich Anwalt des
klassischen Schuldprinzips, Herbert Landau, aus dem Gericht ausgeschieden ist. Ge-
wiss ist eine objektivierende Lösung vorzugswürdig, zumal die realitätsnahe Lösung
des BVerfG das klassische Verständnis des nullum crimen Satzes, wonach die gesetz-
geberische Norm bestimmt und nicht nur bestimmbar zu sein hat, strapaziert. Schon
weil praktisch eine Verletzung von Art. 103 Abs. 2 GG regelmäßig verfassungsge-
richtlich nicht festgestellt wird,34 muss auf subjektive Lösungen eingegangen wer-
den, die auch im Normalfall bestimmter Tatbestände die Gerichte beschäftigen.
28
NE, 5. Buch.
29
Dabei mag die bereits differenzierte Behandlung des Irrtums bei Aristoteles dahinstehen,
der zwar der modernen Zurechnungslehre den Weg weist, aber weder auf die moderne Un-
terscheidung von Ethik und Recht zurückgreifen kann noch auf den uns geläufigen Aufbau der
Straftat; hierzu Meyer, Martin F., Wissen und Zurechenbarkeit bei Aristoteles, Ancilla Iuris
2010 (www.anci.ch/articles/ancilla2010_15_meyer.pdf).
30
BVerfGE 126, 196, hierzu Schulz, Neues zum Bestimmtheitsgebot, FS für Klaus Roxin
zum 80. Geburtstag, 2011, 305.
31
Diese Lösung entspricht der Judikatur des EGMR im Hinblick auf Common Law-Mit-
gliedsstaaten.
32
Details hierzu bei Schulz (Fn. 14).
33
So Cornelius, Kai, Die Verbotsirrtumslösung zur Bewältigung unklarer Rechtslagen –
ein dogmatischer Irrweg, GA 2015, 101, der allerdings über das BVerfG hinausgeht.
34
Wofür auch die genannte Entscheidung vom 24. Juni 2010 steht.
712 Lorenz Schulz

Hier wird die Frage der Verantwortlichkeit bei unklaren Rechtslagen zumeist beim
Verbotsirrtum gestellt und beantwortet.35 Hier ist man sich, so im Schrifttum, weithin
einig, dass die Vermeidbarkeit von der Rechtsprechung zu restriktiv gehandhabt wird
und damit die unklare Rechtslage nicht dem Staat, sondern dem Bürger angelastet
wird.
Die Herauslösung des Vorsatzes aus der Schuld im Gefolge des Finalismus hat
eben dazu geführt, dass die Normkenntnis bereits im subjektiven Tatbestand, d. h.
beim Vorsatz zum Problem werden konnte. Der Irrtum über Tatumstände nach
§ 16 StGB umfasst auch den Irrtum bei den (so genannten)36 normativen Tatbestands-
merkmalen. Diese sind genau besehen eine der zentralen Arenen, in denen um die
Verteilung normativer Risiken gerungen wird.37
Vor allem in der Rechtsprechung ist, wie das nachfolgende Beispiel illustrieren
wird, die Neigung erkennbar, den Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale als
Verbotsirrtum zu qualifizieren.38 In diesem Fall habe dann der Einzelne eben falsch
subsumiert.
Blickt man genauer hin, betrifft der Subsumtionsirrtum wie der Verbotsirrtum ge-
nerell den Irrtum über eine Regel, nicht den fallbezogenen Irrtum.39 Beim Irrtum über
ein normatives Tatbestandsmerkmal enthält der fallbezogene Irrtum auch einen Re-
gelbezug. Dies lässt sich begrifflich besser fassen, wenn man den Begriff der insti-
tutionellen Tatsache im Sinne von John Searle heranzieht.40 Nicht nur verführt er

35
Hier sei exemplarisch nur die Festschrift für Ulfrid Neumann genannt, in der in mehreren
Beiträgen (Naucke, Pawlik u. a.) das unklare Recht im Kontext des Verbotsirrtums erörtert
wird.
36
NK-Puppe, 4. Aufl. 2013, § 16 Rn. 31, 45 ff., spricht durchweg von so genannten „nor-
mativen Tatbestandsmerkmalen“, da damit vielfach die Vorstellung einhergeht, ihre Feststel-
lung sei mit einem separaten Akt der Wertung verknüpft (Rn. 50). Sie zieht deshalb den
Begriff der institutionellen Tatsache vor.
37
Nach Rechtsprechung und noch überwiegender Meinung sei dieser Irrtum zu unter-
scheiden vom Irrtum über Merkmale eines Blankett- oder Verweisungstatbestands, der in der
Tendenz dem Verbotsirrtum unterfallen soll. Diese Unterscheidung wirkt etwas künstlich und
die Ansätze hierzu führen kaum darüber hinaus, dass bei Verweisungstatbeständen dem
strafrechtlichen Tatbestand etwas „Neues“ hinzugefügt werde, bei normativen Tatbestands-
merkmalen dies nicht der Fall sei und nur eine konkludente Verweisung erfolge. Die Ver-
weisungstatbestände, die mit dem Bestimmtheitsgebot in Konflikt geraten, sobald die Ver-
weisung dynamischer Natur ist, sollen hier auf sich beruhen.
38
Dies gilt dann nicht, wenn man insbesondere in finalistischer Tradition die Vermeid-
barkeit bei § 17 StGB restriktiv handhabt, d. h. auch hier das Individuum ins Recht setzt; so
gegenwärtig Bung, Handbuch des Strafrechts, § 34 Der subjektive Tatbestand, (im Erschei-
nen).
39
Neumann, Regel und Sachverhalt in der strafrechtlichen Irrtumsdogmatik, FS Puppe
2011, 171; zum Begriff der institutionellen Tatsachen im Recht allgemein siehe bereits ders.,
Das Problem der Rechtsgeltung, in: ders., Recht als Struktur und Argumentation. 2008, 224 –
240.
40
Siehe Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, § 5 Rn. 92. Kühl verweist hier auf Jakobs und
Puppe, die wiederum an Searle anknüpft; explizit bei Popp, Andreas, Pflichtenakzessorietät
Der Irrtum als Seismograph des Strafrechts 713

nicht dazu, bei der Feststellung dieser Tatsache einen genuinen Akt der Bewertung zu
postulieren. Es kommt hinzu, dass bei Searle diese Tatsache gerade durch Regeln
konstituiert ist. Die Auslegung des § 16 StGB, wonach dieser auch für institutionelle
Tatsache zuständig ist, wirkt gelegentlich skandalös,41 besonders im Wirtschafts-
strafrecht. Dass dies anstößig ist, zeigt eben die genannte Tendenz der Rechtspre-
chung, dieses Privileg im Zweifel anzutasten. Auch in der Strafrechtswissenschaft
gibt es Versuche, dieses Privileg zugunsten des Staates auszuräumen oder es wenigs-
tens einzuschränken. Ingeborg Puppe hat diesen Weg früh beschritten und den Vor-
satz objektiviert und damit im Ergebnis normativiert.42

II.
Ein praktisch hochbedeutsames Fallbeispiel soll die skizzierte Problematik illus-
trieren. Weithin bekannt ist, dass dem 1. Strafsenat unter dem Vorsitz von Armin
Nack eine punitive Sonderrolle zukam.43 Im Jahr 2000 übernahm er den stellvertre-
tenden Vorsitz und ab 1. November 2002 den Vorsitz des 1. Strafsenats, den Nack bis
zum Eintritt in den Ruhestand am 30. April 2013 ausübte. Beachtung fanden nicht
wenige Leitentscheidungen des Senats. Erwähnt wurde bereits die Judikatur zur
Selbstanzeige. Davor hatte sich der Senat, nachdem er die Zuständigkeit für Steuer-
strafsachen erhalten hatte, auf strengere Grundsätze für die Strafzumessung bei Steu-
erhinterziehung festgelegt. Nicht gelungen ist es ihm, die Steueranspruchstheorie zu
kippen, nach der die Kenntnis des Steueranspruchs zum Vorsatz gehört und der Irr-
tum nach § 16 StGB zu behandeln ist.44 Aber bereits sein entsprechendes obiter dic-
tum in der Entscheidung vom 8. Sept. 2011 hatte große Verunsicherung ausgelöst.
Was im Steuerstrafrecht nicht gelang, erreichte der Senat jedoch bei § 266a StGB.

und Irrtumslehre – Die neuere Rechtsprechung des BGH zu § 266a Abs. 1 StGB, in: Stein-
berg, Valerius, Popp (Hrsg.), Das Wirtschaftsstrafrecht des StGB, 2011, 125 Fn. 45. Der Be-
griff wurde in der Philosophie prominent, weil dieser in der Sprechakttheorie Searles an
zentraler Stelle zur Erläuterung illokutionärer Sprechakte benutzt wird, an die wiederum Karl-
Otto Apel und Jürgen Habermas angeschlossen haben.
41
Hier heißt es dann, dass nicht der Verbotsirrtum zu hart sei, sondern der Tatbestands-
irrtum zu weich gehandhabt werde, weil er die Gleichgültigkeit prämiere; vgl. Tonio Walter,
Der Kern des Strafrechts. Die allgemeine Lehre vom Verbrechen und die Lehre vom Irrtum,
2006, 408 ff.
42
Weitere Nachweise für normativierende Ansätze bei Gaede, Auf dem Weg zum poten-
tiellen Vorsatz, ZStW 121 (/2009), 239. Die Normativierung fällt gerade dann leicht, wenn das
Normative soziologisch als selektive Konstruktion des Faktischen begriffen wird.
43
Der Strafverteidiger Ali B. Norouzi berichtete bei einem Vortrag auf dem 34. Strafver-
teidigertag 2010, dass sein früherer Referendarausbilder am LG Tübingen stets sagte, „sein“
Senat sei „wie Oliver Kahn – der hält alles, was zu halte isch“; ders., Vom Rekonstruktions-
verbot zum Dokumentationsgebot, in: Schriftenreihe der Strafverteidigervereinigungen
Bd. 34, 2011, 215, 228 Fn. 10.
44
Hierzu Kuhlen, Vorsätzliche Steuerhinterziehung trotz Unkenntnis der Steuerpflicht? FS
Kargl 2015.
714 Lorenz Schulz

Ohne Not in der Sache kassierte der Senat eine Entscheidung des LG Ravensburg
zum Vorsatz beim Merkmal „Arbeitgeber“ und statuierte, dass § 16 StGB nur die
Kenntnis der Tatumstände erfasse und jegliche irrige Bewertung ein schlichter Sub-
sumtionsirrtum nach § 17 StGB sei. Das wurde prozedural eingebettet: Der Norm-
adressat könne die normative Ungewissheit beseitigen, indem er die Statusfeststel-
lung gem. § 7a SGB IV beantrage. Dies entspricht nur auf den ersten Blick prozedu-
raler Gerechtigkeit. Bei näherem Zusehen wird es eine zudem wenig praxisnahe
Verteilung des normativen Risikos zu Lasten des Individuums. Das Statusfeststel-
lungsverfahren betrifft eine Entscheidung im Einzelfall bei zweifelhafter Generali-
sierbarkeit. Hinzu kommt der Zeitfaktor bei wirtschaftlichen Entscheidungen. Das
Feststellungsverfahren dauert lange, da die Entscheidung durch einen Versiche-
rungsträger erfolgt, dessen Entscheidungsverhalten stark wirtschaftlich motiviert
ist. Ist der Normadressat, der wirtschaftliche Akteur, wie unter diesen Umständen
nicht selten, mit der Entscheidung nicht einverstanden, steht ihm der Rechtsweg
offen. Beginnt der Vorsatz aber erst, wenn eine rechtskräftige Entscheidung darüber
ergangen ist? Das möchte man annehmen. Praktisch ist dies nicht der Fall, weil be-
reits nach dem ersten Bescheid des Versicherungsträgers ein für unternehmerische
Entscheidungen wichtiges Strafbarkeitsrisiko entsteht. Schon die Einleitung eines
Ermittlungsverfahrens wegen § 266a StGB durch den Zoll hat die Wirkung einer
Strafe, weil sie zumeist mit einer Durchsuchung verbunden wird, die regelmäßig mit-
unter auf Betreiben der Staatsanwaltschaft öffentlich bekannt wird. Sollte schließlich
am Ende doch kein Irrtum nach § 16 StGB anerkannt werden, ist der Schaden im-
mens. Das Sozialrecht eröffnet dann die Möglichkeit einer Bruttoberechnung und
von Verspätungszuschlägen, all das unter dem Damoklesschwert von § 266a
Abs. 1 StGB.
Mit dieser Entscheidung flankierte der Senat die ungefähr zeitgleich einsetzende
Verschärfung im Vorgehen der Deutschen Rentenversicherung gegen die „Schein-
selbständigkeit“. Die Vorsatzprüfung lief hier leer, weil in den Fällen der ursprüng-
lich nicht von § 266a StGB erfassten „Scheinselbständigkeit“ im Regelfall nicht über
tatsächliche Umstände getäuscht wird, auf deren Kenntnis der Irrtum von § 16 StGB
reduziert wurde.45
So wurde es den Versicherungsträgern leichtgemacht, in der Praxis bei einer feh-
lenden Statusfeststellung einfach den Vorsatz zu unterstellen, mit desaströsen Folgen
in strafrechtlicher Hinsicht. Wie erwähnt, sind die Folgen dieser Unterstellung im
Sozialrecht drastisch, weil die Annahme des Vorsatzes hier eine pauschalierende
Bruttoberechnung mit erheblichen Säumniszuschlägen erlaubt und die Beitrags-
pflicht einer Verjährung von 30 Jahren unterwirft.46

45
Erst spät erhielt der Tatbestand mit dem Gesetz zur Intensivierung der Bekämpfung der
Schwarzarbeit vom 23. Juli 2004 die übergreifende Funktion, jede illegale Beschäftigung zu
erfassen, und verlor den Charakter der Untreue. Soweit nun auch die ,Scheinselbstständigen‘
als Fall der Schwarzarbeit angesehen wurden, diente der Tatbestand auch ihrer ,Bekämpfung‘.
46
§ 25 Abs. 1 S. 2 SGB IV.
Der Irrtum als Seismograph des Strafrechts 715

Inzwischen ist der 1. Strafsenat dabei, sich vom Erbe Armin Nacks zu verabschie-
den.47 Dafür steht exemplarisch die Rechtsprechungsänderung beim Irrtum. Die in
Frage stehende Entscheidung des 1. Strafsenats datiert vom 24. Sept. 2019 und be-
trifft den Vorsatz bei § 266a Abs. 1 StGB.
Für die Änderung bedurfte es, Thomas S. Kuhn lässt grüßen, eines neuen Vorsit-
zenden und einer neuen Zusammensetzung des 1. Senats. Auch ein neuer Vorsitzen-
der braucht einen Senat, der nicht mehr von Richtern geprägt ist, die der früheren
Linie verhaftet sind, sondern von Richtern, die ihm Raum für eine Neuausrichtung
geben. So war erst einige Jahre nach dem Ausscheiden von Armin Nack die Zeit
der Wende gekommen. Zunächst sattelte der 1. Senat im Weg eines obiter dictum
seine Pferde neu.48 Dabei erwies sich gerade der Umstand, dass die Steueranspruchs-
theorie ihre obiter dictum-Belagerung überstand, als günstig, um der Wende ein dog-
matisch unwiderstehliches Gewand zu geben:
„Da für die Differenzierung kein sachlicher Grund erkennbar ist und es sich jeweils um (nor-
mative) Tatbestandsmerkmale handelt, erwägt der Senat – insoweit entgegen den Überle-
gungen in dem Beschluss des Senats vom 8. September 2011 – 1 StR 38/11, NStZ 2012,
160, 161 Rn. 23 ff. –, zukünftig auch die Fehlvorstellung über die Arbeitgebereigenschaft
in § 266a StGB und die daraus folgende Abführungspflicht insgesamt als (vorsatzausschlie-
ßenden) Tatbestandsirrtum zu behandeln.“

Dieses obiter dictum wurde allenthalten mit Erleichterung aufgenommen.49


Schon nach nicht einmal zwei Jahren hat nun der Senat Nägel mit Köpfen gemacht,
indem die Änderung der Vorsatzrechtsprechung eine tragende Rolle übernahm, was
sich in der Veröffentlichung der Entscheidung in der Literatur in einem Leitsatz (der
Redaktion) niedergeschlagen hat.50 Mit allseits zustimmenden Urteilsanmerkungen
kann wieder gerechnet werden. Da die damit zurückgenommene Rechtsprechung
zum Vorsatz gerade vom 1. Senat ausgegangen ist, ist schwerlich damit zu rechnen,

47
Und wird unter den Strafsenaten allgemein nicht mehr als der „Olli Kahn“-Senat ange-
sehen (vgl. oben Fn. 43).
48
Entscheidung vom 24. Jan. 2018.
49
Siehe nur MüKo-Radtke, 266a Rn. 90. Die zustimmenden Urteilsanmerkungen sind
Legion.
50

1. Vorsätzliches Handeln ist bei pflichtwidrig unterlassenem Abführen von Sozialversiche-


rungsbeiträgen (§ 266 a I und II StGB) nur dann anzunehmen, wenn der Täter auch die
außerstrafrechtlichen Wertungen des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts – zumindest
als Parallelwertung in der Laiensphäre – nachvollzogen hat, er also seine Stellung als
Arbeitgeber und die daraus resultierende sozialversicherungsrechtliche Abführungspflicht
zumindest für möglich gehalten und deren Verletzung billigend in Kauf genommen hat.
2. Irrt der Täter über seine Arbeitgeberstellung oder die daraus resultierende Pflicht zum
Abführen von Sozialversicherungsbeiträgen, liegt ein Tatbestandsirrtum vor; an seiner
entgegenstehenden, von einem Verbotsirrtum ausgehenden Rechtsprechung hält der Senat
nicht fest.
716 Lorenz Schulz

dass ein anderer Senat den Großen Senat anrufen wird.51 Während im Entstehungs-
horizont die Entwicklung auf gewisse Weise dramatisch verlaufen ist, verhält es sich
im Begründungshorizont geradezu unspektakulär. Hier ist der 1. Strafsenat zu einer
Rechtsprechung zurückgekehrt, die nun allen einleuchtet.
Die genauen Folgen der Entscheidung für die Praxis bleiben abzuwarten.52 Be-
kanntlich ist die Vorsatzfeststellung eines Gerichts mit großen Spielräumen ver-
knüpft. Insbesondere Puppe hat dies herausgestellt.53 Auch wenn man mit ihr von
einem „Leerbegriff“ sprechen möchte, muss man sich nicht ihrer Folgerung anschlie-
ßen. In der Praxis ist nämlich nicht zu erkennen, dass die Rechtsprechung damit vor
einem „prinzipiell unlösbaren“ Problem stehe.54 Das illustriert im hiesigen Kontext
der 5. Strafsenat in einer Entscheidung zum Vorsatz bei § 266a StGB, bei der er eine
Anfrage beim 1. Senat wegen des erwähnten obiter dictum vom 24. Jan. 2018 ver-
meiden wollte, so dass auch nach der Kehrtwende des 1. Senats im Einzelfall
harte Entscheidungen möglich sind.55 Das nimmt der Kehrtwende allerdings nicht
ihre Wirkung. Zu beobachten bleibt auch die nicht unerhebliche Ausstrahlungswir-
kung auf andere Straftatbestände. Nicht zuletzt ist zu hoffen, dass die Renaissance
des Irrtums nach § 16 StGB auch auf den Irrtum bei Verweisungstatbeständen aus-
strahlt.56

Epilog
Nach Erinnerung des Verfassers hat sich der Jubilar jenseits von strafrechtlichen
Arbeitsgemeinschaften substantiell mit der juristischen Welt der Irrtümer erstmals
befasst, als er als Assistent von Arthur Kaufmann das Angebot der „Zeit“ annahm,
als Journalist für die Wochenzeitung zu arbeiten. Das erste „Dossier“, für das er ver-
antwortlich war, galt dem mit dem Dossier berühmt gewordenen Fall des „Katzen-
königs“.57 Obiter dictu gesprochen wäre es erfreulich, wenn er einen weiteren Beitrag
zur Irrtumsproblematik leisten würde. Dafür könnte er, seit Münchner Zeiten gleich-
falls wohlvertraut mit der angloamerikanischen Philosophie, an den Beitrag des eins-
tigen Münchner Weggefährten Ulfrid Neumann anschließen, um das normative Po-
tential der Philosophie von Searle sub specie Irrtum bei institutionellen Tatsachen
weiter auszuloten. Ad multos annos.
51
Man darf damit rechnen, dass die Anmerkungen zum obiter dictum fortgeschrieben
werden und dass alsbald auch die Kommentarliteratur der geänderten Rechtsprechung folgen
wird.
52
Siehe die Beiträge von Naucke, Pawlik und Roxin, in: FS Neumann, 201, 955, 985 und
1023.
53
Puppe, ZStW 103 (1991), 1 ff.
54
So bereits Prittwitz, 1993, und nochmals ders., Risikovorsatz und Vorsatzgefahr. Zum
Verständnis und zur strafrechtlichen Relevanz des Verdrängens, FS Puppe, 2011, 819.
55
Urt. v. 13. Dez. 2018, GmbHR 2019, 278, 282.
56
So auch Brand, Urteilsanmerkung, NJW 2019, 3536.
57
Die Zeit, 23. Sept. 1988.
Was für ein Irrtum
Von Heinz Koriath

Als Putativnotwehr oder Erlaubnistatbestandsirrtum (im Folgenden möchte ich


das Kürzel „Etbi“ verwenden) wird der folgende einfache Sachverhalt bezeichnet:
Ein Aktor glaubt, er werde von einer Person angegriffen und verteidigt sich angemes-
sen. Tatsächlich wurde er aber gar nicht angegriffen; wäre er aber, wie angenommen,
angegriffen worden, dann wäre seine Verteidigungshandlung gerechtfertigt gewesen.
Als Beispiel für einen „Etbi“ soll uns dieser Fall dienen: Frau A verweilt allein in
ihrer geräumigen Villa, als sie plötzlich und unerwartet zur mitternächtlichen Stunde
unklare Geräusche an der Haustür wahrnimmt. Wer um alles in der Welt versucht da
in ihr Haus einzudringen? Ihr Gatte kann es doch nicht sein, den erwartet sie erst mor-
gen von einer Geschäftsreise zurück. Also muss es ein Einbrecher sein, der weiß Gott
welche Absichten verfolgt! Soeben öffnet diese ungebetene Person die Tür zum
Wohnraum, da schießt Frau A gezielt auf den unerkannten Eindringling. (Für solche
Fälle hat Frau A stets einen Revolver griffbereit1.) Er bricht schwer verletzt zusam-
men. Erst jetzt erkennt Frau A, dass sie ihren Gatten verwundet hat, der früher als
erwartet von seiner Geschäftsreise zurückgekommen ist. Ist Frau A einer gefährli-
chen Körperverletzung (§ 224 StGB) schuldig?
Die besondere Eigenschaft dieser Fälle liegt darin, dass ein Aktor sich über eine
wesentliche Bedingung (oder einen wesentlichen Umstand) seiner Handlung irrt: Er
setzt einen Sachverhalt, nämlich einen (rechtswidrigen) Angriff, voraus, der aber in
Wirklichkeit nicht besteht. Und deshalb glaubt der Aktor (der „Defensor“), er dürfe
sich verteidigen. Das würde er aber nicht glauben, wenn er sich über eine tatsächliche
Bedingung („Angriff“) seiner „Verteidigungshandlung“ nicht geirrt hätte. Vielleicht
ist es möglich, die besondere Eigenschaft der Fälle, die unter den „Etbi“ fallen, auch
noch anders (oder besser) zu beschreiben. Doch in jeder Beschreibung müssen –
m. E. – diese beiden Elemente enthalten sein: Weil ein Aktor sich über eine (empi-
rische) Bedingung seiner „Verteidigungshandlung“ („Angriff“) irrt, nimmt er an, er
dürfe sich verteidigen. Eigentlich besteht also der „Etbi“ aus zwei Irrtümern oder
noch etwas genauer: Aus einer Art „Grundirrtum“ über einen empirischen Sachver-
halt („Angriff“) und einem daraus resultierenden – sagen wir – „Folgeirrtum“ über
das Erlaubtsein der „Verteidigungshandlung“.

1
Dass der „Etbi“ durchaus kein Fall aus der umfänglichen Lehrbuchkriminalität ist, zeigt
der kürzlich vom BGH entschiedene „Hells Angels“-Fall; BGH NStZ 2012, 272 ff.
718 Heinz Koriath

Für Irrtümer dieser Art gibt es keine gesetzliche Regelung; ausdrücklich hatte der
Gesetzgeber in der jüngeren Vergangenheit eine legislative Regelung offen gelassen,
um die wissenschaftliche Lösung des „Etbi“, die damals wie heute äußert umstritten
war und ist, nicht zu präjudizieren.2 Der Streit geht im Kern – und zunächst grob for-
muliert – um die Frage, ob Fälle dieser Art eher den Tatbestandsirrtümern (§ 16
Abs. 1 S. 1 StGB) oder den Verbotsirrtümern (§ 17 S. 1 StGB) zugeordnet werden
könnten; (wenn meine obige Beschreibung nicht ganz falsch sein sollte, dann sind
– prima facie – beide Zuordnungen nicht ganz unplausibel; vielleicht erklärt das
schon die Heftigkeit und Langwierigkeit des Streits). Von den – kaum noch über-
schaubaren3 – „Lösungsvorschlägen“ sind aber allenfalls vier Ansätze einer ernsthaf-
ten Prüfung würdig. Im Streit befinden sich die „strenge“ (II.) und die „eingeschränk-
te“ (I.) Schuldtheorie, die „rechtfolgenverweisende Schuldtheorie“ (III.) und die
„Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen“ (IV.).
Aber auch diese vier „Theorien“ sollte man nicht – wie es in der Sekundärliteratur
leider vielfach üblich ist – einfach aneinanderreihen. Tatsächlich haben nur die Theo-
rien (I.) – (III.) eine gemeinsame (Grund-)Prämisse, nämlich den dreigliederigen De-
liktsaufbau; Theorie (IV.) konstruiert den Verbrechensbegriff anders, nämlich zwei-
gliederig. Und daraus folgt: die Theorien (I.) – (III.) und (IV.) widersprechen sich gar
nicht. Und noch ein weiterer Punkt verdient vorab Beachtung: Die Kontroverse ver-
läuft direkt („konträr“) zwischen (I.) und (II.) der „eingeschränkten“ und der „stren-
gen“ Schuldtheorie. (III.) ist dagegen – sagen wir es ruhig ganz deutlich – leider nur
mehr ein fauler Kompromiss.4 Die eigentliche Frage lautet also: Wenn wir von dem
dreigliederigen Deliktsaufbau ausgehen sollen (und das sollen wir ja nach ganz
h.M.5), ist dann (I.) oder (II.) vorzugswürdig?

I. Die eingeschränkte Schuldtheorie


Nach der Mehrheitsmeinung schließt ein „Etbi“, wie bekannt, den Vorsatz des
Aktors aus. Danach hat Frau A ihren Gatten nicht vorsätzlich verletzt und ist daher
einer Körperverletzung auch nicht schuldig. Insoweit besteht Konsens. Nicht recht
klar ist aber die Begründung dieses Konsenses. Die stetig wiederholte, gleichwohl
lapidare Bemerkung, in der Situation des „Etbi“ verhalte sich der sich irrig Vertei-

2
Nachweise bei C. Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, S. 622
Rn. 53.
3
Einen vorzüglichen Überblick über den Streitstand gibt C. Roxin (Fn. 2), S. 622 – 626;
Roxin hatte den Streit um den „Etbi“ bereits 1973 (!) als „Theorienwirrwarr“ (Fn. 2), S. 626
Fn. 88 abgewertet. In den folgenden Jahrzehnten hat sich die Lage nicht verbessert.
4
B. Schünemann drückt sich, wie so häufig, ein wenig deutlicher aus: Für ihn ist dieser
Theorietyp eine „dogmatische Missgeburt“ (Nachweis bei C. Roxin (Fn. 2), S. 630 Fn. 103).
5
Obwohl Roxin die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen logisch und dogma-
tisch für gut vertretbar hält, plädiert er aber schlussendlich doch (m. E. aus traditionellen
Gründen) für einen dreigliedrigen Deliktsaufbau; C. Roxin (Fn. 2), S. 286 ff.
Was für ein Irrtum 719

digende (also Frau A) „an sich rechtstreu“6 ist zu vage, trifft nicht den Kern des
Irrtums. Ich möchte ein anderes Argument konstruieren, das in einer Analogie
zweier Figuren besteht, nämlich derjenigen, die eine Handlung vollzieht und
dabei einen „Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört“
(sich also nach § 16 Abs. 1 S. 1 StGB in einem Tatbestandsirrtum befindet) und
derjenigen, die in Putativnotwehr handelt, die sich also verteidigt, weil sie an-
nimmt, sie werde angegriffen. Der Analogieschluss geht so: So wie man voraus-
setzt, dass ein Aktor seine inkriminierte Handlung nicht vollzogen hätte, wenn
er gewusst hätte, dass sie eine schlimme Folge haben würde (der also in einem Tat-
bestandsirrtum befangen ist), so hätte auch der „Defensor“ sich nicht „verteidigt“,
wenn er erkannt hätte, dass er gar nicht angegriffen wurde. Hätte Frau A also er-
kannt, dass der „Einbrecher“ gar kein Einbrecher ist, sondern ihr Gatte, dann hätte
sie ihn selbstverständlich nicht so übel verletzt.
Das Argument ist ebenso schlüssig wie überzeugend; die Analogie wird begrün-
det durch dieselbe psychische Disposition (Irrtum über eine wesentliche tatsächliche
Bedingung einer Handlung) der Aktoren.
Hinzu kommt noch eine konstruktiv-methodische Nachbemerkung. Nach der
Lehre vom dreigliederigen Deliktsaufbau bezieht sich § 16 Abs. 1 S. 1 StGB (direkt)
auf die Verbotsnorm. Weil aber, wie hoffentlich gezeigt, zwischen den Irrtümern der
zwei Figuren eine hinreichende Analogie besteht, so kann auf den „Etbi“ § 16 Abs. 1
S. 1 StGB analog angewendet werden. Schließlich ist auch aus rechtsethischen
(„nullum crimen, nulla poena sine lege stricta“) und methodischen Gründen
gegen eine Analogiebildung kein Einwand zu erheben. Aus rechtsethischen nicht,
weil die Analogie in diesem Fall den Aktor ja nicht belastet, sondern im Gegenteil,
für ihn günstig ist („Vorsatzausschluss“) und aus methodischen Gründen nicht, weil
die Voraussetzung für eine Analogiebildung, die sog. planwidrige Gesetzeslücke,
hier offensichtlich gegeben ist, weil der Gesetzgeber die Lösung des „Etbi“ der dog-
matischen Wissenschaft zugewiesen hat.
Ich fasse zusammen: Die von der Mehrheitsmeinung vertretene sog. einge-
schränkte Schuldtheorie hat eine plausible Lösung des „Etbi“ anzubieten. Bevor
wir uns aber endgültig für sie entscheiden, sollten wir noch einen (genaueren)
Blick auf die konkurrierenden Ansätze werfen.

II. Die strenge Schuldtheorie


Das (konträre) Gegenstück zu (I.) bildet die sog. strenge Schuldtheorie. Danach
fällt der „Etbi“ unter § 17 S. 1 StGB. Der prominenteste und konsequenteste Vertre-
ter dieser Lehre, ja ihr Begründer, war H. Welzel. Zu der Frage nach dem Wesen und
der strafrechtlichen Würdigung des „Etbi“ hat Welzel außerordentlich viele Arbeiten

6
Nachweis bei K. Kühl, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2012, S. 465 Rn. 72.
720 Heinz Koriath

publiziert.7 Auch hat sich seine Ansicht hierzu von der zweiten bis zur letzten Auf-
lage seines bedeutenden Lehrbuches um kein Jota verändert.8 Weil die Kontroverse
nicht nur auf ihrem Höhepunkt mit „scholastischem Raffinement“9 ausgetragen wor-
den ist, ist auch die Rekonstruktion der Welzelschen Argumentation nicht ganz
leicht. Eine faire Würdigung seiner Position – leider ist die Sekundärliteratur in die-
sem Punkt nicht selten viel zu oberflächlich10 – setzt aber eine möglichst vollständige
Beschreibung, Analyse und schließlich Kritik seiner Argumentation voraus. Das
möchte ich in drei Schritten tun. Begonnen sei mit Welzels Beschreibung des
„Etbi“ (1.). Die in (1.) gesetzte These wird aber noch doppelt (argumentativ) abge-
sichert: durch Welzels Lehre vom Tatbestand (2.) und durch seinen aufwendigen Ver-
such, die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen („LnT“), zu widerlegen
(IV.). Die Dinge hängen logisch zusammen: Wer Welzels Kritik an der „LnT“ und
außerdem seine Tatbestandskonstruktion akzeptiert, der hat auch einen guten
Grund Welzels Lösung des „Etbi“ zu akzeptieren.

1. Welzels „Etbi“

Welzel schreibt: „Wer einen anderen körperlich verletzt, weil er sich von ihm an-
gegriffen wähnt (Putativnotwehr) … begeht … eine vorsätzliche Körperverletzung in
der Meinung, zu ihr berechtigt zu sein. Er handelt nicht in Tatbestandsunkenntnis,
sondern lediglich im Verbotsirrtum.“11 Das ist Welzels stetig wiederholtes ceterum
censeo. In meinem Demonstrationsfall verletzt Frau A ihren Gatten danach vorsätz-
lich („exakt juristisch“, wie Welzel gelegentlich betont), indem sie einen gezielten
Schuss gegen ihn abfeuert.
Welzel muss – vorbehaltlich der beiden noch folgenden „Absicherungen“ – diese
Eigenschaft des „Etbi“ für evident gehalten haben. Aber ist es wirklich so einfach?

7
Ich habe folgende Quellen studiert: H. Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems
(1951), S. 51 (Fn. 2) – 54; den Erlaubnistatbestandsirrtum betreffend ist diese „Fn. 2“ die
vermutlich wichtigste Quelle; ders., Nochmals der Verbotsirrtum, NJW 1951, S. 577 – 579
(578); ders., Anmerkung, JZ 1952, S. 340 – 344 (343); ders., Anmerkung, JZ 1952, S. 596 –
599; ders., Der Irrtum über einen Rechtfertigungsgrund, NJW 1952, S. 564 – 566 (564); ders.,
Die Regelung von Vorsatz und Irrtum im Strafrecht als legislatorisches Problem, ZStW 67
(1955), S. 196 – 228 (208 – 214); ders., Der übergesetzliche Notstand und die Irrtumsproble-
matik, JZ 1955, S. 142 – 144 (143, 144); ders., Diskussionsbemerkungen zum Thema „Die
Irrtumsregelung im Entwurf“, ZStW 76 (1964), S. 619 – 632 (630, 631).
8
Vgl. H. Welzel, Der Allgemeine Teil des deutschen Strafrechts, 2. Aufl. 1943, S. 95;
ders., Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 168.
9
So bewertet K. Engisch, Tatbestandsirrtum und Verbotsirrtum bei Rechtfertigungsgrün-
den, ZStW 70 (1958), S. 566 – 615 (567) die hin und her wogende Kontroverse.
10
So begnügt sich sogar H.-H. Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil,
4. Aufl. 1988, S. 417 mit der Bemerkung, dass Welzels Lösung „zu Ergebnissen führt, die mit
dem Rechtsgefühl mitunter nicht vereinbar sind“.
11
H. Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems, 1951, S. 51; ders., Lb11, S. 168; Her-
vorh. von H. K.
Was für ein Irrtum 721

Natürlich ist es trivial wahr, dass Frau A sich nicht über die Folgen ihrer Handlung
(die Wirkung des Schusses) geirrt hat, sie irrte sich aber sehr wohl über die Voraus-
setzungen (ich werde angegriffen) ihrer tragischen „Verteidigungshandlung“. Gehö-
ren nicht aber auch die Voraussetzungen (der Handlungskontext) ebenso wie die Fol-
gen zu den empirischen „Umständen“ einer individuellen Handlung? In der philoso-
phischen Handlungstheorie ist dieser Punkt ganz unstrittig. Nach Welzel aber offen-
bar nicht! Meine Vermutung ist: Entweder beschreibt Welzel den „Etbi“
unvollständig oder er gewichtet eine wesentliche Eigenschaft dieses Irrtums nicht an-
gemessen, nämlich den Irrtum des „Defensors“ über eine empirische Bedingung sei-
ner Handlungssituation, des „Angriffs“. Wenn der Aktor glaubt, dass er zur Vertei-
digung berechtigt ist (hier liegt Welzels Verbotsirrtum), so doch nur, weil er auch
glaubt, dass er angegriffen wird. Der Verbotsirrtum ist nur eine Folge des „Tatbe-
standsirrtums“ – jedenfalls die Folge eines Irrtums über etwas Tatsächliches. Der
Schwerpunkt des Irrtums liegt im Faktischen.
Vielleicht hat Welzel selbst bemerkt, dass seine Begründung etwas defizitär aus-
gefallen ist, denn er hat anschließend noch ein weiteres Argument vorgetragen, näm-
lich dies: „Wenn man schon die These der Schuldtheorie akzeptiert, daß der Tatbe-
standsvorsatz die Anregung gibt, über Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit der Tat
nachzudenken, so muß für denjenigen, der über das strafrechtliche Verbot nicht ein-
mal im Unklaren ist, sondern glaubt, wegen des Vorliegens eines rechtfertigenden
Sachverhalts dennoch den Verbotstatbestand verwirklichen zu dürfen, erst recht gel-
ten, daß er die sachlichen Voraussetzungen seiner Annahme prüfe.“12
Aber dieses Argument verbessert Welzels Position nicht. Ihm ist stets entgegen-
gehalten worden (z. B. von K. Engisch13), dass die Verbotsnorm („Du sollst nicht
töten!“) auf denjenigen Aktor keine psychische Wirkung entfaltet, der – wenn
auch irrig – annimmt, er befände sich in einer Situation, in der er zum Vollzug
einer „an sich“ verbotenen Handlung berechtigt sei. Ob es sich hierbei um einen ver-
meidbaren oder unvermeidbaren Irrtum handelt, spielt an dieser Stelle gar keine
Rolle, weil auch ein vermeidbarer Irrtum das Handeln des Aktors determiniert.
Es gibt in diesem Zusammenhang aber noch ein Problem, das in der Literatur
wenig bis gar nicht beachtet wird: Passt der „Etbi“ eigentlich strukturell-dogmatisch
zum Verbotsirrtum? Natürlich hat Welzel dieses Problem klar erkannt. Er schreibt:
„Man muß sich … hüten, aus dem Wort ,Verbotsirrtum‘ zu schließen, der Irrtum über
die Rechtswidrigkeit betreffe lediglich den Irrtum über die abstrakten, allgemeinen
Regeln des Handelns und nicht auch über die konkrete Rechtswidrigkeit der Tat.“14
Tatsächlich ist aber der Gegenstand eines indirekten Verbotsirrtums eine generelle
Norm. Doch begründet Welzel – soweit ich wiederum die Literatur übersehe – an
keiner Stelle seines Werkes diese Erweiterung des Verbotsirrtums. Es bleibt bei
der apodiktischen Rede. Ja, Welzel hält diese Erweiterung nur mehr für eine „termi-
12
H. Welzel, Lb11, S. 168/169.
13
K. Engisch (Fn. 9), S. 599.
14
H. Welzel, Lb11, S. 167.
722 Heinz Koriath

nologische Klarstellung“. Das ist sie gewiss nicht. Auch hat Welzel an anderer Stel-
le15 das genaue Gegenteil vertreten, dass nämlich Gegenstand des Verbotsirrtums
nicht die normative Eigenschaft einer individuellen Handlung, sondern generelle
Normen sind. Dieser Punkt muss weiterhin als offene Frage behandelt werden.

2. Welzels Begriff des Tatbestandes

Beginnen wir wieder mit dem entscheidenden Zitat. Welzel schreibt: „Da die
Rechtfertigungsgründe nicht die Tatbestandsmäßigkeit, sondern nur die Rechtswid-
rigkeit beseitigen, wird auch durch die irrige Annahme eines Rechtfertigungsgrundes
nicht der Tatvorsatz […] ausgeschlossen.“16 Zum Hintergrund dieser originellen
These gehört – abgesehen von der noch zu thematisierenden Polemik gegen die
„LnT“ – Welzels Lehre über das Verhältnis von Tatbestand und Rechtswidrigkeit.
Zusammen mit der Verbotsnorm17 („Du sollst nicht töten!“) bildet der objektive
und subjektive Tatbestand – „[…] die konkrete Beschreibung des verbotenen Verhal-
tens […]“18 – die sog. Norm-19 oder Verbotsmaterie20. Diese (problematische) Ord-
nung ist aber in diesem Kontext nicht das Entscheidende, sondern eine bestimmte
Eigenschaft dieser „Verbotsmaterie“. Sie ist nämlich – nach Welzels Lehre – hoch-
resistent gegen Rechtfertigungsgründe: „die Notwehr hebt nicht die Verbotsmaterie
[…] auf.“21 Daraus kann man unschwer den Schluss folgern, dass der Vorsatz als Ele-
ment des Tatbestandes (Welzels notorische Rochade) und dieser wiederum als Teil
der resistenten Normmaterie weder durch Rechtfertigungsgründe noch gar durch die
irrige Annahme eines „Etbi“ tangiert wird. Ich vermute, dieses war Welzels wichtigs-
tes Argument gegen den Vorsatzanschluss.
Bevor man diese Konstruktion akzeptiert, sollte freilich dreierlei beachtet wer-
den: (i) Nur en passant sei bemerkt, dass Welzels imperativische Fassung der Straf-
rechtsnorm der modernen Normlogik nicht mehr entspricht. (ii) Dasselbe gilt für
seine Deutung des Verhältnisses von tatbestandsmäßig und rechtswidrig. In der
Normlogik gilt, dass die Erlaubnisnorm (Notwehr) die Verbotsnorm (Tötungsverbot)
derogiert, sodass der Tötungsakt erlaubt, freigestellt ist. Nach Welzels „Resistenz-
theorie“ jedoch bleibt auch der durch Notwehr gedeckte Tötungsakt verboten,
weil tatbestandsmäßig – das ist ein deontischer Widerspruch. (iii) Schließlich enthält
diese Konstruktion wohl noch einen Zirkel: Wenn die Rechtfertigungsgründe nicht

15
H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl. 1962, S. 36 – 37; ders., Der
Irrtum über die Rechtswidrigkeit des Handelns, in: ders.; Abhandlungen zum Strafrecht und
zur Rechtsphilosophie, 1975, S. 250 – 257 (251).
16
H. Welzel (Fn. 11), S. 51; ders., Lb11, S. 169.
17
H. Welzel, Lb11, S. 50.
18
H. Welzel, Lb11, S. 51.
19
H. Welzel, Lb11, S. 50.
20
H. Welzel, Lb11, S. 51.
21
H. Welzel, Lb11, S. 81.
Was für ein Irrtum 723

den Tatbestand, sondern nur die Rechtswidrigkeit ausschließen – schließen die


Rechtfertigungsgründe sich dann selbst aus?

III. Die rechtsfolgenverweisende Schuldtheorie


Jescheck beschreibt sie so: „Richtig ist dagegen die im Vordringen begriffene
Lehre, wonach der Irrtum über die Voraussetzungen eines anerkannten Rechtferti-
gungsgrundes allein in den Rechtsfolgen dem § 16 untergeordnet wird, so daß der
Täter, obwohl er vorsätzliches Handlungsunrecht verwirklicht, nur wegen Fahrläs-
sigkeit bestraft wird […] Der Grund für die Privilegierung […] ergibt sich aus
dem Rechtfertigungsbewußtsein des Täters, das hier auf einen anerkannten Rechtfer-
tigungsgrund bezogen ist (der Täter glaubt, rechtmäßig […] zu handeln). Zum ande-
ren ist auch der Schuldgehalt der Tat deutlich herabgesetzt: die Motivation, die zur
Bildung des Tatvorsatzes geführt hat, beruht nicht auf mangelhafter Rechtsgesin-
nung, sondern auf unsorgfältiger Prüfung der Situation. Wenn der Täter irrig die Vor-
aussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes annimmt, fehlt es an dem für Vorsatzde-
likte so typischen Abfall von den Wertvorstellungen der Rechtsgemeinschaft […]“22
Auch zu diesem „Theorietyp“ gibt es inzwischen zahlreiche Variationen.23 Emp-
fehlenswert ist dieser Ansatz aber nicht und zwar aus den folgenden Gründen. Wie
leicht zu sehen ist, besteht die sog. rechtsfolgenverweisende Schuldtheorie zunächst
ja nur aus einer Kombination der in der Literatur gängigen Argumente der strengen
und eingeschränkten Schuldtheorie. Eine solche Kombination begründet aber nicht
schon eine neue Theorie. Auch sind ja die Proponenten beider Theorien der Ansicht,
sie ständen konträr zueinander, schlössen sich aus! Welcher Logik folgt dann aber die
hier vorgelegte „Kombinationstheorie“? Sodann ist die Folge dieser Theorie – „so
daß der Täter, obwohl er vorsätzliches Handlungsunrecht verwirklicht, nur wegen
Fahrlässigkeit bestraft wird“ – nicht zu akzeptieren, weil (ebenfalls) widersprüch-
lich. Entweder Vorsatz oder Fahrlässigkeit. Zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit be-
steht nach h. L. ein großer Graben, ein aliud, kein Kontinuum. Der (vermeintliche)
Grund für diese verworrene Konstruktion liegt in der Teilnahmelehre, vor allem im
Akzessorietätsprinzip.
Dazu abschließend noch einige Bemerkungen. Nehmen wir an, Frau A hat den
Revolver, mit dem sie den „Einbrecher“ schwer verletzte, von ihrem Liebhaber L be-
kommen. (L trägt in „bestimmten Situationen“ immer einen Revolver bei sich.) Wie
könnte L sich strafbar gemacht haben?
Falls man L z. B. der Beihilfe (§ 27 StGB) schuldig sprechen möchte, so setzt der
Vorwurf nach dem Akzessorietätsprinzip konstruktiv voraus, dass Frau A ihrerseits
einer sog. rechtswidrigen Haupttat (§ 224 StGB) schuldig ist. Das ist unproblema-
tisch, wenn man A’s Irrtum – wie es die strenge Schuldtheorie vorschlägt – als
22
H.-H. Jescheck (Fn. 10), S. 418.
23
Nachweise bei Roxin (Fn. 2), S. 624.
724 Heinz Koriath

Schuldproblem, als Verbotsirrtum (§ 17 StGB) einordnet. Auch wenn A in einem un-


vermeidbaren Verbotsirrtum gehandelt haben sollte, so wird A zwar nicht selbst be-
straft, aber das, was sie getan hat – den „Einbrecher“ schwer zu verletzen – bleibt
dennoch, so will es die strenge Schuldtheorie, eine vorsätzliche und selbstverständ-
lich rechtswidrige Tat. Daran ist eine Teilnahmehandlung konstruktiv möglich. Die
Frage, ob L sich einer Beihilfe (§ 27 StGB) schuldig gemacht haben könnte, ist je-
denfalls konstruktiv (dogmatisch, das Akzessorietätsprinzip) möglich.
Das ändert sich grundlegend, falls man A’s Irrtum nach der Regel der einge-
schränkten Schuldtheorie behandelt. A’s Irrtum führt dann ja zum Vorsatzausschluss.
Ein Verhalten, das wohl den objektiven, nicht aber den subjektiven Tatbestand einer
Verbotsnorm erfüllt, ist aber nach dem Akzessorietätsprinzip (scil.: vorsätzliche und
rechtswidrige Haupttat) keine Haupttat, an der eine Teilnehmerhandlung konstruktiv
möglich wäre. Die Frage, ob L sich einer Beihilfe (§ 27 StGB) schuldig gemacht
haben könnte, wäre quasi per se falsch gestellt.
Die Proponenten der sog. rechtsfolgenverweisenden Schuldtheorie finden diese
Konsequenz geradezu unerträglich; sie befürchten Strafbarkeitslücken. Wenn ande-
rerseits auch die Lösung der strengen Schuldtheorie bei diesen Autoren keine Akzep-
tanz finden kann, dann gilt es offenbar nach einer Art konstruktivem Kompromiss zu
suchen. Das ist die rechtsfolgenverweisende Schuldtheorie, die aber – m. E. – wegen
der eklatanten Widersprüche zu verwerfen ist.
Die Sorge einiger Autoren, die eingeschränkte Schuldtheorie führe zu Strafbar-
keitslücken, ist ebenfalls eher akademischer Art. Es gibt zwei Möglichkeiten:
Falls auch L – wie Frau A – glaubte, der „Einbrecher“ sei ein Einbrecher, dann un-
terliegt er demselben Irrtum wie A. Falls L aber – anders als Frau A – den wahren
Sachverhalt durchschaute und A dennoch den Revolver in die Hand gab – aus Grün-
den, denen nachzugehen die Phantasie keine weitere Probleme haben wird –, dann ist
L nicht nur ein (vergleichsweise) harmloser Gehilfe, sondern ein raffinierter Täter,
dogmatisch: ein sog. mittelbarer Täter (§ 25 Abs. 1, 2. Variante StGB). Wo also
soll eine Strafbarkeitslücke sein?

IV. Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen


Nach der „LnT“ wird der Tatbestand einer strafrechtlichen Sekundär- oder Sank-
tionsnorm (Wenn T, soll R sein) aus einer Verbots- und einer Erlaubnisnorm gebildet.
Nur der Aktor, der tötet ohne gerechtfertigt zu sein, erfüllt den Tatbestand des Tö-
tungsverbots. Wer dagegen in Notwehr tötet, erfüllt per se nicht den Tatbestand
des Tötungsverbots. Dann: Die Formulierung in § 16 Abs. 1 S. 1 StGB „Wer […]
einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört […]“ bezieht
sich gleichzeitig auf den objektiven Tatbestand der Verbotsnorm und den objektiven
Tatbestand der Erlaubnisnorm („Angriff“). Auf die irrige Annahme einer Notwehr-
situation direkt bezogen: Wenn der Aktor annimmt, er werde angegriffen, so ver-
Was für ein Irrtum 725

kennt er einen „Umstand […], der zum […] Tatbestand gehört“ (§ 16 Abs. 1 S. 1
StGB), denn nach der „LnT“ sind ja Erlaubnisnormen – also auch die tatsächlichen
Voraussetzungen der Erlaubnisnormen, um es zu wiederholen – Teile des Tatbestan-
des. Indem die „LnT“ den „Etbi“ unter § 16 Abs. 1 S. 1 StGB subsumiert, führt sie im
Ergebnis zum Vorsatzausschluss. Frau A wäre danach also eines Körperverletzungs-
deliktes nicht schuldig.
Die „LnT“ ist in sich völlig stimmig; vor allem ist das Verhältnis von „verboten“
und „erlaubt“ ohne deontischen Widerspruch (Derogation). Auch die Lösung des
„Etbi“ ist nach dieser Lehre dogmatisch einwandfrei.
Aber Welzel hält die „LnT“, so wörtlich, für „offenkundig falsch“. Warum ist die
Konstruktion falsch? Welzel vermutet zunächst, dass die „LnT“ eine Folge („späte
Nachblüte“)24 der rechtspositivistischen Imperativentheorie ist. Ihr wesentlicher
Mangel ist, dass in dieser oberflächlichen rechtspositivistischen Normtheorie we-
sentliche „sachlogische“ Unterschiede verloren gehen. Dem oberflächlichen Rechts-
positivismus setzt Welzel mit hinreichender Deutlichkeit eine naturrechtliche Posi-
tion entgegen. Er schreibt: „Das geschichtlich geprägte soziale Leben trägt schon vor
jeder gesetzlichen Vertypung Regel und Ordnung in sich […]“25 Bezogen auf das von
der „LnT“ falsch konstruierte Verhältnis von Tatbestand und Rechtfertigung schreibt
er dies: „Hinter der Tatbestandsmäßigkeit und den Rechtfertigungsgründen des
Strafrechts stehen materiale Unterschiede, die der Gesetzgeber nicht schafft, sondern
weitgehend vorfindet und die nicht etwa bloß technische oder gar bloß sprachliche
Zufälligkeiten sind […]“26 Direkt auf die „LnT“ bezogen liegt „(i)hr Fehler […] im
Folgenden: Sie verkennt eine besondere Wertungsstufe des Rechts, nämlich die
Sphäre des Erlaubten gegenüber der des rechtlich Irrelevanten.“27 Das ist Welzels
Hauptargument, das er anschließend noch mit einigen Metaphern ausschmückt,28
die aber die beabsichtigte Wirkung, den Wert- oder materialen Unterschied zu ver-
deutlichen, eher verfehlen.
Über den großen Kontext, Naturrecht oder Rechtspositivismus, in den Welzel
seine Kritik an der „LnT“ (polemisch zugespitzt) eingebettet hat, möchte ich hier
nicht diskutieren. Welzels These von der „besonderen Wertungsstufe des Rechts“
möchte ich an dieser Stelle nur die in der Normlogik übliche Rekonstruktion einer
strafrechtlichen Norm, bestehend aus einer Primär- und einer Sekundärnorm entge-
gensetzen. In der Sekundär- oder Sanktionsnorm („Wer einen anderen Menschen
(vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft) tötet, soll bestraft werden“) sind „Wer-
tungsstufen“ nicht enthalten. Es geht, viel profaner, um Zurechnung. Alle Bedingun-
gen des sog. Bedingungsnormsatzes (insbesondere auch Tatbestand und Rechtferti-
gung) stehen auf logisch gleicher Ebene.
24
H. Welzel, Lb11, S. 82.
25
H. Welzel (Fn. 11), S. 52; Hervorh. von H. W.
26
H. Welzel (Fn. 11), S. 52; Hervorh. von H. W.
27
H. Welzel (Fn. 7), S. 211; Hervorh. von H. W.
28
H. Welzel (Fn. 11), S. 52; ders., Lb11, S. 81.
726 Heinz Koriath

Noch ein letzter Punkt scheint mir wichtig zu sein. Welzels Entgegensetzung des
Erlaubten gegenüber dem rechtlich Irrelevanten ist – schief. Das Gegenstück zu einer
strafrechtlich irrelevanten Handlungsweise, also einer Handlungsweise, die weder
geboten noch verboten ist (z. B. die Lektüre juristischer Lehrbücher), ist eine Hand-
lungsweise, die (strafrechtlich) geboten oder verboten ist (z. B. stehlen oder lügen).
Das ist der direkte Gegensatz. Die Erlaubnisnorm bezieht sich auf rechtlich Relevan-
tes. Eine Erlaubnisnorm für rechtlich Irrelevantes ist sinnlos.
Ich fasse zusammen: Welzel hat die „LnT“, entgegen seinem Anspruch, nicht wi-
derlegt. Die Lehre ist gut vertretbar. Aber die ganz h.M. geht nun einmal von einem
dreigliederigen Deliktsaufbau aus. Unter diesen offenbar zu akzeptierenden Voraus-
setzungen ist die Kontroverse auf die eingeschränkte und strenge Schuldtheorie be-
grenzt; in dieser Alternative ist die eingeschränkte Schuldtheorie vorzugswürdig.
Ich wünsche Reinhard Merkel alles Glück der Welt! Vielleicht darf ich noch einen
bescheidenen, persönlichen Wunsch hinzufügen: Ich wünsche mir, dass Reinhard
Merkel, ein Meister der deutschen Sprache, noch viele, viele Schriften publiziert.
Ad multos annos!
Tatentschluss und Legitimation
der Versuchsstrafbarkeit
Von Uwe Murmann

I. Einleitung
Es ist ein gewagtes Unterfangen, einen Festschriftenbeitrag zu einem Thema zu
verfassen, das, soweit ersichtlich, nie im besonderen Fokus des Jubilars stand. Zur
Rechtfertigung oder zumindest Entschuldigung mag darauf verwiesen werden,
dass die gewählte Fragestellung doch immerhin Grundfragen der Legitimation
von Strafbarkeit im Vorfeld der Tatbestandsverwirklichung betrifft. Da sich der Ge-
ehrte stets besonders für Grund- und Grenzfragen des Strafrechtseinsatzes interes-
siert hat, ist das Thema vielleicht doch nicht ganz unpassend, auch wenn es in hand-
fester dogmatischer Einkleidung daherkommt.
Die h.M. erblickt den Strafgrund des Versuchs bekanntlich nach der „gemischt
subjektiv-objektiven Theorie“ in einer Manifestation des rechtsfeindlichen Willens.1
Dabei markiert die Grenze zwischen Vorbereitung und Versuch das objektive, wenn
auch auf der Grundlage der Tätervorstellung zu beurteilende unmittelbare Ansetzen
zur Tatbestandsverwirklichung. Dahinter steht ein Bild, wie es auch dem üblichen
gutachterlichen Prüfungsaufbau entspricht: In subjektiver Hinsicht wird das Vorlie-
gen eines Tatentschlusses vorausgesetzt, dessen Bestehen in zeitlicher Hinsicht un-
abhängig vom Versuchsbeginn gedacht wird. Der Vorsatz wird also nicht etwa des-
halb in Frage gestellt, weil sich auf der nächsten Stufe zeigt, dass die Tat nicht bis in
das Stadium des unmittelbaren Ansetzens gediehen ist.2
Diese Sichtweise vergibt das strafbarkeitsbegrenzende Potential, das in einer an-
gemessenen Bestimmung des Vorsatzes enthalten ist. Eine präzisere Bestimmung
des Vorsatzes in seiner Bedeutung für das Strafunrecht erlaubt dagegen eine Grenz-
ziehung zwischen strafloser Vorbereitung und Versuch, die auch dem subjektiven
Ausgangspunkt bei der Bestimmung des Versuchsunrechts gerecht wird.

1
BGHSt 11 324 (326 f.); LK/Hillenkamp, 12. Aufl. 2007, Vor §§ 22 ff. Rn. 60 ff.; SSW-
StGB/Kudlich/Schuhr, 4. Aufl. 2019, § 22 Rn. 6; Murmann, Grundkurs Strafrecht, 5. Aufl.
2019, § 28 Rn. 31 f.
2
Dezidiert in diesem Sinne LK/Hillenkamp, § 22 Rn. 50.
728 Uwe Murmann

II. Zur Bestimmung des Vorsatzunrechts


Die häufig zu findende Behauptung, der Vorsatz beim Versuch sei mit demjenigen
bei vollendeter Tat identisch,3 bedarf zu ihrer Überprüfung zunächst einer Vergewis-
serung darüber, was den spezifischen Unrechtsgehalt vorsätzlichen Verhaltens aus-
macht. Es ist dies die Entscheidung des Täters gegen das Rechtsgut.4 Diese Bestim-
mung erhält ihre Tragfähigkeit für die Begründung von Unrecht freilich erst einge-
bettet in ein Rechtsverständnis, bei dem der Täter als Mitkonstituent der Rechtsgüter
verstanden werden kann. Es geht also nicht primär um die Entscheidung zugunsten
der Verletzung eines konkreten Rechtsgutsobjekts5 – durch diese wird der Verlet-
zungssinn vielmehr nur vermittelt. Rechtsgüter sind in diesem Zusammenhang „Da-
seinselemente der Freiheit“, die „in einem Prozess wechselseitiger Anerkennung
konstituiert“ werden.6 In diesem Kontext kommt der „Entscheidung“ des Täters zu-
gunsten der Tatbestandsverwirklichung eine Verletzungsmacht zu, die sich nicht nur
auf äußere Objekte beschränkt, sondern das Verhältnis zum Opfer (wie auch zur All-
gemeinheit) gerade in seiner Rechtlichkeit betrifft.7 Es zeichnet den Vorsatz (in Ab-
grenzung zur Fahrlässigkeit) also aus, dass der Täter bei Vornahme der rechtlich
missbilligten Handlung den Anerkennungsanspruch, der von dem geschützten
Rechtsgut (letztlich von dem dahinter stehenden Träger des jeweiligen Rechtsguts)
ausgeht, nicht nur vernachlässigt, sondern negiert.
Die vorstehenden Überlegungen basieren auf der Annahme, dass der Täter auch
dazu in der Lage gewesen wäre, die Rechtsgutsverletzung zu unterlassen; der Begriff
der „Entscheidung“ legt diese Möglichkeit zumindest nahe. Auf der Ebene des Un-
rechts wird diese Fähigkeit überwiegend generalisierend unterstellt; deren aus-
nahmsweises Fehlen wird als Frage der Schuld thematisiert. Mit der Teilhabe an
der Rechtsgutskonstitution, die die Verletzbarkeit des Rechtsguts erst plausibel
macht, ist ersichtlich ein voraussetzungsreicheres Verständnis von Freiheit vorausge-
setzt, als es mit der Fähigkeit zur Entscheidung zwischen Alternativen angesprochen
ist. Darin liegt eine Abweichung von der Position Reinhard Merkels, der schon der
Möglichkeit des Andershandelnkönnens wie auch der Möglichkeit einer „mentalen
Verursachung“ eher ablehnend als agnostisch gegenübersteht.8 Freilich hat Merkel
diesen Standpunkt mit Blick auf die Schuld entfaltet und mehr beiläufig darauf ver-
3
LK/Hillenkamp, § 22 Rn. 31, 38; Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, § 15 Rn. 23 f.;
Roxin, Strafrecht AT II, 2003, § 29 Rn. 71; SK-StGB/Stein, 9. Aufl. 2017, § 16 Rn. 27. A.A.
Dold, Eine Revision der Lehre vom Rücktritt vom Versuch, 2017, S. 12 f., 63 ff.; Haas, ZStW
123 (2011), 257.
4
Roxin, JuS 1964, 58; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2011, § 8 Rn. 66;
MüKo-StGB/Joecks, 3. Aufl. 2017, § 16 Rn. 12; Murmann, Grundkurs, § 24 Rn. 7; ferner –
dezidiert zweckrational – Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 111.
5
Ebenso Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2. Aufl. 2014, S. 124.
6
Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, 1989, S. 165; Kahlo, FS Hassemer, 2010
S. 410 ff.
7
Grundlegend Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, S. 126 ff.
8
Vgl. Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, S. 9, 86 f., 114, 134.
Tatentschluss und Legitimation der Versuchsstrafbarkeit 729

wiesen, dass es schon bei der Willenssteuerung der Handlung, also „beim Hand-
lungsmerkmal im Tatbestand“ eine „überzeugende Antwort pro libertate“ nicht
gebe.9 Bezogen auf den Vorsatz stellt sich die Frage freilich ebenso, jedenfalls
dann, wenn sich der Vorsatz nicht darin erschöpft, dass der Täter sich bei seinen Ver-
haltensvollzügen gleichsam selbst zusieht, sondern man den Vorsatz als Teil eines
Unrechthandelns versteht, das als Gegenstand eines persönlichen Vorwurfs in Be-
tracht kommt.
Damit ist noch nicht ausgeschlossen, dass den hier angestellten Überlegungen
auch in einem Konzept Bedeutung zukommt, in dem den Möglichkeiten einer Wil-
lenssteuerung von Verhalten wie auch der Fähigkeit zum Andershandeln Absagen
erteilt werden. Da ein solches Konzept freilich in hohem Maße kontraintuitiv ist,
nämlich der „subjektive(n) Erfahrung menschlicher Entscheidungsmacht“10 zuwi-
derläuft, kann es nicht weiter erstaunen, wenn ein vom Alltagsverständnis geprägter
Begriff wie der der „Entscheidung“ dann nicht die Bedeutung behalten kann, die ihm
im Rahmen des geläufigen Weltbildes zukommt.
In einem funktionalen, an faktischen Normstabilisierungsbedürfnissen orientier-
ten Unrechtsverständnis,11 wird man es als „Entscheidung“ einer Person ausreichen
lassen müssen, dass ihr ein normwidriges Verhalten zugeordnet werden kann. Ex post
ist diese Zuordnung – nicht anders als bei einer als frei gedachten Entscheidung –
unproblematisch möglich. Künftiges menschliches Verhalten bleibt freilich – und
dieser Aspekt erlangt für den Versuch Relevanz – nie mit letzter Zuverlässigkeit pro-
gnostizierbar. Deshalb bleibt jeder Versuchsvorwurf zu Lasten eines Täters, der die
Ausführungshandlung noch nicht vorgenommen hat, mit einem besonderen Legiti-
mationsproblem belastet. Allerdings stellt sich die Legitimationsfrage völlig unter-
schiedlich in Abhängigkeit davon, ob die Ungewissheit daraus resultiert, dass der
Täter als freie Person angesehen wird, oder ob sie daraus resultiert, dass ein deter-
miniertes Entscheidungsverhalten aufgrund seiner Komplexität und der Unüberseh-
barkeit der Einflussfaktoren zwar theoretisch, aber nicht praktisch zuverlässig vor-
hergesagt werden kann. Während im ersten Fall eine kategoriale Ungewissheit be-
steht und damit der Versuchsbeginn mit Rücksicht auf die Entscheidungsfreiheit
des Täters eng an das Ausführungsstadium herangerückt werden muss, steht die
praktische Unaufklärbarkeit im zweiten Fall einer Vorverlagerung rechtlicher Reak-
tion nicht prinzipiell entgegen. Freilich wäre die Reaktion in einer gedachten Welt, in
der die künftige Tatbegehung aufgrund der Kenntnis der Determinationsprozesse zu-
verlässig prognostizierbar wäre, wohl nicht strafrechtlicher Natur, da das Gefahren-
potential durch das Setzen anderer Determinanten, gewissermaßen durch „Umpro-
grammierung“, beherrschbar wäre.
Es liegt auf der Hand – und ist Gegenstand der unterschiedlichen Theorien zu den
an den Vorsatz zu stellenden Anforderungen –, dass man im Einzelnen darüber strei-
9
Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, S. 86 f.
10
Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, S. 35.
11
In diesem Sinne Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, S. 124 ff.
730 Uwe Murmann

ten kann, welche Anforderungen an die den Vorsatz charakterisierende Entscheidung


gegen das Rechtsgut zu stellen sind.12 Insbesondere kann man unterschiedlicher Auf-
fassung hinsichtlich der Beantwortung der Frage sein, ob sich der Täter bereits dann
gegen das Rechtsgut entschieden hat, wenn er trotz Kenntnis der Gefahr die uner-
laubte Handlung vornimmt (kognitive Theorien), oder ob darüber hinaus auch
eine voluntative Beziehung zur Verwirklichung der Tatumstände zu fordern ist (vo-
luntative Theorien). Fordert man letzteres, so mag man ferner die Frage unterschied-
lich beantworten, ob die Entscheidung bereits bei (im Rechtssinne) billigender In-
kaufnahme der Verwirklichung der Tatumstände vorliegt oder etwa erst dann,
wenn der Täter der Tatverwirklichung gleichgültig gegenübersteht.
Unabhängig von der Diskussion um die Anforderungen an den Vorsatz im Einzel-
nen reicht es jedenfalls nicht aus, wenn der Täter eine rechtsgutsfeindliche innere
Haltung einnimmt. Eine „Entscheidung“ verlangt vielmehr danach, dass der Täter
seiner Haltung zum Rechtsgut durch eine Handlung Ausdruck verleiht,13 deren Vor-
nahme gerade zum Schutz des betreffenden Rechtsguts verboten und unter Strafe ge-
stellt ist. Erst damit hat sich der Täter für eine konkrete Situation auf die Missachtung
des Rechtsguts verbindlich festgelegt, also eine abschließende Entscheidung gegen
das Rechtsgut getroffen.14 Der Gesetzgeber bestimmt durch die Tatbestände, welche
Entscheidungen des Täters als geistige Verletzungen des Anerkennungsverhältnisses
zu werten sind.15 Zuvor bleibt die Einstellung des Täters lediglich vorläufig und im
Grundsatz rechtlich irrelevant, auch wenn sie sich in straffreien Vorbereitungshand-
lungen manifestieren mag. Freilich lässt sich umgangssprachlich auch dann von einer
„Entscheidung“ sprechen, wenn eine Person sich bereits vor Eintritt in das Stadium
von deren Realisierung auf eine Position festgelegt hat. Aber hier bleibt stets die –
normativ zu erwartende – Option, von dem gefassten deliktischen Plan wieder abzu-
rücken. Der innerlich gebliebene oder lediglich in straffreien Vorbereitungshandlun-
gen manifestierte Entschluss ist im Recht ohne Relevanz. Diese Einsicht wird mit
dem Hinweis auf das geltende Tatstrafrecht nochmals betont; ihre Begründung reicht
freilich tiefer und betrifft das Recht als solches.

12
Überblick dazu etwa bei Murmann, Grundkurs, § 24 Rn. 21 ff.
13
Vgl. Merkel, Willensfreiheit und strafrechtliche Schuld, S. 15 f.
14
Gegenüber der von Frisch, Vorsatz und Risiko, S. 112, für maßgeblich gehaltenen
Schaffung „sozialpsychologische(r) Gefahren für die Rechtsgüterwelt“ ist ein solches Ver-
ständnis nicht zuletzt deshalb präziser, weil es nicht auf die Befindlichkeiten der anderen
Mitglieder der Gesellschaft abhebt. Den Mangel an Präzision der Formulierung von der
„Entscheidung gegen das Rechtsgut“ hatte Frisch (a.a.O., S. 111) zuvor selbst gerügt.
15
Insofern kommt dem Gesetzgeber eine Definitionsmacht darüber zu, welchen Verhal-
tensweisen als Ausdruck einer Entscheidung gegen ein Rechtsgut Relevanz zukommen kann.
Es liegt auf der Hand, dass von dieser Warte aus gewisse Vorverlagerungen der Strafbarkeit
kritisch gesehen werden können. Diese Kritik setzt üblicherweise an der noch geringen ob-
jektiven Gefährlichkeit solcher Verhaltensweisen an. Sie kann aber auch an der Frage anset-
zen, ob der Täter in einem frühen Stadium bereits eine Entscheidung gegen das Rechtsgut
getroffen hat.
Tatentschluss und Legitimation der Versuchsstrafbarkeit 731

§ 16 Abs. 1 S. 1 StGB bringt das Erfordernis einer durch die Tathandlung mani-
festierten Entscheidung jedenfalls für das vollendete Delikt zum Ausdruck, wenn es
dort heißt, dass der Täter nicht vorsätzlich handelt, wenn er „bei der Begehung der Tat
einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört“. Damit ist nicht
nur das Erfordernis des Vorliegens des Vorsatzes bei Vornahme der Ausführungs-
handlung zum Ausdruck gebracht, sondern zugleich klargestellt, dass ein Vorsatz
jenseits des Ausführungszeitpunkts nicht vorliegt. Für das vollendete Delikt kann
damit festgehalten werden, dass der Täter seine Entscheidung gegen das Rechtsgut
durch einen Vorsatz trifft, der bei Vornahme der tatbestandsmäßigen Handlung vor-
liegen muss und dieser Handlung das spezifische Gepräge gibt. Der „dolus antece-
dens“ ist demnach überhaupt kein Vorsatz.16
Auf den ersten Blick spielt die Einsicht, dass sich der Vorsatz in der Ausführungs-
handlung nicht nur manifestiert, sondern überhaupt erst seinen Charakter als Ent-
scheidung erhält, bei der Vollendung keine Rolle, weil insoweit letztlich kein Zweifel
daran bestehen kann, dass der Täter das Entscheidungsstadium durchlaufen hat. Ihre
volle Relevanz entfaltet die Bestimmung des Zeitpunktes, zu dem der Täter seine
Entscheidung gegen das Rechtsgut trifft, erst und gerade beim Versuch. Ohne jede
Relevanz ist sie aber auch jenseits dieses Bereiches nicht. Verkannt wird das Fehlen
eines rechtlich relevanten Tatentschlusses im Vorbereitungsstadium in der Lehre
vom omnimodo facturus, derzufolge der bereits zur Tat Entschlossene nicht mehr an-
gestiftet werden kann. Diese Lehre impliziert eine Selbstfestlegung der Person, die
weder empirisch zutreffend noch normativ angemessen ist.17 Der „omnimodo factu-
rus“ hat sich ersichtlich noch nicht abschließend auf die Tatbegehung festgelegt. So
fest er auch entschlossen sein mag, gehört doch die Möglichkeit einer Änderung sei-
ner Pläne zu seiner Freiheit.18 Ein abschließendes Urteil darüber, ob die Aufforde-
rung des Anstifters die Entscheidung des Haupttäters beeinflusst hat, lässt sich
erst fällen, wenn der Haupttäter seine Entscheidung tatsächlich getroffen hat, also
im Stadium der Ausführung der Haupttat. Hier stellt sich die Frage, ob sich die Auf-
forderung im konkreten Tatentschluss realisiert hat. Der sogenannte omnimodo
facturus kann danach – entgegen der ganz h.M. – durchaus angestiftet werden.
Das wird anschaulich, wenn der zum Zeitpunkt der Aufforderung zur Tat Entschlos-

16
Zutreffend Kühl, Strafrecht AT, § 5 Rn. 21.
17
Zur Kritik SSW-StGB/Murmann, § 26 Rn. 6; Puppe, GA 1984, 117 ff.; eingehend Steen,
Die Rechtsfigur des omnimodo facturus, 2011, S. 18 ff.
18
Satzger, JURA 2017, 1169 ff., wendet sich (S. 1170) gegen die Kritik an der Figur des
omnimodo facturus mit dem Hinweis, auch bei § 30 StGB liege ein fester Entschluss vor. Das
trifft es deshalb nicht, weil sich ein Entschluss im Sinne von § 30 StGB gerade nicht durch die
Tatausführung in seiner Festigkeit erwiesen hat. Der Umstand, dass der Gesetzgeber auch
vorläufige Entscheidungen wegen der mit ihnen verbundenen Gefahren unter Strafe stellt,
bedeutet nicht, dass eine solche Entscheidung einen Tatentschluss im Sinne der §§ 16, 22
StGB darstellt. Demensprechend soll § 30 StGB die abstrakte Gefährlichkeit gruppendyna-
mischer Prozesse kriminalisieren; SSW-StGB/Murmann, § 30 Rn. 1.
732 Uwe Murmann

sene es sich zunächst wieder anders überlegt, die Tat aber schließlich doch unter dem
Eindruck der Aufforderung begeht.19

III. Der Vorsatz bei der versuchten Tat


1. Zum Zusammenhang von Vorsatz und
Legitimation der Versuchsstrafbarkeit

Das Unrecht der versuchten Tat wird üblicherweise in einer Manifestation der
rechtsfeindlichen Gesinnung oder eines rechtsfeindlichen Willens des Täters er-
blickt.20 Dahinter steht in aller Regel das Bild eines Täters, der irgendwann – regel-
mäßig noch im Vorbereitungsstadium – einen rechtsfeindlichen Willen gefasst hat.
Dieser rechtsfeindliche Wille manifestiert sich dann möglicherweise in unterschied-
lichen, regelmäßig strafrechtlich noch irrelevanten Vorbereitungshandlungen, bis er
schließlich zur Grundlage eines Verhaltens wird, das mit dem Prädikat „unmittelba-
res Ansetzen“ versehen den Eintritt in das Stadium des strafbaren Versuchs mar-
kiert.21 Die objektive Komponente komplettiert gleichsam das Versuchsunrecht
und legitimiert in Verbindung mit dem zuvor bereits vorhandenen rechtsfeindlichen
Willen, der nunmehr Vorsatz oder Tatentschluss genannt wird, die Versuchsstrafbar-
keit. Die Eindruckstheorie fügt sich in dieses Bild ein: Rechtserschütternd wirkt der
äußere Akt, wenn er – nach der Tätervorstellung – eine gewisse Nähe zur Tatbege-
hung erreicht hat.
Dieses geläufige Bild verfehlt nach den bisherigen Überlegungen die unrechts-
konstitutive Relevanz des Vorsatzes und damit auch dessen Relevanz für die Legiti-
mation der Versuchsstrafbarkeit. Denn die den Vorsatz charakterisierende Entschei-
dung gegen das Rechtsgut liegt im Vorbereitungsstadium noch nicht vor. Freilich
könnte man auf den ersten Blick annehmen, die Fehlvorstellung eines bereits im Vor-
bereitungsstadium vorliegenden Vorsatzes sei unschädlich, da die Versuchsstrafbar-
keit jedenfalls erst im Stadium des unmittelbaren Ansetzens begründet ist. Aber die
Annahme, der Entschluss zur Tatbegehung liege bereits im Vorbereitungsstadium
vor und bedürfe zur Begründung der Strafbarkeit lediglich noch des Erreichens
einer gewissen Nähe zur Tatverwirklichung, vergibt das den Umfang der Versuchs-
strafbarkeit begrenzende Potential, das in einem zutreffend bestimmten Vorsatz ent-
halten ist. Die Orientierung an dem Gewicht des äußeren Beitrags, wie es insbeson-
dere die Eindruckstheorie auszeichnet, verfehlt die Begründung und damit auch die
Begrenzung der Versuchsstrafbarkeit. Dabei ist die Unterbestimmung der subjekti-
ven Tatseite freilich schon in der herkömmlichen Umschreibung der subjektiven Ver-
suchstheorie angelegt, wonach Strafgrund des Versuchs die betätigte „rechtsfeindli-
che Gesinnung“ sei. Diese Formulierung legt das Missverständnis nahe, es gehe bei
19
Steen, Die Rechtsfigur des omnimodo facturus, S. 164 ff.
20
Siehe schon die Nachweise in Fn. 1.
21
In diesem Sinne etwa LK/Hillenkamp, § 22 Rn. 50.
Tatentschluss und Legitimation der Versuchsstrafbarkeit 733

der subjektiven Seite der Tat um eine bestimmte geistige Haltung des Täters, deren
praktischer Wirkmacht keine entscheidende Bedeutung zukommt. Vor diesem Hin-
tergrund ist auch der häufig gegen die subjektive Versuchstheorie erhobene Vorwurf
nachvollziehbar, diese tendiere zu einer unangemessenen Ausdehnung der Versuchs-
strafbarkeit.22 Denn nimmt man an, dass der „endgültige Tatentschluss bereits Tage
vor der Tat fallen“ könne,23 so vermag er das Versuchsstadium ersichtlich nicht zu
begrenzen. Kombiniert man diesen Ansatz etwa mit der Eindruckstheorie, so
hängt der Versuchsbeginn vom Empfinden der anderen Mitglieder der Rechtsge-
meinschaft ab, die auf die verbleibende Freiheit zur Abstandnahme von dem geplan-
ten Vorhaben wenig Rücksicht nehmen werden.
Eine angemessene Bestimmung der inneren Tatseite vermag also die gemischt
subjektiv-objektive Theorie in ihrem subjektiven Ausgangspunkt entscheidend zu
stärken. Damit wird schon deshalb ein berechtigtes Anliegen verfolgt, weil diese
Theorie der gesetzlichen Regelung und auch den Vorstellungen des Gesetzgebers
entspricht.24 Akzeptiert man die subjektive Begründung des Versuchsunrechts, so
liegt das Legitimationsproblem beim Versuch nicht darin, dass die Tat nicht zur Voll-
endung kommt oder sogar objektiv völlig ungefährlich ist, sondern darin zu begrün-
den, dass der Täter die erforderliche Entscheidung gegen das Rechtsgut getroffen hat.
Die subjektive Theorie impliziert, dass bereits der sich selbst als verletzungsmächtig
verstehende Wille im Falle seiner Objektivierung das Rechtsgut (des Opfers oder der
Allgemeinheit oder des Staates) zu verletzen vermag.25
Nicht anders als beim Vollendungsunrecht kann die Entscheidung, die als Grund-
lage einer Versuchsstrafbarkeit in Betracht kommt, nicht ohne eine objektive Tatseite
gedacht werden.26 Treffend schreibt Puppe: „Der strafrechtlich relevante Tatent-
schluss entsteht also erst mit und in der Tat. Wie der Wille die Tat, so macht erst
die Tat den Willen.“27 Versteht man die subjektive Theorie in diesem Sinne, so ist
die Sorge vor einer unangemessenen Ausweitung der Versuchsstrafbarkeit nicht be-
rechtigt. Im Gegenteil: Weitaus zuverlässiger als eine an den Befindlichkeiten der
anderen Mitglieder der Rechtsgemeinschaft orientierte Eindruckstheorie rückt sie
„den Versuch hart an die Grenze der Tatbestandshandlung“.28 Denn der Täter
muss seine Einstellung auch noch in einer Phase durchgehalten haben, in der es prak-
tisch kein Zurück gibt und in der deshalb berechtigt gesagt werden kann, er habe sich
für die Verletzung des Rechtsguts entschieden (näher unten 2. b)). Der Eintritt in das
22
So etwa Schönke/Schröder/Eser/Bosch, 30. Aufl. 2019, Vor §§ 22 ff. Rn. 21.
23
LK/Hillenkamp, Vor §§ 22 ff. Rn. 50.
24
Eingehend LK/Hillenkamp, Vor §§ 22 ff. Rn. 60.
25
Dabei ist die grundsätzliche Bedeutung der subjektiven Tatseite kein Spezifikum des
Versuchs, sondern liegt darin begründet, dass jede Veränderung der (sozialen) Wirklichkeit
ihren Charakter als Versuchs- oder Vollendungsunrecht nur auf der Grundlage der Einstellung
des Täters erhalten kann; vgl. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, S. 233.
26
Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, S. 246. (zum Begriff des „Tatentschlusses“).
27
Puppe, GA 1984, 117.
28
Roxin, Einführung in das neue Strafrecht, 1974, S. 15 f.
734 Uwe Murmann

Versuchsstadium muss von der vom Täter getroffenen Entscheidung her gedacht
werden. Die äußeren Abläufe, also die Frage nach den erforderlichen Zwischen-
schritten, erhalten ihre Relevanz aus ihrer Aussagekraft darüber, wie weit der
Täter ein Tatvorhaben durchgehalten und sich selbst auf dessen Realisierung festge-
legt hat. Formulierungen wie die „Feuerprobe der kritischen Situation“29 oder die
„Schwelle zum Jetzt geht es los“30 bringen den entscheidenden Punkt insofern besser
zum Ausdruck als das Fehlen wesentlicher Zwischenschritte,31 wobei freilich zu be-
tonen ist, dass die Versuchshandlung die Entscheidung nicht nur manifestiert, son-
dern Teil der Entscheidung selbst ist.32 Das ändert nichts daran, dass die Zwischen-
akttheorie gute Dienste leistet – sofern man ihre Aussagekraft hinsichtlich des Sta-
diums der Selbstfestlegung in den Blick nimmt. Für die Interpretation des Kriteriums
der „Wesentlichkeit“ der Zwischenschritte stellt der Bezug zur Entscheidung des Tä-
ters eine deutliche Präzisierung und einen Schutz vor Fremdbestimmung dar.
Schon aus dem Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 Abs. 2 GG) folgt, dass die ge-
setzlichen Straftatbestände vorgeben müssen, durch welche Verhaltensvollzüge sich
der Täter auf eine Rechtsgutsverletzung verbindlich festlegt, also seine Entscheidung
gegen das Rechtsgut trifft. Das gilt im Grundsatz auch für den Versuch. Freilich ist
die Bindung an den Tatbestand in zweierlei Hinsicht zu modifizieren. Zum einen
folgt aus der Maßgeblichkeit der subjektiven Tatseite, dass der Täter seine Entschei-
dung auch mit Handlungsvollzügen treffen kann, die nur auf der Grundlage der Tä-
tervorstellung als tatbestandsmäßig anzusehen wären (so liegt es insbesondere beim
untauglichen Versuch). Zum anderen erweitert § 22 StGB den Bereich des Versuchs
über den Tatbestand hinaus auf die Phase des unmittelbaren Ansetzens. An dieser
Stelle ist es erforderlich, nach dem Stadium zu differenzieren, in dem sich die Ver-
wirklichung des Tatvorhabens befindet:

2. Zum Verhältnis von Vorsatz und Versuchsstadium

Ausgehend von der Einsicht, dass der Vorsatz als Entscheidung gegen das Rechts-
gut nicht ohne Bezug zur äußeren Tatseite gedacht werden kann, ist hier bereits fest-
zuhalten, dass sich die Unterschiede im Verwirklichungsstadium auch auf die sub-
jektive Tatseite auswirken müssen. Um diese Unterschiede genauer herauszuarbei-
ten, ist danach zu differenzieren, ob der Täter die tatbestandsmäßige Handlung be-
reits vorgenommen oder hierzu unmittelbar angesetzt hat.
29
Bockelmann JZ 1954, 473, der den maßgeblichen Zeitpunkt sodann dahingehend weiter
charakterisiert, dass es der „Augenblick“ sei, „in dem die letzte maßgebliche Entscheidung
über das Ob der Tat gefällt wird“.
30
BGHSt 26, 201, 203.
31
Freilich sind auch die subjektivierenden Formulierungen anfällig für Missverständnisse,
insbesondere für die Vorstellung, der Täter müsse sich tatsächlich über eine Schwelle Ge-
danken machen und diese gleichsam definieren. Insofern geht es vielmehr um Fragen der
rechtlichen Bewertung.
32
Puppe, GA 1984, 117.
Tatentschluss und Legitimation der Versuchsstrafbarkeit 735

Diese Unterscheidung ist nicht (vollständig) identisch mit der in unbeendeten und
beendeten Versuch beim Rücktritt. Naheliegend ist freilich die Intuition, dass der un-
beendete Versuch das Stadium markiert, in dem der Täter (immer: auf der Grundlage
seiner Vorstellung) die Ausführungshandlung noch nicht vorgenommen hat, wäh-
rend der beendete Versuch die Situation nach Vornahme der Ausführungshandlung
betrifft.33 Ein solches Verständnis entspricht aber nicht dem im Rahmen von § 24
StGB zugrunde gelegten Verständnis der Begriffe. Zwar kann ein beendeter Versuch
nicht vorliegen, wenn der Täter nach seiner Vorstellung die Ausführungshandlung
noch nicht vorgenommen hat. Aber umgekehrt liegt ein beendeter Versuch (im
Sinne der Rücktrittsdogmatik) nicht notwendig deshalb vor, weil der Täter die Aus-
führungshandlung vorgenommen hat. Denn hält man mit der Gesamtbetrachtungs-
lehre für die Unterscheidung von unbeendetem und beendetem Versuch den Rück-
trittshorizont für maßgeblich, so mag sich nach der Vornahme der Ausführungshand-
lung deren Ungefährlichkeit ergeben – und damit ein unbeendeter Versuch im Sinne
von § 24 StGB vorliegen.

a) Der Vorsatz bei Vornahme der tatbestandsmäßigen Handlung

Hat der Täter die tatbestandsmäßige Handlung vorgenommen, so besteht hinsicht-


lich des Handlungsunwerts kein Unterschied zum vollendeten Delikt.34 Der Täter hat
seine Entscheidung gegen das Rechtsgut mit der Vornahme der Ausführungshand-
lung getroffen. Damit ist er zwingend in das Versuchsstadium eingetreten.
Das wird verschiedentlich für Konstellationen bestritten, in denen zwischen dem
Verhalten des Täters und der Tatvollendung noch eine größere Distanz liegt. So hat
der BGH im „Salzsäure-Fall“ den Versuchsbeginn des mittelbaren Täters nach Vor-
nahme der tatbestandsmäßigen Einwirkungshandlung davon abhängig gemacht, dass
der Tatmittler „alsbald“ zur Tatausführung schreiten soll.35 Für die – der mittelbaren
Täterschaft strukturell entsprechende36 – Fallkonstellation einer vom Täter einge-
planten irrtumsbedingten Selbstschädigung des Opfers hat der BGH im „Apothe-
ker-Fall“ die Höhe des vom Täter vorgestellten Risikos der Vornahme der selbstschä-
digenden Handlung für ausschlaggebend gehalten. Beim Stellen einer Giftfalle liege
das unmittelbare Ansetzen noch nicht vor, wenn der Erfolgseintritt nach den Erwar-
tungen des Täters noch zu unwahrscheinlich gewesen sei.37 Schließlich hat die Recht-

33
In diesem Sinne etwa BGHSt 43, 177, 179.
34
Ebenso Dold, Eine Revision der Lehre vom Rücktritt vom Versuch, 2017, S. 97; Wege,
Rücktritt und Normgeltung, 2011, S. 70, 73 (die allerdings die Bedeutung des Erfolgsunwerts
verkennt).
35
BGHSt 30, 363, 365; 40, 257, 268 f.; BGH, StV 1997, 632 f.; siehe auch BGH, NStZ
2001, 475, 476; BGHSt 43, 177 = JZ 1998 209 mit kritischer Anm. Roxin = NStZ 1998, 241
mit zustimmender Anm. Otto; dazu auch Rengier, Strafrecht AT, 10. Aufl. 2018, § 36 Rn. 14;
Wolters, NJW 1998, 578.
36
BGHSt 43, 177, 180.
37
BGHSt 43, 177, 182 f.
736 Uwe Murmann

sprechung verschiedentlich angenommen, dass Täuschungshandlungen, die dem


Täter dazu dienen sollen, sich etwa in das Vertrauen des Opfers einzuschleichen
oder sonst den Boden für weitere Täuschungen zu bereiten, zwar bereits den Tatbe-
stand des § 263 StGB erfüllen, aber dennoch nicht in das Versuchsstadium führen,
„wenn nämlich der Täter damit noch nicht zu der die Strafbarkeit – oder eine erhöhte
Strafbarkeit – begründenden Rechtsverletzung angesetzt hat“.38 Zu all diesen Fall-
konstellationen findet sich also die Auffassung, der Täter habe zwar die tatbestands-
mäßige Ausführungshandlung vorgenommen, aber noch nicht im Sinne von § 22
StGB unmittelbar angesetzt.
Richtig ist das nicht. Denn wenn der Täter sich mit der Vornahme der Ausfüh-
rungshandlung gegen das Rechtsgut entschieden hat, so liegen sowohl die subjekti-
ven als auch die objektiven Voraussetzungen des Versuchsunrechts vor. Eine ganz
andere Frage ist freilich, ob der Täter tatsächlich eine Handlung vorgenommen
hat, die als Ausführungshandlung zu bewerten ist. Das ist eine Frage der Auslegung
des objektiven Tatbestandes. Skizzenhaft: Hat der Täter das Geschehen aus der Hand
gegeben, so steht die Zeitspanne bis zur Realisierung der Gefahr deren Bewertung als
rechtlich missbilligt und tatbestandsmäßig nicht entgegen („Salzsäure-Fall“).39 Be-
hält der Täter das Risiko in der Hand, weil er die Gefahrenquelle jederzeit und risi-
kolos entfernen kann, so greift es zu kurz, die letzte aktive Handlung des Täters als
Ausführungshandlung anzusehen.40 Die tatbestandsmäßige Ausführungshandlung
liegt in einer solchen Konstellation nicht bereits im aktiven Bereitstellen des Giftes,
sondern im ingerenzgarantenpflichtwidrigen Nichtbeseitigen des Giftes, also in
einem Unterlassen.41 Im vorliegenden Zusammenhang von Interesse ist die Position
von Frister, der im Stellen der Giftfalle eine versuchsbegründende Ausführungs-
handlung erblickt und dies mit der Überlegung begründet, dass es angesichts der ein-
mal arrangierten Situation keiner weiteren Entscheidung des Täters bedürfe, um den

38
BGHSt 31, 178, 182; ebenso OLG Schleswig, SchlHAnz 1987, 101. Zustimmend LK/
Hillenkamp, § 22 Rn. 94; MüKo-StGB/Hoffmann-Holland, 3. Aufl. 2017, § 22 Rn. 107;
Küper, JZ 1992, 345; ähnlich schon Burkhardt, JuS 1983, 426 ff. A.A. BGHSt 37, 294, 296;
BGH, NStZ 2011, 400; 2002, 433, 435; OLG Karlsruhe, NJW 1982, 59; Bloy, JR 1984, 124 f;
Bosch, Jura 2011, 911; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, 5. Aufl. 1996, S. 521;
Kühl, Strafrecht AT, § 15 Rn. 55; Murmann, Versuchsunrecht und Rücktritt, S. 13 ff.; kritisch
auch Maaß, JuS 1984, 28.
39
Dieses Kriterium, das nach einer verbreiteten Lehre für die Bestimmung des Versuchs-
beginns ausschlaggebend sein soll (z. B. BGH, NStZ 1986, 547; Lackner/Kühl/Kühl, 29. Aufl.
2018, § 22 Rn. 9; Rengier, Strafrecht AT, § 36 Rn. 10 ff.; Rönnau, JuS 2014, 111 f.; Roxin, FS
Maurach, 1972, 227; ders., JuS 1979, 11; ders., JZ 1998, 211 f.; SK-StGB/Jäger, § 22
Rn. 39), betrifft also richtigerweise die Auslegung des Tatbestandes.
40
So aber Frister, FS Wolter, 2013, S. 384 f.; Hoffmann, JA 2016, 196 f.; Scheinfeld, Der
Tatbegriff des § 24 StGB, 2006, S. 77 f.
41
Murmann, Versuchsunrecht und Rücktritt, S. 16 ff; Streng, GS Zipf, 1999, S. 338, 343,
346 f. Vgl. auch Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 25/72; Roxin, FS Maurach, 1972,
S. 221 f.
Tatentschluss und Legitimation der Versuchsstrafbarkeit 737

Erfolg herbeizuführen.42 Das überzeugt deshalb nicht, weil so das Anstoßen eines
Geschehensverlaufs als abschließende Selbstfestlegung überinterpretiert wird, ob-
wohl der äußere Akt den Entschluss in Wahrheit nicht zementiert.43 Legitime Grund-
lage der Strafbarkeit ist eine solche Entscheidung nur dann, wenn sie in einem Sta-
dium vorliegt, in dem mit einer gewissen Zuverlässigkeit angenommen werden kann,
dass sie auch durchgehalten wird. Solange der Täter die Gefahrenquelle in seinem
Herrschaftsbereich bereitstellt, kann er sich begründet auf seine fortbestehende Frei-
heit berufen, die Gefahrenquelle zu entfernen. Schließlich gilt Ähnliches auch bezo-
gen auf die vorgelagerten Täuschungshandlungen beim Betrug: Eine Verhaltenswei-
se ist nicht schon deshalb Täuschungshandlung im Sinne von § 263 StGB, weil sie
phänomenologisch als „Täuschung“ der tatbestandlichen Verhaltensbeschreibung
entspricht.44 Das tatbestandsspezifische Missbilligungsurteil beim Betrug zielt
nicht auf die Vermeidung der Möglichkeit ab, den Boden für weitere, vom Täter ei-
genverantwortlich vorzunehmende Täuschungshandlungen zu bereiten, sondern auf
die Unterbindung solcher Täuschungshandlungen, die unmittelbar zur Hervorrufung
des tatbestandlich vorausgesetzten Irrtums und zu einer verfügungsbedingten Beein-
trächtigung des tatbestandlich geschützten Rechtsguts führen können.
Zusammenfassend bleibt also festzuhalten: Der Täter, der auf der Grundlage sei-
ner Vorstellungen die tatbestandsmäßige Handlung vornimmt, hat die den Vorsatz
kennzeichnende Entscheidung gegen das Rechtsgut getroffen. Ein Unterschied hin-
sichtlich der subjektiven Tatseite zum vollendeten Vorsatzdelikt besteht insoweit
nicht.45 Freilich bricht bei der Begründung des Versuchsunrechts ein Streit auf,
der im Falle der Vollendung zumindest im Regelfall keine entscheidende Rolle spielt,
nämlich die Frage, welches Verhalten als tatbestandsmäßig anzusehen ist. Denn beim
Versuch kommt es auf eine präzise Bestimmung der Ausführungshandlung an: Ent-
weder deshalb, weil sich der Täter auf der Grundlage seiner Vorstellung mit ihrer Vor-
nahme jedenfalls im Versuchsstadium befindet oder aber deshalb, weil sich das un-
mittelbare Ansetzen auf die nach Tätervorstellung vorzunehmende Ausführungs-
handlung bezieht.

42
Frister, FS Wolter, 2013, S. 385. Die meisten Autoren, die im Bereitstellen des Giftes die
aktive Ausführungshandlung erblicken, gehen davon aus, dass der Versuchsbeginn der Aus-
führungshandlung nachfolgt; z. B. Scheinfeld, Der Tatbegriff des § 24 StGB, S. 78 f.
43
Zutreffend verweist Roxin, FS Maurach, 1972, S. 216 darauf, dass im eigenen Herr-
schaftsbereich zwischen Tun und Unterlassen kein relevanter Unterschied besteht.
44
BGHSt 37, 294, 296; BGH, NStZ 2011, 400; 2002, 433, 435; OLG Karlsruhe, NJW
1982, 59 (mit ablehnenden Besprechungen von Burkhardt, JuS 1983, 426 und Krüger, JA
1984, 23 f.); Bosch, Jura 2011, 911; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, S. 521;
Kühl, Strafrecht AT, § 15 Rn. 55; Murmann, Versuchsunrecht und Rücktritt, S. 13 ff.
45
Es bleibt freilich der oben schon angesprochene Unterschied, dass sich der Vorsatz nicht
notwendig auf ein objektiv wegen seiner Gefährlichkeit missbilligtes Verhalten richten muss.
738 Uwe Murmann

b) Der Vorsatz bei Vornahme


einer „tatbestandsnahen Vorbereitungshandlung“

Hat der Täter die Ausführungshandlung noch nicht vorgenommen, so befindet er


sich im Vorbereitungsstadium. Das entspricht zwar nicht der gängigen Sprachrege-
lung, soll aber verdeutlichen, dass jede Handlung, die der Vornahme der tatbestands-
mäßigen Handlung vorausgeht, gerade nicht Ausführungshandlung ist, sondern noch
der Vorbereitung dient.46 Der durch das „unmittelbare Ansetzen“ charakterisierte
Versuchsbeginn hebt also eine Handlung aus den sonstigen Vorbereitungshandlun-
gen heraus. Bezogen auf solche „tatbestandsnahen Vorbereitungshandlungen“47 be-
steht ein Legitimationsproblem, das durch die Auffassung, der Vorsatz entspreche
dem der vollendeten Tat, eingeebnet wird: Der Vorsatz als auf die Vornahme der Aus-
führungshandlung bezogener Wille, steht hier notwendig unter dem Vorbehalt der
freien Person, von diesem Vorhaben auch noch „in letzter Sekunde“ Abstand nehmen
zu können. Diese Möglichkeit hat auch der sogenannte „fest“ zur Tat Entschlosse-
ne.48 Der Versuch, bei dem der Täter die Ausführungshandlung noch nicht vorgenom-
men hat, betrifft also eine Konstellation, in der zum Vorsatz noch die Freiheit gehört,
die Tat nicht auszuführen. Fehlt damit ein in der Vornahme der Ausführungshandlung
verwirklichter Entschluss, so ist damit eine markante Abweichung gegenüber dem
Vorsatz bei der vollendeten Tat (wie auch beim Versuch nach Vornahme der Ausfüh-
rungshandlung) angesprochen.
Ist die Vorsatzstrafe nur legitimierbar als Ausdruck der Entscheidung des Täters
gegen das rechtlich geschützte Gut, so stellt sich die Frage, inwieweit auch der Täter,
der die Ausführungshandlung noch nicht vorgenommen hat, die erforderliche Ent-
scheidung getroffen haben kann. Normativ wird vom Täter in jedem Zeitpunkt der
Vorbereitungsphase noch die Abstandnahme von der geplanten Tat erwartet. Der
Täter ist – wie er auch weiß – nicht auf die Tatbegehung festgelegt.49 Aber das Ver-
trauen in die Orientierung am Recht hängt nicht nur von normativen Erwartungen ab,
sondern auch von tatsächlichen Gegebenheiten und praktischen Erfahrungen.50 Frei-
lich können solche Erwartungen nur in engem Rahmen eine Kriminalstrafe legitimie-
ren. Man wird verlangen müssen, dass der Ausführungswille noch so unmittelbar vor
Vornahme der Ausführungshandlung durchgehalten wird, dass dies die Annahme le-
gitimiert, dass ein Freiheitsgebrauch im Sinne einer Abstandnahme nicht mehr zu
erwarten ist. Denn in einem Rechtsverhältnis, in dessen Konstitution der Täter ein-
bezogen ist, kann vom Täter nur in diesem engen Rahmen verlangt werden zu akzep-
tieren, dass er das Vertrauen in die Erfüllung der grundsätzlich an ihn gerichteten nor-

46
Vgl. auch Armin Kaufmann, FS Welzel, 1974, S. 404; ders., ZStW 80 (1968), 52.
47
Murmann, Versuchsunrecht und Rücktritt, S. 10 ff.
48
Vgl. auch Schlehofer, Vorsatz und Tatabweichung, 1996, S. 45.
49
Dazu, dass diese Offenheit – freilich aus anderen Gründen – auch dann besteht, wenn
man die Wahlfreiheit bestreitet, oben II.
50
So liegt es auch sonst beim Vertrauensgrundsatz; vgl. Murmann, Grundkurs Strafrecht,
§ 23 Rn. 50 ff.
Tatentschluss und Legitimation der Versuchsstrafbarkeit 739

mativen Erwartung rechtstreuen Verhaltens verspielt hat. Das unmittelbare Ansetzen


markiert danach nicht nur das Überschreiten einer objektiven Schwelle zum Ver-
suchsbeginn, sondern zugleich den Zeitpunkt, in dem der Wille, zur Tatausführung
überzugehen, zum Tatvorsatz wird. Diesem letztgenannten Aspekt wird man in einer
subjektiv fundierten Versuchslehre sogar gegenüber dem Kriterium der äußeren
Nähe zur Tatausführung den Vorrang einräumen müssen. Die (auf der Grundlage
der Tätervorstellung zu beurteilende) Nähe zur Tatausführung entfaltet ihre Relevanz
gerade mit Blick auf die das Versuchsunrecht begründende Entscheidung des Täters.
Die Bestimmung der Grenze zum Eintritt in das Versuchsstadium muss trotz des ob-
jektiven Maßstabes, den das Kriterium des „unmittelbaren Ansetzens“ setzt, material
den Zeitpunkt im Blick haben, in dem sich der Täter nicht mehr auf die Möglichkeit
berufen kann, die Tat nicht ausführen zu wollen. Hierfür ist die unmittelbare Nähe zur
Vornahme der Ausführungshandlung freilich der zentrale Gesichtspunkt.
Auch wenn sich schwerlich bestreiten lässt, dass der Täter erst mit einem Vorsatz,
der sich in der Vornahme der Ausführungshandlung manifestiert, seiner Entschei-
dung den letzten verbindlichen Ausdruck verleiht, lässt doch auch der bis hart an
die Vornahme der Ausführungshandlung herangerückte Wille praktisch kaum
Raum für Zweifel daran, dass dieser Wille auch durchgehalten wird.51 Dem Gesetz-
geber steht es jedenfalls frei, diesen Unterschied in der Entschlussfassung bei der
Frage der Versuchsstrafbarkeit zu ignorieren (so wie es ihm auch sonst freisteht, un-
terschiedliche Vorsatzgrade unter einem einheitlichen Vorsatzbegriff zusammenzu-
fassen).
Die These, dass der Vorsatz bei vollendetem und versuchtem Delikt der gleiche
sei, erweist sich damit für die Konstellationen als unzutreffend, in denen der Täter
nicht über das Stadium der „tatbestandsnahen Vorbereitungshandlung“ hinausge-
kommen ist. Die Abweichung betrifft den Bezugspunkt des Vorsatzes insoweit,
als die vom Vorsatz umfasste Geschehensgestaltung zunächst auf die tatbestandsnahe
Vorbereitungshandlung bezogen ist. Freilich kann sich der Vorsatz nicht auf die
Handlung, die das unmittelbare Ansetzen darstellt, beschränken. Aus dem in § 22
StGB genannten Erfordernis der Vorstellung der Tat wird schon deutlich, dass der
Täter auch künftige Handlungsvollzüge zum Gegenstand seines Vorsatzes machen
muss, nämlich etwaige weitere der Ausführungshandlung vorgelagerte Vorgänge
(unwesentliche Zwischenschritte) und insbesondere die Ausführungshandlung
selbst. Die subjektive Beziehung zu diesen künftigen Vorgängen lässt sich nicht
als Wissen beschreiben, sondern der Täter muss mit dem Willen handeln, zur Aus-
führungshandlung fortzuschreiten.52 Auch für die Vertreter der voluntativen Theori-
en liegt darin hinsichtlich des Bezugspunktes des Vorsatzes ein Unterschied zum

51
Ähnlich Dold, Eine Revision der Lehre vom Rücktritt vom Versuch, 2017, S. 85 ff.
52
Dold, Eine Revision der Lehre vom Rücktritt vom Versuch, 2017, S. 12, 98; Sancinetti,
Subjektive Unrechtsbegründung und Rücktritt vom Versuch, 1995, S. 59; Struensee, GS für
Armin Kaufmann, 1989, S. 530: „Durchhaltewille“.
740 Uwe Murmann

vollendeten Delikt. Für die Vertreter kognitiver Vorsatztheorien betrifft der Unter-
schied auch die Struktur des Vorsatzes.

IV. Zusammenfassung und Ausblick auf die Rücktrittslehre


Es hat sich gezeigt, dass die subjektiv fundierte Begründung des Versuchs, die
meist eher als gesetzlich verordnete Notlösung erscheint, einen zentralen Aspekt
des Unrechts – auch der vollendeten Tat – betrifft. Die der Entscheidung gegen
das Rechtsgut zukommende äußere Seite ist nicht nur die in einem Tatstrafrecht er-
forderliche äußere Manifestation der Entscheidung, sondern bringt die Entscheidung
überhaupt erst zum Entstehen.
Der Einsicht folgend, dass Begründung und Begrenzung der Strafbarkeit letztlich
zwei Seiten des gleichen Gedankens sind, kommt den Überlegungen zur versuchs-
begründenden Relevanz der Entscheidung gegen das Rechtsgut zugleich eine die
Versuchsstrafbarkeit begrenzende Bedeutung zu. Diese resultiert aus der Einsicht,
dass die Entscheidung eine Selbstfestlegung der Person verlangt, die erst mit der Vor-
nahme der Ausführungshandlung zuverlässig zum Abschluss gekommen ist. Damit
stellt sich das Legitimationsproblem beim Versuch in grundsätzlich unterschiedli-
cher Weise je nachdem, ob der Täter die Ausführungshandlung bereits vorgenommen
hat oder sich noch im Stadium der (tatbestandsnahen) Vorbereitung befindet. Wäh-
rend bei Vornahme der Ausführungshandlung der Täter seine Entscheidung ebenso
verbindlich getroffen hat wie beim vollendeten Delikt (freilich mit dem Unterschied,
dass die objektive Gefährlichkeit der Ausführungshandlung für das Versuchsunrecht
nicht konstitutiv ist), steht die Entscheidung bei Vornahme der tatbestandsnahen Vor-
bereitungshandlung stets unter dem Vorbehalt der Freiheit des Täters. Die Versuchs-
strafbarkeit kann hier nur auf der Grundlage der tatsächlichen Erwartung begründet
werden, dass es ab einem bestimmten Stadium der Realisierung eines deliktischen
Vorhabens praktisch kein Zurück mehr gibt. Die Zumutung, die darin liegt, gegen
den Täter einen Versuchsvorwurf zu erheben, obwohl das Durchhalten des Tatplans
noch keinesfalls gewiss war, verlangt danach, den Versuchsbeginn sehr eng an die
Ausführungshandlung heranzurücken.
Es bleibt noch ein Nachtrag: Die Überlegungen zum unmittelbaren Ansetzen ent-
falten auch im Rahmen der umstrittenen Fälle des Rücktritts vom vorläufig fehlge-
schlagenen Versuch ihre Relevanz und finden in der Konsistenz, mit der sie sich in die
Rücktrittsdogmatik einfügen, eine gewisse Bestätigung. Auf diesen Aspekt soll noch
in aller Kürze eingegangen werden.
Wenn Grundlage der Versuchsstrafbarkeit die Entscheidung gegen das Rechtsgut
ist, so muss auch der Rücktritt gerade an dieser Entscheidung ansetzen.53 Die für den

53
Den Zusammenhang von Versuchsunrecht und Rücktritt betonen etwa Bottke, JZ 1994
71, 73; Murmann, Versuchsunrecht und Rücktritt, S. 27 ff.; Dold, Eine Revision der Lehre
Tatentschluss und Legitimation der Versuchsstrafbarkeit 741

Rücktritt vorgesehene Strafaufhebung ist nur zu begründen, wenn der Täter die mit
dem Versuch getroffene Entscheidung zurücknimmt. Diese Rücknahme findet ihre
deutlichste Manifestation, wenn der Täter im Stadium der „tatbestandsnahen Vorbe-
reitungshandlung“ von der Vornahme der Ausführungshandlung Abstand nimmt.
Der Täter macht hier von der fortbestehenden Freiheit zur Umkehr Gebrauch.
Problematisch ist der Erklärungswert bloßen Aufgebens dagegen dann, wenn der
Täter seine Entscheidung bereits mit der Vornahme der Ausführungshandlung ge-
troffen hat, diese aber nicht zur Deliktsverwirklichung führt und der Täter sich
ihm eröffnende weitere Möglichkeiten der Erfolgsherbeiführung nicht weiter ver-
folgt. Die Behandlung dieser Fälle ist bekanntlich umstritten. Dogmatischer Aus-
gangspunkt muss die Frage sein, ob die bereits vorgenommene und die weiteren,
vom Täter als erfolgversprechend erkannten Ausführungshandlungen eine „Tat“
im Sinne von § 24 Abs. 1 StGB darstellen.
Da der strafbefreiende Rücktritt jedenfalls eine Distanzierung des Täters von dem
versuchsbegründenden Verhalten voraussetzt, muss es für eine materielle Konturie-
rung des Tatbegriffs ausschlaggebend sein, ob dem Unterlassen weiterer Ausfüh-
rungsbemühungen eine Aussagekraft dahingehend zukommen kann, dass der
Täter sich von seinem in der bereits vorgenommenen Ausführungshandlung verkör-
perten Entschluss und der diesem zugrunde liegenden Unrechtsmaxime distanziert.
Nur solange sich der Täter noch im Stadium der Ausführung der gleichen Tat befin-
det, kann er noch eine Änderung seiner Entscheidung bezogen auf die Tatvollendung
geltend machen. Darin liegt der Unterschied zu sonstigem Nachtatverhalten.54
Die Einzelakttheorie hält einen solchen Erklärungsgehalt nicht für möglich, so-
fern der Täter eine aus seiner Sicht irreversible Ausführungshandlung vorgenommen
hat. Damit liege ein nicht mehr änderbarer Sinnausdruck, also eine Tat, vor.55 Dage-
gen will die Gesamtbetrachtungslehre dem Täter eine Rücktrittsmöglichkeit auch
dann einräumen, wenn eine nach seiner Vorstellung noch mögliche Ausführungs-
handlung mit der bereits vorgenommenen einen „einheitlichen Lebensvorgang“ bil-
det.56
Die Gesamtbetrachtungslehre verdient grundsätzlich Zustimmung.57 Auch wenn
der Täter seine Entscheidung gegen das Rechtsgut mit der bereits vorgenommenen

vom Rücktritt vom Versuch, 2017, S. 23. Abweichend Jäger, Der Rücktritt vom Versuch als
zurechenbare Gefährdungsumkehr, 1996, S. 87.
54
Näher Murmann, Versuchsunrecht und Rücktritt, S. 31 ff.
55
Jedenfalls dann, wenn der Täter es für möglich hält, dass er den Erfolgseintritt nach
Vornahme der Ausführungshandlung nicht mehr verhindern könnte. Schönke/Schröder/Eser/
Bosch, § 24 Rn. 21; eingehend Jakobs, ZStW 104 (1992), 82 ff.
56
Etwa BGHSt 31, 170; 33, 295; BGH, 2016, 332; 2017, 720; HK-GS/Ambos, 4. Aufl.
2017, § 24 StGB Rn. 7; Köhler, Strafrecht AT, 1997, S. 478; Kudlich, JuS 1999, 243;
Schmidhäuser, Lehrbuch, 15/78; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT, 48. Aufl. 2018,
Rn. 891.
57
Vgl. schon Murmann, Versuchsunrecht und Rücktritt, S. 39 ff.
742 Uwe Murmann

Ausführungshandlung getroffen hat, bleibt deren Realisierung so lange defizitär, wie


der Erfolg noch nicht eingetreten ist.58 Mit einem Verzicht auf die weitere Verfolgung
seines deliktischen Ziels kann sich der Täter mit besonderem Nachdruck von der Un-
rechtsmaxime distanzieren, die der zunächst getroffenen Entscheidung zugrunde lag.
Begründungsbedürftig ist freilich, ob und in welchem Umfang es als Distanzierung
von der ursprünglich getroffenen Entscheidung aufzufassen ist, dass sich der Täter
nicht für die Vornahme weiterer Ausführungshandlungen entscheidet. Hier ist an
die Überlegungen anzuknüpfen, die zur Bestimmung des Versuchsbeginns vorgetra-
gen wurden: Die empirische Erwartung, dass der Täter ab einem gewissen Zeitpunkt
der Realisierung seines Tatvorhabens zur Ausführungshandlung fortschreitet, be-
steht auch (und gerade) dann, wenn er bereits eine erfolglose Ausführungshandlung
vorgenommen hat und sich nun in der Lage sieht, im unmittelbaren Fortgang des Ge-
schehens weitere Ausführungshandlungen vornehmen zu können. Nimmt der Täter
die Ausführungshandlung vor, so verfolgt er weiter sein anfängliches Tatvorhaben
und begeht keine neue Tat. Entscheidet er sich gegen die Vornahme der weiteren Aus-
führungshandlung, so zeigt die für die Versuchsbegründung maßgebliche Erwartung,
dass der Täter zur Vornahme der (nächsten) Ausführungshandlung fortschreitet, ge-
wissermaßen ihre Kehrseite. Es ist nun nämlich eine „positive Überraschung“, wenn
der Täter erwartungswidrig sein deliktisches Vorhaben nicht weiter verfolgt, obwohl
die vorgestellte weitere Ausführungshandlung an die fehlgeschlagene unmittelbar
anschließen würde. Die erwartbare Bestätigung der Entscheidung gegen das Rechts-
gut bleibt aus, was die anfänglich getroffene Entscheidung noch innerhalb des glei-
chen Ausführungsstadiums konterkariert.
Damit sind zugleich die Grenzen einer wirkmächtigen Distanzierung von dem ur-
sprünglich gefassten Entschluss gezogen: Vom Täter als möglich erkannte weitere
Ausführungshandlungen, die sich nicht im Sinne von § 22 StGB unmittelbar an
die letzte Ausführungshandlung anschließen, gehören nicht zur gleichen Tat. Der
im Anschluss an die fehlgeschlagene Ausführungshandlung gefasste Plan, zu
einer weiteren Ausführungshandlung unmittelbar anzusetzen, ist gerade noch
nicht der für einen Versuch erforderliche Tatentschluss. Der „Verzicht“ darauf,
einen Tatentschluss zur Begehung einer neuen Tat zu fassen, kann keinen qualifizier-
ten (gegenüber sonstigem Nachtatverhalten herausgehobenen) Erklärungswert in
Richtung auf die mit der ersten Ausführungshandlung realisierte Entscheidung ent-
falten.
Die Rechtsprechung zieht den Rahmen der Einheitlichkeit des Lebensvorgangs
bekanntlich deutlich weiter und bejaht die Einheitlichkeit etwa auch dann, wenn
der Täter das Opfer erst verfolgen und sich geänderter Tatmittel bedienen muss
oder es (in den Zielerreichungsfällen) eines neuen Motivs für die weitere Verfolgung

58
Das kann man freilich anders sehen, wenn man die Relevanz des Erfolges für das Un-
recht grundsätzlich bestreitet; etwa Armin Kaufmann, FS Welzel, 1974, S. 410 ff.; Zielinski,
Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff, 1973, S. 128 ff.
Tatentschluss und Legitimation der Versuchsstrafbarkeit 743

des tatbestandlichen Erfolges bedarf.59 Die Begründung bleibt intuitiv (etwa: ein ein-
heitlicher Lebensvorgang dürfe nicht auseinandergerissen werden), verweist auf die
Irrelevanz außertatbestandlicher Aspekte (obwohl jeder Gesichtspunkt, der einen
Zusammenhang mehrerer Ausführungshandlungen begründen kann, notwendig au-
ßertatbestandlicher Natur ist) oder verweist auf den Gedanken des Opferschutzes
(und ignoriert damit den geläufigen Einwand gegen die kriminalpolitische Rück-
trittslehre, dass der Täter sich der strafbefreienden Wirkung des Rücktritts nicht be-
wusst ist oder diesen Aspekt zumindest nicht reflektiert).60 Wollte man der Recht-
sprechung eine Begründung unter Bezugnahme auf die ratio des § 24 StGB unterle-
gen, so müsste sie wohl darin liegen, dass der Erklärungswert der Nichtvornahme
einer weiteren Ausführungshandlung beim vorläufig fehlgeschlagenen Versuch wei-
ter reicht als im „Normalfall“ des Versuchs.61 Dafür ließe sich immerhin zweierlei
geltend machen: Zum einen könnte man anführen, dass die empirische Erwartung,
dass der Täter zur Vornahme der Ausführungshandlung voranschreitet, bei einem
Täter, der seine Entschlusskraft bereits unter Beweis gestellt hat, bereits bei größe-
rem Abstand zur nächsten Ausführungshandlung begründet sei. Der zweite Aspekt
betrifft die normative Relevanz einer solchen tatsächlichen Erwartung. Während die
Begründung des Versuchsbeginns auf der Grundlage einer empirischen Erwartung
besonderer Legitimation bedarf, weil sie dem Täter den Einwand abschneidet,
dass er sich doch noch rechtmäßig motiviert hätte, wirkt sie im Kontext von § 24
StGB entlastend, weil auf ihrer Grundlage der Rahmen der rücktrittsfähigen Tat wei-
ter gezogen werden kann. Letztlich überzeugend erscheint eine solche relative Be-
stimmung des Versuchsbeginns bezogen auf das jeweilige Ausführungsstadium
aber nicht. Erstens findet sie keinen Anhaltspunkt im Gesetz, das lediglich im
Falle des „unmittelbaren Bevorstehens“ des tatbestandsmäßigen Verhaltens der em-
pirischen Erwartung Relevanz zumisst. Zweitens erscheint es auch in der Sache nicht
angemessen, der tatsächlichen Erwartung in so weitem Umfang gerade zugunsten
des besonders entschlusskräftigen Täters normative Relevanz zuzubilligen. Drittens
und vor allem ist es nicht per se als günstig für einen Täter anzusehen, wenn man ihm
auch jede weitere rechtswidrige Handlung zutraut. Selbst wenn ihm eine solche Er-
wartungshaltung eine Rücktrittsmöglichkeit eröffnen würde, wäre damit der Aner-
kennung des Täters als Rechtsperson kein guter Dienst erwiesen. Auch unter diesem
Aspekt erscheint es sachgerecht, die Annahme, der Täter werde sein deliktisches Vor-
haben weiter verfolgen, nur in dem engen Rahmen anzuerkennen, den § 22 StGB mit
dem „unmittelbaren Ansetzen“ zieht.

59
Vgl. etwa BGH, NStZ 1986, 264, 265; NStZ 2007, 399; NStZ 2015, 571; NStZ 2016,
332; BGHSt (GrS), 39, 221.
60
Zur Kritik an der großzügigen Bestimmung der Einheitlichkeit zutreffend Baumann/
Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht AT, 12. Aufl. 2016, § 23 Rn. 46.
61
Vgl. auch Scheinfeld, Der Tatbegriff des § 24 StGB, S. 84 ff.
Strafbarkeitseinschränkende Alternativen
zur hypothetischen Einwilligung im Arztstrafrecht?
Von Horst Schlehofer

I. Der zivilrechtliche Haftungsausschluss


durch hypothetische Einwilligung –
übertragbar auf das Strafrecht?
„Aufklärungsmängel können … eine Strafbarkeit des Arztes wegen Körperverlet-
zung nur begründen, wenn der Patient bei einer den Anforderungen genügenden Auf-
klärung in den Eingriff nicht eingewilligt hätte“.1 Wenn er „bei wahrheitsgemäßer
Aufklärung in die tatsächlich durchgeführte Operation eingewilligt hätte“, „entfällt“
die „Rechtswidrigkeit“.2 Mit diesen lapidaren Feststellungen hat der BGH das von
der Zivilrechtsprechung zum Arzthaftungsrecht entwickelte Konstrukt der hypothe-
tischen Einwilligung auf das Strafrecht übertragen und damit eine intensive wissen-
schaftliche Diskussion ausgelöst. Im Vordergrund steht dabei die Frage nach der
Rechtsgrundlage für diesen postulierten Rechtswidrigkeitsausschluss. Soll die hypo-
thetische Einwilligung ein Rechtfertigungsgrund sein? Oder soll eine andere Rechts-
widrigkeitsvoraussetzung ausgeschlossen sein? Wenn ja, welche? Soll für die
Rechtswidrigkeit wie für die Tatbestandsmäßigkeit eine normative Zurechnung –
ein Pflichtwidrigkeitszusammenhang – nötig sein? Und zwischen welchem Verhal-
ten – der Aufklärungspflichtverletzung oder dem ärztlichen Eingriff – und welchem
Erfolg – dem tatbestandsmäßigen oder dem strafrechtlich missbilligten – müsste er
bestehen?3
Auf all diese Fragen hat die Rechtsprechung keine klare Antwort gegeben. Auch
der Rückgriff auf das zivilrechtliche Arzthaftungsrecht – den Ursprung der „hypo-
thetischen Einwilligung“ – macht die Rechtsprechung nicht klarer. Denn dort hat
sie die „hypothetische Einwilligung“ ebenfalls nicht eindeutig dogmatisch verortet.
Auch zivilrechtlich bleibt offen, ob die „hypothetische Einwilligung“ ein Rechtfer-
tigungsgrund ist oder ob sie einen nötigen Pflichtwidrigkeitszusammenhang aus-

1
BGH NStZ 1996, 34 (35).
2
BGH NStZ-RR 2004, 16 (17).
3
Zur Problematik und zur Diskussion eingehend MüKo-StGB/Schlehofer, Vor § 32
Rn. 196 ff.
746 Horst Schlehofer

schließen soll.4 Klargestellt wurde die Funktion der „hypothetischen Einwilligung“


allerdings in der Gesetzesbegründung zu § 630h Abs. 2 S. 2 BGB, der die zivilrecht-
liche Rechtsprechung zur „hypothetischen Einwilligung“ gesetzlich verankert. Darin
wird ausdrücklich gesagt, dass „es an dem für die Schadensersatzhaftung erforder-
lichen Ursachenzusammenhang zwischen der unterbliebenen bzw. unzureichenden
Aufklärung und dem eingetretenen Schaden“ „fehlt“, wenn „der Patient den Eingriff
ohnehin“ „hätte … vornehmen lassen“.5 Und damit kann nur gemeint sein, dass die
„hypothetische Einwilligung“ den (normativen) Pflichtwidrigkeitszusammenhang
zwischen der Verletzung der Aufklärungspflicht und dem Schaden ausschließt.
Denn die Kausalität im naturgesetzlichen Sinne ist bei der hypothetischen Einwilli-
gung gegeben. Sie bestimmt sich nur nach den tatsächlichen Umständen, nicht nach
hypothetischen. Und für den tatsächlichen Verlauf ist die Aufklärungspflichtverlet-
zung ursächlich geworden: Der Aufklärungsmangel bedingt das Informationsdefizit
des Patienten, dieses die willensmangelbehaftete Einwilligung und diese den ärztli-
chen Eingriff und den daraus resultierenden Schaden.
Damit ist allerdings nur eine Aussage für das zivilrechtliche Arzthaftungsrecht
getroffen. Für das Strafrecht kann sie so nicht gelten. Denn dort steht der Pflichtwid-
rigkeitszusammenhang in einem anderen Kontext. Während es im Zivilrecht um den
Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen Aufklärungspflichtverletzung und
Schaden geht, geht es bei § 223 StGB nach dem überkommenen dreistufigen Delikts-
aufbau und der Kategorisierung der Einwilligung als Rechtfertigungsgrund um den
Pflichtwidrigkeitszusammenhang auf der Rechtswidrigkeitsebene. Denn im Tatbe-
stand darf dann bei der tatbestandlichen Pflichtwidrigkeit noch nicht berücksichtigt
werden, ob das Verhalten des Arztes von einer Einwilligung gedeckt ist – sonst wür-
den Tatbestand und Rechtswidrigkeit konfundieren. Da so im Tatbestand noch nicht
abschließend über die strafrechtliche Missbilligung von Verhalten und Erfolg und
damit auch nicht über den Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen beidem ent-
schieden ist, muss das auf der Rechtswidrigkeitsebene nachgeholt werden. Das
heißt, für die Rechtswidrigkeit müssen gegeben sein ein strafrechtlich missbilligtes
Verhalten – das Verhaltensunrecht –, ein strafrechtlich missbilligter Erfolg – das Er-
folgsunrecht – und eine Verknüpfung von beidem – der Pflichtwidrigkeitszusam-
menhang. Anders als im Tatbestand und anders als nach der gesetzgeberischen Wer-
tung des § 630h Abs. 2 S. 2 BGB bezieht sich der Pflichtwidrigkeitszusammenhang
hier nicht nur auf den Körperverletzungserfolg, sondern auf den strafrechtlich miss-
billigten Körperverletzungserfolg.
Dieser Pflichtwidrigkeitszusammenhang ist ausgeschlossen, wenn der strafrecht-
lich missbilligte Erfolg auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre. Dann
wäre die strafrechtliche Missbilligung des Verhaltens zur Vermeidung dieses Erfol-
4
Siehe etwa BGH BeckRS 2003, 08946 („ist von einem nach hypothetischer Einwilligung
nicht rechtswidrigen Eingriff auszugehen“). Näher zu den Unklarheiten der zivilrechtlichen
Einordnung der hypothetischen Einwilligung Albrecht, Die „hypothetische Einwilligung“ im
Strafrecht, 2010, S. 81 f.
5
BT-Drs. 17/10488, S. 29.
Alternativen zur hypothetischen Einwilligung im Arztstrafrecht? 747

ges ungeeignet und verstieße damit gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot.


Im Fall der hypothetischen Einwilligung wäre der strafrechtlich missbilligte Körper-
verletzungserfolg bei pflichtgemäßem Verhalten aber nicht eingetreten, gleich worin
man das pflichtgemäße Alternativverhalten sieht, in der pflichtgemäßen Aufklärung
und dem Eingriff mit wirksamer Einwilligung oder im Unterlassen des Eingriffs ohne
Einwilligung. So oder so würde es nicht zu dem strafrechtlich missbilligten Erfolg
kommen, zur Verletzung der körperlichen Integrität ohne wirksame Einwilligung
des Patienten. Entweder wäre bei rechtmäßigem Alternativverhalten ein Körperver-
letzungserfolg mit wirksamer Einwilligung des Patienten gegeben oder gar kein Kör-
perverletzungserfolg.
Das heißt allerdings nur, dass die hypothetische Einwilligung den strafrechtlichen
Pflichtwidrigkeitszusammenhang nicht ausschließt, nicht den im Tatbestand und
auch nicht den in der Rechtswidrigkeit. Nicht gesagt ist damit, dass die Wertung
des § 630h Abs. 2 S. 2 BGB für die Strafbarkeit gänzlich irrelevant ist. Es könnte
systematisch geboten sein, sie bei einer anderen Strafbarkeitsvoraussetzung haf-
tungseinschränkend zu berücksichtigen. Denn es könnte wertungswidersprüchlich
sein, im Fall der hypothetischen Einwilligung gem. § 630h Abs. 2 S. 2 BGB den
Arzt einerseits von einer zivilrechtlichen Haftung gem. § 280 Abs. 1 BGB freizustel-
len, ihn andererseits aber strafrechtlich wegen Körperverletzung gem. § 223 StGB
haften zu lassen.
Das könnte schon zivilrechtsintern zu einem Wertungswiderspruch führen, näm-
lich im Verhältnis zwischen der vertraglichen Haftung gem. § 280 Abs. 1 BGB und
der deliktischen Haftung gem. § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 223 StGB. Bei hypothe-
tischer Einwilligung des Patienten ist der vertragliche Schadensersatzanspruch gem.
§ 630h Abs. 2 S. 2 BGB ausgeschlossen, der deliktische könnte aber gegeben sein.
Denn auf ihn ist § 630h Abs. 2 S. 2 BGB jedenfalls nicht direkt anwendbar. Das er-
gibt sich zum einen aus dem Regelungskontext, in dem er steht – dem Recht des Be-
handlungsvertrages (§§ 630a – 630h BGB) – und zum andern aus den Gesetzesma-
terialien. Danach soll § 630h BGB nur eine Regelung treffen für den Schadensersatz-
anspruch aus § 280 Abs. 1 BGB; ein Schadensersatzanspruch aus Delikt soll davon
„grundsätzlich unberührt“ bleiben.6 Die Konsequenz wäre, dass die Haftungsbegren-
zung des § 630h Abs. 2 S. 2 BGB wirkungslos würde, sofern ein Schadensersatzan-
spruch gem. § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 223 StGB bestünde. Diese Regelungsdiver-
genz ließe sich zivilrechtlich zwar auch ohne strafrechtliche Berücksichtigung der
hypothetischen Einwilligung beseitigen: durch eine entsprechende Anwendung
des § 630h Abs. 2 S. 2 BGB auf den deliktischen Schadensersatzanspruch.7 Die Ge-
setzesbegründung ließe dafür Raum. Weil danach der deliktische Anspruch nur
„grundsätzlich“ von § 630h BGB unberührt bleiben soll, kann man annehmen,
dass der Gesetzgeber damit keine abschließende Regelung treffen wollte.

6
BT-Drs. 17/10488, S. 27.
7
Für eine solche Anwendung in der Sache etwa Palandt/Sprau, BGB, § 823 Rn. 144, 166.
748 Horst Schlehofer

Indes treten Widersprüche auch im Verhältnis zum Strafrecht auf, wenn man die
Wertung des § 630h Abs. 2 S. 2 BGB bei § 223 StGB nicht berücksichtigt. Zwar sind
die Anknüpfungspunkte für die zivilrechtliche und die strafrechtliche Haftung typi-
scherweise verschieden: Die zivilrechtliche knüpft in der Praxis typischerweise an
die Verletzung der Aufklärungspflicht an8, die strafrechtliche typischerweise an
den körperlichen Eingriff. Aber auch strafrechtlich kann es so sein, dass die haftungs-
relevante Handlung allein die Aufklärungspflichtverletzung ist.
Ein Beispiel: P leidet unter chronischen Schmerzen und ist ihretwegen bei seinem
Hausarzt H in Behandlung, bislang ohne Erfolg. Von einem befreundeten Arzt im
Ausland erfährt P, dass dieser gute Erfahrungen mit einem in Deutschland nicht er-
hältlichen Medikament gemacht habe. Auf P.s Bitte hin schickt ihm dieser das Me-
dikament. P will aber sichergehen und die Einnahme vom Urteil seines Hausarztes
abhängig machen. Er bestätigt P, dass das Medikament im Ausland bereits erfolg-
reich eingesetzt worden ist, klärt ihn aber nicht darüber auf, dass es auch erhebliche
Nebenwirkungen haben kann. Wie von H vorhergesehen, nimmt P das Medikament
daraufhin ein. Bei ihm treten die Nebenwirkungen auf. Da das Medikament P.s
Schmerzen allerdings auch erheblich lindert, hätte er es auch eingenommen, wenn
H ihn über die möglichen Nebenwirkungen aufgeklärt hätte. – Hier kann sich die
strafrechtliche Haftung nur aus der Aufklärungspflichtverletzung ergeben;9 durch
sie könnte H die §§ 223, 25 Abs. 1 2. Alt. StGB durch P als einen „anderen“ i.S.d.
§ 25 Abs. 1 2. Alt. StGB verwirklicht haben. Bliebe bei ihnen unberücksichtigt,
dass P das Medikament auch eingenommen hätte, wenn er über das Risiko der Ne-
benwirkungen aufgeklärt worden wäre, wäre H.s Verhalten wegen dieses Risikos
strafrechtlich missbilligt. Zivilrechtlich ist die Aufklärungspflichtverletzung hinge-
gen wegen dieser Gefahr nicht rechtlich missbilligt. Die unzureichende Aufklärung
ist zwar gem. § 630e Abs. 1 S. 1, 2 BGB pflichtwidrig. Weil P das Medikament aber
auch bei pflichtgemäßer Aufklärung eingenommen hätte, fehlt es nach der Vorstel-
lung des Gesetzgebers am Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen der Aufklä-
rungspflichtverletzung und dem Körperschaden. Und das heißt nichts Anderes, als
dass die unzureichende Aufklärung nicht wegen der Gefahr rechtlich missbilligt
ist, die sich in den Nebenwirkungen realisiert hat. Die strafrechtliche und die zivil-
rechtliche Bewertung eines Verhaltens dürfen zwar divergieren, aber nur derart, dass
ein Verhalten zivilrechtlich, aber nicht strafrechtlich missbilligt ist. Die strafrechtli-
che Missbilligung schließt die rechtliche Missbilligung ein. Die strafrechtliche Miss-
8
Grund ist die Beweisnot des Patienten, wenn er sich auf einen Behandlungsfehler beruft.
Siehe dazu Wiesner, Die hypothetische Einwilligung im Medizinstrafrecht, 2010, S. 21 f.
m.w.N.
9
Ob das Medikament in Deutschland zugelassen ist oder nicht, soll für die Frage der
Pflichtwidrigkeit nicht entscheidend sein: „Der individuelle Heilversuch mit einem zulas-
sungspflichtigen, aber noch nicht zugelassenen Medikament“ werde durch das Arzneimittel-
gesetz nicht verboten“. „Seine Zulässigkeit“ sei „deshalb arzthaftungsrechtlich nach allge-
meinen Grundsätzen zu beurteilen“ (BGH, NJW 2007, 2767 (2768)). In der Sache ebenso
schon BGH, NStZ 1996, 34 mit insoweit zustimmender Anmerkung von Ulsenheimer, NStZ
1996, 132 (133).
Alternativen zur hypothetischen Einwilligung im Arztstrafrecht? 749

billigung bedeutet, dass das Verhalten verboten ist und außerdem so schwer wiegt,
dass es nach dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mit Strafe
bedroht werden darf. Ist das Verhalten hingegen wegen der Gefahr des Körperscha-
dens zivilrechtlich nicht verboten, darf das Verhalten wegen dieser Gefahr auch nicht
strafrechtlich missbilligt werden – weil die strafrechtliche Missbilligung implizieren
würde, dass das Verhalten wegen dieser Gefahr verboten ist. Die materiellrechtliche
Wertung des § 630h Abs. 2 S. 2 BGB muss daher auch strafrechtlich berücksichtigt
werden. Die Frage ist nur, wo sie dort zur Geltung zu bringen ist. Denn die in der
Gesetzesbegründung zu § 630h Abs. 2 S. 2 BGB geäußerte Meinung, die hypotheti-
sche Einwilligung schließe den Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen Aufklä-
rungspflichtverletzung und Schaden aus, könnte unzutreffend sein. Die Gesetzesbe-
gründung greift insofern nur eine These aus der Rechtsprechung auf. Sie wird dort
aber wie gesagt nicht hinreichend belegt.

II. Strafbarkeitseinschränkende Alternativen


zur hypothetischen Einwilligung
1. Einschränkung des Tatbestandes
des § 223 Abs. 1 StGB für humanmedizinische Eingriffe
durch ein ungeschriebenes Verwerflichkeitsmerkmal?

Als strafrechtliche Alternative zur hypothetischen Einwilligung wird zum einen


vorgeschlagen, den Tatbestand der Körperverletzung bei ärztlichen Heileingriffen in
Entsprechung zu den §§ 237 Abs. 1 S. 2; 240 Abs. 2; 253 Abs. 2 StGB durch Einfü-
gung eines ungeschriebenen Verwerflichkeitsmerkmals einzuschränken.10 Über die-
ses seien bei ärztlichen Heileingriffen, die beim Menschen durchgeführt werden, die
Fälle aus dem Tatbestand auszuscheiden, „in denen die Aufklärungspflichtverlet-
zung durch den Arzt als Bagatelle oder die Berufung des Patienten auf die Aufklä-
rungspflichtverletzung als ,missbräuchlich‘ erscheint“11. Maßgeblich dafür sei
1. „ob glaubhafte Indizien dafür vorliegen, dass der Patient auch bei vollständiger
Aufklärung dem Eingriff zugestimmt hätte und er dabei nicht einmal in einen
ernsthaften Entscheidungskonflikt geraten wäre“,
2. „ob eine Grundaufklärung des Patienten stattgefunden hat, ob der Patient also die
Tragweite des Eingriffs im Großen und Ganzen zu erfassen vermochte“,
3. „ob es sich nur um einen Bagatelleingriff ohne große Risiken gehandelt hat, so
dass das Körperverletzungsunrecht so gering ist, dass eine Einstellung nach
§ 153 StPO im Raum steht“,

10
So für ärztliche lege artis durchgeführte Eingriffe beim Menschen Swoboda, ZIS 2013,
18 (29 ff.).
11
Swoboda, ZIS 2013, 18 (31).
750 Horst Schlehofer

4. „ob der Arzt für sein Handeln nachvollziehbare, nicht egoistische Motive vorbrin-
gen kann“.12
Das Ziel einer zusätzlichen Einschränkung des Körperverletzungsunrechts bei
ärztlichen Heileingriffen lässt sich mit der systematischen Parallele zu den §§ 237
Abs. 1 S. 2; 240 Abs. 2; 253 Abs. 2 StGB indes nicht erreichen. Denn dort meint
das Verwerflichkeitsmerkmal nichts Anderes als die Strafrechtswidrigkeit, dass
die Tat Unrecht ist, das so schwer wiegt, dass es nach dem verfassungsrechtlichen
Übermaßverbot bei Erfüllung der übrigen Strafvoraussetzungen mit Strafe bedroht
werden darf.13 Danach würde ein solches Verwerflichkeitsmerkmal nicht mehr vor-
aussetzen als die spezifisch strafrechtliche Rechtswidrigkeit. Denn für sie ist nicht
nur bei den §§ 237 Abs. 1 S. 2; 240 Abs. 2; 253 Abs. 2 StGB, sondern für jedes straf-
rechtliche Unrecht mehr erforderlich als das Verbotensein der Tat. Für jedes Strafun-
recht verlangt der verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dass das
Unrecht so schwer wiegen muss, dass die Strafdrohung geeignet, erforderlich und
angemessen ist.
An dieser Strafrechtswidrigkeit kann es in den für die spezielle Verwerflichkeits-
prüfung vorgesehenen Fällen zwar fehlen, aber nicht mangels einer speziellen „Ver-
werflichkeit“, sondern weil ein allgemeiner Strafunrechtsausschließungsgrund
greift.
Das Strafunrecht kann wegen einer Einwilligung ausgeschlossen sein in dem Fall,
wo der Patient bei vollständiger Aufklärung „nicht einmal in einen ernsthaften Ent-
scheidungskonflikt geraten wäre“ und in dem, wo der Patient trotz des Aufklärungs-
mangels „die Tragweite des Eingriffs im Großen und Ganzen zu erfassen vermoch-
te“. Betrifft der Aufklärungsmangel in diesen Fällen keinen einwilligungsrelevanten
Umstand, ist auch der dadurch bedingte Irrtum nicht einwilligungsrelevant.14 In dem
Fall, wo „der Arzt für sein Handeln nachvollziehbare, nicht egoistische Motive“ hat,
kann das Strafunrecht gem. § 34 StGB ausgeschlossen sein – dann, wenn die Motive
und ihre Gründe ein überwiegendes Interesse an dem Eingriff begründen. So ist es
etwa, wenn der Arzt dem Patienten verschweigt, dass der Tumor bösartig ist, weil
zu befürchten ist, dass der Patient sich bei Kenntnis des wahren Befundes das
Leben nehmen würde. Ist der Aufklärungsmangel aber einwilligungsrelevant und be-
gründen die Motive des Arztes kein überwiegendes Interesse, den Eingriff ohne die
vollständige Aufklärung durchzuführen, ist kein Grund für einen Strafunrechtsaus-
schluss gegeben. Dann ist das Interesse des Patienten an der Unversehrtheit seiner
körperlichen Integrität strafrechtlich schutzwürdig und das Motiv des Arztes gem.
§ 46 Abs. 2 StGB nur relevant für die Strafzumessung. Ebenso wenig ist das Straf-
unrecht ausgeschlossen, wenn „das Körperverletzungsunrecht so gering ist, dass eine
Einstellung nach § 153 StPO im Raum steht“. Denn eine Einstellung nach § 153
12
Swoboda, ZIS 2013, 18 (31).
13
So für § 240 StGB auch BVerfG NJW 2002, 1031 (1033): „Die Verwerflichkeitsklausel
ist Ausdruck des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.“
14
Im Einzelnen dazu unten II. 3.
Alternativen zur hypothetischen Einwilligung im Arztstrafrecht? 751

StPO setzt gerade voraus, dass die Tat strafrechtswidrig ist. Ist sie das nicht, muss das
Verfahren gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt werden.15
Will man die „Verwerflichkeit“ bei § 223 StGB enger verstehen als die allgemeine
Strafrechtswidrigkeit, kann man sich für diese Einschränkung wie gezeigt nicht auf
die systematische Parallele zu den §§ 237 Abs. 1 S. 2; 240 Abs. 2; 253 Abs. 2 StGB
berufen – weil sie mit der „Verwerflichkeit“ eben nur die Strafrechtswidrigkeit mei-
nen. Dann spricht die strafrechtsinterne Systematik vielmehr gegen eine solche Ein-
schränkung. Denn mit einer gegenüber der allgemeinen Strafrechtswidrigkeit gestei-
gerten Verwerflichkeit würde der Sache nach eine gesteigerte strafrechtliche Pflicht-
widrigkeit verlangt. Wo das StGB eine solche voraussetzt, sagt es das aber ausdrück-
lich, so etwa in den §§ 171 Abs. 1; 176b Abs. 1; 236 Abs. 1; 251, 307 Abs. 3 StGB:
§ 171 Abs. 1 StGB verlangt eine gröbliche Verletzung der Fürsorge- oder Erzie-
hungspflicht, die §§ 176b, 251, 307 Abs. 3 StGB verlangen eine (wenigstens) leicht-
fertige Todesverursachung. Daraus folgt, dass das StGB im Übrigen keine solche ge-
steigerte Pflichtwidrigkeit voraussetzt, sondern ein strafrechtlich missbilligtes Ver-
halten genügen lässt.
Systemwidrig ist das in § 223 StGB hineingelesene Verwerflichkeitsmerkmal
auch noch aus zwei anderen Gründen. Zum einen, weil es nicht strikt auf das tatbe-
standsmäßige Verhalten bezogen wird. Denn es soll ja nicht erfüllt sein in Fällen, „in
denen die Aufklärungspflichtverletzung durch den Arzt als Bagatelle oder die Beru-
fung des Patienten auf die Aufklärungspflichtverletzung als ,missbräuchlich‘ er-
scheint“.16 Damit bezieht es sich auf die Aufklärungspflichtverletzung und auf das
Verhalten des Patienten. Die strafrechtliche Missbilligung betrifft aber das tatbe-
standlich erfasste Verhalten. Dieses kann zwar schon die Aufklärungspflichtverlet-
zung sein,17 beim Vorsatzdelikt ist es aber regelmäßig erst der ärztliche Eingriff.
Denn selbst wenn der Arzt, der den Aufklärungsfehler begangen hat, auch den Ein-
griff vornimmt, ist die Aufklärungspflichtverletzung nicht das tatbestandsmäßige
Verhalten. Da das vollendete Vorsatzdelikt das Stadium des (tauglichen) Versuchs
durchlaufen muss, wird der Tatbestand des Vorsatzdelikts durch die Voraussetzungen
des tauglichen Versuchs eingeschränkt. Der Tatbestand des vollendeten Vorsatzde-
likts erfasst danach nur ein Verhalten, das ein unmittelbares Ansetzen zur Tatbe-
standsverwirklichung i.S.d. § 22 StGB ist.18 Und das ist die Aufklärungspflichtver-
letzung mangels zeitlicher Nähe zum ärztlichen Eingriff regelmäßig nicht.
Das Maß der tatbestandsmäßigen Pflichtwidrigkeit korreliert auch nicht notwen-
dig mit der Schwere des Aufklärungsmangels. Überantwortet beispielsweise der
Chefarzt C seinem bislang stets zuverlässigen Oberarzt O gem. § 630e Abs. 2
Nr. 1 BGB die Aufklärung des Patienten P und macht O einen gravierenden Aufklä-
15
Löwe/Rosenberg/Beulke, StPO, § 153 Rn. 37; MüKo-StPO/Peters § 153 Rn. 16; SK-
StPO/Weßlau/Deiters § 153 Rn. 15.
16
Swoboda, ZIS 2013, 18 (31).
17
S. o. I.
18
Näher dazu Schlehofer, Vorsatz und Tatabweichung, 1996, S. 34 ff.
752 Horst Schlehofer

rungsfehler, so kann der von C durchgeführte Eingriff trotz des gravierenden Aufklä-
rungsmangels nicht „verwerflich“ sein. Es kann dann sogar gänzlich an der straf-
rechtlichen Missbilligung des Eingriffs fehlen, so wenn C darauf vertrauen durfte,
dass O den P im erforderlichen Umfang aufgeklärt hat und P wirksam in den Eingriff
eingewilligt hat.19
Ebenso wenig korreliert das Maß der tatbestandlichen Pflichtwidrigkeit damit, ob
die Berufung des Patienten auf die Aufklärungspflichtverletzung „missbräuchlich“
ist oder nicht. So kann der Arzt auch dann in gesteigertem Maße strafrechtlich miss-
billigt gehandelt haben, wenn der Patient sich „missbräuchlich“ auf die Aufklärungs-
pflichtverletzung beruft. Ein Beispiel: Der Arzt A klärt seinen Patienten P vor einer
Wirbelsäulenoperation nicht über das hohe Risiko einer Querschnittslähmung auf,
obwohl er annimmt, dass P dieses Risiko unbekannt ist. Tatsächlich weiß P vor
der Operation aus anderer Quelle um dieses Risiko, beruft sich nach der Operation
aber trotzdem auf den Aufklärungsmangel. – Hier ist die Berufung auf den Aufklä-
rungsmangel wegen des Risikowissens des P „missbräuchlich“. Dennoch hat A mit
dem Eingriff aber zumindest einen Körperverletzungsversuch begangen, weil nach
seiner Vorstellung die Einwilligung des P wegen eines rechtsgutsbezogenen Irrtums
unwirksam war.20 Wegen der Schwere der Pflichtverletzung hat er auch „verwerf-
lich“ gehandelt.
Außerdem ist das Verwerflichkeitsmerkmal systemwidrig, weil es nur für ärztli-
che Heileingriffe beim Menschen gelten soll.21 Das führt zu Wertungswidersprüchen.
Zum einen ergeben sie sich im Verhältnis von medizinisch indizierten und medizi-
nisch nicht indizierten Eingriffen beim Menschen. Bei medizinisch indizierten Ein-
griffen beim Menschen wäre das Körperverletzungsunrecht nur bei „verwerfli-
chem“, sprich: gesteigert strafrechtlich missbilligtem Verhalten gegeben, bei ande-
ren körperlichen Eingriffen hingegen schon bei schlicht strafrechtlich missbilligtem
Verhalten. So wäre die medizinisch nicht indizierte Schönheitsoperation schon bei
einem „bagatellarischen“ Aufklärungsmangel Körperverletzungsunrecht, wenn der
Aufklärungsmangel eine wirksame Einwilligung hindert und auch kein anderer
Rechtfertigungsgrund greift – weil bei diesem Eingriff für das Körperverletzungsun-
recht kein gesteigert „verwerfliches“, sondern nur ein strafrechtlich missbilligtes
Verhalten nötig wäre. Hingegen würde ein solcher Aufklärungsmangel bei einem
medizinisch indizierten Eingriff nicht für die dort geforderte „Verwerflichkeit“ rei-
chen. Diese Ungleichbehandlung widerspricht den gesetzlichen Vorgaben, sowohl
den zivilrechtlichen wie den strafrechtlichen. Für das Zivilunrecht unterscheiden
die §§ 630d Abs. 2; 630h Abs. 2 S. 2 BGB nicht zwischen medizinisch indizierten
und medizinisch nicht indizierten Eingriffen. Die Wirksamkeit der Einwilligung
setzt nach § 630d Abs. 2 BGB für beide Fälle voraus, dass der Patient vor der Ein-

19
Siehe dazu MüKo-StGB/Schlehofer, Vor § 32 Rn. 94 ff.
20
Siehe zur Rechtsfolge des sog. Fehlens des subjektiven Rechtfertigungselements MüKo-
StGB/Schlehofer, Vor § 32 Rn. 94, 103 f.
21
Swoboda, ZIS 2013, 18 (31 f.).
Alternativen zur hypothetischen Einwilligung im Arztstrafrecht? 753

willigung nach Maßgabe des § 630e Abs. 1 bis 4 BGB aufgeklärt worden ist.22 Und
für beide Fälle gibt § 630h Abs. 2 S. 2 BGB dem Behandelnden das Recht, sich auf
eine hypothetische Einwilligung des Patienten zu berufen. Diese Wertung ist – wie
sich oben gezeigt hat23 – auch im Strafrecht zu berücksichtigen. Zudem wird für das
Strafunrecht eine gesteigerte strafrechtliche Missbilligung nur dort vorausgesetzt,
wo das Gesetz eine solche explizit fordert – wie etwa in § 251 StGB.
Zum andern kommt es zu strafrechtlichen Wertungswidersprüchen im Verhältnis
zu tiermedizinischen Eingriffen. Bei einem „bagatellarischen“ Aufklärungsfehler
würde das Strafunrecht des § 223 StGB bei einem humanmedizinischen Heileingriff
lege artis ausgeschlossen, nicht aber das Strafunrecht des § 303 StGB bei einem tier-
ärztlichen Heileingriff lege artis. Das widerspräche der Wertung der §§ 223, 303
StGB: Die körperliche Integrität wäre weniger geschützt als das Eigentum am
Tier, obwohl das Gesetz die körperliche Integrität nach den Strafdrohungen der
§§ 223, 303 StGB stärker schützen will als das Eigentum.

2. Modifizierung der Einwilligungsvoraussetzungen


für humanmedizinische Heileingriffe?

Eine andere Alternative zur hypothetischen Einwilligung wird darin gesehen, für
humanmedizinische Heileingriffe die Einwilligungsvoraussetzungen zu modifizie-
ren.

a) Relevanz rechtsgutsbezogener Irrtümer


nur bei grober Aufklärungspflichtverletzung?

Zum Teil wird dafür plädiert, rechtsgutsbezogene Irrtümer bei humanmedizini-


schen Heileingriffen nur noch dann einwilligungshindernd wirken zu lassen, wenn
sie aus einer groben Aufklärungspflichtverletzung resultieren.24 Doch auch diese
Einschränkung ist systemwidrig. Sie passt nicht zu dem Grund, aus dem eine Einwil-
ligung die strafrechtliche Missbilligung des Erfolgs ausschließt: dem Fehlen eines
strafrechtlich schutzwürdigen Interesses an der Unversehrtheit des Rechtsguts.25
Denn ob ein strafrechtlich schutzwürdiges Interesse an der Unversehrtheit des
Rechtsguts besteht, hängt nicht vom Maß der Aufklärungspflichtverletzung ab.
22
Siehe BT-Drs. 17/10488, S. 23. Gegen eine Reduzierung der Aufklärungspflicht bei
medizinisch nicht indizierten Eingriffen auch BGH, NJW 2006, 2108 f., NJW 1991, 2349.
23
S. o. I.
24
Sternberg-Lieben, FS Beulke, 2015, S. 299 (311); im Rahmen der hypothetischen Ein-
willigung im Medizinstrafrecht auch Krüger, medstra 2017, 12 (18 f.). In diese Richtung auch
Edlbauer, Die hypothetische Einwilligung als arztstrafrechtliches Haftungskorrektiv, 2009,
S. 472 ff. („Nur wenn sich die mit der unzureichenden Unterrichtung einhergehende Miss-
achtung des Selbstbestimmungsrechts insgesamt als gravierend erweist, kann der Aufklä-
rungsmangel strafrechtlich ins Gewicht fallen und zur Strafbarkeit des Arztes führen“, S. 475).
25
Siehe dazu MüKo-StGB/Schlehofer, Vor § 32 Rn. 60 f., 103 m.w.N.
754 Horst Schlehofer

Einerseits kann es trotz eines groben Aufklärungsfehlers an einem schutzwürdi-


gen Interesse an der Unversehrtheit des Gutes fehlen, etwa wenn der Arzt den Pati-
enten grob pflichtwidrig nicht über ein einwilligungsrelevantes Risiko aufklärt, der
Patient aber aufgrund eigenen Wissens oder aus anderer Quelle über alle entschei-
dungsrelevanten Risiken informiert ist. Andererseits kann ein schutzwürdiges Inter-
esse des Patienten an seiner körperlichen Unversehrtheit auch bestehen, wenn die
Aufklärung nur schlicht pflichtwidrig unterbleibt. Das ergibt sich aus den
§§ 630d, e BGB. Indem sie den Arzt verpflichten, den Patienten vor dem Eingriff
im gebotenen Umfang aufzuklären, wollen sie ihn auch vor schlicht pflichtwidrigen
Aufklärungsfehlern schützen.
Allein das schlicht pflichtwidrige Unterlassen der gebotenen Aufklärung ist auch
kein Grund, wenigstens die spezifische Strafrechtswidrigkeit auszuschließen, das
Unrechtsquantum, das über das Verbotensein hinaus gegeben sein muss, damit die
Tat nach dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mit Strafe be-
droht werden darf. Für den Ausschluss des Handlungsdelikts des § 223 StGB ist das
Unterlassen der Aufklärung regelmäßig schon nicht der richtige Anknüpfungspunkt.
Maßgeblich ist das Gewicht des tatbestandlichen Handelns. Das ist im Fall des ärzt-
lichen Heileingriffs ohne die gebotene Aufklärung typischerweise der Eingriff und
nicht das Unterlassen der Aufklärung. Außerdem widerspricht es den gesetzlichen
Vorgaben, die Strafrechtswidrigkeit schon bei Fehlen einer groben Pflichtwidrigkeit
auszuschließen. Denn für die strafrechtliche Missbilligung ist eine grobe Pflichtwid-
rigkeit nur nötig, wo sie ausdrücklich vorausgesetzt wird.26
Ausgeschlossen sein kann die Strafrechtswidrigkeit zwar bei bagatellarischem
Risiko und einer dementsprechenden bagatellarischen Pflichtwidrigkeit. Aber
auch dafür kommt es bei § 223 StGB wieder auf das tatbestandliche Verhalten an,
das im Regelfall im ärztlichen Eingriff und nicht im Unterlassen der gebotenen Auf-
klärung liegt. Und der ärztliche Eingriff ist in der Regel nicht bagatellarisch.
Die Folge auch dieser systemwidrigen Einschränkung sind Wertungswidersprü-
che. Sie treten schon bei ärztlichen Heileingriffen auf: Derselbe Irrtum über ein
rechtsgutsbezogenes Risiko ist mal einwilligungshindernd und mal nicht – je nach-
dem, ob er auf einem groben Aufklärungsfehler beruht oder nicht. Für die strafrecht-
liche Schutzbedürftigkeit des Patienteninteresses an der körperlichen Unversehrtheit
macht das aber keinen Unterschied – weil sie – wie gesagt – nicht abhängig ist vom
Maß der Pflichtwidrigkeit. Hinzu kommen auch hier Wertungswidersprüche im Ver-
hältnis zu tierärztlichen Heileingriffen. Beispielsweise könnte ein leichter ärztlicher
Aufklärungsfehler, der beim Rechtsgutsinhaber zu einem rechtsgutsbezogenen Irr-
tum führt, eine Einwilligung ausschließen, wenn es um einen tierärztlichen Eingriff
bei seinem Hund geht, nicht aber, wenn es um einen Heileingriff beim Rechtsguts-
inhaber geht. Damit würde das Interesse des Rechtsgutsinhabers an seinem Eigentum
in weiterem Umfang geschützt als das an seiner körperlichen Integrität – obwohl
seine körperliche Integrität nach der sich aus den Strafdrohungen der §§ 223
26
S. o. I.
Alternativen zur hypothetischen Einwilligung im Arztstrafrecht? 755

Abs. 1, 303 Abs. 1 ergebenden gesetzlichen Wertung gewichtiger ist als das Eigen-
tum.

b) Irrelevanz rechtsgutsbezogener Irrtümer über die Risiken


des ärztlichen Eingriffs kraft nachträglicher Zustimmung?

Es findet sich schließlich eine Differenzierung innerhalb des Kreises der rechts-
gutsbezogenen Irrtümer danach, ob sich der Irrtum auf den Eingriff als solchen be-
zieht oder nur auf die Risiken, die mit ihm verbunden sind.27 Im ersten Fall soll es an
einer Einwilligung fehlen, im zweiten sei sie wirksam, wenn sich nachträglich ergibt,
dass der Patient auch ohne das Informationsdefizit eingewilligt hätte. Begründet wird
das teils damit, dass der Patient mit der nachträglichen Zustimmung zeige, dass das
rechtsgutsbezogene Informationsdefizit für seine Einwilligung nicht relevant gewe-
sen sei,28 teils damit, dass es bei einer Aufklärungspflichtverletzung am „Kausalzu-
sammenhang gerade des pflichtwidrigen Unterlassens … mit der … erteilten Einwil-
ligung“ fehle.29
Die Differenzierung zwischen der Einwilligung in den Eingriff und der Einwilli-
gung in rechtsgutsbezogene Risiken des Eingriffs sei auch notwendig, um „abwegi-
ge“ Ergebnisse zu vermeiden. Belegen soll das beispielhaft der Fall, dass ein Arzt
nach ordnungsgemäßem Ablauf des Beratungsverfahrens bei der Verschreibung
des oralen Abortivmittels Mifegyne die Schwangere pflichtwidrig nicht darüber auf-
klärt, dass die Einnahme möglicherweise auch mehrtägige Magen-Darm-Beschwer-
den verursacht. Hier sei es „einigermaßen abwegig, ihn wegen vollendeter Abtrei-
bung zu bestrafen, wenn die Schwangere nachträglich bekundet, auch diese Informa-
tion hätte sie ganz gewiss nicht von der Einnahme des Mittels zum Zweck des Ab-
bruchs abgehalten“.30
Auch diese Einschränkung der Einwilligungsvoraussetzungen wird explizit nur
formuliert für humanmedizinische Eingriffe. So eng verstanden führt auch sie zu
strafrechtsinternen Wertungswidersprüchen im Verhältnis zu anderen einwilligungs-
fähigen Taten, wie sich das auch hier am Beispiel des tierärztlichen Eingriffs zeigt:
Beim humanmedizinischen Eingriff würde die nachträgliche Zustimmung des Pati-
enten den rechtsgutsbezogenen Irrtum über die Risiken des Eingriffs irrelevant ma-
chen, beim tiermedizinischen Eingriff hingegen nicht. Einen legitimen Grund für
diese Ungleichbehandlung gibt es nicht. In beiden Fällen fehlt es an einer autonomen
Entscheidung für die Rechtsgutsbeeinträchtigung; wenn der Rechtsgutsträger das
Risiko nicht kennt, kann er sich auch nicht für dieses entscheiden. Und dieses Defizit
hat – wie die Strafdrohungen der §§ 223, 303 StGB zeigen – bei § 223 StGB auch
kein geringeres Gewicht als bei § 303 StGB.
27
NK-StGB/Merkel, § 218a Rn. 40 ff.; Zabel, GA 2015, 219 (229 ff.).
28
Zabel, GA 2015, 219 (233 ff.).
29
NK-StGB/Merkel, § 218a Rn. 41.
30
NK-StGB/Merkel, § 218a Rn. 41.
756 Horst Schlehofer

Aber selbst wenn man diese Einschränkung der Relevanz rechtsgutsbezogener


Irrtümer verallgemeinert, ist sie nicht systemkonform. Sie erzeugt eine Friktion zu
den zivilrechtlichen Vorgaben der §§ 630d Abs. 2; 630e Abs. 1; 630h Abs. 2 S. 2
BGB. Sie differenzieren nicht danach, ob die Aufklärung den Eingriff selbst oder
nur mit ihm verbundene Risiken betrifft. Nach § 630d Abs. 2 BGB ist die Einwilli-
gung nur wirksam, wenn der Patient vor der Einwilligung gem. § 630e Abs. 1 S. 2
BGB nicht nur über „Art, Umfang und Durchführung“ der medizinischen Maßnah-
me, sondern auch über deren „zu erwartende Folgen und Risiken“ aufgeklärt worden
ist.
Auch strafrechtsintern lässt sich die Differenzierung zwischen der Einwilligung
in den Eingriff als solchen und in die mit dem Eingriff verbundenen Risiken nicht
legitimieren. Sie führt zu Wertungswidersprüchen. Denn die rechtsgutsbezogenen
Folgen des Eingriffs ergeben sich zumindest auch aus Umständen des Eingriffs
selbst, etwa aus den körperlichen Eigenschaften des Patienten, den Eigenschaften
verabreichter Medikamente, der Keimbelastung beim Eingriff. So hängt im Mifegy-
ne-Fall31 das Risiko von Magen-Darm-Beschwerden von körperlichen Eigenschaften
der Schwangeren und von Eigenschaften des Abortivmittels ab, bei einer Knieope-
ration das Risiko eines Knochenödems davon, ob Hohlräume in dem Knochen sind,
in den eingegriffen wird, bei einer Injektion das Risiko eines anaphylaktischen
Schocks davon, ob der Patient Antikörper gegen Allergene im injizierten Präparat
gebildet hat, bei einer Operation das Risiko einer Wundinfektion davon, wie keim-
belastet der Eingriff ist. Verkennt der Rechtsgutsinhaber einen solchen Umstand, er-
liegt er damit auch einem Irrtum über den Eingriff selbst. Der Irrtum über diesen Um-
stand würde damit widersprüchlich bewertet, als Irrtum über den Eingriff selbst wäre
er einwilligungshindernd, als Irrtum über einen das Folgenrisiko begründenden Um-
stand wäre er nicht einwilligungshindernd, wenn der Rechtsgutsinhaber dem Eingriff
nachträglich zustimmt.
Systematisch verbietet es sich damit, den Irrtum über rechtsgutsbezogene Risiken
anders zu behandeln als den Irrtum über den Eingriff selbst. Damit ist nicht gesagt,
dass man beim Irrtum über rechtsgutsbezogene Risiken wie im Mifegyne-Fall als
„einigermaßen abwegig“32 empfundene Ergebnisse hinnehmen müsse. Denn die Ein-
willigung könnte allgemein – sowohl im Hinblick auf den Eingriff selbst wie auch im
Hinblick auf die mit ihm verbundenen Risiken – nur auf rechtsgutsbezogene Umstän-
de zu beziehen sein, die entscheidungsrelevant sind. Und dann würde der Irrtum im
Mifegyne-Fall eine Einwilligung nicht hindern, wenn das verkannte Risiko von
Magen-Darm-Beschwerden für die Schwangere nicht entscheidungsrelevant ist.

31
NK-StGB/Merkel, § 218a Rn. 41.
32
NK-StGB/Merkel, § 218a Rn. 41.
Alternativen zur hypothetischen Einwilligung im Arztstrafrecht? 757

3. Allgemeine Beschränkung der einwilligungsrelevanten Irrtümer


auf rechtsgutsbezogene Irrtümer über
entscheidungsrelevante Umstände

Dass von den rechtsgutsbezogenen Irrtümern nur die entscheidungsrelevanten


einwilligungshindernd wirken, legt für medizinische Maßnahmen i.S.d. § 630d
BGB auch § 630e Abs. 1 S. 1 BGB nahe. Er verlangt eine Aufklärung nur über
die „für die Einwilligung wesentlichen Umstände“. Da dazu nach § 630e Abs. 1
S. 2 BGB insbesondere gehören „Art, Umfang, Durchführung, zu erwartende Folgen
und Risiken der Maßnahme sowie ihre Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung und
Erfolgsaussichten im Hinblick auf die Diagnose oder die Therapie“ – also sämtlich
rechtsgutsbezogene Umstände –, könnte man zwar meinen, dass mit der Begrenzung
auf „wesentliche Umstände“ nur die nicht rechtsgutsbezogenen Umstände ausge-
grenzt werden sollen. Aber so hat der Gesetzgeber das nicht gemeint. Er wollte
den Behandelnden nicht zur Aufklärung über alle rechtsgutsrelevanten Umstände
verpflichten. Dem Patienten soll kein „medizinisches Detailwissen“ vermittelt, son-
dern nur „Schwere und Tragweite eines etwaigen Eingriffs“ so weit verdeutlicht wer-
den, „dass er eine ausreichende Entscheidungsgrundlage für die Ausübung seines
Selbstbestimmungsrechts erhält“.33 Da die von der Aufklärungspflicht ausgenomme-
nen medizinischen Details der Behandlung rechtsgutsbezogene Umstände sind, ver-
langt der Gesetzgeber für eine selbstbestimmte Entscheidung mithin nicht die Kennt-
nis aller rechtsgutsbezogenen Umstände. Er begnügt sich mit der Kenntnis derjeni-
gen rechtsgutsbezogenen Umstände, die eine „ausreichende Entscheidungsgrundla-
ge“ bieten.
§ 630e Abs. 1 BGB so zu verstehen gebietet auch das verfassungsrechtliche Über-
maßverbot. Würde der Gesetzgeber den Behandelnden zur Aufklärung über alle
rechtsgutsbezogenen Umstände verpflichten, würde er von ihm Unmögliches verlan-
gen. Denn der Behandelnde kann nur über die rechtsgutsbezogenen Umstände auf-
klären, die ihm bekannt sein können. Eine medizinische Behandlung kann aber Ge-
sundheitsrisiken bergen, die zur Zeit der Behandlung noch unerkennbar sind. So kann
ein Medikament bei einem Patienten Nebenwirkungen haben, mit denen nach dem
medizinischen Forschungsstand nicht zu rechnen war. Da § 630d Abs. 2 BGB für die
Wirksamkeit der Einwilligung nur die Aufklärung nach Maßgabe des § 630e BGB,
also nur die über entscheidungsrelevante rechtsgutsbezogene Umstände – und nicht
die über alle rechtsgutsrelevanten Umstände – voraussetzt, muss insoweit für die
Wirksamkeit der Einwilligung die Kenntnis der entscheidungsrelevanten rechtsguts-
bezogenen Umstände genügen.
Es gibt zudem einen systematischen Grund, diese Kenntnis für die Einwilligung
allgemein, auch außerhalb des Rahmens der §§ 630d, e BGB genügen zu lassen. Er
erschließt sich aus dem Geltungsgrund der Einwilligung, dem durch Art. 2 Abs. 1
GG verbürgten Selbstbestimmungsrecht. Dieses garantiert, dass der Rechtsgutsträ-

33
BT-Drs. 17/10488 S. 24.
758 Horst Schlehofer

ger in den Grenzen, in denen das Rechtsgut disponibel ist, selbstbestimmt entschei-
den darf, ob er sein Rechtsgutsobjekt einem Risiko aussetzt oder nicht. Dazu gehört,
dass er seine Entscheidung innerhalb der rechtlichen Grenzen nach den Kriterien
treffen darf, die für ihn maßgeblich sind. Für eine selbstbestimmte Entscheidung
ist danach zwar die Kenntnis der entscheidungsrelevanten rechtsgutsbezogenen Um-
stände nötig; sie bilden nach den Maßstäben des Rechtsgutsinhabers die Grundlage
für eine selbstbestimmte Entscheidung. An dieser Grundlage fehlt es, wenn der
Rechtsgutsinhaber einen für ihn entscheidungsrelevanten rechtsgutsbezogenen Um-
stand nicht kennt. Und das wirkt sich auf den Entscheidungsprozess – die Abwägung
der entscheidungsrelevanten rechtsgutsbezogenen Umstände – aus; in ihn geht der
verkannte entscheidungsrelevante Umstand nicht ein. Damit ist dann auch die auf
diesem defizitären Abwägungsprozess beruhende Einwilligung keine selbstbe-
stimmte.
Hingegen verlangt eine selbstbestimmte Entscheidung nicht auch die Kenntnis
der entscheidungsirrelevanten rechtsgutsbezogenen Umstände. Sie gehören per de-
finitionem nicht zu der Tatsachengrundlage, auf der der Rechtsgutsinhaber seine Ent-
scheidung trifft. Damit ist seine Entscheidungsbasis bei Unkenntnis eines entschei-
dungsirrelevanten Umstands die gleiche wie bei Kenntnis eines entscheidungsirrele-
vanten Umstands, die Entscheidung folglich in jenem Fall genauso selbstbestimmt
wie in diesem. Lässt beispielsweise E seinen Hund wegen eines lebensbedrohlichen
Tumors operieren und stellt er sich vor, dass der Tierarzt einen Schnitt von 5 cm ma-
chen wird, sind es aber tatsächlich 5,2 cm, so ist die Einwilligung in die Operation
trotzdem wirksam. Das Risiko eines um 2 mm längeren Schnitts gehört nicht zu den
entscheidungsrelevanten Risiken. E hätte sich auch bei Kenntnis dieses marginalen
Umstands für die Operation entschieden.

4. Die von der Einwilligung nicht umfassten entscheidungsirrelevanten


Risiken als „erlaubte“ Risiken

Dass die Einwilligung, um selbstbestimmt zu sein, entscheidungsirrelevante


rechtsgutsbezogene Risiken nicht abdecken muss, erklärt allein aber nicht, was
die Schaffung eines für die Einwilligung entscheidungsirrelevanten Risikos für
das Rechtsgut legitimiert. Die Einwilligung allein kann es nicht sein; verkennt der
Einwilligende das nicht entscheidungsrelevante Risiko, hat er in dessen Schaffung
nicht eingewilligt. So hat E zwar wirksam in die Operation eingewilligt, aber
nicht in den Schnitt, der über 5 cm hinausgeht – weil er sich ihn nicht vorgestellt
und damit in ihn auch nicht eingewilligt hat.
Das dem Rechtsgutsträger unbekannte entscheidungsirrelevante Risiko ist aber
bei einer im Übrigen wirksamen Einwilligung ein „erlaubtes“. Denn dieses Risiko
ist kein hinreichender Grund für eine strafrechtliche Missbilligung. Die Rechtsguts-
gefährdung allein genügt dafür nicht. Die Rechtsgutsobjekte werden nicht um ihrer
selbst willen geschützt, sondern weil ein Mensch ein rechtlich schutzwürdiges Inter-
Alternativen zur hypothetischen Einwilligung im Arztstrafrecht? 759

esse an der Unversehrtheit des Rechtsgutsobjekts hat. Das zeigt sich gerade bei der
Einwilligung: Sie schließt das Strafunrecht aus, weil mit ihr ein strafrechtlich schutz-
würdiges Interesse an der Unversehrtheit des Rechtsguts entfällt. Ein solches Inter-
esse wird durch die Schaffung eines rechtsgutsbezogenen Risikos, das nicht entschei-
dungsrelevant ist, aber nicht beeinträchtigt. Der Dispositionsbefugte würde es auch
hinnehmen, wenn er es kennen würde. Die Schaffung eines nicht entscheidungsre-
levanten rechtsgutsbezogenen Risikos beeinträchtigt – wie gesagt – auch nicht das
Interesse des Dispositionsbefugten an einer selbstbestimmten Entscheidung, weil
es nicht zu der Entscheidungsbasis gehört, die nach den Maßstäben des Rechtsguts-
trägers für eine selbstbestimmte Entscheidung nötig ist.
Dass das für die Einwilligung nicht entscheidungsrelevante rechtsgutsbezogene
Risiko „erlaubt“ ist, bedeutet allerdings nicht notwendig, dass die Tat insgesamt er-
laubt ist. Sie kann wegen eines anderen Risikos strafrechtlich missbilligt sein. So ist
es im Beispiel der Operation des Hundes, wenn dieser nicht nur im Eigentum des E,
sondern auch im Eigentum seiner Frau F steht und F von dem Eingriff nichts weiß.
Dann ist der Eingriff in das Miteigentum des E durch seine Einwilligung und ein „er-
laubtes“ Risiko gedeckt: durch seine Einwilligung, weil er alle entscheidungsrele-
vanten rechtsgutsbezogenen Umstände kannte, durch ein „erlaubtes“ Risiko, weil
das Risiko eines um 2 mm längeren Operationsschnitts für ihn nicht entscheidungs-
relevant war. Das schließt das Strafunrecht der Sachbeschädigung aber nur partiell
aus, nur soweit das Miteigentum des E betroffen ist. Der Eingriff in das Miteigentum
der F ist strafrechtlich missbilligt, weil er weder durch eine Einwilligung der F noch
durch ein „erlaubtes“ Risiko gedeckt ist.

5. Maßstäbe für die Entscheidungsrelevanz rechtsgutsbezogener Risiken

Welche Risiken einwilligungsrelevant sind, bestimmt sich grundsätzlich nach den


Maßstäben des Rechtsgutsträgers oder des sonst Dispositionsbefugten. Denn mit der
Einwilligung soll ja das Selbstbestimmungsrecht verwirklicht werden. Dann muss
der Dispositionsbefugte selbst entscheiden dürfen, welche rechtsgutsbezogenen Um-
stände für seine Entscheidung relevant sind. Hat der Dispositionsbefugte darüber
keine explizite Entscheidung getroffen, muss mit Hilfe von Indizien ermittelt wer-
den, was für ihn entscheidungsrelevant ist. Als ein solches Indiz hat die hypothetische
Einwilligung ihre Berechtigung. Erklärt der Dispositionsberechtigte, dass er in die
Rechtsgutsbeeinträchtigung auch eingewilligt hätte, wenn er ein ihm bei der Einwil-
ligung unbekanntes rechtsgutsbezogenes Risiko gekannt hätte, ist das ein Indiz dafür,
dass dieses Risiko für ihn nicht entscheidungsrelevant ist. Ein anderes Indiz kann das
Urteil eines „vernünftigen“ Rechtsgutsinhabers sein. Gibt es keine Anhaltspunkte
dafür, dass der Einwilligende andere Präferenzen hat als er, spricht das dafür, dass
auch er „vernünftig“ entscheiden würde.34

34
Entsprechend wird das bei der mutmaßlichen Einwilligung gesehen; dazu Schönke/
Schröder/Sternberg-Lieben, Vor §§ 32 ff. Rn. 57 m.w.N.
760 Horst Schlehofer

Für spezielle Fälle der Einwilligung ist die Entscheidungsrelevanz von Umstän-
den zudem gesetzlich vorgegeben. Beispiele sind die §§ 630e Abs. 1 BGB, 8 Abs. 1
Nr. 1b), Abs. 2 TPG, 1629, 1627 S. 1; 1626 Abs. 2 BGB. § 630e Abs. 1 BGB zählt zu
den „für die Einwilligung wesentlichen“ Umständen „insbesondere Art, Umfang,
Durchführung, zu erwartende Folgen und Risiken der Maßnahme sowie ihre Not-
wendigkeit, Dringlichkeit, Eignung und Erfolgsaussichten im Hinblick auf die Dia-
gnose oder die Therapie“. § 8 Abs. 2 TPG zählt zu den Umständen, denen der poten-
tielle Organspender „erkennbar eine Bedeutung für die Spende beimisst“ u. a. „den
Zweck und die Art des Eingriffs“ (§ 8 Abs. 2 Nr. 1 TPG), „Maßnahmen, die dem
Schutz des Spenders dienen, sowie den Umfang und mögliche, auch mittelbare Fol-
gen und Spätfolgen der beabsichtigten Organ- oder Gewebeentnahme für seine Ge-
sundheit“ (§ 8 Abs. 2 Nr. 3 TPG). Die §§ 1629, 1627 S. 1; 1626 Abs. 2 BGB ver-
pflichten die Eltern, die Vertretung des Kindes (§ 1629 BGB) zu dessen „Wohl …
auszuüben“ (§ 1627 S. 1 BGB) und dabei „die wachsende Fähigkeit und das wach-
sende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungsbewusstem Handeln“
zu „berücksichtigen“.

III. Fazit
Es gibt damit eine systemkonforme strafbarkeitseinschränkende Alternative zum
Konstrukt der „hypothetischen Einwilligung“: die Beschränkung der einwilligungs-
hindernden Irrtümer auf Irrtümer über entscheidungsrelevante rechtsgutsbezogene
Umstände und die Ergänzung des Strafunrechtsausschlusses bei Irrtümern über ent-
scheidungsirrelevante rechtsgutsbezogene Umstände durch ein „erlaubtes Risiko“.
Diese Lösung entspricht strafrechtlich genau dem, was der BGH mit der zivil-
rechtlichen Konstruktion der „hypothetischen Einwilligung“ und der Gesetzgeber
mit ihrer Adaption in § 630h Abs. 2 S. 2 BGB erreichen will: den Ausschluss der
Haftung des Arztes, wenn der Patient bei ordnungsgemäßer Aufklärung nicht „vor
einem echten Entscheidungskonflikt gestanden hätte“35. Denn das ist eben dann
der Fall, wenn das dem Patienten bei seiner Einwilligung unbekannte rechtsgutsbe-
zogene Risiko nicht entscheidungsrelevant ist. Weil ein Irrtum über nicht entschei-
dungsrelevante rechtsgutsbezogene Umstände eine wirksame Einwilligung nicht
hindert und das nicht entscheidungsrelevante Risiko „erlaubt“ ist, erübrigt sich
damit die Konstruktion einer „hypothetischen Einwilligung“.

35
BGHZ 90, 103 (112); 172, 1 Rn. 34; BT-Drs. 10488, S. 29. Anknüpfend an die Recht-
sprechung schlägt auch Roxin, medstra 2017, 129 (135 ff.) den „Entscheidungskonflikt“ als
maßgebliches Kriterium vor, allerdings ohne es systematisch in die allgemeinen Einwilli-
gungsvoraussetzungen einzubinden.
Fiktion vs. Realität
Warum nicht alle Fälle der „hypothetischen Einwilligung“
gleich zu behandeln sind

Von Susanne Beck

Einleitung
Klare und scharfsinnige Analysen solcher Konzepte wie „Willensfreiheit“ auf Tä-
terseite oder „Autonomie“ auf Opferseite finden sich immer wieder im Werk von
Reinhard Merkel.1 Die Analyse der Bedingungen und Prämissen einer freien bzw.
freiheitlichen Entscheidung, sei es für die Tat, sei es für die Zustimmung zur Tat,
sind zweifellos grundlegend für das Verständnis unseres Strafrechts und in Zeiten
von Neurotechnologie2, Enhancement3, in Zeiten von Diskussionen über die zuläs-
sige Reichweite von Paternalismus im Bereich der Sterbehilfe4, aber auch im Bereich
der Forschung5 am Patienten von besonderer aktueller Bedeutung. All diese Themen
und viele mehr, zu denen auch Reinhard Merkel bereits zahlreiche wichtige Überle-
gungen veröffentlicht hat, verdienen weiterhin eine vertiefte Auseinandersetzung,
was die Auswahl einer Fragestellung, die hoffentlich den Empfänger dieser Fest-
schrift ebenso wie ihre Leser interessiert und zur wissenschaftlichen Debatte
einen angemessenen Beitrag leisten kann, nicht gerade erleichtert.
Im Folgenden möchte ich mich auf ein Thema fokussieren, das nicht nur mich seit
einer Weile immer wieder beschäftigt:6 Die hypothetische Einwilligung. Diese Ka-

1
Reinhard Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2. Auflage, Baden-Baden 2014.
2
Reinhard Merkel, Neuartige Eingriffe ins Gehirn. Verbesserung der mentalen condicio
humana und strafrechtliche Grenzen, in: ZStW 121 (2009), S. 919 ff.; Merkel/Bublitz, Crimes
Against Minds: On Mental Manipulations, Harms and a Human Right to Mental Self-Deter-
mination, in: Criminal Law and Philosophy 8:1 (2014), S. 52 ff.
3
Reinhard Merkel, Treatment – Prevention – Enhancement: Normative Foundations and
Limits, in: Reinhard Merkel et al., Intervening in the Brain. Changing Psyche and Society,
Berlin/Heidelberg/New York 2007, Chap. 6, S. 289 ff.
4
Hegselmann/Merkel, Zur Debatte über Euthanasie, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1992,
S. 82 ff.
5
Boos/Merkel/Raspe/Schöne-Seifert, Nutzen und Schaden aus klinischer Forschung am
Menschen, Köln 2009.
6
Susanne Beck, Was ist das Hypothetische an der hypothetischen Einwilligung?, in:
Windhöfel u. a. (Hrsg.), GS Tröndle, 2019.
762 Susanne Beck

tegorie wird nicht nur derzeit besonders intensiv – auch auf rechtspolitischer Ebene –
diskutiert7, sondern erlaubt zudem vertiefte Bezüge zu Grundfragen wie die nach der
Natur der Einwilligung, der Reichweite der Autonomie des potentiellen Opfers, der
Verwerflichkeit ärztlichen Handelns8 und nach dem Umgang mit Fiktionen bzw. Hy-
pothesen im Strafrecht. Zudem hoffe ich, zur Debatte eine spezifische, bewusste Ka-
tegorisierung beitragen zu können und so gerade im Sinne Merkels analytisch, die
bestehenden Ansichten und Argumentationen hinterfragend und einen neuen Blick-
winkel eröffnend, die Diskussion um diese Rechtsfigur zu bereichern.
Zu diesem Zweck wird im Folgenden zunächst in gebotener Kürze die bisherige
strafrechtliche Debatte nachgezeichnet. Anschließend möchte ich eine neue Eintei-
lung unterschiedlicher Fallkonstellationen in mehrere Kategorien vorschlagen –
m. E. sind nicht alle Fälle der vermeintlichen hypothetischen Einwilligung strafrecht-
lich gleich zu behandeln, sondern vielmehr zwischen verschiedenen Konstellationen
zu differenzieren, von denen nur einige tatsächlich als „hypothetisch“ einzuordnen
sind. Dergestalt werden hoffentlich einige Unklarheiten der aktuellen Diskussion be-
seitigt, die sich m. E. nicht zuletzt damit erklären lassen, dass nicht alle Prämissen
bezüglich der Einwilligung expliziert und eigentlich zu unterscheidende Fälle zu-
sammen diskutiert werden. Die folgenden Überlegungen werden, wie in den meisten
anderen Beiträgen, im medizinischen Kontext angesiedelt, ist das doch der Bereich,
in dem die hypothetische Einwilligung regelmäßig praktische Bedeutung gewinnt.

7
Vgl. etwa Andreas Albrecht, Die hypothetische Einwilligung im Strafrecht, Berlin 2010;
Walter Gropp, Hypothetische Einwilligung im Strafrecht?, in: FS-Schroeder, 2006, , S. 197 ff.;
Nike Hengstenberg, Die hypothetische Einwilligung im Strafrecht, Berlin/Heidelberg 2013;
Tobias Schwartz, Die hypothetische Einwilligung im Strafrecht, Die hypothetische Einwilli-
gung im Strafrecht, Frankfurt am Main 2009; Sabine Swoboda, Die hypothetische Einwilli-
gung – Prototyp einer neuen Zurechnungslehre im Bereich der Rechtfertigung?, in: ZIS 2013,
S. 18 ff.; Brigitte Tag, Richterliche Rechtsfortbildung im Allgemeinen Teil am Beispiel der
hypothetischen Einwilligung, in: ZStW 127 (2015), S. 523 ff.; Brian Valerius, Die hypothe-
tische Einwilligung in den ärztlichen Heileingriff, in: HRRS 2014, S. 22 ff.; Benno Zabel, Die
Einwilligung als Bezugspunkt wechselseitiger Risikoverantwortung, in: GA 2015, S. 219 ff.
jeweils m.w.N. Derzeit werden entsprechende Debatten auch im Rahmen des KrimK geführt
(www.krimialpolitischer-kreis.de). Und natürlich hat sich auch Reinhard Merkel zu der Frage
bereits geäußert, in: Urs Kindhäuser, Ulfrid Neumann, Hans-Ullrich Paeffgen, StGB, 5. Auf-
lage, Baden-Baden 2017, § 218a Rn. 39.
8
Zur Verwerflichkeit des medizinischen Eingriffs vgl. die Debatte um die Tatbestands-
mäßigkeit; zustimmend: BGH NStZ 2004, S. 442; BGH NJW 2011, S. 1088 ff.; BGH NJW
2013, S. 1688 f.; Albin Eser, in: Adolf Schönke/Horst Schröder, StGB, 29. Auflage, Mün-
chen 2014, § 223 Rn. 47a f. mit einem Überblick zur Rechtsprechung; Knauer/Brose, in:
Erwin Deutsch/Andreas Spickhoff, Medizinrecht, 4. Auflage, Berlin/Heidelberg 2014, § 223
Rn. 16 ff.; Bernhard Hardtung, in: Münchener Kommentar StGB, Band 4, 3. Auflage, Mün-
chen 2017, § 223 Rn. 45 ff.; Paeffgen/Zabel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Fn. 8), § 228
Rn. 56; Rudolf Rengier, Strafrecht BT II, 19. Auflage, München 2018, § 13 Rn. 15 ff.; Rolf
Schmidt, Strafrecht AT, 17. Auflage, Grasberg bei Bremen 2017, Rn. 453 ff.; Christoph
Sowada, Die hypothetische Einwilligung im Strafrecht, in: NStZ 2012, S. 1, 3 f., a.A. etwa:
Kühl, in: Karl Lackner, Kristian Kühl, StGB, 28. Auflage, München 2014, § 223 Rn. 8.
Fiktion vs. Realität 763

I. Analyse der Debatte zur hypothetischen Einwilligung


Geht man von dem Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit ärztlichen Handelns aus,
handelt der Arzt jedenfalls dann gerechtfertigt, wenn der Patient nach umfassender
Aufklärung wirksam in die Operation eingewilligt hat9 bzw. wenn der Patient nicht
befragt werden konnte und nach seinem vermuteten Willen entschieden wurde (mut-
maßliche Einwilligung)10.
Umstritten ist bis heute die Konstellation, in der die Einwilligung zwar – etwa
wegen eines Aufklärungsfehlers – unwirksam war, der Patient jedoch nach der Be-
handlung (etwa nach der Operation) verlautbart, dass er auch bei richtiger Aufklä-
rung sicher eingewilligt hätte.11
So gibt es gewichtige Stimmen, etwa den BGH12, die im Ergebnis zu Straflosigkeit
des Arztes gelangen. Die Begründungswege dahin sind unterschiedlich und jeden-
falls nicht durchwegs von dogmatischer Konsistenz geprägt. Andere lehnen die
Übertragung der ursprünglich aus dem Zivilrecht stammenden Figur in das Strafrecht
dagegen umfassend ab.13
Betrachten wir zunächst in groben Zügen die Unterschiede zu anerkannten Figu-
ren. Anders als bei der klassischen Einwilligung hat der Verletzte in den uns inter-
essierenden Konstellationen nie eine umfassend wirksame Zustimmung erklärt. An-
ders als bei der mutmaßlichen Einwilligung wird seine Zustimmung aber auch nicht
deshalb vermutet, weil er sich – etwa als Bewusstloser – nicht äußern kann, die Be-
handlung aber in seinem Interesse wäre. Der Patient hätte gefragt oder korrekt auf-
geklärt werden können, dies ist aber unterblieben.
Zudem basiert die hypothetische Einwilligung im Gegensatz zu tatsächlich erklär-
ter oder mutmaßlicher Einwilligung auf einer ex post Betrachtung: Eine uneinge-
schränkte Strafbarkeit des Handelnden erscheint problematisch, wenn der Beein-
trächtigte im Nachhinein erklärt, er hätte auch bei zutreffender Aufklärung eingewil-
ligt. Insbesondere wenn die ursprüngliche Einwilligung etwa auf eine Aufklärung hin
erfolgte, die in einem nur nebensächlichen Aspekt fahrlässig fehlerhaft erfolgte, wird
von manchen Stimmen eine Strafe wegen vorsätzlicher Körperverletzung als wenig
überzeugend angesehen. Das basiert nicht zuletzt darauf, dass die Anforderungen an
die Aufklärung durch den Arzt in den letzten Jahren gewachsen sind; nach Ansicht
9
Schmidt (Fn. 8), Rn. 458; Jürgen Wolters, in: SK-StGB, Band IV, 9. Auflage, Mün-
chen 2017, § 223 Rn. 46.
10
Vgl. zu dieser etwa Wolfgang Mitsch, Die mutmaßliche Einwilligung, in: ZJS 2012,
S. 38 ff.
11
Vgl. zu der Debatte im Überblick etwa Wolters (Fn. 9), § 223 Rn. 50 ff.
12
Siehe unter anderem: BGH NStZ 2004, S. 442; BGH NJW 2011, S. 1088 ff.; BGH NJW
2013, S. 1688 f.
13
Ingeborg Puppe, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Arztes bei mangelnder
Aufklärung über eine Behandlungsalternative, in: GA 2003, S. 764, 768 ff.; Sternberg-Lieben,
in: Schönke/Schröder (Fn. 8), § 223 Rn. 40 h; Hardtung (Fn. 8), § 223 Rn. 119; Thomas Fi-
scher, Strafgesetzbuch, 66. Auflage, München 2019, § 223 Rn. 34.
764 Susanne Beck

einiger vielleicht zu stark.14 So spricht einiges dafür, eine zu weit reichende straf-
rechtliche Verantwortlichkeit für medizinisches Handeln einzuschränken.15
Neben der Frage, ob eine hypothetische Einwilligung die strafrechtliche Verant-
wortlichkeit überhaupt ausschließt oder zumindest verringert, stellt sich zudem die
Frage, wie dies strafrechtsdogmatisch zu verorten wäre.16 In der aktuellen strafrecht-
lichen Debatte zeigt sich, dass erhebliche Uneinigkeit über die Relevanz einer nach-
träglichen Erklärung des Opfers besteht. Jedenfalls ist die nachträgliche Erklärung
nicht ohne Weiteres mit der vorherigen Zustimmung oder der Ersetzung dieser Zu-
stimmung im Sinne der mutmaßlichen Einwilligung gleichzusetzen17. Vielmehr ist es
in unserem Fall so, dass durch den Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ohne
vorherige oder mutmaßliche Zustimmung erst einmal die Freiheitssphäre des Opfers
beeinträchtigt wird. Zugleich erscheint die Sanktionierung trotz der nachträglichen
Zustimmung eben mit Blick auf das Unrecht der Tat – oder besser: das vermeintlich
fehlende Unrecht – unangemessen. Dies zeigt bereits, dass die Antworten auf die Fra-
gen danach, ob und wie man die hypothetische Einwilligung strafrechtlich anerken-
nen sollte, damit zusammenhängen, wie man die Verletzungshandlung bewertet, wie
man die Verantwortungsveränderung durch eine Einwilligung generell begründet
und wie man die Dispositionsbefugnis des Rechtsgutsinhabers konkret deutet.
Diese Aspekte werden wir im Folgenden untersuchen. Doch zunächst sei die aktuelle
rechtliche Debatte in groben Zügen nachgezeichnet.

1. Die Debatte zur hypothetischen Einwilligung

Die Figur der hypothetischen Einwilligung wurde im Zivilrecht entwickelt. In die-


sem Rechtsgebiet geht es primär um einen angemessenen Ausgleich der betroffenen
Interessen, insbesondere finanzieller Art. Der Ausgleich muss dabei nicht zwingend
an einen bestimmten, in der Vergangenheit liegenden Zeitraum anknüpfen, sondern
kann den Wandel des Verhältnisses zwischen den Parteien im Laufe der Zeit berück-
sichtigen. Das gilt für Arbeits- oder Mietverhältnisse genauso wie für das Arzt-Pa-
tient-Verhältnis. Insofern kann eben auch eine Änderung mit Blick auf die Zustim-
mung von Bedeutung sein. Für das Zivilrecht ist also gerade nicht vorrangig entschei-
dend, wie die Handlung gerade zum Zeitpunkt ihrer Durchführung zu bewerten war;
der Interessenkonflikt ist vielmehr für die Zukunft zu lösen.

14
BGH NStZ 1996, S. 34 (Surgibone-Dübel-Fall), mit Anm. von Klaus Ulsenheimer,
Verletzung der ärztlichen Aufklärungspflicht, in: NStZ 1996, S. 132, 132 f.
15
Kristian Kühl, Strafrecht AT, 8. Auflage, München 2017, § 9 Rn. 47a; Thomas Rönnau,
Grundwissen-Strafrecht: Hypothetische Einwilligung, JuS 2014, S. 882, 882 f.; Wessels/
Beulke/Satzger, Strafrecht AT, 47. Auflage, Heidelberg 2017, Rn. 580.
16
Gropp (Fn. 7), FS-Schroeder, S. 201 f.; Wolfgang Mitsch, Die hypothetische Einwilli-
gung im Arztstrafrecht, in: JZ 2005, S. 279, 281.
17
Zur Vergleichbarkeit mit der mutmaßlichen Einwilligung vgl. etwa Scarlett Jansen, Die
hypothetische Einwilligung im Strafrecht – Notwendiges Korrektiv oder systemwidriges In-
stitut?, in: ZJS 2011, S. 482 ff.
Fiktion vs. Realität 765

Zudem ist für die Frage der Durchsetzbarkeit nicht zuletzt die Beweisbarkeit ent-
sprechender Ansprüche relevant, so dass auch die Beweislastverteilung in diesem
Rechtsgebiet eine wichtige Rolle spielt. Hierfür ist in § 630 h Abs. 2 S. 2 BGB
nun festgelegt, dass bezüglich der hypothetischen Einwilligung eine Beweislastum-
kehr zu Gunsten des Arztes anzunehmen ist.
Sowohl der Blick in die Zukunft als auch eine Beweislastumkehr können aber aus
strafrechtlicher Perspektive selbstverständlich nicht von Bedeutung sein. Deshalb ist
für unsere Überlegungen die Betrachtung der strafrechtlichen Debatte fruchtbarer, da
sich dieses Rechtsgebiet der sozialethischen Betrachtung eines bestimmten, vergan-
genen Täterverhaltens widmet.
Die Rechtsprechung scheint diese Figur grundsätzlich anzuerkennen: Bereits
1990 ging der BGH in einem entsprechenden Fall fahrlässiger Aufklärungsverlet-
zung und nachträglicher Zustimmung davon aus, der Arzt sei freizusprechen. Die
Vorinstanz habe zu Recht vertreten, dass „die Pflichtwidrigkeit für die Körperverlet-
zung nicht ursächlich gewesen sei“18. Dieser Linie ist der BGH treu geblieben; eine
hypothetische Einwilligung ist nach der Rspr. u. U. sogar denkbar, wenn der Patient
vor Abgabe der ursprünglichen, unwirksamen Einwilligung vorsätzlich getäuscht
wurde.19
Die Dispositionsbefugnis wird hiernach – und letztlich nach allen Ansichten, die
die hypothetische Einwilligung als Grundlage für Straflosigkeit ansehen – nicht
durch Bezugnahme auf die tatsächliche Disposition durch das Opfer geschützt. Viel-
mehr wird jede Handlung, die dem Opferwillen oder auch nur einem ex post fingier-
ten Opferwillen entspricht, als Realisierung seiner Selbstbestimmung angesehen.
Die Verortung in der Straftatsystematik scheint diesem Ergebnis nachzufolgen20 –
die Rede ist vom Ausschluss der Zurechnung, von rechtmäßigem Alternativverhalten
oder vom Entfallen der Rechtswidrigkeit. Grundsätzlich ist diese ergebnisorientierte
Argumentation nachvollziehbar, zugleich ist diese Verortung doch mehr als eine Ein-
passung in ein Prüfungsschema: Mit ihr werden Aussagen zum Gehalt, zur Begrün-
dung und zu den Konsequenzen der jeweiligen Rechtsfigur getroffen.21 Um uns dies-
bezüglich weiter voran zu tasten, sei unser Blick nun auf die Debatte in der Literatur
gerichtet. Hier wird nicht nur darüber diskutiert, ob die hypothetische Einwilligung
überhaupt strafrechtlich relevant ist, sondern gerade auch über die systematische Ver-
ortung:22
18
Zabel (Fn. 7), GA 2015, S. 220; vgl. krit. hierzu auch Puppe (Fn. 13), GA 2003, S. 770.
19
BGH NStZ-RR 2004, S. 16 f., wobei hier an die Vorinstanz zurückverwiesen wurde, LG
Ravensburg.
20
Vgl. hierzu die Darstellung bei Zabel (Fn. 7), GA 2015, S. 224 ff. m.w.N.
21
Dazu ähnlich auch Gunnar Duttge, Die hypothetische Einwilligung als Strafaus-
schließungsgrund: wegweisende Innovation oder Irrweg?, in: FS-Schroeder, 2006, S. 179,
185; Hengstenberg (Fn. 7), S. 321.
22
Albrecht (Fn. 7); Gropp (Fn. 7), FS-Schroeder, S. 197 ff.; Hengstenberg (Fn. 7);
Schwartz (Fn. 7); Swoboda (Fn. 7), ZIS 2013, S. 18 ff.; Tag (Fn. 7), ZStW 127, S. 523 ff.;
Valerius (Fn. 7), HRRS 2014, S. 22 ff.; Zabel, GA 2015, S. 219 ff. jeweils m.w.N.
766 Susanne Beck

Teilweise wird die hypothetische Einwilligung auf der Ebene des objektiven Tat-
bestands verortet, i. d. R. entweder im Rahmen der Kausalität23 oder der objektiven
Zurechnung24. Dies gründet sich letztlich darauf, dass der Gestaltung der eigenen
Freiheitssphäre durch das Opfer große Bedeutung zugeschrieben wird. Die nachträg-
liche Zustimmung des Opfers lässt nach dieser Ansicht nämlich bereits den Zusam-
menhang zwischen dem Risiko der unzureichenden oder gar fehlenden Einwilligung
und dem tatbestandlichen Erfolg entfallen.
Nach anderer Ansicht handelt es sich bei der hypothetischen Einwilligung um
einen Rechtfertigungsgrund,25 d. h. dass sie tatbestandliches Unrecht neutralisiert.
Hiernach spielt es letztlich keine zentrale Rolle, ob diese Neutralisierung ex ante
oder ex post (bzw. als Fiktion des Opferwillens bei Kenntnis aller Umstände zum frü-
heren Zeitpunkt) stattfindet. Teilweise wird gerade diese Fiktion mit der mutmaßli-
chen Einwilligung gleichgesetzt.26 Auch bei dieser sei der tatsächliche Wille des Op-
fers letztlich nicht bekannt und wird daher fingiert.
Nicht auf einen spezifischen Rechtfertigungsgrund, sondern generell auf die
Rechtswidrigkeitsebene blickt die Ansicht, nach der es bei einer hypothetischen Ein-
willigung an der Zurechnung – letztlich dann im Rahmen der Einwilligung – fehlt.
Diese Stimmen fordern zunächst einmal grundsätzlich auch für Rechtfertigungs-
gründe einen Zusammenhang zwischen gesetztem Risiko und Erfolg.27 Ein solcher
Zusammenhang läge aber gerade nicht vor, wenn das Geschehen sich nicht vom tat-
sächlichen Geschehen unterschieden hätte, wenn das Opfer informiert und gefragt
worden wäre. Die Argumentation ähnelt derjenigen bei der Figur des rechtmäßigen
Alternativverhaltens. Den Erfolg setzt diese Ansicht umfassend mit dem Eingriff in
das von der Strafnorm geschützte Rechtsgut gleich. Ob möglicherweise nicht auch
die fehlende bzw. fehlerhafte Einwilligung, also die mangelhafte tatsächliche Dispo-
sition, einen eigenständigen Erfolg begründet und insofern der Zusammenhang
durchaus weiterhin besteht, wird von dieser Ansicht nicht vertieft diskutiert.
Schließlich gibt es einige Stimmen, die die nachträgliche Zustimmung des Opfers
als Strafausschließungs- oder Strafaufhebungsgrund betrachten bzw. auf Ebene der
Strafzumessung als Milderungsgrund angesehen. Diesen Stimmen gemeinsam ist,
dass sie das Verhalten ohne vorherige bzw. mutmaßliche Einwilligung unabhängig
von der späteren Zustimmung zunächst einmal als Unrecht ansehen, das lediglich
23
Ulsenheimer (Fn. 14), NStZ 1996, S. 133; Eser/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder
(Fn. 8), § 223 Rn. 40 g; siehe zur Darstellung auch Hengstenberg (Fn. 7), S. 160 f.
24
Lothar Kuhlen, Objektive Zurechnung bei Rechtfertigungsgründen, in: FS-Roxin, 2001,
S. 331, 332 f.; siehe zur Darstellung Philipp Böcker, Die „hypothetische Einwilligung“ in
Zivil- und Strafrecht, in: JZ 2005, S. 925, 930.
25
BGH NJW 1962, S. 683; BGH NStZ 2012, S. 205; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 15),
Rn. 584; siehe zur Darstellung Hengstenberg (Fn. 7), S. 192 f.
26
Vgl. hierzu das Urteil des LG Ravensburg vom 18. 02. 2003 (Az.: 1 KLs 11 Js 21460/00);
Mitsch (Fn. 16), JZ 2005, S. 280; dazu auch Albrecht (Fn. 7), S. 252 ff.; Hengstenberg (Fn. 7),
S. 192 ff.
27
Kuhlen (Fn. 24), FS-Roxin, S. 337.
Fiktion vs. Realität 767

im Nachhinein aufgehoben bzw. gemindert wird bzw. das durch die nachträgliche
Genehmigung an Strafwürdigkeit verliert.28

2. Das Problem des „in dubio pro reo“-Grundsatzes

Die Problematik der hypothetischen Einwilligung verschärft sich zusätzlich,


wenn man den Grundsatz „in dubio pro reo“ einbezieht. Der BGH betont insofern,
dem Täter sei positiv nachzuweisen, dass der Verletzte bei ordnungsgemäßer Aufklä-
rung nicht eingewilligt hätte.29 Diese Anwendung des Zweifelgrundsatzes bei der hy-
pothetischen Einwilligung hat weitreichende Folgen: In vielen Fällen wird es fast un-
möglich sein, nachzuweisen, dass das Opfer nicht eingewilligt hätte; das gilt insbe-
sondere dann, wenn das Opfer selbst nicht mehr gefragt werden kann, etwa weil es
vorher verstorben ist. Doch selbst wenn das Opfer noch befragt werden kann und es
selbst verneint, dass es eingewilligt hätte, könnten in einigen Fällen Zweifel bestehen
bleiben: Kann das Opfer zu einem späteren Zeitpunkt wirklich sicher wissen, wie es
sich in der damaligen Situation auf Nachfrage entschieden hätte?
Das Problem bei der Anwendung des „in dubio pro reo“-Grundsatzes ist hier ein
grundlegendes: Eine Fiktion – und nichts anderes ist die hypothetische Einwilligung
– kann weder positiv nachgewiesen noch falsifiziert, sondern immer nur mehr oder
weniger plausibel vermutet werden. Letztlich ließen sich die Zweifel somit fast nie
völlig ausräumen und immer dann, wenn auch nur ein vager Anhaltspunkt für eine
hypothetische Einwilligung bestünde, müsste die Strafbarkeit auf dieser Basis ver-
neint werden.

3. Fiktionen im Strafrecht

An dieser Stelle haben wir also eine der Schwierigkeiten verdeutlicht, die der dog-
matischen Debatte zugrunde liegen: Mit der hypothetischen Einwilligung hält eine
Fiktion im Strafrecht Einzug. Denn das Opfer hat sich mit Blick auf die Rechtsguts-
verletzung eben gerade keinen Willen gebildet, es hat vor der Tat gerade nicht dar-
über disponiert, nicht seine Freiheit bezüglich des Guts ausgeübt und nicht auf seine
Interessen verzichtet.30 Die Bewertung von Unrecht mittels Fiktionen ist dem Straf-
recht jedoch unbekannt und gestaltet sich schwierig.
Dagegen könnte man einwenden, auch die grundsätzlich anerkannte Figur der
mutmaßlichen Einwilligung basiere letztlich auf der Fiktion des Opferwillens. In
den von dieser Rechtsfigur erfassten Konstellationen handelt der Verletzende auf
28
Böcker (Fn. 24), JZ 2005, S. 929; Mitsch (Fn. 16), JZ 2005, S. 279 f.
29
BGH NStZ 1996, S. 35; NStZ-RR 2004, S. 16 f. m. Anm. Lothar Kuhlen, Ausschluss der
objektiven Erfolgszurechnung bei hypothetischer Einwilligung des Betroffenen, in: JR 2004,
S. 227, 227; Thomas Rönnau, Anm. zu BGH, Beschluss v. 15. 10. 2003 – 1 StR 300/03, JZ
2004, S. 801, 801 f.
30
Rönnau (Fn. 15), JuS 2014, S. 883.
768 Susanne Beck

Basis des aus Indizien ermittelten Willens des Verletzten, weil er keine Möglichkeit
hat, diesen zu befragen. Dieser Einwand basiert zunächst auf der Annahme, dass die
mutmaßliche Einwilligung überhaupt anerkennenswert ist – dies wird jedoch durch-
aus gelegentlich bestritten; so wird etwa bezweifelt, ob der vermutete Wille des Op-
fers überhaupt in derselben Weise seine Selbstbestimmung verwirklicht wie der tat-
sächlich erklärte.31 Noch zentraler ist aber, dass zwischen der mutmaßlichen Einwil-
ligung und der hypothetischen Einwilligung durchaus ein Unterschied besteht: Die
mutmaßliche Einwilligung basiert letztlich (in den meisten klassischen Konstellatio-
nen) auf einem „internen“ Interessenkonflikt. Da das Opfer nicht rechtzeitig befragt
werden kann, droht eine Verletzung eines seiner eigenen Rechtsgüter (körperliche
Unversehrtheit, Leben).32 Das kann die Relevanz der Dispositionsbefugnis über
das Rechtsgut, in das eingegriffen werden soll, schmälern. Deshalb ist es ausnahms-
weise zulässig, dass ihm die Entscheidung über das Rechtsgut vom Handelnden ab-
genommen wird, und auch das nur, wenn diesem kein entgegenstehender Wille des
Opfers bekannt ist. Dass die mutmaßliche Einwilligung als Rechtfertigung im Straf-
recht weithin akzeptiert ist, liegt letztlich daran, dass der Wille in diesem Fall eben
gerade nicht ex post fingiert, sondern ex ante vermutet wird und die Bedeutung des
gefährdeten Rechtsguts die der Dispositionsbefugnis übersteigt.
Bei der hypothetischen Einwilligung fehlt es an einer solchen Vermutung ex ante
sowie einem vergleichbaren internen Konflikt. Es gibt im Nachhinein keine Gefähr-
dung für ein Rechtsgut des Opfers mehr und es gab zum Zeitpunkt des Handelns kei-
nen adäquaten Grund, in seine Dispositionsbefugnis einzugreifen. Der Wille des Op-
fers wird vielmehr – letztlich ausschließlich zum Wohle desjenigen, der in das
Rechtsgut eingegriffen hat – rückwirkend fingiert und eine derartige, in die Vergan-
genheit wirkende Fiktion ist im Strafrecht nicht ohne weiteres abbildbar. Das Straf-
recht bewertet die Tathandlung mit Blick auf den Moment ihrer Ausführung und die
tatsächlich existierenden Situationen, Kenntnisse und Konflikte – und basiert gerade
nicht auf Fiktionen.

4. Zwischenfazit

Die bisherigen Überlegungen scheinen nicht für eine Anerkennung der hypothe-
tischen Einwilligung zu sprechen – die Vergleichbarkeit mit bestehenden Konzepten
ist gering, eine Fiktion stellt im Strafrecht einen Fremdkörper dar und der „in dubio
pro reo“-Grundsatz führt bei dieser Rechtsfigur zu erheblichen Schwierigkeiten. Aus
diesem Grund scheint es erforderlich, eine andere Herangehensweise zu wählen und
31
Mitsch (Fn. 10), ZJS 2012, S. 43; Gerfried Fischer, Die mutmaßliche Einwilligung bei
ärztlichen Eingriffen, in: FS-Deutsch, 1999, S. 545, 548 f.
32
Das gilt nicht für die Konstellationen des vermuteten mangelnden Interesses – m. E.
sollten diese im Rahmen der mutmaßlichen Einwilligung auch getrennt von den Konstella-
tionen diskutiert werden, in denen der Handelnde gerade Interessen bzw. Rechtsgüter des
Opfers schützen möchte. Dies ist jedoch an dieser Stelle nicht möglich, da der Fokus des
vorliegenden Beitrags auf den Konstellationen der hypothetischen Einwilligung liegen soll.
Fiktion vs. Realität 769

die Fallkonstellationen, in denen die hypothetische Einwilligung diskutiert wird, ge-


nauer zu betrachten.

II. Unterscheidung verschiedener Fallkonstellationen


Den folgenden Überlegungen liegt die These zugrunde, dass nicht alle Konstel-
lationen, in denen bisher die hypothetische Einwilligung diskutiert wird, gleich zu
behandeln sind. Stattdessen sind Fallgruppen zu bilden und getrennt voneinander
zu analysieren. Das dient nicht nur der Verdeutlichung der Problematik und deren
Zusammenhang zu Grundfragen der Einwilligung, sondern auch ihrer Lösung, da
diese, wie wir sehen werden, bei jeder der Konstellationen anders ausfällt. Wie
wir sehen werden, basieren die Lösungen letztlich darauf, inwieweit die hinter der
Einwilligung stehenden Prämissen auch in der jeweiligen Konstellation zu bejahen
sind. Als solche möglichen Prämissen kommen m. E. in Betracht:
(1) Die Einwilligung stellt eine aktive Ausübung des Selbstbestimmungsrechts bzw.
eine gemeinsame Gestaltung des jeweiligen Rechtsguts durch Inhaber und Täter
dar.
(2) Die Einwilligung ist Ausdruck mangelnden Interesses bzw. Verzichts auf das
Rechtsgut durch den Inhaber.
(3) Die Einwilligung ist Ergebnis einer Abwägung zwischen gesellschaftlichem In-
teresse am Rechtsgutserhalt und den Freiheitsinteressen des Inhabers.
Neben der Einbindung der relevanten Prämissen wird sich zudem im Folgenden
zeigen, dass die Bildung von Fallgruppen die Relevanz des „Hypothetischen“ bei der
Bewertung der hypothetischen Einwilligung reduziert. In vielen Fällen geht es näm-
lich eigentlich gar nicht um hypothetische, sondern um tatsächliche Umstände – und
damit steht nicht mehr eine für das Strafrecht kaum zu bewältigende Fiktion im Vor-
dergrund, sondern tatsächliche Aspekte.

1. Aufrechterhalten einer unwirksamen, aber erklärten Einwilligung

Gerade im medizinischen Kontext wird es gelegentlich vorkommen, dass das


Opfer tatsächlich eine Einwilligung erklärt hat, diese jedoch aufgrund von Willens-
mängeln unwirksam war. Nach dem Eingriff erklärt das Opfer dann, dass die Einwil-
ligung trotzdem Gültigkeit behalten solle. Zunächst sei an dieser Stelle daran erin-
nert, dass nach h.M. im Strafrecht nicht jeder Willensmangel zur Unwirksamkeit
einer erteilten Einwilligung führt.33 Ein Irrtum, der sich nicht auf die Gefahr für

33
Helmut Frister, Strafrecht AT, 7. Auflage, München 2015, 15. Kapitel Rn. 16 ff.; Gün-
ther Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Die Grundlagen und die Zurechnungslehre, 2. Auf-
lage, Berlin 2011, § 7 Rn. 116 f.; Kühl (Fn. 15), § 9 Rn. 35; Schmidt (Fn. 8), Rn. 444 f.
770 Susanne Beck

das Rechtsgut bezieht, wird etwa regelmäßig als unbeachtlich angesehen.34 Wenn
sich der Disponierende über Nebenaspekte irrt, hat das nach dieser Ansicht keinen
Einfluss auf seine Dispositionsbefugnis. Hierzu wird eine andere Ansicht vertreten,
wonach jeder Irrtum relevant sei und die Unwirksamkeit der Einwilligung zur Folge
habe.35 Angesichts dessen, dass die Einwilligung im Strafrecht jedoch im Zusam-
menhang mit dem von der Strafnorm geschützten Rechtsgut gesehen werden
muss, kann das nicht überzeugen. Es bleibt somit dabei, dass nicht jeder Irrtum in
diesem Kontext relevant ist.
Auf diese Grundlage lässt sich m. E. eine weitere Überlegung stützen: Die Dispo-
sitionsbefugnis des Einwilligenden beinhaltet auch, klarstellen zu können, auf wel-
chen Aspekten die eigene Einwilligung tatsächlich basierte und auf welchen nicht,
also darüber, welche Aspekte für den Erklärenden selbst zentral waren und welche
Aspekte bloße Nebensache – auch wenn sie eigentlich die Gefährlichkeit eines Ver-
haltens für das Rechtsgut betrafen. Letztlich basiert die Möglichkeit der Einwilli-
gung doch auf der Dispositionsbefugnis des Rechtsgutsinhabers, der bereits über
das „Ob“ der Einwilligung als solches entscheiden kann – dann kann er auch darüber
entscheiden, welche Informationen bezüglich der Rechtsgutsgefährlichkeit für ihn
von Bedeutung sind, um die Einwilligung wirksam zu erklären. Die Relevanz der Irr-
tümer kann also m. E. auch daran gekoppelt werden, dass der Erklärende selbst hier-
über Auskunft gibt, und nicht nur an die Rechtsgutsbezogenheit. Über diese Relevanz
kann der Einwilligende zweifellos auch im Nachhinein Auskunft geben. Wenn man
die Möglichkeit der Einwilligung und damit die Disposition über das eigene Rechts-
gut eröffnet, muss das für den Rechtsgutsinhaber auch einen Freiraum bei der Gestal-
tung und Fundierung seiner Erklärung beinhalten. Dazu sollte dann auch die Mög-
lichkeit gehören, sich nachträglich zur Bedeutung von Informationen für diese Fun-
dierung zu erklären.
Das gilt insbesondere dann, wenn der jeweilige Irrtum ohnehin bereits in einer
„Grauzone“ der Rechtsgutsrelevanz zu verorten ist. So irrt ein Patient bei einem Auf-
klärungsmangel beispielsweise häufig nicht darüber, dass und wie massiv durch die
Behandlung in seine körperliche Unversehrtheit eingegriffen wird. Er irrt meist über
das damit verbundene Risiko für künftige Schäden für dieses Rechtsgut oder das
Rechtsgut Leben („Risiken und Nebenwirkungen“).36 Dieses Risiko hängt zwar
mit der Verletzung der körperlichen Unversehrtheit zusammen, zugleich betrifft es
eben gerade nicht den vorsätzlichen Eingriff direkt. Dieser typische Irrtum befindet
sich deshalb m. E. durchaus in einer solchen „Grauzone“ und ist letztlich erst indirekt
für das geschützte Rechtsgut von Bedeutung.

34
Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Auflage, Berlin 1996, § 34 IV; Kühl (Fn. 15), § 9
Rn. 38; Schmidt (Fn. 8), Rn. 444.
35
Urs Kindhäuser, Strafrecht AT, 8. Auflage, Baden-Baden 2017, § 12 Rn. 27; vgl. a.
Amelung, ZStW 1997, S. 511 ff., der eine Unwirksamkeit jedoch nur bei Setzung eines haf-
tungsbegründenden Tatbestandes durch den Eingreifenden bejaht.
36
Vgl. hierzu etwa auch Kühl (Fn. 15), AT, § 9 Rn. 37.
Fiktion vs. Realität 771

In einem solchen Fall ist es deshalb zulässig, dass der Rechtsgutsinhaber im Nach-
hinein erklärt, dass er auch in Kenntnis der Umstände eingewilligt hätte und damit
schlicht klarstellt, dass der betreffende Irrtum aus seiner Sicht für seine Einwilligung
nicht ursächlich war. Dafür ist unerheblich, wenn der Verletzte die Klarstellung man-
gels Kenntnis der rechtsdogmatischen Feinheiten nicht als solche bezeichnet; die Er-
klärung lässt sich durch Auslegung in der Regel ohne weiteres dergestalt interpretie-
ren. Daran kann m. E. auch die Tatsache nichts ändern, dass der Arzt eine Aufklä-
rungspflicht hat.37 Der Patient darf vor bzw. während der Aufklärung auf bestimmte
Informationen verzichten, weil er sie für seine Entscheidung als unbeachtlich ansieht
– eine entsprechende Klarstellung muss deshalb auch im Nachhinein möglich sein. In
diesem Fall wird gerade keine Einwilligung ersetzt oder fingiert, sondern der Patient
hat ex ante über sein Rechtsgut verfügt. Er hat dies auf Basis für ihn hinreichender
Informationen getan – die Informationen, die er im Nachhinein erhält, waren aus sei-
ner Sicht für seine tatsächlich abgegebene Erklärung irrelevant.38
Diese Überlegungen lassen sich ohne Weiteres mit den bestehenden strafrechtli-
chen Strukturen abbilden, da das Unrecht der Tat zum Zeitpunkt ihrer Begehung
davon abhängt, ob die Einwilligung wirksam war. Dies war sie bereits zu diesem
Zeitpunkt, wie der Einwilligende im Nachhinein lediglich klarstellt. Es ist also
keine Fiktion erforderlich – bereits zum Zeitpunkt des Eingriffs fehlt es an einem
rechtswidrigen Eingriff in das Rechtsgut.
Diese Überlegungen greifen jedenfalls für durch den Arzt fahrlässig herbeige-
führte Aufklärungsmängel. Bei vorsätzlicher Täuschung durch den Täter könnte
man dies jedoch bezweifeln. In diesen Fällen kann kaum davon ausgegangen werden,
dass der Täter zur Verwirklichung der Freiheitssphären des Opfers beiträgt bzw. auf
Basis der Einwilligung handelt, was aber zur Rechtfertigung seines Handelns erfor-
derlich wäre. Somit scheint es mit Blick auf das verwirklichte Unrecht der Tathand-
lung nicht unplausibel, in diesen Fällen von einer Unwirksamkeit der Einwilligung
auszugehen.39 Zugleich könnte man anführen, dass es eben Teil der Dispositionsbe-
fugnis des Verletzten sei, auch vorsätzliche Täuschungen als für seine Erklärung un-
beachtlich anzusehen; wenn man die Dispositionsbefugnis betont und der Unrechts-
bewertung zugrunde legt, dass gerade diese umgangen worden ist, ließe sich also
ebenfalls begründen, dass die nachträgliche Klarstellung auch in diesen Fällen mög-
lich bleibt.
Jedenfalls aber dann, wenn ein Arzt seinen Patienten ohne entsprechenden Vor-
satz nicht über alle mit einer Operation verbundenen Risiken aufklärt, der Patient ein-
willigt und im Nachhinein erklärt, er hätte auch bei Kenntnis aller Risiken eingewil-
ligt, bleibt der Arzt nach unseren Überlegungen straflos. Dies basiert jedoch gerade
nicht auf einer Fiktion seines vermeintlichen Willens, sondern auf tatsächlichen Er-
klärungen und Umständen. Mit der nachträglichen Zustimmung stellt der Patient le-
37
Anders Kühl (Fn. 15), AT, § 9 Rn. 40.
38
Vgl. hierzu etwa auch Zabel (Fn. 7), GA 2015, S. 230.
39
Zabel (Fn. 7), GA 2015, S. 231 f.
772 Susanne Beck

diglich klar, dass seine vorherige Erklärung nicht auf der Unkenntnis des Risikos be-
ruhte. Gerechtfertigt bleibt der Arzt also weiterhin gerade aufgrund der expliziten
Einwilligung. „Hypothetisches“ findet sich nicht, strafrechtlich bewertet wird die tat-
sächliche Erklärung und spätere Klarstellung des Betroffenen.

2. Nachträgliche Akzeptanz bei fehlender oder


eindeutig unwirksamer Einwilligung

Die zweite Konstellation sei als ausdrückliche nachträgliche Akzeptanz bezeich-


net. In Abgrenzung zur ersten Gruppe geht es hier um die Fälle, in denen vorab ent-
weder überhaupt keine Einwilligung erteilt wurde oder die Einwilligung etwa auf-
grund einer Drohung oder (nach der hier vertretenen Ansicht) einer vorsätzlichen
Täuschung unwirksam ist. Der Verletzte erklärt nun im Anschluss an die Tat, dass
er gegen die Verletzung keine Einwände hat bzw. gehabt hätte, wenn er gefragt wor-
den wäre. Dabei sei die Freiwilligkeit der Erklärung unterstellt – zwar wird diese
manchmal bezweifelt, weil der Verletzte sich in einer Drucksituation befände oder
aufgrund des guten Ausgangs eine Verweigerung als unangemessen empfände.
Leichtem sozialen Druck sieht sich der Einzelne jedoch häufig ausgesetzt, ohne
dass wir deshalb an der Autonomie seiner Entscheidungen zweifeln40 – warum
das bei einer nachträglichen Erklärung anders zu bewerten sein sollte, ist nicht er-
kennbar.
Es handelt sich hier um den klassischen Fall der hypothetischen Einwilligung und
die Aussage wird, wie erläutert, als Fiktion eines zu einem früheren Zeitpunkt beste-
henden Willens interpretiert. Diese Interpretation ist jedoch nicht zwingend; so wird
etwa auch vertreten, dass es sich um eine Art nachträgliche Genehmigung der Ver-
letzung handle.41 Die letztgenannte Interpretation der Erklärung ist m. E. durchaus
möglich. Für einen juristischen Laien dürfte es vermutlich keinen relevanten Unter-
schied machen, ob er die Verletzung nachträglich genehmigt oder ob er auf Nachfra-
ge vorab eingewilligt hätte.
Aus dieser Interpretation ergeben sich zwei Fragen: Ist eine nachträgliche Geneh-
migung als eine unrechtsrelevante Disposition über das Rechtsgut des Verletzten an-
zusehen? Ist diese Disposition im Strafrecht adäquat abbildbar?
Mit Blick auf die erste Frage lässt sich zunächst anführen, dass der Verletzte idea-
lerweise frei verantwortlich gerade erklärt, dass er damit über sein Rechtsgut dispo-
nieren möchte.42 Im Gegenteil schiene es doch eine Einschränkung seiner Disposi-
40
Zur Freiwilligkeit der Einwilligung im Detail etwa Knut Amelung, Grundsätzliches zur
Freiwilligkeit der Einwilligung des Verletzten, NStZ 2006, S. 317 ff.
41
Schwartz (Fn. 7), S. 225, 239; nach Detlev Sternberg-Lieben, Wirksamkeit einer hypo-
thetischen Einwilligung in eine mit einem operativen Eingriff verbundene Körperverlet-
zungshandlung, in: StV 2008, S. 189, 190, 192 handelt es sich um eine „nachträgliche Hy-
pothesenbildung als Rückwirkungsfiktion“.
42
Zur Freiverantwortlichkeit der Erklärung vgl. etwa Zabel (Fn. 7), GA 2015, S. 231.
Fiktion vs. Realität 773

tionsbefugnis zu bedeuten, wenn er die Verletzung des Rechtsguts nicht im Nachhin-


ein selbst bewerten könnte.
Doch gibt gerade die Nachträglichkeit der Erklärung Anlass, an ihrer Einordnung
als Disposition über das Rechtsgut zu zweifeln.43 Sie stellt gerade keine Freiheitsge-
staltung bzw. aktive Persönlichkeitsentfaltung des Opfers dar. Im Gegenteil, es han-
delt sich bei der Verletzung weiterhin zunächst um eine bewusst in die Freiheitssphä-
re eingreifende Tat. Interpretiert man die Einwilligung primär als rechtliche Umset-
zung der Gestaltungsmöglichkeiten44 des Verletzten, ist eine nachträgliche Genehmi-
gung etwas qualitativ anderes als eine vorherige Einwilligung. In unserem Fall einer
solchen nachträglichen Zustimmung wird der Umgang mit dem Rechtsgut zunächst
von einem Dritten gestaltet und gerade nicht vom Rechtsgutinhaber. An dieser Stelle
ist also zunächst festzuhalten, dass es sich nicht um einen spezifischen Aspekt der
Einwilligung handelt, nicht um eine Klarstellung oder ähnliches, sondern um eine
qualitativ andere Konstellation. Man kann durchaus diskutieren, ob sich darauf
eine Neubewertung der Bestrafung des Täters stützen lässt – etwa im Sinne einer
Strafmilderung – dies ist jedoch m. E. umfassend von der Rechtsfigur der Einwilli-
gung zu trennen. An dieser Stelle soll diese Debatte nicht geführt werden, sondern
lediglich darauf hingewiesen, dass es m. E. auch hier nicht um eine Fiktion gehen
sollte, sondern um eine strafrechtliche Bewertung der nachträglichen Genehmigung
einer ursprünglich strafbaren Handlung. Das sollte bereits durch die Wahl der Be-
grifflichkeit – (nachträgliche) Genehmigung statt hypothetischer Einwilligung –
klargestellt werden.
Anders könnte die Bewertung ausfallen, wenn man die Einwilligung als Ausdruck
des mangelnden Interesses des Verletzten am Rechtsgut betrachtet.45 Dann steht ge-
rade nicht die „ex ante Disposition“ im Vordergrund, sondern dann wäre das Unrecht
möglicherweise tatsächlich verringert, weil der Verletzte kein Interesse am Schutz
hatte und dies wiederum nur im Nachhinein zum Ausdruck bringt. Dieses Verständ-
nis der Einwilligung ist von „Inhaberschaft“, von einem fast dinglichen Rechtsguts-
verständnis geprägt und steht damit in vielerlei Hinsicht einer zivilrechtlichen Be-
trachtung nahe. Deshalb kann hiernach eine nachträgliche Zustimmung als Ausdruck
des mangelnden Interesses und damit durchaus auch als Grund für eine Änderung der
Handlungsbewertung angesehen werden. Eine ähnliche Einschätzung könnte sich
auch aus einer die sozialen Aspekte betonenden Interpretation der Einwilligung er-
geben.46 Durch die ausdrückliche nachträgliche Zustimmung wird die soziale Stö-

43
Hengstenberg (Fn. 7), S. 336.
44
Claus Roxin, Strafrecht AT I, 4. Auflage, München 2006, Rn. 12.
45
Lencker/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 8), Vorbem. zu §§ 32 ff.
Rn. 33 m.w.N.; Horst Schlehofer, in: Münchener Kommentar StGB, Band 1, 3. Auflage,
München 2017, Vorbem. zu §§ 32 ff. Rn. 173.
46
Peter Noll, Tatbestand und Rechtswidrigkeit: Die Wertabwägung als Prinzip der
Rechtfertigung, in: ZStW 77 (1965), S. 1, 19; Thomas Weigend, Über die Begründung der
Straflosigkeit bei Einwilligung des Betroffenen, in: ZStW 98 (1986), S. 44, 46.
774 Susanne Beck

rung durch die Tat gemildert, was für eine verminderte Strafwürdigkeit sprechen
könnte.47
Selbst wenn man hiernach Tat und Täter aufgrund der nachträglichen Äußerung
des Opfers anders bewertet, muss die Änderung in strafrechtlichen Strukturen einge-
hegt werden. Die Beurteilung der Strafbarkeit erfolgt regelmäßig zum Zeitpunkt der
Handlung.48 In den klassischen Strukturen können sich nachträgliche Umstände
durchaus auf Höhe und Art der Strafe auswirken; das „Ob“ der Strafbarkeit von spä-
teren Ereignissen und dem Verhalten des Opfers abhängig zu machen, ist dagegen
problematisch: Zum einen führt das zu einer erheblichen Zufälligkeit der Strafbarkeit
als solcher, zum anderen kann es dadurch zu einer Zwischenphase kommen, in der
die Strafbarkeit des Verhaltens ungewiss wäre. Beides könnte das Vertrauen der Be-
völkerung in strafrechtliche Normen und den Rechtsstaat verringern.
Gegen diese Zweifel könnte man andere strafrechtliche Figuren (z. B. den Rück-
tritt) anführen. Ohne an dieser Stelle jeden potentiellen Vergleich nachzeichnen zu
können, sei hier nur zusammenfassend darauf hingewiesen, dass diese Figuren m. E.
gerade nicht umfassend mit der nachträglichen Billigung vergleichbar sind. Tatsäch-
lich vergleichbare Konzeptionen finden sich vielmehr gerade bei der Strafzumessung
bzw. im Strafverfahren ähnliche Konstellationen, da hier eine Berücksichtigung von
ex post Erklärungen oder Geschehnissen erfolgt – so wirkt ein Täter-Opfer-Aus-
gleich gelegentlich strafmildernd oder führt zur Einstellung der Strafverfolgung;
manche Delikte sind nur auf Strafantrag des Verletzten verfolgbar und werden
somit bei einer nachträglichen Billigung und ohne einen solchen Antrag faktisch
nicht verfolgt und sanktioniert.49 Diese Ebene scheint auch für den Umgang mit
der hier dargestellten Konstellation der nachträglichen expliziten Billigung ange-
messen.50 Denn der Täter hat auch in diesem Fall zum Zeitpunkt der Tat ein vorwerf-
bares Unrecht begangen, das nicht rückwirkend „neutralisiert“ werden kann. Das
Unrecht wird jedoch nachträglich verringert, wenn das Opfer später sein mangelndes
Interesse am Rechtsgutserhalt zum Ausdruck bringt. Das kann m. E. durchaus eine
fakultative Strafmilderung, u. U. gar einen Verzicht auf Bestrafung begründen. Da-
gegen wird teilweise angeführt, darüber könne nur der Gesetzgeber entscheiden und
ohne explizite Regelung sei eine entsprechende Strafmilderung unzulässig. Doch
wenn es sogar Rechtfertigungsgründe ohne explizite Regelung gibt, scheint dies
bei Strafaufhebungs- oder -milderungsgründen zweifellos ebenfalls möglich.
Wenn also ein Arzt den Patienten ohne vorherige Einwilligung behandelt, etwa
weil deren Einholung im Klinikalltag vergessen wurde, der Patient aber im Nachhin-
ein seine Zustimmung erklärt, könnte der Richter die Strafe jedenfalls mildern, u. U.

47
Weigend (Fn. 46), ZStW 98, S. 46.
48
Vgl. hierzu etwa Albrecht (Fn. 7), S. 351; Martin Böse, in: Kindhäuser/Neumann/Paeff-
gen (Fn. 8), § 8 Rn. 2.
49
Zum Täter-Opfer-Ausgleich vgl. etwa Stree/Kinzig, in: Schönke/Schröder (Fn. 8), § 46a
Rn. 6 f. Strafantragserfordernisse finden sich etwa in §§ 194, 205, 230, 301, 303c StGB.
50
Böcker (Fn. 24), JZ 2005, S. 929; Jansen (Fn. 17), ZJS 2011, S. 488.
Fiktion vs. Realität 775

auch ganz von Bestrafung absehen. Auch hier findet sich nichts „Hypothetisches“,
keine Fiktion. Zwar wird der Verzicht auf die Interessen nachträglich erklärt, auf die-
ser Basis wird aber gerade kein Wille rückwirkend fingiert. Die Bewertung knüpft
vielmehr an den Zeitpunkt der Erklärung an.

3. Fiktion der Willenserklärung oder Vermutung der Genehmigung

In der dritten Fallgruppe geht es nun tatsächlich um „Hypothetisches“, d. h. um


eine Fiktion. Erfasst sind Fälle, in denen weder eine vorherige noch eine nachträg-
liche ausdrückliche Erklärung des Verletzten vorliegt, etwa weil er verstorben ist
oder einwilligungsunfähig wurde. Denkbar ist auch, dass der Verletzte zur Verlet-
zung nicht eindeutig Stellung bezieht.
Da es an einer Erklärung des Verletzten fehlt, kann m. E. im Gegensatz zur gerade
geschilderten zweiten Fallgruppe keine nachträgliche Billigung unterstellt werden
kann. Somit könnte hier tatsächlich nur eine vorherige Zustimmung fingiert werden.
Der BGH geht in diesen Fällen nach dem „in dubio pro reo“-Grundsatz vor; d. h. er
behandelt sie wie andere Fälle der hypothetischen Einwilligung, weil man die hypo-
thetische Versagung der Zustimmung nicht nachweisen könne. M. E. muss hier je-
doch gerade nicht aufgrund tatsächlicher Zweifel zugunsten des Angeklagten vom
Vorliegen einer hypothetischen Einwilligung ausgegangen werden. Unabhängig
davon, wie man die hypothetische Einwilligung verortet, handelt es sich um eine Aus-
nahme von der durch die Tatbestandserfüllung indizierten Strafbarkeit. Deshalb
muss ihr Nichtvorliegen jedenfalls nur dann positiv nachgewiesen werden, wenn
für ihr Vorliegen konkrete Anhaltspunkte existieren. Das ist hier aber deshalb
nicht entscheidend, weil der BGH zur geschilderten zweiten Fallgruppe ohnehin
eine andere Ansicht vertritt und auch bei einer expliziten Erklärung die Einwilligung
ex post fingiert.
Es stellt sich nun die Frage, ob die Fiktion des Opferwillens bei Anhaltspunkten
für eine hypothetische Zustimmung die Handlungsbewertung ebenfalls ändern sollte
und was das gegebenenfalls für die Strafbarkeit bedeuten würde. Die Antwort hängt
wiederum davon ab, wie man die Möglichkeit der Einwilligung als solche begründet.
Stellt sich die Einwilligung als Ausdruck der aktiven Gestaltung der eigenen Rechts-
gutsinhaberschaft durch das Opfer dar51, kann eine solche Fiktion nicht von Relevanz
sein. Denn eine nachträgliche Erklärung ist gerade keine aktive, vorherige Gestal-
tung der eigenen Freiheitssphäre.
Anders muss die Antwort lauten, wenn man die Einwilligung als Verzicht auf das
Rechtsgut52 einordnet. In diesem Fall ist weniger entscheidend, ob das Opfer den Ver-
zicht vorab zum Ausdruck gebracht hat oder erst im Nachhinein festgestellt wird,
dass es wohl kein Interesse am Erhalt des Rechtsguts gehabt hätte, wenn man es
51
Lencker/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 8), Vorbem. zu §§ 32 ff. Rn. 33a.
52
Roxin (Fn. 44), § 13 Rn. 12.
776 Susanne Beck

vorab gefragt hätte. Die Fiktion eines Verzichts erscheint eher denkbar als die Fiktion
einer aktiven Gestaltung.
Wiederum anders fällt die Einschätzung aus, wenn man die Einwilligung letztlich
als Interessenabwägung zwischen Rechtsgüterschutz und Handlungsfreiheit betrach-
tet.53 An dieser Stelle unterscheidet sich die rechtliche Bewertung von der oben dar-
gestellten zweiten Gruppe. Denn m. E. wird die Bedeutung der Freiheitsaspekte
durch einen nachträglich fingierten Willen nicht wesentlich erhöht und kann die Ver-
letzung des Rechtsguts nicht ausgleichen.
Diese inhaltlichen Erwägungen seien nun noch durch strukturelle Betrachtungen
ergänzt. Strafrecht betreibt eine Bewertung der Tat, eine sozialethische Kategorisie-
rung des Täterverhaltens.54 Es betreibt keinen Interessensausgleich oder Wiedergut-
machung beim Opfer. Zwar ist es zutreffend, dass sich die Bewertung einer Tat, die in
ein Individualrechtsgut eingreift, mit der Zustimmung des Inhabers ändern muss. Es
ist jedoch nicht zwingend, vor allem wenn die Einwilligung nur gemutmaßt wird,
dass die Strafbarkeit damit umfassend entfällt.55 Jedenfalls für den Zeitpunkt der
Tat ändert sich aber durch nachträglich fingierte Erklärungen an Art und Maß des
Unrechts gerade nichts. Somit ist es nicht plausibel, die Schuld des Täters nicht
nach dem tatsächlichen Geschehen, sondern nach unterstellten, fiktionalen Annah-
men zu beurteilen.56 Auch im Übrigen ist Strafrecht für den Umgang mit Fiktionen
eher ungeeignet.57 Es blickt bei Bewertung der Tat regelmäßig auf den Zeitpunkt der
Begehung, nicht auf spätere Zeitpunkte. Zudem lässt sich eine Fiktion, wie angedeu-
tet, nicht positiv nachweisen, so dass hier zwangsläufig ein Konflikt mit dem Zwei-
felsatz entsteht.
Somit ist die Möglichkeit, einen zustimmenden Willen des Opfers ex post zu fin-
gieren, für das Strafrecht abzulehnen. Für diese Konstellationen bleibt es bei Straf-
barkeit des Täters.

53
Noll (Fn. 46), ZStW 77, S. 19; Weigend (Fn. 46), ZStW 98, S. 46.
54
Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht Allgemeiner Teil, 12. Auflage, Bielefeld
2016, § 2 Rn. 4.
55
Javier De Vincente Remesal, Die mutmaßliche Einwilligung und ihre besondere Be-
deutung im Rahmen einer Operationserweiterung, in: GA 2017, S. 689, 693.
56
Albrecht (Fn. 7), S. 367 ff.; Hengstenberg (Fn. 7), S. 367 f.; Schwartz (Fn. 7), S. 236 f.
57
Vgl. hierzu etwa Albrecht (Fn. 7), S. 259 ff.; Hengstenberg (Fn. 7), S. 375 ff.; Schwartz
(Fn. 7), S. 171 ff. Bei einer Fiktion wie des pflichtgemäßen Alternativverhaltens etwa wird
nicht eine Erklärung (oder Handlung) an sich fingiert; die Handlung, die den strafbaren Erfolg
herbeiführte, hat in diesen Fällen ja tatsächlich stattgefunden. Gleichzeitig zeigt sich gerade
auch an dieser äußerst umstrittenen Figur, wie problematisch der Umgang mit Fiktionen ganz
generell im Strafrecht ist.
Fiktion vs. Realität 777

III. Fazit
Die Debatte zur hypothetischen Einwilligung wurde hier anhand von Fallgruppen
zu ordnen versucht: 1) Die nachträgliche Klarstellung der tatsächlich abgegebenen
Einwilligungserklärung, 2) die nachträgliche, explizite Genehmigung des Rechts-
gutseingriffs und 3) die Fiktion einer nie erklärten Einwilligung.
Die inhaltliche Einschätzung und strukturelle Einordnung der jeweiligen Konstel-
lation hängt nun von den Prämissen zur Einwilligung ab. So kann man die Einwil-
ligung als aktive Ausübung des Selbstbestimmungsrechts durch Inhaber und Täter
gemeinsam einordnen, als Ausdruck mangelnden Interesses am Rechtsgut durch
den Inhaber oder schließlich als Ergebnis einer Abwägung zwischen gesellschaftli-
chem Interesse am Rechtsgutserhalt und Freiheitsinteressen des Inhabers.
In der ersten Fallgruppe ist nach allen diesen Prämissen eine Klarstellung mög-
lich. Eine nachträgliche Genehmigung erscheint dagegen zumindest dann schwer
vertretbar, wenn man die Einwilligung als aktive Rechtsausübung durch den Verletz-
ten betrachtet. Die Straflosigkeit des Täters auf Basis einer Fiktion erscheint über-
haupt nur denkbar, wenn man die Einwilligungsmöglichkeit mit dem mangelnden
Interesse des Opfers begründet, aber selbst dann lässt sich dies kaum in strafrechtli-
che Strukturen übersetzen. Das vermeintlich „Hypothetische“ der hypothetischen
Einwilligung, also die Fiktion eines nicht existenten und niemals erklärten Willens
nach der Fallgruppe 3), kann sich im Strafrecht nicht wiederfinden. Relevant für die
strafrechtliche Bewertung des Rechtsgutseingriffs sind nur tatsächliche Erklärungen,
in unserem Fall Klarstellungen oder nachträgliche Genehmigungen, nicht aber Hy-
pothesen und Fiktionen. Wir haben durch die hier vorgenommenen Kategorisierun-
gen die Hypothesen aus dem Bereich der Einwilligung weitgehend entfernt und für
die Fälle, in denen nur eine Fiktion zur Straflosigkeit führen könnte, die Übertragung
ins Strafrecht abgelehnt. So bleibt es möglich, die meisten Problemfälle, die unter der
Überschrift „hypothetische Einwilligung“ diskutiert werden, adäquat zu lösen, ohne
das Strafrecht für Fiktionen öffnen zu müssen.
Nothilfe für Tiere als Anthropozentrik
Von Rainer Keller

I. Einleitung
Die folgende Untersuchung betrifft neben der Interpretation des § 32 StGB einige
Grundlagenprobleme: die Bedeutung der Unterscheidung Mensch/Tier, ihre ethische
Legitimität, ihre sozialen Implikationen sowie die Konsequenzen ihrer Relativie-
rung, insbesondere im Hinblick auf die zunehmende Verwissenschaftlichung und
Technisierung von Mensch und Natur. Allerdings können diese Grundlagenprobleme
vorliegend nur andeutungsweise thematisiert werden. Ihre gründliche Behandlung
bleibt den Vertretern der Rechtsethik vorbehalten, insbesondere also Reinhard Mer-
kel, der zur rechtsethischen Bestimmung des Menschseins grundlegende Beiträge
geleistet hat und zweifellos weiterhin leisten wird.
Ob Tieren Nothilfe geleistet werden darf, wird gegenwärtig infolge der industri-
ellen Produktion und Verwertung von Tieren sowie der teilweise grauenhaften Aus-
gestaltung der Tierproduktion praktisch beispielsweise relevant, wenn Wirbeltiere in
Vorbereitung ihrer Schlachtung massenhaft unter Bedingungen gehalten werden, die
gemäß § 17 TierSchG als strafbare Quälerei zu bewerten sind1, und Tierschutzakti-
visten in die Stallungen eindringen, um die rechtswidrige Unterbringung der Tiere in
Filmaufnahmen zu dokumentieren, die sie den für Gegenmaßnahmen zuständigen
Behörden zur Verfügung stellen. Mit einer derartigen Konstellation befasste sich
neuerdings die Rechtsprechung2. Dass das den § 123 StGB erfüllende Verhalten
der Tierschutzaktivisten ethisch positiv zu bewerten und bei Gegebensein der ein-
schlägigen Merkmale als Notstandshilfe gemäß § 34 StGB gerechtfertigt ist, wird
vorliegend ohne Diskussion der implizierten Probleme angenommen. Die im Folgen-
den problematisierte Rechtfertigung gemäß § 32 StGB lässt, so gegeben, weiterge-
hende Abwehrmaßnahmen zu als der rechtfertigende Notstand: keine Pflicht auszu-
weichen oder polizeiliche Hilfe herbeizurufen, grundsätzlich keine Begrenzung der
Verteidigung durch Verhältnismäßigkeit. Die Voraussetzung der Notwehrhilfe – ge-

1
Zu Einzelheiten der konkreten Unterbringung von Tieren und der strafrechtlichen Be-
wertung der Unterbringung vgl. Bülte, GA 2018, 35; ders., NJW 2019, 19.
2
LG Magdeburg StV 2018, 335 m. Anm. A. Keller/T. Zetsche; OLG Naumburg NJW
2018, 2064 m. Anm. Hotz; weitere Kommentierungen der Entscheidungen: Dehne-Niemann/
Greisner, GA 2019, 205; Greco, JZ 2019, 390; Scheuerl/Glock, NStZ 2018, 448; zur unzu-
länglichen Strafverfolgung von Tierquälerei vgl. Bülte, (Fn. 1).
780 Rainer Keller

genwärtiger rechtswidriger Angriff – ist mit der rechtswidrigen Unterbringung der


Tiere gegeben, wenn Tiere als ,andere‘ gemäß § 32 StGB zu bewerten sind.
Darum geht es im Folgenden.

1. Ist das Tier ein ,anderer‘ gemäß § 32 StGB?

In der Literatur wird dies überwiegend verneint3. Neuerdings gibt es bejahende


Stellungnahmen4. – Nach dem Wortlaut des § 32 StGB bezeichnet „anderer“
einen Angehörigen der Spezies, die mit dem Bezugswort „wer“ bezeichnet wird,
einen lebenden Menschen, nicht ein Tier, das auch auf die Frage „Wer?“ nicht ant-
worten kann. Allerdings ist anerkannt, dass Rechtfertigungsgründe über ihren Wort-
laut hinaus erweitert werden können. Dementsprechend wird die Nothilfebefugnis
auch gewährt zur Verteidigung der Rechtsgüter von Embryonen und juristischen Per-
sonen5. Daraus kann aber nicht ohne Weiteres geschlossen werden, dass auch für
Tiere eine Ausweitung über den Wortlaut ,anderer‘ hinaus angemessen sei. Denn
Embryonen sind werdende Menschen und juristische Personen sind „Ausdruck freier
Entfaltung der privaten natürlichen Person“6. Dass Tiere von Menschen normativ
weiter entfernt sind als Embryonen und juristische Personen, bestätigt auch das
GG, das nach h. M. in Art. 1 Menschen und (wenn auch gemindert) Embryonen un-
entziehbar (Art. 79 GG) Menschenwürde und Grundrechte zuweist7 und im Rahmen
des Art. 19 Abs. 3 den juristischen Personen ebenfalls Grundrechte zuweist. Zuguns-
ten der Tiere enthält es in Art. 20a nur eine vage Schutzorientierung, deren Umset-
zung weitgehend der Gesetzgebung überlassen ist. Die Einbeziehung von Tieren
kann also nicht allein in Analogie zum Embryo und zur juristischen Person angenom-
men werden8.

3
Dehne-Niemann/Greisner (Fn. 2); Duttge, in: HK-StGB, 4. Aufl. 2017, vor § 32 Rn. 8;
Erb, in: MüKo-StGB, 3. Aufl. 2017, § 32 Rn. 100; Frister, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2018, 16/
532 Fn. 7; Günther, in: SK-StGB, 7. Aufl. 1999, § 32 Rn. 49; Mitsch, JURA 2017, 1388,
1393 f.; Eisele, in: Schönke/Schröder/Perron, Strafgesetzbuch, 30. Aufl. 2018, § 32 Rn. 8;
Hecker, JuS 2018, 83 ff.; Ritz, JuS 2018, 333 ff.; Rönnau/Hohn, in: LK-StGB, 12. Aufl. 2006,
§ 32 Rn. 82; Scheuerl/Glock (Fn. 2), S. 449.
4
LG Magdeburg (Fn. 2); Greco (Fn. 2); Herzog, JZ 2016, 190 ff.; A. Keller/T. Zetsche
(Fn. 2); Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, 29. Aufl. 2018, § 32 Rn. 12; tendenziell auch Roxin,
Strafrecht AT, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 15 Rn. 34. Zur Stellungnahme des OLG Naumburg s. u.
Fn. 14.
5
Darauf verweist Roxin (Fn. 4).
6
BVerfGE 68, 193, 205 f.
7
BVerfGE 39, 41; 88, 203.
8
Dementsprechend verweist Roxin (Fn. 4) auf die Gesetzgebung.
Nothilfe für Tiere als Anthropozentrik 781

2. Probleme des zu schützenden Rechtsgutes

Ist nach der gesetzlichen Systematik das Tier, wenn es durch Quälerei rechtswid-
rig angegriffen wird, bei der Anwendung des § 32 StGB den Menschen gleich zu be-
handeln? Verteidigt werden dürfen in Notwehr nach h. M., vom umstrittenen Fall der
Staatsnotwehr abgesehen, Individualrechtsgüter, Rechtsgüter also, auf die der Ange-
griffene ein subjektives Recht hat9. Im GG und im TierSchG ist kein subjektives
Recht der Tiere, von Quälerei verschont zu bleiben, statuiert.10 Gemäß Art. 20a
GG sollen Tiere (auch) als einzelne geschützt werden. Aber das impliziert nicht,
dass sie ein entsprechendes subjektives Recht hätten. Teilweise wird auch angenom-
men, Tiere müssten gemäß Art. 20a GG um ihrer selbst willen geschützt werden.
Aber auch damit wird den Tieren kein subjektives Recht gewährt.11 Vielmehr wird
der Allgemeinheit die Verantwortung auferlegt für den Schutz der Tiere ungeachtet
menschlicher Verwertungsinteressen. Und diese staatliche Verantwortung wird mit
dem TierSchG umgesetzt. Zwar schließt eine Schutzverantwortung nicht prinzipiell
aus, dass das zu schützende Wesen ein subjektives Recht auf Integrität hat, wie z. B.
ein Kind, für dessen Schutz die Eltern verantwortlich sind. Aber das ist nicht notwen-
dig so. Die staatliche Schutzverantwortung bezüglich Tieren impliziert nach h. M.
kein subjektives Recht der zu schützenden Tiere. Es handelt sich um einen objektiv-
rechtlichen Schutz.12 Allerdings hat Art. 20a GG Einfluss auf die Auslegung des ein-
fachen Gesetzesrechts. Daraus kann man erschließen, dass das Verschontbleiben von
Quälerei ein Rechtsgut ist,13 das durch objektives Recht und gegebenenfalls gemäß
§ 34 StGB zu schützen ist, nicht jedoch, dass das TierSchG dahin auszulegen sei, dass
Tiere ein entsprechendes subjektives Recht hätten, das die Anwendung des § 32
StGB begründete.
Das LG Magdeburg,14 das die Anwendbarkeit des § 32 StGB auf Art. 20a GG und
das TierSchG stützte, berücksichtigte dabei die dargestellten Probleme nicht. Ergän-
zend vertrat es die These, die Verteidigung der Tiere gemäß § 32 StGB sei zulässig,

9
Die abweichende, rein überindividualistische Deutung des § 32 StGB wird vorliegend
nicht berücksichtigt.
10
Zum Folgenden Hömig, in: Hömig (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2010, Art. 20a Rn. 2; Jarass, in:
Jarass/Pieroth, GG, 10. Aufl. 2009, Art. 20a Rn. 13; Kloepfer, Verfassungsrecht Bd. 1, 1. Aufl.
2011, § 12 Rn. 67; v. Loeper, in: Kluge (Hrsg.), Tierschutzgesetz, 2002, S. 66 ff.; Lorz/Metz-
ger, Tierschutzgesetz, 6. Aufl. 2008, S. 43; Murswiek, in: Sachs, GG, 5. Aufl. 2009, Art. 20a,
Rn. 12, 31b; Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. III, Stand 2018, Art. 20a, Rn. 60, 71; Ort/
Reckewell, in: Kluge (Hrsg.), Tierschutzgesetz, 2002, S. 327; Sommermann, in: v. Münch/
Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 20a Rn. 33 f.
11
Murswiek (Fn. 10), Rn. 22; zum Schutz der Tiere um ihrer selbst willen s.a. Greco
(Fn. 2), S. 392.
12
Ebenso Raspé, Die tierliche Person, 2013, S. 187, tendenziell anders S. 219 ff.
13
Vgl Raspé (Fn. 12), S. 175.
14
StV 2018, 335; ähnlich Hotz (Fn. 2), S. 266, bzgl. § 34 StGB. OLG Naumburg (Fn. 2)
lehnte § 32 StGB ab, weil die Geeignetheit oder die subjektive Seite der Nothilfe nicht ge-
geben gewesen sei.
782 Rainer Keller

auch weil damit das Mitgefühl der Menschen für die Tiere geschützt werde.15 Die
Relativierung des staatlichen Gewaltmonopols zum Schutz vager Gefühle zuzulas-
sen, ist jedoch problematisch.
Die dargestellte staatliche Schutzverantwortung für Tiere schließt nicht prinzipi-
ell aus, dass das Veschontbleiben der Tiere von grundloser Quälerei auch, wie Tier-
rechtsvertreter16 annehmen, ein jenseits des TierSchG begründetes Individualrechts-
gut jedes (leidensfähigen) Tieres sein kann, das in Nothilfe verteidigt werden kann.17
Zu klären ist also nun, ob, wie Tierrechtsvertreter annehmen, im Hinblick auf eine
Menschenähnlichkeit der Tiere diesen ein rechtlicher Status zukommt, der im Kon-
text des § 32 StGB als subjektives Recht auf Verschontbleiben von Quälerei zu be-
werten ist.

3. Zur Ähnlichkeit Mensch/Tier als Grund der Gleichbehandlung

Bei der Bestimmung der Menschenähnlichkeit von Tieren werden diverse den
Menschen mehr oder weniger gleiche Qualifikationen von Tieren, insbesondere Wir-
beltieren, berücksichtigt.18 Bezüglich der Qualifikationen der Menschen wird teil-
weise besonders auf die die Menschenwürde begründenden Qualifikationen abge-
stellt. Die Diskussion kann vorliegend nur überblicksweise referiert werden. Für
die Ähnlichkeit werden geltend gemacht u. a. die bei manchen Tierarten gegebene
Selbstständigkeit, Empfindungsfähigkeit, insbesondere Leidensfähigkeit (sofern
diese nicht gegeben ist, liegt keine Tierquälerei vor), ansatzweise auch Intelligenz,
Fähigkeit zu Eifersucht, Angst, Mitleid, Trauer, Freude, Freundschaft. Unter den
Qualifikationen der Menschen, die bei Tieren nicht oder nur wenig gegeben sind,
werden berücksichtigt: Sprachkompetenz, Intelligenz, Zukunftsorientierung, Ver-
antwortlichkeit, Kompetenz zu Weltgestaltung, Unterscheidung Recht/Unrecht
und entsprechende Handlungsorientierung. Da es vorliegend um die Gleichbehand-
lung der Tiere mit Menschen allein bei der Bestimmung des ,anderen‘ in § 32 StGB
geht, werden im Folgenden nur diesbezüglich besonders relevante Qualifikationen
berücksichtigt.

15
Ablehnend Greco (Fn. 2), S. 391; Herzog (Fn. 4), S. 195.
16
Greco (Fn. 2); Herzog (Fn. 4); vgl auch Raspé (Fn. 12), S. 174 ff.
17
I. E. ebenso Greco (Fn. 2), S. 391 ff.; zu Einwänden Mitschs (Fn. 3) s. u. 5 ff.
18
Zum Folgenden: Greco (Fn. 2), S. 393; Herzog (Fn. 4), S. 191 f.; Hirt/Maisack/Moritz,
Tierschutzgesetz, 3. Aufl. 2016, S. 9 ff.; Raspé, (Fn. 12), S. 87 f.; Wolf/Tuider, Tierethische
Positionen, 2014, abrufbar unter: www.bpb.de, gesellschaft, umwelt, bioethik; krit. Scholz
(Fn. 10), Rn. 73 ff.
Nothilfe für Tiere als Anthropozentrik 783

4. Leidensfähigkeit und Pathozentrik


als Gründe der Gleichbehandlung

Für Tierrechtsvertreter ist ein zentraler Grund der Gleichbehandlung Mensch/Tier


bei der Bestimmung des ,anderen‘ die Leidensfähigkeit, die als Teil der Empfin-
dungsfähigkeit bei Wirbeltieren und Menschen oft gegeben ist.19 Tierrechtsvertreter
argumentieren insofern zurecht speziesorientiert, gehen also von typischerweise ge-
gebenen Qualifikationen aus; anderenfalls könnte die Leidensfähigkeit, die bei man-
chen komatösen Menschen fehlt, nicht die Gleichbehandlung der Tiere eingrenzen.
Als Leiden wird vorliegend das Empfinden körperlicher Schmerzen thematisiert;
eine genauere Bestimmung, insbesondere ob auch unreflektierte Schmerzen relevant
sind,20 ist hier nicht erforderlich. Auch in der Rechtsprechung des BVerfG,21 die eine
spezifische Tierethik anerkennt, ist die Leidensfähigkeit der Tiere relevant. Für die
Orientierung an diesem Kriterium wird auch die Pathozentrik geltend gemacht,22 die
grundsätzlich den moralischen Anspruch auf Schutz vor Leiden den Tieren ebenso
zuweist wie Menschen und eine diesbezügliche Differenzierung als Speziesismus
zurückweist.
Bei der Bestimmung des ,anderen‘ im Kontext des § 32 StGB kann die Leidens-
fähigkeit von Tieren deren Gleichstellung mit zu verteidigenden Menschen und also
das subjektive Recht der Tiere begründen, wenn die Leidensvermeidung dem Zweck
des § 32 StGB entspricht, d. h. wenn die Zulassung der Verteidigung gemäß § 32
StGB der Vermeidung von Leiden dient, was zunächst evident erscheint: § 32
StGB soll Menschen u. a. ermöglichen, körperliches Leiden bewirkende Quälerei ab-
zuwenden. Allerdings verhindert der oder die Verteidigende nach dem Programm des
§ 32 StGB Leiden nicht nur, sondern, soweit erforderlich, bewirkt er es auch: beim
Angreifer – und zwar vorsätzlich und eventuell weitaus mehr als dem Angegriffenen
Leiden droht und ohne Ausweichmöglichkeiten und maßvolle polizeiliche Hilfe zu
nutzen. Im Hinblick darauf ist die Annahme, in der Situation drohender Quälerei be-
zwecke § 32 StGB Leidensvermeidung, ungenau: Nur das Leiden des rechtswidrig
Angegriffenen soll verhindert werden. Im Horizont der Pathozentrik aber erscheint
dieses Programm der Trutzwehr, das alles in allem u. U. mehr Leiden bewirkt als ver-
hindert, verfehlt. Zwar könnte mit der herrschenden dualistischen Notwehrlehre gel-
tend gemacht werden, durch die spezifische Schneidigkeit der Notwehr solle gene-
ralpräventiv die Rechtsgeltung gewahrt und damit auch künftiges Leiden verhindert
werden. Aber dieser Bezug ist hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit und Effizienz
19
Grundlegend Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation. A
New Edition. Vol. II, London 1828, S. 235, 236; weitere Nachweise in vorangeg. Fn. 18.
20
Dazu Michel, Die pathozentrische Position in der Tierethik, abrufbar unter: www.bpb.de/
gesellschaft/umwelt/bioethik.
21
E 101, 1 Rn. 121, 135, 139.
22
Vgl. A. Keller/T. Zetsche (Fn. 2), S. 337; Michel (Fn. 20); Raspé (Fn. 12), S. 62 ff.; zu-
stimmend Herzog (Fn. 4), S. 192; krit. zur Pathozentrik Kloepfer (Fn. 10), § 12 Rn. 64; Som-
mermann (Fn. 10), § 20a Rn. 33; Scholz (Fn. 10); vgl. auch Hartmut Böhme, Aussichten auf
die Natur, 2017, S. 12 ff. m.w.N.
784 Rainer Keller

sehr vage. Für das Anliegen der Pathozentrik ist die Anwendung des § 34 StGB mit
der grundsätzlichen Orientierung auf Verhältnismäßigkeit der Leidensverursachung,
Ausweichpflicht und Vorrang der professionellen und maßvollen polizeilichen Ver-
teidigung angemessener als die des § 32 StGB.23 Im Übrigen kann festgehalten wer-
den, dass die Leidensfähigkeit von angegriffenen Tieren für ihre Gleichbehandlung
mit Menschen bei der Anwendung speziell des § 32 StGB anstelle des § 34 StGB
zwar relevant, aber keineswegs hinreichend ist.
Allerdings ist im Zusammenhang der Pathozentrik noch ein weiteres Argument
der Literatur24 zu berücksichtigen: Empathisch sei es, so wird angenommen, nicht
nachvollziehbar, dass Menschen zur Verteidigung fremder Sachwerte Notwehrhilfe
leisten dürfen, während sie zur Abwendung von Tierquälerei nur die Befugnisse des
Notstands hätten. Diese Argumentation ist unspezifisch. Empathisch verallgemei-
nert müsste sie auch bestreiten, dass in Notwehr zur Verteidigung von Sachwerten
Menschen schwer verletzt oder gar getötet werden dürfen. Diese Überschreitung
der Verhältnismäßigkeit – konkret: des im Vergleich zu Sachwerten höheren norma-
tiven Gewichts von Menschen – aber gehört zum Programm des § 32: Recht muss
dem Unrecht nicht weichen. Folglich kann das im Verhältnis zu Sachwerten höhere
normative Gewicht von Tieren auch nicht ihren Schutz gemäß § 32 StGB begrün-
den.25 Anders formuliert: Die Autoren müssten die Legitimität des § 32 StGB grund-
sätzlich bestreiten, wie im Vorangegangenen in der Perspektive der Pathozentrik ge-
zeigt.

5. Autonomie und rechtliche Verantwortlichkeit


als Bedingungen der Gleichbehandlung

Die Leidensfähigkeit, die die Gleichbehandlung der Tiere begründen soll, ist eine
passive Kompetenz. Zur Notwehr aber gehört auch aktive Autonomie. Die Verteidi-
gungshandlung erfüllt einen Straftatbestand, ist nicht ausschließlich ein Abwehr-
recht. Der sich Verteidigende – von der Nothilfe zunächst abgesehen – greift auf-
grund einer freien Entscheidung – er könnte den Angriff auch hinnehmen – vorsätz-
lich – nach der Rechtsprechung absichtlich – in die Rechtssphäre des Angreifers
ein,26 um das angegriffene Rechtsgut zu schützen und – so die dualistische h. M. –
darüber hinausgehend vorsätzlich das objektive Recht zu wahren.27 Diese Form
der Autonomie sowie die Kompetenz zur Unterscheidung von Recht und Unrecht ge-
hören zu den Spezifika der Notwehr. Nach dem individualrechtlichen Verständnis der
Notwehr ist die Ausübung der aktiven rechtlichen Autonomie des sich Verteidigen-
den das zentrale Element der Notwehr, denn damit wahrt der rechtswidrig Angegrif-
23
I. E. ebenso Eisele (Fn. 3), § 32 Rn. 8.
24
A. Keller/T. Zetsche (Fn. 2), S. 337 f.
25
Ähnlich Dehne-Niemann/Greisner (Fn. 2), S. 205, 210.
26
Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, § 7 Rn. 2.
27
Vgl Roxin (Fn. 4), § 15 Rn. 2, 129 m.w.N.
Nothilfe für Tiere als Anthropozentrik 785

fene seinen Freiheitsraum.28 Auch bei diesem Verständnis hat die Notwehr jedoch,
wie alle subjektiven Rechte,29 auch soziale Bedeutung, denn mit ihr manifestieren
verantwortliche Bürger zugleich das Recht der Gesellschaft und die Verantwortlich-
keit bezüglich Abweichungen. Demgemäß wird die Notwehr als Bürgerrecht be-
stimmt.30
Die genannten Spezifika der Notwehr müssen grundsätzlich auch bei dem Ange-
griffenen gegeben sein, der durch Nothilfe verteidigt wird, denn der Gegenstand sei-
nes subjektiven Rechts wird – nach der dualistischen Lehre neben dem objektiven
Recht – verteidigt; und zur Realisierung von subjektiven Rechten gehört – von un-
verzichtbaren Rechten abgesehen – essentiell der Wille des Rechtsinhabers. Grund-
sätzlich muss also dieser den rechtswidrigen Angriff als solchen erkennen und auto-
nom sich für die Verteidigung durch den Helfer entscheiden und – so die dualistische
Lehre – die Wahrung des objektiven Rechts wollen.31 Diese Konzeption wird nicht
wesentlich dadurch eingeschränkt, dass gegebenenfalls der mutmaßliche Wille des
Angegriffenen hinreicht (dazu unten 6.). Durch das Erfordernis autonomer Wahrneh-
mung und Wahrung des Rechts unterscheidet sich die Notwehrhilfe von der Not-
standshilfe, bei der der zu Schützende keinen Vorsatz bezüglich des Schutzes
haben muss; nur seine Einwilligung in die Realisierung der Gefahr macht die Not-
standshilfe unzulässig.
Die genannten subjektiven Orientierungen des zu Schützenden bei der Notwehr-
hilfe sind mit der Leidensfähigkeit des zu Schützenden nicht begründet und sind bei
Tieren nicht gegeben. Das gilt schon bezüglich des Willens, zu dem eine Entschei-
dung gehört; bei Tieren ist eher ein Reflex gegeben.32 Davon abgesehen verstehen
Tiere nicht das Recht als allgemein verbindliche soziale Ordnung und können sich
nicht darauf bezogen verantwortlich verhalten. Dies gilt auch für einzelne vergleichs-
weise intelligente Tierarten wie Orang-Utans. Diese speziesorientierte Bestimmung
muss hier nicht weiter begründet werden, denn sie ist im Strafrecht anerkannt: Die

28
Vgl Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT I, 6. Aufl. 2011, § 9 Rn. 61.
29
Zum Folgenden: Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1995, § 9 II 1; s.a.
Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 28), § 2 Rn. 8.
30
Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 12/42. ,Bürger‘ meint hier alle Menschen in der
Gesellschaft. Zur der in der US-Rechtstheorie teilweise geforderten Integration der Tiere in
das Konzept der Staatsbürgerschaft vgl. Herzog, in: Kloepfer/Kluge (Hrsg.), Die tierschutz-
rechtliche Verbandsklage, 2017, S. 47 (57) m.w.N.
31
Vgl. Mitsch (Fn. 3); Roxin (Fn. 4), § 15 Rn. 1, 116.
32
Zwar ist neuerdings infolge der Hirnforschung auch bezüglich der Menschen die An-
nahme von Willensfreiheit wieder allgemein problematisch geworden. Das schließt jedoch,
wie Merkel (Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2008, S. 110 ff.) zeigt, nicht die Zu-
schreibung von Verantwortung aus. Voraussetzung dafür ist unter modernen Verhältnissen u. a.
eine differenzierte Sozialstruktur und bei den Individuen typischerweise ein Mindestmaß an
Intelligenz und reflektiertem Wirklichkeitsbezug, die bei Tieren wenig gegeben sind.
786 Rainer Keller

Rechtsordnung ist nicht an die Tiere adressiert, weil diese nicht „taugliche Adressa-
ten von Rechtsnormen“ sind.33

6. Ersetzbarkeit von Autonomie und rechtlicher Verantwortlichkeit


des Angegriffenen?

Tierrechtsvertreter halten das gezeigte subjektive Defizit bei angegriffenen Tieren


in der Konstellation der Nothilfe für irrelevant, wenn und weil die genannten fehlen-
den Kompetenzen beim Helfer gegeben sind ebenso wie bei der Nothilfe zugunsten
komatöser Menschen, sofern diese weder Bewusstsein noch Empfindungsfähigkeit
haben.34
Insofern ist zu beachten, dass in der Situation der Nothilfe das beim zu Verteidi-
genden fehlende Bewusstsein vom rechtswidrigen Angriff und der fehlende Wille,
das eigene Rechtsgut zu verteidigen und das Recht zur Geltung zu bringen, rechtlich
genau genommen nicht durch den Nothelfer ersetzt werden können. Der Nothelfer
bringt nicht eigenes Recht zur Geltung, sondern hat teil am – so gegeben – Recht
des Angegriffenen.35 Dementsprechend hat der Nothelfer im Hinblick auf ein subjek-
tives Defizit des angegriffenen Menschen (etwa Bewusstlosigkeit) bezüglich der Ver-
teidigung dessen mutmaßlichen Willen zu vollziehen gemäß den Regeln der mut-
maßlichen Einwilligung. Das gilt auch im Horizont der dualistischen Konzeption,
denn auch diese stützt die Nothilfe – auch – auf auf den Selbstschutz.36 Die mutmaß-
liche Einwilligung aber setzt grundsätzlich voraus, dass der, dessen reale Einwilli-
gung fehlt oder nicht erkennbar ist, einwilligungsfähig ist und gemäß dieser Fähig-
keit, wenn er sie hätte ausüben können, mutmaßlich das für die Verteidigung Rele-
vante erkannt und gewollt hätte. Tiere aber sind nicht einwilligungsfähig, denn sie
erkennen weder den Gegenstand der potenziellen Einwilligung – die Bedeutung
des Rechts – noch haben sie den Willen zur Durchsetzung des Rechts durch die spe-
zifischen Maßnahmen des § 32 StGB. Allerdings ist die Einwilligungsfähigkeit auch
bei Embryonen und manchen Menschen – kleinen Kindern, komatösen Menschen –
nicht gegeben. In solchen Fällen wird abgestellt auf den wirklichen oder mutmaßli-
chen Willen des wirklichen oder potenziellen Stellvertreters der einwilligungsunfä-
higen Menschen oder Embryonen. Ist dieser mutmaßliche Wille nicht zu ermitteln,
wird angenommen, mutmaßlich wolle der Angegriffene das „rechtlich Vernünftige“,
also „normalerweise“ gemäß § 32 StGB verteidigt werden.37

33
Kühl (Fn. 26), § 7 Rn. 26; Roxin (Fn. 4), § 15 Rn. 6; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 28), § 9
Rn. 65.
34
Greco (Fn. 2), S. 393; Herzog (Fn. 4), S. 192; ähnlich ders. (Fn. 30), S. 58.
35
Jakobs (Fn. 30), 12/59 Fn. 115 m.w.N.; Kuhlen GA 2008, 283, 288; Kühl (Fn. 26), § 7
Rn. 140; Rönnau/Hohn (Fn. 3) § 32 Rn. 72.
36
Roxin (Fn. 4), § 15 Rn. 116.
37
Jakobs (Fn. 30), 12/62; Kühl (Fn. 26), § 7 Rn. 145; Seier, NJW 1987, 2476, 2478; ähn-
lich Roxin (Fn. 4), § 15 Rn. 120.
Nothilfe für Tiere als Anthropozentrik 787

Für Tiere ist Stellvertretung rechtlich nicht ermöglicht. Könnte gemäß dem Aus-
geführten bei Tieren der Nothelfer entscheiden, gemäß § 32 StGB das Tier zu ver-
teidigen? Kann ein mutmaßlicher Wille eines Tieres angenommen werden, der ge-
richtet ist auf das „rechtlich Vernünftige“ und Normale? Oder würde damit eine Ori-
entierung der menschlichen Allgemeinheit zur Geltung gebracht und das Tier als ein
Rechtsgut derselben behandelt?

7. Ersetzung der tierlichen durch menschliche Disposition:


Anthropozentrismus

Der Nothelfer der Tiere würde, wenn er entschiede, ein Tier gemäß § 32 StGB zu
verteidigen, ein menschliches Programm realisieren, das der realen speziesgemäßen
Disposition von Tieren nicht gerecht wird: Diese nehmen nicht selbständig, auch
nicht wie entscheidungsunfähige Menschen durch Stellvertreter, am sozialen Rechts-
verkehr und an der Realisierung des „rechtlich Vernünftigen“ teil. Sie richten sich
zwar oft auf Hilfe, aber nicht willentlich (s. o. 5.) und nicht bewusst gegen einen
rechtswidrigen Angriff auf ein ihnen rechtlich zustehendes Gut und nicht auf Wah-
rung der Rechtsgeltung. Möglich ist auch, dass gequälte Tiere nicht orientiert sind
auf Hilfe durch Verteidigung, sondern darauf, den Quäler zu schonen, so wie sie quä-
lende Leittiere in ihrer Spezies akzeptieren, oder darauf anstelle von Verteidigung,
den Quäler ihrerseits – artkonform möglich bei Raubtieren – anzugreifen, um ihn
zu fressen wie der Löwe, der den Wärter im Zoo zerfleischt. Ihnen das Programm
des § 32 StGB als ihren „normalen“ mutmaßlichen Willen zuzuschreiben, bedeutet
ihnen zuzuschreiben, sie seien eigentlich Menschen, mit ihrer tierlichen Eigenart
seien sie anormal; dies impliziert also eine Negation ihrer tierlichen Eigenart.
Diese aber wäre zu respektieren, wenn Tiere um ihrer selbst willen und als Inhaber
subjektiver Rechte geschützt werden sollten. Das Gebot, Tiere grundsätzlich in ihrer
Art zu respektieren, bestätigt auch das TierSchG, indem es in mehreren Hinsichten
vorgibt, den Tieren ein artgemäßes Leben zu ermöglichen, soweit nicht der Schutz
anderer Arten entgegensteht (vgl. §§ 2 ff. TierSchG), nicht sie an das menschlich
Normale anzupassen. Demgemäß kann dieses menschliche Normale, das die Nothil-
fe für Menschen legitimiert,38 nicht Nothilfe für Tiere begründen.
Das Programm des § 32 bei Verteidigung von Tieren zu realisieren, bedeutet der
Sache nach, Tiere als Rechtsgüter der menschlichen Allgemeinheit zu behandeln,
denn sie werden dabei nach menschlichen Standards behandelt, sind aber nicht
menschliche Individuen; und sie werden nicht in ihrer tierlichen Eigenheit respek-
tiert, was Essential von subjektiver Berechtigung der Tiere wäre.39 Rechtsgüter
der Allgemeinheit aber dürfen nach h. M. in der Regel nicht gemäß § 32 StGB ge-
schützt werden.

38
Jakobs, Kühl, jeweils Fn. 37.
39
Dazu Derrida, Das Tier, das ich also bin, 2. Aufl. 2016, S. 134 f.
788 Rainer Keller

Das menschliche Programm des § 32 StGB bei der Verteidigung von Tieren wie
gezeigt umzusetzen, würde ferner eine Ausweitung jener Anthropozentrik implizie-
ren, die von der Tierethik im Allgemeinen kritisiert wird.40 Das hat nicht nur theo-
retische Bedeutung: Die Notwehrhilfe für Tiere würde durch Menschen realisiert,
die dabei nie rein altruistisch orientiert wären, sondern – wie sozial agierende Men-
schen allemal – stets auch sich selbst legitimieren würden.41 Diese Problematik
wurde in der Diskussion der Verbandsklage thematisiert.42 Bemerkenswert ist,
dass einer der radikalsten Kritiker der anthropozentrischen Mensch/Tier-Differen-
zierung, Jacques Derrida, die Statuierung von subjektiven Rechten für Tiere ablehnt,
weil damit die Macht von Menschen verdeckt würde.43 Legitim kann also der Schutz
der Tiere durch Private gegen drohende Quälerei nur auf Vermeidung von Leiden ori-
entiert werden und dies ist durch § 34 StGB angemessen ermöglicht.
Gegen die hier vertretene Ablehnung der Notwehrhilfe für Tiere könnte einge-
wandt werden, auch bei der unstreitig zulässigen Verteidigung von Embryonen
und komatösen Menschen werde das Programm des § 32 StGB deren konkreter Dis-
position nicht gerecht. Aber komatöse Menschen und Embryonen sind den zurech-
nungsfähigen Menschen normativ näher als Tiere. Die Menschenwürde geht aus vom
Menschen als typischerweise eigenverantwortlichem Wesen, ist aber jedem einzel-
nen Menschen ungeachtet seiner individuellen Qualifikationen, also auch komatösen
Menschen und – eingeschränkt (s. o. 1.) – Embryonen zugewiesen. Mit der Men-
schenwürdegarantie wird die Menschenspezies höher bewertet als Tiere. Deshalb
kann aus der Bewertung von Menschen nicht ohne weiteres eine gleiche Bewertung
von Tieren abgeleitet werden, auch nicht wenn einzelne Tiere empirisch, etwa bezüg-
lich Intelligenz, höher qualifiziert sind als manche Menschen. Derartige Überschnei-
dungen sind bei Speziesdifferenzierungen nie auszuschließen. Davon gehen, wie im
Vorangegangenen (4.) gezeigt, auch Tierrechtsvertreter aus. Es kann also daraus,
dass jedem Menschen, auch komatösen, das menschliche Programm der individuel-
len Verteidigung gemäß § 32 StGB als Gegenstand seiner Entscheidung oder seines
mutmaßlichen Willens zugewiesen wird, nicht geschlossen werden, dass jenes Pro-
gramm auch allen Wirbeltieren zugewiesen werden müsse, auch nicht wenn sie im
Einzelfall besonders qualifiziert sind.
Tierrechtsvertreter nehmen an, Tiere könnten gemäß § 32 StGB verteidigt wer-
den, das normative Gewicht ihrer Rechtsgüter sei jedoch im Vergleich zu den Rechts-
gütern der Menschen gemindert, so dass der subjektivrechtliche Schutz ihrer Rechts-
güter gegen menschliche Angreifer beschränkt sei; dies soll im Kontext der Gebo-
tenheit der Notwehr oder ihrer Angemessenheit berücksichtigt werden.44 Insofern

40
Vgl Derrida (Fn. 39), S. 89 ff., 113 ff., 150 ff.
41
Zur Autopoiesis vgl. Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, 2011, S. 75, 97 ff.
42
Vgl Kloepfer, in: Kloepfer /Kluge (Fn. 30), S. 15.
43
Derrida (Fn. 39), S. 100 f., 134 f., 159, 166.
44
Mit Differenzen im Détail: Greco (Fn. 2), S. 396 f.; Herzog (Fn. 4), S. 195; ablehnend
Frister (Fn. 3), § 16 Rn. 3, 5 Fn. 7 m.w.N.
Nothilfe für Tiere als Anthropozentrik 789

wird die im Vorangegangenen kritisierte Gleichbehandlung der Tiere mit Menschen


partiell vermieden. Diese Modifikation führt jedoch nicht vorbei an der dargestellten
Problematik der Überschreitung der Grenzen der Notwehr durch ausschließlichen
Schutz von Allgemeininteressen.
Die vorliegend angenommene Differenzierung der Spezies Mensch/Tier und die
Höherbewertung der Menschen sind menschliche Setzungen. Dass sie ethisch zu le-
gitimieren seien, wird in der Tierethik teilweise bestritten.45 Darauf kann vorliegend
nicht gründlich eingegangen werden. Dass die Höherbewertung der Menschen fak-
tisch beispielsweise in der industriellen Tierproduktion grausam objektiviert wird, ist
evident. Die Höherbewertung der Menschen kann jedoch in tierethischer Perspektive
immerhin teilweise dadurch legitimiert werden, dass Menschen mit ihrer Selbstüber-
höhung qua Menschenwürde die Verantwortung für Umwelt und Tiere übernehmen46
und rechtlich umsetzen, u. a. durch die Erhaltung von Arten und Umwelt sowie durch
die (derzeit fehlende) konsequente staatliche Umsetzung des Verbots der Tierquäle-
rei. Daran Tiere gleichrangig zu beteiligen, wäre wohl schwierig, weil sie im Allge-
meinen weniger intelligent sind, die Welt weniger umfassend wahrnehmen und
Kommunikation mit ihnen weniger differenziert als mit Menschen möglich ist.
Wenn die Tiere dabei durch Menschen vertreten würden,47 entstünde das dargestellte
Problem der Überlagerung durch menschliche Disposition. Auch die Umsetzung der
menschlichen Verantwortung für Tiere setzt also die Unterscheidung Mensch/Tier
voraus.

8. Beschränkung des staatlichen Gewaltmonopols


und der demokratischen Öffentlichkeit

Bedacht werden sollte schließlich, dass das staatliche Gewaltmonopol mit der Zu-
lassung der Nothilfe für Tiere erheblich eingeschränkt würde,48 insbesondere da die
Notwehrhilfe ausgeübt werden könnte ohne Begrenzung durch einen Willen der be-
troffenen Tiere, allein gestützt auf die Erwägungen der menschlichen Nothelfer, die,
wie gezeigt, nie rein altruistisch motiviert agieren. Im Hinblick darauf sollte, auch
wenn die im Vorangegangenen dargestellten Einwände nicht anerkannt werden,
die Entscheidung über die Zulässigkeit der Nothilfe für Tiere der Gesetzgebung über-
lassen werden.
Dafür spricht auch eine verfassungsrechtliche Problematik, die mit der im Voran-
gegangenen thematisierten Statuierung eines subjektiven Rechts für Tiere verbunden
ist. Subjektive Rechte für die Bewältigung von sozial besonders beachteten Proble-
men einzurichten, entspricht derzeit einer verbreiteten Tendenz. Soziologisch könnte
45
Vgl. Derrida (Fn. 39), S. 150 ff., 196 und passim.
46
Zu der mit der Menschenwürde begründeten Verantwortung der Menschen für Tiere und
Umwelt: Caspar, Tierschutz im Recht der modernen Industriegesellschaft, 1999, S. 87; Raspé,
a.a.O. Fn. 12, S. 88 f.
47
Dazu Latour, Das Parlament der Dinge, 2. Aufl. 2012, S. 116 ff.
48
Dazu Erb (Fn. 39).
790 Rainer Keller

das u. a. mit der zunehmenden Vereinzelung zusammenhängen, die infolge der Ab-
schwächung herkömmlicher sozialer Strukturen eingetreten ist. Juristisch sollte be-
dacht werden49, dass mit der Statuierung von subjektiven Rechten stets eine Zurück-
drängung politischer Öffentlichkeit zugunsten einer Juridifizierung verbunden ist:
Die subjektiven Rechte werden, von der Notwehr abgesehen, in justiziellen Verfah-
ren und Entscheidungen realisiert. Auch im Hinblick darauf sollte die Statuierung
subjektiver Rechte für Tiere der demokratischen Gesetzgebung überlassen werden.

9. Abschließende Bemerkungen

Die Menschenähnlichkeit von Tieren ist nicht soweit gegeben, dass sich daraus im
Kontext des § 32 StGB ein subjektives Recht, von Quälerei verschont zu bleiben, er-
gäbe, denn den Tieren fehlt die Fähigkeit, Recht zu verstehen und sich entsprechend
verantwortlich zu verhalten. Dieses Fehlen wird auch nicht durch die Kompetenz
eines Notwehrhelfers kompensiert. Mit der Nothilfe für Tiere würde ein menschli-
ches Allgemeininteresse in unangemessener Weise geschützt. Die Eigenart der
Tiere würde ignoriert. Die ethisch gebotene Abwendung des Leidens der Tiere ist
primär eine Aufgabe des Staates, die jedoch derzeit unzulänglich erfüllt wird. Die
Abwendung des Leidens der Tiere durch Private ist gemäß § 34 StGB angemessener
möglich als durch Nothilfe.
Die bei im Vorangegangenen zugrunde gelegte Unterscheidung der Tiere von
Menschen ist – wie alle rechtlichen Gegenstandsbestimmungen – eine Setzung.
Ihre Plausibilität hängt zunehmend von der Entwicklung von Naturwissenschaft
und Technik ab.50 Ob an ihr festgehalten werden kann, wenn künftig vermehrt das
Erbgut von Tieren gentechnisch optimiert, Zellen von Menschen in Tier-Embryonen
eingeschleust, Mischwesen erzeugt werden und dergleichen, ist offen, aber auch Ge-
genstand menschlicher Regelung.

49
Zum Folgenden Fischer-Lescano, KritJ 2017, 474 ff. m.w.N.; Kloepfer, in: Kloepfer/
Kluge, (Fn. 30), S. 15; Ladeur, Bitte weniger Rechte, 07. 12. 2016, abrufbar unter https://www.
faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/gastbeitrag-weniger-rechte-bitte-weniger-rechte-
14563957.html.
50
Dazu R. Keller, ZStW 1995, 457.
Rechtspositionen, Rechtsgüter und Rettungsinteressen
in der aktuellen Diskussion zu Problemen
des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB)
Von Ulfrid Neumann

Reinhard Merkel hat sich in zahlreichen Arbeiten mit rechtsphilosophischen


Grundproblemen wie auch mit dogmatischen Details der Institution des rechtferti-
genden Notstands befasst.1 Ich nutze die Gelegenheit der ihm gewidmeten Fest-
schrift, auf einige Fragen einzugehen, die sich infolge neuerer technischer Entwick-
lungen (I.), aufgrund aktueller Gerichtsentscheidungen (II.) sowie aus jüngsten
grundsätzlichen Stellungnahmen im Schrifttum zum Problemkreis des Notstands
und der Pflichtenkollision ergeben (III.).

I. „Schadensmindernde“ Programmierung
autonom fahrender Fahrzeuge
1. Irritationen der Notstandsdogmatik

Die Rechtsfragen, die aus der Entwicklung und dem Einsatz intelligenter Maschi-
nen resultieren, haben der Diskussion zu zahlreichen „klassischen“ dogmatischen
Problemen neue Impulse gegeben. Im Bereich des strafrechtlichen rechtfertigenden
Notstands (§ 34 StGB) scheint die Perspektive einer „schadensmindernden“ Pro-
grammierung autonom fahrender Fahrzeuge die Dynamik zu besitzen, ein traditio-
nelles Prinzip des rechtfertigenden Notstands ins Wanken zu bringen: den Grundsatz,
dass bei der Abwägung von Interessen, wie § 34 StGB sie verlangt, die Zahl der auf
1
Reinhard Merkel, Teilnahme am Suizid – Tötung auf Verlangen – Euthanasie. Fragen an
die Strafrechtsdogmatik, in: R. Hegselmann/R. Merkel (Hrsg.), Zur Debatte über Euthanasie
(1991), 71; ders., Zaungäste? Über die Vernachlässigung philosophischer Argumente in der
Strafrechtswissenschaft (und einige verbreitete Mißverständnisse zu § 34 S. 1 StGB), in: In-
stitut für Kriminalwissenschaften der Universität Frankfurt a.M. (Hrsg.), Vom unmöglichen
Zustand des Strafrechts (1995), 171; ders., Tödlicher Behandlungsabbruch und mutmaßliche
Einwilligung bei Patienten im apallischen Syndrom, ZStW 107 (1995), 545; ders., Früheu-
thanasie (2001); ders., Die Abgrenzung von Handlungs- und Unterlassungsdelikt. Altes,
Neues Ungelöstes, in: Herzberg-FS 2008, S. 193; ders., An den Grenzen von Medizin, Ethik
und Strafrecht: Die chirurgische Trennung so genannter siamesischer Zwillinge, in: Roxin/
Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts (42010), 603; ders., Der Schwanger-
schaftsabbruch, a.a.O. 295; ders., § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und warum darf
der Staat töten?, JZ 2007, 373; ders., Folter und Notwehr, in: Jakobs-FS (2007), 375.
792 Ulfrid Neumann

beiden Seiten betroffenen Menschenleben nicht berücksichtigt werden dürfe. Nach


diesem Prinzip („Keine Abwägung von Leben gegen Leben!“) wäre es jedenfalls
prima facie unzulässig und gegebenenfalls als vorsätzliche Tötung strafbar,2 ein
Kraftfahrzeug so zu programmieren, dass bei einem unvermeidlichen Unfall weniger
Menschen getötet werden, als dies ohne die programmierte Umsteuerung der Fall
wäre. Beispiel: Würde im Fall einer unvermeidlichen Kollision das Fahrzeug
seine Fahrtrichtung beibehalten, so würden 4 Personen (A, B, C, D) getötet, bei
einer (programmierten) Umsteuerung würden 2 Personen (E und F) ihr Leben ver-
lieren. Extrapoliert würde die Zahl der durch den Straßenverkehr verursachten To-
desfälle durch eine entsprechende Programmierung deutlich sinken.
Ein Rückgang der Zahl der Verkehrstoten, wie er in den letzten Jahren und Jahr-
zehnten in Deutschland tatsächlich erreicht werden konnte, ist aber – das dürfte un-
streitig sein – nicht nur politisch, sondern auch ethisch positiv zu bewerten.3 Insofern
würde das Prinzip „keine zahlenmäßige Abwägung von Leben gegen Leben“ in sei-
ner Anwendung auf die „schadensmindernde“ Programmierung autonom fahrender
Kraftfahrzeuge zu kontraintuitiven Konsequenzen führen. Die Frage, ob hier das
Ende des im (deutschen) Strafrecht4 weithin anerkannten „Dogmas“ der Unabwäg-
barkeit von Leben gegen Leben bevorsteht,5 erscheint nur wenig übertrieben.
Nun gibt es zweifellos überzeugende Gründe, die gegen eine quantitative (wie
auch gegen eine qualitative) Abwägung von menschlichen Leben in Notstandssitua-

2
So Engländer, Das selbstfahrende Kraftfahrzeug und die Bewältigung dilemmatischer
Situationen, ZIS 2016, 608 ff.; Sander/Hollering, Strafrechtliche Verantwortlichkeit im Zu-
sammenhang mit automatisiertem Fahren, NStZ 2017, 193 ff.
3
Dazu schon Neumann, Die Programmierung autonomer Fahrzeuge für Dilemma-Situa-
tionen – ein Notstandsproblem?, in: Thomas Rotsch (Hrsg.), Zehn Jahre ZIS – Zeitschrift für
Internationale Strafrechtsdogmatik, 2018, S. 393 (393).
4
Aus der (nahezu uferlosen) moralphilosophischen Diskussion zu dem Problem der (Un-)
Abwägbarkeit von Leben gegen Leben vgl. etwa die bei Hörnle/Wohlers, GA 2018, 12, 17
Fn. 35 zitierten Arbeiten von Philippa Foot und Judith Thomson. Soweit in dieser Diskussion
empirische Erhebungen zur alltagsmoralischen Beurteilung derartiger Konfliktsituationen
einbezogen werden, zeigt sich, dass strukturell parallele Handlungsalternativen je nach Aus-
gestaltung der Situation höchst unterschiedlich beurteilt werden. So wären viele der Befragten
bereit, eine Weiche umzustellen, damit ein herannahender Zug nicht 5 Personen, sondern
„nur“ eine Person erfasst (und tödlich verletzt). Dagegen würden nur wenige einen „dicken
Mann“ von einer Brücke vor einen herannahenden Zug auf ein Gleis stoßen, um so den Zug
abzubremsen und eine (tödliche) Kollision mit einer Gruppe von Personen zu verhindern.
Vermutlich sind es die von Seyla Benhabib betonten, nach ihrer Diagnose in den traditionellen
Ethiktheorien vernachlässigten „emotionalen und affektiven Grundlagen des moralischen
Urteilens und Verhaltens“ (Benhabib, Im Schatten von Aristoteles und Hegel. Kommunikative
Ethik und Kontroversen in der zeitgenössischen praktischen Philosophie in: dies., Selbst im
Kontext. Kommunikative Ethik im Spanungsfeld von Feminismus, Kommunitarismus und
Postmoderne, 1992, S. 33), die hier zu einer unterschiedlichen Beurteilung von Situationen
führen, die aus der Sicht einer rationalen Ethik strukturell parallel liegen.
5
Fahl, Anfang vom Ende des Unabwägbarkeitsdogmas „Leben gegen Leben“ durch
selbstfahrende Kraftfahrzeuge?, in: Joecks-GS, 2019, S. 67.
Rechtspositionen, -güter und -interessen in der aktuellen Diskussion 793

tionen sprechen.6 Zu fragen ist aber, ob das grundsätzliche Verbot dieser Abwägung
die schadensmindernde Programmierung von Fahrzeugen tatsächlich blockieren
sollte. Die Diskussion, die zu dieser Frage begonnen hat, setzt an zwei unterschied-
lichen Punkten an. Zum einen wird in Zweifel gezogen, ob das Institut des rechtfer-
tigenden Notstands (§ 34 StGB), auf das das Verbot einer Abwägung von Leben
gegen Leben zugeschnitten ist, hier dogmatisch tatsächlich die richtige Adresse
ist: strukturell, so die Argumentation, gehe es eher um eine Kollision von Rettungs-
pflichten, so dass ein Rückgriff auf die Regeln der Pflichtenkollision nahe liege.7
Zum andern wird erwogen, das Prinzip „keine zahlenmäßige Abwägung von
Leben gegen Leben“ grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen und seine Reichweite
gegebenenfalls zu begrenzen.8

2. Rückgriff auf die Regeln der Pflichtenkollision

Was den ersteren Ansatz betrifft, so ist aus meiner Sicht hier vor allem von Be-
deutung, dass das zentrale Argument für das Prinzip „Keine Abwägung von
Leben gegen Leben“ in den Fällen einer schadensmindernden Programmierung
von Fahrzeugen nicht greift. Dieses Argument besagt, die Lebensgefahr dürfe
nicht von gefährdeten auf nicht gefährdete Personen verlagert werden – auch dann
nicht, wenn dadurch die Zahl der Opfer erheblich verringert werden könnte. Die ge-
läufige Formulierung lautet, der Täter dürfe „nicht Schicksal spielen“, indem er die
Gefahr auf bisher nicht gefährdete Personen abwälze.
Um eine solche Verlagerung der Gefahr von gefährdeten auf nicht gefährdete Per-
sonen geht es in dem hier als leading case dienenden Weichensteller-Fall. Die Gefahr
droht hier allein den Personen, die der außer Kontrolle geratene Zug erfassen wird,
lässt man dem Schicksal seinen Lauf. Der Eingriff in das Geschehen (Umstellen der
Weiche) verlagert diese Gefahr auf nicht gefährdete Personen. Die betroffenen Per-
sonen sind nicht nur als numerische Größen präsent, sondern zum Zeitpunkt des
möglichen Eingriffs in das Geschehen auf beiden Seiten identifizierbar. Um die Per-
sonen E, F, G, H, I, K zu retten, würden die Personen L, M, N geopfert. Dass dies nicht
zulässig wäre, entspricht dem allgemeinen und gut begründeten Konsens.
Bei der „schadensmindernden“ Programmierung eines autonom fahrenden Fahr-
zeugs ist die Konstellation eine andere. Hier kann zum Zeitpunkt der Handlung (Pro-
grammierung) nicht zwischen gefährdeten und nicht gefährdeten Personen unter-
schieden werden. Es kann folglich auch keine Rede davon sein, dass die Gefahr
von gefährdeten Personen auf nicht gefährdete verlagert würde. Ob die konkreten
Personen (A, B, L, M …) bei einem unvermeidbaren Unfall durch die programmierte
6
Zusammenfassend NK-StGB/Neumann, 5. Aufl. 2017, § 34 Rn. 74 ff.
7
Weigend, ZIS 2017, 599, 603; Neumann, Die Programmierung autonomer Fahrzeuge für
Dilemma-Situationen – ein Notstandsproblem?, in: Thomas Rotsch (Hrsg.), Zehn Jahre ZIS –
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik, 2018, S. 393 ff.
8
Hörnle/Wohlers, GA 2018, 12 ff.
794 Ulfrid Neumann

Umsteuerung des Fahrzeugs der Lebensgefahr ausgeliefert oder aber vor ihr gerettet
würden, ist völlig offen. Bei der Programmierung kommen Personen tatsächlich nur
als numerische Größen, nicht aber als Individuen in Betracht.
Anders formuliert: für alle Individuen bedeutet die schadensmindernde Program-
mierung, dass sich ihre Chancen, vor einem Verkehrsunfall bewahrt zu bleiben, er-
höhen. Richtig ist natürlich, dass man in der konkreten Situation des „Umsteuerns“
zwischen gefährdeten (bei einer Geradeausfahrt von dem Fahrzeug erfassten) und
nicht gefährdeten (im Falle der Änderung der Fahrtrichtung erfassten) Personen un-
terscheiden kann. Aber dies kann aus zwei Gründen nicht entscheidend sein. Zum
einen würde dem Unterschied zwischen dem Geradeauslauf des Fahrzeugs und
der Änderung seiner Fahrtrichtung sonst eine normative Bedeutung zugemessen,
die bei Bewegungsabläufen, die ständig von Steuerungsvorgängen bestimmt werden,
nicht plausibel ist. Zum andern aber liegt zu diesem Zeitpunkt keine Handlung vor,
die an dem Maßstab des § 34 StGB gemessen werden könnte. Die Reaktion des Fahr-
zeugs erfolgt automatisiert; die für diese Reaktion verantwortliche Handlung (Pro-
grammierung) liegt im Vorfeld und kann sich, wie gezeigt, nicht an der Unterschei-
dung zwischen Gefährdeten und Nichtgefährdeten orientieren. Zum Zeitpunkt der
Programmierung geht es nicht um einen Rettungs-„Eingriff“ in Integritätsinteressen,
sondern um die Optimierung von Rettungschancen. Es liegt deshalb nahe, hier auf die
Regeln der Pflichtenkollision zurückzugreifen.9

3. Mögliche Einschränkungen des Verbots


der Abwägung „Leben gegen Leben“

Löst man das Problem der Zulässigkeit schadensmindernder Programmierung au-


tonom fahrender Fahrzeuge in dieser Weise, dann ist zur Bewältigung dieses Pro-
blems eine Einschränkung des Verbots der Abwägung von „Leben gegen Leben“,
wie es für den Anwendungsbereich des § 34 StGB anerkannt ist, nicht erforderlich.
Denn in der Konstellation der Pflichtenkollision ist es dem Handlungspflichtigen
(zumindest) freigestellt, sich bei seiner Entscheidung an der Zahl der jeweils zu ret-
tenden Menschenleben zu orientieren.10 Gleichwohl gibt die Diskussion Anlass, die
Reichweite dieses Verbots zu überdenken.
Einen Ansatzpunkt dafür bietet die schon bisher im Schrifttum zu findende Auf-
fassung, dass für das Verbot der quantitativen Abwägung von Menschenleben im
strafrechtlichen Notstand seinerseits quantitative Begrenzungen zu erwägen seien.
9
Näher dazu Neumann, Die Programmierung autonomer Fahrzeuge für Dilemma-Situa-
tionen – ein Notstandsproblem?, in: Thomas Rotsch (Hrsg.), Zehn Jahre ZIS – Zeitschrift für
Internationale Strafrechtsdogmatik, 2018, S. 393 ff. In der gleichen Richtung Weigend, ZIS
2017, 603; Susanne Beck, Das Dilemma-Problem und die Fahrlässigkeitsdogmatik, in: Hil-
gendorf (Hrsg.), Autonome Systeme und neue Mobilität, 2017, S. 117, 134: Greco, Autonome
Kraftfahrzeuge und Kollisionslagen, in: Kindhäuser-FS 2019, S. 167, 171 ff.
10
Dazu NK-StGB/Neumann, 5. Aufl. 2017, § 34 Rn. 132a; Roxin, Strafrecht Allgemeiner
Teil Band I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 121.
Rechtspositionen, -güter und -interessen in der aktuellen Diskussion 795

So wird bezweifelt, dass sich dieses Verbot auch bei „extremen Zahlendifferenzen“
durchhalten lasse.11 In der Tat verliert dieses Verbot umso mehr an Plausibilität, je
größer diese Differenzen werden. Das lässt sich verdeutlichen, wenn man den Wei-
chensteller-Fall etwas variiert:
Der für den Betrieb der Schleusenanlage an einem Staudamm zuständige Tech-
niker erkennt, dass Wassermassen, die infolge des Bruchs eines höher gelegenen
Staudamms in das untere Staubecken geströmt sind, innerhalb kurzer Zeit auch die-
sen unteren Staudamm zerstören und dann eine Ortschaft überfluten werden, in der
voraussichtlich tausende Menschen zu Tode kommen werden. Die einzige Möglich-
keit, dies abzuwenden, besteht darin, ein Schleusentor zu öffnen, auf diese Weise
einen Teil des Wassers in einen Seitenkanal strömen zu lassen und so Druck von
dem Staudamm zu nehmen. Auf dem Seitenkanal ist allerdings ein Paddler unter-
wegs, der beim Öffnen des Schleusentores ums Leben kommen wird („Schleusen-
wärter-Fall“).
Hier liegt eindeutig ein Rettungseingriff in ein Integritätsinteresse vor; der Fall ist
also nicht über die Regeln der Pflichtenkollision zu lösen. Geht man davon aus, dass
bei einem Bruch des Staudamms auch der Paddler ums Leben kommen würde, könn-
te man zu einer Rechtfertigung anhand von Regeln gelangen, die für Konstellation
der „asymmetrischen Gefahrengemeinschaft“ entwickelt wurden, soweit die Dauer
der Zeitspanne, um die das Leben des Paddlers verkürzt wird, nicht entgegensteht.12
Auch diese Lösung scheidet aber aus, wenn man annimmt, dass der Seitenkanal, auf
dem der Paddler unterwegs ist, so verläuft, dass dieser von einem Bruch des Stau-
damms nicht betroffen wäre.
Nach den anerkannten Regeln des rechtfertigenden Notstands käme eine Recht-
fertigung nach § 34 StGB jedenfalls in der letztgenannten Konstellation nicht in Be-
tracht. Dieses Ergebnis ist in so hohem Maße kontraintuitiv, dass es der Überprüfung
durch eine detaillierte wissenschaftliche Diskussion bedarf. Das Ergebnis dieser Dis-
kussion kann hier selbstredend nicht vorweggenommen werden. In Betracht kom-
men drei Möglichkeiten;
(1) Man bezieht eine „heroische“ Position und nimmt in Kauf, dass der Schleusen-
wärter von Rechts wegen den Staudamm brechen und zahlreiche Bewohner der
Ortschaft ertrinken lassen muss, um das Prinzip „keine Abwägung von Leben
gegen Leben“ nicht einschränken zu müssen.

11
Joerden, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Bd. 2
(Allgemeiner Teil 1), 2019, § 39 („Rechtfertigender Notstand“) Rn. 40. Die Rede ist dort von
einem Verhältnis 1 zu 1 Million.
12
Näher zu dieser Konstellation NK-StGB/Neumann, 5. Aufl. 2017, § 45 Rn. 76 ff. Be-
achtliche Bedenken gegen die Rechtfertigung einer „Rettungstötung“ (auch) in der Konstel-
lation einer asymmetrischen Gefahrengemeinschaft für den Fall, dass mit ihr eine (auch ge-
ringfügige) Lebensverkürzung verbunden ist, bei K. Günther, Extreme Notstandssituationen
und die Selbstaufhebung des Rechts, in: Neumann-FS 2017, S. 825.
796 Ulfrid Neumann

(2) Man versucht, dieses Prinzip dahingehend einzuschränken, dass bei einer dras-
tischen Differenz zwischen der Zahl der zu rettenden und der der zu opfernden
Personen ein „wesentliches Überwiegen“ des Rettungsinteresses zu bejahen ist.
Dieses Modell stößt allerdings auf zwei Schwierigkeiten. Zum einen ist, da das
Leben ein individuelles Rechtsgut ist, fraglich, ob im Rahmen der Abwägung
eine Addition von Menschenleben die Waagschale zugunsten einer (auch: dras-
tischen) Mehrzahl sinken lassen kann.13 Zum andern bliebe die intrikate und
wohl kaum lösbare Aufgabe, eine Grenze zu markieren, jenseits derer eine
„drastische“ zahlenmäßige Differenz anzunehmen wäre.14
(3) Die dritte Möglichkeit bestünde darin, den in der Diskussion gelegentlich auf-
tauchenden und in der angloamerikanischen Diskussion geläufigen15 Gesichts-
punkt des „kleineren Übels“ heranzuziehen und ihn in das System der strafrecht-
lichen Rechtfertigungsgründe zu integrieren. Anzuschließen wäre dabei an die
Erwägung, dass sich die Rettungshandlung in diesen Fällen auch jenseits der
Reichweite der Rechtfertigungsgründe des Notstands (§ 34 StGB) und der
Pflichtenkollision als (relativ) „situationsadäquates Verhalten“ darstellen
kann.16 Dieser Gesichtspunkt, der bisher zur Annahme eines entschuldigenden
übergesetzlichen Notstands herangezogen wird17, bezieht sich nicht auf die Mo-
tivation des Handelnden, sondern auf die Struktur der Verhaltensalternative und
wäre deshalb folgerichtig nicht im Bereich der Entschuldigung, sondern in dem
der Rechtfertigung bzw. der Annahme der „Unverbotenheit“ der Rettungshand-
lung zu verorten.
Welche dieser Lösungen sich als am besten begründbar erweisen wird, bleibt ab-
zuwarten. Die Diskussion hat erst begonnen.

13
Dazu überzeugend Merkel, Zaungäste? (Fn. 1), S. 187 ff.
14
Nicht einschlägig erscheint mir dagegen das geläufige Argument, eine Vielzahl von
Menschenleben könne schon deshalb ein einzelnes Leben nicht überwiegen, weil jedes
Menschenleben einen unendlichen Wert habe und die Multiplikation von „Unendlich“ ma-
thematisch nichts anderes als wiederum „Unendlich“ ergeben könne. Zum einen ist, bei-
spielsweise in Hinblick auf die nach ganz herrschender Meinung auch zur Verteidigung von
Sachwerten zulässige Tötung eines Angreifers in Notwehr, die Prämisse, dass die Rechts-
ordnung jedem Menschenleben einen unendlichen Wert zuerkenne, wenig überzeugend. Zum
andern ist die Übertragung mathematischer Relationen auf die eher rechtsethisch-wertende
Kennzeichnung des Menschenlebens als „unendlicher Wert“ problematisch. Schließlich kennt
auch die Mathematik die Denkform des Über-Unendlichen und lässt in diesem Bereich Dif-
ferenzierungen nach der „Mächtigkeit“ zu. Anhand eines schlichten Beispiels: Wenn jeder
Kreis „unendlich viele“ Radien hat, ist es gleichwohl sinnvoll, zu sagen, dass die Anzahl der
Radien in zwei Kreisen größer ist als die in nur einem Kreis.
15
Dazu Hörnle/Wohlers, GA 2018, 12, 17.
16
Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 20/41.
17
Dazu NK-StGB/Neumann, 5. Aufl. 2017, § 35 Rn. 60.
Rechtspositionen, -güter und -interessen in der aktuellen Diskussion 797

II. Das „Tierwohl“ als notstandsfähiges Rechtsgut


1. Aktuelle Gerichtsentscheidungen

Große Resonanz in der Strafrechtswissenschaft haben zwei Urteile aus den Jahren
2017 und 2018 gefunden, in denen die Anwendbarkeit des § 34 StGB auf tatbestands-
mäßige (§ 123 StGB) Handlungen bejaht wurde, die dem Schutz des Tierwohls dien-
ten.18 Tierschützer waren in die Stallungen eines Schweinemastbetriebs eingedrun-
gen, um Aufnahmen von Verstößen gegen Tierschutzbestimmungen zu machen. Das
OLG Naumburg und das LG Marburg (als Vorinstanz) bejahten eine Rechtfertigung
nach § 34 StGB und damit die Notstandsfähigkeit eines (strukturell unterschiedlich
verstandenen)19 Rechtsguts des Tierwohls. Unter dem letzteren Gesichtspunkt sind
die Entscheidungen von besonderer Bedeutung, weil sie die umstrittene Frage betref-
fen, wie der Bereich der „Interessen“, die nach § 34 StGB zu berücksichtigen sind,
abzugrenzen ist. In Betracht kommen zwei Alternativen: Zum einen die von indivi-
duellen und kollektiven Interessen, konkurrierend die von menschlichen Interessen
und Interessen anderer Lebewesen.

2. Notstandsfähigkeit kollektiver Rechtsgüter?

Nach h. M. sind kollektive Interessen in gleicher Weise notstandsfähig wie indi-


viduelle.20 Indes ist § 34 StGB sowohl nach dem zugrunde liegenden Prinzip der So-
lidarität als auch nach seinem Wortlaut auf den Schutz individueller Rechtsgüter zu-
geschnitten.21 Die Hervorhebung von Leben, Leib, Freiheit, Ehre und Eigentum in
§ 34 Satz 1 StGB lässt, auch wenn sie nur exemplarischen Charakter hat und deshalb
die Berücksichtigung kollektiver Rechtsgüter nicht ausschließt, doch erkennen, dass

18
OLG Naumburg, Urteil vom 22. 02. 2018 – 2 Rv 157/17 = NJW 2018, 2064. Zuvor LG
Magdeburg (8. Strafkammer), Urteil vom 11. 10. 2017 – 28 Ns 182 Js 32201/14 (74/17) = StV
2018, 335 = JuS 2018, 83. Aus dem Schrifttum: Greco, Tiernothilfe, JZ 2019, 390 (der vor
allem § 32 StGB prüft und bejaht); Hecker, JuS 2018, 83; Hotz, NJW 2018, 2066; Scheuerl/
Glock, NStZ 2018, 448. Ferner Stam, Notstandshandlungen zugunsten von Kollektivrechts-
gütern am Beispiel des Tierschutzes – Überlegungen anlässlich des Urteils des OLG Naum-
burg vom 22. 2. 2018 – 2 Rv 157/17, in: Stam/Werkmeister (Hrsg.), Der Allgemeine Teil des
Strafrechts in der aktuellen Rechtsprechung, 2019, S. 171 ff.
19
Dazu Scheuerl/Glock, NStZ 2018, 448, 449.
20
BGH NStZ 1988, 559 (Volksgesundheit); Lackner/Kühl/Heger, StGB, 29. Aufl. 2018,
§ 34 Rn. 4; Schönke/Schröder/Perron, StGB, 30. Aufl. 2019, § 34 Rn. 10; Fischer, StGB,
66. Aufl. 2019, § 34 Rn. 5; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht Allgemeiner
Teil 12. Aufl. 2016, § 15 Rn. 76; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 13/10;
Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2017, § 8 Rn. 21; Pawlik, Der rechtfertigende
Notstand, 2002, S. 181 m. Fn. 5.
21
Für den Ausschluss von Rechtsgütern der Allgemeinheit deshalb SK-StGB/Günther,
9. Aufl. 2017, § 34 Rn. 23; Matt/Renzikowski/Engländer, Strafgesetzbuch, 2013, § 34 Rn. 17.
798 Ulfrid Neumann

es jedenfalls in erster Linie um den Schutz individueller Interessen geht.22 Richtig


dürfte deshalb sein, kollektive Rechtsgüter nur dann in den Schutzbereich des
§ 34 StGB einzubeziehen, wenn sie sich auf individuelle Rechtsgüter zurückführen
lassen.23 Das gilt beispielsweise für das Rechtsgut der Verkehrssicherheit,24 das mit-
telbar auch Individualrechtsgüter wie Leben und körperliche Integrität schützt.25
Es erscheint naheliegend, das Problem mit dem OLG Naumburg bei der Frage der
Notstandsfähigkeit von kollektiven Interessen zu lokalisieren26 (und im Sinne der
herrschenden Meinung zu lösen). Tatsächlich aber liegt die Frage, ob das Tierwohl
ein notstandsfähiges Rechtsgut im Sinne des § 34 StGB ist, quer zu der Alternative
von individuellen und kollektiven Interessen, wie sie die bisherige Diskussion struk-
turiert. Denn diese Alternative bezieht sich allein auf menschliche Interessen; das
Problem, um das es vorliegend geht, betrifft aber die Frage, ob auch die Interessen
von Tieren als mögliche Rettungsinteressen in den Anwendungsbereich des § 34
StGB einbezogen werden sollen.

3. „Personale“ und „interessenbasierte“ Rechtsgutslehre

Diese Frage liegt parallel zu dem in der Rechtsgutslehre erörterten Problem, ob


und in welchem Sinne das Tierwohl als strafrechtlich schützenswertes Rechtsgut an-
zuerkennen ist. Insbesondere die personale Rechtsgutslehre stößt hier prima facie
auf erhebliche Schwierigkeiten, die sich aber überwinden lassen, wenn man auf
den Grundgedanken dieser Lehre zurückgreift. Denn es geht der personalen Rechts-
gutslehre zentral darum, Rechtsgüter an individuelle Interessen zurückzubinden. Die
entscheidende Frage heißt deshalb, ob die Rechtsordnung Interessen von Tieren an-
erkennt, die für strafrechtlich schützenswert zu erachten sind. Diese Frage ist jeden-
falls nach dem heutigen Stand von Rechtsethik, Rechtsdogmatik und Gesetzgebung
zu bejahen. Dass es bei dem Schutz von Tieren um individuelle Interessen geht, dürf-
te nicht zu bestreiten sein. Körperliche Integrität (Vermeidung von Schmerzen) und
Leben sind nicht nur im Humanbereich Interessen des konkret oder potentiell betrof-
22
Ebenso LK-Zieschang, 13. Aufl. 2019, § 34 Rn. 48, der jedoch im Ergebnis auch kol-
lektive Rechtsgüter als notstandsfähig anerkennt. Zweifelnd hinsichtlich der Berücksichti-
gungsfähigkeit kollektiver Interessen in Hinblick auf den Wortlaut des § 34 StGB Keller,
Rechtliche Grenzen der Provokation von Straftaten, 1989, S. 279.
23
NK-StGB/Neumann, 5. Aufl. 2017, § 34 Rn. 22. Ebenso Frister, Strafrecht Allgemeiner
Teil, 8. Aufl. 2018, 17/2; ähnl. SK-StGB/Günther, 9. Aufl. 2017, § 34 Rn. 24.
24
BayObLG NJW 2000, 888; zum Rechtsgut der Sicherheit des Luftverkehrs ebenso OLG
Düsseldorf NJW 2006, 630.
25
Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil. 8. Aufl. 2017, § 8 Rn. 29.
26
So (in Bezug auf das thematisierte Urteil des OLG Naumburg zutreffend) Stam, Not-
standshandlungen zugunsten von Kollektivrechtsgütern am Beispiel des Tierschutzes –
Überlegungen anlässlich des Urteils des OLG Naumburg vom 22. 2. 2018 – 2 Rv 157/17, in:
Stam/Werkmeister (Hrsg.), Der Allgemeine Teil des Strafrechts in der aktuellen Rechtspre-
chung, 2019, S. 171 ff. Zu der entsprechenden Argumentation des OLG Naumburg („Tier-
schutz“ als notstandsfähiges Rechtsgut) krit. Scheuerl/Glock NStZ 2018, 448, 449.
Rechtspositionen, -güter und -interessen in der aktuellen Diskussion 799

fenen einzelnen Lebewesens. Eine interessenbasierte Rechtsgutslehre ist in der


Lage, auch Interessen von Mit-Lebewesen zu berücksichtigen. Normativ könnte
die Rechtsgutslehre hier auf den Gesichtspunkt der auf Empathie gegründeten Soli-
darität mit anderen Lebewesen zurückgreifen.27
Die seit längerer Zeit in der Strafrechtswissenschaft geführte, jetzt auch in der
Rechtsprechung „angekommene“ Diskussion zum Rechtsgut der Tierschutzbestim-
mungen könnte somit Anlass geben, die „personale“ Rechtsgutslehre zu einer „inter-
essenbasierten“ Rechtsgutslehre fortzuentwickeln.

III. Grenzen des Anwendungsbereichs


des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB)
Die Diskussion zu Struktur und Anwendungsbereich des rechtfertigenden Not-
stands hat in den letzten Jahren insbesondere durch grundlegende Arbeiten von Wil-
fried Küper neue Impulse erhalten.28 Einen Schwerpunkt bildet dabei die Frage, ob
die Institution des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) lediglich auf eine Tatbe-
gehung durch aktives Handeln, oder aber auch auf Unterlassungen (unechte Unter-
lassungsdelikte) anzuwenden ist. Soweit es um die Kollision einer (Prima facie-)
Handlungspflicht mit einer anderen (Prima facie-)Handlungspflicht geht, hängt
damit die Frage der normlogischen Struktur der rechtfertigenden Pflichtenkollision
und des Grenzverlaufs zwischen Pflichtenkollision und rechtfertigendem Notstand
zusammen.

1. Vorbehalte gegen die Anwendung des § 34 StGB


auf Unterlassungen

Die Frage, ob das Institut des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) auch auf
Unterlassungen anwendbar ist, ist im Schrifttum umstritten. Das Fragezeichen,
das hier zu setzen ist, ergibt sich einerseits aus dem Text des § 34 StGB, andererseits
aus Zweifeln an der praktischen Notwendigkeit und damit der dogmatischen Funk-

27
Dazu schon NK-StGB/Hassemer/Neumann, 5. Aufl. 2017, Vor § 1 Rn. 119e. Näher
Neumann, Rechtsgut, Verfassung und die Grenzen des Strafrechts, in: L. Greco/A. Martíns
(Hrsg.), Direito penal como crítica da pena. Estudos em homenagem a Juarez Tavares por seu
70. aniversário, Madrid/Barcelona/Buenos Aires/São Paulo, 2012, S. 519 ff. (in portugiesi-
scher Sprache).
28
Küper, Probleme der „defizitären“ rechtfertigenden Pflichtenkollision, JuS 2016, 1070;
ders., Die Kollision von Garantenpflichten und die Rechtfertigung pflichtwidrigen Unterlas-
sens, in: Neumann-FS 2017, S. 93 ff.; ders., Kollidierende Pflichtenmehrheit oder singuläre
Pflichteneinheit? – Zur Rekonstruktion und Rehabilitierung der rechtfertigenden Pflichten-
kollision, Rengier-FS 2018, S. 67; ders., Die Anwendung des rechtfertigenden Notstandes
beim unechten Unterlassungsdelikt, ZStW 131 (2019), S. 1 ff.
800 Ulfrid Neumann

tionalität einer Anwendung der Notstandsbestimmung (§ 34 StGB) auf Unterlassun-


gen.

a) Wortlaut des § 34 StGB

Was den Wortlaut des § 34 StGB betrifft, so ist er offensichtlich auf die Begehung
einer „Tat“ durch aktives Handeln zugeschnitten.29 Das ergibt sich vor allem aus der
Voraussetzung, dass die Tat geeignet sein muss, eine für ein Rechtsgut drohende Ge-
fahr abzuwenden. Offensichtlich wird hier vorausgesetzt, dass mit der Tat „aktiv“ in
einen Kausalverlauf eingegriffen wird, der ohne diesen Eingriff zu einer Schädigung
eines Rechtsguts zu führen droht. Dementsprechend betreffen auch die typischen
Beispiele für Notstandssituationen, die zu einer Rechtfertigung einer Tat nach
§ 34 StGB führen, Fälle eines aktiven Handelns.

b) Dogmatische Leistungsfähigkeit

Die Frage, ob die Anwendung des § 34 StGB auf Unterlassungen einen dogma-
tischen „Mehrwert“ ergibt (Problem der praktischen Notwendigkeit), stellt sich des-
halb, weil die fraglichen Fälle jedenfalls prima facie auch in anderer Weise befrie-
digend gelöst werden können. Hier sind zwei Konstellationen zu unterscheiden. In
der einen kollidiert eine (jedenfalls prima facie bestehende) Handlungspflicht (Ret-
tungspflicht), deren Verletzung als Unterlassung strafbar sein könnte, mit einem Ver-
bot, andere Rechtsgüter zu beeinträchtigen (Kollision einer Handlungs- mit einer
Unterlassungspflicht). Beispiel: Ein Arzt kann das Leben eines Patienten nur
durch eine Bluttransfusion retten, die eine zwangsweise Blutentnahme bei einer Pra-
xismitarbeiterin erfordern würde. In der anderen Konstellation besteht ein Konflikt
zwischen zwei Handlungspflichten, von denen nur eine erfüllt werden kann. Beispiel:
Von seinen zwei Kindern, die beim Spielen in einen reißenden Fluss gestürzt sind,
kann der Vater nur eines vor dem Ertrinken bewahren.

aa) Kollision einer Handlungs- mit einer Unterlassungspflicht

Im ersteren Fall (Bluttransfusion) liegt es nahe, die Lösung nicht bei der Frage
einer Notstands-Rechtfertigung der Verletzung der (prima facie bestehenden) Ret-
tungspflicht, sondern bei der Frage einer möglichen Rechtfertigung des Eingriffs
zu suchen, der zur Erfüllung einer solchen Pflicht erforderlich wäre. Anhand des Bei-
spiels: Der Arzt kann in dieser Situation nur dann verpflichtet sein, das Leben des
Patienten durch eine Bluttransfusion zu retten, wenn er berechtigt ist, bei einer an-
deren Person gegen deren Willen eine Blutentnahme durchzuführen.30

29
So auch Küper, ZStW 131 (2019), S. 2.
30
Zu dieser Streitfrage vgl. einerseits (bejahend) Roxin, Strafrecht AT/I, § 16 Rn. 48/49;
andererseits (verneinend) Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 10. Aufl. 2018, § 19 Rn. 60.
Rechtspositionen, -güter und -interessen in der aktuellen Diskussion 801

Die Frage heißt dann nicht, ob die Unterlassung der Bluttransfusion (und damit
der Rettung des Lebens des Patienten) nach Notstandsregeln (§ 34 StGB) gerechtfer-
tigt ist, sondern: ob der rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB) zugunsten der zwangs-
weisen Blutentnahme eingreift. Ist dies der Fall, dann ist der Arzt als Garant zu Blut-
entnahme und -transfusion verpflichtet. Andernfalls wäre die Blutentnahme rechts-
widrig. Die Rechtfertigung der Unterlassung (der Rettung des Patienten) ergibt sich
dann nicht daraus, dass zugunsten dieser Unterlassung der Rechtfertigungsgrund des
§ 34 StGB eingreifen würde, sondern daraus, dass der für die Rettungshandlung er-
forderliche Eingriff (Blutentnahme) nicht durch § 34 StGB gerechtfertigt ist.31
Für dieses Modell spricht, dass die Anwendung des nicht modifizierten32 § 34
StGB (auch) auf die Unterlassung zu einem Widerspruch führen würde. Denn bei an-
nähernder Gleichwertigkeit des Rettungs- und des Integritätsinteresses wäre die Un-
terlassung des Rettungseingriffs nicht gerechtfertigt, da das Rettungsinteresse dann
nicht „wesentlich“ überwiegen würde (Anwendung des § 34 StGB auf die Unterlas-
sung). Aus dem gleichen Grund wäre aber auch der Rettungseingriff nicht gerecht-
fertigt (Anwendung des § 34 StGB auf das aktive Tun).

bb) Kollision zweier Handlungspflichten

Im zweiten Fall (Beispiel für die Kollision zweier Handlungspflichten) kann die
Unterlassung der Rettung des dann dem Tod durch Ertrinken ausgelieferten Kindes,
so die nahe liegende Argumentation, schon deshalb nicht anhand der Regelung des
§ 34 StGB gerechtfertigt werden, weil es an der Voraussetzung eines Überwiegens
(und damit erst recht: eines „wesentlichen“ Überwiegens) des geretteten „Interesses“
fehlt. Die ganz herrschende Meinung greift bei dieser Konstellation deshalb nicht auf
den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB), sondern auf das Institut der Pflichtenkol-
lision zurück. Gemäß den Regeln der Pflichtenkollision handelt nicht rechtswidrig,
wer bei einer Kollision von Rettungspflichten die höher- oder jedenfalls gleichwer-
tige33 Pflicht erfüllt. Danach wäre der Vater, der eines seiner beiden Kinder rettet (und
nur eines retten kann), hinsichtlich der Nichtrettung des anderen Kindes gerechtfer-
tigt.

31
Näher dazu unter III. 2. b) a.E.
32
Zur notwendigen „Umkehrung“ des Abwägungsmaßstabs des § 34 StGB bei Anwen-
dung auf Unterlassungen s. unter III. 2. b).
33
Die herrschende Auffassung lässt zur Rechtfertigung die Erfüllung einer gleichwertigen
Pflicht genügen (Nachw. bei NK-StGB/Neumann, 5. Aufl. 2017, § 34 StGB Rn. 124 m.
Fn. 594. Nach der Gegenmeinung soll im Fall einer Kollision gleichwertiger Pflichten nur eine
Entschuldigung in Betracht kommen (Nachw. bei NK-StGB/Neumann a.a.O. Rn. 133 m.
Fn. 623).
802 Ulfrid Neumann

cc) Zwischenbilanz zur Anwendbarkeit des § 34 StGB auf Unterlassungen

Es liegt damit folgende Zwischenbilanz nahe: In den wichtigsten Konstellationen,


in denen an eine Rechtfertigung von Unterlassungen durch § 34 StGB gedacht wer-
den könnte, erweist sich der Rückgriff auf diese Bestimmung nicht als hilfreich. Geht
es um die Kollision einer Rettungspflicht mit einer Unterlassungspflicht, dann ent-
scheidet sich die Frage der Rechtswidrigkeit der Unterlassung der Rettungshandlung
danach, ob der mit der Rettungshandlung notwendig verbundene, prima facie verbo-
tene Eingriff ausnahmsweise nach den Regeln des rechtfertigenden Notstands (§ 34
StGB) erlaubt ist. Im Falle einer Kollision mehrerer Rettungspflichten erscheint ein
Rückgriff auf den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) weder weiterführend (da er
ein wesentliches Überwiegen des geretteten Interesses voraussetzt) noch erforder-
lich, weil hier das Institut der Pflichtenkollision eine angemessene Lösung ermög-
licht. Die von Küper nachdrücklich vertretene34 und auch im Schrifttum verschie-
dentlich zu findende35 Auffassung, dass § 34 StGB, direkt oder analog,36 auch auf
Unterlassungen anwendbar sei, verdient deshalb eine nähere Prüfung. Dabei ist zwi-
schen der Kollision einer Handlungs- mit einer Unterlassungspflicht einerseits, der
Kollision zweier Handlungspflichten andererseits zu unterscheiden.

2. Kollision einer Handlungspflicht mit einer Unterlassungspflicht

Die Probleme, die sich dem Versuch entgegenstellen, § 34 StGB im Falle der Kol-
lision einer Handlungs- mit einer Unterlassungspflicht auf die (unechte) Unterlas-
sung (= Verletzung der Handlungspflicht) anzuwenden, betreffen nach dem Gesag-
ten einerseits die Voraussetzungen einer Notstandslage, andererseits den Maßstab der
Interessenabwägung.

a) Voraussetzungen einer Notstandslage

Die Feststellung, dass § 34 StGB seinem Wortlaut nach auf Begehungstaten zu-
geschnitten ist (dazu oben), schließt es nicht aus, die Bestimmung auch auf Unter-
lassungen anzuwenden, soweit das sprachlich und nach der Struktur der Regelung
möglich ist.
Hinsichtlich des Merkmals der Begehung einer „Tat“ ergeben sich hier keine nen-
nenswerten Probleme. Auch in anderen Bestimmungen, etwa in § 20 StGB, wird der
Begriff der „Begehung der Tat“ auch auf Unterlassungen bezogen. Fraglich ist aber,
ob man davon sprechen kann, dass der Unterlassende handelt, um eine „Gefahr“ von
34
Küper, ZStW 131 (2019), S. 1 ff.
35
Ausf. Nachw. bei Küper, a.a.O., S. 3 – 15.
36
Küper plädiert im Falle einer Kollision mehrerer Rettungspflichten für eine direkte, bei
einer Kollision einer Unterlassungspflicht mit einer Handlungspflicht (hinsichtlich der
Rechtfertigung der Unterlassung) für eine analoge Anwendung des § 34 StGB (a.a.O. S. 19).
Näher dazu unter III. 3. a) bei Fn. 53.
Rechtspositionen, -güter und -interessen in der aktuellen Diskussion 803

sich oder einem anderen abzuwenden. Denn: dem Integritätsinteresse, das der prima
facie Handlungspflichtige respektiert, droht in der Situation gerade keine Gefahr.
Eine Gefahr besteht vielmehr für das Rettungsinteresse, das der Unterlassende
aber, da er auf die Rettungshandlung verzichtet, gerade nicht vor einer Schädigung
bewahrt. Anhand des Beispiels: Eine Gefahr droht dem Patienten, der ohne eine so-
fortige Bluttransfusion sein Leben verlieren wird, nicht aber den Personen, die in die-
ser Situation als potentielle Blutspender in Betracht kommen.
Es geht hier nicht nur um ein semantisches Problem, das sich allenfalls durch ar-
tifizielle Auslegungstechniken bewältigen ließe. Es geht um die Struktur, um die
ratio der Notstandsregelung. § 34 StGB bindet die Rechtsfolge der Rechtfertigung
der Tat an die Voraussetzung, dass mit dieser Tat eine gegenwärtige Gefahr für
das Erhaltungsgut abgewendet wird, also für das Gut, das durch die Tat (sei es
eine aktive Handlung, sei es eine Unterlassung) geschützt werden soll. Besteht
eine solche Gefahr nicht, ist die Bestimmung nicht nur nach ihrer sprachlichen For-
mulierung, sondern auch nach ihrer Regelungsstruktur unanwendbar. Wenn hier eine
Gefahr demgegenüber gerade für das Interesse besteht, das durch die Unterlassung
preisgegeben wird (im Beispielsfall: das Leben des auf eine Bluttransfusion ange-
wiesenen Patienten), so ist das nach der Logik der Notstandsregelung selbstverständ-
lich bedeutungslos.

aa) „Gefahr“ der Vornahme einer Rettungshandlung?

Es ist deshalb folgerichtig, wenn Autoren, die § 34 StGB auch auf Unterlassungen
anwenden wollen, nachzuweisen versuchen, dass in den fraglichen Fällen eine Ge-
fahr auch dem Integritätsinteresse droht, das in der Situation lediglich durch eine
Handlung des prima facie Handlungspflichtigen gefährdet werden könnte. Bei Aus-
führung der Rettungshandlung würde, so die Argumentation, dieses Integritätsinter-
esse verletzt. Die Unterlassung sei geeignet, die bei Vornahme der Handlung beste-
hende Gefahr abzuwenden.37 Auf das obige Beispiel übertragen: Es bestehe die Ge-
fahr, dass der Arzt zur Rettung des Lebens des Patienten bei dritten Personen zwangs-
weise eine Blutentnahme durchführe. Diese Gefahr werde dadurch abgewendet, dass
der Arzt die Ausführung der Blutentnahme unterlasse.
Dieser Auffassung ist zuzugestehen, dass man in einem bestimmten Sinn durch-
aus davon sprechen kann, hier habe die Gefahr bestanden, dass der Arzt gewaltsam in
das Rechtsgut der körperlichen Integrität anderer Personen eingreift, um das Leben
seines Patienten zu retten. Nicht aber lässt sich sagen, dass der Arzt diese Gefahr
durch sein Nichthandeln „abgewendet“ habe. Eine durch eine Handlung drohende
Gefahr kann vielleicht dadurch abgewendet werden, dass der potentielle Täter
sich die Ausführung dieser Handlung unmöglich macht oder machen lässt, wenn
er befürchtet, sein Verhalten zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht unter Kontrolle

37
SK-Stein, 9. Aufl. 2017, Vor § 13 Rn. 42 ff.; dazu Küper a.a.O. S. 11 ff.
804 Ulfrid Neumann

zu haben. Der bloße Verzicht auf eine Handlung aber ist keine „Abwendung“ einer
„Gefahr“ der Ausführung dieser Handlung.
Mit anderen Worten: § 34 StGB setzt eine „externe“ Gefahr voraus, die durch eine
bestimmte Handlung abgewendet wird. Dort, wo eine „Gefahr“ sich in der Möglich-
keit einer Rechtsgutsverletzung seitens des Täters erschöpft, also durch die bloße
Nichtvornahme der „gefährdenden“ Handlung „abgewendet“ werden kann, liegen
die Voraussetzungen des § 34 StGB ersichtlich nicht vor.38

bb) Unterlassung der Rettungshandlung im „Defensivnotstand“?

Den gleichen Einwänden sieht sich auch der Vorschlag ausgesetzt, zur Rechtfer-
tigung von Unterlassungen in den Fällen der Kollision einer Handlungs- mit einer
Unterlassungspflicht das Institut des Defensivnotstands (§ 228 BGB analog) heran-
zuziehen.39 Zwar könnte der Rückgriff auf den Defensivnotstand überzeugend be-
gründen, dass der Abwägungsmaßstab des § 34 StGB „umgekehrt“ werden
muss,40 wenn man das Institut des rechtfertigenden Notstands in den fraglichen Fäl-
len (Kollision einer Handlungs- mit einer Unterlassungspflicht) auf die Unterlassung
der prima facie gebotenen Handlung anwenden will. Dass die Regeln des rechtfer-
tigenden Notstands überhaupt auf Unterlassungen anwendbar sein sollen, lässt sich
aber auch im Rahmen dieses Ansatzes nicht überzeugend begründen. Auch wenn
man den zur Abwendung der Gefahr notwendigen Eingriff der „Sphäre des gefähr-
deten Rechtsguts“ zuordnen41 und deshalb bei der Entscheidung zwischen Aggres-
siv- und Defensivnotstand für letzteren plädieren kann: Die Anwendung der Not-
standsbestimmungen (§ 34 StGB oder § 228 BGB [analog]) auf Unterlassungen
setzt in jedem Fall voraus, dass man eine Gefahr nicht nur für das Rettungsinteresse,
sondern auch für das Integritätsinteresse bejahen kann. Das aber ist, wie gezeigt,
nicht zu leisten.
Das bedeutet: Eine „Gefahr“ im Sinne des § 34 StGB besteht im Fall der Kollision
einer Handlungs- und einer Unterlassungspflicht lediglich für das durch die Hand-
lung zu rettende, nicht aber für das durch die Unterlassung zu wahrende Interesse
(für das Rettungs-, nicht aber für das Integritätsinteresse). Die Unterlassung der Ret-
tungshandlung kann folglich nicht mit der Argumentation gerechtfertigt werden,
dass durch sie im Sinne des § 34 StGB eine Gefahr von einem Rechtsgut abgewendet
werde.

38
Krit. zu der referierten Konstruktion auch Küper, ZStW 131 (2019), S. 12 m. Fn. 36.
39
Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil 8. Aufl. 2018, 22/55; dazu Küper a.a.O. S. 6.
40
Dazu unter III. 2. b).
41
So Frister a.a.O. 22/55.
Rechtspositionen, -güter und -interessen in der aktuellen Diskussion 805

cc) „Nicht-anders-Vermeidbarkeit“ der Gefahr?

Küper trägt dieser Einsicht Rechnung, will aber § 34 StGB in den Fällen einer
Kollision einer Handlungs- und einer Unterlassungspflicht gleichwohl (analog)
auf die Unterlassung der (Rettungs-)Handlung anwenden. Zwar bestehe in dieser Si-
tuation eine „Gefahr“ i. S. d. § 34 StGB in der Tat nur für das Rettungs-, nicht aber für
das Integritätsinteresse; aus diesem Grund komme eine direkte Anwendung des § 34
StGB auf die Unterlassung nicht in Betracht. Es lasse sich aber eine analoge Anwen-
dung begründen, weil es auch bei der Kollision einer Handlungs- und einer Unter-
lassungspflicht um das „elementare Notstandserfordernis eines unvermeidlichen In-
teressenkonflikts“ gehe; lediglich die Auflösung der Kollision erfolge in anderer
Weise, soweit die Rechtfertigung der Unterlassung in Frage stehe.42 An die Stelle
der „nicht anders abwendbaren“ Gefahr trete dann das Kriterium, dass die Beein-
trächtigung des Integritätsinteresses nicht anders als durch die Nichtabwendung
der Gefahr vermeidbar ist.43
Indes: Das Vorliegen eines „unvermeidlichen Interessenkonflikts“ kennzeichnet
die Voraussetzungen einer Notstandslage im Sinne des § 34 StGB nur sehr unvoll-
kommen. Denn die Bestimmung setzt weiter voraus, dass eine gegenwärtige Gefahr
für ein Rechtsgut besteht, und dass diese Gefahr (nur) durch die Beeinträchtigung
eines anderen, wesentlich geringwertigeren Rechtsguts abgewendet werden kann.
Will man eine analoge Anwendung der Bestimmung begründen, muss man deshalb
darlegen, auf welche dieser Voraussetzungen weshalb verzichtet werden kann.
Küper will insoweit die Voraussetzung der „nicht anders abwendbaren Gefahr“
durch das Kriterium ersetzen, dass die Beeinträchtigung des Integritätsinteresses
nur durch die Nichtabwendung der für das Rettungsinteresse bestehenden Gefahr
vermeidbar ist. Es ist aber nicht ersichtlich, wie man eine Vorschrift, die – unter be-
stimmten Voraussetzungen – eine Rechtfertigung für eine Handlung festschreibt, mit
der eine bestehende Gefahr abgewendet wird, analog auf ein Verhalten anwenden
könnte, mit dem eine bestehende Gefahr nicht abgewendet wird. Komplementär:
Die in § 34 StGB statuierte Voraussetzung, dass der Täter die Tat begeht, „um
eine … Gefahr abzuwenden“, müsste durch das Kriterium ersetzt werden, dass
der Täter nicht handelt, um die Gefahr abzuwenden, dass er also die Abwendung
der Gefahr unterlässt (oder es müsste auf diese Voraussetzung schlicht verzichtet
werden). Eine tragfähige Basis für eine analoge Anwendung des § 34 StGB ist
hier nicht in Sicht.

b) „Umkehrung“ des Abwägungsmaßstabs des § 34 StGB

Will man gleichwohl an der Auffassung festhalten, dass § 34 StGB (direkt oder
analog) auch auf Unterlassungen anwendbar sei, so stellt sich das Problem einer

42
Küper, ZStW 131 (2019), S. 19.
43
Küper, ZStW 131 (2019), S. 20.
806 Ulfrid Neumann

„Korrektur“ des in § 34 StGB festgelegten Abwägungsmaßstabs. Würde man, ent-


sprechend dem in § 34 StGB festgeschriebenen Maßstab, auch für die Rechtfertigung
der Unterlassung ein „wesentliches Überwiegen“ des zu schützenden Interesses ver-
langen, so würde das, wie dargelegt, unmittelbar zu einem Widerspruch führen.44 Es
besteht deshalb weithin Einigkeit, dass man diesen Maßstab „umkehren“ müsse: da
ein Eingriff in das Integritätsinteresse nur bei einem wesentlichen Überwiegen des
Rettungsinteresses gerechtfertigt sei, müsse die Unterlassung der Rettung auch
dann gerechtfertigt sein, wenn das Integritätsinteresse von gleichem oder nicht deut-
lich geringerem Wert sei.45
Das ist ein in der Sache überzeugendes Ergebnis, das aber unter Rückgriff auf § 34
StGB methodisch korrekt nicht zu gewinnen ist. Man kann einen gesetzlich festge-
schriebenen Maßstab nicht einfach contra legem „umkehren“. Das gilt unabhängig
davon, ob die fragliche Bestimmung auf eine bestimmte Konstellation direkt oder
analog angewendet werden soll. Der nahe liegende Einwand, auch im Falle eines De-
fensivnotstands würde der Abwägungsmaßstab des § 34 StGB eine „Umkehrung“
erfahren, wäre nicht stichhaltig. Denn methodisch korrekt ist der für den Defensiv-
notstand geltende Maßstab nicht durch eine „Umkehrung“ des in § 34 StGB festge-
schriebenen Maßstabs zu gewinnen, sondern durch eine analoge Anwendung des
§ 228 BGB.46 Der von Frister beschrittene Weg wäre deshalb methodisch zielfüh-
rend, ist aber aus den oben genannten Gründen gesperrt.47
Richtig ist selbstverständlich, dass die Rechtmäßigkeit der Unterlassung des Ret-
tungseingriffs bei einer Kollision einer Handlungs- mit einer Unterlassungspflicht
nicht an die Voraussetzung gebunden werden kann, dass das Integritätsinteresse
das Rettungsinteresse überwiegt. Andernfalls würde sich der oben genannte Wider-
spruch ergeben: bei annähernder Gleichwertigkeit des Rettungs- und des Integritäts-
interesses wäre weder die Unterlassung der Rettungshandlung noch deren Vornahme
nach § 34 StGB gerechtfertigt.
Ich habe in Hinblick auf diese Konstellation von einer „Normenfalle“ gespro-
chen.48 Küper hat dagegen eingewandt, eine Normenfalle bestehe nur bei (zu ergän-
zen: auch annähernder) Gleichwertigkeit der kollidierenden Interessen; sie ver-
schwinde sofort, „wenn unter dem Aspekt des ,geschützten‘ Interesses dessen
,Gleichwertigkeit‘ durch ein ,wesentliches Überwiegen‘ ersetzt wird“.49 Aber das
ist wenig beruhigend. Die Konsistenz einer dogmatischen Regel lässt sich nicht
damit begründen, dass diese in bestimmten Fällen zu keinen widersprüchlichen Kon-

44
Dazu oben unter III. 1.
45
Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil Band II, 2003, § 31 Rn. 205 (dazu Küper, ZStW 131
[2019], S. 5).
46
Dazu NK-StGB/Neumann, 5. Aufl. 2017, § 34 Rn. 88.
47
Dazu oben unter III. 2. a).
48
Neumann, Zur Struktur des strafrechtlichen Instituts der „Pflichtenkollision“, Yama-
naka-FS 2017, S. 171, 178.
49
Küper, ZStW 131 (2019), S. 32.
Rechtspositionen, -güter und -interessen in der aktuellen Diskussion 807

sequenzen führe, dass man „nur“ die problematischen Fallkonstellationen ausblen-


den müsse, um die Widersprüche zu eliminieren.
Wenn Küper weiter argumentiert, aus meiner Prämisse, „dass der rechtfertigende
Notstand nicht zugleich auf die Vornahme und die Unterlassung der Rettungshand-
lung angewandt werden dürfe“, ergebe sich „nur eine alternative Anwendbarkeit und
somit kein zwingender Ausschluss der Anwendung auf das Unterlassen“50, so ist das
richtig. Es ist aber im Kontext der Diskussion, ob § 34 StGB auch auf Unterlassungen
anwendbar ist, bedeutungslos. Denn: dass § 34 StGB auf die Vornahme von Ret-
tungshandlungen anwendbar ist, dürfte außer Streit stehen. Gerade daraus ergibt
sich die Notwendigkeit, den in § 34 StGB gesetzlich festgeschriebenen Abwägungs-
maßstab „umzukehren“, wenn man die Bestimmung in den Fällen einer Kollision
einer Handlungs- mit einer Unterlassungspflicht auch auf die Unterlassung der Ret-
tungshandlung anwenden will.
Diesen, wie gezeigt, methodologisch steinigen Weg zu beschreiten, besteht aber
kein Anlass. Denn die Rechtmäßigkeit der Unterlassung einer Rettungshandlung ist
in diesen Fällen (Kollision einer Handlungs- mit einer Unterlassungspflicht) eine
Folge (logisch: eine Funktion) der Rechtswidrigkeit der Vornahme des Eingriffs,
der zur Rettung des gefährdeten Rechtsguts erforderlich wäre. Ein Verhalten, das
als Eingriff in ein Rechtsgut eines Dritten rechtswidrig ist, kann nicht zugleich als
Rettungshandlung rechtmäßig sein. Bei einer Kollision einer Handlungs- und
einer Unterlassungspflicht ist die Erfüllung der Handlungspflicht „schlicht verbo-
ten“, wenn die Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstands hinsichtlich der
dazu erforderlichen Verletzung des Integritätsinteresses nicht gegeben sind.51 Allein
die Unterlassung der prima facie gebotenen Rettungshandlung ist dann das rechtmä-
ßige Verhalten.
Ob man die Unterlassung in diesem Fall als ein tatbestandsmäßiges, aber gerecht-
fertigtes Verhalten bewertet, oder aber schon die Tatbestandsmäßigkeit verneint, ist
ein sekundäres Problem. Für den Ausschluss der Tatbestandsmäßigkeit könnte spre-
chen, dass man damit die rechtliche Unmöglichkeit der erforderlichen Rettungshand-
lung ihrer faktischen Unmöglichkeit gleichstellen könnte. Indes würde damit ver-
nachlässigt, dass die Entscheidung über das Vorliegen einer rechtlichen Handlungs-
möglichkeit – anders als die Feststellung der faktischen Unmöglichkeit – hier der
Entscheidung über die Rechtmäßigkeit (Prüfung des Rechtfertigungsgrundes des
§ 34 StGB) des mit der potentiellen Rettungshandlung verbundenen Eingriffs in
das Integritätsinteresse folgt. Ich halte deshalb an dem Vorschlag fest, hier einen
„Rechtfertigungsgrund der rechtlichen Unmöglichkeit der Rettungshandlung“ anzu-
nehmen.52

50
Küper, ZStW 131 (2019), S. 32 m. Fn. 96.
51
So zutreffend MüKo-Erb, 3. Aufl. 2017, § 34 Rn. 40.
52
So schon Neumann, Zur Struktur des strafrechtlichen Instituts der „Pflichtenkollision“,
Yamanaka-FS 2017, S. 171, 182.
808 Ulfrid Neumann

3. Kollision zweier Handlungspflichten

a) Anwendbarkeit des § 34 StGB?

Anders als im Fall der Kollision einer Handlungs- und einer Unterlassungspflicht
kommt bei einer Kollision zweier Handlungspflichten (Rettungspflichten) die An-
wendung des § 34 StGB grundsätzlich in Betracht. Denn hier unterlässt der Hand-
lungspflichtige in der Tat die Rettung des einen Interesses, „um die Gefahr von
[…] einem anderen abzuwenden“. Am Beispiel: Der Vater unterlässt die Rettung
des Lebens des einen Sohns, um die Gefahr des Todes durch Ertrinken von dem an-
deren Sohn abzuwenden. Das entscheidende Argument dagegen, § 34 StGB zur
Rechtfertigung der Verletzung einer Handlungspflicht heranzuziehen, die mit
einer Unterlassungspflicht kollidiert, greift hier also nicht.53 Dieses Argument laute-
te: Hinsichtlich des Interesses, das im Falle dieser Kollision durch die Rettungshand-
lung verletzt würde (Integritätsinteresse), fehlt es an einer Gefahr – und damit
zwangsläufig auch an der für § 34 StGB konstitutiven Voraussetzung, dass durch
das Verhalten (konkret: die Unterlassung) eine „Gefahr“ abgewendet werden sollte.54
Demgegenüber liegt bei der Kollision zweier Rettungspflichten eine Gefahr sowohl
auf der Seite des letztlich geretteten als auch auf der des geopferten Interesses vor.
Im Beispielsfall würde eine Rechtfertigung der Unterlassung der Rettung des Le-
bens des einen Sohnes nach § 34 StGB allerdings daran scheitern, dass es an einem
wesentlichen Überwiegen des geretteten Interesses (Leben des anderen Sohnes)
fehlt. Man muss den Fall aber nur etwas variieren, um diese Hürde zu beseitigen.
Nehmen wir an, dass der jüngere Sohn zu ertrinken droht, während es für den älteren,
der sich als guter Schwimmer nach einiger Zeit ans Ufer des reißenden Flusses wird
retten können, nur um die Gefahr eines grippalen Infekts geht. In diesem Fall wäre
eine Rechtfertigung der Unterlassung der Rettung dieses Sohnes nach den Regeln des
rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) grundsätzlich möglich. Insofern lässt sich
sagen, dass der Anwendung des § 34 StGB auf die Fälle der Kollision zweier Hand-
lungspflichten nichts entgegensteht, soweit die tatbestandlichen Voraussetzungen
des rechtfertigenden Notstands erfüllt sind.55

b) Alternative: „Pflichtenkollision“

Allerdings ist der rechtfertigende Notstand für die Fälle einer Kollision zweier
Handlungspflichten gleichwohl kein „passgenaues“ Institut. Denn § 34 StGB greift
53
Deshalb will Küper auf die Fälle der Kollision zweier Rettungspflichten § 34 StGB
direkt (und nicht nur – wie auf die Kollision einer Handlungs- mit einer Unterlassungspflicht –
analog) anwenden (ZStW 131 [2019], S. 19).
54
Dazu oben unter III. 2. a).
55
So Küper, JuS 2016, 1074 f.; Lackner/Kühl/Heger, StGB, 29. Aufl. 2018, § 34 Rn. 15.
Ebenso noch Neumann, Der Rechtfertigungsgrund der Kollision von Rettungsinteressen,
Roxin-FS 2001, 421, 428. Ich modifiziere die dort vertretene Auffassung in dem nachfolgend
vertretenen Sinne.
Rechtspositionen, -güter und -interessen in der aktuellen Diskussion 809

im Hinblick auf die Voraussetzung eines „wesentlichen Überwiegens“ in den Fällen


einer annähernden (erst recht: einer vollständigen) Gleichwertigkeit der kollidieren-
den Rettungsinteressen nicht. In diesen Fällen lässt sich eine Rechtfertigung nur über
das Institut der Pflichtenkollision begründen. Es ist aber methodisch fragwürdig, zur
Rechtfertigung einer Unterlassung in der Konstellation kollidierender Handlungs-
pflichten eine Bestimmung heranzuziehen, die diese Rechtfertigung von Umständen
abhängig macht, die nach einhelliger56 bzw. herrschender57 Meinung für die rechtli-
che Bewertung (Rechtfertigung) dieser Unterlassung irrelevant sind. Selbstverständ-
lich bedeutet dies nicht, dass der Rückgriff auf § 34 StGB in den Fällen, in denen die
Voraussetzungen der Bestimmung gegeben sind, zu „falschen“ Ergebnissen führen
würde.58
Gegen einen Rückgriff auf § 34 StGB in den Fällen einer Kollision mehrerer Ret-
tungspflichten spricht ferner, dass das Prinzip, das der Institution des rechtfertigen-
den Notstands zugrunde liegt, in dieser Konstellation nicht trägt. Die Rechtfertigung
eines Notstandseingriffs (§ 34 StGB) beruht auf dem Prinzip der Solidarität: Ist der
Schaden, der dem Rettungsinteresse droht, erheblich gewichtiger als der, der dem
Integritätsinteresse durch den Rettungseingriff erwachsen würde, so ist der Inhaber
des Integritätsinteresses verpflichtet, diesen Eingriff „solidarisch“ zu dulden.59 Die
Rechtfertigung des Rettungseingriffs korrespondiert mit der Duldungspflicht des In-
habers des Eingriffsgutes.
Demgegenüber beruht die Rechtfertigung in den Fällen einer Kollision von Hand-
lungspflichten auf dem Prinzip, dass die Rechtsordnung niemanden zu einem Verhal-
ten verpflichten kann, dessen Ausführung dem Verpflichteten unmöglich wäre („im-
possibilium nulla obligatio“). Es geht hier, anders als bei der Solidaritätspflicht des
rechtfertigenden Notstands, nicht um ein materiales, sondern um ein normlogisches
Prinzip. Natürlich können die kollidierenden Handlungspflichten ihrerseits auf dem
Gedanken der Solidarität (Beispiel: § 323c StGB) oder dem der Loyalität (Beschüt-
zer-Garantenpflichten) beruhen.60 Aber das Institut der Pflichtenkollision leistet

56
Für die Fälle eines leichten Überwiegens des geretteten Interesses.
57
Für die Fälle einer vollständigen Gleichwertigkeit der kollidierenden Interessen. In
diesem Sinne BGHSt 48, 307, 311; Lackner/Kühl/Heger, StGB, 29. Aufl. 2018, § 34 Rn. 15;
Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, StGB, 30. Aufl. 2019, Vor §§ 32 ff. Rn. 73; Roxin
Strafrecht Allgemeiner Teil Bd. I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 118. Abw. (lediglich für Entschul-
digung) etwa NK-StGB/Paeffgen/Zabel, 5. Aufl. 2017, Vor § 32 Rn. 174.
58
So ausdrücklich Neumann, Zur Struktur des strafrechtlichen Instituts der „Pflichtenkol-
lision“, Yamanaka-FS 2017, S. 171, 178 („unschädlich“).
59
So die heute überwiegende Interpretation des Instituts des rechtfertigenden Notstands.
Vgl. etwa Merkel, Zaungäste? Über die Vernachlässigung philosophischer Argumente in der
Strafrechtswissenschaft (und einige verbreitete Missverständnisse zu § 34 S. 1 StGB), in: In-
stitut für Kriminalwissenschaften der Universität Frankfurt a.M. (Hrsg.), Vom unmöglichen
Zustand des Strafrechts (1995), 171, 180, 184.
60
Zur Unterscheidung näher Neumann, Die rechtsethische Begründung des „rechtferti-
genden Notstands“ auf der Basis von Utilitarismus, Solidaritätsprinzip und Loyalitätsprinzip,
in: v. Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013, S. 155 ff.
810 Ulfrid Neumann

keine Begründung dieser Pflichten, sondern setzt sie voraus. Es beschränkt sich dar-
auf, auf der Meta-Ebene Regeln zur Lösung der Kollision zwischen anderweitig be-
gründeten rechtlichen Handlungspflichten bereitzustellen. Die ratio der Rechtferti-
gung ist im Falle der Pflichtenkollision eine andere als in der des rechtfertigenden
Notstands.
Auch in der deontologischen Funktion ergeben sich, jenseits der übereinstimmen-
den Rechtsfolge (der Rechtfertigung), Unterschiede. Der rechtfertigende Notstand
(§ 34 StGB) eröffnet Handlungsbefugnisse (zu Rettungseingriffen in Rechtsgüter an-
derer), das Institut der Pflichtenkollision befreit von (einer der) prima facie bestehen-
den Handlungspflichten.

c) Das Verhältnis von Pflichten und Interessen bei der Pflichtenkollision

aa) Dominanz der Interessen

Eine strukturelle Gemeinsamkeit weisen beide Institute insofern auf, als es jeweils
um einen Konflikt zwischen Interessen geht, die nicht kumulativ, sondern nur alter-
nativ geschützt bzw. gewahrt werden können. Der Begriff der „Pflichtenkollision“
bringt diesen Bezug auf Interessen allerdings nicht zum Ausdruck. Er ergibt sich
aber zwingend daraus, dass eine rationale Rechtsordnung Handlungspflichten
nicht um ihrer selbst willen, sondern zum Schutz von Interessen statuiert.61 Diese
„Akzessorietät“ von Pflichten im Verhältnis zu Interessen hat die Konsequenz,
dass sich das Gewicht der jeweiligen Pflicht grundsätzlich aus dem Gewicht des
durch sie geschützten Interesses ergibt.62

bb) Relevanz von Garantenpflichten bei gleichgewichtigen Rettungsinteressen

Fraglich und umstritten ist allerdings, ob sich das relative Gewicht einer Hand-
lungspflicht im Falle einer Pflichtenkollision ausschließlich nach dem Gewicht
des von ihr geschützten Interesses bestimmt, oder ob bei der Abwägung auch der
Grad der Pflichtenbindung in die Waagschale zu werfen ist. Es geht um das Problem,
ob bei Gleichgewichtigkeit der Rettungsinteressen dem Interesse der Vorzug gegeben
werden muss, zu dessen Wahrung eine Garantenpflicht besteht. Die ganz überwie-
gende Auffassung bejaht diese Frage.63 Am Beispiel: Kann der Vater eines vom Er-

61
Otto, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Bd. 2 (Allge-
meiner Teil 1), 2019, § 41 („Pflichtenkollision“) Rn. 4; MüKo-StGB/Schlehofer, 3. Aufl.
2017, Vor § 32 Rn. 237; NK-StGB/Neumann, 5. Aufl. 2017, § 34 Rn. 125. Instruktiv zum
Nebeneinander von „Pflichtenebene“ und „Interessenebene“ bei der rechtfertigenden Pflich-
tenkollision Küper, JuS 2016, 1072 f.
62
Ebenso LK-StGB/Rönnau, 13. Aufl. 2019, Vor § 32 Rn. 115; Otto, Jura 2005, 470, 471.
63
LK-StGB/Rönnau, 13. Aufl. 2019, Vor § 32 Rn. 125; NK-StGB/Neumann, 5. Aufl.
2017, § 34 Rn. 129; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, StGB, 30. Aufl. 2019, Vor § 32
Rn. 75; Schönke/Schröder/Perron, 30. Aufl. 2019, § 34 Rn. 5; Otto, in: Hilgendorf/Kudlich/
Rechtspositionen, -güter und -interessen in der aktuellen Diskussion 811

trinken bedrohten Kindes nur entweder sein Kind oder aber dessen gleichfalls in To-
desgefahr schwebenden Freund retten, so muss er sich danach für die Rettung seines
Sohnes entscheiden. Die Mindermeinung64 misst dagegen der Garantenstellung, die
der Vater gegenüber seinem Sohn hat, bei der Bestimmung des jeweiligen Gewichts
der Rettungspflichten keine Bedeutung bei. Der Vater sei frei, entweder seinen Sohn
oder aber dessen Freund zu retten.
In jüngster Zeit hat die Mindermeinung in Wilfried Küper einen engagierten Ver-
teidiger gefunden.65 Küper wendet sich vor allem gegen meine Argumentation, dass
die Garantenpflicht dem durch sie geschützten Interesse den Status einer Rechtspo-
sition verleihe.66 Den Hintergrund dieser Argumentation bildet, wie Küper zutreffend
rekonstruiert, die Unterscheidung zwischen einer Rechtsposition, wie sie im Falle
des § 34 StGB auf der Seite des Integritätsinteresses besteht (weshalb zum Eingriff
in dieses Interesse ein „wesentliches“ Überwiegen des Rettungsinteresses erforder-
lich ist), und einem „bloßen“ Rettungsinteresse, das keinen Vorrang gegenüber
einem identischen Rettungsinteresse eines anderen beanspruchen kann.
Küper wendet gegen diese Argumentation ein, sie verkenne die Relativität der
Rechtsposition, die durch die Garantenpflicht geschaffen werde. Diese Rechtsposi-
tion betreffe nur das „Innenverhältnis“ zwischen dem Garantenpflichtigen und dem
Destinatär der Garantenpflicht: es sage über das „Außenverhältnis“ zwischen dem
Interesse des Destinatärs der Garantenpflicht und dem Interesse des Dritten nichts
aus.
Letzteres ist insofern richtig, als das Bestehen einer Garantenpflicht dem durch sie
geschützten Interesse des Destinatärs dieser Pflicht – selbstverständlich – kein gene-
relles Übergewicht über ein ceteris paribus gleichwertiges Rettungsinteresse eines
Dritten verleiht. Am Beispiel: Selbstredend ist das Leben des Freundes nicht weniger
„wert“ als das Leben des Sohnes. Insoweit ist die Rechtsposition, die die Garanten-
pflicht dem Destinatär dieser Pflicht einräumt, in der Tat „relativ“; sie erschöpft sich
in einer besonderen rechtlichen Beziehung zu dem Garanten.
Gerade um diese Beziehung aber geht es bei der Frage, ob der Garant bei einer
Kollision ansonsten gleichwertiger Rettungsinteressen das Interesse bevorzugen
muss, zugunsten dessen seine Garantenpflicht besteht. Wiederum anhand des Bei-
spiels: Es geht nicht um die Frage, ob das Lebensinteresse des Sohnes das seines
Freundes grundsätzlich überwiegt. In dem (von Küper so genannten) „Außenverhält-
nis“, im Verhältnis zwischen dem Lebensinteresse des Sohnes einerseits, des Freun-
des andererseits, spielt die Garantenpflicht des Vaters selbstverständlich keine Rolle.

Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Bd. 2 (Allgemeiner Teil 1), 2019, § 41 („Pflich-
tenkollision“) Rn. 73.
64
Freund, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 2008, § 6 Rn. 98; Kühl, Strafrecht Allge-
meiner Teil. 8. Aufl. 2017 § 18 Rn. 137.
65
Küper, ZStW 131 (2019), S. 1, 28 ff.
66
NK-StGB/Neumann, 5. Aufl. 2017, § 34 Rn. 129.
812 Ulfrid Neumann

Bei der Frage, wie der Vater in der konkreten Situation handeln soll, geht es aber
um die vergleichende Gewichtung zweier „Innenverhältnisse“ – des Verhältnisses
des Vaters zu seinem Sohn einerseits, zu dessen Freund andererseits. Hier nun ist
von Bedeutung, dass gegenüber dem Sohn, nicht aber gegenüber dessen Freund
eine besondere Handlungspflicht (Garantenpflicht) besteht. Von den beiden „Innen-
verhältnissen“ ist nur eines „aufgewertet.“ Dies rechtfertigt es, jedenfalls bei sons-
tiger Gleichwertigkeit der konkurrierenden Interessen den Garanten auf die Rettung
des Interesses zu verpflichten, für dessen Wahrung er im Sinne des § 13 StGB „ein-
zutreten“ hat.
Ich widme diese – notwendig kursorischen – Überlegungen dem alten Freund,
hochgeschätzten Kollegen und (Mit-)Streiter im Kampf um ein rationales und huma-
nes Strafrecht.
Das Grundrecht auf Leben
als Tötungsverbot für den Staat und
als Schutzanspruch gegen den Staat
Von Andreas Hoyer

I. Einführung in die Thematik


Meine folgenden Anmerkungen sollen einem Thema gelten, über das Reinhard
Merkel und ich bereits während unserer gemeinsamen Assistentenzeit an der Chris-
tian-Albrechts-Universität zu Kiel Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts
wiederholt miteinander diskutiert haben, wie ich mich gut erinnere, und das Reinhard
Merkel dann im Jahre 2007 aus (damals) aktuellem Anlass zum Gegenstand eines
wiederum diskussionswürdigen Aufsatzes1 erhoben hat: der Frage, „wann und
warum darf der Staat töten?“ bzw. wann und warum darf der Staat Tötungshandlun-
gen Privater erlauben? Reinhard Merkel erörtert diese Frage ausgehend von der Ent-
scheidung des Bundesverfassungsgerichts2 zur Verfassungswidrigkeit des § 14
Abs. 3 LuftSiG in dessen Fassung vom 11. 01. 2005, geht aber mit seinen Ausführun-
gen weit über diesen Spezialfall einer gesetzlichen Tötungslizenz zugunsten des
Staates hinaus, indem er nach Grund und Grenzen einer Rechtfertigbarkeit vorsätz-
licher Tötungen insgesamt fragt.

II. Merkels drei Legitimationsgründe


für staatliche Tötungserlaubnisse
Im Ergebnis erachtet Merkel es ausnahmslos für staatstheoretisch unzulässig und
daher verfassungswidrig, die Rechtfertigung einer vorsätzlichen Tötung aus deren
(überwiegendem) Nutzen für „das große Ganze“ oder „die Belange anderer“ abzu-
leiten.3 Zwar dürfe der Staat jedem seiner Bürger ein gewisses Quantum an „(Mini-
mal-)Solidarität mit anderen“ rechtlich abverlangen,4 dieses Quantum sei aber ein-
deutig überschritten, wenn dem Staatsbürger „das solidarische Hingebenmüssen des

1
Merkel, JZ 2007, 373 ff.
2
BVerfGE 115, 118 ff.
3
Merkel, JZ 2007, 373 (378).
4
Merkel, JZ 2007, 373 (384).
814 Andreas Hoyer

eigenen Lebens“ zugemutet werde, möge dies auch „zur Rettung (noch so vieler) an-
derer“ beitragen.5
Diese Grenze gegenüber der Auferlegung einer Aufopferungspflicht leitet Merkel
nicht etwa aus der Menschenwürde ab,6 auch nicht aus einer angeblichen Unabwäg-
barkeit von „Leben gegen Leben“,7 sondern allein daraus, dass der Getötete an dem
aus seiner Tötung für die Überlebenden resultierenden Nutzen selbst konkret nicht
partizipiert und abstrakt nicht einmal partizipieren kann. Ein positiver „fremdnützi-
ger Abwägungssaldo“8 auf Kosten des Lebens eines Einzelnen könne dessen Tötung
niemals legitimieren – und wäre der damit verbundene Vorteil für alle anderen un-
ermesslich.9
Eine Legitimation für die Tötung eines Staatsbürgers – sei sie „von Staats wegen
vorgenommen, veranlasst oder als rechtmäßige Privathandlung de lege akzeptiert“10
– könne stets nur „mit Blick auf das Eingriffsopfer“ gesucht und allenfalls dort auch
gefunden werden,11 während die Verhältnismäßigkeit dieses Eingriffs mit Blick auf
andere „a limine nicht zur Legitimation gegenüber dem Getöteten tauge“.12 Merkel
zufolge lassen sich drei Grundformen der legitimen Tötung mit (ausschließlichem)
Blick auf das Eingriffsopfer unterscheiden: Den ersten „Eingriffstitel“13 bilde die tat-
sächliche oder mutmaßliche Einwilligung des Getöteten, deren Legitimationskraft
sich aus dessen „Autonomie“ ergebe.14 Die beiden anderen möglichen Rechtstitel
für einen Eingriff in das Leben erkennt Merkel einerseits in der Notwehr sowie an-
dererseits im defensiven Notstand.
Die Rechtfertigung einer Notwehrtötung des rechtswidrigen Angreifers beruhe
darauf, dass dieser „normativ betrachtet einen Suizid in mittelbarer Täterschaft“ da-
durch begehe, dass er dem unmittelbaren Täter die zur Verteidigung gegen den An-
griff erforderliche Tötungshandlung aufnötige.15 Die dem Verteidiger abgenötigte
Tötungshandlung sowie deren Folgen könnten dem Angreifer daher „genauso zuge-
rechnet werden, als hätte er sie selber aus- bzw. herbeigeführt“.16 Ebenso wenig wie
der Staat in das Grundrecht auf Leben eines de facto-Suizidenten eingreife, indem er
dessen Suizid erlaube (unverboten lasse), so wenig greife er in das Grundrecht auf
Leben eines de iure-Suizidenten (rechtswidrigen Angreifers) ein, indem er dessen
5
Merkel, JZ 2007, 373 (384).
6
Merkel, JZ 2007, 373 (379 f.).
7
Merkel, JZ 2007, 373 (380 f.).
8
Merkel, JZ 2007, 373 (375).
9
Merkel, JZ 2007, 373 (381).
10
Merkel, JZ 2007, 373 (375).
11
Merkel, JZ 2007, 373 (384).
12
Merkel, JZ 2007, 373 (375).
13
Merkel, JZ 2007, 373 (382).
14
Merkel, JZ 2007, 373 (384).
15
Merkel, JZ 2007, 373 (377).
16
Merkel, JZ 2007, 373 (377).
Das Grundrecht auf Leben als Tötungsverbot für den Staat 815

Notwehrtötung gestatte.17 In beiden Fällen sei die Tötung als „adäquate Folge eige-
nen Handelns“ des Getöteten legitimiert,18 ohne dass es dazu auf die Verhältnismä-
ßigkeit dieser Tötung mit Blick auf die Belange anderer oder die Allgemeinheit an-
komme.
Dass es im Defensiv- anders als im Aggressivnotstand erlaubt sei, zwecks Gefah-
renabwehr erforderlichenfalls auch Tötungshandlungen vorzunehmen, ergebe sich
ebenfalls aus einem bloßen „Blick auf das Eingriffsopfer“ und dessen „Verantwort-
lichkeit oder wenigstens Zuständigkeit für eine Gefahrenquelle“.19 Es entspreche
einem „Gebot der Fairness, also der Gerechtigkeit“,20 mit der Gefahrbeseitigung den-
jenigen zu belasten, den dessen „eigenes gefahrkausales Handeln“ zum Ursprung
oder auch nur „ein böses Schicksal“ selbst zu einer Gefahr habe werden lassen.21
Im Falle der durch § 14 Abs. 3 LuftSiG a.F. geregelten Gefahrenlage sei die ge-
zielte und massenhafte Tötung der im Flugzeug befindlichen unschuldigen Bürger
aber nicht durch einen defensiven Notstand rechtfertigbar, da diese die Gefahrenlage
weder durch ihr Handeln geschaffen hätten noch selbst durch ihre bloße Anwesenheit
im Flugzeug zu einer „Erhöhung der Gefahr“ beigetragen hätten.22 Da auch eine
Rechtfertigung ihrer Tötung aufgrund von Einwilligung oder Notwehr ausscheide,
sei eine gesetzliche Abschusserlaubnis in Bezug auf das Flugzeug, wie sie § 14
Abs. 3 LuftSiG a.F. erteilt hat, „innerhalb der geltenden Verfassungsordnung nicht
legitimierbar“.23

III. Zur Menschenwürdegarantie als Schranke


für staatliche Tötungserlaubnisse
Bemerkenswert erscheint mir zunächst, dass Reinhard Merkel dieses Ergebnis
nicht aus der in Art. 1 Abs. 1 GG verankerten Menschenwürdegarantie ableiten
will, sondern aus dem durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Recht auf
Leben24 – obwohl dieses im Unterschied zur Menschenwürde gerade nicht „unantast-
bar“ ist, sondern gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG aufgrund eines Gesetzes einge-
schränkt werden kann. Zwar müssen sich derartige Einschränkungen stets sowohl
am allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als auch an Art. 19 Abs. 2 GG mes-
sen lassen, wonach „in keinem Falle“ der Wesensgehalt eines Grundrechts angetastet
werden darf. Den Wesensgehalt jedes Grundrechts bildet aber eben dessen von der
17
Merkel, JZ 2007, 373 (377).
18
Merkel, JZ 2007, 373 (377).
19
Merkel, JZ 2007, 373 (384).
20
Merkel, JZ 2007, 373 (384).
21
Merkel, JZ 2007, 373 (384).
22
Merkel, JZ 2007, 373 (383).
23
Merkel, JZ 2007, 373 (373).
24
Merkel, JZ 2007, 373 (383 Fn. 65).
816 Andreas Hoyer

Menschenwürdegarantie umfasster Kernbereich25 – und eine Verletzung der Men-


schenwürde will Reinhard Merkel in § 14 Abs. 3 LuftSiG a.F. im Unterschied
zum Bundesverfassungsgericht ausdrücklich nicht erblicken:
Völlig zu Recht bestreitet Merkel, dass die Flugzeugpassagiere durch „ihre Tö-
tung als Mittel zur Rettung anderer benutzt“26 und dadurch im Sinne der Dürig’schen
Formel27 zu Art. 1 Abs. 1 GG zum bloßen Objekt degradiert und verdinglicht werden.
Als Mittel zur Rettung anderer würden die Passagiere nur missbraucht, wenn ihr Tod
„empirisch notwendiges Glied in der Kausalkette zwischen Handlung (Abschuss)
und intendiertem Zweck (Rettung) wäre“.28 Die am Boden vom Flugzeug bedrohten
Menschenleben werden aber gerettet „nicht indem (oder dadurch dass) die Passagie-
re sterben“, und „auch das Flugzeug stürzt nicht dadurch ab, dass die Passagiere ster-
ben, sondern dadurch, dass es abgeschossen wird“.29
Um eine Menschenwürdeverletzung im Sinne der Dürig’schen Formel zu konstru-
ieren, müsste man die Tatsituation im Falle eines Terroranschlags mit dem Flugzeug
so variieren, dass durch die Tötung bestimmter Personen am Boden einer Forderung
der Terroristen entsprochen wird, um diese von ihrem Anschlag abzuhalten. Eine sol-
che unzweifelhaft menschenwürdewidrige Tötung gestattete § 14 Abs. 3 Luft-
SiG a.F. aber nicht – und die von § 14 Abs. 3 LuftSiG a.F. gestatteten Tötungen ver-
letzten umgekehrt nicht die Menschenwürde. Jenseits der Menschenwürde müsste
sich jede Einschränkung des Rechts auf Leben zwar weiterhin am allgemeinen Ver-
hältnismäßigkeitsgrundsatz messen lassen; falls sie diesem Maßstab genügt, wäre sie
aber gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG (materiell) verfassungsgemäß.

IV. Zur staatstheoretischen Unmöglichkeit


„verhältnismäßiger“ Tötungen
Reinhard Merkel bestreitet dies allerdings vehement („Es gibt nicht eine einzige
Form der legitimen Tötung […], die ihre Rechtfertigung gerade aus ihrer Verhältnis-
mäßigkeit bezöge“),30 und macht dafür grundsätzliche staatstheoretische Erwägun-
gen geltend: Der Staat sei „nur so weit, wie er seinen Bürgern […] Schutz gewährt,
auch berechtigt, ihren Gehorsam gegenüber seinen Normen zu erzwingen“.31 Soweit

25
Hömig/Wolff, GG, 12. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 6; v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl.
2018, Art. 19 Rn. 121; v. Münch/Kunig/Krebs, GG Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 19 Rn. 20; vgl.
BVerwGE 47, 330 (357).
26
So aber BVerfG NJW 2006, 751 (758 Rn. 124).
27
Maunz/Dürig, GG, 86. Aufl. 2019, Art. 1 Rn. 36; vgl. BVerfGE 9, 89 (95); BVerfGE 27,
1 (6); BVerfGE 28, 386 (391); BVerfGE 87, 209 (228); BVerwG NJW 1982, 664 (665).
28
Merkel, JZ 2007, 373 (380).
29
Merkel, JZ 2007, 373 (380).
30
Merkel, JZ 2007, 373 (375).
31
Merkel, JZ 2007, 373 (375).
Das Grundrecht auf Leben als Tötungsverbot für den Staat 817

der Staat es also erlaube, einen seiner Bürger zu töten, schulde dieser ihm keinen
Normgehorsam mehr und könne ihn daher auch keine „rechtliche Pflicht treffen,
seine eigene Tötung zu dulden“.32 So sympathisch mir diese Beschränkung staatli-
cher Legitimität erscheint, so wenig kann sie m. E. gegen § 14 Abs. 3 LuftSiG a.F.
argumentativ ins Feld geführt werden:
Der Zweck der Vorschrift besteht allein darin, die Tötung der an der Gefahrschaf-
fung unbeteiligten und in diesem Sinne unschuldigen Flugzeugpassagiere zu recht-
fertigen, nicht darin, ihnen darüber hinaus eine Pflicht zur Duldung ihrer eigenen Tö-
tung aufzuerlegen. Dass Tötungserlaubnis für die Streitkräfte der Bundeswehr und
Duldungspflicht für die Passagiere nicht notwendig miteinander zusammenhängen,
zeigt sich bereits daran, dass ein Passagier, dem es etwa gelungen wäre, sich recht-
zeitig mit einem Fallschirm aus dem Flugzeug zu retten, damit selbstverständlich
nicht gegen eine „rechtliche Pflicht“ verstoßen hätte, „seine eigene Tötung zu dul-
den“. Hätte es sich bei dem entführten um ein Militärflugzeug gehandelt, so hätten
dessen unschuldige Insassen ihrer eigenen Tötung durch die Streitkräfte der Bundes-
wehr sogar zuvorkommen dürfen, indem sie ihrerseits die von dessen Streitkräften
verwendeten Flugzeuge abgeschossen hätten: Wem der Staat keinen normativen
Schutz vor Tötungen gewährt, der schuldet den staatlichen Normen auch seinerseits
keinen Gehorsam mehr.33 Auch in einem mit Einwilligung beider Kombattanten
durchgeführten Boxkampf sind schließlich die gegenseitig unternommenen Körper-
verletzungen jeweils gerechtfertigt. Die Rechtfertigung jedes Kombattanten zu be-
jahen, heißt im Boxkampf- ebenso wenig wie im Militärflugzeugbeispiel, dass der
jeweils andere zur Duldung der an ihm unternommenen Rechtsgutsverletzungen ver-
pflichtet wäre – er büßt infolge des zugunsten beider eingreifenden Rechtfertigungs-
grundes lediglich seinen staatlichen Rechtsgüterschutz ein und ist daher bei der Ver-
teidigung seiner Rechtsgüter auf die ihm verfügbaren Selbstschutzmöglichkeiten zu-
rückgeworfen.34

V. Notwehr als Legitimationsgrund


für staatliche Tötungserlaubnisse
Unter Inkaufnahme, dass er dadurch „sein Rechtsverhältnis zu jenen Geopferten
in toto liquidiert“,35 kann der Staat unter Umständen auch deren Tötung gestatten
oder sogar gebieten – soweit dem nicht die Menschenwürdegarantie oder der allge-
meine Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entgegensteht. Unstreitig und unabhängig von
§ 14 Abs. 3 LuftSiG a.F. wäre beispielsweise die Tötung der einen Terroranschlag
durchführenden Flugzeugentführer durch Notwehr gerechtfertigt gewesen. In ihrer

32
Merkel, JZ 2007, 373 (378).
33
Merkel, JZ 2007, 373 (375).
34
SK-StGB/Hoyer, 9. Aufl. 2017, § 34 Rn. 56.
35
Merkel, JZ 2007, 373 (381).
818 Andreas Hoyer

Menschenwürde verletzt wären diese Flugzeugentführer durch die auf sie bezogene
in § 32 StGB gesetzlich erteilte Tötungslizenz schon deswegen nicht, weil sie nicht
„als Mittel zur Rettung anderer benutzt“ und missbraucht, sondern lediglich als Ge-
fahrenquelle für andere bekämpft und ausgeschlossen werden sollen – ebenso wie
dies auch im defensiven Notstand aufgrund von § 228 BGB erlaubt sein kann.36 So-
wohl in einer Notwehrlage als auch im defensiven Notstand kann daher nur fraglich
sein, ob durch die mit der Gewährung des entsprechenden Rechtfertigungsgrundes
erteilte staatliche Tötungslizenz nicht unzulässig in das Grundrecht auf Leben der
Betroffenen eingegriffen wird.
Für die durch § 32 StGB gegenüber einem rechtswidrigen Angreifer eingeräumte
Tötungserlaubnis verneint Reinhard Merkel diese Frage mit der Begründung, die
Notwehrtötung eines Angreifers bedeute bereits „keinen Eingriff in das Grundrecht
auf Leben“ gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.37 Daher bedürfe es auch weder des Art. 2
Abs. 2 Satz 3 GG noch einer Prüfung der Verhältnismäßigkeit eines etwaigen Grund-
rechtseingriffs, um die Notwehrtötung des rechtswidrigen Angreifers zu legitimie-
ren. Diese Begründung basiert darauf, dass Merkel die Notwehrtötung eines rechts-
widrigen Angreifers normativ als „Suizid in mittelbarer Täterschaft“ einordnet.38
Ebenso wenig wie es einen Eingriff in das Grundrecht auf Leben bedeute, wenn
der Staat einen de facto-Suizid unverboten geschehen lassen, ebenso wenig sei der
Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG berührt, wenn der Staat den de iure-Suizid
eines rechtswidrigen Angreifers erlaubtermaßen geschehen lasse.39
Dass der de facto-Suizid nicht als staatlicher Eingriff in das Grundrecht auf Leben
betrachtet wird, beruht allerdings im Unterschied zur Tötung eines rechtswidrigen
Angreifers darauf, dass der Todeseintritt im erstgenannten Fall direkt einer darauf
gerichteten autonomen Entscheidung des Getöteten entspringt. Die staatlicherseits
in § 32 StGB erteilte Erlaubnis, einen rechtswidrigen Angreifer zu töten, lässt sich
dagegen nicht auf die Autonomie des Getöteten als Legitimationsgrund zurückfüh-
ren. Merkel zufolge sollen aber die Regeln der mittelbaren Täterschaft es gestatten,
dem getöteten rechtswidrigen Angreifer seinen eigenen Tod normativ ebenso zuzu-
rechnen, wie es die Autonomie des Getöteten im Falle eines tatsächlichen Suizids
bewirkt. Für Drei-Personen-Konstellationen, in denen der Hintermann den rechts-
widrigen Angriff seines rechtlich unverantwortlich handelnden Vordermanns auf
das Leben eines Dritten provoziere, stehe es schließlich „strafrechtlich außer Zwei-
fel“,40 dass die für den Vordermann tödliche Verteidigungshandlung des angegriffe-
nen Dritten letztlich dem Hintermann als mittelbarem Täter zuzurechnen sei – die-
selbe „normative Logik der Zurechnung“41 müsse dann aber auch für Zwei-Personen-

36
Merkel, JZ 2007, 373 (384).
37
Merkel, JZ 2007, 373 (377).
38
Merkel, JZ 2007, 373 (377).
39
Merkel, JZ 2007, 373 (377).
40
Merkel, JZ 2007, 373 (377).
41
Merkel, JZ 2007, 373 (377).
Das Grundrecht auf Leben als Tötungsverbot für den Staat 819

Konstellationen gelten, in denen sich lediglich der rechtswidrige Angreifer und der
diesen sodann durch seine Verteidigungshandlung tötende Angegriffene gegenüber-
stehen.
Ob aber tatsächlich jeder rechtswidrige Angriff sich für den Verteidiger als ihn zu
seiner Verteidigung „nötigende (unfrei machende) Handlung“42 darstellt, erscheint
mir durchaus zweifelhaft. Ist etwa auch der selbst gar nicht angegriffene Nothelfer
zu seiner (möglicherweise für ihn selbst lebensgefährlichen) Verteidigungshandlung
zugunsten eines Dritten genötigt und deshalb „unfrei“, obwohl ihm das Recht diese
Verteidigungshandlung doch gerade freistellt? Und wie ist es, wenn der rechtswid-
rige Angriff etwa „nur“ erheblichen Sachwerten gilt, beispielsweise (anknüpfend an
ein von Merkel angeführtes Beispiel) einem Diamantring,43 den der Angreifer weg-
zunehmen droht, wenn der Angegriffene nicht sogleich einen Dritten tötet? Ebenso
wenig wie hier die Tötung des unbeteiligten Dritten gem. § 35 StGB als „unfrei“ ent-
schuldigt wäre und sie deshalb dem rechtswidrigen Angreifer als mittelbarem Täter
zugerechnet werden könnte, ebenso wenig dürften doch die Voraussetzungen einer
mittelbaren Täterschaft auch dann erfüllt sein, wenn mit derselben Motivation im
Zwei-Personen-Verhältnis ein rechtswidriger Angreifer zwecks Angriffsabwehr ge-
tötet würde.
Wenn aber die Tötung des rechtswidrigen Angreifers nicht diesem selbst „wie
eine Selbsttötung zugerechnet“44 werden kann, weil es dafür an den Voraussetzungen
einer mittelbaren Täterschaft fehlt, dann liegt insoweit eben doch ein Eingriff in des-
sen Recht auf Leben vor, der gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG einer gesetzlichen Grund-
lage bedarf, die ihrerseits dem allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspre-
chen muss. Letzteres bedeutet nicht, dass die von der einzelnen Notwehrhandlung
ausgehenden und abgewehrten Gefahren zueinander ins Verhältnis gesetzt werden
müssen. Da es um die Legitimation des staatlichen Eingriffs in das Recht auf
Leben geht, muss vielmehr die Verhältnismäßigkeit einer Notwehrnorm geprüft wer-
den, durch die der Staat auch unverhältnismäßige Verteidigungshandlungen zuguns-
ten des rechtswidrig angegriffenen Gutes erlaubt.
Bei dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung kann nun allerdings auf die staatstheore-
tischen Überlegungen Reinhard Merkels zurückgegriffen werden: Der Staat ist „nur
so weit, wie er seinen Bürgern […] Schutz gewährt, auch berechtigt, ihren Gehorsam
gegenüber seinen Normen zu erzwingen“.45 Dem rechtswidrig angegriffenen Gut
aber hat der Staat mit seinen Normen gerade keinen Schutz zu leisten vermocht, so-
dass er seinen Bürgern gegenüber umgekehrt auch nicht länger dazu berechtigt ist,
ihnen Gehorsam vor seinen Normen und Respekt vor seinem Gewaltmonopol bei der
Verteidigung des angegriffenen Gutes abzuverlangen. Die Legitimation zur (erfor-
derlichenfalls auch unverhältnismäßigen) Verteidigung des angegriffenen Gutes er-
42
Merkel, JZ 2007, 373 (377 Fn. 21).
43
Merkel, JZ 2007, 373 (376).
44
Merkel, JZ 2007, 373 (378).
45
Merkel, JZ 2007, 373 (375).
820 Andreas Hoyer

wächst also daraus, dass der Verteidiger dem Staat infolge dessen Schutzversagens
im Gegenzug auch den Normgehorsam versagen darf. Während sich der Legitima-
tionsgrund für eine etwaige Bestrafung des rechtswidrigen Angreifers allein in des-
sen Verhältnis zum Staat finden lässt, ergibt sich der Legitimationsgrund für eine et-
waige Notwehrhandlung des Verteidigers allein aus dessen Verhältnis zum Staat. Der
staatliche Eingriff in das Recht auf Leben des rechtswidrigen Angreifers durch Er-
laubnis der Notwehrtötung diesem gegenüber wiegt somit weniger schwer als die
staatliche Pflicht, den Verteidiger des rechtswidrig angegriffenen Gutes von den nor-
mativen Fesseln zu befreien, die ihn sonst an dessen Schutz anstelle des daran ge-
scheiterten Staates hinderten.

VI. Defensivnotstand als Legitimationsgrund


für staatliche Tötungserlaubnisse
Dass schließlich auch der Defensivnotstand als Rechtfertigungsgrund auf einer
Abwägung zwischen den Interessen des Eingriffsopfers und des Verteidigers beruht,
drückt sich bereits im Wortlaut des § 228 BGB aus, wonach der „Schaden nicht außer
Verhältnis zu der Gefahr“ stehen darf. Merkel kann aber immerhin geltend machen,
dass die Umkehrung des Verhältnismäßigkeitsmaßstabs gegenüber dem Aggressiv-
notstand „allein mit Blick auf das Eingriffsopfer“ begründbar ist,46 nämlich auf des-
sen Eigenschaft, Ursprung der Gefahrenquelle oder gar selbst (Teil der) Gefahren-
quelle zu sein. Anders als in einer Konstellation des Aggressivnotstands, wie sie
etwa gegenüber den Flugzeugpassagieren in den durch § 14 Abs. 3 LuftSiG a.F. ge-
regelten Fällen vorliege, könne im Defensivnotstand sogar die Tötung desjenigen ge-
rechtfertigt sein, der die Gefahr geschaffen oder zumindest erhöht habe.47 Es soll für
einen Defensivnotstand also bloße Kausalität für die Gefahr hinreichend und keine
Verantwortlichkeit dafür notwendig sein, wie Merkel an mehreren Beispielen vor-
führt: Zwecks Rettung des Lebens von ihm Gefährdeter getötet werden dürften er-
forderlichenfalls etwa ein Kind, dem ohne dessen Wissen ein Sprengstoffgürtel um-
gelegt wurde,48 eine Autofahrerin, die am Steuer ihres Wagens plötzlich bewusstlos
geworden sei,49 und ein eingeschlafener Mann, der von Dritten auf einen Rodelschlit-
ten gehievt und auf einen steilen Rodelhang geschoben wurde.50
Variiert man das Beispiel einer Flugzeugentführung dahingehend, dass der Eigen-
tümer eines Privatflugzeugs zunächst an dessen Steuer sitzt und dann während des
Fluges von seinem terroristisch gesinnten Begleiter mit Gewalt aus seiner Pilotenpo-
sition verdrängt wird, dann wären Abschuss des Flugzeugs sowie damit verbundene

46
Merkel, JZ 2007, 373 (384).
47
Merkel, JZ 2007, 373 (377).
48
Merkel, JZ 2007, 373 (377).
49
Merkel, JZ 2007, 373 (384).
50
Merkel, JZ 2007, 373 (383).
Das Grundrecht auf Leben als Tötungsverbot für den Staat 821

Tötung (auch) seines Eigentümers Merkel zufolge wohl ebenfalls infolge Defensiv-
notstands gerechtfertigt. Denn wenn es auch ein „böses Schicksal“ war, das den Ei-
gentümer des Flugzeugs durch dessen Starten zum Ursprung einer Gefahrenquelle
gemacht hat, so begründen doch sein eigenhändiges Starten des Flugzeugs und
auch sein Eigentum daran im Sinne Merkels eine besondere „Zuständigkeit“ für
die Gefahrenquelle,51 die bloßen Flugzeugpassagieren nicht zukommt. Während
der besagte Flugzeugeigentümer also im Defensivnotstand erforderlichenfalls getö-
tet werden dürfte, soll dies gegenüber den Flugzeugpassagieren im Aggressivnot-
stand in jedem Fall rechtswidrig bleiben.
Meines Erachtens kann aber allein die Kausalität einer Person für die Gefährdung
bestimmter Rechtsgüter nicht hinreichen, um deshalb unterschiedliche strafrechtli-
che Konsequenzen an ihre Tötung zu knüpfen52 – weder auf Tatbestandsebene, indem
der Gefahrverursacher dort wegen seines Verursachungsbeitrags bereits als grund-
sätzlich strafwürdig eingestuft wird, noch auf Rechtfertigungsebene, indem der Ge-
fahrverursacher dort wegen seines Verursachungsbeitrags bereits als nicht mehr
strafrechtsschutzwürdig eingestuft wird. Wer etwa mit vis absoluta gegen eine andere
Person oder eine fremde Sache gestoßen wird, verhält sich mit einem Verursachungs-
beitrag ebenso wenig tatbestandsmäßig gegenüber Dritten wie ohne einen solchen
Verursachungsbeitrag – und er kann aufgrund dieses Verursachungsbeitrags ebenso
wenig seinen strafrechtlichen Schutz vor Dritten einbüßen wie ohne einen solchen
Verursachungsbeitrag.
Die Rechtsgüter des Gefahrverursachers bleiben sogar dann noch unverändert
schutzwürdig, wenn er die Gefahr für das Erhaltungsgut durch erlaubt riskantes Ver-
halten bewirkt hat. Wem die Rechtsordnung die Schaffung eines bestimmten Risikos
erlaubt hat, dessen allgemeine Handlungsfreiheit bewertet sie höher als jenes da-
durch geschaffene Risiko. Es wäre dann aber wertungswidrig, wenn wegen der Ri-
sikoerlaubnis zwar nicht in die Freiheit des Verursachers zu der gefahrursächlichen
Handlung eingegriffen werden dürfte, wohl aber trotz der Erlaubnis in wertvollere
Rechtsgüter des Gefahrverursachers unter erleichterten Voraussetzungen eingegrif-
fen werden dürfte. Die mit der Erlaubnis bewirkte rechtliche Gleichstellung eines
erlaubt riskanten mit einem nicht riskanten Verhalten muss nicht nur auf der Tatbe-
stands-, sondern ebenso auf der Rechtfertigungsebene gelten. Führt verkehrsregelge-
rechtes Autofahren aufgrund unvorhersehbarer Umstände zur Gefährdung eines an-
deren, so muss der Schutz sämtlicher Eingriffsgüter des Autofahrers relativ zu den
gefährdeten Erhaltungsgütern aufgrund der Risikoerlaubnis unverkürzt erhalten blei-
ben: Würde der strafrechtliche Schutz der Eingriffsgüter quasi als Sanktion für die
Risikoschaffung verkürzt, sobald sich das erlaubte Risiko zu verwirklichen droht,
dann handelte es sich gar nicht um eine wirkliche Erlaubnis.
Im Ergebnis kann daher erst ein unerlaubt riskantes Verhalten des Gefahrverursa-
chers dazu führen, dass sich die Schutzwürdigkeit von dessen Eingriffsgütern relativ
51
Merkel, JZ 2007, 373 (384).
52
Zum Folgenden SK-StGB/Hoyer, 9. Aufl. 2017, § 34 Rn. 84 ff.
822 Andreas Hoyer

zum Erhaltungsgut verringert. Dementsprechend kann auch erst ein unerlaubt riskan-
tes Verhalten dazu führen, dass den Gefahrverursacher eine Garantenstellung aus In-
gerenz zur Ausschaltung der von ihm geschaffenen Gefahrenquelle trifft.53 An einem
solchen unerlaubt riskanten Verhalten fehlt es aber, wenn sich der Gefahrverursa-
chungsbeitrag des Privatflugzeugeigentümers im obigen Beispiel darauf beschränkt,
dass er sein Flugzeug zunächst startet und dann ordnungsgemäß lenkt. Dass er Eigen-
tümer des gefährlichen Privatflugzeugs ist, führt zwar dazu, dass er aufgrund eines
Defensivnotstands in seinem Eigentum verletzt werden darf, nicht aber dazu, dass
auch für seine Tötung ein Defensivnotstand als Rechtfertigungsgrund in Betracht
käme. In den Worten Reinhard Merkels entspricht es einem „Gebot der Fairness,
also der Gerechtigkeit“,54 dass der Staat, nachdem er den rechtswidrigen Angriff
des Flugzeugentführers seinem grundrechtlichen Schutzauftrag entgegen nicht zu
verhindern vermochte, daraus nicht umgekehrt eine Legitimation dafür ableiten
kann, den zunächst rechtswidrig Angegriffenen nunmehr von Rechts wegen unter er-
leichterten Voraussetzungen (Defensiv- statt Aggressivnotstand) zu töten zu erlau-
ben.

VII. Aggressivnotstand als Legitimationsgrund


für staatliche Tötungserlaubnisse
Wie bei der Tötung eines bloßen Flugzeugpassagiers kommt damit auch gegen-
über dem Flugzeugeigentümer (sowie dem auf den Rodelhang geschobenen Einge-
schlafenen in Merkels Beispiel)55 allenfalls ein Aggressivnotstand als Rechtferti-
gungsgrund in Betracht. Dass eine Abwägung „Leben gegen Leben“ unserer Rechts-
ordnung nicht in jedem Fall fremd ist, macht Merkel selbst am Beispiel der Kollision
mehrerer Lebensrettungsgebote deutlich.56 Dasselbe gilt, wenn mehrere Tötungsver-
bote miteinander kollidieren, wie in folgender Fallkonstellation: Bei der Love-Para-
de ist eine Massenpanik ausgebrochen, aufgrund derer A von hinten so nach vorne
gestoßen wird, dass er nur alternativ entweder das eine oder das andere seiner beiden
bereits gestürzten und vor ihm am Boden liegenden Kinder mit seinen Tritten zu Tode
bringen kann. In den Flugzeugentführungsfällen kollidieren nun allerdings nicht
zwei gleichgerichtete Verhaltensnormen miteinander (entweder zwei Rettungsgebo-
te oder zwei Verletzungsverbote), sondern zwei einander entgegengesetzte Verhal-
tensnormen, nämlich einerseits ein Rettungsgebot gegenüber den durch das Flug-
zeug bedrohten Menschen am Boden sowie andererseits ein Verletzungsverbot ge-
genüber den im Flugzeug befindlichen entführten Menschen.

53
SK-StGB/Stein, 9. Aufl. 2017, § 13 Rn. 50.
54
Merkel, JZ 2007, 373 (384).
55
Vgl. Merkel, JZ 2007, 373 (383).
56
Vgl. Merkel, JZ 2007, 373 (380): Die Feuerwehr kann nur alternativ entweder die Be-
wohner des einen oder des anderen in Brand gesetzten Hauses retten.
Das Grundrecht auf Leben als Tötungsverbot für den Staat 823

Merkel formuliert für eine derartige Kollision einander entgegengesetzter Pflich-


ten die Regel, dass „die negativen (Unterlassungs-)Pflichten des Staates“, also die
Verletzungsverbote, gegenüber „den positiven, den Schutzpflichten“ bzw. Rettungs-
geboten „in jeder direkten Kollision zwischen beiden ausnahmslos vorgehen“.57
Demnach dürften die entführten Fluginsassen keinesfalls aktiv geopfert werden,
um das Leben noch so vieler anderer Menschen am Boden zu schützen. Aber ein der-
artiger absoluter Vorrang der Verletzungsverbote gegenüber den Rettungsgeboten
soll in unserer Rechtsordnung deren Regeln zum Aggressivnotstand zufolge gerade
nicht bestehen. „Seiner vorrangigen Aufgabe nach“58 soll der Staat zwar verhindern,
dass seine Bürger in ihrer Rechtssphäre aktiv verletzt werden; das gilt gem. § 34
StGB aber nicht, wenn das „geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich über-
wiegt“, bzw. gem. § 904 BGB nicht, wenn der „drohende Schaden gegenüber dem
aus der Einwirkung […] entstehenden Schaden unverhältnismäßig groß ist“.
Bei einer Kollision zwischen Verletzungsverbot und Rettungsgebot müssen des-
wegen gem. § 34 StGB „namentlich die betroffenen Rechtsgüter und der Grad der
ihnen drohenden Gefahren“ gegeneinander abgewogen werden. Wenn es jeweils
um Lebensgefahren geht, dann kann also der Gesichtspunkt, dass es sich auf der
einen Seite um eine konkrete, auf der anderen um eine abstrakte Lebensgefahr han-
delt, dazu führen, dass die Rettungspflicht zugunsten des konkret gefährdeten Lebens
gegenüber dem Verletzungsverbot zugunsten des abstrakt gefährdeten Lebens „we-
sentlich überwiegt“.59 Dass auch die Anzahl der auf der einen und auf der anderen
Seite mit derselben Gefahr konfrontierten Menschenleben im Rahmen der Abwä-
gung bedeutsam sein kann, hat Merkel in seinem Beispiel zur rechtfertigenden
Pflichtenkollision60 überzeugend gezeigt.
Schließlich darf dabei auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass das Leben der
Flugzeugpassagiere selbst bei Einhaltung des Abschussverbots binnen Kurzem auf-
grund derselben Gefahr unrettbar verloren ginge, vor der die am Boden befindlichen
Menschen durch Einhaltung der Schutzpflicht ihnen gegenüber immerhin auf unab-
sehbare Dauer bewahrt werden könnten. Bezogen auf den Fall einer chirurgischen
Trennung siamesischer Zwillinge hat Reinhard Merkel selbst betont, dass es ihm
nicht einleuchte, „um der minimalen Verlängerung eines unrettbar verlorenen Le-
bens willen ein vollständig zu rettendes anderes preisgeben“ zu sollen.61

57
Merkel, JZ 2007, 373 (381).
58
Merkel, JZ 2007, 373 (381).
59
Roxin, AT Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 24.
60
Merkel, JZ 2007, 373 (380).
61
Merkel, in: Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 603 (S. 603 ff.).
824 Andreas Hoyer

VIII. Aggressivnotstand als Legitimationsgrund


für Tötungen durch Amtsträger
Wenn aber der Staat eine Tötung durch Private unter der Voraussetzung erlauben
darf, dass das geopferte Leben ohnehin nur „um wenige Augenblicke länger erhalten
werden könnte“, dann muss er eine entsprechende Erlaubnisnorm auch zugunsten
seiner eigenen Amtsträger schaffen können:62 Die Kollision zwischen den Interessen
der durch das Tötungsverbot geschützten Flugzeugpassagiere einerseits und den
durch das Rettungsgebot begünstigten Menschen am Boden andererseits ist jeweils
dasselbe – und der Staat löst diese Kollision jeweils zugunsten des Rettungsgebots
auf, indem er den Flugzeugabschuss erlaubt.
Merkel meint demgegenüber, der Staat in seiner „fundamentalen Rolle als Norm-
garant“ dürfe Durchbrechungen des Tötungsverbots „eher einer Privatperson gestat-
ten als selbst begehen“.63 Eine Sonderrolle als Normgarant kommt dem Staat aber
nicht nur für die Aufrechterhaltung des Tötungsverbots zu, sondern auch für den
Schutz seiner Bürger vor rechtswidrigen Angriffen auf ihr Leben. Wenn sich für
den Staat aufgrund der primär „abwehrrechtlichen Funktion der Grundrechte“64 in-
soweit die Aufrechterhaltung des Tötungsverbots als vorrangig darstellte, dann dürf-
te er die Geltung dieses Tötungsverbots weder dadurch durchbrechen, dass er sich
selbst zur Tötung ermächtigt, noch dadurch, dass er die Verbotsschranke gegenüber
Tötungen durch Private hebt. Letzteres vertritt aber auch Merkel nicht, wenn es bei
einer „asymmetrischen Chancenverteilung“ um die Rettung desjenigen siamesischen
Zwillings geht, dessen Leben auf Kosten des anderen allenfalls gerettet werden
kann.65
Eine entsprechende asymmetrische Chancenverteilung liegt jedoch auch im Ver-
hältnis zwischen den entführten Flugzeugpassagieren und den am Boden von einem
Terroranschlag mit dem Flugzeug Bedrohten vor. Erlaubt es der Staat in einer solchen
Konstellation Privaten, das Flugzeug unter Tötung unschuldiger Passagiere abzu-
schießen, müsste diese Erlaubniserteilung Merkel zufolge also staatstheoretisch le-
gitimierbar, die Tötung selbst demnach als Aggressivnotstand rechtfertigbar sein.
Wenn aber ein Privater sich zur Rechtfertigung seines straftatbestandsmäßigen Ver-
haltens auf einen Aggressivnotstand (gegenüber den Flugzeugpassagieren) oder auf
Nothilfe (gegenüber den Flugzeugentführern) berufen könnte, dann soll dies nach
herrschender Auffassung auch für Amtsträger in derselben Notstands- bzw. Nothil-
fesituation gelten. Strittig ist innerhalb dieser herrschenden Auffassung lediglich, ob
§§ 32, 34 StGB auch dazu hinreichen, als „Superermächtigungsgrundlage“ zu einer
öffentlichrechtlichen Gefahrenabwehr die Verwaltungsrechtswidrigkeit des Amts-

62
A.A. Merkel, in: Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 603 (S. 633
Fn. 75).
63
Merkel, in: Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 603 (S. 633 Fn. 75).
64
Merkel, in: Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 603 (S. 633 Fn. 75).
65
Merkel, in: Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 603 (S. 633).
Das Grundrecht auf Leben als Tötungsverbot für den Staat 825

trägerhandelns auszuschließen,66 oder ob sich ihre Wirkung auf das Strafrecht be-
schränkt, an der Verwaltungsrechtswidrigkeit aber nichts zu ändern vermag.67 Mer-
kels differenzierende Stellungnahme, der Staat könne eine Durchbrechung des Tö-
tungsverbots „eher einer Privatperson gestatten als selbst begehen“,68 deutet aber dar-
auf hin, dass er bereits die Möglichkeit einer strafrechtlichen Rechtfertigung der ein-
seitig tödlichen Trennung siamesischer Zwillinge (und also auch der Tötung der
Flugzeugpassagiere) nur Privatpersonen zugestehen will, während Amtsträger inso-
weit trotz § 34 StGB strafrechtswidrig handelten.
Der Staat müsste es dann allerdings der Bereitschaft und Fähigkeit von Privaten
zur Vornahme der gerechtfertigten Rettungshandlung überlassen, ob diese überhaupt
und ob sie erfolgreich durchgeführt wird. Wenn es darum geht, ein Flugzeug abzu-
schießen, dann verfügt der Staat in Form seiner Streitkräfte im Vergleich zu Privaten
aber über die weit besseren sachlichen und personellen Voraussetzungen, eine etwai-
ge Rettungsaktion erfolgreich durchzuführen. Zudem bräuchte sich der Staat seinen
Streitkräften gegenüber nicht mit einer bloßen Abschusserlaubnis zu begnügen, son-
dern könnte den Abschuss durch seinen Verteidigungsminister auch positiv anordnen
lassen, wie dies für § 14 Abs. 3 LuftSiG a.F. auch vorgesehen war. Zwecks Erfüllung
seiner Schutzpflicht gegenüber dem Leben derjenigen Menschen, die am Boden
durch einen Terroranschlag ums Leben kämen, wäre also eine Selbstermächtigung
zum Flugzeugabschuss deutlich geeigneter als eine Tötungserlaubnis allein zuguns-
ten Privater, die zwar theoretisch gälte, aber praktisch weitgehend leerliefe.
Dass der Staat gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG zwar durch Erteilung einer Abschuss-
erlaubnis in das Recht der Flugzeugpassagiere auf Leben eingreifen darf, dabei aber
auf die Installation eines bloßen „Papiertigers“ beschränkt bleiben soll, entspräche
nicht der Auslegungsmaxime, dass Grundrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) und Grund-
rechtsschranke (§ 34 StGB) in ein Verhältnis praktischer Konkordanz zueinander ge-
setzt werden müssen.69 § 34 StGB so auszulegen, dass Flugzeugabschüsse zwar
rechtlich vornehmen darf, wer sie faktisch nicht vornehmen kann, aber rechtlich
nicht vornehmen darf, wer sie faktisch vornehmen könnte, würde dieser Maxime
nicht gerecht.
Indem § 34 StGB für eine Rechtfertigung voraussetzt, dass das geschützte Inter-
esse das beeinträchtigte „wesentlich überwiegt“, wird der primär „abwehrrechtlichen

66
So insbesondere die Rechtsprechung; vgl. RGSt 61, 216 (217); BGH NJW 1958, 1405
(1406); OLG Celle NJW-RR 2001, 1033 (1035 f.); SK-StGB/Hoyer, 9. Aufl. 2017, § 32
Rn. 101.
67
So die sog. Spaltungslösung; vgl. SK-StGB/Hoyer, 9. Aufl. 2017, § 32 Rn. 103; MüKo-
StGB/Erb, 3. Aufl. 2017, § 32 Rn. 189; NK-StGB/Paeffgen/Zabel, 5. Aufl. 2017, Vor §§ 32 ff.
Rn. 151.
68
Merkel, in: Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 603 (S. 633 Fn. 75).
69
Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl.
1995, Rn. 72; siehe auch BVerfGE 28, 243 (260 f.); BVerfGE 41, 29 (50); BVerfGE 129, 78
(102).
826 Andreas Hoyer

Funktion der Grundrechte gegen den Staat“70 bereits entsprochen71 – würden schutz-
und abwehrrechtliche Funktion als gleichwertig eingestuft, müsste es für einen Un-
rechtsausschluss bereits hinreichen, wenn das geschützte Interesse das beeinträchtig-
te „im Wesentlichen ausgleicht“. Eine vollständige Vernachlässigung der schutz- re-
lativ zur abwehrrechtlichen Funktion der Grundrechte, wie sie eine Beschränkung
der Erlaubnis zum Flugzeugabschuss auf Private bedeutete, ist andererseits durch
die Forderung nach einem wesentlichen Überwiegen in § 34 StGB auch nicht ange-
legt.

IX. Fazit
Vielleicht lassen sich sogar die gesamten obigen Ausführungen in der Kurzformel
zusammenfassen, dass ich die Grenze zwischen abwehr- und schutzrechtlicher Funk-
tion der Grundrechte weniger abwehr- und stärker schutzbetont zu ziehen geneigt
bin, als es Reinhard Merkel in seinem Grundlagenaufsatz zum Verhältnis von
Recht, Staat und Individuum getan hat. Wahrscheinlich sind daher die Schlussfolge-
rungen, die Du, Reinhard, aus Deinem liberaleren Staatsverständnis ziehst, von
Deinem Ausgangspunkt aus nicht weniger konsequent als meine, von einem eher so-
zialstaatlichen Staatsverständnis ausgehend. Mit diesem versöhnlichen Resümee
verbinde ich die Hoffnung, dass Du dennoch nicht alle hier angeführten Argumente
einfach ungeprüft „abwehrst“ und ich mich andererseits gegen etwaige Gegenargu-
mente von Dir zumindest halbwegs „geschützt“ habe.

70
Merkel, in: Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 603 (S. 633 Fn. 75).
71
Vgl. SK-StGB/Hoyer, 9. Aufl. 2017, § 34 Rn. 40.
Die Weigerung ein menschlicher Schutzschild zu sein
Von Wolfgang Mitsch

I. Einleitung
In meiner persönlichen Hitliste der Texte von Reinhard Merkel, die ich gelesen
habe,1 steht auf dem ersten Platz der Beitrag zur Festschrift für Rolf Dietrich Herz-
berg: „Die Abgrenzung von Handlungs- und Unterlassungsdelikt, Altes, Neues, Un-
gelöstes“.2 Dieser Aufsatz macht die Faszination spürbar, die von kleinteiligen Er-
scheinungsformen menschlichen Daseins in schlichten Alltagssituationen ausgeht,3
wenn diese auf die Dogmatik unseres Strafrechts treffen. Mitunter entsteht daraus
eine schwierige Problematik, an deren Bewältigung man sich die Zähne ausbeißen
kann. „Ungelöstes“ in diesem Zusammenhang zu erwähnen, ist wirklich berechtigt,
weil vieles, worüber Merkel schreibt, in der Literatur kaum behandelt, geschweige
denn gelöst wird.4 Besonders angetan hat es mir der Fall des in der Warteschlange vor
der Kasse stehenden Kinobesuchers.5 Über Fälle dieser Art denke ich seit Jahrzehn-
ten immer wieder einmal nach, ohne dabei jemals das Gefühl zu haben, sie richtig in
den Griff zu bekommen und eine befriedigende Lösung zu finden. Als Pennäler bin
ich im Winter selbst einmal einer nicht geringfügigen Verletzung dadurch entgangen,
dass ich mich auf dem Schulhof vor einem scharf geworfenen mir entgegen fliegen-
den harten Schneeball schnell abgeduckt habe. Die Beschädigung meiner Brille wäre
wohl noch eine harmlosere Folge gewesen, die durch die Reaktion abgewendet wer-
den konnte. Hätte hinter mir ein Mitschüler gestanden, wäre dieser im Gesicht ge-
troffen und sicher erheblich an der Gesundheit geschädigt worden. Reinhard Merkels
Text hat das Gefühl der Ratlosigkeit gelindert, aber nicht vollständig beseitigt. Zu
dem den Fall prägenden Muster „Wegducken“ hatte ich bisher in der Literatur allein
die Schrift „Notwehr und Notstand“ von Arthur Baumgarten aus dem Jahr 1911 ge-
funden.6 Merkel erörtert den Fall, ohne Baumgarten zu zitieren. Schon aus diesem

1
Leider habe ich es bei Weitem nicht geschafft, alle zu lesen.
2
Merkel, FS Herzberg, 2008, S. 193 ff.
3
Herzberg, FS Röhl, 2003, S. 270 (277): „Unauffällig-Alltägliches“, „der kleine Hand-
griff“.
4
Merkel, FS Herzberg, S. 193 (211).
5
Merkel, FS Herzberg, S. 193 (214).
6
Baumgarten, Notstand und Notwehr – Eine Studie im Hinblick auf das künftige Straf-
recht, 1911, S. 91 ff.
828 Wolfgang Mitsch

Grund erscheint es mir lohnend, erneut auf das Thema einzugehen und neben allen
vor allem Reinhard Merkel zu animieren, das (Streit-)Gespräch darüber fortzuset-
zen.7

II. Der Warteschlangen-Fall


Hier noch einmal der Sachverhalt:
X steht am Ende einer längeren Schlange vor einer Kinokasse, als er hinter sich
seinen Namen gezischt hört. Er dreht sich um und sieht in etwa 10 m Entfernung sei-
nen Todfeind Z, die Pistole im Anschlag und auf ihn, X, gerichtet, den Finger am
Abzug. X duckt sich reflexhaft tief zu Boden – im selben Moment fällt der Schuss.
Die Kugel fliegt über X hinweg und tötet den in der Schlange vor ihm stehenden Y.
Hätte sich X nicht geduckt, wäre er von der Kugel getroffen und wahrscheinlich
getötet, zumindest verletzt worden. Y hingegen wäre unverletzt geblieben. Nicht Ge-
genstand eingehenderer Erörterung soll die strafrechtliche Würdigung des Verhal-
tens des Z sein. Ganz frei von Problemen wäre auch diese nicht, da auf der Vorsatz-
ebene an aberratio ictus und error in persona zu denken wäre.8 Hätte X nicht in einer
Warteschlange, sondern vor einer Schaufensterscheibe gestanden, wäre Z wohl allein
wegen versuchten Totschlags oder Mordes strafbar, §§ 211, 212, 22 StGB. Für die
Zerstörung der Scheibe könnte er mangels Sachbeschädigungsvorsatzes strafrecht-
lich nicht zur Verantwortung gezogen werden, §§ 303, 15 StGB. Die Analyse des Fal-
les und die ganze hiesige Abhandlung soll – ebenso wie die von Reinhard Merkel in
der Herzberg-Festschrift – ausschließlich dem Verhalten des sich duckenden X gel-
ten. Hat dieser den Tatbestand eines vollendeten Tötungsdelikts (§§ 211, 212, 222
StGB)9 erfüllt, weil er der von Z abgefeuerten Kugel den Weg zum getöteten
Opfer Y freigab? Das Gericht, von dessen „kurioser Entscheidung“ Arthur Baumgar-
ten berichtete,10 hätte wahrscheinlich – je nach subjektiver Einstellung des X bezüg-

7
Wie ertragreich diese Kommunikationsform sein kann, bestätigt ja Reinhard Merkels
Abhandlung selbst, in die gewiss Anregungen eingeflossen sind, die der Autor durch den
Briefwechsel mit Rolf Dietrich Herzberg empfangen hat. In umgekehrter Richtung Herzberg,
FS Röhl, 2003, S. 270 (273).
8
Vgl. die Ähnlichkeit des Falles mit dem des sich in die Schussbahn werfenden Leib-
wächters bei Hardtung/Putzke, Examinatorium Strafrecht AT, 2016, Rn. 409. Freilich ist das
Verhalten des zwischen Schütze und Opfer die Kugel (nicht) aufhaltenden Menschen in beiden
Fällen genau entgegengesetzt.
9
Ob X Täter oder Gehilfe wäre, soll dahingestellt bleiben. Diese Abgrenzungsfrage stellte
sich nicht, wenn Y nicht durch eine von einem Menschen abgefeuerte Kugel, sondern durch
einen Gegenstand, den der technische Defekt einer Anlage zum tödlichen Flugobjekt gemacht
hätte, getötet worden wäre.
10
Baumgarten, S. 91: „A hat nach B einen Stein geworfen, B hat sich, um nicht getroffen
zu werden, gebückt und der Stein hat die Spiegelscheibe des C zertrümmert. Das Urteil erklärt
B für der Sachbeschädigung schuldig, denn hätte er sich nicht gebückt, so wäre er und nicht
das Fenster beschädigt“.
Die Weigerung ein menschlicher Schutzschild zu sein 829

lich der Tötung des Y – Totschlag oder fahrlässige Tötung bejaht. Auch Baumgarten
räumte ein, dass der Spruch „nicht so unsinnig“ sei, „wie es auf den ersten Blick den
Anschein haben könnte“. Gleichwohl sei die Verurteilung „zweifellos falsch, denn
zum mindesten konnte B sich auf Notstand berufen“.11 Merkel erachtet das Ergebnis
als „ganz gewiss abwegig“,12 obwohl er nicht wie Baumgarten auf den – wie sich
noch zeigen wird – sekundären Aspekt des Notstandes verweist.13 Seine Beurteilung
beruht auf der Prämisse, dass das Verhalten des X nicht die strafrechtlich erhebliche
Qualität des aktiven Tuns hat, sondern allenfalls unter den Voraussetzungen des Un-
terlassungsdelikts tatbestandsmäßig sein könne: „Das aktive Wegducken ist kein tat-
bestandlich aktives Töten.“ Welche Qualität das Verhalten des X stattdessen hat, teilt
Merkel sogleich auch mit: Er unterlässt die Gewährung (des Fortbestands) der eige-
nen Schutzschildfunktion. Mangels Schutzschildgewährungspflicht ist diese Unter-
lassung nicht strafbar.14
Man beachte die genaue Wortwahl des Jubilars: Das Verhalten sei schon eine Ak-
tivität, nämlich „aktives Wegducken“. Nur im Kontext des Tötungstatbestandes, also
z. B. des § 212 StGB, sei es kein aktives Tun, nämlich keine aktive Tötung oder –
noch genauer – keine tatbestandliche aktive Tötung. Ob ein und dieselbe Bewegung
des menschlichen Körpers aktives Tun ist oder nicht ist, hängt demnach wohl davon
ab, welcher Tatbestand als Maßstab zugrunde gelegt wird. Gäbe es einen Straftatbe-
stand, der unter bestimmten Rahmenbedingungen das „Wegducken“ mit Strafe be-
droht, wäre dieses „Wegducken“ aktives Tun. Bezogen auf das Tatbestandsmerkmal
„Tötung“ soll dieselbe Körperbewegung hingegen kein aktives Tun sein. Wenn das
richtig ist, ist die Abgrenzung von Tun und Unterlassen keine Vorfrage, die der Tat-
bestandsprüfung vorgelagert – vielleicht sogar eine völlig „vorrechtliche“ Thema-
tik15 – ist, sondern eine in die Auslegung des Tatbestandes und Subsumtion unter des-
sen Merkmale integrierte Wertung.16 Die Einordnung von Verhalten in die beiden
Grundkategorien „aktives Tun“ und „Unterlassen“ hat demnach keinen absoluten
Charakter, sondern ist eine Kategorisierung relativ zum jeweils einschlägigen Tatbe-
stand. Dann müsste ernsthaft überlegt werden, ob es sinnvoll ist, die Unterscheidung
von Tun und Unterlassen überhaupt als ein Thema des Allgemeinen Teils zu behan-
deln, wie wir das zu tun gewohnt sind.17 Möglicherweise muss man aber nicht einmal

11
Baumgarten, S. 92.
12
Merkel, FS Herzberg, S. 193 (214).
13
Auch Baumgarten schiebt sogleich eine Fallabwandlung nach, bei der nicht die Fens-
terscheibe, sondern deren Eigentümer von dem Stein getroffen und verletzt wird. Dass unter
diesen Umständen jedenfalls rechtfertigender Notstand ausgeschlossen ist, bringt ihn nicht
davon ab, eine von dem sich duckenden begangene Körperverletzung abzulehnen.
14
Zur Frage des „Unterlassens“ von Stehenbleiben unten IV.
15
Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil 2, 8. Aufl. 2014, § 45 Rn. 21 ff.
16
Merkel, FS Herzberg, S. 193 (197).
17
Es dürfte schwer sein, ein Lehrbuch zum Strafrecht Allgemeiner Teil zu finden, das nicht
in seinem Kapitel „Unterlassungsdelikte“ auch einen Abschnitt zu „Die Abgrenzung von Tun
und Unterlassen“ enthält, vgl. z. B. Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2018,
830 Wolfgang Mitsch

von der These abrücken, dass das Verhalten des X eine „aktive Tötung“ ist. Mit Rein-
hard Merkel im Einklang befindet sich auch derjenige, der darlegen kann, dass das
Verhalten zwar aktive Tötung, jedoch nicht „tatbestandlich“ ist. Sodann muss Mer-
kels Kritik an den „Kriterien der h. L.“ von deren Anhängern gar nicht als Auffor-
derung zur Räumung des eingenommenen Standpunktes verstanden werden. Sofern
deren Kriterien nämlich die Funktion haben, Tun und Unterlassen auf einer allgemei-
nen Ebene vor dem konkreten Tatbestandsmerkmal abzugrenzen, ist mit ihrer Aner-
kennung noch keine endgültige Festlegung getroffen, die bei der nachgelagerten Prü-
fung des Tatbestandsmerkmals (Subsumtion) zur Rutschpartie auf einer mit
Schmierseife präparierten abschüssigen Bahn zwingt, an deren Ende das uner-
wünschte Ergebnis einer durch aktives Tun begangenen Straftat steht.18 Mir erscheint
es daher sinnvoll, auch bei der strafrechtlichen Würdigung von problematischen Fäl-
len wie dem Wegducken zunächst einmal von dem auszugehen, was das Verhalten
des seine eigene Schutzschildposition aufhebenden Menschen der natürlichen An-
schauung nach ist: eine Aktivität.19 Denn es sollte erst aufgedeckt werden, ob der
Weg von diesem Ausgangspunkt zu befriedigenden Ergebnissen führt und – wenn
das nicht der Fall ist – in einem zweiten Schritt nach einer alternativen Lösung ge-
sucht werden.20 Diese kann eventuell darin bestehen, das aktive Tun in ein Unterlas-
sen umzudeuten.21 Vielleicht hilft aber auch das nicht und es ist die Sache des Ge-
setzgebers durch Einschränkungen des Tatbestandes die unerwünschte Strafbarkeit
auszuschließen (dazu kurz unten V.).

III. Tatbestandsverwirklichung durch aktives Tun


Zunächst noch ein kleiner Exkurs in die wunderbare Welt des Fußballs:
Der Schiedsrichter gibt zwei Meter vor der Strafraumgrenze direkten Freistoß für
die angreifende Mannschaft TSG Hoffenheim. Die Spieler der gegnerischen Mann-
schaft – nennen wir sie FC Bayern München – bilden im Strafraum eine Mauer. Dem
TSG-Spieler Florian Grillitsch gelingt es, sich in die Mauer zwischen die Bayern-
Spieler Niklas Süle und Jerome Boateng zu quetschen. Andrej Kramarić läuft an
und schießt genau in Richtung des Kopfes seines Teamkameraden Florian Grillitsch.
Dieser duckt sich blitzschnell, der Ball rauscht über ihn hinweg direkt in das Tor des
Gegners. Torwart Manuel Neuer hat keine Abwehrchance.

22. Kap. Rn. 6 ff.; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 5. Aufl.
1996, § 58 II; Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2017, § 18 Rn. 13 ff.; Maurach/
Gössel/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil 2, § 45 Rn. 1 ff.; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil
II, 2003, § 31 Rn. 69 ff.
18
Struensee, FS Stree/Wessels, 1993, S. 133 (146).
19
Ebenso Kuhlen, FS Puppe, 2011, S. 669 (681): „naturalistischer Kern“.
20
Stein, in: Systematischer Kommentar zum StGB, 9. Aufl. 2017, vor § 13 Rn. 77.
21
Kuhlen, FS Puppe, S. 669 (683).
Die Weigerung ein menschlicher Schutzschild zu sein 831

Derartige Kunstschüsse sind selten, kommen aber vor. Was hat diese Fußballszene
mit unserem Strafrechtsthema zu tun? Folgendes: Schütze des Freistoßtores ist un-
zweifelhaft Andrej Kramarić.22 Kein Mensch, der etwas vom Fußballsport versteht,
käme auf die Idee, den Treffer dem Torschützenkonto von Florian Grillitsch gutzu-
schreiben. Zwar hat Grillitsch gewiss durch seine aktive Körperbewegung nicht un-
wesentlich dazu beigetragen, dass der Ball im gegnerischen Tor gelandet ist. Hätte er
sich nicht geduckt, wäre der Ball gegen seinen Kopf geprallt und nicht ins Tor geflo-
gen. Grillitsch hat dieses Tor also (mit)verursacht. Aber er hat das Tor nicht „geschos-
sen“.23 Ebenso wenig würde man von einem „Eigentor“ sprechen, wenn Kramarić auf
den in der Mauer stehenden Bayern-Verteidiger Mats Hummels gezielt und dieser
sich vor dem heranfliegenden Ball geduckt hätte, woraufhin die Lederkugel ihren
Weg in das Tor gefunden hätte.
Was will uns dieser Ausflug auf den Fußballplatz sagen? Ein und dasselbe Ver-
halten eines Menschen kann zugleich Aktivität und Nicht-Aktivität sein, je nachdem,
welchem konkreten handlungsbeschreibenden Wort das Verhalten zugeordnet wird.
Kein Zweifel besteht daran, dass Florian Grillitsch sich aktiv „geduckt“ hat. Aber er
hat kein „Tor geschossen“, obwohl sein aktives Handeln ursächlich dafür war, dass
der Torschuss seines Teamkollegen ein Treffer wurde. Den Tor-Erfolg hat Grillitsch
mitverursacht, aber zum „tatbestandsmäßig“ handelnden Torschützen wurde er da-
durch nicht. Dem für den Torerfolg mitursächlichen Verhalten fehlt der spezifische
„Handlungswert“ des Torschusses. Ich denke, das entspricht voll und ganz der Fest-
stellung Merkels zum Verhalten des Menschen in der Warteschlange: „das aktive
Wegducken ist kein tatbestandlich aktives Töten“. Kurz: aktiv ja, aber aktive Tötung
nein.
Reinhard Merkel vermutet, dass niemand das abwegige Ergebnis akzeptieren
würde, den sich wegduckenden X wegen Totschlags oder fahrlässiger Tötung zu ver-
urteilen. Indessen gebe es einige, die sich zu dem richtigen Ergebnis nur unter punk-
tueller Abkehr von den grundsätzlich präferierten Kriterien der Abgrenzung von Tun
und Unterlassen bekennen könnten. Also sollten sie doch besser gleich ihren Aus-
gangspunkt komplett korrigieren. Diese Anregung ist angesichts der nicht wenigen
Problemfälle gewiss ernst zu nehmen. Aber bevor man diesen Schritt tut, empfiehlt
sich die Schaffung eines etwas breiteren Urteilsfundaments durch Bildung einiger
Fallabwandlungen, bei denen das Ergebnis vielleicht nicht mehr ganz so abwegig er-
scheint wie in unserem Ausgangsbeispiel. Die starke Sympathie für die Einschät-
zung, dass es vollkommen unangemessen wäre, dem unfreiwillig zum Schutzschild
gewordenen Wegducker das Stigma des Totschlägers aufzuprägen, empfängt gewiss
erheblichen Auftrieb von der Rechtfertigungsnähe der Gefahrabwendungskompo-
nente und der Bedeutung des Rechtsgutes, das auf dem Spiel steht. Sich selbst aus

22
Erinnert sei an das wunderschöne Freistoßtor am 18. 5. 2019 zum zwischenzeitlichen
Spielstand 0:2 im Spiel FSV Mainz 05 gegen TSG Hoffenheim (Endstand 4:2).
23
Anders fiele die Torschützenentscheidung möglicherweise aus, wenn Grillitsch ange-
schossen worden wäre und dem Ball eine andere Richtung ins gegnerische Tor gegeben hätte.
832 Wolfgang Mitsch

der Schusslinie nehmen ist nichts weniger als Abwendung gegenwärtiger und nicht
anders abwendbarer Lebensgefahr. Letztendlich wäre die Tat – wenn sie denn eine
rechtswidrige aktive Tötung wäre – gem. § 35 Abs. 1 S. 1 StGB entschuldigt. Jeden-
falls aus diesem Grund müsste ein auf strafbare Tötung lautender Schuldspruch nicht
nur als abwegig, sondern falsch bezeichnet werden. Ob bereits die Qualifikation des
Täterverhaltens als tatbestandsmäßige Tötung ein abwegiges oder falsches Ergebnis
ist, bedarf der Prüfung an einem Fall, in dem die Lage des Schutzschildmenschen
weniger dramatisch ist. Entfernt man die Lebensgefahr aus dem Sachverhalt,
indem man den „menschlichen Schutzschild“ mit einer „Panzerung“ ausstattet,
die vor Tötung und sogar nennenswerter Gesundheitsbeschädigung schützt, fällt zu-
gleich die Möglichkeit weg, den Täter wegen Rechtfertigung oder Entschuldigung
vor Strafbarkeit und Bestrafung zu bewahren.24
Im Karnevalsgetümmel am Rosenmontag ist T als Ritter verkleidet mit einer
schweren Rüstung aus Metall unterwegs. Als T plötzlich in 10 Meter Entfernung
einen als Indianer verkleideten Mann M sieht, der in seiner rechten Hand einen To-
mahawk hält, den er im Begriff ist sogleich auf den T zu werfen, duckt sich T so
schnell es mit der Rüstung geht. Der von M geschleuderte Tomahawk fliegt dicht
über den Kopf des T hinweg und trifft den hinter T stehenden O am ungeschützten
Kopf. Dieser trägt eine schwere Kopfverletzung davon bzw. wird getötet. T wäre hin-
gegen nur ganz leicht verletzt worden, wenn der Tomahawk seinen durch eisernen
Helm geschützten Kopf getroffen hätte.
T hat die Verletzung des O mitverursacht. Eine Rechtfertigung gemäß § 34 StGB
kommt auf Grund des erheblichen Missverhältnisses zwischen der Schwere der
Schädigung des O und der geringfügigen Gefahr für die Gesundheit des T nicht in
Betracht. Auch nach § 35 Abs. 1 StGB ist T nicht entschuldigt, da die Gefahr
bloß völlig unerheblicher Gesundheitsbeeinträchtigungen anerkanntermaßen nicht
notstandsfähig ist.25 Die herrschende Lehre muss hier also Farbe bekennen, ob sie
eine Strafbarkeit des T über die – von Reinhard Merkel gewiss bejahte – Unterlassene
Hilfeleistung gem. § 323c StGB hinaus26 – also §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB oder
§ 229 StGB bzw. § 212 StGB oder § 222 StGB – für das richtige Ergebnis hält. Das
Wegducken des T ist aktives Tun. Dies stellt auch Reinhard Merkel nicht in Abrede.
Möglicherweise ist diese Aktivität aber – erste Variante – keine aktive körperliche
Misshandlung/Gesundheitsbeschädigung bzw. Tötung oder – zweite Variante –
keine aktive tatbestandsmäßige körperliche Misshandlung/Gesundheitsbeschädi-
gung bzw. Tötung. Obwohl beide Varianten zum selben Ergebnis führen – keine tat-
bestandsmäßige Körperverletzung, kein tatbestandsmäßiger Totschlag, keine tatbe-
standsmäßige fahrlässige Tötung – gefällt mir die zweite besser. Das Wegducken des
24
Selbstverständlich sollte auch bei gerechtfertigten und entschuldigten Taten stets auf der
Stufe des objektiven Tatbestandes geklärt werden, ob sie Begehungs- oder Unterlassungstaten
sind, Kuhlen, FS Puppe, S. 669 (672).
25
Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 35 Rn. 6/7.
26
Im Warteschlangen-Fall lehnt Merkel Strafbarkeit aus § 323c StGB wegen Unzumut-
barkeit ab, Merkel, FS Herzberg, S. 193 (214).
Die Weigerung ein menschlicher Schutzschild zu sein 833

T ist aktive Gesundheitsbeschädigung und aktive Tötung des O. Es dürfte dem Laien
kaum begreiflich zu machen sein, dass T mit seiner Aktivität nicht „die Körperver-
letzung einer anderen Person verursacht“ oder „den Tod eines Menschen verursacht“
hat, wie der Wortlaut des § 229 StGB und des § 222 StGB das tatbestandsmäßige Ver-
halten beschreibt. Wer Gegenteiliges behauptet, muss den Vorwurf gewärtigen, dass
er die Volkstümlichkeit und Allgemeinverständlichkeit der Gesetzessprache um des
richtigen Ergebnisses willen opfert, was der „Bürgernähe“ unseres Strafgesetzbu-
ches nicht zuträglich wäre.27 Die Entfernung vom „natürlichen Wortsinn“ sollte
im Strafrecht auch bei einer täterbegünstigenden Rechtsanwendung ultima ratio
sein, also unterbleiben, wenn die Dogmatik einen anderen Zugang zum gewünschten
Ergebnis öffnet.28 Das ist meines Erachtens der Vorzug der Lehre, die ausgehend von
der vorläufigen Feststellung eines aktiven Tuns im naturalistischen Sinne anschlie-
ßend die rechtliche Relevanz als tatbestandsmäßiges aktives Tun bestreitet, weil die
aktive Handlung wertungsmäßig einem Nichtstun, also Unterlassen, gleichzustellen
ist.29 Ich denke, darin bin ich mit Reinhard Merkel einig.30 Der – mögliche – Dissens
im Ergebnis verlagert sich also auf die Ebene, wo um die Gründe für den normati-
vierenden Schritt vom naturalistischen Ausgangspunkt zum unterlassungsgleichen
Tun gerungen wird.
Die Umdeutung einer Aktivität in strafrechtliches Unterlassen bezweckt die Be-
gründung einer Straflosigkeit, die auf der Basis des Begehungsdelikts nicht zu be-
gründen ist. Vorsicht ist daher geboten in Bezug auf Fallgestaltungen, in denen
nicht Strafbarkeit, sondern umgekehrt Straflosigkeit ein intuitiv unerwünschtes Er-
gebnis wäre.31 Eine kleine Abwandlung des „Warteschlangen-Falles“ möge einen
Denkanstoß in diese Richtung geben:
X steht vor der Kinokasse direkt hinter Y und verdeckt diesem dadurch den Blick
in den Bereich hinter dem Ende der Warteschlange, wo Z – ein Freund des X und
Feind des Y – lauert. Den Z kann Y daher auch dann nicht sehen, wenn er sich um-
dreht. Dies will Z ausnutzen, indem er eine Stahlkugel in die Richtung des X wirft. X
soll sich blitzschnell ducken, damit die über ihn hinwegfliegende Kugel den Y am
Kopf trifft. Z ruft den Namen des X und gibt dem sich Umdrehenden durch Gesten

27
Gropp, GedSchr Schlüchter, 2002, S. 173 (187); Maurach/Gössel/Zipf, AT II, § 45
Rn. 24; T. Walter, ZStW 116 (2004), 555.
28
Das ist der Fall, wenn ein Rechtfertigungsgrund eingreift. Nur scheinbar ist gleichwohl
die Klassifikation als aktives Tun oder Unterlassen notwendig, weil wir die Tatbestandsmä-
ßigkeit vor der Rechtswidrigkeit zu prüfen gewohnt sind. Aber diese Reihenfolge ist nicht
zwingend.
29
Herzberg, FS Röhl, S. 270 (274).
30
Merkel, FS Herzberg, S. 193 (197): „Für die vorrechtliche Bedeutung dieser Begriffe
[gemeint sind die Begriffe ,Tun‘ und ,Unterlassen‘, W.M.] ist das gewiss richtig.“
31
Zweifellos ist es richtig, dass man sich davor hüten muss, sich „von moralischen Intui-
tionen überwältigen zu lassen“, Merkel, FS Herzberg, S. 193 (194). Aber zur Suche nach
dogmatischen Lösungen in eine bestimmte Richtung darf man sich durch Gefühle schon an-
stoßen lassen.
834 Wolfgang Mitsch

die Anweisung, er solle stehen bleiben und sich vor der heranfliegenden Kugel du-
cken. X antwortet mit einem Kopfnicken. Danach wirft Z. X duckt sich, die Kugel
fliegt über ihn hinweg und trifft den Y am Kopf.
Dass Z und X Beteiligte einer gefährlichen Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2,
4 StGB) zum Nachteil des Y sind, dürfte nicht zu bezweifeln sein. Z ist Täter und X
zumindest sein Gehilfe (§ 27 StGB). Diskutieren lässt sich gewiss auch über eine
Mittäter-Rolle (§ 25 Abs. 2 StGB) des X.32 Allerdings ist sowohl die Beihilfe als
auch die Mittäterschaft vom Bestehen einer Garantenstellung (§ 13 Abs. 1 StGB) ab-
hängig, wenn das Beteiligungs-Verhalten des X nicht als aktives Tun, sondern als Un-
terlassen zu qualifizieren ist. Aus welchem rechtlichen Grund X eine Garantenstel-
lung haben könnte, ist aber nicht zu erkennen. Wieso auch sollte X eine Garanten-
stellung haben, nicht aber Z, der zweifellos kein Garant ist, aber ebenso zweifelsfrei
Täter einer gefährlichen Körperverletzung? Die Strafbarkeit des X muss deshalb auf
seinem aktiven Tun beruhen und auch die rechtliche Qualität eines Begehungsdelikts
haben. Zwar könnte man darauf verweisen, dass diese Qualität ja das Verhalten des Z
hat und – sofern X Mittäter ist – diesem gemäß § 25 Abs. 2 StGB zugerechnet wird.
Aber damit diese Zurechnung begründet ist, muss erst einmal ein ausreichender Mit-
täterbeitrag des X festgestellt sein. Für Strafbarkeit wegen Beihilfe gilt entsprechen-
des. Notwendig ist ein tatunterstützender Gehilfenbeitrag. Wenn dieser kein aktives
Tun ist, dann bedarf es wieder einer Garantenstellung.33 Man kommt also nicht daran
vorbei, das Verhalten des X in die Kategorie des aktiven Tuns einzuordnen, anderen-
falls bliebe er straflos. Diese Einordnung halte ich für unproblematisch, da vom Aus-
gangspunkt der h. M. nicht derjenige die Last der Begründung trägt, der tatsächliches
aktives Tun auch strafrechtlich als aktives Tun behandeln will. Die h. M. setzt in der
Regel aktives Tun mit tatbestandsmäßigem aktiven Handeln gleich und braucht nur
hin und wieder Ausnahmen, um dem Protest des Rechtsgefühls, das eine auf die Re-
geln des Begehungsdelikts gestützte Strafbarkeit nicht hinnehmen will, durch Um-
wertung des aktiven Tuns in „Unterlassen durch Tun“ Rechnung zu tragen. Diese
Umwertung bedarf der Begründung, nicht der Verzicht auf sie. In unserem Beispiel
drängt das Rechtsgefühl nicht nach einer Behandlung des Tuns als Unterlassen. Also
kann es bei der Qualifikation als tatbestandsmäßiges aktives Tun bleiben. Wer – wie
Reinhard Merkel – die naturalistische Sichtweise schon im Ansatz für verfehlt hält,
müsste nun darlegen, in wessen „Organisationskreis“34 der mit Z zusammenarbeiten-
de X sich bewegt hat. Ich sähe mich außerstande, anhand dieses Kriteriums eine
Strafbarkeit zu begründen.35 Gleichwohl bin ich in Bezug auf den nicht abgewandel-
ten Ausgangsfall „Warteschlange“ derselben Ansicht wie Merkel: Das Verhalten des
sich duckenden X kann in Relation zu der Verletzung des Y strafrechtlich nur als Un-
terlassen gewürdigt werden. Dazu brauchen wir aber nicht die Kreation einer neuen
32
SKStGB-Stein, vor § 13 Rn. 60.
33
SKStGB-Stein, vor § 13 Rn. 61.
34
Merkel, FS Herzberg, S. 193 (206 ff.).
35
Auch Herzberg, FS Röhl, S. 270 (276) wendet ein, „dass der Gedanke des ,Organisati-
onskreises‘ eher irreführt als richtig leitet.“
Die Weigerung ein menschlicher Schutzschild zu sein 835

Ausnahme.36 Der Fall lässt sich in dem bis jetzt noch nicht ausufernden überschau-
baren System platzieren.

IV. Aufhebung der Schutzschildposition als Unterlassen


1. Der Abbruch eines rettenden Kausalverlaufs

Wer einen Schritt zur Seite macht oder seinen Kopf einzieht und so einem Flug-
objekt freie Bahn zur Verursachung eines straftatbestandsmäßigen Erfolges schafft,
zieht durch Körperbewegungen die Aufmerksamkeit des Strafrechts auf sich.37
Wahrscheinlich wird jeder als erstes eine Strafbarkeit des Verhaltens als Begehungs-
delikt erwägen. Jedoch zwingt die naturalistische Feststellung aktiven Tuns nicht zu
einer Festlegung des strafrechtlich zu würdigenden Verhaltens auf die Kategorie des
Begehungsdelikts. Das normativierende Umschalten vom aktiven Tun zum Unterlas-
sen genießt in bestimmten Fällen weite Anerkennung und soll auch hier den weiteren
Erörterungen zugrunde gelegt werden. Die Frage ist deshalb, ob die aktive Aufhe-
bung der Schutzschildposition als „unterlassungsgleiches Handeln“38 einer der Fall-
gruppen des „Unterlassens durch Tun“39 zugeordnet werden kann, die sich in der
Strafrechtslehre schon etabliert haben. Das ist möglich, die Antwort ist also „ja“.
Stellt man sich vor, der Kinobesucher hat sich in Voraussicht eines Anschlags auf
den in der Warteschlange vor ihm Stehenden schützend hinter ihm postiert, diesen
Platz aber im letzten Moment – als der gefährliche Gegenstand auf ihn zuflog – ge-
räumt, wird die Zugehörigkeit zu einer Fallgruppe sofort augenfällig: die ursprüng-
liche Einnahme des Schutzschildpostens war die Einleitung eines rettenden Kausal-
verlaufs, den der hilfsbereite Beinahe-Retter aber wieder abgebrochen hat. Er hat
sich aktiv in seine ursprüngliche Position eines Nicht-Retters zurückversetzt und
durch diese Aktivität die zwischenzeitliche Aussicht des Verletzten auf Unversehrt-
bleiben zerstört. Maßstab für die Strafbarkeit des aktiven Abbruchs eines vom Täter
selbst ausgelösten rettenden Kausalverlaufs sind gleichwohl die Regeln des Unter-
lassungsdelikts. Denn der Täter soll nicht anders behandelt werden, als es der Fall
wäre, wenn er niemals eine rettende Aktivität entfaltet, sich also die ganze Zeit
auf reines Untätigbleiben beschränkt hätte.40 Dann käme von vornherein nichts an-
deres als die Würdigung im Lichte strafbaren Unterlassens in Betracht.41 Im Warte-
36
Dass der Kreis solcher Ausnahmen offen und erweiterbar ist, trifft zu, Kuhlen, FS Puppe,
S. 669 (683). Ich sehe darin keinen Nachteil.
37
„Sichtbare“ Handlung nach Bung, ZStW 120 (2008), 526 (531).
38
T. Walter, ZStW 116 (2004), 555 (561).
39
Roxin, AT II, § 31 Rn. 99.
40
Jäger, ZStW 115 (2003), 765 (768); Roxin, FS Engisch, 1969, S. 380 (383); ders., AT II,
§ 31 Rn. 109; T. Walter, ZStW 116 (2004), 555 (561, 567); diff. Herzberg, FS Röhl, S. 270
(279).
41
Maßgebend für die rechtliche Beurteilung des Unterlassens sind freilich die tatsächli-
chen Umstände nach dem aktiven Rücktritt von der Retter-Position. Denn die vorherige Ein-
836 Wolfgang Mitsch

schlangen-Fall hat der das spätere Opfer zunächst abschirmende Kinobesucher zwar
seinen Platz ohne Vorstellung von einer bevorstehenden Gefahr und somit ohne Ret-
tungswillen eingenommen. Aber das kann kein Grund sein, ihn nicht der einschlä-
gigen Fallgruppe zuzurechnen.42 Denn objektiv ist das Stehen in der Schlange als
Schutzschild eine vom Stehenden selbst eingeleitete Verletzungsabwehrmaßnah-
me.43

2. Aufhebung des Schutzschilds –


ein Verstoß gegen eine Handlungspflicht?

Wer nicht in der Warteschlange, sondern dicht neben ihr steht und durch einen
einzigen Sidestep die verletzungsverhindernde Schutzschildposition einnehmen
könnte, macht sich allenfalls wegen eines Unterlassungsdelikts strafbar, wenn er die-
sen Schritt nicht vollzieht. Wer am Ende der Schlange steht und diesen Platz verlässt,
soll nach Reinhard Merkel und nach hiesiger Ansicht ebenfalls nur unter den Voraus-
setzungen eines Unterlassungsdelikts strafbar sein. Zwar bewegt er sich aktiv, aber
das ist rechtlich nicht ahndungswürdiger als das untätige Verharren neben der poten-
tiellen Schutzschild-Position.44 Wer sich von dieser Position entfernt, bricht einen
zuvor von ihm selbst durch Aufsuchen des Ortes in Gang gesetzten rettenden Kau-
salverlauf wieder ab (oben 1.). Die gemäß § 13 Abs. 1 StGB erforderliche Garanten-
stellung wäre z. B. gegeben, wenn die in der Warteschlange gefährdete Person ein
minderjähriges Kind und der dahinter als Schutzschild stehende Mann dessen
Vater wäre.45 Dennoch ist zweifelhaft, ob der Vater die Voraussetzungen eines Un-
terlassungsdelikts erfüllen kann. Ein Unterlassungsdelikt begeht, wer die Vornahme
einer bestimmten Handlung unterlässt. Tatbestandsmäßiges Unterlassen ist Nichter-
füllung einer Handlungspflicht. Der Vater, der einen Schritt zur Seite macht und
damit sein vor ihm stehendes Kind schutzlos der Wirkung des gefährlichen Flugob-
jekts aussetzt, müsste, um wegen Unterlassens strafbar zu sein, dadurch eine Hand-
lungspflicht verletzt haben. Das ist fraglich, da er nur die Pflicht hatte, stehen zu blei-

nahme des Postens als Schutzschild könnte eine zuvor noch nicht existente Garantenstellung
aus Übernahme begründet haben, z. B. weil andere hilfeleistungswillige Anwärter auf die
Schutzschild-Position angesichts des schon vorhandenen Inhabers dieses Postens ihre Hilfe-
leistungsbereitschaft zurückgezogen haben; Schönke/Schröder/Bosch, § 13 Rn. 27; SKStGB-
Stein, § 13 Rn. 88; Stree, FS H. Mayer, 1966, S. 145 (155, 158); T. Walter, ZStW 116 (2004),
555 (568).
42
Samson, FS Welzel, 1974, S. 579 (600).
43
Ebenso Baumgarten, S. 95: „Aber die Rettungsmöglichkeit entstammt ja erst der
Rechtssphäre des Handelnden. Wenn er also diese Möglichkeit wieder zu nichte macht, dann
ist das Endresultat einfach, daß von ihm keine Rettung ausgegangen ist.“
44
Schon bei Baumgarten, S. 93 findet sich die Empfehlung, „Unterlassungen mit jenen
ihnen gleichstehenden Fällen der Verursachung“ zu vergleichen.
45
Die Zumutbarkeit hinge davon ab, wie schwer die dem Kind und dem Vater drohenden
Verletzungen wären. In dem obigen Karnevals-Beispielsfall (III.) wäre die Entscheidung
leicht: der Vater hätte eine ihm zuzumutende Rettung seines Kindes unterlassen.
Die Weigerung ein menschlicher Schutzschild zu sein 837

ben. Zu darüber hinausgehenden Körperbewegungen – z. B. Auffangen des Flugob-


jekts mit den Händen, Hochspringen – war er nicht verpflichtet, wenn solche Hand-
lungen gar nicht möglich, nicht zumutbar oder nicht erforderlich waren. Das Stehen-
bleiben müsste also eine Handlung sein, anderenfalls wäre die Pflicht zum Stehen-
bleiben keine Handlungspflicht und das Nicht-Stehenbleiben wäre keine Verletzung
einer Handlungspflicht. Ohne Verletzung einer Handlungspflicht gibt es aber kein
Unterlassungsdelikt. Die Entscheidung hängt also davon ab, welche physiologischen
Anforderungen man an die „Handlung“ im strafrechtlichen Sinne stellt. Wird als
Handlung nur ein Vorgang aktiver willensgesteuerter Körperbewegung(en) aner-
kannt,46 kann die bloße statische Anwesenheit des menschlichen Körpers an einer
Stelle – das „Dasein“47 – nicht als Handlung bezeichnet werden. Zwar mag auch
zur Bewahrung einer aufrechten Haltung des Körpers eine Anspannung der Musku-
latur, also aktiver Energieeinsatz, erforderlich sein.48 Aber das ist keine „Bewegung“
des Körpers, zumal man sich Situationen vorstellen kann, in denen nicht einmal diese
muskuläre Arbeit notwendig ist. Wer in einem bequemen Sessel sitzend selbst im
Schlaf seine Position beibehält, braucht auch im Wachzustand keine Kraft zur Ver-
hinderung des Umfallens aufzuwenden.49 Wenn er schwer genug ist, braucht er nicht
einmal zur Verursachung einer Beschädigung des Stuhls Kraft aufzuwenden.50 Und
wie verhält es sich mit François Cluzet, dessen Rollstuhl auf Schutzschildposition
steht und der seinem „ziemlich besten Freund“ Omar Sy zuruft: „Schieb mich
weg!“?51 Verletzt er eine Handlungspflicht, wenn er Garant ist? Umgekehrt: Erfüllt
er als Garant eine „Handlungspflicht“, wenn er sich nicht wegschieben lässt? Ande-
rerseits soll zur Verwirklichung eines Begehungsdeliktstatbestandes sogar die Ent-
faltung „innerer Energie“ bei äußerlicher Regungslosigkeit ausreichen52: ostentati-
ves Schweigen des Fahrgastes auf die Frage des Fahrkartenkontrolleurs „Noch je-
mand zugestiegen?“53 als Täuschung durch Begehen i. S. d. § 263 StGB.54 Wenn

46
Frister, AT, 22. Kap. Rn. 6.
47
Nach Roxin, AT II, § 31 Rn. 92 begründet das „Dasein“ keine „Begehungskausalität“. Es
geht aber nicht um Kausalität, sondern darum, ob überhaupt eine „Begehung“ stattfindet.
Daran fehlt es, wenn jemand nur „da ist“. Dass dadurch ein „positiver Äußerungswert“ (der
nach Roxin, AT II, § 31 Rn. 95 für eine aktive Täuschung ausreicht, bei Motivierung eines
„imponiersüchtigen“ Freundes zu Sachbeschädigungen indessen nicht vorhanden sein soll,
a.a.O. Rn. 92) erzeugt wird, ändert am Fehlen einer Handlung nichts.
48
Struensee, FS Stree/Wessels, 1993, S. 133 (144).
49
Anders Struensee, FS Stree/Wessels, S. 133 (145).
50
Herzberg, FS Röhl, S. 270 (281), der zutreffend Sachschadensverursachung durch Un-
terlassen – rechtzeitigen Aufstehens – annimmt.
51
Frei nach dem Spielfilm „Ziemlich beste Freunde“.
52
Nach Herzberg, FS Röhl, 2003, S. 270 (272) kann es Gegenstand eines Gebots sein, der
Versuchung, einen bestimmten Handlungsentschluss zu bilden, zu widerstehen. Daher sei
jedes Handlungsdelikt zugleich ein Unterlassungsdelikt.
53
Die Frage „Noch jemand ohne gültigen Fahrausweis?“ (so das Beispiel bei Roxin, AT II,
§ 31 Rn. 95) würde ein Bahnbediensteter so sicher nicht stellen. Welcher Schwarzfahrer
würde auf diese Frage wohl wie ein ehrlicher Mensch reagieren? Zudem muss man in Anbe-
838 Wolfgang Mitsch

das stimmt, dann erzeugt auch der mit offenen Augen schlafende Fahrgast gegenüber
dem Kontrolleur einen „positiven Äußerungswert“, der den Tatbestand des § 263
StGB erfüllen würde, wenn der Schlafende keine Fahrkarte hat. Ich halte das alles
nicht für richtig.55 Sitzen ist keine Handlung,56 Stehen auch nicht.
Wir scheinen uns also wieder an einer Grenzlinie zu befinden, wo einer winzigen
faktischen Differenz die Wirkung zukommt, für einen erheblichen rechtlichen Un-
terschied ausschlaggebend zu sein. Wenn das Stehen bzw. Stehenbleiben keine
Handlung ist, kann ein zum Stehenbleiben verpflichteter Schutzschild-Mensch
keine Handlungspflicht verletzen. Unterlassenes Stehenbleiben ist folglich nicht Un-
terlassung einer Handlung. Wenn es also eine Pflicht zum Stehenbleiben gäbe, würde
diese zwar durch Weggehen oder Abducken verletzt werden. Daraus ließe sich aber
keine Unterlassungsstraftat ableiten. Letztendlich wäre jeder der beiden Wege zur
Strafbarkeit versperrt, da aktives Tun ja von vornherein ausgeschlossen wurde.
Die Überzeugung davon, dass dies nicht sein darf, hat sich im Laufe der Erörterung
verfestigt.57 Sie hat zunächst eine Gleichbehandlung des in der Schlange auf Schutz-
schildposition stehenden mit dem neben der Schlange stehenden dahingehend ver-
anlasst, dass das Austreten aus der Schlange strafrechtlich als Nichteintreten in
die Schlange, also als unterlassener Schutzschildaufbau, zu behandeln ist. Sie
muss jetzt dazu drängen, dem Stehen(bleiben) als Schutzschild die Qualität einer
Handlung zuzuschreiben, damit das aktive Verlassen der Position als Verletzung
einer Handlungspflicht und folglich als Unterlassen im strafrechtlichen Sinne behan-
delt werden kann. Anderenfalls würde sich zwar der dicht neben der Schlange ste-
hende Vater wegen eines unechten Unterlassungsdelikts strafbar machen, wenn er
den sein Kind vor Verletzung schützenden Schritt nicht vollzieht. Dagegen bliebe
der bereits in der Schlange die Schutzschildposition innehabende Vater straflos,
weil sein Verhalten weder aktives Tun noch Unterlassen wäre. Dieses Ergebnis
kann nicht richtig sein.

tracht der extensiven Anwendung des § 265a StGB durch die Rechtsprechung eine derart
formulierte Frage als unzulässige Aufforderung zur Selbstbelastung (nemo tenetur …) zu-
rückweisen.
54
Roxin, AT II, § 31 Rn. 95.
55
Ebenso Herzberg, FS Röhl, S. 270 (282).
56
Gewissermaßen das Thema verfehlt die Begründung des BGH in der Entscheidung
4 StR 652/17 Rn. 15: „Das bloße Sitzen im unbewegten Fahrzeug fällt auch dann nicht unter
den Begriff des Führens eines Kraftfahrzeugs, wenn der Motor in Betrieb ist.“ Nicht die
Bewegungslosigkeit der Person, sondern die Bewegungslosigkeit des Fahrzeugs ist der Grund,
vgl. BGHSt 35, 390 (393). Interessant wird der Fall also erst, wenn das Fahrzeug sich von
selbst – z. B. auf abschüssiger Strecke – in Bewegung setzt und der Insasse in Regungslosig-
keit verharrt. „Führen durch Unterlassen“?
57
Siehe bereits Baumgarten, S. 92: „Dürfen Strafbarkeit und Straflosigkeit so nahe an-
einander grenzen?“
Die Weigerung ein menschlicher Schutzschild zu sein 839

Ein Ausweg aus dem Dilemma wäre die Anerkennung einer dritten Kategorie
menschlicher Lebendigkeit58 neben Tun und Unterlassen, der das starre bewegungs-
lose Stehen, Sitzen oder Liegen zugeordnet werden könnte. Dass es etwas Ähnliches
im geltenden Strafrecht sogar schon gibt, bestätigen die gar nicht wenigen „Besitz-
delikte“, also Straftatbestände, die auf das Besitzen einer Sache abstellen, z. B.
§ 184b Abs. 3 Alt. 2 StGB.59 Bei diesen bereitet die Positionierung im dualen System
aus Tun und Unterlassen Schwierigkeiten,60 denen durch Erfindung einer neuen Ka-
tegorie „Zustandsdelikt“ ausgewichen werden könnte.61 Die h.M. bemüht sich frei-
lich, das „Besitzen“ den Begehungsdelikten zuzurechnen, da anderenfalls eine Straf-
barkeit ohne Garantenstellung wohl nicht zu begründen wäre.62 Damit nimmt sie in
Kauf, dass jemandem ein Tun vorgeworfen werden kann, obwohl dieser sich über-
haupt nicht in einer für den Tatbestand relevanten Weise bewegt hat. Für das vorlie-
gende Thema ist den Besitzdelikten zwar nichts Weiterführendes abzugewinnen. Ihre
Existenz ist aber eine Ermutigung, sich gedanklich von dem numerus clausus „Hand-
lung oder Unterlassung – tertium non datur“63 zu lösen. Wenn der pure Aufenthalt
eines Menschen an einem Ort strafrechtliche Relevanz hat, dann sollte die Unmög-
lichkeit einer klaren und eindeutigen Qualifikation als aktives Tun oder Unterlassen
nicht daran hindern, diese Relevanz als Bestandteil des geltenden positiven Rechts
anzuerkennen. Deshalb bietet es sich hier an, einen Vorschlag von Franz Streng auf-
zugreifen, der bisher noch wenig Resonanz ausgelöst hat: Zwischen aktivem Tun und
Unterlassen liege eine „dritte Handlungsform“, die man „passives Tun“ nennen
könne. Es handele sich dabei um eine „willensgesteuerte Untätigkeit, welche selbst
unmittelbar kausal für die Tatbestandsverwirklichung wird“.64 Beispielsweise könne
die bloße Anwesenheit als „im Wege stehen“ eine tatbestandsmäßige Freiheitsberau-
bung sein.65 Die rechtliche Bedeutung des passiven Tuns gleiche der des aktiven
Tuns. Wer durch passives Tun den tatbestandsmäßigen Erfolg verursacht, erfülle
den objektiven Tatbestand des Begehungsdelikts, ohne dass es für dieses Ergebnis
einer Garantenstellung bedürfe. Streng beleuchtet das passive Tun allein in seiner
Funktion als Verbotsgegenstand, also zu dem Zwecke, die Erfüllung des Tatbestan-
des eines Begehungsdelikts zu begründen. Danach liegt z. B. dem Straftatbestand
§ 239 StGB nicht nur das Verbot zugrunde, einen anderen einzusperren oder aktiv
festzuhalten, sondern auch das Verbot, einen anderen durch statisches „im Wege ste-
hen“ an der Fortbewegung zu hindern. Wenn man dem folgt, ist es konsequent, pas-

58
Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 4. Aufl. 2006, § 8 Rn. 44: „Persönlichkeitsäuße-
rung“.
59
Schönke/Schröder/Eisele, § 184b Rn. 37
60
Struensee, FS Grünwald, 1999, S. 713 (716 ff.).
61
Eckstein, Besitz als Straftat, 2001, S. 227 ff.; Schroeder, ZIS 2007, 444 (449).
62
Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, vor § 13 Rn. 4; anders Schönke/Schröder/Eisele, vor § 13
Rn. 42: Nichtaufgabe des Besitzes als echtes Unterlassungsdelikt.
63
Struensee, FS Grünwald, 1999, S. 713 (715).
64
Streng, ZStW 122 (2010), 1 (4).
65
Streng, ZStW 122 (2010), 1 (6); a.A. Struensee, FS Stree/Wessels, S. 139 (142).
840 Wolfgang Mitsch

sives Tun auch als Gebotsgegenstand, also als Inhalt eines Handlungsbefehls
(„Steh!“) gelten zu lassen. Eine Garantenpflicht kann somit je nach den Umständen
des konkreten Falles außer aktiven Erfolgabwehrhandlungen auch die Beibehaltung
des aktuellen Standortes bzw. einer bestimmten Körperhaltung (aufrecht, statt ge-
bückt) beinhalten. Da die Verletzung dieser Pflicht durch Weggehen oder Bücken
eine Gebotswidrigkeit ist, ist die Bewertung des Täterverhaltens als Unterlassungs-
delikt schlüssig.

3. Pflichtenkollision

Da jede Art von Verhalten desjenigen, der eine Schutzschildposition innehat oder
sie einnehmen könnte, ausschließlich am Maßstab des Unterlassungsdelikts bewertet
wird, sind Situationen von Gefahrenmehrheit möglich, in denen die Straflosigkeit
mit rechtfertigender Pflichtenkollision begründet werden kann. Das hat erhebliche
Auswirkungen, da die Möglichkeit der Rechtfertigung bei Zugrundelegung aktiven
Tuns eingeschränkt wäre. Der Rechtfertigungsgrund Pflichtenkollision wäre nicht
anwendbar66 und der allein in Betracht kommende rechtfertigende Notstand hat hö-
here Anforderungen als die Pflichtenkollision.67 Ein normaler Fall der Pflichtenkol-
lision liegt vor, wenn der Täter noch keine Schutzschildposition innehat, diese aber
durch einen Schritt nach links oder nach rechts einnehmen könnte:
Eine Gruppe gewaltbereiter Männer wirft mit Steinen in Richtung einer anderen
Gruppe aus mehreren Menschen (Opfergruppe). Zwischen beiden Gruppen steht T,
dessen aktuelle Position sich aber nicht in der „Schusslinie“ der Werfer befindet.
Macht T einen Schritt nach links, bewahrt er dadurch den in der Opfergruppe stehen-
den A vor Verletzung. Macht T einen Schritt nach rechts, bewahrt er dadurch den in
der Opfergruppe stehenden B vor Verletzung. T kann nur entweder nach links oder
nach rechts den rettenden Schritt machen.
Wenn T den Schritt nach links macht, erfüllt er zugleich die auf § 323c StGB oder
§ 13 StGB (z. B. T ist Vater des B) beruhende Pflicht gegenüber B nicht. Er unterlässt
also das Eingreifen zugunsten des B. Bestand eine zumindest gleichrangige Hilfe-
leistungspflicht gegenüber A (z. B. T ist auch Vater des A), ist die Tatbestandserfül-
lung zum Nachteil des B durch Pflichtenkollision gerechtfertigt.68 Um einen „norma-
len“ Unterlassungsfall handelt es sich, weil der aktive Schritt, der den A rettet, keine
Lageverschlechterung zum Nachteil des B bewirkt. Denn T war noch kein Schutz-
schild. B wäre auch verletzt worden, wenn T sich überhaupt nicht bewegt hätte.
Bleibt T einfach stehen, also unterlässt er sowohl den Schritt nach links als auch

66
Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, vor § 32 Rn. 71.
67
Vgl. die Beispiele bei Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 10. Aufl. 2018, § 49 Rn. 43 –
45.
68
Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, vor § 32 Rn. 73.
Die Weigerung ein menschlicher Schutzschild zu sein 841

den Schritt nach rechts, ist wegen der Kollisionslage eine der beiden Unterlassungen
gerechtfertigt, die andere ist rechtswidrig.69
Einer „Umwertung“ einer Aktivität in ein Unterlassen, mit der erst der Anwen-
dungsbereich der Pflichtenkollision eröffnet wird, bedarf es, wenn der Täter bereits
eine Schutzschildposition innehat. Gibt er diese auf, um Schutzschild zugunsten
eines anderen Opfers zu werden, trägt er aktiv zu der Verletzung des ursprünglich
von ihm abgeschirmten Opfers bei.
Der Standort des zwischen der Gruppe der Werfer und der Opfergruppe stehenden
T liegt genau zwischen einem Werfer und dem Opfer A. Durch einen Schritt nach
rechts macht sich T zum Schutzschild zugunsten des B. A wird von einem Stein ge-
troffen und verletzt. B bleibt unversehrt, weil der in seine Richtung fliegende Stein
den T trifft. Wäre T stehen geblieben, wäre B verletzt worden und A unversehrt ge-
blieben.
Der Schritt nach rechts ist aktives Tun. Das ist eine naturalistische Feststellung,
die der normativen Korrektur bedarf, da diese Körperbewegung die Bedeutung des
Abbruchs eines zuvor selbst eingeleiteten rettenden Kausalverlaufs hat. Die straf-
rechtliche Würdigung hat sich daher an den Bedingungen des Unterlassungsdelikts
zu orientieren. Deshalb kann das Zulassen der Verletzung des A durch Pflichtenkol-
lision gerechtfertigt sein. Müsste man die Rechtfertigungsentscheidung auf der
Grundlage aktiven Tuns treffen, hätte dies erheblich abweichende Ergebnisse zur
Folge: Rechtfertigende Pflichtenkollision wäre nicht anwendbar. Eine Rechtferti-
gung nach § 34 StGB wäre nicht begründbar, da kein wesentlich überwiegendes Ge-
fahrabwendungsinteresse besteht, wenn sich die Gefahren für die beiden Opfer nicht
oder nur unwesentlich unterscheiden. Daher käme z. B. dem Vater, der seinen den A
schützenden Posten verlässt, um sich als Schutzschild für das eigene Kind B zu op-
fern, allenfalls eine Entschuldigung gem. § 35 StGB zugute. Das wäre ein unbefrie-
digendes Ergebnis. Gegen den Schritt des Vaters weg von der ursprünglichen Schutz-
schildposition wäre Nothilfe zugunsten des A zulässig.70
Welche Bedeutung die Anerkennung der Kategorie „passives Tun“ (oben 2.) für
die rechtfertigende Pflichtenkollision hat, verdeutlicht folgende Abwandlung des
obigen Beispiels:
Der Standort des zwischen der Gruppe der Werfer und der Opfergruppe stehenden
T liegt genau zwischen einem Werfer und dem Opfer A. Durch einen Schritt nach
rechts könnte T sich zum Schutzschild zugunsten des B machen. T bleibt aber stehen.
Der in die Richtung des A geworfene Stein trifft T, A bleibt deswegen unverletzt.
Verletzt wird B durch einen anderen geworfenen Stein. Hätte T einen Schritt nach

69
Dazu, dass dies für eine Verortung der Kollision auf der Tatbestandsebene spricht,
Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, vor § 32 Rn. 73.
70
Beispiel: Die Mutter der beiden Kinder zwingt ihren Ehemann mit vorgehaltener
Schusswaffe, auf seinem Schutzschild-Posten zu bleiben.
842 Wolfgang Mitsch

rechts gemacht, wäre B unversehrt geblieben und A wäre von dem Stein, den T durch
sein Stehenbleiben aufgehalten hat, verletzt worden.
Sofern T Beschützergarant sowohl gegenüber A als auch gegenüber B ist, hat er in
Bezug auf B den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung durch Unterlassen
(§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2, 13 StGB) erfüllt.71 Die Unterlassung zum Nachteil des
B kann durch Pflichtenkollision gerechtfertigt sein. Voraussetzung dafür ist, dass
die Handlungspflicht zum Schutze des B mit einer zumindest gleichwertigen Hand-
lungspflicht zum Schutze des A kollidiert.72 Von einer Pflicht zum Handeln gegen-
über A zu sprechen, ist aber problematisch, da es zum Schutz des A in der konkreten
Tatsituation keiner Aktivität des T bedurfte. Erforderlich war lediglich, dass er seinen
Standort nicht verlässt. Daran die rechtfertigende Pflichtenkollision scheitern zu las-
sen, wäre aber offensichtlich verfehlt. Das passive Stehenbleiben des T als „passives
Tun“ zu qualifizieren, ist ein vertretbarer Vorschlag zur Begründung des richtigen
Ergebnisses.

V. Schluss
Wer nicht verpflichtet ist, einem anderen seinen eigenen Körper als Schutzschild
zur Verfügung zu stellen, ist nicht strafbar, wenn der andere nur deswegen verletzt
wird, weil kein fremder Körper als Schutzschild zur Verfügung stand. Dabei spielt
es keine Rolle, ob der „Inhaber“ des schutzschildtauglichen Körpers es unterlassen
hat, sich auf die Schutzschild-Position zu stellen oder sie, nachdem er zunächst dort
stand, vor Eintritt des Verletzungserfolgs verlassen hat. In dem zweiten Fall zwingt
die Erwünschtheit des Ergebnisses freilich zu einer kontrafaktischen Volte, nämlich
zur normativen Behandlung als Unterlassen, was tatsächlich aktives Tun ist. Dies
reizt zur Suche nach einer Lösung, die der Aktivität auch in der strafrechtlichen Wür-
digung noch ihren Charakter als Aktivität bewahrt und dennoch auf das Ergebnis der
Straflosigkeit hinausläuft. Nach dem derzeitigen Erkenntnisstand in der Strafrechts-
wissenschaft ist eine solche Lösung nicht in Sicht. Wie sie dem Gesetzgeber zumin-
dest punktuell gelingen kann, zeigte bis 1998 die alte Fassung des Aussetzungstat-
bestandes § 221 Abs. 1 Alt. 2 StGB a.F.: „[…] oder wer eine solche Person, wenn sie
unter seiner Obhut steht oder wenn er für ihre Unterbringung, Fortschaffung oder
Aufnahme zu sorgen hat, in hilfloser Lage verläßt, […]“. Hier wurde ein Täterver-
halten, das zweifellos ein aktives Tun ist,73 mit einer Garantenstellung verknüpft, was

71
Ob das Unterlassen des T im Verhältnis zu dem Steinwerfer Täterschaft oder Beihilfe ist,
sei hier dahingestellt.
72
Roxin, AT II, § 31 Rn. 204.
73
Erledigung der Kontroverse um die Erfüllbarkeit des Tatbestandsmerkmals „Verlassen“
durch passive Vorenthaltung von Hilfe seitens eines die räumliche Nähe zum Hilfebedürftigen
nicht aufhebenden Garanten (vgl. z. B. BGHSt 38, 78, 81) war bekanntlich der Grund für den
Tausch von „verlässt“ gegen „im Stich lässt“ im 6. Strafrechtsreformgesetz; vgl. Jäger, JuS
2000, 31 (33).
Die Weigerung ein menschlicher Schutzschild zu sein 843

zur Folge hatte, dass der aktiv sich vom hilflosen Opfer wegbewegende Täter allein
unter den Voraussetzungen strafbar war, unter denen auch ein das Opfer passiv „im
Stich“74 lassender Täter strafbar war. Diese Strafbarkeitseinschränkung, die dem
Aussetzungstatbestand in Bezug auf die nicht verhinderte konkrete Lebensgefähr-
dung immanent ist, erstreckt sich auf den Totschlagstatbestand, wenn es nicht bei
der Lebensgefährdung bleibt und die Gefahr sich im Lebensverletzungserfolg
„Tod“ realisiert: Wer nicht verpflichtet ist, dem Opfer in der hilflosen Lage beizuste-
hen, der haftet auch nicht für den Todeserfolg, wenn das Opfer stirbt, weil er sich von
ihm entfernt und deshalb den tödlichen Kausalverlauf nicht mit seinem Körper als
Schutzschild aufgehalten hat. Fügt man diese Tatbestandsrestriktion gedanklich
der in puncto Verhaltensunrecht komplett unkonkreten Tatbeschreibung des § 212
StGB hinzu, braucht die Straflosigkeit eines vom Opfer weggehenden Nichtgaranten
nicht mehr mittels Umdeutung seiner Aktivität in ein Unterlassen begründet zu wer-
den.75

74
So jetzt § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB nach dem 6. StrRG.
75
Das ist auch die Lösung für das Beispiel der sich entfernenden Nachbarin bei Herzberg,
FS Röhl, S. 270 (274). Es ist verwunderlich, dass der Autor § 221 StGB nicht erwähnt.
Der Lebensnotstand bei siamesischen Zwillingen
Von Volker Erb

I. Einführung
Angesichts zahlreicher Berichte nicht nur in medizinischen Fachorganen, sondern
auch in den Allgemeinmedien, die Operationen zur Trennung miteinander verwach-
sener „siamesischer Zwillinge“ weltweit zum Gegenstand haben, ist es erstaunlich,
dass das Thema in der deutschen Strafrechtswissenschaft bis heute nur geringe Auf-
merksamkeit erfahren hat. Zu den Ausnahmen gehören Beiträge des verehrten Jubi-
lars, der sich wiederholt mit der Problematik befasst hat.1 Daran anknüpfend werden
im vorliegenden Beitrag Eingriffe diskutiert, bei denen der Tod eines Zwillings be-
wusst in Kauf genommen wird, um den andernfalls früher oder später unabwendba-
ren Tod beider zu verhindern. Außer Betracht bleiben sollen hier Trennungsopera-
tionen, die im Interesse beider Kinder vorgenommen werden (und dabei freilich
ebenfalls schwierige rechtliche Probleme aufwerfen können, speziell dort, wo es
einer Entscheidung bedarf, welcher von beiden Zwillingen am Ende mit den gravie-
renderen Verstümmelungen leben muss).2 Nicht behandelt wird auch die – einer
Rechtfertigung wohl schlechthin unzugängliche3 – Variante, in der ein ungetrennt
langfristig lebensfähiges Zwillingspaar unter bewusster Aufopferung eines von bei-
den getrennt wird, um den anderen von den schweren Einschränkungen seiner Le-
bensqualität zu befreien.
Die vorliegend interessierenden Eingriffe, die für einen Zwilling absehbar tödlich
verlaufen, dabei jedoch die einzige Möglichkeit darstellen, den andernfalls ebenso
absehbaren Tod beider zu verhindern, können (abgesehen von den ebenfalls sehr ver-
schiedenen medizinischen Ursachen des Dilemmas) in unterschiedlichen Lebensla-
gen zur Debatte stehen. So wird der Eingriff zwar meistens in einem frühkindlichen
Stadium erfolgen, könnte aber zumindest theoretisch auch zu einem späteren Zeit-
punkt anstehen, in dem die Kinder bereits zu einer Selbstreflexion fähig sind. Ferner
ist zu differenzieren zwischen Fällen, in denen der Tod beider Kinder zeitlich unmit-

1
Reinhard Merkel, Früheuthanasie, 2001, S. 630 ff.; ders., An den Grenzen von Medizin,
Ethik und Strafrecht: Die chirurgische Trennung so genannter siamesischer Zwillinge, in:
Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 603 ff.
2
Dazu eingehend Merkel, in: Handbuch (Fn. 1), S. 603 (609 f., 613 ff.).
3
So auch Merkel, Früheuthansie (Fn. 1), S. 635 f. unter Hinweis auf einen entsprechenden
Fall in England und auf ein unter Kinderchirurgen wohl durchaus verbreitetes Motiv.
846 Volker Erb

telbar bevorsteht, wenn der Eingriff unterbleibt, und solchen, in denen er erst gerau-
me Zeit später droht, im Extremfall wiederum erst in einer späteren Entwicklungs-
phase nach zwischenzeitlicher Erlangung der Fähigkeit zur Selbstreflektion. Unab-
hängig davon könnte es eine Rolle spielen, ob die Ursache für den drohenden Tod
beider Zwillinge in der spezifischen Disposition eines von ihnen zu finden ist. Be-
sonderes Augenmerk verdient schließlich die Frage, ob von vornherein nur einer
oder zunächst einmal beide Zwillinge eine Chance haben, auf Kosten des anderen
gerettet zu werden, weil der Arzt im letztgenannten Fall eine deutlich weitergehende
Auswahlentscheidung über Leben und Tod trifft. Im Folgenden soll zunächst unter-
sucht werden, ob zumindest in einem Teil dieser Varianten eine Rechtfertigung auf
der Grundlage umstrittener, aber durchaus verbreiteter notstandsdogmatischer An-
sätze in Betracht kommt (II.). Sodann ist zu überlegen, ob im vorliegenden Zusam-
menhang Besonderheiten bestehen, die evtl. eine Erweiterung der Rechtfertigung
über diesen Rahmen hinaus dogmatisch und kriminalpolitisch legitimieren könnten
(III.). Davon abzugrenzen bleiben diejenigen Konstellationen, in denen die Not-
standsfestigkeit des Rechtsguts „Leben“ eine Rechtfertigung entsprechender Ein-
griffe zwingend ausschließt und auch eine Entschuldigung richtigerweise ausschei-
den muss (IV.).

II. Allgemeine Ansätze zur Rechtfertigung


tödlicher Notstandshandlungen
Eine Notstandsrechtfertigung von Eingriffen der vorliegenden Art stößt im Hin-
blick auf den Grundsatz der notstandsrechtlichen Unabwägbarkeit menschlichen Le-
bens schnell an ihre Grenzen. Sie muss bei konsequenter Betrachtung generell aus-
scheiden, wenn man diesem Grundsatz mit einer verbreiteten bzw. wohl sogar herr-
schenden Ansicht4 absolute und ausnahmslose Geltung beimisst. Im Schrifttum wer-
den insoweit allerdings Ausnahmen diskutiert, die in bestimmten Konstellationen der
für seinen Betroffenen tödlichen Trennung siamesischer Zwillinge einschlägig sein
könnten.

1. Defensivnotstand

Einer dieser Ansätze beruht auf der Annahme, wonach sich die für den aggressi-
ven Notstand geltenden Maßstäbe im Defensivnotstand generell umkehren sollen,
weil der Eingriffsadressat hier kein Unbeteiligter ist, sondern selbst die Gefahren-
quelle für andere bildet.5 Hiernach dürfte – genauso wie es der Gesetzgeber für
4
Ausf. etwa LK/Zieschang, Bd. 3, 13. Aufl. 2019, § 34 Rn. 141 ff. mit umfassenden
Nachweisen.
5
Dabei spielt es im Ergebnis keine Rolle, ob diese Annahme auf eine analoge Anwendung
von § 228 BGB gestützt wird (so etwa NK-StGB/Neumann, Bd. 1, 5. Aufl. 2017, § 34
Rn. 86 ff. m.w.N.), oder ob man der Herkunft der Gefahr im Rahmen der – ausdrücklich nicht
Der Lebensnotstand bei siamesischen Zwillingen 847

die Abwehr gefährlicher Sachen in § 228 BGB geregelt hat – die Notstandshandlung
im Defensivnotstand größeren Schaden anrichten als die Gefahr, die man abwenden
will, solange der Schaden nur nicht außer Verhältnis gerät. Um eine Tötung zu recht-
fertigen, wäre dann keine (angesichts der qualitativen und quantitativen Unabwäg-
barkeit menschlichen Lebens unmögliche) Begründung dafür erforderlich, warum
das Lebensrecht des Geretteten als solches höheres Gewicht haben sollte als dasje-
nige des Eingriffsadressaten. Es bedürfte im Gegenteil einer (ebenso unmöglichen)
Begründung des Gegenteils, um die Rechtfertigung der Tat zu versagen. Notstands-
fest wäre das Tötungsverbot hiernach nur im Sinne einer absoluten Grenze der Auf-
opferungspflicht Unbeteiligter, nicht aber als Begrenzung der Duldungspflichten von
„Störern“.
a) Hält man diese Annahme allgemein für zutreffend und ist es im Einzelfall tat-
sächlich möglich, dem getöteten Zwilling eine solche Störerrolle zuzuweisen, dann
lassen sich die hier zur Debatte stehenden Eingriffe in weitem Umfang rechtfertigen.
Dabei ist es unerheblich, ob sich die Betroffenen zum Zeitpunkt des Eingriffs noch in
einem frühkindlichen oder in einem (beliebig) späteren Entwicklungsstadium befin-
den. Ob ohne den Eingriff der Tod beider im unmittelbaren zeitlichen Anschluss oder
erst später droht, ist nur relevant, solange der Eingriff ohne maßgebliche Schmäle-
rung der Erfolgsaussichten aufgeschoben werden kann. Sobald ein (weiterer) Auf-
schub den Rettungserfolg gefährden würde, ist die Gefahr im notstandsrechtlichen
Sinn nämlich bereits gegenwärtig,6 so dass die – insofern auch unmittelbar erforder-
liche – Notstandshandlung (d. h. die Trennungsoperation) nunmehr jederzeit durch-
geführt werden dürfte.7 Die Zulässigkeit des Eingriffs würde im Übrigen auch nicht
daran scheitern, dass es medizinisch möglich wäre, wahlweise einen von beiden
Zwillingen zu retten, der bei der Operation getötete zuvor also noch nicht „rettungs-
los verloren“ war, wenn letzterer nur derjenige ist, den man als Gefahrenquelle für
das Leben des anderen identifizieren kann.
b) Eine Festlegung, welcher von beiden siamesischen Zwillingen für den anderen
eine Gefahr darstellt, erscheint freilich in mehrfacher Hinsicht problematisch. So hat
der Jubilar zutreffend darauf hingewiesen, dass ja letzten Endes die „biologische Fu-
sion der Grund für die kurze Lebenserwartung beider Zwillinge“ ist und mithin „die
Existenz jedes von ihnen die des jeweils anderen in gleichem Maß“ bedroht.8 Selbst
für den Fall, dass man die Lebensgefahr auf einen bestimmten, in den zusammenge-

auf den Rang der beteiligten Rechtsgüter und die Gefahrengrade beschränkten – Interessen-
abwägung nach § 34 StGB entsprechendes Gewicht beimisst (Günther, FS Amelung, 2009,
147 [150 ff.]; Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 34 Rn. 29).
6
Allgemein NK-StGB/Neumann (Fn. 5), § 34 Rn. 57; SK/Hoyer, Bd. I, 9. Aufl. 2017, § 34
Rn. 23; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 20, jew. m.w.N.
7
Konsequent A. Koch, GA 2011, 129 (143 f.), Wu/Wuschko, rescriptum 2016, 110 (111).
8
Merkel, Früheuthansie (Fn. 1), S. 634; die Annahme eines Defensivnotstands nicht mehr
generell ablehnend, aber mit Bedenken im Hinblick auf „ein gewisses Risiko des Missbrauchs
ärztlicher Definitionsmacht über die Frage des ,Gefahrenursprungs‘“ ders., in: Handbuch
(Fn. 1), S. 603 (637).
848 Volker Erb

wachsenen Körpern genau lokalisierbaren „Defekt“ (etwa auf das Fehlen oder die
Funktionslosigkeit eines lebenswichtigen Organs oder auf einen Infektionsherd in
einem der parallelen, jeweils mit einem Kopf korrespondierenden Organsysteme) zu-
rückführen kann, hat Joerden der Annahme eines Defensivnotstands9 entgegengehal-
ten, bei ungetrennten siamesischen Zwillingen könne man prinzipiell nicht von ge-
trennten Rechtssphären sprechen, von denen eine aus der anderen heraus bedroht
wird.10 Auch dieser Einwand lässt sich nicht ohne weiteres von der Hand weisen:
Bei einem zusammenhängenden Körper, der aus einem niemals vollständig aufge-
teilten Zellverband entstanden ist und in dieser Einheit ein (wenn auch zeitlich
stark limitiertes) Leben beider Zwillinge ermöglicht, solange er insgesamt funktio-
niert, ist die räumliche Lage des „Defekts“ möglicherweise ein allzu vordergründiges
Kriterium, um einem der Kinder die Eigenschaft einer „Gefahrenquelle“ für das an-
dere zuzuschreiben. Die Fragwürdigkeit einer solchen Zuschreibung offenbart sich
im Übrigen auch in den kontraintuitiven Ergebnissen, die der Jubilar bei Anwendung
dieses Kriteriums auf einen realen Fall aus den USA aufgezeigt hat: Dort lag die Ur-
sache des drohenden Todes in dem unterentwickelten Anteil eines Zwillings am ge-
meinsamen Herzkomplex, wobei aber nur für diesen Zwilling (bei Übertragung des
gesunden Herzteils auf ihn) eine Überlebenschance bestand, da ausschließlich in
dem ihm zuzuordnenden Körperbereich ein funktionsfähiges System von Gallengän-
gen existierte. Eine Rechtfertigung der Operation, die auf seine – einzig mögliche –
Rettung abzielte, könnte also nicht auf das Vorliegen eines Defensivnotstands ge-
stützt werden.11 Wirklich eindeutig, unzweifelhaft und im Ergebnis überzeugend
dürfte die Annahme eines Defensivnotstands nur in dem Sonderfall sein, in dem
einer der Zwillinge unmittelbar vor dem Hirntod steht, dessen Eintritt dann wenig
später zwangsläufig auch den Tod des anderen verursachen wird.12 Bei einer so dra-
matischen Zuspitzung des Gesundheitszustands, die in der medizinischen Realität
kaum jemals nur die Sphäre des einen Zwillings betreffen wird, dürfte es für eine
erfolgversprechende Operation zur Rettung des anderen aber ohnehin zu spät sein.
c) Abgesehen davon, dass die Figur des Defensivnotstands hiernach allenfalls mit
erheblichen Einschränkungen geeignet ist, die hier interessierenden Konstellationen
zu erfassen, sei an dieser Stelle noch einmal betont, dass sie für sich genommen auch
kaum dazu taugt, eine Ausnahme von der Notstandsfestigkeit des Tötungsverbots zu
legitimieren. Die Schwäche entsprechender Ansätze liegt in der Annahme, in einem
durch Menschen ausgelösten Defensivnotstand sei die Situation umgekehrt gelagert
wie beim Aggressivnotstand, was eine Umkehr der für letzteren geltenden Abwä-
gungsmaßstäbe erlaube. Eine nähere Betrachtung zeigt, dass diese Überlegung
nicht zutrifft: In Konstellationen des Aggressivnotstands hat allein denjenigen,
dem die Notstandstat helfen soll, quasi das Schicksal getroffen, während derjenige,

9
Diese wiederum verteidigend A. Koch, GA 2011, 129 (141).
10
Joerden, Menschenleben, 2003, S. 119 (128).
11
Merkel, in: Handbuch (Fn. 1), S. 603 (638).
12
Hinweis auf diese Konstellation bereits bei Merkel, Früheuthansie (Fn. 1), S. 634.
Der Lebensnotstand bei siamesischen Zwillingen 849

gegen den sich die Tat richtet, mit der Notlage zunächst einmal überhaupt nichts zu
tun hat. Demgegenüber ist der Eingriffsadressat beim Defensivnotstand zwar kein
Unbeteiligter. Letzteres ist bei demjenigen, dem die Notstandsgefahr droht, hier
aber ebenso wenig der Fall. Betrachten wir dazu das verbreitete Beispiel eines unver-
schuldet ins Rutschen geratenen Autofahrers, der einen Rollstuhlfahrer zu überfah-
ren droht, der sich nicht rechtzeitig aus dem Gefahrenbereich entfernen kann, dessen
Rettung aber dergestalt möglich ist, dass ein LKW-Fahrer den Autofahrer von der
Straße rammt: Hier wird man schwerlich sagen können, letzterer sei jemand, den
das Pech des Lebens quasi schon vorher getroffen hat, der Rollstuhlfahrer hingegen
ein Unbeteiligter, auf den man kein fremdes Schicksal überwälzen dürfe. Hier sind
vielmehr von vornherein beide Seiten durch Zufall in einen gefährlichen Kausalver-
lauf verwickelt. Dabei ist der Autofahrer ebenso ein Opfer unglücklicher Umstände
wie der Rollstuhlfahrer. Deshalb muss er zwar weitergehende Maßnahmen zur Ge-
fahrenabwehr dulden als ein Unbeteiligter, weshalb die Annahme einer Verschiebung
der Abwägungsmaßstäbe im Vergleich zum Aggressivnotstand durchaus zutrifft. Es
gibt aber keinen Grund, nun umgekehrt den Rollstuhlfahrer so weit zu bevorzugen,
daß der Autofahrer zu seiner Rettung getötet werden dürfte.13 Für die siamesischen
Zwillinge, bei denen die gemeinschaftliche Verstrickung in ein schicksalhaftes Ge-
schehen besonders offensichtlich ist, kann an dieser Stelle nichts anderes gelten.

2. Gefahrengemeinschaften mit einseitiger Verteilung


der Rettungschancen

Auf den ersten Blick erfolgversprechender erscheint für einen Teil der in Betracht
kommenden Fälle ein Rückgriff auf die Figur der Gefahrengemeinschaft mit einsei-
tiger Verteilung der Rettungschancen.14 Diese hat Situationen zum Gegenstand, in
denen der durch die Notstandshandlung Getötete zu einer Gruppe von Menschen ge-
hört, die ohne die Notstandshandlung alle ums Leben kommen werden („Gefahren-
gemeinschaft“), wobei die Besonderheit besteht, dass eine Rettung des Getöteten im
Gegensatz zu derjenigen anderer Mitglieder von Anfang an unmöglich war und die-
ser deshalb ohnehin in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang in der betreffenden
Gefahr umgekommen wäre (einseitige Verteilung der Rettungschancen).
a) Es würde den Rahmen des vorliegenden Beitrags sprengen, hier noch einmal
eine Auseinandersetzung mit den zahlreichen Stimmen im Schrifttum zu führen, die
eine Rechtfertigung von Notstandstötungen auch in dieser Konstellation kategorisch
ablehnen.15 An dieser Stelle sei nur noch einmal kurz der (vom Vorliegen oder Nicht-
vorliegen eines Defensivnotstands völlig unabhängige) maßgebliche Gesichtspunkt
13
Eingehend zum Ganzen Otte, Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand, 1998,
S. 97 ff.; MüKoStGB/Erb, Bd. 1, 4. Aufl. 2020, § 34 Rn. 208 ff. m.w.N.
14
Diesen Aspekt in die Betrachtung einbeziehend auch Merkel, in: Handbuch (Fn. 1),
S. 603 (632 ff.); im Ergebnis ähnlicher Ansatz, aber mit dem Versuch einer Rechtfertigung
über die Figur einer „Pflichtenkollision“ Wu/Wuschko, rescriptum 2016, 110 (117 f.).
15
Näher dazu MüKoStGB/Erb (Fn. 13), § 34 Rn. 161 ff. m.w.N.
850 Volker Erb

genannt, der in dieser Fallgruppe für eine abweichende Sichtweise spricht. Dieser
besteht darin, dass der Getötete hier erstens untrennbar mit der Gefahrenquelle ver-
bunden ist, und dass er deshalb zweitens schon unrettbar verloren erscheint.16 Des-
halb weist ihm der Notstandstäter letzten Endes kein tödliches Schicksal zu, sondern
verhindert nur, daß der Getötete um den Preis des Todes aller Beteiligten noch für
kurze Zeit von der tödlichen Gefahr verschont bleibt, aus der er ohnehin nicht
mehr entkommen kann.17 Diese Überlegung beruht auch nicht auf einer unzulässigen
Abwägung zwischen den unterschiedlichen verbleibenden Lebenszeiten der Betei-
ligten oder nach dem Zahlenverhältnis zwischen den getöteten und den geretteten
Personen.18 Ausschlaggebend ist vielmehr nur die Wertung, daß eine Gefahrenquelle,
die das Schicksal eines Teils der Betroffenen bereits besiegelt hat, nicht weitere und
insofern vermeidbare Opfer fordern soll, nur um eine geringfügige Beschleunigung
des tragischen Verlaufs für erstere zu vermeiden.19 Darin liegt keine unzumutbare
Ausweitung von deren Solidaritätspflicht, es liefe vielmehr umgekehrt auf eine Über-
dehnung der Solidaritätspflicht der anderen hinaus, müssten sie sich in einer solchen
Situation mit in den Tod reißen lassen.20
b) Wie der Jubilar zutreffend aufgezeigt hat, eröffnen diese Überlegungen für die
Rechtfertigung von Trennungsoperationen bei siamesischen Zwillingen im Ergebnis
allerdings nur geringe Spielräume. Abgesehen davon, dass sie von vornherein nur
dort greifen, wo unabänderlich feststeht, welches Kind durch einen solchen Eingriff
gerettet werden kann und welches von Anfang an todgeweiht erscheint,21 setzt ihre
Anwendung voraus, dass der Tod zeitlich unmittelbar bevorsteht, da sie eine nen-
nenswerte Verkürzung der ohne die Notstandshandlung verbleibenden Lebensspan-
ne des Getöteten nicht zu legitimieren vermögen.22 Damit bleiben als mögliche An-
wendungsfälle nur Notoperationen bei akut drohendem Todeseintritt (dies allerdings
unabhängig vom Entwicklungsstadium der Zwillinge, also ggf. auch dann noch,
wenn diese bereits ein Ich-Bewusstsein erlangt haben). Abgesehen von Fällen, in
denen eine solche Situation unvermittelt eintritt,23 hätte dies zur Konsequenz, dass
die Ärzte mit dem Eingriff immer bewusst warten müssten, bis sich die Lage entspre-
chend zuspitzt, was die Chancen auf ein Gelingen des Eingriffs im Sinne einer Ret-
tung des nicht todgeweihten Zwillings erheblich verschlechtern würde.24
16
Hirsch, FS Küper, 2007, 149 (160 ff.).
17
Spendel, RuP 2006, 131 (134); Hirsch, FS Küper, 2007, 149 (161); Isensee, FS Jakobs,
2007, 205 (230); NK-StGB/Neumann (Fn. 5), § 34 Rn. 77e.
18
Hirsch, FS Küper, 2007, 149 (161, 165); MüKoStGB/Erb (Fn. 13), § 34 Rn. 162.
19
Ähnlich Isensee, FS Jakobs, 2007, 205 (230).
20
NK-StGB/Neumann (Fn. 5), § 34 Rn. 77; MüKoStGB/Erb (Fn. 13), § 34 Rn. 159; zu-
stimmend Merkel, ZStW 114 (2002), 437 (452 f.); ders., in: Handbuch (Fn. 1), S. 603 (633).
21
Zutr. NK-StGB/Neumann (Fn. 5), § 34 Rn. 78a.
22
Merkel, in: Handbuch (Fn. 1), S. 603 (633 f.); NK-StGB/Neumann (Fn. 5), § 34 Rn. 78a;
Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 473 ff.; MüKoStGB/Erb (Fn. 13), § 34 Rn. 216.
23
Zum Vorkommen solcher „Nottrennungen“ Merkel, Früheuthansie (Fn. 1), S. 631.
24
Merkel, in: Handbuch (Fn. 1), S. 603 (634).
Der Lebensnotstand bei siamesischen Zwillingen 851

III. Zur Bedeutung der spezifischen Situation


neugeborener siamesischer Zwillinge
Die geläufigen Figuren der Notstandsdogmatik eröffnen im vorliegenden Zusam-
menhang somit nur sehr beschränkte Handlungsoptionen. Belässt man es bei dieser
Betrachtung, wären Trennungsoperationen, bei denen der Tod eines Zwillings not-
gedrungen, aber bewusst in Kauf genommen wird, de lege lata fast durchweg
zwangsläufig rechtswidrig.25 Der Umstand, dass trotz des wiederholten Bekanntwer-
dens solcher Eingriffe im In- und Ausland offenbar noch niemals Strafverfolgungs-
maßnahmen eingeleitet wurden, spricht freilich für die weite Verbreitung einer Intui-
tion, ein derartiges ärztliches Handeln sei legitim.26 Angesichts dieser auch vom Ju-
bilar als unbefriedigend bewerteten Diskrepanz27 wollen wir im Folgenden überle-
gen, ob die vorliegenden Fälle vielleicht Besonderheiten aufweisen, aus denen sich
ein rechtsdogmatisch und kriminalpolitisch tragbarer Rechtfertigungsansatz ableiten
lässt.28

1. Die untrennbare Verflechtung des Lebensinteresses

Das Lebensinteresse des Menschen folgt normalerweise entweder aus dem aktu-
ellen Vorhandensein eines Ich-Bewusstseins oder (im frühkindlichen Stadium, aber
auch bei Komapatienten mit Aussicht auf Besserung) aus der Möglichkeit, ein sol-
ches (wieder) zu entwickeln. Darüber hinaus ist auch bei Menschen, die individuell
nicht über eine solche Möglichkeit verfügen (als schwerstbehinderte Neugeborene
oder als dauerhafte Komapatienten) zu konstatieren, dass sie als Angehörige der Spe-
zies „homo sapiens“ immerhin abstrakt an der – für diese typischen – diesbezügli-
chen Potentialität teilhaben. Diese Potentialität zur Entfaltung einer eigenen Persön-
lichkeit besteht (ungeachtet der durch die Eigenschaft als soziales Wesen bedingten,
ggf. existenziellen Abhängigkeiten) bei allen Menschen grundsätzlich in selbständi-
ger Form. Das bildet für human ausgestaltete Rechtsordnungen den zwingenden An-
lass (und ist essentieller Bestandteil der Menschenwürdegarantie nach Art. 1 Abs. 1
GG), ihnen jeweils eine eigene autonome Interessensphäre und als deren wichtigste
Komponente das unbedingte Recht auf den Fortbestand der eigenen Existenz zuzu-
gestehen. Bei ungetrennten siamesischen Zwillingen ist jene Potentialiät in jeweils
eigenständiger Form indessen nur dann gegeben, wenn eine Chance besteht, dass sie
ein Alter erreichen, in dem in jedem der beiden Gehirne tatsächlich ein Ich-Bewusst-
sein entsteht. Werden sie zwangsläufig früher sterben, ändert dies zwar nichts am ab-

25
Für diese Konsequenz Merkel, Früheuthansie (Fn. 1), S. 635; ders., in: Handbuch
(Fn. 1), S. 603 (638); Joerden (Fn. 10), S. 119 (131); NK-StGB/Neumann (Fn. 5), § 34
Rn. 78a.
26
Ebenso bereits Zimmermann (Fn. 22), S. 472; MüKoStGB/Erb (Fn. 13), § 34 Rn. 217.
27
Merkel, in: Handbuch (Fn. 1), S. 603 (638).
28
Entsprechende Überlegungen bereits bei MüKoStGB/Erb (Fn. 13), § 34 Rn. 218 ff.; vgl.
im Übrigen Zimmermann (Fn. 22), S. 475 ff.
852 Volker Erb

strakten Vorliegen der speziestypischen Eigenschaften, weshalb ihr Lebensrecht


ebenso wenig wie dasjenige anderer schwerstbehinderter Neugeborener gegen Inter-
essen Dritter abgewogen werden darf.29 In diesem Fall mangelt es jedoch an vonein-
ander entflechtbaren autonomen Interessensphären, die Träger von wechselseitigen
Abwehransprüchen gegen Störungen der Entwicklung einer eigenständigen Persön-
lichkeit sein könnten. Wird nach Kriterien der medizinischen Zweckmäßigkeit eine
Entscheidung getroffen, nach der einer von beiden die einzige unteilbare Lebens-
chance erhält, erfolgt mithin keine Überschreitung der Grenzen autonomer Rechts-
sphären, wie sie bei der Verrechnung von Lebensinteressen in Notstandslagen nor-
malerweise erfolgt, was im Regelfall die Unerträglichkeit entsprechender Notstands-
handlungen begründet.30 Deswegen bedeutet die Zulassung des hier diskutierten Vor-
gehens bei siamesischen Zwillingen auch keine allgemeine Lockerung der
Notstandsfestigkeit des Rechtsguts „Leben“ und keine Erschütterung des Vertrauens
der Bürger, dass ihr Lebensrecht niemals zugunsten wie auch immer gearteter ande-
rer Interessen zur Disposition stehen wird. Nur aus diesem Grund ist im Übrigen auch
nachvollziehbar, warum die Legitimität entsprechender Eingriffe bei siamesischen
Zwillingen sowohl in der Ärzteschaft als auch in der Medienöffentlichkeit kaum
in Frage gestellt wird.31

2. Mögliche Konsequenzen für die Anwendung von § 34 StGB

Auf der Grundlage dieser Überlegungen kann man sich bei der Anwendung von
§ 34 StGB auf den Standpunkt stellen, dass das längerfristige Überleben eines Zwil-
lings das Interesse an einem das frühkindliche Stadium keinesfalls überschreitenden
Weiterleben beider im Sinne dieser Vorschrift „wesentlich überwiegt“.32 Hiernach
ließen sich einschlägige Fälle unabhängig davon erfassen, ob der Tod beider Kinder
ohne den Eingriff zeitlich unmittelbar bevorsteht oder erst geraume Zeit später (nicht
jedoch erst nach Erlangung der Fähigkeit zur Selbstreflektion) droht, wenn ein län-
geres Abwarten die Erfolgsaussichten des Eingriffs schmälert – mit dem Ergebnis,
dass die Notstandsgefahr auch im letztgenannten Fall bereits jetzt gegenwärtig33
und die alsbaldige Vornahme des Eingriffs zu ihrer Abwendung erforderlich ist.34 Un-
erheblich wäre ferner die (ohnehin zweifelhafte, s. o. II.1.b)) Verortung der Gefah-
renquelle bei einem der Zwillinge. Auch auf die Frage, ob der bei der Operation ge-
opferte Zwilling von Anfang an todgeweiht war, käme es nicht mehr an, da die Aus-
nahme von der Notstandsfestigkeit des Tötungsverbots unabhängig von den Grund-
29
Insoweit findet anders als von Zimmermann (Fn. 22), S. 477 f. befürchtet keine Relati-
vierung des Lebensrechts neugeborener siamesischer Zwillinge statt.
30
Vgl. auch Zimmermann (Fn. 22), S. 476 f.
31
Insoweit ebenso Zimmermann (Fn. 22), S. 477; zum Ganzen bereits MüKoStGB/Erb
(Fn. 13), § 34 Rn. 218 f.
32
So bereits MüKoStGB/Erb (Fn. 13), § 34 Rn. 220.
33
S. o. Fn. 6.
34
MüKoStGB/Erb (Fn. 13), § 34 Rn. 223.
Der Lebensnotstand bei siamesischen Zwillingen 853

sätzen der Gefahrengemeinschaft mit einseitiger Verteilung der Rettungschancen


(und mithin auch unabhängig von den mit dieser verbundenen spezifischen Streifra-
gen) begründet wird. In Situationen, in denen für beide Zwillinge insofern zwar keine
kumulative, aber eine alternative Rettungschance besteht, geht das überwiegende In-
teresse dahin, den Eingriff so vorzunehmen, dass nach Möglichkeit überhaupt ein
Kind überlebt, d. h. er ist auf Rettung des Kindes mit den besseren Überlebenschan-
cen anzulegen. Bei gleichmäßiger Verteilung der Rettungschancen haben die Verant-
wortlichen entsprechend der Situation bei einer rechtfertigenden Pflichtenkollision35
eine Wahlfreiheit.36

IV. Unübersteigbare Grenzen


Nach alledem bleiben freilich Grenzen, die bei jedem denkbaren Rechtfertigungs-
ansatz zu beachten sind: Besteht nach Lage der Dinge die Möglichkeit, dass das
Zwillingspaar ungetrennt bis zu einem Alter überlebt, in dem die beiden zur (insofern
notwendigerweise jeweils eigenständigen) Selbstreflektion fähig sind,37 dann haben
wir es – im Hinblick auf das Vorhandensein eines entsprechenden Potentials von An-
fang an – mit autonomen Interessensphären zu tun. Dies gilt natürlich erst recht,
wenn ein entsprechendes Entwicklungsstadium zum Zeitpunkt des Eingriffs bereits
erreicht sein sollte. In diesen Fällen kommen die Bedenken, die einer Verrechnung
des Lebensrechts von Menschen allgemein entgegenstehen, somit in vollem Umfang
zum Tragen.38 Diese stehen einer entsprechenden Ausweitung des unter III. vorge-
schlagenen Rechtfertigungsmodells also zwingend entgegen. In solchen Fällen ist
die Möglichkeit einer Rechtfertigung hiernach auf die (in der medizinischen Praxis
indessen wohl kaum relevanten) Fälle beschränkt, in denen erstens einer der Zwil-
linge von vornherein keine Überlebenschance hat und zweitens der Tod beider
ohne Vornahme des Eingriffs zeitlich unmittelbar bevorsteht (s. o. II.2.b)). Eine
über diesen Rahmen hinausgehende Vornahme von Eingriffen, bei denen der Tod
eines Zwillings bewusst in Kauf genommen wird, sollte auch nicht unter Berufung
auf einen Entschuldigungsgrund oder auf übergesetzliche Rechtsfiguren39 möglich
sein: Wie der Jubilar überzeugend ausgeführt hat, sind die handelnden Ärzte keiner
persönlichen Zwangslage ausgesetzt, in der das von der Rechtsordnung geforderte
35
Vgl. Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, StGB, 30. Aufl. 2019, Vor §§ 32 ff. Rn. 76.
36
Im Ergebnis ebenso (unter Einschluss der Möglichkeit eines Losverfahrens) für den Fall
eines ohne den Eingriff unmittelbar bevorstehenden Todes beider auf der Grundlage eines
anderen Ansatzes Zimmermann (Fn. 22), S. 474.
37
Was gerade in den wohl praktisch besonders bedeutsamen Fällen von Zwillingen mit
fusionierten Herzkammern anscheinend jedoch nicht der Fall ist, vgl. Merkel, in: Handbuch
(Fn. 1), S. 603 (632) m.w.N. aus dem medizinischen Schrifttum.
38
MüKoStGB/Erb (Fn. 13), § 34 Rn. 222.
39
Für deren Heranziehung – allerdings mit Blick auf Fälle, für die im vorliegenden Beitrag
eine Rechtfertigung befürwortet wird, A. Koch, GA 2011, 129 (136 ff.); NK-StGB/Neumann
(Fn. 5), § 34 Rn. 78a; Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, § 34 Rn. 16 a.E.
854 Volker Erb

Unterlassen des Eingriffs eine unerträgliche Zumutung bedeuten würde.40 Der


Rechtsstaat muss von den professionellen Akteuren des Gesundheitssystems –
auch unter Androhung von Strafe – verlangen können, bestehende rechtliche Vorga-
ben zu beachten.41 Die Einhaltung der hier vorgeschlagenen Grenzen sollte im Üb-
rigen auch nicht sonderlich schwerfallen, weil es kaum jemanden geben dürfte, der
Eingriffe, die jenseits des hiernach strafrechtlich Akzeptablen angesiedelt sind, in-
tuitiv als legitim bewertet, jedenfalls nicht in einer Eindeutigkeit, die ihn dazu ver-
leiten könnte, sich bewusst über entgegenstehendes Recht hinwegzusetzen. So mein-
te denn auch der Jubilar, es sei „schwer vorstellbar“, „dass irgendein Chirurg der
Welt an eine einseitig tödliche Trennung erwachsener siamesischer Zwillinge
auch nur denken würde.“42

V. Schlussbemerkung
Vor diesem Hintergrund soll der vorliegende Beitrag und der entsprechende Vor-
schlag zur Behandlung der Fallgruppe im Münchener Kommentar zum StGB zu-
gleich als Versuch verstanden werden, eine offenbar ganz vorherrschende ethische
Intuition nicht nur stillschweigend zu tolerieren, sondern – gemäß einer vom Jubilar
erhobenen Forderung43 – mit strafrechtlichen Kategorien in Einklang zu bringen.
Dabei geht es nicht darum, ethisch-moralischen Überlegungen unmittelbaren Ein-
gang in die Interessenabwägung nach § 34 StGB zu verschaffen. Aufgezeigt werden
sollte vielmehr, dass in den Extremkonstellationen, in denen sich die Intuition gegen
die rigorose Durchsetzung eines notstandsfesten Tötungsverbots sperrt, in Ermange-
lung entflechtbarer Interessensphären eine wesentliche Voraussetzung fehlt, die eben
dieses Verbot in allen anderen Varianten des Lebensnotstands in maßgeblicher Hin-
sicht mitträgt. Dem Fehlen dieser Voraussetzung bei der Auslegung von § 34 StGB in
gleicher Weise Rechnung zu tragen, wie das bei der intuitiven ethisch-moralischen
Bewertung solcher Fälle offenbar in einhelliger Weise geschieht, wird man ange-
sichts der entsprechend offen gehaltenen gesetzlichen Fassung der Norm nicht als
dogmatisch unvertretbar bezeichnen können. Dabei erscheint wichtig, dass es sich
insofern nicht um eine unbestimmte „Aufweichung“ der Unabwägbarkeit des Le-
bensrechts im rechtfertigenden Notstand handelt, sondern um eine besonders begrün-
dete Ausnahme, deren argumentative Basis gerade keine Erweiterung auf „alle mög-
lichen Grenzfälle des Rechts“ zu tragen vermag.44 Wenn eine solche Lösung dogma-
tisch und kriminalpolitisch vertretbar ist, dann sollte sie im Ernstfall herangezogen
40
Merkel, Früheuthansie (Fn. 1), S. 636; ders., in: Handbuch (Fn. 1), S. 603 (635).
41
MüKoStGB/Erb (Fn. 13), § 34 Rn. 221.
42
Merkel, in: Handbuch (Fn. 1), S. 603 (639).
43
Merkel, in: Handbuch (Fn. 1), S. 603 (639); zur möglichen Funktion von § 34 StGB „als
Verbindungsnorm par excellence zwischen Recht und Ethik“ bereits ders., Früheuthansie
(Fn. 1), S. 639.
44
Dazu Merkel, Früheuthansie (Fn. 1), S. 640.
Der Lebensnotstand bei siamesischen Zwillingen 855

werden, damit sich das Strafrecht in einer derartigen medizinischen Extremsituation


nicht ohne Not gegen die nachvollziehbare und einleuchtende Gewissensentschei-
dung der betreffenden Ärzte wendet.45 Die Annahme einer Rechtfertigung nach
§ 34 StGB verdient dabei den unbedingten Vorzug gegenüber einer Behelfslösung
mit übergesetzlichen Rechtsfiguren jenseits von Tatbestandsmäßigkeit und Rechts-
widrigkeit.46 Es ist nämlich auch in Grenzfällen des Rechts Aufgabe der Rechtsord-
nung, für die Betroffenen klare Anweisungen bereitzuhalten, wie sie sich verhalten
sollen, und es wäre ein Armutszeugnis, wenn sie vor dieser Aufgabe aus dem Eigen-
interesse kapituliert, nicht zu unangenehmen Wahrheiten verbindlich Stellung neh-
men zu müssen. Da sich an § 34 StGB anknüpfende Überlegungen der Strafrechts-
wissenschaft in solchen Konstellationen zwangsläufig auf schwankendem Grund be-
wegen, wäre es freilich angezeigt, diese Anweisungen der Rechtsordnung durch eine
gesetzliche Regelung der Fallgruppe auf eine solide Basis zu stellen.47

45
MüKoStGB/Erb (Fn. 13), § 34 Rn. 219 a.E.; ähnlich bereits Merkel, Früheuthansie
(Fn. 1), S. 640.
46
S. o. Fn. 39.
47
MüKoStGB/Erb (Fn. 13), § 34 Rn. 221; eine gesetzliche Regelung anmahnend auch
Joerden, Menschenleben, 2003, S. 119 (133).
Tötung im Notstand? –
Überlegungen zur Reichweite des Notstandsrechts
insbesondere im Völkerstrafrecht
Von Elisa Hoven

Meine erste Begegnung mit Reinhard Merkels Werk fand in der Rechtswissen-
schaftlichen Bibliothek der Freien Universität Berlin statt. Bei der Recherche für
eine Seminararbeit war ich auf sein Buch „Forschungsobjekt Embryo“ gestoßen.
Ich erinnere mich noch gut, wie sehr mich die klare und rationale Gedankenführung
beeindruckte; jeder Satz in dem Buch überzeugte mich. Seitdem habe ich keinen Text
von Reinhard Merkel gelesen, der mich nicht zum Nachdenken gebracht hat. Ob in
der Diskussion um den Lebensschutz, die Grenzen von Satire im Fall Böhmermann
oder die aktuelle Zuwanderungspolitik – Reinhard Merkels Haltungen sind progres-
siv, mutig und lassen sich politisch in keine Schublade stecken. Und man merkt sei-
nen Arbeiten die Erfahrungen als Journalist der ZEIT an: Anders als man es in man-
chen rechtsphilosophischen Texten findet, hat Reinhard Merkel es nicht nötig, den
Leser durch Unverständlichkeit zu beeindrucken.1
Für meinen Beitrag habe ich eines der sehr wenigen Themen ausgewählt, bei dem
ich der Auffassung des Jubilars zumindest in einigen Punkten vorsichtig widerspre-
chen möchte. Behandelt werden sollen Fragen des Notstandsrechts im Völkerstraf-
recht und im nationalen Strafrecht, mit denen sich Reinhard Merkel in seinen grund-
legenden Aufsätzen aus den Jahren 20022 und 20073 auseinandergesetzt hat.

I. Notstandstötungen im Kontext des Völkerrechts


Im nationalen Recht stellt die Notstandslage meist eine Ausnahmesituation dar:
Der Täter wird in aller Regel unverhofft und einmalig mit einer Gefahr für ein
Rechtsgut konfrontiert, die er nur auf Kosten eines anderen rechtlichen Interesses ab-
wenden kann. Im Völkerstrafrecht sieht es anders aus: Während gewaltsamer Aus-
einandersetzungen sind Gefahren für eigene und fremde rechtliche Interessen allge-
genwärtig – und häufig systembedingt. In staatlichen oder militärischen Machtappa-

1
Wie Marcel Reich-Ranicki bereits sagte: „Unverständlichkeit ist noch lange kein Beweis
für tiefe Gedanken.“, 1996 CICERO-Rednerpreis.
2
Merkel, ZStW 114 (2002), 437.
3
Merkel, JZ 2007, 373.
858 Elisa Hoven

raten ist der Angriff auf Rechtsgüter meist nicht nur oder nicht primär Folge einer
individuellen Entscheidung für das Unrecht, sondern Bestandteil gehorsamer Aufga-
benerfüllung. Während einige den Befehlen bereitwillig folgen – oder sie selbst
geben –, beugen sich andere ihnen nur unter Druck. Ein solcher Druck kann sich
zu einer Notstandssituation verdichten, wenn dem Betroffenen im Falle einer Wei-
gerung erhebliche Gefahren drohen. Ist der Einzelne – etwa als Soldat oder Wach-
mann – in seiner Rolle leicht ersetzbar, so liegt es nicht fern, dass sein „Funktionie-
ren“ im System notfalls mit Gewalt erzwungen wird. Im Angesicht schwerer und oft
grausamer völkerstrafrechtlicher Verbrechen mag man intuitiv davor zurückschre-
cken, das Handeln eines Täters für gerechtfertigt oder entschuldigt zu erklären.4 Je-
doch entbindet der Blick auf die Folgen der Tat nicht von einer genauen strafrecht-
lichen Prüfung, die allein die individuelle Verantwortlichkeit des Täters zum Gegen-
stand haben darf.
Mitte der neunziger Jahre brachte der vor dem Jugoslawien-Tribunal (Internatio-
nal Criminal Tribunal for the former Yugoslavia) verhandelte Fall Dražen Erdemović
die Fragen nach Voraussetzungen und Grenzen des Notstands auf die Agenda der
Völkergemeinschaft.5 Seitdem haben sich verschiedene Angeklagte vor internatio-
nalen Strafgerichten auf einen äußeren Zwang zum Handeln berufen.6 Im ersten Ver-
fahren an den Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia räumte der Ange-
klagte Duch, Leiter des Foltergefängnisses S-21, die Taten zwar ein, berief sich aber
zugleich darauf, dass im Falle eines Zuwiderhandelns das Leben seiner Familie ge-
fährdet gewesen wäre: „I am just a scapegoat and a person who were put to play a role
of killing in that regime. […] In those times I regarded the lives of my family are more
important than those who were detained at S-21. […] Although I know that the order
was criminal, I never dare to even think about it.“7 Im derzeit laufenden Verfahren vor
dem Internationalen Strafgerichtshof gegen Dominik Ongwen macht die Verteidi-
gung das Vorliegen eines Notstandes („duress“) ausdrücklich als „defence“ gegen
die Tatvorwürfe geltend: „Duress is the fundamental defence in this case. […] We
submit that the threats against Mr Ongwen were imminent and continuing.“8
In diesem Beitrag werden zunächst knapp die Entscheidungsgründe des ICTY im
Fall Erdemović in Erinnerung gerufen (II.). In diesem Lichte sollen sodann Systema-
tik und Voraussetzungen der Notstandsregelung im ICC-Statut skizziert und einer
kritischen Würdigung unterzogen werden (III.). Anschließend sollen einige Gedan-
4
„We identify with the actor’s dilemma, but we are repulsed by his actions.“, Joyce, Leiden
Journal of International Law 28 (2015), 623, 642.
5
ICTY, Erdemović (IT-96-22); bereits vor den Militärgerichten nach dem 2. Weltkrieg
beriefen sich Angeklagte auf eine Notstandssituation, siehe hierzu etwa Ambos, Treatise on
International Criminal Law, Volume I, 2013, S. 348.
6
Vgl. Bond/Fougere, ICLR 14 (2014), 471, 483 f. m.w.N.
7
ECCC, Duch, Statement by the defendant, Transcript of Proceedings, 001/18-07-2007/
ECCC/TC, Trial Chamber, 31 March 2009, p. 68 paras 18 ff., p. 69 para. 1.
8
ICC, Ongwen, Opening Statement of the Defence, Transcript, ICC-02/04-01/15-T-179-
Red-ENG, Trial Chamber, 18 September 2018, p. 86 para. 1, p. 85 paras 14 f.
Tötung im Notstand? 859

ken zum rechtlichen Umgang mit Notstandstötungen – auch, aber nicht nur im Völ-
kerstrafrecht – formuliert werden (IV.). Eine maßgebliche Rolle wird dabei die von
Reinhard Merkel auch für das Völkerstrafrecht angemahnte klare Unterscheidung
von Rechtswidrigkeit und Schuld spielen.9

II. Notstandstötungen in der Erdemović-Entscheidung


des ICTY
Während des Jugoslawienkriegs war Dražen Erdemović einfacher Soldat in der
Armee der Republika Srpska. Nach Angaben von Zeugen stand Erdemović dem
Krieg kritisch gegenüber und hatte sich der Einheit nur angeschlossen, um seine Fa-
milie zu ernähren. Am 16. Juli 1995 nahm Erdemović an der Erschießung von etwa
1200 unbewaffneten bosnischen Männern und Jungen auf der Pilica Farm teil. Nach
eigenen Schätzungen tötete er selbst 70 Menschen.
Erdemović brachte vor, dass er die Ausführung des Befehls zunächst verweigert
habe. Daraufhin sei ihm mit seiner eigenen Erschießung gedroht worden. Er habe die
Drohung ernst genommen, da ein anderer Soldat, der die Teilnahme an den Tötungen
abgelehnt hatte, erschossen worden sei.10 Wörtlich beschrieb Erdemović seine Situa-
tion wie folgt:
„Your Honor, I had to do this. If I had refused, I would have been killed together with the
victims. When I refused, they told me: ,If you are sorry for them, stand up, line up with them
and we will kill you too‘. I am not sorry for myself but for my family, my wife and son who
then had nine months, and I could not refuse because then they would have killed me.“11

1. Die Position der Kammermehrheit:


Keine Berufung auf Notstand im Völkerstrafrecht

Erdemović wurde von der Hauptverfahrenskammer zunächst zu einer Freiheits-


strafe von 10 Jahren verurteilt. Die Berufungskammer lehnte eine strafbefreiende Be-
rufung auf Notstand mit 3 zu 2 Stimmen ab, forderte jedoch eine strafmildernde Be-
rücksichtigung der Tatumstände. Das Urteil gegen Erdemović wurde auf fünf Jahre
Haft reduziert.
Die Mehrheit der Berufungskammer lehnte eine Anerkennung von Notstand als
Straffreistellungsgrund für die Tötung Unschuldiger grundsätzlich ab.12 Das Statut
9
Merkel, ZStW 114 (2002), 437, 454.
10
Siehe ausführlich Oellers-Frahm/Specht, ZaöRV 58 (1998), 389, 390 f.
11
ICTY, Erdemović, Statement by the defendant, Transcript of Proceedings, IT-96-22-PT,
Pre-Trial Chamber, 31. Mai 1996, p. 32 para. 6.
12
ICTY, Erdemović, Judgement, IT-96-22-A, Appeals Chamber, 7 October 1997, para. 19;
in der Strafzumessungsentscheidung wurde der Notstand als Strafmilderungsgrund berück-
sichtigt, ICTY, Erdemović, Sentencing Judgement, IT-96-22-Tbis, Trial Chamber, 5 March
860 Elisa Hoven

des ICTYenthielt keine Regelung zur „defence“ des Notstandes, das Völkergewohn-
heitsrecht ergab kein einheitliches Bild und auch allgemeine Rechtsgrundsätze lie-
ßen – aufgrund der unterschiedlichen Ansätze im kontinentaleuropäischen und
anglo-amerikanischen Recht – keinen eindeutigen Schluss auf den rechtlichen Um-
gang mit Notstand bei völkerstrafrechtlichen Verbrechen zu.13
Die Richter McDonald und Vohrah, die das Urteil gemeinsam mit Richter Li tru-
gen, stellten nun eine – zumindest für den deutschen Strafrechtsdogmatiker14 – recht
ungewöhnliche Überlegung an. Völkerstrafrechtliche Tribunale hätten zur Aufgabe,
dem humanitären Völkerrecht zur Durchsetzung zu verhelfen. Dessen oberstes
Gebot sei der Schutz der Schwachen und Verletzlichen; mit diesem Ziel sei eine
Straffreiheit der Täter nicht vereinbar – auch wenn sie in Notstand handelten.15 Sol-
che „Policy“-Erwägungen der Richter sind bei der Auslegung des geltenden Rechts
nicht angebracht. Sie können bei der Gestaltung von Recht – also bei der Formulie-
rung von Gerichtsstatuten – eine Rolle spielen, jedoch nicht eine Interpretation der
Rechtslage zu Lasten des Angeklagten stützen.16 In seiner Dissenting Opinion bringt
Richter Cassese die Kritik am Vorgehen der Kammermehrheit auf den Punkt: „Our
International Tribunal is a court of law; it is bound only by international law. […] It
should refrain from relying […] on policy considerations“17.

2. Die Dissenting Opinion von Antonio Cassese:


Anerkennung von Notstandstötungen im Völkerstrafrecht

Auch Cassese setzt sich intensiv mit der bisherigen Praxis in völkerstrafrechtli-
chen Verfahren auseinander. Ebenso wie die Kammermehrheit gelangt er zu dem
Schluss, dass eine klare völkerrechtliche Regel zum Notstand bei internationalen
Verbrechen nicht existiere. Er zieht hieraus jedoch eine andere Konsequenz: Da
die Rechtsfigur des Notstands als solche grundsätzlich anerkannt und ein Ausschluss
für die Tötung Unschuldiger völkerrechtlich nicht belegt sei, bleibe es bei der allge-

1998, para. 17. Vgl. hierzu auch Haenen, ICLR 16 (2016), 547, 555 ff.; Moran, Yearbook of
International Humanitarian Law 18 (2015), 205, 211 ff.; van Sliedregt, Individual Criminal
Responsibility in International Law, 2012, S. 255 ff.
13
So die Ausführungen bei ICTY, Erdemović, Judgement, IT-96-22-A, Appeals Chamber,
7 October 1997, Joint Separate Opinion of Judge McDonald and Judge Vohrah, paras. 41 ff.
14
Hierzu Weigend, JICJ 10 (2012), 1219, 1222.
15
ICTY, Erdemović, Judgement, IT-96-22-A, Appeals Chamber, 7 October 1997, Joint
Separate Opinion of Judge McDonald and Judge Vohrah, para. 75.
16
Anders als die Kammermehrheit sind McDonald und Vohrah der Auffassung, es sei naiv
zu glauben, dass das Völkerrecht völlig getrennt von politischen Erwägungen operiere; ICTY,
Erdemović, Judgement, IT-96-22-A, Appeals Chamber, 7 October 1997, Joint Separate Opin-
ion of Judge McDonald and Judge Vohrah, para 78.
17
ICTY, Erdemović, Judgement, IT-96-22-A, Appeals Chamber, 7 October 1997, Separate
and Dissenting Opinion of Judge Cassese, para. 11.
Tötung im Notstand? 861

meinen Geltung des Notstandsrechts.18 Internationale Strafgerichte müssten den


Straffreistellungsgrund des Notstands in jedem Einzelfall nach den üblichen Voraus-
setzungen prüfen: „(1) a severe threat to life or limb; (2) no adequate means to escape
the threat; (3) proportionality in the means taken to avoid the threat; (4) the situation
of duress should not have been self-induced“19.
Ins Zentrum seiner nachfolgenden Überlegungen stellt Cassese die Frage, ob die
Tötung unschuldiger Menschen überhaupt verhältnismäßig („proportional“) sein
kann.20 Im Fall Erdemović scheinen bereits die Zahlen gegen ein verhältnismäßiges
Vorgehen zu sprechen: Auf den ersten Blick steht der Tötung von 70 unschuldigen
Zivilisten die Rettung nur eines Lebens – des Täters – gegenüber. Die Besonderheit
des Falles liegt jedoch darin, dass das Leben der Zivilisten nicht zu retten war. Hätte
Erdemović den Befehl verweigert, so wäre ein Kamerad an seine Stelle getreten.
Damit ist die Rechnung eine andere: Der Täter hat in einer solchen Situation
nicht die Wahl zwischen 70 Leben oder dem eigenen, sondern kann lediglich ent-
scheiden, ob er zusätzlich zu den 70 Personen den Tod findet. Cassese argumentiert,
dass die Rechtsordnung eine solche Aufopferung des eigenen Lebens ohne die Chan-
ce auf Rettung anderer nicht erwarten könne. Von niemandem könne verlangt wer-
den, sein Leben für einen heroischen, symbolischen Akt zu lassen und zum Märtyrer
für die Idee von Frieden und Menschlichkeit zu werden:
„Were he to comply with his legal duty not to shoot innocent persons, he would forfeit his life
for no benefit to anyone and no effect whatsoever apart from setting a heroic example for
mankind (which the law cannot demand him to set): his sacrifice of his own life would
be to no avail. […] The victims […] will certainly die in any event. Can society reasonably
expect […] in these circumstances to sacrifice his life? In such situations it may be too de-
manding to require of the person under duress that they do not perpetrate the offence.“21

Die Hauptverfahrenskammer hätte daher, so Cassese weiter, das Vorliegen der


vierten Notstandsvoraussetzung prüfen müssen: Eine Berufung auf Notstand sei ver-
sagt, wenn Erdemović sich freiwillig einer Einheit angeschlossen hätte, von der er
wusste oder hätte wissen müssen, dass sie völkerrechtliche Verbrechen begeht.22

18
ICTY, Erdemović, Judgement, IT-96-22-A, Appeals Chamber, 7 October 1997, Separate
and Dissenting Opinion of Judge Cassese, para. 41. Vgl. zu Casseses Dissenting Opinion auch
Moran, Yearbook of International Humanitarian Law 18 (2015), 205, 215 f.
19
ICTY, Erdemović, Judgement, IT-96-22-A, Appeals Chamber, 7 October 1997, Separate
and Dissenting Opinion of Judge Cassese, para. 41.
20
Vgl. auch van Sliedregt, Individual Criminal Responsibility in International Law, 2012,
S. 258: „In essence, the problem with duress and international crimes is the same as the
problem with duress and murder: the concept of proportionality is incompatible with the
weighing of human lives.“
21
ICTY, Erdemović, Judgement, IT-96-22-A, Appeals Chamber, 7 October 1997, Separate
and Dissenting Opinion of Judge Cassese, para. 44, para. 47 (Hervorh. im Original).
22
ICTY, Erdemović, Judgement, IT-96-22-A, Appeals Chamber, 7 October 1997, Separate
and Dissenting Opinion of Judge Cassese, para. 17, para. 50.
862 Elisa Hoven

3. Offene Fragen nach der Erdemović-Entscheidung

Die Entscheidung der Hauptverfahrenskammer ist im Schrifttum zu Recht auf


Kritik gestoßen.23 Die von Reinhard Merkel monierte „Unhaltbarkeit“24 des Urteils
gründet sich nicht nur auf seine methodischen Schwächen, sondern zeigt sich auch in
seinem Ergebnis. Brooks fasst die Konsequenz der Erdemović-Entscheidung so zu-
sammen: „At Srebrenica, the only way to be innocent was to be dead.“25
Die für den ICTY zentrale Frage, ob im internationalen Strafrecht eine Rechtfer-
tigung wegen Notstandes überhaupt zulässig ist, hat die Völkergemeinschaft mit Ein-
führung von Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut in das Statut des Internationalen Straf-
gerichtshofs bejaht. Weiterhin interessant bleiben jedoch Voraussetzungen und Gren-
zen des Notstandsrechts. Bei der nachfolgenden Betrachtung der Regelung im ICC-
Statut sollen insbesondere drei der im Erdemović-Verfahren diskutierten Punkte in
den Blick genommen werden: Kann die Tötung eines Menschen durch Notstand ge-
rechtfertigt sein? Verschiebt sich die Bewertung, wenn die Tötung der Menschen
nicht zu verhindern war? Und ist das Notstandsrecht ausgeschlossen, wenn die Not-
standslage für den Täter vorhersehbar war?

III. Notstandstötungen nach Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut


Die Ausgestaltung der „defences“ war in den Verhandlungen der Rom-Konferenz
zwischen den Vertragstaaten hoch umstritten. Saland beschreibt die Verhandlungen
über Art. 31 ICC-Statut angesichts der grundlegend verschiedenen nationalen Mo-
delle als die „schwierigsten im Bereich der allgemeinen Grundsätze“.26 Im Ergebnis
setzte sich weitgehend der Entwurf der kanadischen Delegation durch.27 Die Not-
standsregelung in Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut lautet:

23
Ambos, in: Lüderssen, Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse?, Bd.
III: Makrodelinquenz, 1998, S. 377, 391; ders., in: Brown, Research Handbook on Interna-
tional Criminal Law, 2011, S. 315 f.; Janssen, ICLR 4 (2004), 83, 90 ff.; Joyce, Leiden Journal
of International Law 28 (2015), 623, 631; Kreß, ZStW 111 (1999), 597; Knoops, Defenses in
Contemporary International Criminal Law, 2. Aufl. 2008, S. 50 ff.; Oellers-Frahm/Specht,
ZaöRV 58 (1998), 389; Simon, The Applicability of the Defence of Duress to Unlawful Killing
in International Criminal Law, 2019, S. 17 ff.; Warbrick/McGoldrick/Turns, International and
Comparative Law Quarterly 47 (1998), 461; Weigend, JICJ 10 (2012), 1219.
24
Merkel, ZStW 114 (2002), 437, 452.
25
Brooks, VJIL 43 (2003), 861, 868.
26
Saland, in: Lee, The International Criminal Court: the making of the Rome Statute,
1999, S. 189, 206.
27
Zur Entstehung der Norm Ambos, Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts, 2. Aufl.
2004, S. 838; Eser, in: Triffterer/Ambos, The Rome Statute of the International Criminal
Court, 3. Aufl. 2016, Art. 31 Rn. 49; Scaliotti, ICLR 1 (2001), 111, 150 ff.
Tötung im Notstand? 863

Article 31 Grounds for excluding criminal responsibility


(1) In addition to other grounds for excluding criminal responsibility provided for in this
Statute, a person shall not be criminally responsible if, at the time of that person’s con-
duct: …
d) The conduct which is alleged to constitute a crime within the jurisdiction of the
Court has been caused by duress resulting from a threat of imminent death or of
continuing or imminent serious bodily harm against that person or another person,
and the person acts necessarily and reasonably to avoid this threat, provided that the
person does not intend to cause a greater harm than the one sought to be avoided.
Such a threat may either be:
(i) Made by other persons; or
(ii) Constituted by other circumstances beyond that person’s control.

1. Grundlegendes zu Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut

Mit der Einführung eines Notstandsrechts haben die Vertragsstaaten des ICC eine
Abkehr von den Grundsätzen der Erdemović-Entscheidung vollzogen. Art. 31 Abs. 1
lit. d ICC-Statut erkennt den Notstand als „defence“ für alle Völkerstraftaten an („The
conduct which is alleged to constitute a crime within the jurisdiction of the Court“).28
Die Möglichkeit eines Strafausschlusses wegen Notstandes ist, um in den Worten
Reinhard Merkels zu sprechen, gegenüber der undifferenzierten Rechtsprechung des
ICTYein „erfreulicher Fortschritt“.29 Allerdings weist auch Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-
Statut, wie noch zu zeigen sein wird, einige systematische und grammatische Schwä-
chen auf. Zunächst unterscheidet die Vorschrift nicht zwischen rechtfertigendem und
entschuldigendem Notstand, sondern formuliert als Rechtsfolge einen generellen
Ausschluss „strafrechtlicher Verantwortlichkeit“. Auch die im anglo-amerikani-
schen Recht übliche Unterscheidung zwischen duress (Bedrohung durch eine Per-
son) und necessity (Bedrohung durch äußere Umstände) hat – obwohl sie sich in
(i) und (ii) der Regelung wiederfindet – für die Bewertung des Notstandsrechts
keine Bedeutung.30
Voraussetzung für die Straffreistellung ist zunächst das Vorliegen einer Not-
standslage in Form einer „ihm selbst oder einem anderen unmittelbar drohenden Ge-
fahr für das Leben oder einer dauernden oder unmittelbar drohenden Gefahr schwe-
ren körperlichen Schadens“.31 Im Fall Ongwen hat die Vorverfahrenskammer eine

28
Bond/Fougere, ICLR 14 (2014), 471, 487 f.; Moran, Yearbook of International Hum-
anitarian Law 18 (2015), 205.
29
Merkel, ZStW 114 (2002), 437, 453.
30
Joyce, Leiden Journal of International Law 28 (2015), 623, 640; Werle/Jeßberger, Völ-
kerstrafrecht, 4. Aufl. 2016, Rn. 663 m.w.N.
31
Amtliche Übersetzung Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut: „wegen einer ihm selbst oder
einem anderen unmittelbar drohenden Gefahr für das Leben oder einer dauernden oder un-
864 Elisa Hoven

Berufung auf Notstand bereits aufgrund einer fehlenden Notstandslage abgelehnt.32


Dass dem Beschuldigten möglicherweise spätere Sanktionsmaßnahmen durch seine
Organisation drohten, sei nicht ausreichend, da diese Gefahr nicht unmittelbar („im-
minent“) bevorstehe.33 Der Täter muss zur Abwehr einer unmittelbar drohenden Ge-
fahr „erforderlich und angemessen“ handeln. In subjektiver Hinsicht verlangt Art. 31
Abs. 1 lit. d ICC-Statut, dass der Täter zur Abwehr der Gefahr tätig wird und dabei
„nicht größeren Schaden zuzufügen beabsichtigt als den, den er abzuwenden trach-
tet“.

2. Straffreiheit für die Tötung Unschuldiger?

Ob Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut die Möglichkeit einer Straffreiheit in Fällen der
Tötung Unschuldiger eröffnet, ist nach dem Wortlaut der Vorschrift nicht eindeutig
zu beantworten. Der Blick auf das subjektive Element „does not intend to cause a
greater harm than the one sought to be avoided“ legt nahe, dass ein Leben für ein
anderes geopfert werden darf.34 Im Vergleich zu § 34 StGB oder auch Sec. 3.02.
MPC35 kehrt die Norm die Abwägung der Rechtsgüter um: Der Täter muss kein hö-
herrangiges Rechtsgut schützen, er darf lediglich keinen größeren Schaden bewirken
wollen als er verhindern möchte.
Unabhängig davon, ob man eine Quantifizierung von Menschenleben für zulässig
erachtet, bewirkt der Täter jedenfalls keinen „größeren“ Schaden, wenn er eine Per-
son tötet, um zwei Menschen zu retten. Gleiches würde auch dann gelten, wenn der
Täter Person A tötet, um Person B zu retten, da die Tötung von „A“ kein größerer,
sondern ein gleich großer Schaden ist.36 Zur Möglichkeit einer nummerischen Ab-
wägung von Leben wird man sich jedoch im umgekehrten Fall bekennen müssen:
Tötet der Täter 100 Personen, um eine Person zu schützen, so wird ein Notstand
nach Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut an der Bereitschaft des Täters scheitern,

mittelbar drohenden Gefahr schweren körperlichen Schadens zu einem Verhalten genötigt ist,
das angeblich den Tatbestand eines der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegenden Ver-
brechens erfüllt, und in notwendiger und angemessener Weise handelt, um diese Gefahr ab-
zuwenden, sofern er nicht größeren Schaden zuzufügen beabsichtigt als den, den er abzu-
wenden trachtet. Eine solche Gefahr kann entweder i) von anderen Personen ausgehen
oder ii) durch andere Umstände bedingt sein, die von ihm nicht zu vertreten sind.“
32
ICC, Ongwen, Decision on the confirmation of charges, ICC-02/04-01/15-422-Red, Pre-
Trial Chamber, 23 March 2016, paras 153 f.
33
Auf diesen Aspekt soll hier nicht näher eingegangen werden. Instruktiv dazu: Bond/
Fougere, ICLR 14 (2014), 471, 500 ff.
34
So auch Ambos, Treatise on International Criminal Law, Volume 1, S. 363; ders., Der
Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts, S. 867; Heim, Cornell Int’l L.J. 46 (2013), 165, 180;
Scaliotti, ICLR 1 (2001), 111, 157; Simon, The Applicability of the Defence of Duress to
Unlawful Killing in International Criminal Law, S. 159; Weigend, JICJ 10 (2012), 1219, 1224.
35
Sec. 3.02. MPC: „the harm or evil sought to be avoided by such conduct is greater than
that sought to be prevented“.
36
So auch Joyce, Leiden Journal of International Law 28 (2015), 623, 640.
Tötung im Notstand? 865

einen größeren Schaden zu bewirken.37 Eine Sonderregel für die Bedrohung des ei-
genen Lebens oder des Lebens naher Angehöriger enthält Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-
Statut nicht. Auch in diesen Fällen darf der Täter also keinen größeren Schaden ver-
ursachen als er verhindert. Zur Rettung des Sohnes wäre es dem Vater also gestattet,
einen Zivilisten zu erschießen, nicht aber zwei.38 Für den Umgang mit „todgeweih-
ten“ Opfern lässt die Regelung des Statuts Interpretationsspielraum. Die Tötung von
70 sicher dem Tode geweihten Personen kann gegenüber der zusätzlichen Tötung des
Täters (70 plus 1) als der geringere Schaden anzusehen sein.39
Die hier skizzierten Ergebnisse erscheinen nicht durchweg überzeugend. Die Re-
gelung geht einerseits sehr weit, indem sie dem Täter – ohne Vorliegen einer beson-
deren Nähebeziehung – gestattet, ein Opfer gegen ein anderes auszutauschen. Ande-
rerseits reicht sie nicht weit genug, wenn der Täter zur Rettung des eigenen Lebens
oder des Lebens eines nahen Angehörigen handelt; in einer solchen Situation muss
der Täter auch straffrei bleiben, wenn er einen größeren Schaden bewirkt [hierzu aus-
führlich IV. 2. a)].
Ein deutlich engeres Verständnis des Notstandsrechts (und damit eine Korrektur
zumindest der erstgenannten Konsequenz) würde sich ergeben, wenn Art. 31 Abs. 1
lit. d ICC-Statut neben der subjektiven Güterabwägung noch ein objektives Verhält-
nismäßigkeitselement enthielte. In diesem Sinne interpretiert Eser die Formulierung
„duress resulting from a threat“: Eine Berufung auf Notstand setze den Nachweis
eines tatsächlichen Zustandes der „duress“ voraus.40 „Duress“ sei jedoch nicht gege-
ben, wenn eine vernünftige Person in derselben Situation von der Verletzung der
Rechtsgüter abgesehen hätte. Die Beurteilung der Situation durch einen objektiv-ra-
tionalen Dritten würde dadurch zum Maßstab für die Abwägungsentscheidung des
Täters. Nach dem Wortlaut von Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut wird man „duress“
allerdings nicht als eigenes Tatbestandsmerkmal verstehen können. Der Begriff
hat keinen selbstständigen Regelungsgehalt, sondern dient der terminologischen Zu-
sammenfassung der normativ beschriebenen Situation. „Duress“ ist – ähnlich wie
„self-defense“ – die Bezeichnung einer Kategorie, deren Inhalt abschließend
durch die nachfolgend festgelegten Voraussetzungen bestimmt wird.

37
Für die Möglichkeit der Tötung einer Vielzahl von Personen zur Rettung eines Men-
schenlebens Simon, The Applicability of the Defence of Duress to Unlawful Killing in Inter-
national Criminal Law, S. 126 ff., 160; Scaliotti, ICLR 1 (2001), 111, 157 ff.
38
Hierzu ebenfalls kritisch Kreß, ZStW 111 (1999), 597, 622 f.; Merkel, ZStW 114 (2002),
437, 453; Nill-Theobald, „Defences“ bei Kriegsverbrechen am Beispiel Deutschlands und der
USA, 1998, S. 228; Weigend, in: Joecks/Miebach, Münchener Kommentar zum StGB, Band 8,
3. Aufl. 2018, VStGB, § 2 Rn. 21.
39
Für die Anwendbarkeit von Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut auf diese Fälle: Joyce, Lei-
den Journal of International Law 28 (2015), 623, 640.
40
Eser, in: Triffterer/Ambos, The Rome Statute of the International Criminal Court: A
Commentary, Art. 31 Rn. 57: „Thus, a threat results in ,duress’ only if it is not otherwise
avoidable, i. e. if a reasonable person in comparable circumstandes would not have submitted
and would not have been driven to the relevant criminal conduct.“
866 Elisa Hoven

Bedeutende Stimmen im Schrifttum erkennen in der Formulierung „does not in-


tend to cause a greater harm than the one sought to be avoided “ das Erfordernis einer
objektiven Güterabwägung.41 Auch Reinhard Merkel scheint Art. 31 Abs. 1 lit. d
ICC-Statut auf diese Weise zu lesen, wenn er – allerdings dezidiert kritisch – der
Norm eine „strikte Verhältnismäßigkeitsklausel“ entnimmt.42 Ambos hingegen
möchte zwischen „duress“ und „necessity“ differenzieren und eine objektive Ver-
hältnismäßigkeitsprüfung nur für Fälle der „necessity“ vornehmen, da er „duress“
als bloßen Entschuldigungsgrund versteht.43 Der Wortlaut gibt eine unterschiedliche
Behandlung der beiden Konstellationen allerdings nicht her; die Vorschrift be-
schreibt zwar in (i) und (ii) die Situationen von „duress“ und „necessity“, formuliert
aber gerade keine unterschiedlichen Anforderungen an die Straffreistellung.44
Denkbar wäre es auch, aus dem Ausdruck „reasonably“ ein Erfordernis der Ver-
hältnismäßigkeit zu entnehmen. Eser weist jedoch zu Recht darauf hin, dass „reaso-
nable“ bereits aus systematischen Erwägungen nicht als Verhältnismäßigkeitsgebot
verstanden werden kann.45 Dies zeigt ein Rückschluss aus Art. 31 Abs. 1 lit. c ICC-
Statut: „The person acts reasonably to defend himself or herself or another person
(…) in a manner proportionate to the degree of danger to the person or the other per-
son or property protected.“ Die hier formulierte Notwehrregel setzt ein Handeln vor-
aus, das sowohl „reasonable“ als auch „proportionate“ ist. Werden zwei Merkmale
innerhalb eines Normtextes verwendet, müssen sie Unterschiedliches bedeuten.
„Reasonable“ kann somit nicht im Sinne von Verhältnismäßigkeit interpretiert wer-
den. Durch die Fassung von Art. 31 Abs. 1 lit. c ICC-Statut hat der Normsetzer deut-
lich gemacht, dass er für die Beschreibung eines objektiven Verhältnismäßigkeitser-
fordernisses den Begriff der „Proportionality“ verwendet. Überzeugender scheint es
daher, der Voraussetzung „reasonable“ eine ähnliche (geringe) Bedeutung beizumes-
sen wie der Angemessenheitsklausel in § 34 Abs. 1 S. 2 StGB und sie insbesondere
auf Fälle der Verletzung der Menschenwürde zu beschränken.46
Damit bleibt es bei den eingangs formulierten Ergebnissen: (1) Die Tötung einer
Person zur Rettung von zwei Personen kann straffrei sein. (2) Die Tötung einer Per-
son zur Rettung einer anderen Person kann straffrei sein. (3) Die Tötung von zwei
Personen zur Rettung einer Person kann nicht straffrei sein, selbst wenn der Täter

41
Kittichaisaree, International Criminal Law, 2001, S. 264; Knoops, Defenses in Con-
temporary International Criminal Law, S. 86; Satzger, Internationales und Europäisches
Strafrecht, 8. Aufl. 2018, S. 369; Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Rn. 672.
42
Merkel, ZStW 114 (2002), 437, 453.
43
Ambos, in: Cassese/Gaeta/Jones, The Rome Statute of the International Criminal Court:
A Commentary, Volume I, 2002, S. 1036 f.; krit. hierzu Weigend, GA 2018, 297, 303.
44
So auch Joyce, Leiden Journal of International Law 28 (2015), 623, 639.
45
Eser, in: Triffterer/Ambos, The Rome Statute of the International Criminal Court: A
Commentary, Art. 31 Rn. 59.
46
Siehe hierzu Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, Strafgesetzbuch, 5. Aufl.
2017, § 34 Rn. 118; Zieschang, JA 2007, 679, 684 sieht die Angemessenheitsklausel sogar als
überflüssig an.
Tötung im Notstand? 867

zur Rettung des eigenen Lebens oder des Lebens eines nahen Angehörigen handelt.
(4) Die Tötung einer größeren Anzahl von Personen, deren Leben nicht zu retten ist,
kann zur Rettung anderer straffrei sein.

3. Keine Straffreiheit bei selbstverschuldeter Notstandslage?

Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut enthält keine explizite Regelung zum Ausschluss
des Notstandsrechts bei selbstverschuldeter Notstandslage. Bereits Cassese hatte in
seiner Dissenting Opinion eine Straffreiheit des Täters in Zweifel gezogen, wenn die-
ser von der Begehung völkerrechtlicher Verbrechen durch seine Einheit gewusst und
sich ihr trotzdem angeschlossen hat.47 Auch das deutsche Recht kennt für den ent-
schuldigenden Notstand einen entsprechenden Ausschlussgrund: Hat der Täter die
Gefahr selbst verursacht, so kann ihm regelmäßig ein Hinnehmen der Gefahr zuge-
mutet werden (§ 35 Abs. 1 S. 2 StGB).
Im Ongwen-Verfahren hat die Vorverfahrenskammer den Gedanken der selbstver-
schuldeten Notstandslage aufgegriffen. Die Kammer lehnte die Berufung Ongwens
auf Notstand auch deshalb ab, weil die notstandsbegründenden Umstände nicht au-
ßerhalb seiner Kontrolle gelegen hätten („Constituted by other circumstances beyond
that person’s control.“).48 Zwar war Ongwen nicht freiwillig der Lord’s Resistance
Army beigetreten, sondern als Kindersoldat rekrutiert worden; doch ist er später – so
die Argumentation der Kammer – freiwillig innerhalb der Organisation aufgestiegen
und hat eine zentrale Rolle für die Umsetzung ihrer militärischen Ziele übernom-
men.49 Ob ein Täter, der – durch den freiwilligen Beitritt oder ein besonderes Enga-
gement in der Einheit – seine Notstandssituation selbst verantworten muss, damit
auch die konkreten notstandsbegründenden Umstände unter Kontrolle hat, kann
man zumindest bezweifeln. In jedem Fall würde diese Einschränkung nach dem
Wortlaut von Art. 31 lit. d ICC-Statut nur für die in (ii) beschriebene Konstellation
der „necessity“ gelten. Für Drohungen durch eine andere Person (i) findet das Kri-
terium „beyond that person’s control“ nach dem Wortlaut keine Anwendung. Wes-
halb eine selbstverschuldete Notstandslage einer Straffreiheit jedoch nur entgegen-
stehen soll, wenn die dem Täter drohende Gefahr durch „Umstände“ und nicht durch
eine „andere Person“ verursacht wird, ist nicht begründbar. Art. 31 lit. d ICC-Statut
enthält damit keine schlüssige Vorgabe zum Umgang mit selbstverschuldeten Not-
standslagen.

47
ICTY, Erdemović, Judgement, IT-96-22-A, Appeals Chamber, 7 October 1997, Separate
and Dissenting Opinion of Judge Cassese, paras 17, 41, 50.
48
ICC, Ongwen, Decision on the confirmation of charges, ICC-02/04-01/15-422-Red, Pre-
Trial Chamber, 23 March 2016, para. 154.
49
Zum Werdegang von Ongwen in den LRA-Strukturen Nortje, ICLR 17 (2017), 186,
200 f.
868 Elisa Hoven

4. Die Hintertür in Art. 31 Abs. 2 ICC-Statut

Eine wichtige Hintertür haben die Vertragsstaaten dem Gericht in Art. 31 Abs. 2
ICC-Statut offengelassen. Die Vorschrift lautet: „The Court shall determine the ap-
plicability of the grounds for excluding criminal responsibility provided for in this
Statute to the case before it.“
Soll Abs. 2 nicht nur völlig Selbstverständliches wiedergeben – denn natürlich
muss das Gericht stets über die Anwendbarkeit einer Norm auf den vorgelegten Ein-
zelfall entscheiden –, muss er weit verstanden werden und dem Gericht das Recht
einräumen, die in Art. 31 Abs. 1 ICC-Statut formulierten Voraussetzungen nach ei-
genem Ermessen einzuschränken oder zu ergänzen.50 Auf diesem Wege wäre es den
Richtern des ICC möglich, einen Ausschlussgrund bei selbstverschuldetem Notstand
anzunehmen51 und die oben gefundenen Abwägungsergebnisse – etwa die Tötung
eines Menschen zur Rettung eines anderen – zu korrigieren.
Damit büßt das Statut den durch die Formulierung der Straffreistellungsgründe
erreichten Gewinn an Rechtssicherheit wieder ein.52 Stehen die Voraussetzungen
der „defences“ letztlich zur Disposition des Gerichts, stellt Art. 31 Abs. 1 ICC-Statut
eher einen Vorschlag als eine verbindliche – und dadurch verlässliche – Vorgabe dar.
Auf dieser rechtlichen Basis ist für den Angeklagten regelmäßig nicht vorhersehbar,
ob die Richter sein Handeln als strafbar oder straflos bewerten werden.
Art. 31 Abs. 2 ICC-Statut öffnet das Notstandsrecht für politische Erwägungen,
wie sie Cassese bereits im Erdemović-Urteil zu Recht kritisiert hatte. Die Entschei-
dung der Vorverfahrenskammer im Ongwen-Verfahren lässt erahnen, dass auch die
Richter des ICC geneigt sein könnten, den Wortlaut von Art. 31 lit. d ICC-Statut aus
politischen Gründen zu korrigieren. Wenn die Kammer formuliert:
„Duress is not regulated in the Statute in a way that would provide blanket immunity to mem-
bers of criminal organisations which have brutal systems of ensuring discipline as soon as
they can establish that their membership was not voluntary“53,

50
Eser, in: Triffterer/Ambos, The Rome Statute of the International Criminal Court: A
Commentary, Art. 31 Rn. 64 f.; Saland, in: Lee, The International Criminal Court; the Making
of the Rome Statute, S. 189, 208; Simon, The Applicability of the Defence of Duress to
Unlawful Killing in International Criminal Law, S. 141; kritisch Schabas, The International
Criminal Court: A Commentary on the Rome Statute, 2. Aufl. 2016, S. 647; vermittelnd
Joyce, Leiden Journal of International Law 28 (2015), 623, 640.
51
Bond/Fougere erklären den Verzicht auf eine Regelung des Notstandsausschlusses
damit, dass die Vertragsstaaten über Art. 31 Abs. 2 ICC-Statut dem Gericht die Entscheidung
über Anwendung und Voraussetzungen eines Ausschlussgrundes überlassen wollten, ICLR 14
(2014), 471, 488; Cassese, in: Cassese (Hrsg.), International Criminal Law, 3. Aufl. 2013,
S. 216.
52
Eser, in: Triffterer/Ambos, The Rome Statute of the International Criminal Court: A
Commentary, Art. 31 Rn. 64.
53
ICC, Ongwen, Decision on the confirmation of charges, ICC-02/04-01/15-422-Red, Pre-
Trial Chamber, 23 March 2016, para. 153.
Tötung im Notstand? 869

so schließt das zumindest nicht aus, dass sie die Anwendung des Notstandsrechts
nicht von einer strengen Subsumtion unter Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut abhängig
machen, sondern an der jeweils befürworteten rechtspolitischen Vorstellung orientie-
ren wird.

5. Kritik

Eser hat das Notstandsrecht in Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut als eine der „am
wenigsten überzeugenden Regelungen“54 des Statuts bezeichnet. Die größten Schwä-
chen der Norm sind ihre Unbestimmtheit [a)] sowie die fehlende Differenzierung
zwischen Rechtfertigung und Schuld [b)].

a) Rechtsunsicherheit durch unklare Vorgaben

Um ein hinreichend bestimmtes und für den Normadressaten vorhersehbares


(Völker-)Strafrecht zu schaffen, hätten die Vertragsstaaten des ICC nicht nur die Vor-
aussetzungen der Straftatbestände, sondern in gleicher Weise auch die Bedingungen
für einen Strafausschluss abschließend regeln müssen.55 Für die zentrale Frage, ob
ein Handeln von der Völkergemeinschaft als strafbar oder straflos angesehen
wird, sind die „defences“ nicht weniger entscheidend.
Die verhandlungstaktisch motivierte56 Entscheidung für Art. 31 Abs. 2 ICC-Sta-
tut zeigt ein Grundproblem völkerrechtlicher Normsetzung. Vertragstexte folgen
nicht notwendig einer systematischen und inhaltlichen Logik, sondern sind häufig
das Ergebnis diffiziler Aushandlungsprozesse. Gerade wenn die beteiligten Akteure
auf nationaler Ebene grundlegend verschiedene Regelungsmodelle anwenden, be-
darf die Einigung auf einen gemeinsamen Text wechselseitiger Zugeständnisse.
Die Konsequenz ist, im schlechtesten Fall, ein mosaikhaftes Kompromissmodell
ohne schlüssiges dogmatisches Gesamtkonzept.57

b) Fehlende Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung

Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut zieht, wie bereits ausgeführt, die Grenzen des Not-
stands einerseits zu eng, andererseits zu weit (oben III. 2.). Reinhard Merkel führt die
wenig stimmige Ausgestaltung des Notstandsrechts auf das Fehlen einer klaren Un-
54
Eser, in: Triffterer/Ambos, The Rome Statute of the International Criminal Court: A
Commentary, Art. 31 Rn. 49; Weigend, in: Schünemann u. a., Festschrift für Claus Roxin zum
70. Geburtstag am 15. Mai 2001, 2001, S. 1376, 1386 bezeichnet die Artt. 22 – 33 ICC-Statut
als „völkerstrafrechtliches Rohmaterial“.
55
Rowe, YIntlHL 1 (1998), 210, 228.
56
Saland, in: Lee, The International Criminal Court: the Making of the Rome Statute,
S. 189, 208 f.
57
Hierzu auch Hoven, Rechtsstaatliche Anforderungen an völkerstrafrechtliche Verfahren,
2013, S. 170 ff.
870 Elisa Hoven

terscheidung zwischen Unrecht und Schuld im Völkerstrafrecht zurück. Merkel for-


muliert hier in gewohnter Klarheit:
„Wer in jedem Fall der Straflosigkeit einer Tat im Sinne des Strafgesetzes eine Art Rückzug
der Verbotsnorm selbst vermutet, der wird jeden Strafausschluss zögerlicher und skeptischer
beurteilen als jemand, der anerkennt, dass es eine Sache ist, die Geltung einer Norm auch für
den konkreten Fall zu unterstreichen, eine andere aber, deswegen unbedingt auch auf einer
Bestrafung des Normbrechers zu bestehen. Eine Entschuldigung des Täters nach klaren, aus
den Schuldprinzipien entwickelten Kriterien bedroht die Geltung der Verbotsnorm nicht.“58

Dem ist wenig hinzuzufügen. Ist ein Verhalten gerechtfertigt, so steht es im Ein-
klang mit der Rechtsordnung und gilt nicht als sozialschädlich.59 Eine rechtfertigen-
de Wirkung kann das Notstandshandeln also nur dann entfalten, wenn die Rechtsord-
nung das Vorgehen des Täters billigt; etwa, wenn der Täter eine Scheibe einwirft, um
das Leben eines Kindes zu retten. Wird das Handeln des Täters hingegen nur ent-
schuldigt, so bleibt die Tat Unrecht, wird ihm aufgrund besonderer Umstände jedoch
nicht vorgeworfen.60 Ein entschuldigender Notstand ermöglicht die Straflosigkeit
des in einer moralischen Grenzsituation handelnden Täters, ohne dabei die Geltung
der Verhaltensnorm als solche in Frage zu stellen. Hierdurch wäre auch den politi-
schen Bedenken der Richter zu begegnen: Ein Angeklagter könnte freigesprochen
werden, ohne dass durch das Urteil die Grundsätze des humanitären Völkerrechts
aufgegeben würden.61
Hinter dem rechtfertigenden und dem entschuldigenden Notstand stehen also
grundlegend unterschiedliche Erwägungen. Ein überzeugendes Notstandsmodell
muss daher für die Ebenen Unrecht und Schuld unterschiedliche Regelungen treffen.
In dem Plädoyer für eine differenzierende Lösung liegt keine „Anmaßung der deut-
schen Strafrechtsdogmatik“62, sondern der Versuch, „der Komplexität schwieriger
Notstandsfälle gerecht zu werden“.63

58
Merkel, ZStW 114 (2002), 437, 454.
59
Vgl. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996,
S. 425; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band 1, 4. Aufl. 2006, § 14 Rn. 41, § 19 Rn. 1.
60
Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, S. 425; Roxin, Strafrecht
Allgemeiner Teil, Band 1, § 22 Rn. 2; Hruschka, NJW 1980, 21, 23.
61
So auch Joyce, Leiden Journal of International Law 28 (2015), 623, 636: „While as an
excuse, one can accept more readily that the accused is seeking forgiveness for having com-
mitted an act, which, although it is wrong, is not one which he would, in circumstances absent
a threat, have committed.“; für einen Entschuldigungsgrund argumentieren ebenfalls Ambos,
Internationales Strafrecht, 5. Aufl. 2018, § 7 Rn. 96; Nill-Theobald, „Defences“ bei Kriegs-
verbrechen am Beispiel Deutschlands und der USA, 1998, S. 229 und Olásolo, Unlawful
Attacks in Combat Situations, 2007, S. 242.
62
So die Befürchtung Merkels, der sich allerdings „optimistisch“ zeigt, dass der Vorschlag
sachlich überzeugt ZStW 114 (2002), 437, 454.
63
Hörnle, in: Putzke u. a. (Hrsg.), Strafrecht zwischen System und Telos. Festschrift für
Rolf Dietrich Herzberg zum siebzigsten Geburtstag, 2008, S. 555, 574. Für eine generelle
Differenzierung zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung im nationalen sowie interna-
tionalen Strafrecht plädiert beispielsweise auch Haenen, ICLR 16 (2016), 547.
Tötung im Notstand? 871

IV. Gedanken zum rechtlichen Umgang mit Notstandstötungen


Im Folgenden sollen einige Grundlagen für die schwierige Frage nach dem Um-
gang mit Notstandstötungen – auch, aber nicht nur im Völkerstrafrecht – skizziert
werden. Das ICC-Statut, aber auch nationale Rechtsordnungen (so etwa §§ 34, 35
StGB) verweisen in der Regelung ihres Notstandsrechts weitgehend auf allgemeine
Vernünftigkeits- oder Verhältnismäßigkeitskriterien und legen keine ausdrücklichen
Voraussetzungen für Notstandstötungen fest. Die Wertung, welches Handeln jedoch
als vernünftig oder verhältnismäßig gilt und damit Straffreiheit begründet, sollte der
Normsetzer durch die tatbestandliche Umschreibung selbst treffen. Insbesondere
kann er die elementare Frage nach Eingriffen in das Leben eigentlich nicht unbeant-
wortet lassen.
Im Fokus meiner Überlegungen soll die Frage stehen, ob und unter welchen Vor-
aussetzungen eine Rechtsordnung für Notstandstötungen eine Rechtfertigung
(IV. 1.) bzw. eine Entschuldigung (IV. 2.) vorsehen sollte. An dieser Stelle möchte
ich noch eine Vorbemerkung übernehmen, die Reinhard Merkel in seinem Beitrag
zu den „Gründen für den Ausschluss der Strafbarkeit im Völkerstrafrecht“ (ZStW
114 [2002], 437) gemacht hat: „Auf den Versuch eines auch nur annähernd vollstän-
digen Nachweises der inzwischen ins Riesenhafte angewachsenen einschlägigen Li-
teratur habe ich bewusst verzichtet – nicht nur aus platzökonomischen Gründen, son-
dern vor allem, um die Konzentration auf die vorgetragenen Argumente zu erleich-
tern.“64

1. In welchen Fällen können Eingriffe in das Leben


durch ein Notstandsrecht gerechtfertigt sein?

a) Wider das Dogma „Keine Abwägung von Leben gegen Leben“

Betrachtet man das Verbot der aktiven Tötung eines Menschen als absolut, so darf
ein Leben auch nicht genommen werden, um Leben zu retten.65 Der Satz „Du darfst
nicht töten“ ist jedoch unterkomplex. Bereits die allgemein anerkannte Möglichkeit
der Tötung in Notwehr zeigt, dass der Kontext einer Handlung im Rahmen der recht-
lichen Bewertung nicht ausgeblendet werden kann. Zugleich ist die freiheitsrechtli-
che Begründung eines absoluten Tötungsverbots einseitig, da sie allein die Freiheit
des Getöteten, nicht aber die Freiheit der Geretteten in den Blick nimmt. Dennoch
wird in Diskussionen um Notstandstötungen immer wieder das vermeintliche
Dogma „Eine Abwägung von Leben gegen Leben ist nicht möglich“ bemüht –

64
Merkel, ZStW 114 (2002), 437.
65
Zur Ablehnung des Notstandsrechts bei Kant siehe: Kant, in: Weischedel, Die Meta-
physik der Sitten (1797/98), Bd. IV, 1956, S. 341 ff. sowie die Analysen von Pawlik, Der
rechtfertigende Notstand, 2002 und Küper, JZ 2005, 105.
872 Elisa Hoven

einst in den Diskussionen um das Luftsicherheitsgesetz,66 später im Zuge des medi-


enwirksam inszenierten Theaterstücks „Terror“.67 Auch von Studierenden wird die
Formel oft wie ein feststehender Rechtssatz gebetsmühlenartig wiedergekäut.
Doch allen Regeln, die für sich in Anspruch nehmen, absolut zu gelten, sollte mit
Skepsis begegnet werden. Denn jedes unbedingte Dogma kommt, so Merkel, an
„Grenzen seiner Plausibilität“, so dass „seine weitere Verteidigung dann ins Abwe-
gige, ja moralisch Verwerfliche umschlagen kann.“68
Gegen die Möglichkeit einer Rechtfertigung aktiver Tötungen in Notstandssitua-
tionen wird teilweise eingewandt, dass der „Gedanke einer personenübergreifenden
,Maximierung‘ oder ,Verrechnung von Gütern und Interessen‘ im Notstandsfall ein
,grundlegendes freiheitstheoretisches Defizit‘ aufweise, da ,die Rechtsordnung nicht
einen Bestand an Gütern maximieren, [sondern] vielmehr Freiheitsrechte garantie-
ren‘ solle; sie sei ,eine Gerechtigkeits- und keine Versicherungsordnung‘.“69 Diese
unversöhnliche Gegenüberstellung von Freiheit und Gütermaximierung beruht aller-
dings auf einem verkürzten Freiheitsverständnis. Denn „Güter“ sind nichts anderes
als Ausdruck und Bedingung menschlicher Freiheit. Die Freiheit des Einzelnen steht
daher nicht in Konflikt zu den Belangen einer abstrakten Gemeinschaft, sondern zu
den Freiheiten anderer. Konkret: Wenn T vor der Entscheidung steht, den A zu töten,
um B und C zu retten, so ist er hier notwendig mit der Freiheit und dem Recht auf
Leben aller drei Personen konfrontiert. Aufgabe der Rechtsordnung muss es daher
sein, Freiheit durch eine gerechte Abwägung nach den Überzeugungen der Rechts-
gemeinschaft [hierzu unter IV. 1. b)] zu maximieren.70
Ein weiterer Einwand gegen die Notstandstötung wird in Funktion und Aufgabe
des Staates gesehen. Der Staat sei nicht primär dafür verantwortlich, möglichst viel
an Schaden von seinen Bürgern abzuwenden, sondern in erster Linie verpflichtet,
nicht selbst in deren Rechte einzugreifen. Die Rechtsordnung sei eine „Selbstschutz-
gemeinschaft der Handlungsmächtigen“ und nicht eine „Solidargemeinschaft der
Bedürftigen“.71 Man kann bereits zweifeln, ob diese Argumentation auch für den
66
Diese „Argumentation“ findet sich sogar in der Presseerklärung des damaligen Bun-
despräsidenten Köhler, 12. 01. 2005, http://www.bundespraesident.de/DE/Amt-und-Aufgaben/
Wirken-im-Inland/Amtliche-Funktionen/Entscheidung-Januar-2005.html (zuletzt abgerufen am
17. 11. 2019).
67
von Schirach, Terror: Ein Theaterstück und eine Rede, 2015; hierzu instruktiv: Schild,
Verwirrende Rechtsbelehrung, 2016.
68
Merkel, ZStW 114 (2002), 437, 453 in Fn. 32.
69
Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, S. 53.
70
Anders Roxin, der eine Notstandstötung auch todgeweihter Personen mit dem – selbst-
verständlichen, aber nicht hinreichenden – Hinweis darauf verneint, dass auch eine kurze
verbleibende Lebensspanne dem verfassungsrechtlichen Lebensschutz untersteht; ZIS 2011,
552, 555 f. Die letzten Lebensminuten müssen schließlich gegen die Rettung der Leben an-
derer Menschen abgewogen werden.
71
Kersting, Politik und Recht, 2000, S. 318; ders., Wohlgeordnete Freiheit – Immanuel
Kants Rechts- und Staatsphilosophie, 1993, S. 97 f.; Küper, Immanuel Kant und das Brett des
Karneades – Das zweideutige Notrecht in Kants Rechtslehre, 1999, S. 6.
Tötung im Notstand? 873

Fall gilt, dass nicht unmittelbar staatliches Handeln (wie im Falle des Luftsicher-
heitsgesetzes) legitimiert, sondern die strafrechtliche Bewertung des Tuns von Bür-
gern geregelt wird.72
In jedem Fall aber ist die Annahme einer staatlichen Primärpflicht zum Nichtein-
greifen eine höchst anfechtbare These, der ein bestimmtes Staatsverständnis zugrun-
de liegt. Das Primat staatlicher Zurückhaltung mag zu Zeiten Kants richtig gewesen
sein. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die Erwartungen der Bürger an den
Staat und damit auch sein Selbstverständnis gewandelt.73 Die Sorge vor einer Über-
macht des Staates ist der Angst vor seiner Untätigkeit gewichen; der Staat erscheint
vielen nicht mehr als Leviathan, sondern als Schutzgarant gegen die Bedrohungen
durch Terrorismus und Kriminalität.74 „Der Staat des Grundgesetzes“, so formuliert
es Hillgruber, soll „Sicherheit und Freiheit gleichermaßen garantieren“.75 Das Ver-
bot, in Rechtsgüter (selbst in das Leben) einzugreifen, wiegt daher nicht stets und
nicht ausnahmslos schwerer als die Pflicht, Rechtsgüter zu schützen. Das Tötungs-
verbot ist als „soziale Norm“, wie Merkel treffend ausführt, „ein Schutzgut von
hohem Rang; aber es ist ein kollektives, also im Prinzip abwägbares Schutzgut.
Daher darf es unter genau definierten Ausnahmebedingungen in Abwägungen mit
dem Überlebensinteresse von Menschen, die gerettet werden können, gezogen wer-
den.“76
Der Möglichkeit einer Abwägung von Leben gegen Leben wird verschiedentlich
– so auch durch das BVerfG – die Achtung der Menschenwürde entgegengehalten.
Durch die Tötung einer Person zur Rettung anderer werde der Mensch zum „Zähl-
posten einer Abwägung“77 und zu einer „bloßen Rechengröße“78 gemacht. Merkel hat
hierauf erwidert, dass es „selbstverständlich […] in bestimmten Situationen zulässig,
72
So auch das Bundesverfassungsgericht BVerfGE 115, 118, 157. Auch auf das Völker-
strafrecht lassen sich die Erwägungen nur unter Vorbehalt übertragen, da das Gerichtsstatut
Ausdruck der rechtlichen Überzeugungen der Völkergemeinschaft ist und nicht einem ein-
zelnen Staat zugerechnet werden kann.
73
Bereits das deutsche Grundgesetz beschreibt Deutschland als einen Sozialstaat (Art. 20
Abs. 1 GG) und dokumentiert damit die Bedeutung von Schutz und Fürsorge, Huster/Rux, in:
Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, 41. Ed. 2019, Art. 20 GG Rn. 211.
74
Hoven, ZStW 129 (2017), 334, 336; kritisch zur geänderten Einstellung gegenüber dem
Staat Greco, GA 2007, 628, 641 f.
75
Hillgruber, JZ 2007, 209, 211. Das absolute Eingriffsverbot auch zum Zweck der Le-
bensrettung ist keine überzeugende „Verantwortungsethik der politischen Gemeinschaft“,
Hillgruber, JZ 2007, 209, 217.
76
Merkel, ZStW 114 (2002), 437, 453 in Fn. 32. Ebenso Hillgruber: „Er [der Verfas-
sungsstaat], der seine Existenzberechtigung gerade seinem Schutzversprechen verdankt, muss
unter Umständen auch und gerade Schutz durch Eingriff leisten, darf in ultima ratio
menschliches Leben durch Tötung anderen menschlichen Lebens retten, in dieser Pflichten-
kollision also der Schutzpflicht Vorrang vor dem Abwehranspruch einräumen“, JZ 2007, 209,
217. Die Existenz von Ausnahmen in moralischen und rechtlichen Argumentationen vernei-
nend Greco, GA 2007, 628, 633 ff.
77
Pieroth/Hartmann, Jura 2005, 729, 730.
78
Baumann, DÖV 2004, 853, 858.
874 Elisa Hoven

ja geboten sein [kann], eine Entweder-oder-Entscheidung zur Lebensrettung aus-


schließlich von einem ,abzählenden‘ Kalkül abhängig zu machen.“79 Merkel bildet
das Beispiel eines Feuerwehrmannes, der sich für die Rettung von 5 oder von 50 Kin-
dern entscheiden muss. Die Entscheidung für die Rettung von 50 Kindern wird von
der Rechtsordnung zweifellos nicht beanstandet (im Gegenteil: Merkel geht davon
aus, dass die gegenteilige Entscheidung strafbar wäre). Merkel resümiert: „Sicher ist
jedenfalls, dass F trotz seines ,abzählenden Kalküls‘ nicht die Menschenwürde der
umkommenden fünf Opfer verletzt hat. Und dennoch hat er diese allein deshalb um-
kommen lassen, weil sie in der Minderzahl waren. Mehr noch: Allein wegen dieses
Kalküls ist seine Handlung die richtige gewesen.“80 Der Fall des Feuerwehrmannes
würde – zumindest von einer klaren Mehrheit in der Strafrechtswissenschaft – des-
halb anders bewertet als die hier diskutierten Notstandstötungen, weil er keine aktive
Tötungshandlung vornimmt, sondern (nur) seine Rettungspflicht verletzt.81 Diese
normative Differenzierung berührt die Frage einer Abwägung „Leben gegen
Leben“ allerdings nicht. Merkels Beispiel zeigt also, dass ein „Vergleich der Quan-
titäten der zu rettenden und der dem Verderben preiszugebenden Menschen“ vom
Recht nicht per se ausgeschlossen wird.82
Das BVerfG hat gleichwohl in dem staatlich veranlassten Abschuss eines von Ter-
roristen gekaperten Flugzeugs zur Rettung von Menschen in den anvisierten Kolli-
sionszielen einen Verstoß gegen die Menschenwürde gesehen. Auch wenn das Ge-
richt betont, dass es nicht zu entscheiden habe, „wie ein gleichwohl vorgenommener
Abschuss und eine auf ihn bezogene Anordnung strafrechtlich zu beurteilen wäre“83,
so würde die Annahme eines Würdeverstoßes für die Beurteilung – und erst recht für
eine ausdrückliche gesetzliche Regelung – auch des individuellen Notstandsrechts
schwer wiegen.
Das Urteil des BVerfG zum Luftsicherheitsgesetz ist im Schrifttum in ungewohnt
heftiger Weise kritisiert worden. Isensee bezeichnet die Entscheidung als „die Un-
vernunft selbst. Der grundrechtlich gebotene Lebensschutz wird so in sein Gegenteil

79
Merkel, JZ 2007, 373, 380; ausführlich zur Zulässigkeit einer quantitativen Betrachtung
Zimmermann, Rettungstötungen. Untersuchungen zur strafrechtlichen Beurteilung von Tö-
tungshandlungen im Lebensnotstand, 2009, S. 36 ff. m. umf. N.
80
Merkel, JZ 2007, 373, 380.
81
Die Beantwortung der Frage, ob ein Unterlassen tatsächlich stets weniger schwer wiegt
als ein Tun (auch bei Bestehen einer Garantenstellung), würde hier zu weit führen. Siehe dazu
statt vieler: Gropp, in: Weigend/Küpper, Festschrift für Hans Joachim Hirsch zum 70. Ge-
burtstag am 11. April 1999, 1999, S. 207, 212 ff.; Küper, Grund und Grenzfragen der recht-
fertigenden Pflichtenkollision im Strafrecht, 1979, S. 32 ff.; Neumann, FS Roxin, S. 421, 425.
82
Merkel, JZ 2007, 373, 381.
83
BVerfGE 115, 118, 157. Zur Beantwortung dieser Frage aus strafrechtlicher Sicht siehe
exemplarisch: Gropp, GA 2006, 284; Jäger, ZStW 115 (2003), 765, 781 ff.; Jerouschek, in:
Amelung, Strafrecht, Biorecht, Rechtsphilosophie. Festschrift für Hans-Ludwig Schreiber
zum 70. Geburtstag, 2005, S. 185; Merkel, JZ 2007, 373, 378 ff.; Mitsch, GA 2006, 11, 23 f.;
Rönnau, JuS 2017, 113, 114 ff.; Roxin, ZIS 2011, 552; Stübinger, ZStW 123 (2011), 403.
Tötung im Notstand? 875

verkehrt“84, Hillgruber nennt ihr Ergebnis „widersinnig“85 und für Rogall ist sie „in
wesentlichen Punkten falsch“86.87 Die Kritik ist aus vielen Gründen berechtigt, ins-
besondere auch wegen der – von Hillgruber zu Recht als „lapidar“ bezeichneten88 –
Annahme einer Menschenwürdeverletzung. Wenn die Würde tatsächlich noch über
dem Leben stehen soll,89 so muss die Annahme ihrer Verletzung auf die Verneinung
des menschlichen Selbstwertes, eine „willkürliche Missachtung“ und „verächtliche
Behandlung“90 beschränkt sein.91 Die Idee der Menschenwürde wird entwertet, wenn
man sie durch eine minimale Lebensverkürzung zum Zwecke der Rettung anderer
vor einem tödlichen Angriff berührt sieht.92
Weiter ist zu bedenken: Angesichts des real drohenden Leids – man denke an die
Tausenden von Opfern und deren Angehörige in den Twin Towers – erscheint ein Ret-
tungsverbot hier nicht weniger als unmenschlich. Eine Norm muss sich – soll sie
nicht nur theoretisches Gedankenspiel, sondern die rechtliche Antwort auf gesell-
schaftliche Fragen sein – an ihren realen Folgen messen lassen. Dass der Tod Tau-
sender in den Hochhäusern in keinem Verhältnis zu einer Lebenserhaltung der Flug-
zeuginsassen von wenigen Minuten steht, dürfte rational niemand bezweifeln. Das
Hochhalten einer Idee unter Ausblendung tatsächlicher Konsequenzen hat nur vor-
dergründig den Charme des dogmatisch und intellektuell Überlegenen. In Wahrheit
liegt hierin die Diktatur eines Prinzips. Eine Rechtsordnung, die Menschen einem –
abstrakten und hier durchaus bezweifelbaren – Wert opfert, ist fundamentalistisch
und inhuman.
Der rechtliche Umgang mit Notstandstötungen ist im Ergebnis weder verfas-
sungsrechtlich noch rechtsdogmatisch determiniert. Die Tatsache, dass die Möglich-
keit der Tötung zur Rettung von Leben seit Jahrhunderten und in allen Rechtsordnun-

84
Isensee, in: Pawlik u. a., Festschrift für Günther Jakobs zum 70. Geburtstag am 26. 7.
2007, 2007, S. 205, 229.
85
Hillgruber, JZ 2007, 209, 217.
86
Rogall, NStZ 2008, 1, 5.
87
Merkel hat sich hier vorsichtiger geäußert, Merkel, JZ 2007, 373.
88
Hillgruber, JZ 2007, 209, 214.
89
An dieser Prämisse wird in Deutschland kaum gezweifelt. In anderen Ländern findet die
Idee einer Absolutheit der Würde allerdings kaum Entsprechung (siehe ausführlich dazu
Schulze-Fielitz, in: Blankenagel/Pernice/Schulze-Fielitz, Verfassung im Diskurs der Welt –
Liber Amicorum für Peter Häberle zum siebzigsten Geburtstag, 2004, S. 355, 364 ff.). Und das
Primat der Würde – aber das soll hier nicht vertieft werden – ist zumindest nicht auf den ersten
Blick plausibel, bildet das Leben doch die notwendige Bedingung für alle menschlichen
Freiheiten und auch seine Würde.
90
BVerfG NJW 1971, 275, 279.
91
Die gängige Objektformel ist nicht nur denkbar unbestimmt, sie trägt auch der Ge-
meinschaftsgebundenheit des Menschen nicht hinreichend Rechnung; Becker, Das ,Men-
schenbild des Grundgesetzes‘ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1996,
S. 58.
92
In diese Richtung auch Hörnle, FS Herzberg, S. 555, 568.
876 Elisa Hoven

gen93 kontrovers diskutiert wird, zeigt, dass es eine eindeutig richtige Lösung nicht
geben kann. Damit bleibt die Frage, wie weit das Notstandsrecht reichen soll, eine
weitgehend rechtspolitische, die jede Rechtsgemeinschaft für sich beantworten
muss. Nachfolgend soll überlegt werden, an welchem Maßstab eine solche Entschei-
dung auszurichten ist.

b) Maßstab für die Rechtfertigung von Notstandshandlungen

Dass die Tötung eines Menschen zur Rettung anderer legitim sein kann, wird häu-
fig mit dem Argument verneint, dass es keine Pflicht gebe, „das eigene Leben zur
Rettung anderen Lebens aufzuopfern“.94 Die „bewusste Aufgabe des eigenen Le-
bens“ liege „außerhalb dessen, was der Einzelne dem Gemeinwesen schuldet.“95
Auch Reinhard Merkel schreibt, dass „niemand rechtlich verpflichtet sein [kann],
aus Solidarität das eigene Leben für noch so viele andere herzugeben, die er nicht
bedroht“.96 In vorsichtigem Widerspruch zum Jubilar möchte ich bezweifeln, dass
die Rechtsordnung dies nicht bereits an anderer Stelle tut – und das weitgehend un-
widersprochen. Außerhalb einer Notwehrsituation billigt es die deutsche Rechtsord-
nung nicht, wenn der Täter einen anderen tötet, um sein eigenes Leben zu retten; hier
kommt allein eine Entschuldigung in Betracht. Die Rechtsordnung erwartet hier also
von T (anderenfalls ist sein Handeln rechtswidrig), dass er sein Leben opfert, wenn
eine Rettung nur durch die Tötung eines anderen möglich wäre.
In jedem Fall aber wird an die Bewertung der Notstandstötung ein falscher Maß-
stab angelegt, wenn sie von einer Loyalitätspflicht des Opfers abhängig gemacht
wird. Der Fehler dieser Betrachtung liegt in ihrer Opferzentriertheit. Tatjana Hörnle
hat treffend herausgearbeitet, dass die Zustimmung zur Notstandstötung maßgeblich
davon abhängt, welche Perspektive der Betrachter einnimmt:97 Wer aus dem Blick
des Täters urteilt, wird die Tötung eher rechtfertigen als derjenige, der die Position
der Opfer einnimmt. Das Opfer wird auf sein Leben nicht verzichten; einige würden
vermutlich nicht einmal ihre letzten fünf Minuten geben, um andere zu retten.98 Die
93
Aus der internationalen Diskussion siehe statt aller: Foot, Oxford Review 5 (1967), 5;
Thomson, The Yale Law Journal 94 (1985), 1395; Quinn, Philosophical Review 98 (1989),
287; Rakowski, Columbia Law Review 93 (1993), 1063.
94
Statt aller: Roxin, ZIS 2011, 552, 553; ders., in: Vogler, Festschrift für Hans-Heinrich
Jescheck zum 70. Geburtstag, 1985, S. 457, 471 f.; Weigend, JICJ 10 (2012), 1219, 1228.
95
Höfling/Augsberg, JZ 2005, 1080, 1082.
96
Merkel, Zeit Online vom 08. 07. 2004, https://www.zeit.de/2004/29/Abschussgesetz (zu-
letzt abgerufen am 17. 11. 2019). Anders – und durchaus hörenswert – noch in ZStW 114
(2002), 437, 452 f.: „Nur in einem solchen Fall der de-facto-Reduktion des verbleibenden
Lebens auf einen für den noch Lebenden selbst bedeutungslosen Rest kann die Pflicht zur
gesellschaftlichen Solidarität in Notfällen sogar die ,Hergabe‘ dieses Lebensrestes beanspru-
chen, wenn allein damit das Leben anderer zu retten ist.“ Vgl. zum Umfang der Solidaritäts-
pflicht auch Roxin, FS Jescheck, S. 457, 471.
97
Hörnle, FS Herzberg, S. 555, 559.
98
Hörnle, FS Herzberg, S. 555, 567.
Tötung im Notstand? 877

Entscheidung darüber, ob Notstandstötungen im Einklang mit der Rechtsordnung


stehen können, darf daher nicht einseitig von der – notwendig egoistischen – Per-
spektive der konkret Betroffenen abhängig gemacht werden. Die Fokussierung auf
das Opfer der Notstandstötung lässt den zugrundeliegenden Interessenkonflikt
außer Acht und ignoriert die Belange derjenigen, die im Falle eines Nichthandelns
zu Opfern werden. Als alleiniges Kriterium für eine gerechte Abwägung und eine
allgemeingültige rechtliche Lösung ist die Frage nach der Haltung der konkret be-
drohten Opfer also ungeeignet.
Den überzeugenden Weg für die Auflösung solcher Konfliktlagen hat bereits
Rawls beschrieben. Eine rationale Entscheidung für oder gegen eine Handlungsalter-
native kann nur in Unkenntnis der eigenen Betroffenheit gefällt werden: „If a know-
ledge of particulars is allowed, then the outcome is biased“99. Eine objektive Würdi-
gung der Situation muss von Person und Situation abstrahieren und hinter dem
„Schleier des Nichtwissens“100 erfolgen. Die richtige Frage lautet hier nicht:
„Sind die Personen im Flugzeug bereit, ihr Leben für die Menschen in den Hochhäu-
sern zu opfern?“, sondern: „Wie würde eine vernünftige Person entscheiden, die
nicht weiß, ob sie zu den Menschen im Flugzeug oder zu den Menschen in den Hoch-
häusern gehören wird?“. Erst wenn Partikularinteressen ausgeblendet werden, kann
eine allgemeine Regel entstehen, die alle involvierten Rechtsgüter in einen gerechten
Ausgleich bringt. Durch die erzwungene Unparteilichkeit wird hinter dem Schleier
des Nichtwissens die Entscheidung getroffen, die in der Notstandssituation den
größtmöglichen Nutzen bringt und den geringsten Schaden verursacht.101 Wird
unter diesen Voraussetzungen eine Notstandstötung akzeptiert – ob dies der Fall
ist, erörtere ich sogleich unter c) –, so ist sie nicht Ausdruck moralischer Solidarität,
sondern Folge einer, so formuliert es Reinhard Merkel, „rational egoistischen“102
Entscheidung. Hörnle hat hiergegen eingewandt, dass von niemandem verlangt wer-
den könne, sich im Angesicht einer eigenen Lebensbedrohung an die hypothetische
Absprache zu halten.103 Auch diese Entgegnung beruht jedoch auf dem Fehler der
einseitigen Opferzentriertheit. Für eine Bewertung der Notstandstötung durch die
Rechtsordnung kann es nicht darauf ankommen, wie der konkret Betroffene die Si-
tuation erlebt (dass er, wenn er sich gegen seine Tötung zur Wehr setzt, entschuldigt
wäre, steht auf einem anderen Blatt). Wenn die Rechtsordnung eine allgemeine Regel
zur bestmöglichen Wahrung aller Interessen trifft, so muss sie hieran selbstverständ-
lich auch im „Ernstfall“ konsequent festhalten.

99
Rawls, A Theory of Justice, 1971, S. 141.
100
Rawls, A Theory of Justice, S. 136: „veil of ignorance“.
101
Weigend, ZIS 2017, 599, 601.
102
Merkel, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a.M. (Hrsg.), Vom unmögli-
chen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 171, 185.
103
Hörnle, FS Herzberg, S. 555, 566.
878 Elisa Hoven

c) Konsequenzen für die Rechtfertigung von Notstandstötungen

Welche Folgen ergeben sich aus den soeben angestellten Überlegungen für die
Rechtfertigung von Notstandstötungen?
Auf den ersten Blick könnte man annehmen, dass die „rational egoistische“ Ent-
scheidung hinter dem Schleier des Nichtwissens zu einem schlichten Abzählen von
Menschenleben führt. Das ist jedoch – auch aus einer utilitaristischen Perspektive –
zu kurz gedacht. Das hier vertretene Modell geht über eine bloße Rechenleistung hin-
aus und lässt Raum für weitergehende gesellschaftliche Erwägungen.

aa) Tötung weniger zur Rettung vieler?

Dieser Gedanke soll am bekannten Weichensteller-Fall104 verdeutlicht werden.


Bei mathematischer Betrachtung müsste die Entscheidung hinter dem Schleier für
das Umstellen der Weiche ausfallen.105 Weiß der Entscheider nicht, zu welcher
der beiden Gruppen – etwa: zwei Menschen auf Gleis A, zwanzig Menschen auf
Gleis B – er gehören wird, so ist die Überlebenswahrscheinlichkeit höher, wenn
nur zwei statt 20 Menschen getötet werden (die Chance zu überleben ist dann
10:1, bei Untätigkeit nur 1:10).
Im Organspende-Fall – der Arzt tötet einen gesunden Patienten, um fünf kranken
Personen durch die Transplantation der Organe des Opfers das Leben zu retten –106
gilt nur vordergründig dasselbe. Zwar sinkt auch hier das eigene Sterberisiko, wenn
man sich für die Rettung der fünf auf Kosten des einen entscheidet. Die Verengung
auf eine reine Wahrscheinlichkeitsrechnung würde dem „rationalen Egoisten“ aller-
dings ein sehr kurzsichtiges Verständnis des geringsten Schadens attestieren. Denn
mit der Entscheidung für die Tötung der unbeteiligten Person würde für jedermann
die Gefahr entstehen, zur Rettung anderer getötet zu werden.107 Hörnle hat diese Er-
wägung auf den Punkt gebracht: „Die Vorstellung […] jederzeit und unabwendbar
vorsätzlich getötet werden zu können, [würde] ein Gefühl der Bedrohung verursa-

104
Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, 1930, S. 288;
Welzel, ZStW 63 (1951), 47.
105
Hierzu Huster, merkur 2004, 1047, 1049.
106
Thomson, The Yale Law Journal 94 (1985), 1395.
107
Auf ähnliche Weise lassen sich die von Neumann erhobenen Einwände gegen utilita-
ristische Konzepte Rechnung tragen. Neumann bildet das Beispiel des Eigentümers, der bei
utilitaristischer Sichtweise nicht verhindern könne, dass sein Besitz zum Nutzen aller kol-
lektiviert werde; Neumann, in: Hirsch/Neumann/Seelmann, Solidarität im Strafrecht, S. 155,
162. Tritt man jedoch hinter den Schleier des Nichtwissens, so wird man – jedenfalls in
unserer Gesellschaftsform – das Eigentum als Institution anerkennen und damit seinen Schutz
für richtig halten. Eine Aufteilung der Güter des Eigentümers wäre damit nicht von größerem
Nutzen für die Gemeinschaft, da hierdurch das Institut des Eigentums aufgegeben würde. Auf
eine solche Lösung würden sich rationale Personen hinter dem Schleier des Nichtwissens
zumindest in einer freien Marktwirtschaft nicht einigen.
Tötung im Notstand? 879

chen und sich tief greifend auf das Leben nach der Vereinbarung auswirken.“108 Der
rationale Entscheider hinter dem Schleier würde diese Überlegungen einbeziehen.
Der Preis für die Rettung der 10 bzw. 5 Menschen wäre dann nicht nur das Leben
eines anderen, sondern auch eine empfindliche Einbuße an individuellem Sicher-
heitsgefühl.
Nach dem hiesigen Modell kann die Tötung einer unbeteiligten Person zur Ret-
tung einer größeren Zahl anderer also nicht grundsätzlich gerechtfertigt werden. Das
Umlenken des Zugs mag moralisch richtig sein und auch zur Entschuldigung des Tä-
ters führen [hierzu unter IV. 2. b)]; die Rechtsordnung kann die Entscheidung gleich-
wohl nicht billigen.

bb) Tötung von Todgeweihten

Zu einem anderen Ergebnis gelangt man jedoch in Fällen, in denen das Leben der
Opfer auch ohne das Handeln des Täters beendet worden wäre. Die Situation todge-
weihter Opfer ist eine besondere: Ihr Leben ist in allernächster Zukunft unrettbar ver-
loren;109 der Täter nimmt ihnen nicht Jahre des Lebens bis zu einem natürlichen Tod,
sondern verkürzt lediglich eine zu vernachlässigende Lebensspanne um geringe
Zeit.110
Im Schrifttum ist eine Rechtfertigung für solche Fälle auf deutlichen Zuspruch
gestoßen. So geht etwa Neumann davon aus, dass in Fällen, in denen „nicht die
Schutzwürdigkeit, wohl aber die Schutzmöglichkeit des einen Rechtsguts nahezu
auf Null reduziert ist, […] die Rettung des anderen gerechtfertigt [ist].“111 Auch Mer-
kel, der ein utilitaristisches Kalkül von Menschenleben an sich ablehnt, sieht – jeden-
falls in seinem Beitrag in der ZStW 114 (2002), zurückhaltender äußerte er sich in JZ
2007, 373 – eine Notstandstötung durch die asymmetrischen Rettungschancen für die
Beteiligten als gerechtfertigt an. Zu Recht verweist Hillgruber darauf, dass es sich in
Wahrheit nicht um eine Abwägung „Leben gegen Leben“ handelt.112 Da allein die
Personen in den Hochhäusern gerettet werden können, opfert der Notstandstäter
nicht das eine Leben für das andere, sondern tut das einzige, was in seiner Macht
steht, um Leben zu erhalten. Der Täter hat hier also nicht die Wahl zwischen der Ret-
tung des Lebens verschiedener Gruppen von Menschen, sondern kann lediglich ent-
scheiden, ob er Leben rettet oder es unterlässt.
108
Hörnle, FS Herzberg, S. 555, 564.
109
Hirsch, in: Hettinger u. a., Festschrift für Wilfried Küper zum 70. Geburtstag, 2007,
S. 149, 160; Merkel, ZStW 114 (2002), 437, 452.
110
Vgl. Hirsch, FS Küper, S. 149, 161; ebenso Erb, in: Joecks/Miebach, Münchener
Kommentar zum StGB, Band 1, 3. Aufl. 2017, § 34 Rn. 127 sowie ders., JuS 2010, 108, 111 f.
jew. m.w.N., der in diesem Umstand zugleich die enge und trennscharfe Eingrenzung der
Fallgruppe sieht: Nur wenn und soweit der Todgeweihte untrennbar mit der Gefahrenquelle
verbunden ist oder diese selbst darstellt, soll eine Rechtfertigung der Tötung möglich sein.
111
Neumann, NK-StGB, § 34 Rn. 77; s.a. Zieschang, JA 2007, 679, 683.
112
Hillgruber, JZ 2007, 209, 217.
880 Elisa Hoven

Nach dem hier favorisierten Modell ist die Lösung eindeutig. Im Fall des entführ-
ten Flugzeugs steht der rationale Entscheider hinter dem Schleier des Nichtwissens
vor der Wahl, ob die Leben von hundert Passagieren um wenige Minuten verkürzt
werden oder tausende Menschen in den Hochhäusern sterben sollen. Weiß man
nicht, ob man Passagier des Flugzeugs oder Bewohner des Hochhauses sein wird,
so wird sich jeder Vernünftige für die Rettung der Tausenden entscheiden.
Schwierigkeiten bereitet allerdings die Grenzziehung. Vergegenwärtigt man sich
im Flugzeug-Fall die Folgen einer gegenteiligen Entscheidung – das Sterbenlassen
von tausenden Menschen und das Leid der Angehörigen zur Wahrung von wenigen
Minuten (einer von Todesängsten überschatteten) Lebenszeit der Flugzeuginsassen –
so ist das Ergebnis moralisch alternativlos. Als ethisch weniger eindeutig stellt sich
die Entscheidung dann dar, wenn die Zahlen umgekehrt sind; wenn also etwa 100
Todgeweihte zur Rettung eines Einzelnen getötet werden. Noch kritischer wird es,
wenn – wie im Fall Erdemović – der Gerettete der Täter selbst ist. Doch für die recht-
liche Bewertung der Notstandshandlung können beide Aspekte keinen Unterschied
machen. Angesichts einer vergleichsweise geringen Freude an wenigen Minuten des
Lebens vor dem sicheren Tod einerseits und des hohen Werts einer tatsächlichen Le-
bensrettung andererseits wird die Entscheidung hinter dem Schleier des Nichtwis-
sens auch hier für die Notstandstötung ausfallen. Die Zahlen dürfen nicht darüber
hinwegtäuschen, dass das Leben der Opfer in jedem Fall verloren gewesen wäre.
Ob der Täter dabei zur Rettung eines Unbekannten, eines Angehörigen oder seiner
selbst handelt, muss aus Sicht des Rechts irrelevant sein. Denn die Rechtsordnung
belohnt durch die Annahme eines Rechtfertigungsgrundes nicht altruistisches oder
moralisch überlegenes Verhalten, sondern stellt lediglich fest, ob das Handeln im
Einklang mit den von ihr festgelegten Grundsätzen steht. Auch wenn der Täter zu
eigenen Gunsten handelt, bleibt es dabei, dass durch seine Tat ein Leben gerettet
wird, das anderenfalls verloren wäre.113
113
Eine weitere Konstellation soll hier nicht vertieft erörtert, wohl aber angesprochen
werden. Wie verhält es sich mit der Tötung eines Sterbenskranken, der nur noch wenige
Stunden zu leben hat, um das Leben von fünf Personen zu retten, die auf seine Spenderorgane
angewiesen sind? Auch hier wiegen die wenigen Lebensstunden des einen an sich weniger
schwer als die Lebensrettung der anderen. Man wird den Fall allerdings gleichwohl anders
beurteilen und die Tötung als rechtswidrig einstufen. Der intuitive Unterschied lässt sich damit
erklären, dass hier kein Angriff auf die fünf Personen abgewehrt, sondern ihnen eine zusätz-
liche, „unverdiente“ Lebenschance eröffnet werden soll. In Anbetracht des herrschenden
Verständnisses von einem menschenwürdigen Sterben würde auch hinter dem Schleier des
Nichtwissens die reine Kalkulation (fünf Leben gegen einige Lebensstunden) hinter den Ge-
danken zurücktreten, nicht in einer Rechtsgemeinschaft leben zu wollen, in der Sterbende als
„Organlieferanten“ missbraucht werden. Man wird auf eine zusätzliche Lebenschance ver-
zichten, wenn der Preis hierfür die Gefahr ist, jederzeit getötet werden zu können, um anderen
eine Lebenschance zu eröffnen. Auch verfassungsrechtlich zeigt sich ein Unterschied zwi-
schen dem Flugzeug- und dem Organspende-Fall. Der Staat hat eine besondere Pflicht, seine
Bürger vor tödlichen Angriffen zu schützen, jedoch eine deutlich geringere Pflicht, ihren
natürlichen Tod herauszuzögern. Die Unfähigkeit des Staates, so hat Reinhard Merkel einmal
gesagt, seine Bürger vor tödlichen Verbrechen zu schützen, würde die Fundamente seiner
Legitimität als zwangsrechtliche Ordnung berühren und ggf. desavouieren.
Tötung im Notstand? 881

Schwer zu lösen ist hingegen die Grenzziehung in zeitlicher Hinsicht. Weigend


hat das Problem durch eine Abwandlung des Erdemović-Falles verdeutlicht: „Assu-
me that Erdemović is one of very few specialists in a technique requisite to kill 70
innocent men hiding away in a subterranean cave. If Erdemović, who is threatened
with his own death, refuses to apply that technique, the commanders need two weeks
to find and fly in another specialist. Would we then still readily accept Erdemović’s
plea that ‘the victims would have died anyway, so I was justified in killing them in
order to save my life’? We would at least have doubts, and these doubts may increase
the longer the remaining life span of the victims becomes.“114 Eine allgemeingültige
Lösung ist hier auch hinter dem Schleier des Nichtwissens nicht zu finden. Das Bei-
spiel zeigt eine Schwäche der Methode: in Grenzfällen wie diesem können „vernünf-
tige Entscheider“ zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen gelangen, je nachdem
wie hoch sie eine Lebenszeit von zwei Wochen bewerten (eine Wertung, die ratio-
naler Betrachtung kaum zugänglich ist). Da hinter dem Schleier des Nichtwissens
unterschiedliche Lösungen denkbar sind, könnte sich der Normsetzer für verschie-
dene Regelungen entscheiden. Denkbar – aber nicht alternativlos – wäre es, eine Not-
standstötung nur dann für rechtmäßig zu erachten, wenn der Tod der Betroffenen un-
mittelbar bevorstand.

2. Entschuldigender Notstand

Wie bereits erörtert, liegt die wesentliche Schwäche des völkerstrafrechtlichen


Notstandskonzepts in der fehlenden Differenzierung zwischen Unrecht und Schuld.
Eine Lösung auf Schuldebene stellt den Unwert der Tat nicht in Frage, erkennt aber
die Zwangslage des Täters an.

a) Tötung zur Rettung des eigenen Lebens


oder des Lebens naher Angehöriger

Zu den Voraussetzungen des (übergesetzlichen) entschuldigenden Notstandes


sollen hier nur einige knappe Erwägungen angestellt werden. Ein Handeln in Not-
stand muss zunächst stets dann zur Entschuldigung führen, wenn das Leben des Tä-
ters oder das eines nahen Angehörigen bedroht ist. Einem Menschen ist es – selbst
wenn die Rechtsordnung es von ihm verlangt (siehe oben IV.1.) – nicht zumutbar, das
eigene Leben aufzugeben; selbst dann nicht, wenn er für seine Rettung aktiv einen
anderen Menschen töten muss.115 Gleiches gilt für den Schutz naher Angehöriger:
Einer Mutter kann nicht vorgeworfen werden, wenn sie einen anderen Menschen

Eine andere Argumentationslinie bietet Erb: Der Todgeweihte sei weder mit der Gefah-
renquelle untrennbar verbunden noch stelle er selbst eine Gefahr dar; JuS 2010, 108, 111 f.
114
Weigend, JICJ 10 (2012), 1219, 1230.
115
ICTY, Erdemović, Judgement, IT-96-22-A, Appeals Chamber, 7 October 1997, Sepa-
rate and Dissenting Opinion of Judge Stephen, para. 54.
882 Elisa Hoven

tötet, um das Leben ihres Kindes zu retten.116 Das Gesetz kann eine solche Tat für
rechtswidrig erklären; es kann aber nicht leugnen, dass ein Handeln wider die natür-
lichen Selbsterhaltungs- und Schutzinstinkte für den Einzelnen außerhalb des Zu-
mutbaren liegt.117 In Fällen der Lebensbedrohung muss dieses Ergebnis unabhängig
von jeder Verhältnismäßigkeitserwägung gelten. Einem Menschen ist es weder zu-
zumuten, für einen anderen, noch für zehn oder hundert andere zu sterben. Eine Ver-
urteilung des Täters würde hier keine der legitimen Funktionen des Strafrechts erfül-
len. Vergeltung wird man gegenüber jemandem, der nachvollziehbaren Schutzin-
stinkten folgt, kaum üben wollen. Und auch Präventionsgesichtspunkte scheiden
aus: Wer den eigenen Tod oder den Tod eines Angehörigen vor Augen hat, wird
sich durch die Aussicht auf eine spätere Bestrafung nicht abschrecken lassen.118

b) Tötung in einer moralischen Dilemma-Situation

Ein entschuldigender Notstand sollte darüber hinaus auch dann anerkannt wer-
den, wenn sich der Täter in einem moralischem Dilemma befindet und hier das „klei-
nere Übel“ wählt.119 Lenkt der Täter im Weichensteller-Fall den Zug so um, dass an-
stelle von hundert Personen nur eine Person stirbt, so ist sein Handeln jedenfalls nach
den hier vertretenen Prämissen zwar rechtlich falsch, moralisch jedoch zweifellos
vertretbar – und aus streng utilitaristischer Sicht sogar zwingend.120
Anders als Neumann meint, löst die Rechtsordnung hier keinesfalls jede „denk-
bare moralische Patt-Situation […] durch die Markierung rechtmäßiger und rechts-
widriger Verhaltensalternativen auf“.121 Die Rechtsordnung nimmt schließlich nicht
nur eine konkrete Konfliktsituation in den Blick, sondern muss allgemeingültige Re-
geln für das gesellschaftliche Zusammenleben treffen. So wählt der rationale Ent-
scheider hinter dem Schleier des Nichtwissens die geringere Opferzahl nur deshalb
nicht, weil mit der Verallgemeinerbarkeit dieser Entscheidung erhebliche gesell-
schaftliche Unsicherheitsgefühle verbunden wären [siehe oben IV. 1. c) aa)]. Für
denjenigen, der in der Situation selbst über Leben und Tod konkreter Menschen ent-
scheiden muss, spielen solch allgemeine Erwägungen hingegen keine Rolle. Die
Grundlagen für eine Entscheidung im Einzelfall und für die Formulierung einer all-

116
Neumann, NK-StGB, § 35 Rn. 6.
117
Hörnle, FS Herzberg, S. 555, 572; ausf. zur Entschuldigung eines aus existentieller Not
handelnden Täters Frister, JuS 2013, 1057, 1062 ff. m.w.N. Zu keinem anderen Ergebnis
gelangt man, wenn man nicht auf einen psychischen Druck, sondern, wie etwa Neumann, auf
eine „relative Situationsadäquanz“ und die Existenz besonderer Solidaritätsverhältnisse ab-
stellt; Neumann, NK-StGB, § 35 Rn. 6.
118
Roxin, GA 2011, 1 ff.
119
Welzel, ZStW 63 (1951), 47, 51; s.a. Hörnle, FS Herzberg, S. 555, 573.
120
Foot, Oxford Review 5 (1967), 5; Kamm, Philosophical Studies 57 (1989), 227, 228;
Quinn, Philosophical Review 98 (1989), 287, 304; Rakowski, Columbia Law Review 93
(1993), 1063, 1063; Thomson, The Realm of Rights, 1990, S. 176.
121
Neumann, NK-StGB, § 35 Rn. 57.
Tötung im Notstand? 883

gemeinen Regelung sind damit unterschiedlich: Was als Gesetz richtigerweise aner-
kannt wird, muss in der Situation moralisch nicht zwingend sein. Dass die Entschei-
dung im Weichensteller-Fall122 eine moralisch höchst komplizierte ist, dürfte ange-
sichts der intensiven Diskussionen in Wissenschaft123 und Öffentlichkeit124 nicht zu
bestreiten sein. Sie wird für den Täter nicht dadurch gelöst, dass der Gesetzgeber Vor-
gaben in die eine oder andere Richtung macht.125 Jeder Mensch mit Verantwortungs-
bewusstsein wird sich angesichts des drohenden Todes von 100 Personen nicht auf
ein Gesetz zurückziehen (wenn ihm dieses überhaupt bekannt ist), sondern eine ei-
gene moralische Entscheidung treffen müssen.
Die Anerkennung einer Entschuldigung gerät hier auch nicht „in einen unauflös-
baren Widerspruch zu dem Verbot, menschliche Leben zahlenmäßig miteinander zu
verrechnen“.126 Denn hier geht es nicht um die Anerkennung einer „Verrechnung“
durch die Rechtsordnung (etwa als Rechtfertigungsgrund), sondern um die Berück-
sichtigung der drohenden Schäden in der moralischen Entscheidung des Einzelnen.
Nicht nur für strenge Utilitaristen, sondern für jedermann werden die tatsächlichen
Folgen des eigenen Handelns ein maßgeblicher Faktor für die ethische Bewertung
der Situation sein.127 Zu behaupten, dass es keinen Unterschied mache, ob zwei
oder zweitausend Menschen sterben, wäre realitätsblind.
Auch der häufig bemühte Einwand, ein Mensch dürfe in einer Dilemma-Situation
nicht „Schicksal“ spielen,128 ist wenig überzeugend.129 Ihm fehlt nicht nur die norma-
tive Basis,130 er beschreibt auch die Lage des Täters nicht angemessen. Der Vorwurf
des „Schicksalspielens“ insinuiert, dass sich der Betroffene (erst) durch ein aktives
122
Geht zurück auf Welzel, ZStW 63 (1951), 47, 51.
123
Nur exemplarisch: Jäger, ZStW 115 (2003), 765, 778 ff.; Mitsch, GA 2006, 11; Rönnau,
in: Cirener u. a., Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 3, 13. Aufl. 2019, Vor § 32
Rn. 357 ff.; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band 1, § 22, Rn. 161 ff.; Zimmermann, Ret-
tungstötungen, S. 25 ff. m. umf. N.; darauf aufbauend zum Notstandsrecht bei selbstfahrenden
Autos Weigend, ZIS 2017, 599; Wörner, ZIS 2019, 41.
124
Siehe etwa die Internetseite „Moral Machines“, auf der Nutzer über Varianten des
Weichensteller-Falles (hier im Kontext selbstfahrender Kraftfahrzeuge) abstimmen können –
und dies mit höchst unterschiedlichen Ergebnissen tun: http://moralmachine.mit.edu (zuletzt
aufgerufen am 17. 11. 2019).
125
Wobei für das deutsche Recht mehr als fraglich ist, ob der Gesetzgeber überhaupt eine
klare moralische Vorgabe gemacht hat. Aus dem Wortlaut von § 34 StGB selbst ergibt sich
nicht, ob 100 Leben nicht ein Leben „wesentlich überwiegen“; diese Deutung ist erst Folge der
herrschenden Interpretation (die nicht selten auf der falschen Prämisse eines absoluten Ab-
wägungsverbots beruht); siehe Delonge, Die Interessenabwägung nach § 34 StGB und ihr
Verhältnis zu den übrigen strafrechtlichen Rechtfertigungsgründen, 1987, S. 122; Silva Sán-
chez, Jahrbuch für Recht und Ethik 13 (2005), 681, 695.
126
Neumann, NK-StGB, § 35 Rn. 61.
127
Hörnle, FS Herzberg, S. 555, 572 f.
128
So etwa Jäger, ZStW 115 (2003), 765, 779.
129
Die Argumentation setzt voraus, dass man von der wenig rationalen Vorstellung eines
vorherbestimmten Schicksals ausgeht – und ist daher schon im Grundsatz abzulehnen.
130
So Hörnle, FS Herzberg, S. 555, 573.
884 Elisa Hoven

Handeln die Entscheidung über Leben und Tod der Gleisarbeiter anmaßt. Dies ver-
kennt allerdings, dass sich der Täter bereits in einer Situation befindet, in der er – un-
gewollt – über Rettung oder Sterbenlassen entscheiden muss. Denn sowohl ein Ein-
greifen als auch ein Untätigbleiben verlangen von ihm eine Entscheidung. Egal wie er
wählt, bestimmt er über das Schicksal der Personen auf den Gleisen.
Wer vor der Wahl steht, Menschen zu opfern, um eine größere Anzahl von Per-
sonen zu retten, steht damit vor einer Frage, auf die eine Jahrhunderte dauernde mo-
ralphilosophische Diskussion keine eindeutige Antwort gefunden hat. Entscheidet
sich der Betroffene in einem solchen Dilemma für das Umstellen der Weiche, so
muss ihm von der Rechtsordnung „so weit Verständnis entgegengebracht werden,
dass entsprechendes Handeln entschuldigt wird“131. Vertreter der Gegenauffassung
müssen sich bewusst sein, welche Konsequenzen die Ablehnung eines Entschuldi-
gungsgrundes hätte: Der Weichensteller – der in der Notsituation das „kleinere
Übel“ wählt – würde wegen Mordes132 zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt wer-
den; ein offensichtlich grob ungerechtes Ergebnis.

V. Fazit
Reinhard Merkel hat den Umgang mit Notstandstötungen als eine „Grundfrage
von Recht, Staat und Individuum“ beschrieben.133 Das Völkerstrafrecht hat auf
diese Frage bislang keine überzeugende Antwort gefunden. Als rechtspolitische
Kompromisslösung leidet die Regelung in Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut unter
ihrer Unbestimmtheit und der fehlenden Differenzierung zwischen Rechtfertigung
und Entschuldigung. Doch auch das deutsche Recht gibt keine klaren Voraussetzun-
gen für die Behandlung von Notstandstötungen vor. Stattdessen wird die Entschei-
dung über die Grenzen des Notstandsrechts einer kaum mehr überschaubaren wis-
senschaftlichen Diskussion überantwortet, deren Protagonisten sich weitgehend un-
versöhnlich gegenüberstehen.
Es wäre Aufgabe des Normsetzers – im Völkerstrafrecht wie im nationalen
Recht – durch ausdrückliche Regelungen für Klarheit zu sorgen. In diesem Beitrag
habe ich einige erste Vorschläge für die Gestaltung des Notstandsrechts gemacht.
Nach der hier vertretenen Methode der Entscheidung hinter dem Schleier des Nicht-
wissens wäre sowohl der Abschuss eines entführten Flugzeugs als auch das Handeln
von Erdemović gerechtfertigt gewesen. Die Tat des fiktiven Weichenstellers wäre
hingegen rechtswidrig, aber entschuldigt.

131
Hörnle, FS Herzberg, S. 555, 572.
132
Der Zug dürfte ohne weiteres ein gemeingefährliches Mittel darstellen.
133
Merkel, JZ 2007, 373, 385.
Tötung im Notstand? 885

Zieht man die Grenzen des Notstandsrechts auf diese Weise weit, so muss den
Ausschlussgründen eine größere Bedeutung zukommen.134 Gerade im Völkerstraf-
recht kann die Anerkennung einer Notstandsrechtfertigung nicht dazu führen, dass
Organisationen für ihre Mitglieder Straffreiheit schaffen, indem sie ein drakonisches
internes Sanktionssystem etablieren: „If impunity could be so secured a wide door
would be open to collusion, and encouragement would be given to associations of
malefactors, secret or otherwise.“135 Wer sich wissentlich einer Einheit anschließt,
die von ihren Mitgliedern die Begehung völkerrechtlicher Verbrechen verlangt,
kann sich nicht zur Rettung des eigenen Lebens auf Notstand berufen.136 Zwar bleibt
in der Situation selbst eine Selbstaufopferung unzumutbar, doch muss dem Täter –
nach dem Gedanken von actio libera in causa137 – der Schuldvorwurf bereits bei frei-
willigem Eintritt in die Organisation gemacht werden.138 Dies näher auszuführen,
muss jedoch einer Festschrift zum nächsten runden Geburtstag des Jubilars vorbehal-
ten bleiben.

134
S. hierzu Küper, Der „verschuldete“ rechtfertigende Notstand, 1993; Hirsch, FS Küper,
S. 149, 163; Bernsmann, „Entschuldigung“ durch Notstand, 1989, S. 201 ff., 398; Beck, ZStW
124 (2012), 660, 683.
135
Stephen, History of the Criminal Law of England, Vol. 2, 1883, S. 107, 108.
136
Hingegen ist es wenig überzeugend, dass ein altruistisches Notstandsrecht ausge-
schlossen werden soll (so ist es jedoch in § 35 Abs. 1 S. 2 StGB angelegt).
137
Perron, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 30. Aufl. 2019, § 35 Rn. 19; kritisch
Neumann, NK-StGB, § 35 Rn. 31.
138
Siehe auch Weigend, JICJ 10 (2012), 1219, 1235; Joyce, Leiden Journal of International
Law 28 (2015), 623, 641.
Roboterprogrammierung im Dilemma
Neue Verhaltensnormen für tödliche Notstandssituationen
mit Unbeteiligten?

Von Milan Kuhli

I. Einführung
Mit dem geschätzten Jubilar verbinde ich unter anderem zwei Situationen, die
mich nachhaltig beeindruckt haben. Zunächst hatte ich bei „meiner ersten“ Straf-
rechtslehrertagung (Hamburg 2009) die Gelegenheit, einen Vortrag von Reinhard
Merkel zu hören – ein Referat, in dem er sich aus einer Grundlagenperspektive
den strafrechtlichen Problemen sogenannter Neuroenhancements widmete.1 Einige
Jahre später durfte ich an der juristischen Fakultät der Universität Hamburg den Lehr-
stuhl für Strafrecht und Rechtsphilosophie vertreten – denjenigen Lehrstuhl also, den
der verehrte Jubilar zuvor innehatte. Aus der Vertretungszeit erinnere ich mich noch
gut daran, dass mir Reinhard Merkel stets unterstützend zur Seite stand. Es ist mir
daher eine besondere Freude, mich mit einem Aufsatz an dieser Festgabe beteiligen
zu dürfen. Ich unternehme dies mit einem Text, der einen Ansatz aufgreift, welcher
dem oben genannten Hamburger Vortrag und anderen Werken aus Merkels umfang-
reichem Œuvre2 zugrunde liegt – die Betrachtung der rechtlichen Grundlagen neu-
artiger Entwicklungen und Erkenntnisse.
Die Digitalisierung erfasst gegenwärtig nicht nur weite Bereiche unseres alltäg-
lichen Lebens, sondern zeitigt möglicherweise auch fundamentale Auswirkungen
auf das Recht selbst. Dies gilt allerdings weniger für den Umstand, dass nun neue
Sachverhalte auftreten, die in rechtlicher Hinsicht regelungsbedürftig erscheinen.
Ein solcher Aspekt stellt nämlich eine lediglich ubiquitäre Herausforderung dar,
vor die die Rechtsordnung ständig und in vielen Bereichen steht.3 Stattdessen betrifft
die eben ausgesprochene Überlegung die Frage, ob grundlegende Rechtsprinzipien

1
Zur schriftlichen Fassung: Merkel, Neuartige Eingriffe ins Gehirn. Verbesserung der
mentalen condicio humana und strafrechtliche Grenzen, in: ZStW 121 (2009), S. 919 ff.
2
Genannt sei etwa nur Merkels im Jahre 2008 erschienenes Buch: Willensfreiheit und
rechtliche Schuld. Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung.
3
Vgl. etwa zum strafprozessualen Umgang mit technischen Entwicklungen: Schlegel,
Normative Grenzen für internetbasierte Ermittlungsmethoden. Zugleich ein Beitrag zur
Technikoffenheit strafprozessualer Ermächtigungsgrundlagen, 2019.
888 Milan Kuhli

im Zuge der Digitalisierung einen signifikanten Bedeutungswandel durchlaufen. Al-


lerdings ist es evident, dass auch eine solche Frage im Format eines Aufsatzes kaum
in angemessener Weise beantwortet werden kann und deshalb der nochmaligen Kon-
kretisierung bedarf: In Bezug auf die Programmierung von Robotern soll daher im
Folgenden unter anderem die strafrechtliche Tragfähigkeit der These diskutiert wer-
den, wonach die Aktivitäten4 in Notstandssituationen nicht mehr von einer Entschei-
dung zwischen menschlichen Leben abhängen, sondern ausschließlich von einer rei-
nen Risiko-Nutzen-Abwägung.5 Zugrunde gelegt wird dem Beitrag dabei folgender
Beispielsfall:
Ein selbstfahrendes (fahrerloses) Auto fährt auf einer Straße. Ein vor ihm fahrender Radfah-
rer, der ein Kind in einem Kindersitz transportiert, wird plötzlich bewusstlos und fällt mit-
samt dem Kind vor das Auto. Der selbstfahrende Wagen könnte einen Zusammenstoß mit
dem bewusstlosen Radfahrer und dem Kind nur durch ein Ausweichmanöver verhindern,
durch das voraussichtlich ein auf dem Bürgersteig laufender Spaziergänger getötet
würde. Würde das selbstfahrende Auto nicht ausweichen, so würde dies mit Sicherheit
zum Tod des Bewusstlosen und des Kindes führen.

Es handelt sich hierbei um eine Notstandssituation, die einen voraussichtlich töd-


lichen Ausgang haben wird und in der ein Unbeteiligter (Spaziergänger) involviert ist
und in der keiner der anwesenden Personen ein Pflichtwidrigkeitsvorwurf gemacht
werden kann. Zugebenermaßen stellt dies nur eine von vielen denkbaren Konstella-
tionen dar, die gegenwärtig in der Robotik diskutiert werden.6 Allerdings besteht das
Ziel des vorliegenden Beitrags nicht in einer systematischen Durchdringung aller in
Betracht kommenden Szenarien, sondern in der Diskussion grundsätzlicher Fragen,
die den vorliegenden Einzelfall betreffen, gleichzeitig jedoch auch für andere Kon-
stellationen Bedeutung haben dürften: Die erste – eben bereits angedeutete – Frage
betrifft die Auswirkung der Digitalisierung auf den Rechtsmaßstab. Bezogen auf die
hier interessierende Konstellation wird sich der Beitrag daher mit der in der Literatur7
anzutreffenden These auseinandersetzen, wonach der Einsatz von Robotern zur Än-
derung des Kontextes menschlicher Entscheidungen führt und deshalb eine grundle-
4
Ausgeblendet bleibt dabei die Frage, ob technisch überhaupt sichergestellt werden kann,
dass Roboter alle maßgeblichen Parameter von Notstandssituationen erkennen (vgl. hierzu
Hörnle/Wohlers, The Trolley Problem Reloaded. Wie sind autonome Fahrzeuge für Leben-
gegen-Leben Dilemmata zu programmieren?, in: GA 2018, S. 12 [22 f.]).
5
Vgl. zu einer solchen These aus moralphilosophischer Sicht: Hevelke/Nida-Rümelin,
Selbstfahrende Autos und Trolley-Probleme: Zum Aufrechnen von Menschenleben im Falle
unausweichlicher Unfälle, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 19 (2015), S. 5 (10 ff.).
6
Vgl. hierzu etwa Sander/Hollering, Strafrechtliche Verantwortlichkeit im Zusammen-
hang mit automatisiertem Fahren, in: NStZ 2017, S. 193 ff.; Hilgendorf, Dilemma-Probleme
beim automatisierten Fahren. Ein Beitrag zum Problem des Verrechnungsverbots im Zeitalter
der Digitalisierung, in: ZStW 130 (2018), S. 674 ff.; Hörnle/Wohlers, GA 2018, S. 12 ff.;
Engländer, Das selbstfahrende Kraftfahrzeug und die Bewältigung dilemmatischer Situatio-
nen, in: ZIS 2016, S. 608 ff.; Weber, Dilemmasituationen beim autonomen Fahren, in: NZV
2016, S. 249 ff.
7
Vgl. hierzu (mit Unterschieden): Hevelke/Nida-Rümelin, Jahrbuch für Wissenschaft und
Ethik 19 (2015), S. 5 ff.; Hörnle/Wohlers, GA 2018, S. 12 (23).
Roboterprogrammierung im Dilemma 889

gend andere normative Einordnung notwendig macht. Zweitens, wenngleich mit


dem eben genannten Aspekt durchaus zusammenhängend, geht es vorliegend
darum, ob Roboter bei ihrer Tätigkeit Verhaltensnormen anwenden. Es wird diesem
Beitrag also eine normentheoretische Betrachtung zugrunde gelegt.
Die Beantwortung der angesprochenen Fragen verlangt im Folgenden zunächst
einige Begriffsbestimmungen (Roboter, Notstandssituation mit Unbeteiligten und
Verhaltensnorm – Abschnitt II.). Es folgen Überlegungen zu den Fragen, welche
maßgeblichen Entscheidungen einem Robotereinsatz zugrunde liegen bzw. im Kon-
text mit einem Robotereinsatz getroffen werden (Abschnitt III.). Hieran anknüpfend
ist der Blick sodann darauf zu richten, welche situativen Verhaltensnormen in der hier
interessierenden Konstellation einschlägig sind (Abschnitt IV.). Toleriert man an die-
ser Stelle eine gewisse Vereinfachung, so lässt sich sagen, dass die hiermit angespro-
chene strafrechtliche Beurteilung gleichsam aus einer Criminal-Compliance-Per-
spektive vorgenommen wird: Es geht also nicht primär um die strafrechtliche Bewer-
tung eines (tatsächlich stattfindenden oder fiktiven) Verhaltens, sondern um die
Frage, welche strafrechtlichen Anforderungen an eine Roboterprogrammierung im
Hinblick auf künftig möglicherweise eintretende Notstandssituationen zu stellen
sind.8

II. Begriffsbestimmungen
1. Roboter

Eine einheitliche Definition dessen, was unter einem Roboter zu verstehen ist,
sucht man vergebens.9 Bereits im Duden werden mehrere Umschreibungen offeriert,
zum einen als eine „(der menschlichen Gestalt nachgebildete) Apparatur, die be-
stimmte Funktionen eines Menschen ausführen kann“, zum anderen als ein „(mit
Greifarmen ausgerüsteter) Automat, der ferngesteuert oder nach Sensorsignalen
bzw. einprogrammierten Befehlsfolgen anstelle eines Menschen bestimmte mecha-
nische Tätigkeiten verrichtet“.10 Allerdings ist für die Zwecke des vorliegenden Bei-
8
Vgl. zu einer solchen Perspektive auch Rotsch, der im „Wechsel des Blickwinkels – vom
rückwärtsgewandten Blick eines traditionell-reaktiven Strafrechts hin zum vorwärtsgewand-
ten eines im Schwerpunkt modern-präventiven Steuerungssystems – […] ein Wesensmerkmal
[…] von Criminal Compliance“ sieht (Rotsch, Criminal Compliance, in: Achenbach u. a.,
Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl., 2019, Teil 1 Kap. 4 Rn. 10 [im Original mit Her-
vorhebungen]); vgl. in Bezug auf das automatisierte Fahren auch Hörnle/Wohlers, GA 2018,
S. 12 (22); Hilgendorf, ZStW 130 (2018), S. 674 (689); vgl. überdies zur Zukunftsgerichtet-
heit von Verhaltensnormen: Haffke, Die Bedeutung der Differenz von Verhaltens- und Sank-
tionsnorm für die strafrechtliche Zurechnung, in: Schünemann u. a., Bausteine des europäi-
schen Strafrechts. Coimbra-Symposium für Claus Roxin, 1995, S. 89 (92).
9
Vgl. hierzu auch Beck, Grundlegende Fragen zum rechtlichen Umgang mit der Robotik,
in: JR 2009, S. 225 (226).
10
Abrufbar unter: https://www.duden.de/rechtschreibung/Roboter (abgerufen am 2. Sep-
tember 2019).
890 Milan Kuhli

trags auch keine exakte Klassifikation notwendig. Stattdessen dürfte es ausreichen,


folgende Umstände und Aspekte zu nennen, die durchaus charakteristisch für be-
stimmte Roboter sein dürften:
- Es handelt sich ausschließlich11 um ein Gerät, eine Maschine oder eine Software.
- Es führt eine anspruchsvolle Tätigkeit durch.
- Es führt die betreffende Tätigkeit aus, ohne dass im näheren zeitlichen Kontext12
ein unmittelbarer aktiver13 menschlicher Eingriff erfolgt.
Eine weitere Konkretisierung des Untersuchungsgegenstandes ergibt sich daraus,
dass es in diesem Beitrag nur auf solche Roboter ankommt, die voraussichtlich (oder
zumindest möglicherweise) in Notstandssituationen geraten können. Gleichwohl ist
es evident, dass die in Betracht kommenden Maschinen vielfältig sind: Man denke
etwa nur an Pflegeroboter im Haushalt, Schweißroboter in der Industrie oder an
Transportdrohnen im Flugverkehr.
Soweit bei einem weiteren wichtigen Beispiel – den selbstfahrenden Autos – vom
Start bis zum Ziel kein menschlicher Fahrer erforderlich ist, sind auch die Termini
des fahrerlosen Fahrens14 bzw. des autonomen Fahrens15 gebräuchlich. Verwendung
findet der Begriff der Autonomie in der Literatur auch in Bezug auf sonstige Geräte,
die vorliegend als Roboter klassifiziert werden.16 Ein solcher Terminus der Autono-
mie ist im vorliegenden Kontext dann unproblematisch, wenn er nicht im Sinne eines
Kantischen Autonomieverständnisses („Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Ge-
setz zu sein“17) verstanden wird. Die Übertragbarkeit eines solchen Autonomiever-
ständnisses auf Roboter lässt sich nämlich bereits aus technischen Gründen infrage
11
Ausgeblendet werden damit Mensch-Maschine-Verbindungen (vgl. hierzu Beck, JR
2009, S. 225 [228 f.]).
12
Ein ferngesteuertes Modellflugzeug würde damit nicht unter dieser Gruppe fallen, da der
Mensch hier über die Fernsteuerung unmittelbaren Einfluss auf das Flugverhalten nimmt.
Hieraus ergibt sich auch eine Abweichung zur oben zitierten zweiten Dudendefinition. Al-
lerdings spricht letztlich auch nichts dagegen, ferngesteuerte Geräte in bestimmten Kontexten
unter den Roboterbegriff zu fassen.
13
Eine bloße Überwachung durch einen Menschen schadet daher grundsätzlich nicht. Al-
lerdings werden die Fälle einer Echtzeitüberwachung an späterer Stelle dieses Beitrags aus-
geblendet.
14
Ethikkommission „Automatisiertes und Vernetztes Fahren“ (eingesetzt durch den Bun-
desminister für Verkehr und digitale Infrastruktur), Bericht Juni 2017, S. 14 (abrufbar unter:
https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Publikationen/DG/bericht-der-ethik-kommission.pdf?__
blob=publicationFile [abgerufen am 12. November 2018]).
15
Lin, Why Ethics Matters for Autonomous Cars, in: Maurer u. a., Autonomous Driving.
Technical, Legal and Social Aspects, 2016, S. 69 ff.; Feldle, Notstandsalgorithmen. Dilem-
mata im automatisierten Straßenverkehr, 2018, S. 44.
16
Vgl. etwa Beck, Google-Cars, Software-Agents, Autonome Waffensysteme – neue
Herausforderungen für das Strafrecht?, in: dies. u. a., Cybercrime und Cyberinvestigations,
2015, S. 9 ff.; Hilgendorf, ZStW 130 (2018), S. 674 (676).
17
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (text- und seitenidentisch mit Werkaus-
gabe Bd. VII), 8. Aufl., 2014, S. 81.
Roboterprogrammierung im Dilemma 891

stellen.18 Sie erscheint aber auch deshalb zweifelhaft, da die entscheidende Frage der
menschlichen Verantwortlichkeit für maschinelles Handeln letztlich gerade davon
abhängt, ob bzw. zu welchem Grad die betreffende Maschine eigenständig agiert.
Die Verwendung des Autonomiebegriffs darf hier also nicht zu einem vorschnellen
Urteil verleiten. Es bietet sich daher an, in Anknüpfung an Hilgendorf ein technisches
Autonomieverständnis zugrunde zu legen: Danach gilt ein technisches System dann
als autonom, wenn es „auf Probleme unabhängig von menschlichem Input situations-
angemessen und in diesem Sinne ,intelligent‘ reagieren kann“.19 Nach hiesigem Ver-
ständnis impliziert dies allerdings nur, dass der betreffende Roboter nicht auf unmit-
telbare menschliche Kommandos angewiesen ist. Hingegen ist es nicht ausgeschlos-
sen, dass es irgendwelche menschlichen Vorgaben (in Form einer Programmierung
etc.) geben kann. Dementsprechend sieht Maurer das Charakteristikum autonomer
Fahrzeuge in einer Selbstbestimmung, die im Rahmen eines von Menschen vorgege-
benen Gesetzes stattfindet.20 Ein so verstandener Begriff der technischen Autonomie
ist letztlich indifferent im Hinblick auf die Frage der menschlichen Verantwortlich-
keit für maschinelles Handeln – eine Frage, die hier noch näher zu beleuchten sein
wird.

2. Notstandssituation mit Unbeteiligten

Eine strafrechtlich relevante Notstandssituation besteht bekanntlich in einer Kon-


stellation gegenwärtiger Gefahr für rechtlich geschützte Interessen, die nur durch
eine tatbestandsmäßige Verletzung oder Gefährdung anderer rechtlich geschützter
Interessen abgewendet werden kann.21 Im Zusammenhang mit dem Einsatz von Ro-
botern dürften allgemein vor allem solche Notstandssituationen von Relevanz sein, in
denen eine Gefahr für Leib, Leben und Eigentum besteht. Nach dem eingangs Ge-
sagten wird der Blick dabei vorliegend auf solche Konstellationen gerichtet, in denen
der Täter einen Unbeteiligten schädigt, um die Gefahr von einem Dritten abzuwen-
den. Unter einem Unbeteiligten i. d. S. werden hier solche Personen verstanden, die
drei kumulative Voraussetzungen erfüllen: Erstens haben sie die Notstandssituation
nicht selbst pflichtwidrig herbeigeführt,22 zweitens handeln sie auch im Übrigen
18
Vgl. etwa Feldle (Fn. 15), S. 47 f.
19
Hilgendorf, ZStW 130 (2018), S. 674 (675); vgl. in dieser Hinsicht auch Lenzen,
Künstliche Intelligenz. Was sie kann & was uns erwartet, 2018, S. 124.
20
Maurer, Einleitung, in: ders. u. a., Autonomes Fahren. Technische, rechtliche und ge-
sellschaftliche Aspekte, 2015, S. 1 (3 f.), unter Bezugnahme auf die Rezeption des Kantischen
Autonomieverständnisses bei Feil, Antithetik neuzeitlicher Vernunft. „Autonomie – Hetero-
nomie“ und „rational – irrational“, 1987.
21
Nach Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., 2019, Vor §§ 32 ff.
Rn. 67 (m.w.N.).
22
Hörnle und Wohlers nennen als Beispiel für die (hier ausgeblendete) Konstellation der
pflichtwidrigen Herbeiführung folgenden Fall eines menschlichen Fahrers: „O hat eine andere
Person auf die Straße gestoßen, das Ausweichmanöver des Fahrers tötet O“ (Hörnle/Wohlers,
GA 2018, S. 12 [16]; vgl. zu dieser und anderen Fallkonstellationen: ebd., S. 12 [16]).
892 Milan Kuhli

nicht rechtswidrig,23 drittens bestand für sie bis zur Vornahme der Notstandshand-
lung keine aus der Notstandssituation resultierende konkrete Gefahr.24 Im jüngeren
Schrifttum werden entsprechende und ähnliche Konstellationen auch unter dem Ter-
minus der Dilemmata oder Dilemma-Situationen diskutiert.25

3. Verhaltensnorm

Nach hiesigem Verständnis bestehen strafrechtlich relevante Verhaltensnormen in


solchen rechtlichen Geboten oder Verboten, deren Verletzung gemäß einer Sankti-
onsnorm mit Strafe bedroht ist. Dem liegt ein normentheoretisches Verständnis zu-
grunde, das zwischen Sanktionsnormen und Verhaltensnormen im Strafrecht diffe-
renziert.26 Letztere haben etwa den Inhalt „Du sollst nicht töten!“ oder „Verursache
nicht die Verletzung eines anderen Menschen!“ Sie sind an den potenziellen Täter
gerichtet, wohingegen Sanktionsnormen (z. B. die Bestrafungsanordnung gemäß
§ 212 Abs. 1 StGB) spezifische Verhaltensnormen27 darstellen, die vom zuständigen
Justizorgan umzusetzen sind.28 Die Strafbarkeit eines Verhaltens setzt demnach
einen Verstoß gegen eine Verhaltensnorm voraus,29 an den durch eine Sanktionsnorm
eine Strafe geknüpft wird.30 Diese Unterscheidung zwischen beiden Normtypen än-
dert aber nichts daran, dass sich der Inhalt einer Verhaltensnorm durchaus auch aus
der entsprechenden Sanktionsnorm ableiten lässt.31
Die hier skizzierten normentheoretischen Erwägungen folgen aus der Überle-
gung, dass strafbares Verhalten rechtlich verboten ist.32 Zu betonen ist in diesem Kon-
text allerdings, dass die Strafwürdigkeit eines Verhaltens nicht aus einem reinen Ge-

23
Man denke etwa an eine Notstandshandlung zum Schaden eines Motorradfahrers, der
keinen Helm trägt und hierdurch diejenige Verhaltensnorm verletzt, die der Regelung nach
§ 21a Abs. 2 StVO zugrunde liegt (vgl. zu entsprechenden Konstellationen etwa Feldle
[Fn. 15], S. 167 ff.).
24
Damit bleiben hier die Fälle einer sogenannten symmetrischen Gefahrenlage ausge-
blendet, in denen mehrere Personen gleichzeitig gefährdet sind und in denen die Beteiligten
entweder alternativ oder kumulativ geschädigt werden müssen (vgl. hierzu Hilgendorf, ZStW
130 [2018], S. 674 [695 f.]).
25
Hilgendorf, ZStW 130 (2018), S. 674 ff.; Engländer, ZIS 2016, S. 608 ff.; Feldle
(Fn. 15); Hevelke/Nida-Rümelin, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 19 (2015), S. 5 (8).
26
Vgl. hierzu Ast, Normentheorie und Strafrechtsdogmatik, 2010, S. 10 (m.w.N.).
27
Kindhäuser, Strafrecht AT, 8. Aufl., 2017, § 2 Rn. 4.
28
Renzikowski, in: Matt/Renzikowski, StGB, 1. Aufl., 2013, Einl. Rn. 3.
29
Schneider/Wagner, Vorwort, in: Schneider u. a., Normentheorie und Strafrecht, 2018,
S. 5.
30
Vgl. in diesem Zusammenhang auch Freund, Strafrecht AT. Personale Straftatlehre,
2. Aufl., 2009, § 1 Rn. 12.
31
Vgl. zur Ableitbarkeit: Ast, Die normentheoretische Analyse des Betrugs, in: Schneider
u. a., Normentheorie und Strafrecht, 2018, S. 201.
32
Ast (Fn. 31), S. 201.
Roboterprogrammierung im Dilemma 893

horsamspflichtverstoß resultieren darf,33 sondern einzig aus dem Umstand, dass eine
Person ein legitimes Rechtsgut verletzt hat.34 Ein normentheoretisches Verständnis
darf also nichts daran ändern, dass der Inhalt der betreffenden Verhaltens- und Sank-
tionsnormen stets hinterfragbar bleiben muss.35
Unter Zugrundelegung dieses Verständnisses impliziert die hier interessierende
Frage, welche Verhaltensnormen für die Programmierung von Robotern einschlä-
gig sind, unter anderem die Frage, welche Programmierungen nicht rechtlich ver-
boten sind. Nach dem eingangs Gesagten können beim Robotereinsatz vor allem
solche Notstandssituationen entstehen, in denen Gefahren für Leib, Leben und Ei-
gentum eintreten – Rechtsgüter also, in Bezug auf deren Verletzung Sanktionsnor-
men bestehen (u. a. §§ 212, 223, 303 StGB). Unabhängig von der (im Einzelnen
umstrittenen) Frage der konkreten Ausgestaltung der zugrunde liegenden Verhal-
tensnormen36 ist hier davon auszugehen, dass sich die Anforderungen an die betref-
fende Roboterprogrammierung vor allem nach der Frage der objektiven Zurech-
nung eines hypothetischen tatbestandlichen Erfolges und nach der Einschlägigkeit
von Rechtfertigungsgründen richtet. Unter der Annahme nämlich, dass die Aussa-
ge „Verursache nicht die Verletzung eines anderen Menschen!“ einen normativen
Gehalt aufweist, hängt das Vorliegen eines Verstoßes gegen diese Norm nicht nur
vom entsprechenden Erfolgseintritt und von der Kausalität ab, sondern grundsätz-
lich auch von der Frage, ob bestimmte Handlungsnormen eingehalten wurden.37
Eine Roboterprogrammierung hat demnach grundsätzlich so zu erfolgen, dass
die betreffende Maschine in Notstandssituationen in einer Weise agiert, die

33
Vgl. zu dieser Erwägung bereits: Kuhli, Vorsatz und Rechtsverweisung. Zur Bedeutung
der Normentheorie bei Blankettelementen und rechtsverweisenden normativen Merkmalen,
in: Schneider u. a., Normentheorie und Strafrecht, 2018, S. 119 (120); vgl. in diese Zusam-
menhang auch Freund (Fn. 30), § 1 Rn. 11: „Nur eine legitimierbare Verhaltensnorm kann
übertreten werden“ (im Original mit Hervorhebungen).
34
Vgl. Kindhäuser (Fn. 27), § 2 Rn. 5 f.; vgl. auch zu einer Einordnung des Begriffs der
Verhaltensnorm in eine personenbezogene materielle Rechtslehre: Zaczyk, Kritische Bemer-
kungen zum Begriff der Verhaltensnorm, in: GA 2014, S. 73 ff.
35
Demgegenüber ist etwa Bindings Normbegriff rein formal, die Frage einer inhaltlichen
Legitimität wird als zwecklos verworfen. Es sei schlicht sinnlos zu fragen, ob eine Norm auch
vernünftig oder gerecht sei, da diese Frage niemals eindeutig beantwortet werden könne
(Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 2: Schuld und Vorsatz, Hälfte 1, 2. Aufl.,
1914 [Neudr. 1965], S. 156, 159). So schreibt Binding: „[H]inter Verbot und Gebot beginnt
aber für den, der nach der Rechtswidrigkeit sucht, tiefster undurchdringlicher Nebel“ (ebd.,
S. 160 f.). Die eigentliche Bedeutung einer Norm bestehe gerade darin, jeglichen Dissens über
die Zulässigkeit menschlichen Verhaltens zu unterbinden (ebd., S. 157 – 159).
36
Vgl. hierzu die Darstellung bei Ast (Fn. 31), S. 201 (202) (m.w.N.).
37
Diese Überlegung knüpft an einzelne Erwägungen aus Asts normentheoretischer Inter-
pretation an (Ast [Fn. 26], S. 56 ff., 60 ff.); vgl. darüber hinaus aber auch zum terminologi-
schen Unterschied zwischen Asts normentheoretischer Sichtweise und der strafrechtsdogma-
tischen Lehre der objektiven Zurechnung: Ast (Fn. 26), S. 69.
894 Milan Kuhli

nicht in einem tatbestandlichen Erfolg resultiert, der rechtswidrig ist und dem Pro-
grammierer38 objektiv zurechenbar ist.
Demgegenüber können andere Strafbarkeitsvoraussetzungen im Folgenden weit-
gehend ausgeblendet bleiben. Dies gilt etwa für den Bereich des Vorsatzes, und zwar
unabhängig von der Frage, ob man das Vorsatzerfordernis überhaupt als Bestandteil
einzelner Verhaltensnormen ansieht. Selbst wenn man dies nämlich bejaht, spricht
im hier interessierenden Fall einiges dafür, dass das Vorliegen des Vorsatzes eines
Programmierers nach gängigen Grundsätzen zu beurteilen wäre.39 Entsprechendes
gilt für die Frage der Tatbeteiligung.40 Auch Entschuldigungsgründe, deren Eingrei-
fen lediglich zu einer Herabsetzung des Schuldgehalts der Tat führt,41 müssen hier
nicht näher betrachtet werden: Da der Täter bei Eingreifen eines solchen Entschul-
digungsgrundes (z. B. demjenigen des entschuldigenden Notstands42 gemäß § 35
StGB43) normativ noch ansprechbar ist,44 bleibt er durchaus ein tauglicher Adressat
strafrechtlich relevanter Verhaltensnormen.45 Ebenfalls außer Betracht bleiben hier
Schuldausschließungsgründe: Die Frage, inwieweit Verhaltensnormen auch gegen-
über schuldlos handelnden Personen gelten, ist zwar äußerst umstritten,46 muss an
dieser Stelle allerdings nicht weiter vertieft werden. Im Rahmen der Programmie-
rung von Robotern dürften jedenfalls die Schuldausschließungsgründe47 der Schuld-

38
Aus Gründen der Vereinfachung wird hier und im Folgenden von einem einzelnen Pro-
grammierer ausgegangen, wohingegen es sich in der Praxis häufig um ganze Teams handeln
dürfte, die spezifische Herstellervorgaben umzusetzen haben.
39
Vgl. in diesem Kontext etwa Sander/Hollering, NStZ 2017, S. 193 (202).
40
Wird ein Roboter in Verkehr gebracht, ohne dass sein weiterer Einsatz im Einzelnen
kontrolliert wird, und kommt es zu einer programmierungsbedingten Schädigung durch den
Roboter, so besteht die unmittelbare Tathandlung (§ 25 Abs. 1 S. 1 StGB) in der Aktivierung
des programmierten Roboters.
41
Vgl. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts AT, 5. Aufl., 1996, S. 477.
42
Vgl. zur Einordnung als Entschuldigungsgrund: Müssig, in: MüKo-StGB, Band 1,
3. Aufl., 2017, § 35 Rn. 1; Jescheck/Weigend (Fn. 41), S. 480.
43
Losgelöst hiervon ist aber auch fraglich, ob der von § 35 StGB geforderte persönliche
Gefahrbezug bei einem Programmierer oder Roboterhersteller in einer signifikanten Anzahl
von Fällen gegeben sein wird (vgl. in diesem Kontext aber auch den Ansatz von Feldle
[Fn. 15], S. 95 ff.).
44
Vgl. im Hinblick auf die praktische Relevanz von § 35 StGB: Roxin, Strafrecht AT 1,
4. Aufl., 2006, § 22 Rn. 4.
45
Vgl. zu Letzterem: Freund (Fn. 30), § 4 Rn. 26.
46
Gegen die Möglichkeit schuldloser Verhaltensnormverstöße im Bereich des Strafrechts:
Rostalski, Zur objektiven Unmöglichkeit schuldlosen Verhaltensunrechts im Strafrecht, in:
Schneider u. a., Normentheorie und Strafrecht, 2018, S. 105 ff. (m.w.N.); Freund (Fn. 30), § 4
Rn. 25; a.A. Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht,
2014, S. 407; Greco, Wider die jüngere Relativierung der Unterscheidung von Unrecht und
Schuld, in: GA 2009, S. 636 (645); vgl. zu dieser Frage auch Kuhli, Unrecht und Schuld bei
Binding, in: Kubiciel u. a., „Eine gewaltige Erscheinung des positiven Rechts“. Karl Bindings
Normen- und Strafrechtstheorie (i. E.).
47
Vgl. zu dieser Einordnung: Jescheck/Weigend (Fn. 41), S. 476.
Roboterprogrammierung im Dilemma 895

unfähigkeit (§§ 19, 20 StGB) und des unvermeidbaren Verbotsirrtums (§ 17 S. 1


StGB) keine Besonderheiten aufweisen.

III. Rechtsgutsrelevante Entscheidungen


Es ist evident, dass es sowohl generelle als auch situative Verhaltensnormen geben
kann.48 Beispielsweise lassen sich aus der generellen Norm „Verursache nicht den
Tod eines anderen Menschen!“ konkrete Handlungsverbote und Handlungsgebote
ableiten,49 deren Ausgestaltung sich nach bestimmten Lebenssituationen (z. B.
dem Autofahren oder dem Skilaufen) richtet. Eine solche Situationsabhängigkeit
entfaltet auch für die vorliegende Untersuchung Relevanz: Ehe nämlich die Frage
zu beleuchten ist, welche strafrechtlichen Anforderungen an eine Roboterprogram-
mierung für Notstandssituationen zu stellen sind (Abschnitt IV.), muss zunächst be-
stimmt werden, in welchem Kontext überhaupt rechtsgutsrelevante Entscheidungen
beim Robotereinsatz getroffen werden. Dabei wird der Begriff der rechtsgutsrelevan-
ten Entscheidung nicht nur auf Menschen beschränkt, sondern soll auch Reaktionen
und Urteile von Robotern bzw. Computern umfassen.50

1. Entscheidungsbegriff

Der hier zugrunde gelegte weite Entscheidungsbegriff ändert nichts daran, dass
vorliegend ausschließlich die Frage der Strafbarkeit eines Menschen beleuchtet wer-
den soll. Zugleich verhält sich der Terminus der Entscheidung aber auch indifferent
zu dieser Frage. Er ist nämlich unabhängig von einer möglichen Determination des
betreffenden Roboters. Der Begriff der Entscheidung ist bezüglich der hier interes-
sierenden Maschinen daher insbesondere auch dann adäquat, wenn man von der An-
nahme ausgeht, dass sie in Notstandssituationen nicht losgelöst von menschlichen
Vorgaben agieren. Die in der Wissenschaft umstrittene Frage, ob Roboter zumindest
in Zukunft einen Verstand haben können,51 kann vorliegend ausgeblendet werden, da

48
Vgl. in diesem Kontext Ast (Fn. 26), S. 20; vgl. überdies ebd., S. 16 ff., in Bezug auf
sonstige Unterscheidungen von Normarten.
49
Vgl. zur teleologischen Deduktion eines Handlungsverbotes aus einem Verursachungs-
verbot: Ast (Fn. 26), S. 16.
50
Vgl. auch Hilgendorf, der im Hinblick auf autonome Systeme von „Entscheidungen“
spricht (Hilgendorf, ZStW 130 [2018], S. 674 [680]); demgegenüber gehen Hevelke und
Nida-Rümelin in Bezug auf autonome Fahrzeuge davon aus, dass „in der eigentlichen Situa-
tion unmittelbar vor dem Unfall keine Entscheidungen mehr getroffen werden können. Die
eigentliche Entscheidung über das Verhalten eines autonomen Autos wird getroffen, wenn
über seine Programmierung entschieden wird“ (Hevelke/Nida-Rümelin, Jahrbuch für Wis-
senschaft und Ethik 19 [2015], S. 5 [8]).
51
Kaplan fasst diesen Streit „unter dem Gesichtspunkt der starken und der schwachen KI
[Künstlichen Intelligenz, M.K.] zusammen. Kurz gesagt postuliert die starke KI, dass Ma-
schinen über einen Verstand verfügen oder zumindest verfügen werden, wohingegen die
896 Milan Kuhli

es jedenfalls überzeugende Gründe dafür gibt, dass die hier interessierenden Maschi-
nen, die in Notstandssituationen geraten können, keinesfalls einen eigenen Verstand
haben sollten. Die generelle Verhaltensnorm „Du sollst nicht töten!“ lässt sich näm-
lich mit guten Gründen in eine Norm folgenden Inhalts konkretisieren: „Bringe kei-
nen Roboter in Verkehr, der Menschen töten kann und dessen Aktivität Du nicht de-
terminieren kannst!“ Der Einsatz einer solchen Maschine im Alltag wäre nämlich
aufgrund der damit verbundenen Unvorhersehbarkeit äußerst riskant – eine Proble-
matik, die letztlich bei der Frage der Zulassung solcher Roboter52 bzw. bei der Be-
gründung entsprechender Überwachungspflichten Berücksichtigung finden müsste.
Aus diesem Grund kann im Folgenden der Blick allein auf solche Roboter gerichtet
werden, deren Aktivitäten durch Menschen determiniert sind. Eine solche Determi-
nation kann etwa durch die Programmierung erfolgen, ist aber auch in Form einer
Überwachung möglich. Allerdings dürften sich im Hinblick auf eine in Echtzeit statt-
findende Überwachung eines Roboters in strafrechtlicher Hinsicht keine substanzi-
ellen Besonderheiten im Vergleich zu anderen Überwachungspflichten ergeben. Aus
diesem Grund werden im Folgenden nur solche Roboter betrachtet, die ohne mensch-
liche Überwacher tätig sind.53

2. Entscheidungen im Beispielsfall

Zur Betrachtung der Frage, welche rechtsgutsrelevanten Entscheidungen bei


einem Robotereinsatz erfolgen, sei an den eingangs genannten Beispielsfall54 ange-
knüpft: Man stelle sich vor, dass das selbstfahrende Auto in diesem Fall zur Verhin-
derung des Unfalls mit zwei Menschen ein Ausweichmanöver durchführt und hier-
durch den Tod eines anderen Menschen verursacht.

a) Programmierung

Im eben genannten Fall folgt das schädigende Ausweichmanöver letztlich daraus,


dass das selbstfahrende Auto in Verkehr gebracht wurde, nachdem es zuvor in ent-

schwache KI behauptet, dass Maschinen echte Intelligenz lediglich simulieren […]“ (Kaplan,
Künstliche Intelligenz. Übers. v. Lenz, 2017, S. 82 f.).
52
Vgl. auch im Hinblick auf lernfähige Maschinen, deren Lernvorgang nicht überwacht
wird: Hilgendorf, ZStW 130 (2018), S. 674 (680 f.).
53
Aus dem Bereich der selbstfahrenden Autos werden daher vorliegend nur diejenigen
betrachtet, die nach der Klassifikation der vom Bundesverkehrsministerium eingesetzten
Ethikkommission „Automatisiertes und Vernetztes Fahren“ den höchsten Automatisierungs-
grad des automatisierten Fahrens aufweisen (vgl. hierzu den Kommissionsbericht [Fn. 14],
S. 14).
54
In Kurzform lautet der Sachverhalt wie folgt: Ein selbstfahrendes Auto könnte einen
tödlichen Zusammenstoß mit zwei Menschen nur durch ein Ausweichmanöver verhindern,
durch welches ein anderer Mensch getötet würde. Keiner der drei Menschen handelt pflicht-
widrig.
Roboterprogrammierung im Dilemma 897

sprechender Weise programmiert wurde.55 In der Regel erfolgt die Programmierung


eines solchen Roboters durch die Erstellung eines in Computersprache gefassten Al-
gorithmus, der Handlungsanweisungen zur Lösung bestimmter Probleme enthält.56
Beim maschinellen Lernen wiederum wird einem Computer die Fähigkeit vermittelt,
anhand eines großen Datensatzes bestimmte Muster und Regelmäßigkeiten zu erken-
nen, um mithilfe dieser Erkenntnis neue Daten selbständig einzuordnen.57 So kann
etwa der Computer eines selbstfahrenden Autos anhand einer großen Anzahl von
Ampelfotos lernen, neue Ampeln selbständig zu erkennen.
Die Programmierung eines Roboters steht in Beziehung zu anderen Entscheidun-
gen bzw. Normen: Einerseits zeichnen sich die hier relevanten Roboter dadurch aus,
dass ihre Aktivität durch die Programmierung determiniert wird. Andererseits lässt
sich eine Programmierung aber noch in Bezug zu strafrechtlich relevanten Verhal-
tensnormen setzen: Der Mensch, der die Programmierung vornimmt, setzt sich
durch sein Verhalten in Relation zu einschlägigen Verhaltensnormen. Losgelöst
von der Frage, ob er Normkenntnis hat, legt er nämlich ein Verhalten an den Tag,
dass entweder normwidrig oder normkonform ist. Soweit ein Programmierer im Ein-
klang mit einschlägigen Verhaltensnormen agieren will, steht er also vor einer dop-
pelten Aufgabe: Er muss zunächst Verhaltensnormen konkretisieren und sodann die
hieraus entstehenden einzelfallbezogenen Anweisungen in Computersprache fassen.

b) Situative Entscheidung

Bei Robotern erfolgen rechtsgutsrelevante Entscheidungen aber nicht nur in Form


der Programmierung, sondern auch während des Einsatzes, etwa in einer konkreten
Verletzungs- oder Gefährdungssituation. Sobald ein Roboter (z. B. durch seine Sen-
soren) erfasst, dass eine bestimmte Situation gegeben ist, für welche eine Handlungs-
anweisung in Form eines Algorithmus58 besteht, wird er in entsprechender Weise
tätig.59 Die maßgebliche Entscheidung des Roboters (für bzw. gegen eine bestimmte
Aktivität) besteht dabei in der Zuordnung der festgestellten Situationsdaten zu dem
betreffenden Algorithmus. Eine solche situative Entscheidung mag im konkreten
Fall dazu führen, dass kein straftatbestandlicher Erfolgt eintritt. Gleichwohl bedeutet
dies nicht, dass der Roboter hierdurch eine Verhaltensnorm anwendet. Die jeweilige
Norm – etwa die dem Totschlagstatbestand (§ 212 StGB) zugrunde liegende Verhal-
tensnorm – richtet sich an Menschen, nicht an Maschinen.60 Soweit in der Literatur
55
So auch Hevelke/Nida-Rümelin, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 19 (2015), S. 5 (8).
56
Vgl. zum Programm: Lenzen (Fn. 19), S. 43.
57
Vgl. Alpaydin, Maschinelles Lernen. Übers. v. Linke, 2008, S. 1 – 3; Kaplan (Fn. 51),
S. 44; Lenzen (Fn. 19), S. 50.
58
Vgl. Lenzen (Fn. 19), S. 43.
59
Vgl. Weigend, Notstandsrecht für selbstfahrende Autos?, in: ZIS 2017, S. 599 (602).
60
Selbst wenn es roboteradressierte Verhaltensnormen gäbe, könnten Maschinen diese
Normen nur dann in menschengemäßer Weise anwenden, wenn sie in der Lage wären, einen
internen Standpunkt einzunehmen (vgl. zum internen Standpunkt innerhalb der Normanwen-
898 Milan Kuhli

die Roboterprogrammierung mit der Setzung einer allgemeinen Sollregel gleichge-


setzt wird,61 kann dem hier also nur in einem technischen Sinne gefolgt werden:
Unter Zugrundelegung eines solchen Verständnisses setzt der Programmierer eine
Wenn-Dann-Regel, mithin keine Rechtsnorm.62 In der Konsequenz wird der Roboter
also bei der Anwendung der Regel nicht prüfen, ob diese im Einzelfall angemessen
ist.63 Eine solche Prüfung erfolgt ausschließlich in der Programmierung.

3. Zwischenergebnis

Die eigentliche Anwendung der strafrechtlich relevanten Verhaltensnorm erfolgt


nur durch die Programmierung. Darüber hinaus ist sie aber auch insoweit Regelset-
zung,64 als sie eine Wenn-Dann-Regel in Form eines Algorithmus begründet. Der Ro-
boter folgt lediglich dieser Wenn-Dann-Regel, betreibt aber keine Anwendung einer
strafrechtlich relevanten Verhaltensnorm.

IV. Neue Verhaltensnormen?


Was folgt aus dem bisher Gesagten im Hinblick auf die Frage, welche Verhaltens-
normen für die hier interessierende Roboterprogrammierung einschlägig sind? Es
steht fest, dass es hinsichtlich der situativen Verhaltensnorm jedenfalls auf die Situa-
tion ankommt, in welcher der Programmierer entscheidet. Damit ist aber noch nicht
gesagt, ob bzw. inwieweit er hierbei auch diejenige Situation zu berücksichtigen hat,
in welcher der Roboter im späteren Zeitpunkt agieren wird. Zur Beantwortung dieser
Frage sei wiederum an den eingangs genannten Beispielsfall65 angeknüpft. Blendet
man an dieser Stelle die Frage der Entscheidungssituation kurz aus, so wird deutlich,
dass der Beispielsfall starke Ähnlichkeiten mit einer Konstellation aufweist, die seit
langem in der Strafrechtsdogmatik diskutiert wird – dem sogenannten Weichenstel-

dung: Kuhli/Günther, Judicial Lawmaking, Discourse Theory, and the ICTY on Belligerent
Reprisals, in: v. Bogdandy/Venske, International Judicial Lawmaking. On Public Authority
and Democratic Legitimation in Global Governance, 2012, S. 365 [382]); vgl. darüber hinaus
in diesem Kontext auch Schuhr, Neudefinition tradierter Begriffe (Pseudo-Zurechnungen an
Roboter), in: Hilgendorf, Robotik im Kontext von Recht und Moral, 2014, S. 13 [18 f.]).
61
So in Bezug auf selbstfahrende Autos: Engländer, ZIS 2016, S. 608 (613).
62
Vgl. auch Schuhr (Fn. 60), S. 13 (18 f.), dem zufolge die Annahme, dass sich ein
selbstfahrender Lkw an Verkehrsregeln halten soll, sinnlos ist.
63
Vgl. zur Berücksichtigungsfähigkeit der Angemessenheit im Normanwendungsdiskurs:
Günther, Ein normativer Begriff der Kohärenz. Für eine Theorie der juristischen Argumen-
tation, in: Rechtstheorie 20 (1989), S. 163 (168 ff.).
64
Vgl. insoweit auch Engländer, ZIS 2016, S. 608 (613).
65
In Kurzform lautet der Sachverhalt wie folgt: Ein selbstfahrendes Auto könnte einen
tödlichen Zusammenstoß mit zwei Menschen nur durch ein Ausweichmanöver verhindern,
durch welches ein anderer Mensch getötet würde. Keiner der drei Menschen handelt pflicht-
widrig.
Roboterprogrammierung im Dilemma 899

lerfall. Aus diesem Grund wird der Blick im Folgenden zunächst auf die normative
Behandlung dieses Falles gerichtet, ehe der Frage nachzugehen ist, ob die spezifische
Entscheidungssituation bei der Roboterprogrammierung eine abweichende rechtli-
che Behandlung verlangt.

1. Weichenstellerfall als Bezugspunkt

Der Weichenstellerfall wurde bereits 1930 von Engisch diskutiert.66 In den 1950er
Jahren umschreibt Welzel den Sachverhalt wie folgt:
„Auf einer steilen Gebirgsstrecke hat sich ein Güterwagen gelöst und saust mit voller Wucht
ins Tal auf einen kleinen Bahnhof zu, auf dem gerade ein Personenzug steht. Würde der Gü-
terwagen auf dem bisherigen Gleise weiterrasen, so würde er auf den Personenzug stoßen
und eine große Anzahl von Menschen töten. Ein Bahnbeamter, der das Unheil kommen
sieht, reißt in letzter Minute die Weiche um, die den Güterwagen auf das einzige Nebengleis
lenkt, auf dem gerade einige Arbeiter einen Güterwagen entladen. Durch den Anprall wer-
den, wie der Beamte voraussah, drei Arbeiter getötet.“67

Ein Konsequentialist, dem zufolge die Frage der moralischen Richtigkeit einer
Handlung von der Qualität ihrer Folgen abhängt,68 würde das Verstellen der Weiche
möglicherweise damit rechtfertigen, dass hierdurch eine größere Anzahl von Perso-
nen gerettet wird.69 Allerdings ließen sich im Rahmen dieser Bewertung auch andere
gesellschaftliche Folgen berücksichtigen, die durchaus zu einer abweichenden kon-
sequentialistischen Einschätzung führen könnten: Stellt man etwa mit Hilgendorf auf
die Folgen ab, die „die faktische Opferung Unschuldiger (oder gar eine entsprechen-
de Normierung!) auf die Gesellschafts- und Rechtsordnung im Ganzen hätte“,70 so
können an der Richtigkeit des Verstellens der Weiche tatsächlich Zweifel bestehen.
Merkel legt dies in einem anderen Kontext pointiert dar: „Welcher Utilitarist würde
denn in einer Welt leben wollen, in der er jederzeit gegen seinen Willen als Organ-
spender für fünf andere zwangsgeschlachtet werden dürfte?“71 Argumentiert man im
Weichenstellerfall hingegen von vornherein non-konsequentialistisch, so könnte
66
Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, 1930 (Neudr.
1964), S. 288.
67
Welzel, Zum Notstandsproblem, in: ZStW 63 (1951), S. 47 (51).
68
Vgl. zu dieser Umschreibung und zu den unterschiedlichen Ausprägungen des Konse-
quenzialismus: Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, 3. Aufl., 2013, S. 173 ff.
69
Vgl. Lin (Fn. 15), S. 69 (78).
70
Hilgendorf, ZStW 130 (2018), S. 674 (686); vgl. auch zu den gesellschaftlichen Folge-
wirkungen im hypothetischen Fall einer Lebensrettung durch Organentnahme bei einem an-
deren Menschen: Hörnle, Töten, um viele Leben zu retten. Schwierige Notstandsfälle aus
moralphilosophischer und strafrechtlicher Sicht, in: Putzke u. a., Strafrecht zwischen System
und Telos, FS Herzberg, S. 555 (559).
71
Merkel, Das Elend der Beschützten. Rechtsethische Grundlagen und Grenzen der sog.
humanitären Intervention und die Verwerflichkeit der NATO-Aktion im Kosovo-Krieg, in:
ders., Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht, 2000, S. 66 (91); vgl. hierzu auch Feldle
(Fn. 15), S. 136.
900 Milan Kuhli

man das Verstellen der Weiche deshalb als falsch ablehnen, weil es eine aktive Tö-
tung darstellt, wohingegen die Nichtveränderung der Weichenstellung ein bloßes
Sterbenlassen impliziert.72
Wirft man einen Blick auf die strafrechtlich relevanten Verhaltensnormen, so
kommt ein entsprechendes Ergebnis in Betracht: Die Notstandsregelung gemäß
§ 34 StGB lässt die Rechtswidrigkeit einer Rettungshandlung bekanntlich nur
dann entfallen, wenn das geschützte Interesse das beeinträchtigte Interesse wesent-
lich überwiegt. Legt man hier die Auffassung zugrunde, der zufolge jedes individu-
elle Leben einen absoluten Höchstwert besitzt,73 so müsste ein wesentliches Über-
wiegen i. S. d. § 34 StGB auch dann verneint werden, wenn durch das Verstellen
der Weiche eine größere Anzahl von Menschenleben gerettet wird. Auch in der Li-
teratur wird vertreten, dass das Umlenken der Güterwagen (zum Nutzen der vielen
Menschen in dem Personenzug und zum Schaden der drei Arbeiter) eine verbotene
Handlung darstellt.74 (Ob diese Handlung strafbar ist, ist eine andere Frage.75) Dem-
gegenüber wird das Unterlassen des Weichenstellens mitunter für rechtmäßig er-
klärt,76 da das Recht andernfalls Widersprüchliches fordern würde, nämlich gleich-
zeitig das Verbot des Weichenstellens und das Verbot des ungehinderten Durchfah-
renlassens des Zuges.77 Jedoch stellt sich das Problem, warum der Widerspruch zwi-
schen derartigen Verboten nicht auch dahingehend aufgelöst werden könnte, dass der
Weichensteller ein Wahlrecht hat. Mit anderen Worten ist zu fragen, wie sich die eben
implizierte unterschiedliche rechtliche Bewertung des aktiven Tötens im Verhältnis
zum Sterbenlassen legitimieren lässt. Merkel leitet die Begründung einer solchen
Differenzierung aus der Grundfunktion des Rechts her: „Es soll nicht (wie die
Ethik) primär ,das gute Handeln‘ der Bürger gewährleisten, sondern die wechselsei-
tige Sicherung ihrer persönlichen Freiheit garantieren. Paul Johann Anselm von Feu-
erbach hat das […] in den Satz gefasst, ,die ursprüngliche Verbindlichkeit‘ des
Staatsbürgers gehe ,nur auf Unterlassungen‘“.78
Nach einer solchen Lösung fordert also das Recht vom Weichensteller, dem Ge-
schehen seinen Lauf zu lassen (durch das Unterlassen der Weichenstellung) und da-

72
Vgl. Lin (Fn. 15), S. 69 (78).
73
Mitsch, Flugzeugabschüsse und Weichenstellung. Unlösbare Strafrechtsprobleme in
ausweglosen Notstandssituationen, in: GA 2006, S. 11 (13); Perron, in: Schönke/Schröder,
StGB, 30. Aufl., 2019, § 34 Rn. 23; Feldle (Fn. 15), S. 243.
74
Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl., 1991, Abschnitt 13 Rn. 21; Mitsch, GA 2006, S. 11 (13).
75
Vgl. zur Frage einer Entschuldigung: Hörnle/Wohlers, GA 2018, S. 12 (15 f.).
76
Mitsch, GA 2006, S. 11 (14); a.A. Gallas, Pflichtenkollision als Schuldausschließungs-
grund, in: Engisch u. a., FS Mezger, S. 311 (331).
77
Mitsch, GA 2006, S. 11 (14).
78
So in Bezug auf die 2006 ergangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu
§ 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Merkel, § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und
warum darf der Staat töten? Über taugliche und untaugliche Prinzipien zur Lösung eines
Grundproblems des Rechts, in: JZ 2007, S. 373 (381) unter Bezugnahme auf Feuerbach,
Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 1801, § 24.
Roboterprogrammierung im Dilemma 901

durch das Sterben von Menschen zuzulassen, soweit die einzig andere mögliche
Handlung in einer aktiven Tötung (in Form der Weichenstellung) besteht. Die ent-
sprechende situative Verhaltensnorm, die sich an den Weichensteller richtet, lautet
beispielsweise: „Du darfst die Weiche nicht umstellen!“ An dieser Lösung des Wei-
chenstellerfalles zeigt sich zugleich, dass der oben apostrophierte Höchstwertcharak-
ter des menschlichen Lebens keineswegs in einem umfassenden Verbot der Todes-
verursachung resultieren muss.79

2. Übertragbarkeit auf Programmierungsentscheidungen?

Die eben skizzierte Lösung des Weichenstellerfalles wird in der Literatur durch-
aus auch kritisch gesehen,80 teilweise wird sie sogar gänzlich abgelehnt.81 Allerdings
soll die Frage der dogmatischen Behandlung dieser Konstellation im Folgenden nicht
weiter vertieft werden. Stattdessen dient der Weichenstellerfall als eine Art Blaupau-
se, vor deren Hintergrund der Blick wieder auf den obigen Beispielsfall zu richten ist,
in dem ein Roboter (nämlich ein selbstfahrendes Auto) in die Situation involviert ist.
Inwiefern ändert sich nun also die strafrechtliche Bewertung, wenn die Entscheidung
über Leben und Tod nicht erst in der konkreten Notstandssituation getroffen werden
kann, sondern bereits bei der Programmierung des selbstfahrenden Autos erfolgt?
Der reine Umstand der zeitlichen Vorverlagerung dürfte dabei jedoch keine norma-
tiven Implikationen aufweisen. Allerdings sind im Folgenden drei Aspekte der Pro-
grammierungsentscheidung in den Blick zu nehmen, die gegebenenfalls zu einer ge-
änderten rechtlichen Bewertung im Vergleich zum Weichenstellerfall führen könn-
ten: Erstens könnte es sich bei der Programmierungsentscheidung um eine durch-
dachte Entscheidung handeln, zweitens um eine Entscheidung zwischen zwei
Handlungen und drittens um eine bloße Risiko-Nutzen-Abwägung.

79
Das Gesagte trifft sich auch mit der an anderer Stelle von Merkel geäußerten Kritik an
der Formel „der (angeblich) von Art. 1 Abs. 1 GG verbotenen ,Abwägung Leben gegen
Leben‘“ (Merkel, JZ 2007, S. 373 [380]). Der Umstand, dass es kein absolutes Abwägungs-
verbot dieses Inhalts gibt, zeigt sich schon anhand der von Merkel in Bezug genommenen
Fälle kollidierender Handlungspflichten (ebd., S. 373 [380]), in denen der Verpflichtete nach
gängiger Ansicht freie Wahl hat (vgl. Roxin [Fn. 44], § 16 Rn. 118). Allerdings kann es in
sonstigen Konstellationen durchaus gute Gründe für die Annahme geben, dass eine quantita-
tive Abwägung zwischen verschiedenen Menschenleben unzulässig ist.
80
Vgl. etwa Hörnle/Wohlers, GA 2018, S. 12 (15), die unter anderem aufgrund technischer
Erwägungen Kritik übt, aber im Ergebnis gleichwohl davon ausgeht, dass das geltende Recht
(in einer dem Weichenstellerfall ähnlichen Konstellation) ein Unterlassen fordert.
81
Vgl. etwa Welzel, ZStW 63 (1951), S. 47 (51), dem zufolge der „Beamte, der das Um-
stellen der Weiche unterläßt, […] nicht nur rechtlich, sondern auch ethisch eklatant unrichtig“
handelt.
902 Milan Kuhli

a) Durchdachte Entscheidung?

Die wenigsten Menschen werden für sich verbindlich im Vorhinein festlegen, wie
sie sich in einer Notstandssituation verhalten würden. Eine Entscheidung über das
Verhalten dürfte in aller Regel erst innerhalb einer solchen Konstellation erfolgen.
Demgegenüber muss der Programmierer eines Roboters nicht in einer stressbeding-
ten Ausnahmesituation handeln, sondern kann überlegt tätig werden. Allerdings hat
diese Frage der Entscheidungssituation grundsätzlich keinen Einfluss darauf, welche
strafrechtlich relevanten Verhaltensnormen einschlägig sind:82 Einer möglicherwei-
se gegebenen emotionalen Reaktion auf eine Stress- und Paniksituation wird in aller
Regel auf der Schuldebene Rechnung getragen (z. B. im Rahmen von § 35 StGB83).

b) Entscheidung zwischen zwei Handlungen?

Zum Teil wird ein signifikanter Unterschied zwischen der Situation des Weichen-
stellers und der Situation des Programmierers darin gesehen, dass nur jener zwischen
einem Handeln (Weichenstellen) und einem Unterlassen (Durchfahrenlassen des
Zuges) zu entscheiden habe. Im Unterschied hierzu stehe der Programmierer, der
einen Algorithmus für eine Notstandssituation festlegt, ausschließlich vor der Ent-
scheidung zwischen verschiedenen Aktivitäten (Eingabe von Algorithmen unter-
schiedlichen Inhalts).84 Dementsprechend handele es sich bei der Frage der Program-
mierung um die Kollision verschiedener Unterlassungspflichten,85 auf welche die
obigen Überlegungen zur Kollision zwischen einer Handlungs- und einer Unterlas-
sungspflicht beim Weichensteller nicht ohne weiteres übertragbar sind. Allerdings
überzeugt die genannte Prämisse nicht. Die Wirkung der Programmierungsentschei-
dung entfaltet sich stets nur unter der zusätzlichen Voraussetzung, dass es später tat-
sächlich zu einer Notstandssituation kommt. Der Eintritt einer solchen Konstellation
ist im Zeitpunkt der Programmierung höchstens statistisch prognostizierbar, hängt
also in keiner Weise vom Verhalten des Programmierers ab. Dieser kann lediglich
für den Fall des Eintritts der Bedingung „Notstandssituation“ festlegen, ob das ein-
tretende Geschehen weiterhin unbeeinflusst bleiben soll86 oder ob es aktiv zu verän-
dern ist. Der maßgebliche Inhalt der Programmierung besteht also durchaus in der

82
Vgl. aber Hörnle/Wohlers, GA 2018, S. 12 (23 f.).
83
Vgl. hierzu Hörnle/Wohlers, GA 2018, S. 12 (14), die den Grund der von § 35 StGB
normierten Entschuldigung in den in Paniksituationen „typischen erheblichen kognitiven und
emotionalen Verzerrungen“ sehen, zugleich aber zutreffend darauf hinweisen, dass eine Ent-
schuldigung auch dann eintreten kann, „wenn bei einem ungewöhnlich besonnenen Menschen
keine stressbedingten Entscheidungsdefizite vorlägen“.
84
Vgl. Weigend, ZIS 2017, S. 599 (602 f.); Hörnle/Wohlers, GA 2018, S. 12 (23); Schuster,
Strafrechtliche Verantwortlichkeit der Hersteller beim automatisierten Fahren, in: DAR 2019,
S. 6 (11).
85
So explizit: Schuster, DAR 2019, S. 6 (11); Weigend, ZIS 2017, S. 599 (603).
86
Vgl. aber Weigend, ZIS 2017, S. 599 (602).
Roboterprogrammierung im Dilemma 903

Entscheidung zwischen einem Tun und einem Unterlassen.87 In dieser Hinsicht ent-
spricht die Programmierungssituation auch der Konstellation im Weichenstellerfall.

c) Risiko-Nutzen-Abwägung?

Aus einer moralphilosophischen Perspektive betonen Hevelke und Nida-Rümelin


jedoch eine andere Besonderheit der Entscheidungssituation des Programmierers:
Während in einer Konstellation nach Art des Weichenstellerfalles die Identität der
betroffenen Personen im Entscheidungszeitpunkt feststeht, sei dies bei der Program-
mierung eines selbstfahrenden Autos gerade nicht der Fall.88 Im maßgeblichen Ent-
scheidungszeitraum – also bei der Programmierung – werde für jedes einzelne Mit-
glied der Gesellschaft lediglich ein Risiko festgelegt, im Fall einer Notstandssitua-
tion getötet zu werden.89 Mit anderen Worten werde im Zeitpunkt der Programmie-
rung keine Abwägung zwischen individualisierbaren Leben vorgenommen, sondern
es werden Chancen und Risiken aller Gesellschaftsmitglieder festgelegt. Eine Pro-
grammierung, der zufolge in einer Notstandssituation die geringstmögliche Opferan-
zahl herbeizuführen ist, sei dabei im Interesse eines jeden Gesellschaftsmitglieds, so-
weit die Risiken aller hierdurch in gleicher Weise gesenkt werden. Aufgrund der im
Entscheidungszeitpunkt fehlenden Identifizierbarkeit späterer Opfer liege die Pro-
grammierung – im Zeitpunkt der Entscheidung – auch im Interesse derjenigen Per-
son, die später aufgrund der Programmierung in einer Notstandssituation zu Schaden
kommt.90 In dieser Hinsicht erinnert der Ansatz an Rawls’ gerechtigkeitstheoreti-
sches Gedankenexperiment des Schleiers des Nichtwissens.91
Was ist von dieser Risiko-Nutzen-Überlegung zu halten? Zunächst ist festzustel-
len, dass Hevelke und Nida-Rümelin grundsätzlich unabhängig von rechtlichen Re-
gelungen argumentieren.92 Allerdings lässt sich ihre Behauptung einer Risikosen-
kung93 in strafrechtsdogmatischer Hinsicht unter anderem als Annahme eines erlaub-
ten Risikos übersetzen.94 In Anknüpfung an Roxin wird vorliegend unter einem er-
87
Vgl. auch Feldle (Fn. 15), S. 161.
88
Hevelke/Nida-Rümelin, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 19 (2015), S. 5 (10 f.). Auf
den Aspekt der fehlenden Identifizierbarkeit rekurriert auch die vom Bundesverkehrsminis-
terium eingesetzte Ethikkommission „Automatisiertes und Vernetztes Fahren“, allerdings
lehnt sie es ab „daraus zu folgern, das Leben von Menschen sei in Notstandssituationen mit
dem anderer Menschen ,verrechenbar‘“ (Bericht [Fn. 14], S. 18); vgl. zur fehlenden Identifi-
zierbarkeit auch Schuster, DAR 2019, S. 6 (11).
89
Hevelke/Nida-Rümelin, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 19 (2015), S. 5 (10 f.).
90
Ebd., S. 5 (11 f.).
91
Vgl. hierzu Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit. Übers. v. Vetter, 2019, S. 159 ff.; auf
den Zusammenhang zwischen dem Schleier des Nichtwissens und dem Ansatz von Hevelke
und Nida-Rümelin weisen bereits hin: Feldle (Fn. 15), S. 190; Hilgendorf, ZStW 130 (2018),
S. 674 (694).
92
Vgl. auch Engländer, ZIS 2016, S. 608.
93
Hevelke/Nida-Rümelin, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 19 (2015), S. 5 (11 f.).
94
Vgl. Schuster, DAR 2019, S. 6 (11).
904 Milan Kuhli

laubten Risiko ein Verhalten verstanden, „das ein rechtlich relevantes Risiko schafft,
aber generell (unabhängig vom Einzelfall!) erlaubt ist und daher anders als die
Rechtfertigungsgründe schon die Zurechnung zum objektiven Tatbestand aus-
schließt“.95 In Bezug auf die hier interessierende Frage der Roboterprogrammierung
bedeutet dies in normentheoretischer Hinsicht Folgendes: Wäre eine aufgrund einer
Programmierung eingetretene Schädigung eines Verkehrsteilnehmers dem Program-
mierer objektiv nicht zurechenbar, so bestünde jedenfalls kein Verbot einer solchen
Programmierung.
Allerdings wurde bis hierhin offengelassen, ob die dargestellte Risiko-Nutzen-Er-
wägung überzeugen kann. Zu hinterfragen ist diesbezüglich zunächst die Prämisse,
der zufolge eine auf Minimierung der Opferzahl gerichtete Programmierung die Ri-
siken aller Gesellschaftsmitglieder tatsächlich reduzieren kann. Eine derartige Sen-
kung kommt von vornherein nämlich nur in Betracht, wenn man die autonome Mo-
bilität in Relation zum gegenwärtigen Automobilverkehr96 setzt.97 Zieht man hinge-
gen einen Vergleich mit einer autofreien Gesellschaft, so darf die Frage der Risiko-
senkung durchaus bezweifelt werden. Allerdings gibt es einen guten Grund, als
Bezugspunkt auf eine Gesellschaft mit Automobilverkehr abzustellen: Bei aller Pro-
blematik des gegenwärtigen Automobilverkehrs kann eine Lösung nicht in der Ab-
schaffung dieser Fortbewegungsart liegen. Eine autofreie Gesellschaft wäre nicht
wünschenswert, da hiervon auch gesellschaftlich notwendige Einrichtungen (wie
beispielsweise die Feuerwehr) betroffen wären.98 Zieht man im vorliegenden Kontext
also einen Vergleich zwischen autonomer Mobilität und dem gegenwärtigen Straßen-
verkehr, so ist es keineswegs auszuschließen, dass jene tatsächlich zu einer Reduk-
tion des Risikos führen kann.99
Gegen die oben dargestellte Risiko-Nutzen-Überlegung lässt sich jedoch einwen-
den, dass das Risiko und der Nutzen autonomer Mobilität in einer Gesellschaft kei-
neswegs gleichmäßig verteilt sind, da Art und Umfang der Teilnahme am Straßen-
verkehr von Mensch zu Mensch erheblich variieren können.100 Allerdings ist zu be-
95
Roxin (Fn. 44), § 11 Rn. 66; vgl. darüber hinaus aber auch Roxins Überblick zu den
weiteren Ansichten zur dogmatischen Behandlung erlaubter Risiken: ebd., § 11 Rn. 65
(m.w.N.).
96
Soweit in diesem Kontext von Autos oder Automobilen die Rede ist, werden damit auch
Motorräder, Lastkraftwagen etc. gemeint.
97
Vgl. hierzu die vom Bundesverkehrsministerium eingesetzte Ethikkommission „Auto-
matisiertes und Vernetztes Fahren“: Die Zulassung von automatisierten Systemen ist nur
vertretbar, wenn sie im Vergleich zu menschlichen Fahrleistungen zumindest eine Verminde-
rung von Schäden im Sinne einer positiven Risikobilanz verspricht.“ (Bericht [Fn. 14], S. 10).
98
Zutreffend Jakobs (Fn. 74), Abschnitt 7 Rn. 35: „Wenn man als Passant vor restlos jeg-
licher Gefährdung durch Kraftfahrzeuge verschont sein will, kann ein auf dem Dorf woh-
nender Kranker nicht erwarten, daß der Arzt trotz Glatteisgefahr zur Hausvisite kommt. Schon
zur Erhaltung eines differenzierten Angebots an Möglichkeiten sozialen Kontakts müssen also
einige Enttäuschungsmöglichkeiten in Kauf genommen werden.“
99
Dass sich gegenwärtig noch erhebliche technische Hürden stellen, ändert hieran nichts.
100
Hilgendorf, ZStW 130 (2018), S. 674 (694).
Roboterprogrammierung im Dilemma 905

rücksichtigen, dass dieser Umstand grundsätzlich von eigenverantwortlichen Ent-


scheidungen der Betroffenen abhängt. Er ändert also nichts daran, dass jedes Gesell-
schaftsmitglied zumindest im Prinzip die gleiche Möglichkeit hat, am Straßenver-
kehr teilzunehmen. Allerdings ließen sich hiergegen wiederum Einwände fehlender
Chancengleichheit erheben, denen nur durch eine Normativierung begegnet werden
kann.101 Hierauf muss aber im Folgenden nicht weiter eingegangen werden, da die
dargestellte Risiko-Nutzen-Erwägung bereits aus einem anderen Grund abzulehnen
ist.
Die Annahme eines bloßen Risikos weist einen personellen und einen temporären
Bezugspunkt auf: Sie rekurriert nämlich auf die Perspektive des potenziellen Opfers,
und zwar im Zeitpunkt der Programmierung. Ein solcher temporärer Bezugspunkt
dürfte vorliegend durchaus maßgeblich sein, da die Anwendung der situativen Ver-
haltensnorm im Zeitpunkt der Programmierung stattfindet. Allerdings überzeugt der
von Hevelke und Nida-Rümelin gewählte personelle Bezugspunkt nicht: Stellt man
nämlich stattdessen auf die Perspektive des Programmierers ab, so muss konstatiert
werden, dass er im Zeitpunkt der Programmierung durchaus eine Entscheidung zwi-
schen verschiedenen menschlichen Leben vornimmt. In dieser Hinsicht ist es uner-
heblich, dass die Identität derjenigen Personen unbekannt ist, die in Zukunft von der
Programmierungsentscheidung betroffen sein werden. Diejenigen Aspekte nämlich,
die für die (oben beim Weichenstellerfall beleuchtete) Frage der strafrechtlichen
Rechtfertigung bedeutsam sind, sind im Zeitpunkt der Programmierung durchaus be-
kannt.102 Eine Programmierungsentscheidung, stets die geringstmögliche Anzahl
von Opfern auszuwählen, würde nämlich in entsprechenden Notstandskonstellatio-
nen auch die Tötung Unbeteiligter implizieren. Durch eine solche Programmierungs-
entscheidung fände aber im Einzelfall gerade eine – mit diesem Ergebnis unzulässige
– Abwägung103 zwischen dem menschlichen Leben eines Unbeteiligten104 und dem
menschlichen Leben einer bereits gefährdeten Personengruppe statt.105
Das eben Gesagte impliziert zugleich auch die Annahme, dass der einzig verblie-
bene Unsicherheitsfaktor – die Frage nämlich, ob es überhaupt beim späteren Robo-
101
Soweit man etwa einwendet, dass nicht alle Menschen in gleicher Weise am Straßen-
verkehr teilnehmen dürfen (z. B. Kinder, die nicht Autofahren dürfen), wäre zu entgegnen,
dass die Gleichheit der Möglichkeit der Straßenverkehrsteilnahme auf den Lebenslauf bezo-
gen ist. Allerdings verlangt auch diese Annahme eine Normativierung, die etwa Fragen der
unterschiedlichen körperlichen Konstitution und Lebenserwartung vernachlässigt.
102
Vgl. auch Feldle (Fn. 15), S. 191; Hilgendorf, ZStW 130 (2018), S. 674 (693).
103
Dieser Abwägungscharakter begründet einen entscheidenden Unterschied zu den von
Hevelke/Nida-Rümelin (Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 19 [2015], S. 5 [11]) verglei-
chend herangezogenen Konstellationen, in denen ein Patient bei einer Impfung zu Schaden
kommt (vgl. auch Feldle [Fn. 15], S. 191 f.; vgl. überdies in Bezug auf fehlzündende Airbags:
Hörnle/Wohlers, GA 2018, S. 12 [20]; vgl. aber auch Hilgendorf, ZStW 130 [2018], S. 674
[699 ff.]).
104
Im eingangs gewählten Beispielsfall ist das der auf dem Bürgersteig laufende Spazier-
gänger.
105
Dies sind im obigen Beispielsfall der bewusstlose Radfahrer und das Kind.
906 Milan Kuhli

tereinsatz zu einer Notstandssituation kommt – im vorliegenden Kontext unerheblich


ist. Jedenfalls die entsprechende Handlungsnorm („Gestalte das Programm in einer
Weise, dass X passiert!“) wird hierdurch nicht berührt, mag ein Verstoß gegen diese
Norm auch nur im Fall eines tatbestandlichen Erfolges sanktionierbar sein. Damit
lässt sich also feststellen, dass bei der Programmierung letztlich keine rechtlich re-
levante Unsicherheit besteht, auf die eine Risiko-Nutzen-Abwägung gestützt werden
könnte. Tatsächlich geht es stets um die bewusste Abwägung zwischen Menschen-
leben, die nicht zulasten eines Unbeteiligten ausfallen darf.106

V. Schlussbetrachtung
Die Kontexte, in denen ein Roboterprogrammierer und ein Weichensteller Ent-
scheidungen treffen, weichen im Hinblick auf Notstandssituationen nicht signifikant
voneinander ab. Erstens entscheiden beide Personen zwischen einer Handlung und
einem Unterlassen, zweitens treffen beide eine Entscheidung zwischen menschli-
chen Leben. Die einzigen Unterschiede der jeweiligen Entscheidungssituation be-
treffen die zeitliche Vorverlagerung der Programmierung im Vergleich zur Entschei-
dung des Weichenstellers sowie den Umstand, dass der Weichenstellerfall eine Pa-
nikreaktion implizieren kann, wohingegen dies beim Programmierer in der Regel
nicht der Fall sein dürfte. Allerdings führen diese Umstände nicht zur Anwendbarkeit
divergierender Verhaltensnormen:107 Einer emotionalen Reaktion auf eine Stress-
und Paniksituation wird in aller Regel erst auf der Schuldebene Rechnung getra-
gen.108 Es ist daher festzuhalten, dass die Programmierung eines Roboters für Not-
standssituationen mit Unbeteiligten derjenigen Entscheidung entsprechen muss, die
die Rechtsordnung im Weichenstellerfall verlangt.109
Es bleibt zuzugeben, dass die hier vorgestellte Notstandskonstellation in der Pra-
xis höchst selten auftreten dürfte. Jedoch ändert dieser Umstand nichts an der Not-
wendigkeit einer Entscheidungsfindung. Der Einsatz von Robotern nötigt sogar
dazu, bereits im Stadium der Programmierung Entscheidungen zu treffen, die an-
dernfalls von einem Menschen erst in einer Notstandssituation gefällt werden müss-
ten.110 Es wäre jedoch ein vorschnelles Urteil, wollte man aus den vorstehenden Aus-
106
Eine solche Abwägung könnte auch nicht unter die Rechtsfigur des erlaubten Risikos
gefasst werden (vgl. Feldle [Fn. 15], S. 250; a.A. Schuster, DAR 2019, S. 6 [11]); vgl. in
diesem Kontext auch oben Fn. 103.
107
Vgl. aber Hörnle/Wohlers, GA 2018, S. 12 (23 f.).
108
Vgl. hierzu oben Fn. 83.
109
Vgl. auch Engländer, ZIS 2016, S. 608 (613).
110
Möglicherweise ist dies der Grund für den von Hilgendorf festgestellten Umstand,
wonach „sich die öffentliche Diskussion um das automatisierte und vernetzte Fahren nicht
[…] an den dadurch eröffneten Möglichkeiten weitreichender paternalistischer Eingriffe in die
Freiheit der Mobilität oder an den Gefahren von Cyberangriffen auf den vernetzten Straßen-
verkehr entzündete, sondern an […] dem Dilemma-Problem“ (Hilgendorf, ZStW 130 [2018],
S. 674 [681 f.]).
Roboterprogrammierung im Dilemma 907

führungen die Schlussfolgerung ziehen, dass die Programmierung von Robotern


keine signifikanten neuen Herausforderungen für das Strafrecht und das Strafpro-
zessrecht begründet. Ein solcher Befund würde nämlich mindestens drei Aspekte
vernachlässigen: Die erste Herausforderung gilt den normativen Anforderungen
an die Sorgfaltsplichten bei der Programmierung von Robotern, insbesondere in
Bezug auf den Vorgang des maschinellen Lernens. Die zweite Herausforderung be-
trifft die Frage der Beweisbarkeit von Roboterprogrammierungen – ein Problem, das
sich möglicherweise aber durch die Einführung einer einheitlichen Standardpro-
grammierung entschärfen ließe. Dem Grunde nach zu begrüßen ist deshalb auch
der in der Vergangenheit vom Bundesverkehrsministerium eingeschlagene Weg,
eine Ethikkommission im Bereich des automatisierten Fahrens einzusetzen111 –
mögen die dort entwickelten Leitlinien mitunter auch kritikwürdig erscheinen.112
Die dritte Herausforderung betrifft die Aspekte der Internationalisierung und Globa-
lisierung.113 In dem Maße nämlich, in dem Roboter grenzüberschreitend eingesetzt
werden, erscheint es notwendig, die Rechtmäßigkeit einer Programmierungsent-
scheidung in jedem betroffenen Land sicherzustellen. Es spricht jedoch einiges
dafür, dass auch diese Herausforderung bewältigt werden kann.

111
Ethikkommission „Automatisiertes und Vernetztes Fahren“ (vgl. hierzu den Bericht
[Fn. 14]).
112
Vgl. etwa in Bezug auf die ethische Regel Nr. 9 (Ethikkommission „Automatisiertes
und Vernetztes Fahren“, Bericht [Fn. 14], S. 11) die Kritik bei: Hörnle/Wohlers, GA 2018,
S. 12 (20 ff.).
113
Vgl. hierzu Feldle (Fn. 15), S. 215 f., 249.
Die Haftungsfreistellung des „Whistleblowers“
nach § 5 Nr. 2 GeschGehG –
eine gelungene Regelung?
Von Thomas Rönnau

I. Problemaufriss
Einen thematischen Anknüpfungspunkt zum wissenschaftlichen Lebenswerk des
Jubilars zu finden, fällt nicht schwer. Reinhard Merkel ist Strafrechtler und Philosoph
(mit zuletzt starkem Fokus auf die Bio-/Neuroethik), der als journalistisch geschulter
Autor in fesselndem Stil in all seinen Forschungsgebieten tiefschürfende und weiter-
führende Beiträge verfasst hat und sich auch nicht scheut, in der Diskussion einmal
unbequeme Positionen zu beziehen. Natürlich hat er auch zu Unrecht und Schuld als
Grundvoraussetzungen der Strafbarkeit geschrieben. Bei seinem Interesse an der Un-
rechtslehre möchte ich einhaken und den Blick auf ein Thema lenken, das in den letz-
ten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat – das Whistleblowing!
Angesprochen ist das Verhalten von behörden- bzw. unternehmensangehörigen
Personen, die „in die Pfeife blasen“, um im Wege organisationsinterner oder -ex-
terner Weitergabe von Informationen in ihrem Arbeitsbereich auf Missstände un-
terschiedlichster Art aufmerksam zu machen1 – und damit regelmäßig hohe persön-
liche und wirtschaftliche Risiken eingehen (Kündigung, strafrechtliche Verfol-
gung, finanzieller Ruin). Das Phänomen des Whistleblowing begegnet nicht nur
in spektakulären (staatsgeheimnisbezogenen) Enthüllungsfällen à la Edward
Snowden (NSA-Abhörskandal) oder Chelsea Manning (Offenlegung vertraulicher
Militär- und Diplomatenunterlagen)2, sondern auch und gerade im behördlichen
und unternehmerischen Alltag. Verfahren zur Annahme von Meldungen über po-
tenzielle oder tatsächliche Verstöße gegen geltendes Recht oder über sonstiges
Fehlverhalten finden sich mittlerweile in vielen Bereichen des wirtschaftlichen Le-
bens und der Verwaltung. Hinweisgebersysteme werden dabei einmal als ein wich-
tiges Mittel korporativer Selbstregulierung, darüber hinaus aber auch als ein viel-
1
Näher zu Begriff und Definition des Whistleblowing Soppa, Die Strafbarkeit des
Whistleblowers, 2017, S. 27 ff. und Rotsch/Wagner, in: Rotsch (Hrsg.), Handbuch Criminal
Compliance, 2014, § 34 C Rn. 2 ff.
2
Dazu und zu weiteren einschlägigen Fallbeispielen Soppa (Fn. 1), S. 13 ff.; auch Ullrich,
NZWiSt 2019, 55 sowie Gorris/Pfister u. a., in: Der Spiegel 47/2019, 12 ff. („Die fünfte
Macht“).
910 Thomas Rönnau

versprechendes Instrument effektiver Rechtsdurchsetzung verstanden.3 Im Span-


nungsfeld der durch Whistleblowing berührten Interessen von Unternehmen,
Staat, Medien und Bürger/Zivilgesellschaft ist der Schutz des Hinweisgebers
aber weiterhin international recht verschieden und national häufig defizitär ausge-
staltet.4 Das Bild wird bestimmt durch vereinzelte sektorspezifische Vorschriften,
die – am Beispiel Deutschlands – etwa im Kapitalmarktrecht, Kartellrecht oder
Geldwäschegesetz verankert sind.5 Es verwundert nicht, dass bei diesem Befund
die (Reform-)Diskussion über die Ausweitung und Vereinheitlichung der Whist-
leblowing-Regelungen angesichts verschiedener Affären (Finanzkrise, „Dieselga-
te“, Massenüberwachung durch Geheimdienste) andauert.6 Jüngste Frucht der uni-
onsweiten Forderung nach einem verbesserten Hinweisgeberschutz ist eine Vor-
schrift aus der Geschäftsgeheimnisschutzrichtlinie 2016/943/EU7 (im Weiteren:
Know-how-RL), die in Deutschland durch das Gesetz zum Schutz von Geschäfts-
geheimnissen (GeschGehG)8 umgesetzt wurde.9 Allein um die darin jeweils enthal-
3
Meyer, HRRS 2018, 322; Rahimi Azar, JuS (Sonderheft Compliance) 2017, 930; Maume/
Haffke, ZIP 2016, 199, 200 m. w. Nachw.
4
Nachweise bei Meyer, HRRS 2018, 322 in Fn. 1. Dort auf den S. 324 ff. auch instruktiv
zum im Hintergrund stehenden mehrpoligen Grundrechtsverhältnis und den betroffenen In-
teressen; s. weiterhin Gerdemann, RdA 2019, 16, 19. Bei der Bewertung von Whistleblowing
darf zudem die Kultur und Historie des jeweiligen Landes nicht unberücksichtigt bleiben, die
Einschätzungen von „zivilgesellschaftlichem Heros“ bis hin zum „Denunzianten“, „Verräter“
oder „Nestbeschmutzer“ vorprägt.
5
Vgl. Schiemann, in: FS Wessing, 2015, S. 569 f., 574; Schmitt, RdA, 2017, 365, 372;
Garden/Hiéramente, BB 2019, 963, 965; Gerdemann, RdA 2019, 16, 19; Thüsing/Rombey,
NZG 2018, 1001, 1002. Als Beispiele seien nur genannt § 25a Abs. 1 S. 6 Nr. 3 KWG; § 4d
Abs. 6 S. 6 FinDAG; § 53 Abs. 5 GWG; §§ 16 Abs. 1, 17 Abs. 2 ArbSchG; § 84 BetrVG; § 67
Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BBG; § 37 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BeamtStG.
6
Nachw. zu bisherigen (gescheiterten) deutschen Gesetzesvorhaben zur Regelung des
Whistleblowing bei Eufinger, ZRP 2016, 229, 230; Garden/Hiéramente, BB 2019, 963, 965;
Reinhardt-Kasperek/Kaindl, BB 2018, 1332; Soppa (Fn. 1), S. 90 ff., 228.
7
Richtlinie (EU) 2016/943 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. 6. 2016
über den Schutz vertraulichen Know-hows und vertraulicher Geschäftsinformationen (Ge-
schäftsgeheimnisse) vor rechtswidrigem Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung und Offenle-
gung, ABl. L 157 v. 15. 6. 2016, S. 1; in Kraft getreten am 5. 7. 2016.
8
Als Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/943 zum Schutz von
Geschäftsgeheimnissen vor rechtswidrigem Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung und Of-
fenlegung v. 18. April 2019, BGBl. I, S. 466; in Kraft getreten am 26. 4. 2019.
9
Mittlerweile ist auf europäischer Ebene auch der Gesetzgebungsprozess zur Richtlinie
zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden („Whistleblower-
Richtlinie“, nachfolgend: WBRL), abgeschlossen. Nach intensiven Diskussionen hatten sich
hier Parlament und Rat am 11. 3. 2019 auf einen vorläufigen Kompromiss geeinigt; am 16. 4.
2019 hat das Europaparlament die Richtlinie verabschiedet (COM [2018] 0218 – C8-0159/
2018 – 2018/0160 [COD]). Nach Zustimmung der EU-Staaten am 7. 10. 2019 ist die WBRL
(Richtlinie [EU] 2019/1937 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23. 10. 2019 zum
Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, ABl. L 305 v. 26. 11. 2019,
S. 17) am 16. 12. 2019 in Kraft getreten. Ihr Ziel ist die unionsweite Neuregelung des Whist-
leblower-Schutzes für unionsrechtsbezogene Verstoßmeldungen. Einen Überblick und erste
Bewertungen zur WBRL von Dilling, CCZ 2019, 214 ff., Gerdemann, RdA 2019, 16 ff. und
Haftungsfreistellung des „Whistleblowers“ nach § 5 Nr. 2 GeschGehG 911

tene Whistleblower-Regelung (Art. 5 lit. b) Know-how-RL bzw. § 5 Nr. 2 Gesch-


GehG) soll es im Folgenden gehen.10 Dabei wird sich zeigen, dass schon die ein-
schlägige Richtlinien-Vorgabe, jedenfalls aber die korrespondierende deutsche
Umsetzungsnorm, erhebliche Probleme aufweist. In diesem Zusammenhang ist
auch der vorgesehene Whistleblower-Entlastungsmechanismus (Tatbestandsaus-
schluss- oder Rechtfertigungsgrund?) – und damit die Unrechtslehre – zu behan-
deln. Bevor diese Besonderheiten (unter IV.) in den Blick genommen werden, müs-
sen aber zum besseren Verständnis kurz das Grundkonzept des GeschGehG skiz-
ziert (unter II.) und im Weiteren die Voraussetzungen eines Geschäftsgeheimnisses
(als Zentralbegriff der Regelungsmaterie) geklärt werden (unter III.). Ein Fazit
unter V. schließt den Beitrag.

II. Der Geschäftsgeheimnisschutz im neuen Gewande –


eine Skizze
Das mit breiter Mehrheit am 21. 3. 2019 vom Bundestag beschlossene und am
26. 4. 2019 in Kraft getretene GeschGehG setzt – mit deutlicher Verspätung11 – die
Know-how-RL 2016/943 vom 8. 6. 2016 um. Letztere reagiert auf einen auf europäi-
scher Ebene vorfindlichen zersplitterten Geheimnisschutz12 und verpflichtet die Mit-
gliedstaaten zu einem einheitlichen zivilrechtlichen Mindeststandard für den Schutz
von Geschäftsgeheimnissen13; gleichzeitig adressiert sie aber auch die Frage, unter
welchen Voraussetzungen die Offenbarung von Geschäftsgeheimnissen zur Aufde-
ckung illegaler oder regelwidriger Aktivitäten zulässig ist.14 Ziel ist die Schaffung
eines regulatorischen Umfeldes im europäischen Binnenmarkt, das Anreize zur Auf-
nahme grenzüberschreitender Innovationstätigkeiten setzt. Angestrebt wird damit

Garden/Hiéramente, BB 2019, 963 ff. Die Vorgaben der Richtlinie müssen durch den deut-
schen Gesetzgeber binnen Zweijahresfrist (Art. 26) umgesetzt werden (also bis zum 17. 12.
2021).
10
Das Generalthema „Whistleblowing“ ist als Querschnittsmaterie für einen Festschrifts-
beitrag einfach zu groß. Behandelt wird daher im Text nur die Frage, unter welchen Voraus-
setzungen ausnahmsweise einmal die Aufdeckung von Geschäftsgeheimnissen erlaubt ist, also
gleichsam die „kleine Lösung“ innerhalb des Gesamtpanoramas.
11
Die Know-how-RL war bis zum 9. 6. 2018 in nationales Recht umzusetzen. Zu den
Verzögerungsgründen Thiel, WRP 2019, 700 und Hauck, WRP 2018, 1032, 1033 m. Fn. 5.
12
Vgl. Ohly, GRUR 2019, 441 m. Nachw. in Fn. 4.
13
Erwgr. 10 der Know-how-RL; Schmitt, RdA 2017, 365, 366, 368; Dann/Markgraf,
NJW 2019, 1774. Teilweise ist die Richtlinie aber auch vollharmonisierend ausgestaltet, s.
dazu die in Art. 1 Abs. 1 UAbs. 2 genannten Vorschriften (hier insbesondere die materiell-
rechtlichen Kernvorschriften zu den erlaubten Verhaltensweisen [Art. 3 Know-how-RL und
§ 3 GeschGehG] und zu den Ausnahmen [Art. 5 Know-how-RL und § 5 GeschGehG]) sowie
Alexander, WRP 2019, 673 f. sowie die Nachw. in Fn. 56.
14
Vgl. Art. 5 und Erwg. 20 der Know-how-RL.
912 Thomas Rönnau

die bestmögliche Ausschöpfung des Potenzials von Geschäftsgeheimnissen, die als


Triebkräfte für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung wirken sollen.15
Mit der Einführung des neuen GeschGehG – als Herzstück des Richtlinien-Um-
setzungsgesetzes – ändert sich der Schutz von Geschäftsgeheimnissen grundlegend
(„vollständiger Systemwechsel“16). An die Stelle des bisher im Kern strafrechtlich
abgesicherten Geheimnisschutzes unter Rückgriff auf die §§ 17 – 19 UWG (die als
veraltet und lückenhaft eingestuft wurden17) tritt ein eigenes zivilrechtliches
„Stammgesetz“, das – erstmalig im deutschen Recht18 – den Begriff des Geschäfts-
geheimnisses legal definiert (§ 2 Nr. 1 GeschGehG), Verletzungshandlungen und
Schranken bestimmt (§§ 3 – 5 GeschGehG), eigene Ansprüche bei Rechtsverletzun-
gen vorsieht und das Verfahren in Geschäftsgeheimnisstreitsachen regelt (§§ 15 – 22
GeschGehG).19 Strafrechtlich flankiert wird der Geheimnisschutz (nur noch) in § 23
GeschGehG, der zivilrechtsakzessorisch ausgestaltet ist und im Wesentlichen den
§§ 17 – 19 UWG a. F. entspricht.20 Zumindest teilweise abgelöst werden soll damit
das für den Geheimnisschutz bisher typische unübersichtliche Nebeneinander von
Strafrecht, Lauterkeitsrecht, geistigem Eigentum, Arbeits- und Vertragsrecht und
die damit verknüpfte Zuständigkeit unterschiedlicher Gerichtszweige.21
Das GeschGehG orientiert sich im Aufbau stark an der umzusetzenden Know-
how-RL, wenngleich es einige bedeutsame Abweichungen gibt.22 Der deutsche Ge-
setzgeber reagierte mit den Änderungen auf teils heftige Kritik, die während des Ge-
setzgebungsprozesses insbesondere von den Arbeitnehmer- und Medienvertretern
vorgetragen wurde und vor allem die möglicherweise zu weit gehenden Beschrän-

15
S. Erwgr. 4 der Know-how-RL.
16
So Hoppe/Oldekop, GRUR-Prax 2019, 324. Änderungsbedarf sahen nach Inkrafttreten
der Know-how-RL viele, vgl. nur Kalbfus, GRUR 2016, 1009 f. (m. w. Nachw.): Es spricht
einiges dafür, „den bestehenden strafrechtlich geprägten Regelungsansatz des deutschen
Rechts aufzubrechen und im Zuge der Richtlinienumsetzung ein kohärentes originär zivil-
rechtliches Schutzsystem (ggf. mit punktueller Ergänzung durch Straftatbestände) zu eta-
blieren“.
17
Teilweise beruhte die strafrechtliche Regelungstechnik der §§ 17 – 19 UWG noch auf
dem ersten deutschen UWG von 1896. Zur Kritik an der bisherigen Rechtslage Ohly, GRUR
2014, 1, 4 ff.; auch ders., GRUR 2019, 441; zustimmend McGuire, GRUR 2016, 1000,
1001 ff.
18
Statt vieler Maaßen, GRUR 2019, 352.
19
Ohly, GRUR 2019, 441.
20
BT-Drs. 19/4724, S. 40; Dann/Markgraf, NJW 2019, 1774, 1778; Hohmann/Schreiner,
StraFo 2019, 441; Ernst, MDR 2019, 897, 902; krit. zum strafrechtlichen Regelungsansatz
Brammsen, wistra 2018, 449, 450 f.
21
Ohly, GRUR 2019, 441. Allerdings beantwortet weder die Know-how-RL noch das
GeschGehG die Frage nach der Rechtsnatur des geschützten Geheimnisses eindeutig; näher
dazu Alexander, WRP 2019, 673, 674 f. m. w. Nachw.
22
Die nach Auffassung vieler noch zu Auslegungsproblemen führen werden, s. nur Hauck,
GRUR-Prax 2019, 223; Ohly, GRUR 2019, 441.
Haftungsfreistellung des „Whistleblowers“ nach § 5 Nr. 2 GeschGehG 913

kungen des Whistleblowing und der Arbeit investigativ tätiger Journalisten betraf.23
Im Wesentlichen empfahl der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz eine Er-
gänzung der Definition des Geschäftsgeheimnisses (gem. § 2 GeschGehG) sowie
Umformulierungen der in § 5 GeschGehG enthaltenen Ausnahmetatbestände,24
die in der vorgeschlagenen Form nach Verabschiedung durch den Bundestag auch
Gesetz wurden.25 Den Änderungen wird bei der nachfolgenden Prüfung der Recht-
mäßigkeit des Whistleblowing noch eine wichtige Rolle zukommen. Ob sich – wie
erstrebt – durch die neue rechtliche Ausgestaltung des Whistleblowing die Position
des Hinweisgebers deutlich verbessert hat, der bisher angesichts notwendiger Abwä-
gungen im Einzelfall26 (nach h. M.: auf Rechtfertigungsebene) mit erheblichen
Rechtsunsicherheiten konfrontiert war,27 ist zu bezweifeln – und später zu erörtern.

III. Voraussetzungen des Geschäftsgeheimnisses


gem. § 2 Nr. 1 GeschGehG, insbesondere:
Fallen „illegale Geheimnisse“ noch darunter?
Hauptanliegen des GeschGehG ist es, Geschäftsgeheimnisse vor rechtswidrigem
Zugriff, rechtswidriger Offenlegung und rechtswidriger Nutzung zu schützen.28 Es-
sentiell für die Anwendbarkeit des – im Kern zivilrechtlich ausgerichteten – Gesetzes
ist die Definition des Begriffs „Geschäftsgeheimnis“, da diese den eigentlichen
Schutzgegenstand festlegt. Der neue, in § 2 Nr. 1 GeschGehG legal festgeschriebene
Geheimnisbegriff ersetzt dabei den bisherigen, in der Geltungszeit des § 17 UWG
a.F. richterrechtlich entwickelten Begriff. Es ist hier nicht der Platz, die schon bisher
und absehbar auch zukünftig viel erörterten Details des Geschäftsgeheimnisbegriffs

23
Dazu nur die Stellungnahmen der Sachverständigen Böning und Partsch im Rahmen der
Anhörung vor dem Rechtsausschuss am 12. 12. 2018, BT-Prot.-Nr. 19/30, S. 17, 47 ff. und
S. 13 f., 108 ff. Die Debatte spiegelte dabei (nach Ohly, GRUR 2019, 441) die Diskussion im
Europäischen Parlament wider, in der kaum über die wirtschaftlich wichtigen Fragen (etwa die
Ansprüche oder die Ausgestaltung des Verfahrens) gestritten wurde.
24
BT-Drs. 19/8300, S. 4 f., 11 ff. Eingefügt wurde in § 23 GeschGehG auch ein Absatz 6,
der die fehlende Rechtswidrigkeit bestimmter Beihilfehandlungen von Medienvertretern vor-
schreibt.
25
Überblick zum Gesetzgebungsverfahren bei Alexander, WRP 2019, 673, 674 und
Schreiber, NZWiSt 2019, 332, 333 f.
26
Ob der vorsätzlich Geschäftsgeheimnisse preisgebende Whistleblower „unbefugt“ i.S.d.
§ 17 UWG handelt, war nach alter Rechtslage umstritten. Die h. M. machte das (gerade beim
externen Whistleblowing) davon abhängig, ob die Voraussetzungen des rechtfertigenden
Notstandes gem. § 34 StGB vorlagen; s. statt vieler Rahimi Azar, JuS (Sonderheft Compli-
ance) 2017, 930, 934 f.; Tiedemann/Rönnau, in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, § 85 Rn. 43;
Späth, Rechtfertigungsgründe im Wirtschaftsstrafrecht, 2016, S. 283 ff. – alle m. w. Nachw.
27
So etwa Eufinger, ZRP 2016, 229, 230; Wiedmann/Seyfert, CCZ 2019, 12, 13 f.; Schie-
mann, in: FS Wessing, 2015, S. 569, 576.
28
Vgl. BT-Drs. 19/4724, S. 1 f., 19, 23 und passim.
914 Thomas Rönnau

zu diskutieren.29 Nachfolgend sollen in diesem Zusammenhang vielmehr nur zwei


Facetten behandelt werden, die einen unmittelbaren Bezug zum Beitragsthema,
also der Haftungsfreistellung des Whistleblowers nach GeschGehG, haben. Da
wäre zunächst die Frage nach Funktion und Berechtigung des (Sub-)Merkmals „be-
rechtigtes Interesse an der Geheimhaltung“, das noch in der Schlussphase des Ge-
setzgebungsprozesses dem Geschäftsgeheimnisbegriff als zusätzliche Vorausset-
zung (Nr. 1 c)) eingepflanzt wurde. Zudem ist zu klären, ob „illegale Geheimnisse“
– in Fortführung der bisherigen h.M.30 – auch weiterhin in den Anwendungs- und
Schutzbereich des GeschGehG fallen. Wird das verneint, erübrigt sich jede Erörte-
rung eines Unrechtsausschlusses bei Geheimnisoffenbarungen durch den Hinweis-
geber.

1. „Berechtigtes Geheimhaltungsinteresse“ als Voraussetzung


des Geschäftsgeheimnisses?

Nach überkommener, zu § 17 UWG a. F. von der Rechtsprechung aufgebauter


Dogmatik war eine Information geschützt, wenn sie sich auf ein Unternehmen
bezog, nicht offenkundig und vom Geheimhaltungswillen des Inhabers getragen
war, der ein Geheimhaltungsinteresse hatte.31 Der neue Geschäftsgeheimnisbegriff
des GeschGehG ist zunächst (noch im Regierungsentwurf) in starker Anlehnung
an Art. 2 Nr. 1 Know-how-RL gebildet worden.32 Die Richtlinie, die ihrerseits nahe-
zu wörtlich den Begriff der „nicht offenbarten Information“ aus Art. 39 Abs. 2 des
TRIPS-Übereinkommens33 übernommen hat,34 setzt für die Einordnung einer Infor-
mation als Geschäftsgeheimnis i.S.d. Art. 2 Nr. 1 kumulativ dreierlei voraus: Es
muss sich (1) um geheime Informationen handeln, die (2) von kommerziellem
Wert sind, weil sie geheim sind, und die (3) Gegenstand von den Umständen nach
entsprechenden Geheimhaltungsmaßnahmen sind. Diese Voraussetzungstrias findet

29
S. zur alten Rechtslage nur Ohly, in: Ohly/Sosnitza, UWG, 7. Aufl. 2016, § 17 Rn. 5 –
12; zum GeschGehG Ohly, GRUR 2019, 441, 442 ff.; Hohmann, in: MüKo-StGB, Beilage zu
Bd. 7, 3. Aufl. 2019, § 23 GeschGehG Rn. 19 – 42.
30
Dazu Tiedemann/Rönnau, in: Scholz (Fn. 26), § 85 Rn. 19 f. m. w. Nachw.
31
Vgl. nur BGH GRUR 2018, 1161 Rn. 28 – „Hohlfasermembranspinnanlage II“ und
Ohly, in: Ohly/Sosnitza, § 17 Rn. 5 – beide m. w. Nachw.
32
BT-Drs. 19/4724, S. 24 f. Aus dem Schrifttum s. nur Hauck, GRUR-Prax 2019, 223.
33
Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte des Rechts des geistigen Eigentums,
BGBl. 1994 II, S. 1438, 1730 – TRIPS. An dieses gemeinsame, internationale Standards
verbürgende Abkommen sind alle EU-Mitgliedstaaten wie auch die Union als Ganzes durch
den Ratsbeschluss 94/800/EG gebunden (s. Erwg. 5 der Know-how-RL). Obwohl das bishe-
rige deutsche Recht verschiedentlich von Art. 39 Abs. 2 TRIPS abweicht, war es „weitgehend
mit dem Völkerrecht vereinbar“, da das Abkommen nur einen Mindeststandard setzt (Art. 1
Abs. 1 S. 2 TRIPS), ein Mehr an nationalem Schutz also möglich ist, vgl. Ohly, in: Ohly/
Sosnitza, Vor §§ 17 – 19 Rn. 6; ders., GRUR 2014, 1, 4.
34
BT-Drs. 19/4724, S. 24; Ohly, GRUR 2019, 441, 442.
Haftungsfreistellung des „Whistleblowers“ nach § 5 Nr. 2 GeschGehG 915

sich jetzt der Sache nach – allerdings neu gegliedert35 – auch in § 2 Nr. 1a) und b)
GeschGehG wieder.36 Abweichend von der Know-how-RL hat der Rechtsausschuss
des Deutschen Bundestages allerdings in der Schlussphase des Projekts mit dem in
§ 2 Nr. 1 c) GeschGehG aufgeführten „berechtigten Interesse an der Geheimhaltung“
eine – nach deutscher Zählung – dritte Voraussetzung hinzugefügt. Grund für die Er-
gänzung war – wie schon erwähnt – die Befürchtung von Gewerkschaften und Me-
dien, dass Beschäftigteninteressen (etwa bezüglich Informationen über Werkschlie-
ßungen, Personalabbau usw.) zu wenig berücksichtigt werden oder eine unangemes-
sene Einschränkung des investigativen Journalismus erfolgt.37
Sieht man im Zusatzelement des „berechtigten Geheimhaltungsinteresses“ nicht
nur eine Klarstellung (da ein solches Interesse ganz „selbstverständlich zum Inhalt
des Geschäftsgeheimnisbegriffes gehört“38), gibt es manifeste, auch von der Bundes-
regierung vorgetragene Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Sonderregelung mit
Art. 2 Nr. 1 der Know-how-RL. Denn jene verlangt nach ihrem Wortlaut kein derar-
tiges Kriterium und formuliert zudem einen Mindeststandard (vgl. Art. 1 Abs. 1
Know-how-RL), der keine strengere (hier: durch Hinzufügung eines Merkmals
den Anwendungsbereich der Schutzvorschrift einengende) Definition durch den na-
tionalen Gesetzgeber gestattet.39 Der lapidare Hinweis in der Begründung der Be-
35
Als inhaltlich möglich, sachlich aber unpraktisch wird vielfach moniert, dass das BMJV
ohne einleuchtenden Grund schon im RefE die ersten beiden Voraussetzungen des Geheim-
nisbegriffs nach der Know-how-RL in nur einer zusammengefasst hat (heute: § 2 Nr. 1a)
GeschGehG), so etwa Würtenberger/Freischem, GRUR 2018, 708, 709; Ohly, GRUR 2019,
441, 442; Alexander, WRP 2019, 673, 676.
36
Nach bisher weitverbreiteter Einschätzung stimmt die Definition des Geschäftsgeheim-
nisbegriffs der Know-how-RL im Kern mit der in der deutschen Rechtsprechung entwickelten
Begrifflichkeit überein (pars pro toto Dann/Markgraf, NJW 2019, 1174, 1175; Schmitt,
RdA 2017, 365, 369; Ohly, GRUR 2014, 1, 4 mit Blick auf das TRIPS). Jedenfalls nach dem
Wortlaut enger ist sie aber durch die Forderung, dass schon begriffskonstitutiv ein Ge-
schäftsgeheimnis nur dann vorliegt, wenn dessen Inhaber auch den Umständen nach ange-
messene Geheimhaltungsmaßnahmen ergriffen hat (vgl. Hoppe/Oldekop, GRUR-Prax 2019,
324 m. w. Nachw.; zurückhaltender im Hinblick auf die praktischen Auswirkungen Kalbfus,
GRUR-Prax 2017, 391, 393). Hier besteht für die (Compliance-)Praxis in Sachen „Geheim-
nismanagement“ erheblicher Handlungsbedarf, der einhergeht mit einer bedenklichen Un-
klarheit hinsichtlich der Qualität der ausreichenden Maßnahmen (s. nur Leister, GRUR-Prax
2019, 75 ff.; Maaßen, GRUR 2019, 352, 353 ff.; Dann/Markgraf, NJW 2019, 1774, 1775 f.).
Die im Strafrecht adäquate Reaktion auf problematische Unbestimmtheiten (für § 23 i.V.m.
§ 2 Nr. 1 GeschGehG angenommen z. B. von Hohmann, in: MüKo-StGB [Fn. 29], § 23 Ge-
schGehG Rn. 31) besteht in einer restriktiven (strafbarkeitseinschränkenden) Auslegung des
Begriffs, so dass ein geeigneter Schutzgegenstand (und damit ggf. die Strafbarkeit) nur bei
klar und deutlich auf Geheimhaltung zielenden Maßnahmen angenommen werden kann.
37
Vgl. Dann/Markgraf, NJW 2019, 1774, 1776 m. w. Nachw.
38
So Hauck, GRUR-Prax 2019, 223, 224; erwägend auch Gärtner/Oppermann, BB 2019
(Heft 35), Die Erste Seite.
39
Vgl. die Erklärung der Bundesregierung, BT-Drs. 19/8300, S. 12; gleichsinnig Ohly,
GRUR 2019, 441, 444; Gärtner/Oppermann, BB 2019 (Heft 35), Die Erste Seite; auch Harte-
Bavendamm, BT-Prot.-Nr. 19/30, S. 14 f., 26 (Geschäftsgeheimnisbegriff muss aus der
Richtlinie „eins zu eins! übernommen werden“).
916 Thomas Rönnau

schlussempfehlung40 auf den Erwägungsgrund 14 der Richtlinie sowie auf die nicht
näher belegte Rechtsprechung des BVerfG rechtfertigt die Anreicherung der Defini-
tion des Geschäftsgeheimnisbegriffs durch den Gesetzgeber ebenfalls nicht. Weder
harmoniert diese Definition mit dem Ziel der Richtlinie, den Schutz von Know-how
zu verbessern und ihn unionsweit zu vereinheitlichen, noch passt sie zur Intention des
14. Erwägungsgrundes, dies durch eine „homogene Definition des Begriffs des Ge-
schäftsgeheimnisses“ in der EU zu erreichen. Zwar wird im 14. Erwägungsgrund
auch angeführt, dass an der Geheimhaltung der zu schützenden Information ein „le-
gitimes Interesse“ bestehen soll. Doch enthalten Erwägungsgründe zunächst einmal
nur allgemeine Zielsetzungen.41 Zudem sorgen nach dem Regelungsansatz der
Know-how-RL – wie Ohly zutreffend ausführt42 – arbeitsteilig zwei Vorschriften
dafür, dass nur „legitime Interessen“ geschützt werden. So beschränkt Art. 2 Nr. 1
Know-how-RL den Schutz auf geheime und geheimgehaltene Informationen von
kommerziellem Wert, während Art. 5 Know-how-RL Ausnahmen im öffentlichen
Interesse regelt (dazu gleich mehr). § 2 Nr. 1 lit. c) GeschGehG ist nach dieser über-
aus plausiblen Interpretation entweder überflüssig oder richtlinienwidrig.43 Bis dar-
über nach Vorlage eines Instanzgerichtes oder des BGH im Rahmen eines Vorabent-
scheidungsverfahrens gem. Art. 267 AEUV der EuGH entscheidet, ist das geltende
nationale Recht – hier: § 2 Nr. 1 c) GeschGehG – richtlinienkonform auszulegen.
Bisher dazu präsentierte Lösungen laufen auf dasselbe (jedenfalls für das Zivil-
recht44) akzeptable Ergebnis hinaus: Die Vorschrift findet keine Anwendung, weil
sie entweder „teleologisch auf Null reduziert wird“45 oder das berechtigte Interesse
„unwiderleglich vermutet wird, wenn die Voraussetzungen des § 2 Nr. 1 lit. a) und b)
GeschGehG erfüllt sind“.46

40
BT-Drs. 19/8300, S. 13 f.
41
Nur hingewiesen sei darauf, „dass die Begründungserwägungen eines Gemeinschafts-
rechtsakts rechtlich nicht verbindlich sind und weder herangezogen können, um von den
Bestimmungen des betreffenden Rechtsakts abzuweichen, noch, um diese Bestimmungen in
einem Sinne auszulegen, der ihrem Wortlaut offensichtlich widerspricht“, s. ECLI:EU:
C:2005:716 Rn. 32; ECLI:EU:C:2018:707 Rn. 33 m.w.N.
42
Ohly, GRUR 2019, 441, 444 f.; auch Gärtner/Oppermann, BB 2019 (Heft 35), Die Erste
Seite.
43
Ohly, GRUR 2019, 441, 444.
44
Aus strafrechtlicher Sicht stehen die erwähnten Vorschläge, die in eine vollständige
Nicht-Beachtung des § 2 Nr. 1 lit. c) GeschGehG bei der Gesetzesanwendung münden, aller-
dings im Konflikt mit dem Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 ff.), da ein einschränkendes
gesetzliches Merkmal zu Lasten des Täters ungeachtet des Normwortlauts wegfällt. Eine
Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung des deutschen Strafrechts contra legem besteht
in solchen Konstellationen nicht (näher Rönnau/Wegner, GA 2013, 561, 563 und Hecker,
Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. 2015, § 10 Rn. 28 – jew. m. w. Nachw.).
45
Gärtner/Oppermann, BB 2019 (Heft 35), Die Erste Seite.
46
Ohly, GRUR 2019, 441, 444.
Haftungsfreistellung des „Whistleblowers“ nach § 5 Nr. 2 GeschGehG 917

2. „Illegale Geheimnisse“ sind Schutzgegenstand


des § 2 Nr. 1 GeschGehG

Eng verknüpft mit der vorstehenden Thematik ist das Problem, ob nach neuer
Rechtslage auch sog. „illegale Geheimnisse“,47 also das nicht offenkundige Wissen
über (straf-)gesetzes- oder sittenwidrige Vorgänge (etwa Steuerhinterziehungen,
Kartellverstöße, unlautere Wettbewerbspraktiken) noch vom Geheimnisbegriff
gem. § 2 Nr. 1 GeschGehG erfasst sind. Zu Zeiten der Geltung der §§ 17 ff. UWG
wurde über diese Frage heftig gestritten und sie nach ganz vorherrschender Meinung
bejaht.48 Dafür sprach angesichts des großen Schädigungspotentials im Falle der Of-
fenbarung ein wirtschaftliches Interesse von Unternehmen an der Geheimhaltung
derartiger Tatsachen gegenüber Konkurrenten und Behörden.49 In der Konsequenz
der Gegenthese liegt es, dass geheime Informationen über illegale Praktiken straflos
offenbart werden dürfen, ohne nach den Zwecken der Preisgabe (etwa Rache, Ver-
kauf zum eigenen Vorteil an Konkurrenten bzw. Journalisten oder Informationen der
Behörde, um Gewissen zu erleichtern) differenzieren zu können.50
Die besseren Argumente sprechen auch nach reformierter Rechtslage für eine
Einbeziehung „illegaler Geheimnisse“ in den durch das GeschGehG errichteten Ge-
heimnisschutz. Dabei ist zunächst einmal festzuhalten, dass prinzipiell ein weiterge-
hender, über den Mindeststandard der Know-how-RL hinausgehender nationaler
Schutz von Geschäftsgeheimnissen unionsrechtlich zulässig wäre.51 Das Kernargu-
ment52 für eine Schutzerstreckung liegt dann in der Gesetzessystematik sowohl der
Know-how-RL als auch des GeschGehG: Es gibt einfach keinen Sinn, in Art. 5
lit. b) der Know-how-RL bzw. § 5 Nr. 2 GeschGehG eine Ausnahmeregelung für
die Fälle der Aufdeckung von Regelverstößen zu installieren, wenn mangels berech-
tigten Interesses an der Geheimhaltung solcher Informationen schon kein Geschäfts-

47
Weil nur der Gegenstand eines Geheimnisses, nicht aber dieses selbst illegal sein kann,
ist dieser Ausdruck sprachlich falsch, hat sich aber eingebürgert; richtig etwa Paeffgen, Der
Verrat in irriger Annahme eines illegalen Geheimnisses (§ 97b StGB) und die allgemeine
Irrtumslehre, 1979, S. 3 f. (m. Fn. 11); W. Schmidt, in: LK-StGB, 12. Aufl. 2007, § 93 StGB
Rn. 20 (m. Fn. 24).
48
Zum Meinungsstreit Brammsen, in: MüKo-UWG, 2. Aufl. 2014, § 17 Rn. 24; Köhler, in:
Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 37. Aufl. 2019, § 17 Rn. 9; Erb, in: FS Roxin II, 2011,
S. 1103, 1105 ff.; Engländer/T. Zimmermann, NZWiSt 2012, 328, 330 ff.
49
Ausführlicher zu den Argumenten (auch der Gegenansicht) Tiedemann/Rönnau, in:
Scholz (Fn. 26), § 85 Rn. 19 f. m. w. Nachw.
50
Aus diesem Grund die Minderheitenansicht ablehnend Ransiek, in: Ulmer/Habersack/
Löbbe, 2. Aufl. 2016, § 85 Rn. 24; auch Koch, ZIS 2008, 500, 503; Beckemper/Müller, ZJS
2010, 105, 109; Mayer, GRUR 2011, 884, 887.
51
Richtig Schreiber, NZWiSt 2019, 332, 335 m. w. Nachw.
52
Zu weiteren Argumenten s. Hiéramente, BT-Prot.-Nr. 19/30, S. 75 f. („klare Trennung
zwischen schützenswerten Betriebsinterna und inkriminierten Informationen nicht möglich“;
Ausschluss „europarechtlich nicht geboten“; „auch an der Wahrung eines ,rechtswidrigen
Geheimnisses‘ kann ein legitimes Interesse i.S.d. Erwägungsgrundes 14 der Richtlinie (EU)
2016/943 bestehen“); ders., in: BeckOK GeschGehG (Stand: 15. 10. 2019), § 2 Rn. 73.1 ff.
918 Thomas Rönnau

geheimnis i.S.v. Art. 2 Nr. 1 Know-how-RL bzw. § 2 Nr. 1 GeschGehG vorläge.53


Mit der gegenteiligen Meinung hier auf das notwendige „legitime Interesse“ aus
dem 14. Erwägungsgrund der Know-how-RL abzustellen, kann – wie bereits gezeigt
– nicht überzeugen.54 Vielmehr werden die gegenläufigen (berechtigten) Interessen
von Geheimnisinhaber (an Geheimnisschutz) und Whistleblower (an der Offenba-
rung bestimmter Informationen) durch zwei in einem aufeinander aufbauenden Stu-
fenverhältnis stehende Vorschriften zum Ausgleich gebracht. Damit ist nun auch der
Weg frei für die Befassung mit der Whistleblower-Regelung in § 5 Nr. 2 GeschGehG.

IV. Entlastungsmechanismus für das Whistleblowing


gem. § 5 Nr. 2 GeschGehG
1. Genese der Norm

Schon die Verfasser der Know-how-RL hatten das Ziel, trotz des angestrebten uni-
onsweit verbesserten Geschäftsgeheimnisschutzes die im öffentlichen Interesse un-
ternommenen „Whistleblowing-Aktivitäten nicht einzuschränken“.55 Dieses Bestre-
ben wurde auch und gerade dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sie die einschlä-
gigen Ausnahmetatbestände gem. Art. 5 der Know-how-RL vollharmonisierend aus-
gestaltet haben (vgl. Art. 1 Abs. 1 UAbs. 2 der Know-how-RL)56 mit der
Konsequenz, dass dem nationalen Gesetzgeber bei der Umsetzung des Rechtsaktes
Abweichungen von den Richtlinienvorgaben verboten sind. Art. 5 der Know-how-
RL sieht nun in der hier allein interessierenden Variante lit. b) vor, dass Rechtsver-
stöße im Anwendungsbereich der Richtlinie dann ausnahmsweise keine rechtlichen
Konsequenzen haben, wenn der Rechtsverletzer „zur Aufdeckung eines beruflichen
oder sonstigen Fehlverhaltens oder einer illegalen Tätigkeit (…) in der Absicht ge-
handelt hat, das allgemeine öffentliche Interesse zu schützen“. Diese Vorgabe wurde

53
So schon die Bundesregierung, BT-Drs. 19/8300, S. 12; ebenso Hohmann, in: MüKo-
StGB (Fn. 29), § 23 GeschGehG Rn. 41; ders./Schreiner, StraFo 2019, 441, 443; Ohly, GRUR
2019, 441, 444 f.; Ullrich, NZWiSt 2019, 65, 67 (auf Basis des RegE); Reinbacher, KriPoZ
2018, 115, 119; auch Garden/Hiéramente, BB 2019, 963, 967 (als Behauptung), Hiéramente,
BT-Prot.-Nr. 19/30, S. 76 und ders., in: BeckOK GeschGehG, § 2 Rn. 73; Alexander, AfP
2019, 1, 3 (aber kritisch); Dann/Markgraf, NJW 2019, 1174, 1176 (letztlich offenlassend);
weiterhin Beurskens, in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 85 Rn. 7.
54
Gegner einer Einbeziehung „illegaler Geheimnisse“ sind Schreiber, NZWiSt 2019, 332,
335; Hauck, WRP 2018, 1032, 1033 ff.; ders., GRUR-Prax 2019, 223, 224 f.; Kalbfus,
GRUR 2016, 1009, 1011; Passarge, CB 2018, 144, 145 („eher nicht“); Schmitt, RdA 2017,
365, 369 (Hinweise, die ausschließlich illegale Machenschaften beschreiben, sind nicht
Schutzobjekt der Richtlinie); Böning/Heidfeld, AuR 2018, 555, 556.
55
Vgl. Erwgr. 20 der Know-how-RL.
56
So etwa Alexander, AfP 2019, 1, 7; Kalbfus, GRUR 2016, 1009, 1014 f.; McGuire,
GRUR 2016, 1000, 1008; Reinbacher, KriPoZ 2018, 115, 119, 121.
Haftungsfreistellung des „Whistleblowers“ nach § 5 Nr. 2 GeschGehG 919

zunächst im Referentenentwurf57 und auch noch im Regierungsentwurf58 mit ähnli-


chem Wortlaut übernommen. Dabei interpretierte das bei der Umsetzung der Richt-
linie federführende BMJV die Ausnahmetatbestände als Rechtfertigungsgründe, die
auch auf die Strafvorschriften des § 23 GeschGehG anwendbar sind.59 Nach einer
Sachverständigen-Anhörung und einer hitzigen Parlamentsdebatte, in der – wie
mehrfach erwähnt – die Bedenken bezüglich einer zu starken Beschränkung des
Whistleblowing und des investigativen Journalismus eine große Rolle spielten,
schlug der Rechtsausschuss zur Streitbeilegung mit Blick auf § 5 GeschGehG zwei-
erlei vor: Erstens die Umgestaltung des § 5 von einem Rechtfertigungsgrund in eine
Tatbestandsausnahme (dokumentiert durch die geänderte Überschrift), um bei Erfül-
lung eines Verbotstatbestandes den (abschreckenden) Eindruck zu vermeiden,
Whistleblower und Journalisten handelten prima facie rechtswidrig.60 Zweitens
die Ersetzung der „Absicht“, das allgemeine öffentliche Interesse zu schützen,
durch eine entsprechend „geeignete“ Handlung, um eine Gesinnungsprüfung unnö-
tig zu machen.61 Der Bundestag hat das Gesetz am 21. 3. 2019 mit diesen Verände-
rungen verabschiedet.

2. Kritik an der Whistleblower-Regelung

Die Aufnahme der Whistleblower-Regelung in der in § 5 Nr. 2 GeschGehG um-


gesetzten Fassung durch die Literatur war durchwachsen62. Nachfolgend sollen al-
lein die wichtigsten Kritikpunkte erörtert werden.

a) Korrekte Umsetzung der Richtlinienvorgabe?

Schon die richtige Umsetzung der Vorgaben aus der Know-how-RL für das Whist-
leblowing in das deutsche Recht ist fraglich. Die Bundesregierung hatte im laufenden
Gesetzgebungsverfahren den Rechtsausschuss darauf hingewiesen, dass ihrer An-
sicht nach (auch) die beabsichtigte Änderung der Voraussetzungen in § 5 Nr. 2 Ge-
schGehG von der Richtlinie nicht gedeckt sei, da das Europäische Parlament bewusst
den (weiten) Begriff der „Absicht“ gewählt habe, um denjenigen Hinweisgeber zu

57
RefE vom 19. 4. 2018 zum Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/943 zum
Schutz von Geschäftsgeheimnissen vor rechtswidrigem Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung
und Offenlegung, S. 7, abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfah
ren/Dokumente/RefE_GeschGehG.pdf?__blob=publicationFile&v=1 (zul. abgerufen am
13. 1. 2020).
58
BT-Drs. 19/4724, S. 10, 28 f.
59
BT-Drs. 19/4724, S. 28 f.
60
BT-Drs. 19/8300, S. 14; Ohly, GRUR 2019, 441, 448.
61
BT-Drs. 19/8300, S. 14; näher zum Gesetzgebungsverfahren Hiéramente, in: BeckOK
GeschGehG, § 5 Rn. 3 ff.
62
Ohne oder schwache Kritik etwa bei Hauck, GRUR-Prax 2019, 223, 225; ders., WRP
2018, 1032, 1035 ff.; auch Alexander, AfP 2019, 1, 7.
920 Thomas Rönnau

schützen, der „Gutes wolle“.63 Der Bundestag hat die Kritik nicht aufgegriffen. Ver-
stummt ist sie in diesem Punkt deshalb aber nicht.
Bezweifelt wird zu Recht, dass die jetzt Gesetz gewordene Fassung, wonach die
Handlung „geeignet“ sein muss, „das allgemeine Interesse zu schützen“, mit dem
Richtlinientext in seinen unterschiedlichen Sprachfassungen kompatibel ist.64 Es
gibt erkennbar deutliche Unterschiede im Wortsinn zwischen dem rein subjektiven
Merkmal der „Absicht“ (in der deutschen Richtlinienübersetzung65) und dem Begriff
der „Eignung“ in der neuen objektiven Formulierung. Die Spannungen nehmen bei
einem Blick in die einschlägigen Passagen der französischen und englischen Fassung
der Know-how-RL nicht ab. Es ist schon grenzwertig, Formulierungen wie „le but“66
(„zum Zwecke“, „mit dem Ziel“) oder „purpose“67 („Zweck“) mit „Eignung“ im jet-
zigen Text des § 5 Nr. 2 GeschGehG zu übersetzen. Allein ein subjektiver Eignungs-
begriff könnte wohl – entgegen der Intention des deutschen Gesetzgebers68 – noch
mit dem Wortlaut der anderssprachigen Richtlinientexte vereinbar sein (wie dies
auch in einigen Formulierungen des § 5 GeschGehG anklingt, z. B.: „wenn dies
zum Schutz eines berechtigten Interesses erfolgt“ oder „zur Aufdeckung“).

b) Tatbestandsausschluss- statt Rechtfertigungsgrund –


eine seltsame Verbesserung

Die vom Bundestag nach vorangeganger Sachverständigenanhörung und Diskus-


sionen im Rechtsausschuss getroffene Entscheidung, die Haftungsfreistellungen
nach § 5 GeschGehG (und damit auch die Whistleblowing-Regelung) als Tatbe-
standsausschlussgründe und nicht – wie noch im Regierungsentwurf vorgesehen –
als Rechtfertigungsgründe auszugestalten,69 lässt sich jedenfalls aus strafrechtlicher
Perspektive nur als „kurios“ bezeichnen. Denn strafrechtlich relevantes Unrecht liegt

63
BT-Drs. 19/8300, S. 12 f.
64
Vgl. Ohly, GRUR 2019, 441, 448 (der darin aber eine „wohl noch zulässige Ausgestal-
tung der Richtlinie“ sieht; aber auch 450: „Vereinbarkeit […] mit Unionsrecht ist zweifel-
haft“); klar für Richtlinienkonformität dagegen Schreiber, NZWiSt 2019, 332, 336.
65
Vom Gesetzgeber wurde hier ein Übersetzungsfehler der Richtlinie vermutet und ange-
nommen, „purpose“ müsse mit „Zweck“ und nicht mit „Absicht“ übersetzt werden, vgl. BT-
Drs. 19/8300, S. 11, 14 und Dann/Markgraf, NJW 2019, 1774, 1777 m. w. Nachw. in Fn. 48.
66
„(…) à condition que le défendeur ait agi dans le but de protéger l’intérêt public géné-
ral“.
67
„(…) provided that the respondent acted for the purpose of protecting the general public
interest“.
68
Im Wege der Ersetzung der „Absicht“ durch die Eignungsklausel sollte die Formulierung
objektiviert werden, vgl. BT-Drs. 19/8300, S. 14. Damit handeln jetzt auch Whistleblower
privilegiert, die nicht aus rein altruistischen, sondern zudem aus finanziellen Motiven (etwa
Verkauf von Informationen) handeln, s. nur Ohly, GRUR 2019, 441, 448.
69
Vgl. BT-Drs. 19/8300, S. 14. Dokumentiert auch in § 2 Nr. 3 GeschGehG, wonach kein
„Rechtsverletzer ist (…), wer sich auf eine Ausnahme nach § 5 berufen kann“, s. BT-Drs. 19/
8300, S. 4, 11.
Haftungsfreistellung des „Whistleblowers“ nach § 5 Nr. 2 GeschGehG 921

allein dann vor, wenn alle Tatbestandsvoraussetzungen gegeben sind und kein Er-
laubnissatz eingreift. Dogmatisch (und mit Blick auf das Strafprozessrecht auch be-
weismäßig) macht es also keinerlei Unterschied, ob der potenzielle Täter schon den
Straftatbestand nicht verwirklicht oder sein Verhalten nur gerechtfertigt ist.70 Das mit
hoher Suggestivwirkung in der strafrechtlichen Diskussion immer wieder vorgetra-
gene Welzel’sche Mückenbeispiel71, wonach es einen (Wert-)Unterschied gibt zwi-
schen der Tötung einer Mücke (erlaubt, weil zumeist nicht verboten) und der Tötung
eines Menschen in Notwehr (erlaubt, weil das Verbot durch die vorgängige Erlaub-
nisnorm verdrängt wird), verschleiert daher eher den nüchternen Blick dafür, dass bei
einer Tötung in Notwehr von Anfang an ein ambivalentes Verhalten vorliegt: Die tat-
bestandsmäßige Tötungshandlung stellt sich zugleich als zulässiges Verteidigungs-
verhalten dar. Diesen nüchternen Blick haben auch die Parlamentarier (und Interes-
senvertreter) verloren, wenn sie meinen, die Whistleblower-Regelung zum Tatbe-
standsausschlussgrund „hochzonen“ zu müssen.72 Dabei wären die Journalisten
und Whistleblower bei unveränderter Verabschiedung des Regierungsentwurfes in
guter Gesellschaft gewesen. Auch die Ärzte müssen (trotz großer Empörung!)
damit leben, dass sie mit ihren ärztlichen Heileingriffen nach ständiger Rechtspre-
chung den Tatbestand der Körperverletzung verwirklichen und allein wegen der Pa-
tienteneinwilligung kein Unrecht begehen.73 Zudem: Von Tischlern hat man noch nie
gehört, dass sie gegen die Qualifizierung als tatbestandsmäßig handelnde Sachbe-
schädiger protestieren, weil ihnen erst auf Rechtfertigungsebene die Einwilligung
des Eigentümers zur Seite steht.74

70
Ausführlich zur Funktionseinheit von Tatbestand und Rechtswidrigkeit Rönnau, in: LK-
StGB, 13. Aufl. 2019, Vor § 32 Rn. 5 ff. m. allen Nachw. Dennoch gibt es jenseits der
grundsätzlichen Wertungsstufen von Unrecht und Schuld strukturelle und pragmatische
Gründe, die es rechtfertigen, Tatbestand und Rechtswidrigkeit getrennt zu behandeln – und
eben nicht der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen zu folgen (vgl. Rönnau, in:
LK-StGB, Vor § 32 Rn. 15 ff.). Der Gesetzgeber des GeschGehG hat es sich daher zu leicht
gemacht, wenn er die sachlich als Rechtfertigungsgründe konzipierten Entlastungstatbestände
des § 5 GeschGehG (i.d.S. auch Ohly, GRUR 2019, 441, 448; Dann/Markgraf, NJW 2019,
1174, 1177; weiterhin Brammsen, wistra 2018, 449, 454) aus – wie erörtert – wenig über-
zeugendem Grund einfach zu Tatbestandsausschlussgründen umqualifiziert hat.
71
Dazu mit w. Nachw. Rönnau, in: LK-StGB (Fn. 70), Vor § 32 Rn. 13.
72
Kritisch auch Müllmann, ZRP 2019, 25, 26.
73
S. nur Fischer, StGB, 67. Aufl. 2020, § 223 Rn. 17 m. w. Nachw. Parallele gesehen von
Ohly, GRUR 2019, 441, 448 in Fn. 63; zust. Schreiber, NZWiSt 2019, 332, 335 m. Fn. 43.
74
Vgl. in diesem Kontext weiterhin das „Schusterbeispiel“ von T. Walter, Der Kern des
Strafrechts, 2006, S. 88. Nur hingewiesen sei darauf, dass es vor dem skizzierten Hintergrund
als wenig folgerichtig erscheint, wenn der erst auf Vorschlag des Rechtsausschusses ins
GeschGehG aufgenommene § 23 Abs. 6 (vgl. BT-Drs. 19/8300, S. 5, 15) bestimmte Beihil-
fehandlungen von Journalisten als „nicht rechtswidrig“ ausflaggt, statt sie schon als „nicht
tatbestandsmäßig“ einzustufen.
922 Thomas Rönnau

c) Monita zum Inhalt des § 5 Nr. 2 GeschGehG

Auch der Inhalt der Whistleblower-Regelung gibt allen Anlass zur Kritik, die hier
nur in ihren Grundzügen skizziert werden kann.

aa) Bedenkliche Weite und Unschärfe der Ausnahmeklausel

§ 5 Nr. 2 GeschGehG gewährt in der schließlich Gesetz gewordenen Fassung dem


Hinweisgeber einen Dispens von der Beachtung der Handlungsverbote gem. § 4 Ge-
schGehG.75 Ermächtigt wird „zur Aufdeckung einer rechtswidrigen Handlung oder
eines beruflichen oder sonstigen Fehlverhaltens, wenn die Erlangung, Nutzung oder
Offenlegung geeignet ist, das allgemeine öffentliche Interesse zu schützen“. Diese
Vorschrift wird angesichts ihrer Weite und Unschärfe zu Recht heftig kritisiert. Im
Fokus steht dabei vor allem die Qualität des Verhaltens, das Anlass für zulässige Auf-
deckungsaktivitäten des Hinweisgebers sein kann.76 Noch einigermaßen konturen-
scharf sind hier der Begriff der „rechtswidrigen Handlung“ (die auch das Unterlassen
einbeziehen sollte) und des „beruflichen Fehlverhaltens“, von dem der Gesetzgeber
ausweislich der Motive jedenfalls einen Verstoß gegen berufsständische Normen
(wie etwa den Regelungen der BRAO, nicht aber der gelebten Praxis) erfasst wissen
will.77 Das sieht beim Merkmal des „sonstigen Fehlverhaltens“ völlig anders aus. Die
Regierungsbegründung versteht darunter auch ein „unethisches Verhalten, das nicht
notwendigerweise gegen Rechtsvorschriften verstoßen muss“.78 Eine solche Deu-
tung fordert weder Art. 5 der Know-how-RL, der hier fast wortlautidentisch umge-
setzt wurde, noch der korrespondierende 20. Erwägungsgrund.79 Die Anknüpfung an
ein unethisches Verhalten liefert in einer pluralistischen Gesellschaft, die gerade in
jüngerer Zeit in mannigfaltigen Kontexten zu moralisch aufgeladenen Urteilen neigt
und sich schnell empört, ein höchst unpräzises, ja fast ins Beliebige ausuferndes Kri-

75
§ 5 GeschGehG enthält neben den in den Nrn. 1 – 3 ausgestanzten Beispielen noch die im
Eingangs(halb)satz formulierte Generalklausel, also insgesamt vier Fallgestaltungen, vgl. nur
Brammsen, wistra 2018, 459, 454 und von Busekist/Racky, ZRP 2018, 135, 138.
76
Dabei können die zur Meldung berechtigenden Verhaltensweisen starke Überschnei-
dungen aufweisen (etwa ein berufliches Fehlverhalten, das sich gleichzeitig als rechtswidrige
Handlung entpuppt).
77
BT-Drs. 19/4724, S. 29; für Einbeziehung auch privatautonom gesetzter Regelwerke
(etwa von Verbänden) Alexander, AfP 2019, 1, 7; näher Hiéramente, in: BeckOK GeschGehG,
§ 5 Rn. 19 ff. Misslich ist nicht nur bei diesem Gesetzgebungsprojekt, dass sich der Gesetz-
geber in den Erläuterungen (hier: des „beruflichen Fehlverhaltens“) vorschnell in Beispiele
„flüchtet“, anstatt eine abstrakte Definition wenigstens zu versuchen (und diese dann mit
Beispielen zu unterfüttern).
78
BT-Drs. 19/4724, S. 29.
79
Richtig Bürkle, CCZ 2018, 193; Ullrich, NZWiSt 2019, 65, 69; Hiéramente, BT-Prot.-
Nr. 19/30, S. 15 und 86. Schon die Know-how-RL ist in diesem Punkt allerdings überaus weit
und unbestimmt (vgl. neben der deutschen auch die englische [„misconduct, wrongdoing or
illegal activity“] oder französische [„une faute un acte répréhensible ou une activité illégale“]
Sprachfassung)! Gleichsinnig Ann, BT-Prot.-Nr. 19/30, S. 12 und 42.
Haftungsfreistellung des „Whistleblowers“ nach § 5 Nr. 2 GeschGehG 923

terium, das gerade im auf größtmögliche Bestimmtheit angewiesenen Strafrecht gro-


ßen Argwohn erwecken muss.80
Welches Tor damit aufgestoßen wird, zeigt sich schnell bei einem Blick auf die
weiteren Erläuterungen in der Regierungsbegründung. Gemeint sind damit nämlich
Verhaltensweisen, die „von der Allgemeinheit als Fehlverhalten eingestuft werden“,
oder Aktivitäten, „die in der öffentlichen Diskussion häufig als unethisches Verhalten
angesehen werden“.81 Hier gerät die Begründung – gemessen an rechtsstaatlichen
Prinzipien wie der Vorhersehbarkeit und Kalkulierbarkeit strafrechtlichen Risikos
von Verhalten – in ein gefährliches Fahrwasser. Denn in einem Rechtsstaat muss
klar zwischen Recht und Moral unterschieden werden. Das Recht wird in einem be-
stimmten (Legitimations-)Prozess erzeugt; es beansprucht Geltung und Beachtung
durch die Normadressaten. Moral ist dagegen zunächst einmal Privatsache (vielleicht
noch Angelegenheit von Religionsgemeinschaften oder Kirchen). Passarge hat daher
Recht: So unerfreulich unethisches Verhalten für eine Gesellschaft ist, muss doch die
Gesellschaft dafür sorgen, dass die ethischen und moralischen Normen eingehalten
werden. Dies ist nicht Aufgabe des Gesetzgebers oder der Justiz.82 Die Berechtigung
zur Aufdeckung von mehr oder weniger manifestem Fehlverhalten nun an diffuse
Moralvorstellungen zu knüpfen, verwischt diese Grenzen und entzieht den von
den Vorwürfen Betroffenen den Schutz des Rechtsstaates. Denn dieser soll auch den-
jenigen vor Übergriffen bewahren, der mit seinem Auftreten nicht gerade den herr-
schenden Moralvorstellungen entspricht. Es mag zwar unethisch sein, Steuergesetze
zu umgehen oder Schweine zusammengepfercht in Mastställen zu halten. Solange
die Akteure aber die für den jeweiligen Bereich aufgestellten Regeln beachten, ist
ihr Handeln, mag es auch unmoralisch sein, legal und von Staat und Gesellschaft hin-
zunehmen. Dann sollte dieses Verhalten aber auch nicht zum Anlass genommen wer-
den dürfen, um darauf ein folgenschweres Whistleblowing zu stützen. Die vom Ge-
setzgeber hier in der Begründung eingestreuten Beispiele werfen ohnehin mehr Fra-
gen auf, als sie beantworten. Wer ist denn gemeint mit der „Allgemeinheit“, die etwas
(mit welchem Quorum?) als Fehlverhalten bewertet?83 „Öffentlich diskutiert“ wird

80
In diesem Sinne auch Brammsen, wistra 2018, 449, 454 („unspezifizierte Haftungsfrei-
stellung“; „konturenlos generalklauselartig abgefasste ,Freiheitsrechte‘“; „Schrankenbestim-
mung ohne jegliche Maßvorgabe“); ders., BB 2018, 2446, 2449; Passarge, CB 2018, 144,
146 f.; Ullrich, NZWiSt 2019, 65, 69 f.; dies., WiJ 2019, 52, 55; Dann/Markgraf, NJW 2019,
1774, 1777; Hohmann/Schreiner, StraFo 2019, 441, 447; Naber/Peukert/Seeger, NZA 2019,
583, 586; auch Hiéramente/Golzio, CCZ 2018, 262, 264 und Hiéramente, BT-Prot.-Nr. 19/30,
S. 15 (es bedarf der „Streichung ethischer Maßstäbe“); ausführlicher ders. (a. a. O.), S. 85 ff.;
ebenso Ann, BT-Prot.-Nr. 19/30, S. 42.
81
BT-Drs. 19/4724, S. 29 (konkretisiert anhand von unternehmerischen Auslandsaktivitä-
ten in Form von Kinderarbeit oder gesundheits- oder umweltschädlichen Produktionsbedin-
gungen sowie systematischer und unredlicher Umgehung von Steuertatbeständen).
82
Passarge, CB 2018, 144, 145; Scherp/Rauhe, CB 2019, 20, 23 („justitiabel erscheint eine
solche Form ,moralisierenden Rechts‘ kaum“).
83
Weitere berechtigte Fragen stellt Bürkle, CCZ 2018, 193; auch Ullrich, NZWiSt 2019,
65, 69.
924 Thomas Rönnau

viel – und ständig über neue Themen! Soll daraus ernsthaft ein Momentum erwach-
sen, das als Anknüpfungspunkt für Whistleblowing herhalten kann? Die Unschärfe
und Beliebigkeit steht all diesen Kriterien auf die Stirn geschrieben. Sie erzeugt eine
massive Unsicherheit nicht nur für den Hinweisgeber (zumeist ein juristischer Laie),
der einschätzen können muss, ob ein Verhalten zwar legal, aber nicht mehr legitim
ist,84 sondern auch für den Unternehmer, den per se keine Pflicht zu moralisch ein-
wandfreiem Verhalten trifft85 und zu dessen Lasten eine unter Umständen nicht zu-
lässige Offenlegung von Geheimnissen geht. Dabei dürfen auch durch unberechtigte
Vorwürfe betroffene Drittinteressen verdächtigter Personen nicht übersehen werden.
Allen Beteiligten hat der Gesetzgeber durch diese niederschwellige Grenzziehung
„Steine statt Brot“ gegeben, die auch durch etwaige einschlägige Gerichtsentschei-
dungen in der Zukunft, die vielleicht etwas Orientierung bringen, nicht bekömmli-
cher werden.86 Geboten ist hier eine deutlich einengende Auslegung des Merkmals.87
Die Auslegungsschwierigkeiten setzen sich fort, wenn § 5 Nr. 2 GeschGehG die
Ausnahme davon abhängig macht, dass die Erlangung, Nutzung oder Offenlegung
dazu geeignet sein muss, „das allgemeine öffentliche Interesse“ zu schützen. Der Be-
griff wurde aus der Know-how-RL übernommen (vgl. Art. 5 lit. b)) und schreibt dem
Hinweisgeber bei seinem Handeln ein positiv konnotiertes Ziel vor, um in den Ge-
nuss der Haftungsfreistellung zu kommen. Was genau damit gemeint ist, bleibt nach
Lektüre der Know-how-RL (nebst Erwägungsgründen) und auch den Erläuterungen
zum GeschGehG allerdings weitgehend offen.88 Dabei können mit dem „allgemei-
nen öffentlichen Interesse“ ganz unterschiedliche Interessen betroffen sein (die mög-
licherweise sogar gegeneinander laufen). In der Literatur finden sich hier bisher nur
erste tastende Interpretationsversuche.89

84
Richtig Bürkle, CCZ 2018, 193. Die Klarstellung durch den Gesetzgeber (BT-Drs. 19/
8300, S. 14), es sei hier das „allgemeine, objektivierbare Rechtsverständnis“ heranzuziehen,
hilft da kaum weiter, da unklar bleibt, wie ein höchstpersönliches moralisches Urteil verob-
jektiviert werden kann (gleichsinnig Ullrich, WiJ 2019, 52, 56).
85
Dann/Markgraf, NJW 2019, 1774, 1777.
86
Die WBRL ist hier restriktiver. Sie erlaubt Whistleblowing nur bei Verstößen gegen
Rechtsvorschriften oder bei Umgehung europarechtlicher Vorgaben, vgl. Artt. 1 und 3 WBRL;
Garden/Hiéramente, BB 2019, 963.
87
Pars pro toto Ullrich, NZWiSt 2019, 65, 68, Ernst, MDR 2019, 897, 900 und Hiéra-
mente, in: BeckOK GeschGehG, § 5 Rn. 26 m.w.N.
88
So für viele Meyer, HRRS 2018, 322, 326 („schillernder und unscharfer Begriff“); Vogel/
Poth, CB 2019, 45, 47.
89
Vgl. Alexander, AfP 2019, 1, 7 (auszulegen als „gewichtige Belange der Allgemein-
heit“); ders., WRP 2017, 1034, 1043 f. (mit Beispiel); Schiemann, in: FS Wessing, 2015,
S. 569, 573 (ein solches Interesse liegt vor, „sofern Kollektivrechtsgüter oder öffentliche
Einrichtungen betroffen sind oder eine Vielzahl von Individualrechtsgütern mit großer Inten-
sität der Beeinträchtigung wie bei Arznei- oder Lebensmittelskandalen“); zust. Dann/Mark-
graf, NJW 2019, 1774, 1777; Hohmann, in: MüKo-StGB (Fn. 29), § 23 GeschGehG Rn. 127;
ders./Schreiner, StraFo 2019, 441, 447; sehr weit Reinhardt-Kasperek/Kaindl, BB 2018, 1332,
1334 („vom öffentlichen Interesse wohl nur solche Enthüllungen ausgeschlossen […], in
denen es an der gesellschaftlichen Relevanz fehlt“).
Haftungsfreistellung des „Whistleblowers“ nach § 5 Nr. 2 GeschGehG 925

bb) Kritisches zum Eignungsmerkmal und der – nach Wortlaut –


fehlenden Verhältnismäßigkeitsprüfung

Nach geltendem § 5 Nr. 2 GeschGehG muss die Erlangung, Nutzung oder Offen-
legung des Geschäftsgeheimnisses „geeignet“ sein, das allgemeine öffentliche Inter-
esse zu schützen. Im Regierungsentwurf und auch in der zugrunde liegenden Know-
how-RL wird an dieser Stelle bei gleicher Schutzausrichtung noch die „Absicht“ ver-
langt. Durch die Forderung eines Mindest(qualitäts)standards („Geeignetheit“) der
Eingriffshandlung will der Gesetzgeber sicherstellen, „dass das Geschäftsgeheimnis
nur zur Abwehr von tatsächlichen oder gutgläubig angenommenen Verletzungen
oder Gefährdungen öffentlicher Interessen offengelegt werden darf“.90 Wann
genau nun der Whistleblower diese Anforderungen unterschreitet, bleibt allerdings
unklar. Der Hinweis in der Gesetzesbegründung auf einen Missstand „von einigem
Ausmaß und Gewicht“ gibt dabei nur einen vagen Anhalt.91 Der Maßstab, an dem
sich das Eignungsurteil ausrichten muss, hat die Spezifika des jeweiligen Rechtsbe-
reichs mit zu verarbeiten.92 Beim Whistleblowing sind hier vor allem die Schutzzwe-
cke der Know-how-RL (und damit des GeschGehG) sowie das besondere Span-
nungsverhältnis der betroffenen Interessen von Unternehmen, Hinweisgeber, Staat
und Medien/Presse in den Blick zu nehmen. Mit Ausnahme von recht eindeutigen
Situationen – ausgrenzend etwa: bloß moralisch verwerfliches Verhalten soll dem
Schutz eines eher diffusen öffentlichen Interesses dienen – bleibt hier viel Unsicher-
heit. Wer stärker das Primärziel der Know-how-RL und damit den verbesserten
Schutz von Geschäftsgeheimnissen betont, kommt dabei zu anderen Ergebnissen
als derjenige, der (gleichberechtigt?) die Absicherung des Whistleblowers in den
Vordergrund stellt.
Ein zweiter Aspekt ist noch wichtiger: Der Wortlaut des § 5 Nr. 2 GeschGehG
sieht ausdrücklich nur die „Geeignetheit“, nicht aber die „Erforderlichkeit“ der Ver-
letzung oder Gefährdung des Geschäftsgeheimnisschutzes vor.93 Ebenso wie nach
der Know-how-RL scheint damit für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung beim Whist-
leblowing kein Platz zu sein. Die Konsequenz wäre, dass Hinweisgeber Geschäfts-
geheimnisse direkt gegenüber externen Stellen wie der Staatsanwaltschaft, anderen
Behörden oder gar der Presse offenlegen dürfen; mildere Mittel z. B. in Form von
(unternehmens-)internen Abhilfeversuchen, die wegen der Sachnähe überaus sinn-
voll sind, müssten vorher nicht ergriffen werden, sofern der Hinweisgeber zumindest
gutgläubig davon ausgeht, die Offenlegung „illegaler Geheimnisse“ diene dem all-
90
BT-Drs. 19/8300, S. 14. Allerdings ist umstritten, ob die Offenlegung irrig angenom-
menen Fehlverhaltens zum Schutz öffentlicher Interessen „geeignet“ ist; ablehnend etwa
Hiéramente, in: BeckOK GeschGehG, § 5 Rn. 34.
91
Ebenso Schreiber, NZWiSt 2019, 332, 336.
92
Für die Notwehr etwa Perron/Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 32
Rn. 35 m. w. Nachw.
93
Anders ist das in § 5 Nr. 3 GeschGehG, der für die Offenlegung von Geschäftsgeheim-
nissen durch Arbeitnehmer gegenüber der Arbeitnehmervertretung verlangt, dass dies „er-
forderlich ist, damit die Arbeitnehmervertretung ihre Aufgaben erfüllen kann“.
926 Thomas Rönnau

gemeinen öffentlichen Interesse. Diese Option der eigenen Auswahl des angemesse-
nen Mittels zur Aufdeckung wird von nicht wenigen Literaturvertretern begrüßt. Sie
gebe dem Hinweisgeber Klarheit, da seine Haftung/Strafbarkeit nicht mehr – wie
noch im früheren Recht – von einer schwer vorhersehbaren Interessenabwägung ab-
hänge, und erleichtere den Weg in die Öffentlichkeit.94
Völlig unberücksichtigt bleiben bei dieser Argumentation jedoch die nachvoll-
ziehbaren, schützenswerten und auch geschützten Interessen des Geheimnisinha-
bers. Hinzuweisen ist hier auf den einheitlichen europa- bzw. unionsrechtlichen
Schutzmaßstab, der schon jetzt einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen den In-
teressen des Hinweisgebers und des Unternehmens gewährleistet.95 Vorreiter war
dabei die Rechtsprechung des EGMR (Rechtssache „Heinisch“), der in Fällen des
Whistleblowing eine Abwägung zwischen der Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 10
EMRK) und der Pflicht des Arbeitnehmers zu Loyalität und Vertraulichkeit gegen-
über seinem Arbeitgeber (§ 241 Abs. 2 BGB) fordert. Danach muss sich der Hin-
weisgeber zunächst um eine interne Klärung des Sachverhalts bemühen, bevor er
an die Öffentlichkeit geht.96 Zwar kannte das Unionsrecht vor der Diskussion der
WBRL keinen solchen Vorrang innerbetrieblicher Abhilfeaktivitäten. Allerdings
schreibt Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh vor, dass die GRCh in ihren Gewährleistungen
nicht hinter der EMRK zurückbleiben darf.97 Werden noch die Garantien der unter-
nehmerischen Freiheit und des Eigentums gem. den Artt. 16, 17 GRCh in den Inter-
essenausgleich mit einbezogen, kommt öffentliches Whistleblowing nur als letztes
Mittel in Betracht.98 Diese Abwägungslösung – in letzter Zeit mit Blick auf die
WBRL unter dem Stichwort „Dreistufiges Eskalationsmodell“ (bestehend aus inter-
ner Meldung, Information der Behörden und zuletzt Information der Öffentlichkeit)
viel diskutiert99 und in abgeschwächter Form vom europäischen Gesetzgeber auch
verabschiedet100 – führt letztlich dazu, dass eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im

94
Vgl. zur Know-how-RL Reinbacher, KriPoZ 2018, 115, 120; Eufinger, ZRP 2016, 229,
231; Hoeren/Münkler, WRP 2018, 150, 154; deutlich für einen Wegfall der Verhältnismä-
ßigkeitsprüfung von Busekist/Racky, ZRP 2018, 135, 137; zum GeschGehG auch Ullrich,
NZWiSt 2019, 65, 69 f. (aber kritisch); Schreiber, NZWiSt 2019, 332, 336 f.; für „offen“ hält
die Frage Alexander, AfP 2019, 1, 8.
95
Näher zum Ganzen Schmitt, RdA 2017, 365, 367 f., 370 f.; in ihrem Fahrwasser Thüsing/
Rombey, NZG 2018, 1001, 1003 und Hiéramente, in: BT-Prot.-Nr. 19/30, S. 92 ff. (mit Auf-
listung von Lösungsansätzen); ders., in: BeckOK GeschGehG, § 5 Rn. 46 m.w.N.
96
EGMR, NJW 2011, 3501 – Heinisch/Deutschland; zur Abwägungslösung in der deut-
schen arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung s. BAGE 107, 36, 46 f. = NJW 2004, 1547,
1549 f.; NJW 2017, 1833, 1834.
97
Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 3. Aufl. 2016, Art. 52 GRCh Rn. 56 ff.; weitere
Nachw. bei Schmitt, RdA 2017, 365, 368 in Fn. 52.
98
Schmitt, RdA 2017, 365, 368.
99
Vgl. nur Ullrich, NZWiSt 2019, 65, 70; Forst, NJW-aktuell 14/2019, Editorial.
100
Dazu knapp Kumpan/Pauschinger, EuZW 2019, 357, 360; Wiedmann/Seyfert, CCZ
2019, 12, 16 f.; Schreiber, NZWiSt 2019, 332, 337; näher zu den „weichen“ Eskalationsstufen
Ullrich, WiJ 2019, 52, 56 ff.
Haftungsfreistellung des „Whistleblowers“ nach § 5 Nr. 2 GeschGehG 927

Kontext des § 5 Nr. 2 GeschGehG selbst dann geboten ist, wenn sie der Wortlaut
nicht ausdrücklich verlangt.101 Wer eine solche Deutung – jedenfalls für das Straf-
recht – strikt ablehnt, weil sie „die klare Grenze des Wortlauts von § 5 Nr. 2 Gesch-
GehG zu Lasten des Täters (hier des externen Whistleblowers) überschreitet“102,
übersieht, dass diese Vorschrift nur ein ausgestanztes Regelbeispiel der General(ein-
gangs)klausel des § 5 GeschGehG enthält. Mit dem dortigen Wortlaut „(…) wenn
dies zum Schutz eines berechtigten Interesses erfolgt“ lässt sich die hier vorgeschla-
gene, auch im Rahmen von § 5 Nr. 2 GeschGehG durchzuführende Verhältnismäßig-
keitsprüfung aber noch vereinbaren, steht das Orientierung stiftende Regelbeispiel
doch nur für einen typischen einschlägigen Sachverhalt aus der Menge der von
der Generalklausel erfassten Tatbestände.103 Das gefundene Ergebnis harmoniert
auch mit dem Erwägungsgrund 21 der Know-how-RL.104
Für die strafrechtliche Haftung gem. § 23 i.V.m. § 4 und § 5 GeschGehG hängt –
soviel nur als abschließender Hinweis – letztlich einiges davon ab, dass der Hinweis-
geber auch den vollständigen subjektiven Tatbestand verwirklicht, also zumindest
bedingten Vorsatz und etwaige notwendige Absichten aufweist (vgl. § 15 StGB
i.V.m. Art. 1 Abs. 1 EGStGB). Um sich auf den Ausnahmegrund des Whistleblowing
(der sachlich einen Erlaubnissatz enthält) stützen zu können, muss er also nach der
Parallelwertung in der Laiensphäre eine Vorstellung von den dort vorgeschriebenen
normativen Merkmalen haben. Überdehnt der Whistleblower hier den Anwendungs-
bereich der Ausnahmeregel, etwa weil er fälschlich zu seinen Lasten „unethisches
Verhalten“ als „sonstiges Fehlverhalten“ nach § 5 Nr. 2 GeschGehG einstuft oder
das „allgemeine öffentliche Interesse“ als Schutzziel verfehlt, greift der Ausnahme-
tatbestand nicht. Entlastend kann dann nur noch ein unvermeidbarer Verbotsirrtum
gem. § 17 StGB wirken. Weiteres kann hier zu den Irrtumsrisiken nicht mehr ausge-
führt werden.

V. Fazit
Die kleine Analyse der Whistleblower-Regelung in § 5 Nr. 2 GeschGehG hat ge-
zeigt, dass dieser Ausnahmetatbestand mit einer Reihe von Unsicherheiten behaftet
101
Ausführlich Schmitt, RdA 2017, 365, 370 ff.; Ohly, GRUR 2019, 441, 448 f.; Dann/
Markgraf, NJW 2019, 1774, 1777; auch Garden/Hiéramente, BB 2019, 963, 967 („Interessen
der Unternehmen dürfen nicht gänzlich ausgeblendet werden“); Hiéramente/Golzio, CCZ
2018, 262, 264 f.; Reinhardt-Kasperek/Kaindl, BB 2018, 1332, 1334; auch Trebeck/Schulte-
Wissermann, NZA 2018, 1175, 1178.
102
Schreiber, NZWiSt 2019, 332, 337; ähnlich Ullrich, NZWiSt 2019, 65, 70 m. Fn. 62.
103
Anders von Busekist/Racky, ZRP 2018, 135, 137 (die aus der Nicht-Erwähnung einer
Abwägungsklausel im Wortlaut des Art. 5 der Know-how-RL auf ein Verbot ihrer Einführung
schließen).
104
I.d.S. BT-Drs. 19/4724, S. 28; ebenso Hiéramente, in: BeckOK GeschGehG, § 5
Rn. 46.1 („Der deutsche Gesetzgeber erkennt das Bedürfnis für eine Verhältnismäßigkeits-
prüfung auch an […]).
928 Thomas Rönnau

ist, die jedenfalls außerhalb klarer Fälle und zukünftiger wegweisender Rechtspre-
chung weiterhin Hinweisgeber eher davon abhalten wird, Missstände aufzudecken.
Gelungen ist die Regelung daher nicht! Der Gesetzgeber hätte im Spannungsfeld aus-
zutarierender Interessen verschiedentlich restriktiver regeln sollen; die Vorgaben der
Know-how-RL lassen eine solche konturenschärfere Ausgestaltung des deutschen
Rechts zu – weniger kann manchmal mehr sein! Aber es war nicht die letzte Chance,
den Bereich des Whistleblowing zu regulieren. Die nächste themenbezogene und
umzusetzende Richtlinie, die nunmehr eine „große Lösung“ erfordert, steht mit
der Whistleblower-Richtlinie schon vor der Tür.
Möge Reinhard Merkel noch viele interessante Diskussionen anstoßen und sie kri-
tisch begleiten. Dafür wünsche ich ihm weiterhin beste Gesundheit und viel Schaf-
fenskraft!
Recht – Philosophie – Literatur
Festschrift für Reinhard Merkel zum 70. Geburtstag
Schriften zum Strafrecht
Band 355
Recht – Philosophie – Literatur
Festschrift für Reinhard Merkel zum 70. Geburtstag

Teilband II

Herausgegeben von

Jan Christoph Bublitz, Jochen Bung, Anette Grünewald,


Dorothea Magnus, Holm Putzke und Jörg Scheinfeld

Duncker & Humblot · Berlin


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in


der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen


Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten
© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Satz: 3w+p GmbH, Rimpar
Druck: Das Druckteam Berlin
Printed in Germany
ISSN 0558-9126
ISBN 978-3-428-15566-8 (Print)
ISBN 978-3-428-55566-6 (E-Book)
Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier
entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Inhaltsverzeichnis

TEILBAND I

I. Literarisches
Jochen Bung
Vom Recht, sich betasten zu lassen, von wem man will. Bemerkungen zu Kraus
und Adorno . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
Sigurd Paul Scheichl
Prozesse als Bestandteil des Werks von Karl Kraus – Prozessakten als Quellen
zu seinem Wirken. Am Beispiel des Prozesses Pisk gegen Kraus (1929 – 1931) 13
Jan Philipp Reemtsma
Das Vergleichen als eigenartige intellektuelle Tätigkeit betrachtet. Ein Ge-
spräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
Birgit Recki
Eine Poetik der Menschenwürde. Stil als weiche Normativität bei Ferdinand
von Schirach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
Heinz Müller-Dietz
Warum schreiben Schriftsteller über Recht und Justiz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Alfred Nordmann
Die rechten Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

II. Politische Philosophie und Rechtsphilosophie


Michael Pauen
Eine kontraktualistische Rechtfertigung von Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Julian Nida-Rümelin
Zur Legitimität von Staatlichkeit. Eine kosmopolitische Kritik offener Grenzen 87
Daniela Demko
Demokratie im Kontext von Globalisierung und Kosmopolitismus. Philoso-
phische Reflexionen zur Begründung und zum Wesen einer Weltgemeinschaft
als einer freiheitlichen Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
Anton Leist
Gleichheit und/oder Verdienst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
VI Inhaltsverzeichnis

Jan C. Joerden
Kant und Hegel zur Gewaltenteilung im Staat – Skizze eines Vergleichs . . . . . 153
Kurt Bayertz und Thomas Gutmann
Thomas Dunson und Ethan Edwards im Lichte von Immanuel Kant und Carl
Schmitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
Matthias Mahlmann
Politische Verbrechen und europäische Kultur – Joseph Conrads „Heart of
Darkness“ und die Gegenwelten der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
Eric Hilgendorf
Kritischer Rationalismus und das Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
Martin Hein
Dogmatik und Hermeneutik als Leitbegriffe in Rechtswissenschaft und Theo-
logie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
Christian Becker
Rechtswissenschaft, positives Recht und politischer Protest. Überlegungen an-
lässlich der Campus as Safe Space-Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
Benno Zabel
Handeln, Entscheiden, Zurechnen. Wie der Einsatz intelligenter Technik die
deontologische Deutung des Rechts verändert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
Till Zimmermann
Vom Leid und Eigeninteresse künstlicher Rechtsträger: Juristische Personen als
moralische Subjekte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

III. Grundlagen des Strafrechts


Bettina Walde
Zum normativen Charakter menschlicher Freiheit und der Frage nach dem
objektiven Fundament des Schuldprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
Christian Fahl
Das schlechte Gewissen des Strafrechtlers und die Willensfreiheit . . . . . . . . . . 335
Urs Kindhäuser
Setzt Unrecht Schuld voraus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351
Rolf Dietrich Herzberg
Das Anderskönnen in der strafrechtlichen Schuldlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371
Thomas Fischer
Zur Feststellung schwerer seelischer Abartigkeit, oder: Wieviel Selbstreferen-
tialität verträgt die Schuld? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
Volker Haas
Schuldfähigkeit als Fertigkeit. Zu denkbaren Konsequenzen im Erwachsenen-
strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413
Inhaltsverzeichnis VII

Wolfgang Wohlers
Das tradierte Schuldstrafrecht – ein Auslaufmodell? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
Luís Greco
Identität, Authentizität und Schuld – Reflexionen anlässlich der jüngsten Pro-
zesse gegen „alte Nazis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443
Jan Christoph Bublitz
Die Genealogie der Vergeltung, oder warum retributiven Überzeugungen nicht
zu trauen ist. Ein Beitrag zu einer neuropsychologisch informierten Straf-
rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459
Gerhard Seher
Wert und Grenzen der expressiven Theorie der Strafe. Zugleich eine Skizze
über Begriff und Zweck staatlicher Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493
Tatjana Hörnle
Das Ideal des Bürgerstrafrechts vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Frag-
mentierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511
Michael Kubiciel
Das Strafrecht einer fragmentierten Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529
Tonio Walter
Zur Demokratisierung des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545
Kai Ambos
Strafrecht und Verfassung: Gibt es einen Anspruch auf Strafgesetze, Strafver-
folgung, Strafverhängung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565
Martin Böse
Der EuGH und die Strafrechtsdogmatik. Grund und Grenzen einer Harmoni-
sierung des Allgemeinen Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589

IV. Strafrecht Allgemeiner Teil


Peter Mankowski
Auslandsrechtsanwendung, Auslandsrechtsprüfung, Auslandsrechtsberück-
sichtigung und Auslandsrechtsermittlung im deutschen Strafverfahren . . . . . . 609
Hans Kudlich
Die Expansion des Strafens durch § 9 II 2 StGB. Drohende Friktionen und
vorsichtige Einhegungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625
Günther Jakobs
Garantenstellung bei tätiger Verletzung negativer Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . 639
Ralf Stoecker
Der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen und die Bedeutung von
Handlungssphären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649
Sebastian Simmert und Joachim Renzikowski
Causa efficiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667
VIII Inhaltsverzeichnis

Ingeborg Puppe
Über einige Probleme des Kausalitätsbegriffs im Strafrecht und Merkels Leh-
ren dazu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681
Kurt Seelmann
Zurechnung zu künstlicher Intelligenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695
Lorenz Schulz
Der Irrtum als Seismograph des Strafrechts. Ein Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . 707
Heinz Koriath
Was für ein Irrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 717
Uwe Murmann
Tatentschluss und Legitimation der Versuchsstrafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 727
Horst Schlehofer
Strafbarkeitseinschränkende Alternativen zur hypothetischen Einwilligung im
Arztstrafrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745
Susanne Beck
Fiktion vs. Realität. Warum nicht alle Fälle der „hypothetischen Einwilligung“
gleich zu behandeln sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761
Rainer Keller
Nothilfe für Tiere als Anthropozentrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 779
Ulfrid Neumann
Rechtspositionen, Rechtsgüter und Rettungsinteressen in der aktuellen Dis-
kussion zu Problemen des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) . . . . . . . . . 791
Andreas Hoyer
Das Grundrecht auf Leben als Tötungsverbot für den Staat und als Schutzan-
spruch gegen den Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 813
Wolfgang Mitsch
Die Weigerung ein menschlicher Schutzschild zu sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 827
Volker Erb
Der Lebensnotstand bei siamesischen Zwillingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 845
Elisa Hoven
Tötung im Notstand? – Überlegungen zur Reichweite des Notstandsrechts
insbesondere im Völkerstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 857
Milan Kuhli
Roboterprogrammierung im Dilemma. Neue Verhaltensnormen für tödliche
Notstandssituationen mit Unbeteiligten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 887
Thomas Rönnau
Die Haftungsfreistellung des „Whistleblowers“ nach § 5 Nr. 2 GeschGehG –
eine gelungene Regelung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 909

................................................................. 5
Inhaltsverzeichnis IX

TEILBAND II

V. Strafrecht Besonderer Teil

Carl-Friedrich Stuckenberg
Digitaler Hausfriedensbruch? Von trügerischen Analogien zur analogen Welt 931

Gereon Wolters
Das gesetzliche Merkmal „gegen den erkennbaren Willen“ in der Neufassung
des § 177 Abs. 1 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 951

Claus Roxin
§ 184 j StGB im Streit der Meinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 973
Armin Engländer
Politische Tötungsmotive als niedrige Beweggründe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 983

Peter Singer
The Challenge of Brain Death for the Sanctity of Life Ethic . . . . . . . . . . . . . . 1001
Dieter Birnbacher
„Hirntod und kein Ende“ – nach zwanzig Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1015
Dietmar von der Pfordten
Menschenwürde und Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1031
Carl Friedrich Gethmann
Ethische Fragen der Selbsttötung angesichts der aktuellen deutschen Diskus-
sion um ärztliche Sterbehilfe und um Sterbehilfevereine . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1045
Frank Saliger
Zur prozeduralen Regelung der Freitodhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1063
Friedhelm Hufen
Weiterleben als Schaden? – Weiterleiden als Schaden! Grundrechtsschutz
gegen Übertherapie vor dem Tode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1079
Thomas Hillenkamp
Abgestufte Anforderungen an selbstbestimmtes Sterben? . . . . . . . . . . . . . . . . . 1091

Christoph Sowada
Die Tatherrschaft als Zurechnungsinstrument im Spannungsfeld von Selbst-
und Fremdtötung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1109
Thomas Weigend
Teilnahme am nicht freiverantwortlichen Suizid? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1129
Véronique Zanetti
Verhältnismäßigkeit und Kompromisse am Beispiel des deutschen Abtrei-
bungsgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1141

Thomas Rotsch
Zur Täterschaft der Schwangeren beim Schwangerschaftsabbruch . . . . . . . . . . 1163
X Inhaltsverzeichnis

Klaus Rogall
§ 219a StGB in neuer Gestalt. Anmerkungen zu einem Lehrstück zeitgenössi-
scher Rechtspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1181
Anette Grünewald
Intersexualität und Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1203
Detlev Sternberg-Lieben
Verletzungen beim Fußballsport – strafbare Körperverletzung? . . . . . . . . . . . . 1223
Martin Heger
Strafrechtliche Grenzen von Enhancements im Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1245

VI. Strafverfahrensrecht
Matthias Jahn und Sascha Ziemann
Frankfurter Strafprozessunordnung. Der Kaufhausbrandstifterprozess von 1968
als epochemachender Schauplatz politischer Inszenierung . . . . . . . . . . . . . . . . 1265
Karsten Gaede
§ 81g StPO – Musterbeispiel für die schöne neue Welt der Strafverfolgungs-
vorsorge? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1283
Henning Rosenau und Carina Dorneck
Die Rolle der forensischen Molekulargenetik im Strafprozess . . . . . . . . . . . . . 1301
Guido Britz
Die „formlose Einziehung“: Kritische Anmerkungen zu einem Phänomen . . . 1321

VII. Völkerrecht
Claus Kreß
Die Anfänge des Völkerstrafrechts im Spiegel von Reinhard Merkels Völker-
strafrechtsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1345
Bernd Schünemann
Von den trüben Quellen und seichten Mündungen des Völkerstrafrechts . . . . . 1361
Dorothea Magnus
Verfolgung und Anklage von Völkerrechtsverbrechen nach deutschem Recht:
wie weit zulässig und geboten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1375
Ulrich Steinvorth
Kollateraltötungen und Optimierungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1395
Albin Eser
Tödliche „Kollateralschäden“ durch militärische Aktionen: zu deutscher Mit-
verantwortung für ausländische Drohneneinsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1409
Inhaltsverzeichnis XI

Stefanie Bock
Individuelle Verantwortlichkeit für staatliche Angriffshandlungen. Überlegun-
gen zum Verbrechen der Aggression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1433
Georg Meggle
Zum „Terrorismus“ im Sicherheitsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1453

VIII. Recht und Ethik der Medizin


und Biowissenschaften
John Harris
Gene Editing in Humans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1463
Gunnar Duttge
Moderne Pränataldiagnostik: Legitimer Freiheitsgebrauch fern von „Diskrimi-
nierung“ und „Selektion“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1473
Thomas Schramme
Manipulation und mentale Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1489
Ingmar Persson and Julian Savulescu
No Matter, Never Mind: The Bodily Basis of Mental Integrity . . . . . . . . . . . . . 1501
Neil Levy
Nudge, Nudge, Wink, Wink: Nudging is Giving Reasons . . . . . . . . . . . . . . . . . 1507
Jonathan Glover
Privacy, Neuroscience and the Inner Life . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1531
Bettina Schöne-Seifert und Marco Stier
Zur Autorität von Demenzverfügungen: Merkels Vorschlag einer notstands-
analogen Interessenabwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1545
Ulrich Schroth
Zur Legitimation der gesetzlichen Regelungen der Nierenlebendspende . . . . . 1565
Holm Putzke und Jörg Scheinfeld
Zur Widerspruchsregelung bei der Leichenorganspende. Gedanken zur Dis-
kussion im Ethikrat und im aktuellen Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1579
Nikolaus Knoepffler
Die Widerspruchsregel bei der Organspende – Überlegungen zu Reinhard
Merkels Position . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1603

IX. Varia
Wolfram Höfling
„Eine Zensur findet … statt“. Schlaglichter auf die Filmkontrolle in der frühen
Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1619
XII Inhaltsverzeichnis

Jacqueline Neumann
Von der Formung des Rechts auf Weltanschauungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . 1633

Publikationen Reinhard Merkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1651


Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1669
V. Strafrecht Besonderer Teil
Digitaler Hausfriedensbruch?
Von trügerischen Analogien zur analogen Welt

Von Carl-Friedrich Stuckenberg

I. Einleitung
Von Reinhard Merkel ist man es gewohnt, daß er sich mit den ethischen und straf-
rechtlichen Problemen befaßt, die neue Technologien aufwerfen oder künftig auf-
werfen könnten wie etwa das Neuroenhancement, wozu er einen Tatbestand zum
Schutz der mentalen Selbstbestimmung vorgeschlagen hat.1 Die technologischen
Phänomene des digitalen Umbruchs, die den Strafgesetzgeber beschäftigen, sind
viel weiter von Science Fiction entfernt als „Hirntuning“ und viel weniger spektaku-
lär, doch die Lösungsansätze scheinen sich zu ähneln: So wie Merkel den Tatbestand
des Hausfriedensbruchs als Vergleichsobjekt für den Schutz des „Bewußtseinsfrie-
dens“ heranzieht, so ist auch der Gesetzgeber nicht selten bei der Repression sozial-
schädlichen Verhaltens, das sich digitaler Werkzeuge bedient, analogisch verfahren.
Die überkommenen Tatbestände des von 1871 stammenden deutschen StGB
konnten die früher zunächst als „Computerkriminalität“ bezeichneten Verhaltens-
weisen nur zum Teil erfassen. Der Gesetzgeber hat schon vor über 30 Jahren auf
die technische Entwicklung der elektronischen Datenverarbeitung reagiert und mit
dem 2. Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität 19862 mehrere auf
„Computerkriminalität“ zugeschnittene Tatbestände in das StGB eingefügt, nament-
lich das Ausspähen von Daten (§ 202a), den Computerbetrug (§ 263a), die Fälschung
beweiserheblicher Daten (§§ 269, 270), die Datenveränderung (§ 303a) und die
Computersabotage (§ 303b). Bei §§ 263a, 269, 270 StGB mußten die analogen Tat-
bestände des Betruges und der Urkundenfälschung lediglich an neue Tatwerkzeuge
und die Ersetzung täuschbarer Menschen durch EDV angepaßt werden. Komplett
analogisch gebildet3 sind § 202a und § 303a StGB: Wer sich Kenntnis vom gespro-
chenen oder geschriebenen Wort, das nicht zu seiner Kenntnis bestimmt ist, ver-

1
Merkel, ZStW 121 (2009), 919, 950 ff.
2
2. WiKG vom 15. 5. 1986, BGBl. 1986 I, 721, dazu RegE BR-Drs. 150/83; BT-Drs. 10/
318, Ber. BT-Drs. 10/5058.
3
In differenzierterer, an Vogel, Festschrift Weber, 2004, S. 395, 398 f., angelehnter Ter-
minologie spricht Brodowski, ZIS 2019, 49, 52 f., von einem „informationstechnisch-funk-
tionalen“ Regelungsmodell.
932 Carl-Friedrich Stuckenberg

schafft, wird nach §§ 201, 202 StGB bestraft – wer sich Zugang zu nicht unmittelbar
wahrnehmbaren codierten Informationen, sprich Daten,4 verschafft, unterliegt nun
§ 202a. Wer fremde Sachen beschädigt oder zerstört, ist nach § 303 StGB strafbar
– wer rechtswidrig Daten nachteilig manipuliert, unterfällt § 303a StGB. Die Gren-
zen solcher Analogien zur analogen Welt5 zeigen sich sogleich deutlich an dem bis
heute nicht behobenen Schönheitsfehler des § 303a StGB, daß es für Daten anders als
für Sachen keine Primärnormordnung analog zum Eigentum gibt, die das Schutzgut
rechtlich konturiert: Über „Dateneigentum“ o. ä. wird zwar seit Jahren geredet,6 aber
bislang sind Daten, die sich in manchen Eigenschaften von körperlichen Gegenstän-
den wesentlich unterscheiden, gleichsam herrenlos. § 303b StGB ist unproblemati-
scher, weil zumeist auch eine Eigentumsstörung vorliegt, nur nicht durch körperliche
Einwirkungen.
Nun ist Computer- und Internetkriminalität seit langem auch Gegenstand von
Rechtsakten der Europäischen Union sowie des Europarates,7 unter dessen Ägide
2001 in Budapest die „Convention on Cybercrime“ geschlossen wurde,8 die das Vor-
bild für den Rahmenbeschluß der EU von 2005 über Angriffe auf Informationssys-
teme9 bildete, welcher inzwischen durch die Richtlinie von 201310 ersetzt wurde. In
den letzten anderthalb Jahrzehnten dienten die Aktivitäten des deutschen Gesetzge-
bers in diesem Bereich zumeist der Umsetzung des europäischen Rechts, z. B.11
durch das 41. Strafrechtsänderungsgesetz zur Bekämpfung der Computerkriminali-
tät von 2007,12 das die Vorschriften des § 202b (Abfangen von Daten) und das ge-

4
Im deutschen Recht sind „Daten“ bislang nicht definiert, vgl. LK/Hilgendorf, 12. Aufl.
2011, § 202a Rn. 7; Art. 2 b) der Richtlinie 2013/40/EU versteht nun unter „Computerdaten“
„jede Darstellung von Tatsachen, Informationen oder Konzepten in einer für die Verarbeitung
in einem Informationssystem geeigneten Form, einschließlich eines Programms, das die
Ausführung einer Funktion durch ein Informationssystem auslösen kann“. § 202a Abs. 2
StGB ist aber nicht auf Computerdaten beschränkt, BGH NStZ 2018, 401, 402 f.
5
Krit. schon Sieber, The International Emergence of Criminal Information Law, 1992,
S. 15.
6
Nachw. bei Stuckenberg, ZIS 2016, 526, 530 Fn. 45 f.
7
Nachw. bei Haase, Computerkriminalität im Europäischen Strafrecht, 2017, S. 23 ff.,
48 ff.; Hilgendorf/Valerius, Computer- und Internetstrafrecht, 2. Aufl. 2012, Rn. 93 ff.
8
Convention on Cybercrime, done at Budapest, on 23 November 2001, ETS No. 185, in
Kraft seit dem 1. 7. 2004; von Deutschland mit Wirkung vom 1. 7. 2009 ratifiziert, BGBl. 2008
II, 1242.
9
Rahmenbeschluß des Rates der Europäischen Union (2005/222/JI) vom 24. 2. 2005 über
Angriffe auf Informationssysteme, ABl.EG L 69/67 vom 16. 3. 2005.
10
Richtlinie 2013/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. 8. 2013 über
Angriffe auf Informationssysteme und zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2005/222/JI des
Rates, ABl.EU L 218/8 vom 14. 8. 2013.
11
S.a. Art. 1 Nr. 10 des 35. StÄG vom 22. 12. 2003, BGBl. 2003 I, 2838.
12
BGBl. 2007 I, 1786. dazu Borges/Stuckenberg/Wegener, DuD 31 (2007), 275; Ernst,
NJW 2007, 2661; Goeckenjan, wistra 2009, 47; Stuckenberg, wistra 2010, 41.
Digitaler Hausfriedensbruch? 933

meinsame Vorbereitungsdelikt des § 202c StGB13 einfügte und § 202a StGB in der
Weise verschärfte, daß schon der bloße unbefugte Zugang zu Daten und nicht erst
deren Kenntnisnahme unter Strafe steht. Ein deutsches Eigengewächs ist hingegen
der am 18. 12. 2015 in Kraft getretene Tatbestand der „Datenhehlerei“ in § 202d
StGB,14 der auf eine Gesetzesinitiative des Landes Hessen zurückgeht und an
einer zu einfältigen Analogie zur Sachhehlerei krankt15.
Eines der jüngsten Projekte16 in diesem Bereich, der Gesetzentwurf zum „digita-
len Hausfriedensbruch“, ist ebenfalls ein nationales Eigengewächs hessischer Prove-
nienz und zielt ausdrücklich auf einen legislativen Analogieschluß, es soll nämlich
„die Rechtsgedanken des § 123 und des § 248b auf IT-Systeme […] übertragen.“17

II. „Digitaler Hausfriedensbruch“


1. Vorgeschichte

Im Juni 2016 hatte das Land Hessen unter dem Schlagwort „digitaler Hausfrie-
densbruch“ einen Gesetzentwurf für einen neuen Straftatbestand vorgelegt, der ins-
besondere die Infiltration fremder IT-Systeme und deren Zusammenschluß zu Bot-
netzen bekämpfen soll.18 Die Bundesregierung hat im November 2016 die vom Bun-
desrat erblickten gravierenden Strafbarkeitslücken nicht finden können und daher
ablehnend Stellung genommen.19 Auch die Reaktion in den Medien20 und der Rechts-
wissenschaft21 fiel durchweg negativ aus.
13
Dessen Strafrahmen wurde im November 2015, wie von der Richtlinie 2013/40/EU
gefordert, erhöht durch das Gesetz zur Bekämpfung der Korruption vom 20. 11. 2015, Art. 1
Nr. 5, BGBl. 2015 I, 2025.
14
Art. 5 des Gesetzes zur Einführung einer Speicherpflicht und Höchstspeicherfrist für
Verkehrsdaten, BGBl. 2015 I, 2218, 2227.
15
Vgl. nur Brodowski/Marnau, NStZ 2017, 377; Singelnstein, ZIS 2016, 432; Stam, StV
2017, 488; Stuckenberg, ZIS 2016, 526, 529 ff.; s.a. Schönke/Schröder/Eisele, 30. Aufl. 2019,
§ 202d Rn. 2 m. w. Nachw.
16
Zum Referentenentwurf des BMI zu einem „IT-Sicherheitsgesetz 2.0“ vom März 2019
siehe Oehmichen/Weißenberger, KriPoZ 2019, 174 ff.
17
Puttrich, BR-Prot. 965 (2. 3. 2018), S. 59D f.
18
BR-Drs. 338/16 = BT-Drs. 18/10182; s.a. BR-Prot. 947 (8. 7. 2016), S. 290D–292 A;
BR-Prot. 948 (23. 9. 2016), S. 350C–351B; BR-Prot. 965 (2. 3. 2018), S. 59B–60 A.
19
BReg, BT-Drs. 18/10182, S. 19 f.
20
Biselli, https://netzpolitik.org/2016/digitaler-hausfriedensbruch-hessen-will-neuen-straftat
bestand-gegen-bereits-illegale-botnetze-einfuehren/ (11. 8. 2016); dies., https://netzpolitik.org/
2017/diskussion-ueber-digitalen-hausfriedensbruch-kehrt-zurueck/ (9. 8. 2017); Buermeyer,
https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/entwurf-straftatbestand-digitaler-hausfriedensbruch-
botnetze-internet/ (6. 10. 2016).
21
Mavany, KriPoZ 2016, 106 ff.; Basar, jurisPR-StrafR 26/2016 Anm. 1; Buermeyer/
Golla, K&R 2017, 14 ff.; Tassi, DuD 2017, 175 ff.; Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018,
267 ff.; Brodowski, ZIS 2019, 49, 61; ders., StV 2019, 385 Fn. 2.
934 Carl-Friedrich Stuckenberg

In der „Kasseler Erklärung“ vom 31. Juli 2017 haben neun Landesjustizminister22
ihren Standpunkt bekräftigt. Der nordrhein-westfälische Justizminister Biesenbach
hat dies in einem Pressegespräch Anfang August 201723 an folgendem Beispiel er-
läutert: Vor kurzem sei ein Pärchen von der Webcam seines Smart-TV heimlich beim
Liebesspiel gefilmt worden und der Mitschnitt sei anschließend auf einer Pornoweb-
site aufgetaucht. Solche Fälle machten deutlich, dass der eigene Fernseher zur Waffe
gegen seinen Benutzer werden könne. Die Bürger müßten daher dringend vor mani-
pulierter „Zombie-IT“ geschützt werden.
Gleichwohl wurde der Gesetzesantrag im Bundestag nicht weiter behandelt und
verfiel der Diskontinuität. Im Februar 2018 hat Hessen denselben Gesetzentwurf er-
neut eingebracht,24 der nun als Bundesratsentwurf25 vorliegt. Der „digitale Hausfrie-
densbruch“ ist auch in den Referentenentwurf zu einem zweiten IT-Sicherheitsge-
setz26 aufgenommen worden. Ob er in dieser Legislaturperiode mehr Erfolg haben
wird, bleibt abzuwarten.

2. Diagnostizierte Strafbarkeitslücken

Der Gesetzentwurf zielt im wesentlichen auf die Infiltration von Computersyste-


men durch Schadsoftware ab, die eine sehr große Zahl von „Opfersystemen“ („Bots“,
„Zombies“) zu Botnetzen zusammenschließt, welche als eine der wichtigsten Infra-
strukturen der Cyberkriminalität angesehen werden. Die Schadsoftware kann auf
verschiedenem Wege, etwa in einem Download, E-Mail-Anhang oder einer Nach-
richt in einem sozialen Netzwerk versteckt, installiert werden und sorgt dafür, daß
sich das infizierte System – zunehmend auch Smartphones oder intelligente Steue-
rungsgeräte der Haustechnik („Internet of Things“, IoT) – von seinem Besitzer un-
bemerkt mit dem Command & Control Server des Botnetzbetreibers („Bot-Herder“)
verbindet, der praktisch vollständigen Zugriff darauf erhält.27 Schätzungen gehen
davon aus, daß ein Viertel bis 40 % aller Computer weltweit Teil von Botnetzen
sind.28 Mit Botnetzen könnten, so berichtet der Entwurf zutreffend, nicht nur Nutzer-
daten beliebig ausgespäht und kopiert, der gesamte Internetverkehr abgehört und ma-
nipuliert, sondern auch Computerhardware ferngesteuert, etwa Webcams und Mikro-
22
Vgl. die „Kasseler Erklärung“ vom 31. 7. 2017, S. 2, https://www.justiz.bayern.de/media/
images/86_anlage_kasseler_erklÄrung.pdf.
23
http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/nordrhein-westfalen-fordert-straftatbestand-
des-digitalenhausfriedensbruchs-a-1161984.html.
24
BR-Drs. 47/18.
25
BT-Drs. 19/1716.
26
S. o. Fn. 16.
27
Vgl. nur BKA, Cybercrime, Bundeslagebild 2017, S. 15; Kochheim, Cybercrime und
Strafrecht in der Informations- und Kommunikationstechnik, 2. Aufl. 2018, Rn. 210 ff.,
683 ff.; Roos/Schumacher, MMR 2014, 377 ff.; Heine, NStZ 2016, 441, 442; Stam, ZIS 2017,
547 f.
28
Roos/Schumacher, MMR 2014, 377, 378; BT-Drs. 19/1716, S. 2.
Digitaler Hausfriedensbruch? 935

fone unbemerkt eingeschaltet werden. Botnetze dienten aber auch dazu, um Distri-
buted Denial-of-Service-Attacken (DDoS) sowie Angriffe auf Industrieanlagen,
Elektrizitätswerke, Staudämme usw. durchzuführen, Kryptowährungen zu schürfen,
Spam oder Ransomware zu verbreiten.29
Beeinträchtigt werde dadurch nicht nur das Interesse der rechtmäßigen Nutzer am
ausschließlichen Gebrauchsrecht ihrer Geräte, sondern auch ihr Grundrecht „auf Ge-
währleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“,
das das BVerfG in seinem Urteil zur Online-Durchsuchung vom 27. 2. 200830 als be-
sondere Erscheinungsform des allgemeinen Persönlichkeitsrechts postuliert hatte.
Weil sich auch der aufmerksame Nutzer gegen solche Angriffe kaum mehr auf
technischem Wege schützen könne, müsse das Strafrecht den „lückenlosen Schutz“
dieses Grundrechts sicherstellen,31 der zudem von Vorteil für den Wirtschaftsstandort
Deutschland sei.32
Die bisherigen Vorschriften reichten dazu nicht aus. Schon die auffällig niedrigen
Verurteilungsziffern belegten ihre mangelnde Effektivität.33 Tatbestandlich sei die
bloße Zugangsverschaffung ohne Überwindung einer Zugangssicherung oder ohne
Datenveränderung von §§ 202a, 303a StGB nicht erfaßt, wie sich an zwei Beispielen
zeige: Wenn der Täter das Opfer dabei beobachte, wie es den PIN-Code zur Entsper-
rung seines Smartphones eingibt, könne er später, wenn er sich das Gerät verschafft
hat, darauf ohne Überwindung der Zugangssicherung zugreifen, so daß § 202a StGB
nicht erfüllt sei. Ebenso, wenn ein Täter die Opfersysteme infiltriere und den Zugriff
darauf an einen zweiten Täter verkaufe, der sodann keine Zugangssicherung mehr
überwinden müsse. Auch eine Datenveränderung nach § 303a StGB werde nicht
zwingend verwirklicht, weil es fileless malware und Hardwaretrojaner gebe.34 Selbst
wenn die §§ 202a ff. StGB verwirklicht würden, stehe die Strafjustiz vor der kaum
erfüllbaren Aufgabe, den genauen technischen Ablauf festzustellen, was jedenfalls
dann unmöglich sei, wenn sich die Schadsoftware nach ihrem Einsatz selbsttätig ge-
löscht habe.35
Es bedürfe daher eines Straftatbestands, der – als „digitaler Hausfriedensbruch“ –
den bloßen unbefugten Zugang zu und die unbefugte Nutzung von informationstech-
nischen Systemen erfasse, ohne daß noch Zugangssicherungen überwunden oder
Daten manipuliert werden müßten. IT-Systeme seien mindestens so schutzwürdig
wie das Hausrecht und das ausschließliche Benutzungsrecht an Fahrzeugen. Derzeit

29
BT-Drs. 19/1716 (= BT-Drs. 18/10182), S. 1 ff., 11 ff.
30
BVerfGE 120, 274, 302 ff.
31
BT-Drs. 19/1716, S. 3.
32
BT-Drs. 19/1716, S. 12.
33
BT-Drs. 19/1716, S. 17.
34
BT-Drs. 19/1716, S. 4.
35
BT-Drs. 19/1716, S. 12 f.
936 Carl-Friedrich Stuckenberg

seien sogar Fahrräder besser geschützt als Computer mit höchstpersönlichen Daten.36
Der Gesetzentwurf stellt damit Analogien zu den Tatbeständen des Hausfriedens-
bruchs (§ 123 StGB), der den unbefugten Aufenthalt in einer Wohnung und sonstigen
vom Hausrecht umfaßten Örtlichkeiten unter Strafe stellt, und der unbefugten Benut-
zung von Kraftfahrzeugen und Fahrrädern (§ 248b StGB) her, die eine Ausnahme –
eine weitere findet sich in § 290 StGB – von der Regel darstellt, daß der bloße un-
befugte Gebrauch fremder Sachen (furtum usus) straflos und nur zivilrechtlich sank-
tioniert ist.
Schließlich wird selbstbewußt behauptet, mit dem vorgeschlagenen Tatbestand
könne
„… ein lückenloser strafrechtlicher Schutz aller Systeme und die Strafbarkeit nahezu aller
Angriffsarten sichergestellt werden, denn die Infiltration von Computern und Cyberangriffe
jeder Art beinhalten als Teilkomponente regelmäßig die Fernsteuerung, also das Beeinflus-
sen oder Auslösen von informationstechnischen Vorgängen durch Dritte.“37

Zugleich seien damit alle Nachweisprobleme gelöst, denn:


„Die Tatsache des unbefugten Benutzens der Opfersysteme wird sich regelmäßig durch die
Auswertung der Täterinfrastruktur und unter Einschaltung der Internetzugangsprovider an-
hand der IP-Adressen der Bots nachweisen lassen. Auf technische Zufälligkeiten kommt es
nicht mehr an. Eine detaillierte Darstellung der technischen Einzelheiten der Infiltration im
Ermittlungsverfahren, in der Anklageschrift und im Urteil ist nicht mehr notwendig.“38

3. Der Entwurfstext

Die vorgeschlagene Vorschrift, deren amtliche Überschrift nicht etwa „Digitaler


Hausfriedensbruch“, sondern „Unbefugte Benutzung informationstechnischer Sy-
steme“ lauten soll, ist, wie in jüngerer Zeit nicht selten, mit sieben Absätzen und
433 Wörtern recht lang geraten. Die vordringlich interessierenden Teile lauten:
„(1) 1Wer unbefugt
1. sich oder einem Dritten den Zugang zu einem informationstechnischen System
verschafft,
2. ein informationstechnisches System in Gebrauch nimmt oder
3. einen Datenverarbeitungsvorgang oder einen informationstechnischen Ablauf auf
einem informationstechnischen System beeinflusst oder in Gang setzt,
wird mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft, wenn die Tat nicht in
anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist. 2Die Tat nach Satz 1 ist nur strafbar,
wenn sie geeignet ist, berechtigte Interessen eines anderen zu beeinträchtigen.“

36
BT-Drs. 19/1716, S. 5.
37
BT-Drs. 19/1716, S. 5.
38
BT-Drs. 19/1716, S. 13.
Digitaler Hausfriedensbruch? 937

Danach kommt es weder auf eine Zugangssicherung an noch darauf, daß Daten
erlangt werden, noch darauf, daß das System ein „fremdes“ ist. Die unbefugte Nut-
zung betrifft nicht nur Datenverarbeitungsvorgänge, sondern auch „informations-
technische Abläufe“ im Sinne der Legaldefinition in § 2 des BSI-Gesetzes,39
womit jede „Verarbeitung oder Übertragung von Informationen durch technische
Mittel“ gemeint ist, auch wenn kein Computerprogramm abläuft, etwa der Befehl
Öffnen/Schließen an ein fernwartbares Schleusentor. Damit soll der „strafrechtliche
Schutz von Automatisierungs-, Prozeßsteuerungs- und Prozeßleitsystemen (Industri-
al Control Systems, ICS) gewährleistet“ werden.40 Der Begriff „informationstechni-
sches System“ wird in Absatz 6 definiert:
„(6) Im Sinne dieser Vorschrift ist
1. informationstechnisches System nur ein solches, das
a) zur Verarbeitung personenbezogener Daten geeignet oder bestimmt ist oder
b) Teil einer Einrichtung oder Anlage ist, die wirtschaftlichen, öffentlichen, wis-
senschaftlichen, künstlerischen, gemeinnützigen oder sportlichen Zwecken
dient oder die den Bereichen Energie, Telekommunikation, Transport und Ver-
kehr, Gesundheit, Wasser, Ernährung, Versorgung, Haustechnik oder Haus-
haltstechnik angehört; …“

Damit sollen nur solche Geräte, Anlagen etc. erfaßt werden, „die objektiv eine
besondere Bedeutung für den Berechtigten haben oder deren Fremdnutzung beson-
ders gefährdungsintensiv ist“41. Nicht vernetzte elektronische Unterhaltungsgeräte,
Taschenrechner oder Spielzeug wie Modelleisenbahnen sollen ausgeschlossen wer-
den.42 Ferner soll die Bagatellklausel in Absatz 1 Satz 2 den Tatbestand einschrän-
ken.
Absatz 2 sieht Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren vor, wenn der Täter gegen Entgelt
oder in Bereicherungs- oder Schädigungsabsicht handelt. Gleichwohl sind die Absät-
ze 1 und 2 als gemischte Antrags- (§ 205 Abs. 1 Satz 2 E-StGB) und Privatklagede-
likte (§ 374 Abs. 1 Nr. 3a E-StPO) ausgestaltet.
Absatz 3 sieht für besonders schwere Fälle wie gewerbs- oder bandenmäßige Be-
gehung bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe vor. Handelt der Täter in der Absicht, einen
Ausfall oder eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit kritischer Infrastrukturen
zu bewirken, so ist dies nach Absatz 4 ein Verbrechen, das mit Freiheitsstrafe von
einem Jahr bis zu zehn Jahren bedroht ist. Darauf, ob die Tathandlung solche kriti-
schen Infrastrukturen gefährdet oder überhaupt gefährden kann, kommt es nicht an;
die bloße Absicht begründet das Verbrechen.
In allen Fällen ist der Versuch strafbar (Absatz 5).
39
Gesetz über das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, BGBl. 2009 I,
2821, zuletzt geändert durch Gesetz vom 23. 6. 2017, BGBl. 2017 I, 1885.
40
BT-Drs. 19/1716, S. 16.
41
BT-Drs. 19/1716, S. 16.
42
BT-Drs. 19/1716, S. 16, 17.
938 Carl-Friedrich Stuckenberg

III. Kritik
1. Kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf

Sowohl die Bundesregierung in ihrer ersten Stellungnahme43 als auch die mei-
sten Kommentatoren haben bemängelt, daß es die Strafbarkeitslücken, die der Ent-
wurf füllen will, nicht gebe mit der Folge, daß kein gesetzgeberischer Handlungs-
bedarf bestehe. In der Tat kann die Forderung nach einem Tatbestand des „digitalen
Hausfriedensbruchs“ verwundern, da diese Bezeichnung im Schrifttum schon seit
über zehn Jahren als Beiname für § 202a StGB verwendet wird.44 Daß § 202a StGB
auf den unbefugten Zugang zu „Daten“ und nicht zu „Systemen“ abstellt, dürfte
keine Lücke eröffnen, denn daß ein Täter Zugriff auf ein IT-System erlangt
ohne zugleich Zugang zu den dort gespeicherten Daten zu erhalten, erscheint
„kaum vorstellbar“45.
Die Entwurfsbegründung will die „Lückenhaftigkeit des derzeitigen Rechtsgüter-
schutzes und das Leerlaufen von § 202a StGB selbst in gravierenden Fällen“46 mit
einem Judikat des BGH belegen, das in der Tat in IT-Kreisen für Unruhe gesorgt
hat. Das LG Kempten hatte einen jugendlichen Angeklagten, der mit anderen ein gro-
ßes Botnetz mit 327.379 infizierten Rechnern aufgebaut und u. a. zum Schürfen von
Bitcoins genutzt hatte, nach § 202a in Tateinheit mit § 303a StGB verurteilt.47 Der
BGH hob das Urteil im Juli 2015 auf, weil die lückenhaften und widersprüchlichen
Feststellungen nicht belegten, daß der Angeklagte, wie es § 202a Abs. 1 StGB ver-
langt, eine Zugangssicherung, die gegen die Infektion mit Malware schützt wie ein
Virenschutzprogramm, überwunden hatte; eine Firewall genüge insofern nicht.48 Der
Entwurf schließt daraus, daß die Anforderungen, die die §§ 202a, 303a, 303b StGB
an die Strafjustiz stellen, für Tatgerichte kaum zu erfüllen seien, weil diese gehalten
seien, „nicht nur die Wirkungsweise der Zugangssicherung der Geschädigten im Ein-
zelnen zumindest exemplarisch darzulegen, sondern auch die Veränderungen, die die
Schadsoftware auf dem Opfersystem vorgenommen“49 hat. Diese Schlußfolgerung

43
BReg, BT-Drs. 18/10182, S. 19; in der Stellungnahme zum wieder eingebrachten Ent-
wurf heißt es, sie wolle die Frage prüfen und ggf. einen eigenen Gesetzentwurf vorlegen, BT-
Drs. 19/1716, S. 19.
44
Schönke/Schröder/Eisele, § 202a Rn. 18 („elektronischer Hausfriedensbruch“) m.w.
Nachw.; Ernst, NJW 2007, 2661; Buermeyer/Golla, K&R 2017, 14, 15; so vormals Sieber, in:
Hoeren/Sieber (Hrsg.), Handbuch Multimedia-Recht, Stand: 2006, Kap. 19 Rn. 418.
45
Buermeyer/Golla, K&R 2017, 14, 15.
46
BT-Drs. 19/1716, S. 13; auch Puttrich, BR-Prot. 965 (2. 3. 2018), S. 59C („Paradebei-
spiel für die Unzulänglichkeit des geltenden Computerstrafrechts zur Bekämpfung der Bot-
netzkriminalität“).
47
LG Kempten Urt. v. 29. 10. 2014 – 6 KLs 223 Js 7897/13 jug (juris).
48
BGH NJW 2015, 3463 f.; dazu Heine, NStZ 2016, 441; Stam, ZIS 2017, 547, 549 f.
49
BT-Drs. 19/1716, S. 13.
Digitaler Hausfriedensbruch? 939

ist nicht haltbar,50 denn zum einen ist das Erfordernis, daß das System „gegen unbe-
fugten Zugang besonders gesichert ist“, eine bewußte Entscheidung des deutschen
Gesetzgebers51 – in der Formulierung angelehnt an § 202 Abs. 2, § 243 Abs. 1
Satz 2 Nr. 2 StGB52 – gewesen und keine Erfindung der Rechtsprechung. Zum ande-
ren ist der Nachweis, daß ein aktuelles Virenschutzprogramm auf einem Opfersy-
stem installiert war und wie dieses funktioniert, nicht schwer zu erbringen.53 Auch
die vorgeschlagene Vorschrift macht den Nachweis, daß sich jemand unbefugten Zu-
gang zu einem System verschafft hat, nicht entbehrlich, was bei solcher Malware, die
– so gut wie – keine Spuren hinterläßt, nicht minder schwierig bleibt, denn es ist im
Gegenteil so, daß nachweisbare Datenmanipulation auch ein Anzeichen für unbefug-
ten Zugang bildet. Zum dritten ist die Forderung des BGH nach einer „hinreichend
genauen Darstellung der Wirkweise der von dem Angeklagten bereitgestellten
Schadsoftware“ eine revisionsrechtliche Banalität, denn ohne konkrete, in den Ur-
teilsgründen gem. § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO dokumentierte Feststellungen ist eine
Kontrolle durch das Revisionsgericht nun einmal nicht möglich.54 Zum vierten ist
das Judikat inzwischen durch das zweite Revisionsurteil in derselben Sache55 vom
Juli 2017 überholt, das die neuen Feststellungen des LG Kempten zu §§ 202a,
303a StGB nunmehr vollständig bestätigt. Die Verwendung einer vorinstallierten,
hier im Betriebssystem integrierten Firewall wird nun für genügend befunden. Ob
die Firewall aktiv war, darf mit einer großzügigen und in ihren Grundlagen unerfind-
lichen56 Schätzung (in 75 % aller Fälle, in casu also in 245.534 Fällen) bejaht werden.
Auch die Zugangsüberwindung wird verblüffend problemlos bejaht: Firewalls sollen
Angriffe von außen abwehren; um dennoch ins System zu kommen, habe der Ange-
klagte einen Trojaner benutzt, also die Firewall umgangen.57 Diese sehr – vielleicht
schon zu58 – pragmatische Herangehensweise des BGH entzieht – und soll dies wo-
möglich auch – den vorgebrachten Bedenken die Grundlage.

50
A.A. Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267, 271, die aufgrund der Rspr. des
BGH eine Einengung der durch § 202a geschützten Systeme besorgen, jedoch ist diese
„Einengung“ im Tatbestand selbst angelegt.
51
Zutr. Basar, jurisPR-StrafR 26/2016 Anm. 1. Denn Art. 2 Satz 2 der Cybercrime-Kon-
vention stellt es den Vertragsstaaten frei, eine Zugangssicherung zu verlangen, vgl. BT-
Drs. 10/5058, S. 29; 16/3656, S. 9 f.; Art. 3 der Richtlinie 2013/40/EU setzt „Zugang durch
eine Verletzung von Sicherungsmaßnahmen“ voraus.
52
BT-Drs. 10/5058, S. 29.
53
A.A. Stam, ZIS 2017, 547, 550 wegen fernliegender Möglichkeiten (manuelle Deakti-
vierung, Programmfehler), die der BGH nun per Schätzung überspielt.
54
BGH NJW 2015, 3463, 3464 Rn. 11.
55
BGH NStZ 2018, 401 mit Anm. Safferling und Brodowski StV 2019, 385.
56
Krit. auch Safferling, NStZ 2018, 405; Brodowski, StV 2019, 385, 386.
57
BGH Beschl. v. 27. 7. 2017 – 1 StR 412/16 Rn. 39 ff. (insoweit nicht vollständig in NStZ
2018, 401); sehr krit. Brodowski, StV 2019, 385, 387.
58
Vgl. Safferling, NStZ 2018, 405; Brodowski, StV 2019, 385 f.
940 Carl-Friedrich Stuckenberg

Zudem ist schon das Herstellen oder Erwerben von Schadsoftware, die ein Bot-
netz etabliert, als Vorbereitung des Ausspähens und Abfangens von Daten nach
§ 202c Abs. 1 Nr. 2 StGB strafbar.59 Die beiden Beispiele der Entwurfsbegründung,
die belegen sollen, daß § 202a StGB nicht greife, überzeugen nicht: Wer jemanden
bei Eingabe einer PIN beobachtet, um diese später unbefugt zu verwenden – mit Bot-
netzen hat das Beispiel übrigens ersichtlich nichts zu tun –, verwirklicht zunächst
§ 202c Abs. 1 Nr. 1 StGB sowie § 44 Abs. 1 i.V.m. § 43 Abs. 2 Nr. 1 BDSG und so-
dann bei Verwendung der PIN anschließend § 202a StGB.60 Der Umstand, daß die
manuell eingegebene PIN wegen ihrer unmittelbaren Wahrnehmbarkeit kein
Datum im Sinne des § 202a Abs. 2 StGB ist, hindert, was der Entwurf übersieht,
die Strafbarkeit nach § 202c StGB nicht, da die verschafften Paßwörter oder Siche-
rungscodes nach fast einhelliger Ansicht selbst keine „Daten“ sein müssen.61
Ähnlich verwirklicht derjenige, der Systeme infiltriert und sodann die Zugangs-
wege verkauft, sowohl § 202c als auch den neuen § 202d StGB, während der Käufer,
der diese Zugänge nutzt, unter § 202a StGB fällt. Anders als der Entwurf62 annimmt,
wird eine Zugangssicherung nicht dadurch aufgehoben, daß sich jemand unbefugt
eine Zugangsmöglichkeit verschafft hat. Zwar gibt es im Schrifttum einige Stimmen,
die eine auch im Einzelfall „wirksame Zugangssicherung“ verlangen und daher etwa
beim Einsatz von durch Phishing erlangten Zugangscodes den Tatbestand vernei-
nen.63 Das erscheint jedoch nicht durchdacht, denn es wäre offensichtlich unsinnig
zu verlangen, daß die Zugangssicherung auch gegenüber dem Täter im Einzelfall
wirksam sein müsse, weil dann die Erfüllung eines Tatbestandsmerkmals (Erlangen
von Zugang) ein anderes (Vorliegen einer Zugangssicherung) immer ausschlösse –
wenn der Täter Zugang erlangt hat, war die Zugangssicherung ihm gegenüber nicht
wirksam –, so daß der Tatbestand nie erfüllt sein könnte. Zugleich würde die Tatva-
riante des § 202c Abs. 1 Nr. 1 StGB, das Sichverschaffen von Zugangscodes zur Vor-
bereitung der unbefugten Zugangsverschaffung, weitgehend leerlaufen, weil es dann

59
BReg, BT-Drs. 18/10182, S. 19; Buermeyer/Golla, K&R 2017, 14, 15.
60
Buermeyer/Golla, K&R 2017, 14, 15; s.a. Seidl/Fuchs, HRRS 2011, 265, 269 f.
61
Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, § 202c Rn. 3; LK/Hilgendorf, 12. Aufl. 2010, § 202c
Rn. 7; MüKo-StGB/Graf, 3. Aufl. 2017, § 202c Rn. 14; NK-StGB/Kargl, 5. Aufl. 2017,
§ 202c Rn. 4; Schönke/Schröder/Eisele, § 202c Rn. 3; SSW/Bosch, 3. Aufl. 2016, § 202c
Rn. 2; Ernst, NJW 2007, 2661, 2663; a.A. SK-StGB/Hoyer, 9. Aufl. 2017, § 202c Rn. 4.
62
Ebenso Roos/Schumacher, MMR 2014, 377, 380, auf die sich der Entwurf bezieht, BT-
Drs. 19/1716, S. 4 Fn. 6.
63
MüKo-StGB/Graf, § 202a Rn. 64; Schönke/Schröder/Eisele, § 202a Rn. 22 m.w.
Nachw.; Dietrich, Das Erfordernis der besonderen Sicherung im StGB am Beispiel des Aus-
spähens von Daten, § 202a StGB, 2009, S. 129; Popp, MMR 2006, 84, 85; Beck/Dornis, CR
2007, 642, 643; Graf, NStZ 2007, 129, 131; a.A. Fischer, § 202a Rn. 9a; NK-StGB/Kargl,
§ 202a Rn. 10 m. w. Nachw.; SSW/Bosch, § 202a Rn. 9; Schuh, Computerstrafrecht im
Rechtsvergleich – Deutschland, Österreich, Schweiz, 2012, S. 234 ff.; Knupfer, MMR 2004,
641, 642; Gercke, CR 2005, 606, 608; Stuckenberg, ZStW 118 (2006), 878, 906; Heghmanns,
wistra 2007, 167, 169; Goeckenjan, wistra 2009, 47, 53; Seidl/Fuchs, HRRS 2010, 85, 88.
Digitaler Hausfriedensbruch? 941

an der Haupttat fehlte.64 Eine sinnvolle Interpretation des § 202a StGB kann daher
nur eine generell bestehende und generell nicht unwirksame Zugangssicherung ver-
langen. Ebenso – zieht man eine Analogie zu analogen Verschlüssen – wird das Re-
gelbeispiel des § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 StGB (Diebstahl einer Sache, die durch ein
verschlossenes Behältnis gegen Wegnahme besonders gesichert ist) ungeachtet des-
sen bejaht, ob der Täter zum Öffnen des Behältnisses einen falschen oder richtigen
Schlüssel verwendet,65 insbesondere wenn er sich den richtigen Schlüssel durch eine
Straftat verschafft hat66.
Nicht überzeugend ist auch die Ansicht, § 303a StGB greife nicht: Um ein Ziel-
system in einen Bot zu verwandeln, wird es in der Regel mit einem Trojaner infiziert,
der dort Schadsoftware so verankert, daß sie auch einen Neustart übersteht, was eine
Speicherung, mithin Datenveränderung auf Bitebene voraussetzt. Die Diskussion, ob
das „bloße Hinzufügen“ von Daten den Tatbestand erfüllt oder nicht,67 erinnert an
scholastische Spitzfindigkeiten. Das geläufige Räsonnement, daß Daten nur be-
stimmte Inhalte und kein leerer Speicherplatz seien, § 303a nur erfüllt sei, wenn
Daten „ein anderer Informationsgehalt zugewiesen und ihr bestimmungsgemäßer
Zweck nicht mehr erfüllt wird“,68 ist zu vordergründig an analogen Informationsver-
körperungen orientiert, geht daher an der technischen Realität vorbei und ist in un-
klarer Weise mit wertenden Elementen durchsetzt. Ein digitaler Speichervorgang un-
terscheidet sich vom Beschreiben eines leeren Blattes Papier schon dadurch, daß
immer auch Metadaten verändert werden, die beinhalten, wo welche Blöcke mit wel-
chen Berechtigungen und Attributen aufzufinden sind; beim Windows-Dateisystem
NTFS befinden diese sich in einer einzigen Datei, dem Master File Table (MTF), die
bei jedem Speichervorgang verändert wird; entsprechend werden beim Hinzufügen
von Programmen Registrierungsdatenbanken verändert. Die bisher einzige tiefer ge-
hende Begründung hat Brodowski geliefert: Bei einer informationstechnisch-forma-
len Betrachtung beschrieben „Daten“ den bitweisen Zustand eines informationstech-
nischen Datenspeichers. Funktional-wertend sei dies nun dahingehend einzuschrän-
ken, daß sich der Schutz der §§ 202a, 303a StGB nur auf solche Daten erstrecke, an
denen ein informationstechnisches Vertraulichkeits- oder Integritätsinteresse beste-
he, das bei nicht allozierten Speicherbereichen und Dateisystemdeskriptoren abzu-
lehnen sei. Folglich sei die bei bloßem Hinzuschreiben eintretende Veränderung

64
Zutr. Schuh (Fn. 63), S. 235.
65
BGH NJW 2010, 3175 f.; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2010, 48; Fischer, § 243 Rn. 17;
LK/Vogel, 12. Aufl. 2010, § 243 Rn. 32.
66
BayObLGSt 1986, 127 = NJW 1987, 665, 666; Fischer, § 243 Rn. 17; a.A. Otto, JR
1987, 221, 225.
67
Verneinend die h.M., Fischer, § 303a Rn. 12; Lackner/Kühl/Heger, 29. Aufl. 2018,
§ 303a Rn. 3; Ernst, NJW 2003, 3233, 3238; Hilgendorf/Valerius, Computer- und Internet-
strafrecht, Rn. 597; Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267, 271; bejahend Haurand/
Vahle, RDZ 1990, 128, 129 f.; Gercke/Brunst, Internetstrafrecht, 2010, Rn. 129 f.; Kochheim
(Fn. 27), Rn. 664, 684; offenlassend BGH NStZ 2018, 401, 403.
68
Exemplarisch Ernst, NJW 2003, 3233, 3238 m.w. Nachw.
942 Carl-Friedrich Stuckenberg

am Dateisystem nicht tatbestandsmäßig gem. § 303a Abs. 1 StGB.69 Daran über-


zeugt die präzise Offenlegung der Wertung, jedoch nicht diese selbst, denn daß
ein Integritätsinteresse daran besteht, daß keine Daten unbefugt auf ein System auf-
gebracht werden, dürfte längst nicht mehr zu bezweifeln sein. Die Frage, wer was
straflos auf einem System speichern darf, sollte nicht objektiv bestimmt und ver-
steckt im Datenbegriff beantwortet, sondern der Willkür des Berechtigten überlas-
sen, also im Merkmal „unbefugt“ entschieden werden. Auch der BGH geht nun
bei Einträgen in und damit Veränderungen von Registrierungs- und Konfigurations-
dateien eines Betriebssystems von tatbestandsmäßiger Datenveränderung aus.70
Selbst wenn man die Tatbestandsmäßigkeit für das Hinzufügen von Schadsoft-
ware ablehnt, ändert sich das jedenfalls in dem Moment, in dem das Schadprogramm
tätig wird.71 Wenn der Entwurf von „fileless malware“ als Gegenbeispiel redet, so
dürfte dies ein Mißverständnis sein: Fileless malware72 ist entweder nur im RAM
präsent, dann aber flüchtig, oder versteckt sich nicht im normalen Dateisystem, son-
dern etwa in der Windows-Registry, der zentralen Datenbank des Betriebssystems.
„Dateilos“ ist fileless malware natürlich nicht, denn es handelt sich immer um Pro-
gramme (Skripte). Sieht man entgegen der neueren Judikatur73 im Hinzufügen eines
Datensatzes im Arbeitsspeicher oder in der Registry noch keine Datenveränderung,
passiert diese jedoch spätestens, wenn die Schadsoftware aktiv wird und eine Inter-
netverbindung aufbaut.74
Die Nutzung des Botnetzes für das Verbreiten von Malware, namentlich Ransom-
ware, für DoS-Attacken usw., ist in der Regel unproblematisch als strafbar zu erfas-
sen.75

2. Persistenz der Strafverfolgungsprobleme

Die vom Entwurf gerügten geringen Verurteilungsziffern bei §§ 202a ff., 303a
StGB liegen nicht an den ungeeigneten Tatbestandsfassungen, sondern an massiven
Nachweisschwierigkeiten. Botnetzbetreiber versuchen mit erheblichem technischen
Aufwand, ihre Identität zu verschleiern. Fileless malware erfreut sich gerade auf-
grund ihrer effektiven Tarnung (low observable characteristics, LOC) zunehmender

69
Brodowski, ZIS 2019, 49, 55.
70
BGH NStZ 2018, 401, 403; insoweit zustimmend Brodowski, StV 2019, 385, 386.
71
BReg, BT-Drs. 18/10182, S. 19; Mavany, KriPoZ 2016, 106, 109; Buermeyer/Golla,
K&R 2017, 14, 15.
72
Vgl. die Artikelserie bei https://blog.malwarebytes.com/threat-analysis/2018/08/fileless-
malware-getting-the-lowdown-on-this-insidious-threat/; s.a. https://www.infoguard.ch/de/blog/
der-mythos-fileless-malware.
73
Fn. 70.
74
Heine, NStZ 2016, 441, 443; Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267, 271.
75
Buermeyer/Golla, K&R 2017, 14, 15; Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267,
271.
Digitaler Hausfriedensbruch? 943

Beliebtheit, weil sie die digitale Forensik vor große Schwierigkeiten stellt. Ihr soll
daher die Zukunft der Cyberkriminalität gehören, sollen doch 2018 schon etwa
ein Drittel aller Cyberangriffe weltweit fileless durchgeführt worden sein.76
Sollte es dennoch gelingen, jemanden ausfindig zu machen, so stellt sich die wei-
tere Schwierigkeit, daß Botnetze vielfach in internationaler Arbeitsteilung betrieben
werden und die internationale Rechtshilfe in Strafsachen oft wenig effektiv ist. Diese
Probleme sind es, die die Praxis hemmen, und nicht die Kompliziertheit der Erklä-
rung der Wirkungsweise der Schadsoftware auf einem Zielsystem.
Diese Nachweisprobleme wird auch ein weiterer Straftatbestand nicht lösen kön-
nen, er wird vielmehr ebenso von ihnen betroffen sein. Es mutet daher befremdlich
naiv an, wenn der Entwurf behauptet, mit dem neuen § 202e StGB seien alle Beweis-
probleme mit einem Mal verschwunden, weil man nur die „Täterinfrastruktur“ aus-
werten müsse – des Täters und erst recht seiner Infrastruktur überhaupt habhaft zu
werden, die überall auf der Welt lokalisiert sein mag, ist ja gerade das Problem.
Ist man dessen habhaft geworden, ist auch die Anwendung der lex lata ohne weiteres
möglich, wie der BGH nun bestätigt hat.

3. Überbreite des neuen Tatbestands

Die Rede der Entwurfsbegründung vom „lückenlosen Strafrechtsschutz“ eines


bewußt möglichst weit gefaßten Tatbestandes, der aber mit dem Bestimmtheitsgebot
aus Art. 103 Abs. 2 GG verträglich sei,77 läßt jeden Strafrechtswissenschaftler hell-
hörig werden, der den fragmentarischen Charakter des Strafrechts für eine rechts-
staatliche Errungenschaft hält. In der Tat stellt der neue Tatbestand praktisch
jeden unbefugten Umgang mit einem IT-System unter Strafe, sofern dieser Umgang
nur geeignet ist, „berechtigte Interessen“ irgendeines anderen zu beeinträchtigen.
Anders als die Entwurfsverfasser meinen, ist schon der Ausdruck „berechtigte Inter-
essen“ wohl von verfassungswidriger Unbestimmtheit.78 Überdies ist schwer zu er-
kennen, wie das Interesse desjenigen, der ein exklusives Nutzungsrecht an einem IT-
System, das oft bereits aus dem Eigentum daran folgt, hat, an der Unterbindung un-
befugter Nutzung jemals unberechtigt sein könnte.
Kritiker haben schon allerhand Beispiele ersonnen, die den Tatbestand ad absur-
dum führen sollen. So wäre derjenige strafbar, der in einem computergesteuerten Lift
beim Ausstieg im 10. Stock entgegen der Liftordnung sämtliche Etagenknöpfe
drückt, damit der Lift auf seinem Weg nach unten überall halten muß, wenn dies ge-
eignet ist, das berechtigte Interesse des Liftbetreibers zu beeinträchtigen, daß der Lift

76
So z. B. die Studie von Malwarebytes Labs, Under the Radar – The Future of Undetected
Malware, 2018, S. 2 (https://resources.malwarebytes.com/files/2018/12/Malwarebytes-Labs-
Under-The-Radar-US.pdf).
77
BT-Drs. 19/1716, S. 3, 5, 16.
78
Kritisch auch Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267, 269.
944 Carl-Friedrich Stuckenberg

nicht unnötig fährt oder hält.79 Dasselbe kann man sich mit im Alltag durchaus zu
beobachtenden juvenilen Scherzbolden denken, die in einer Straßenbahn oder
einem Bus immer den Haltewunschknopf drücken, obwohl an der nächsten Haltestel-
le ersichtlich niemand ein- oder aussteigen will, und damit die Fahrt aufhalten und
die übrigen Fahrgäste enervieren. Strafbar wäre auch, wer bei einem Abendessen mit
seinem Partner in einem unbemerkten Augenblick dessen Diensthandy ausschaltet,
um ungestört zu bleiben, wenn dem anderen dadurch ein wichtiger Anruf seines Ar-
beitgebers entgeht und Ärger droht.80 Daß Taschenrechner nicht auch in wissen-
schaftlichen Einrichtungen oder elektronische Unterhaltungsgeräte nicht künstle-
risch genutzt werden könnten,81 leuchtet ebenfalls nicht ein.
Das fehlende Strafbedürfnis in solchen Fällen dadurch abzusichern, daß wohl kein
Strafantrag gestellt würde oder, falls doch, daß der Antragsteller vom Staatsanwalt
auf den mühseligen Privatklageweg (§§ 374 ff. StPO) verwiesen würde,82 den heute
niemand mehr gehen mag, ist ersichtlich keine gute Lösung. Es ist schlechte Gesetz-
gebungstechnik, überbreite Tatbestände durch das Strafprozeßrecht, das dazu nur be-
dingt taugt, auf das rechte Maß zurechtstutzen zu lassen.
Wie die Bundesregierung zu recht bemerkt hatte, ist ein solcher Tatbestand, der
unbefugte Nutzung umfassend unter Strafe stellt, bisher ohne Beispiel im Strafge-
setzbuch.83 Die Analogie zur Strafbarkeit des unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen
in § 248b StGB geht fehl, denn dabei wird das Fahrzeug dem Berechtigten entzogen,
der es dann nicht selbst nutzen kann, während ein infiltriertes IT-System dem Nutzer
zumeist nach wie vor zur Verfügung steht, zumal wenn, wie der Entwurf selbst an-
merkt,84 die parasitäre Botaktivität nur so wenig Rechenleistung beansprucht, daß sie
völlig unbemerkt bleibt.

4. Fehlkonzeption des geschützten Rechtsguts

Das führt zum nächsten Kritikpunkt, nämlich der Inkonsistenz der Konzeption des
Tatbestands. Es ist schon nicht ganz klar, welche sozial unerwünschten Phänomene
erfaßt werden sollen: Jedenfalls das Beispiel aus der Entwurfsbegründung, daß der
Täter jemanden beim Entsperren seines Smartphones beobachtet, sowie das Smart-
TV-Beispiel des nordrhein-westfälischen Justizministers haben mit Botnetzen nichts
zu tun.

79
Beispiel von Buermeyer/Golla, K&R 2017, 14, 16 f.
80
Beide Beispiele von Biselli, https://netzpolitik.org/2016/digitaler-hausfriedensbruch-hes
sen-will-neuen-straftatbestand-gegen-bereits-illegale-botnetze-einfuehren/ (11. 8. 2016).
81
Beispiele von Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267, 269.
82
Vgl. BT-Drs. 19/1716, S. 12, 18.
83
BT-Drs. 18/10182, S. 19.
84
BT-Drs. 19/1716, S. 14.
Digitaler Hausfriedensbruch? 945

Der Entwurf zieht insgesamt vier Schutzgüter heran, deren Verhältnis zueinander
ungeklärt bleibt und die nur durch das Tatmittel verklammert werden: Zum einen die
Analogie zum Hausrecht – das betrifft die Frage, wer Zugang zu einem IT-System hat
und sich bildlich gesprochen darin aufhalten darf. Der unbefugte Systemzugang und
die unbefugte Datenspeicherung sind, wie gesehen, allerdings schon nach §§ 202a,
303a StGB strafbar. Zum zweiten das „schlichte Gebrauchsrecht“85 an einem IT-Sys-
tem – die Entwurfsbegründung gesteht jedoch zu, daß „Botnetzaktivitäten wie das
Versenden von Spam oder das Generieren von Bitcoins … nicht zwingend in das In-
teresse der Betreiber und Nutzer am störungsfreien Funktionieren ihrer Datenverar-
beitung“86 eingreifen. Sofern die rechtmäßige Nutzung aber nicht beeinträchtigt
wird, besteht wie gesehen gerade keine Parallele zur Gebrauchsanmaßung von Fahr-
zeugen nach § 248b StGB. Überdies stehen Hausfriedensbruch und Gebrauchsanma-
ßung, unbefugter Zugang und unbefugte Nutzung, in keinem inneren Zusammen-
hang, ihre bloße Addition erscheint willkürlich.
Als drittes Schutzgut wird das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit
und Integrität informationstechnischer Systeme herangezogen. Dieses Grundrecht
betrifft nach dem Urteil des BVerfG indes nur solche Systeme
„… die allein oder in ihren technischen Vernetzungen personenbezogene Daten des Betrof-
fenen in einem Umfang und in einer Vielfalt enthalten können, dass ein Zugriff auf das Sy-
stem es ermöglicht, einen Einblick in wesentliche Teile der Lebensgestaltung einer Person
zu gewinnen oder gar ein aussagekräftiges Bild der Persönlichkeit zu erhalten.“87

Umgekehrt gilt:
„Soweit ein derartiges System nach seiner technischen Konstruktion lediglich Daten mit
punktuellem Bezug zu einem bestimmten Lebensbereich des Betroffenen enthält – zum Bei-
spiel nicht vernetzte elektronische Steuerungsanlagen der Haustechnik –, unterscheidet sich
ein staatlicher Zugriff auf den vorhandenen Datenbestand qualitativ nicht von anderen Da-
tenerhebungen. In einem solchen Fall reicht der Schutz durch das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung aus, um die berechtigten Geheimhaltungsinteressen des Betroffenen zu
wahren.“88

Daß der Schutz dieses Grundrechts diesen neuen Straftatbestand benötige, wie die
Entwurfsbegründung behauptet, überzeugt aus zwei Gründen nicht: Erstens kristal-
lisiert sich das Grundrecht um personenbezogene Daten herum und ist nur dann ge-
fährdet, wenn solche Daten wenigstens in Gefahr der Ausspähung etc. sind, was be-
reits von §§ 202a ff., 303a StGB erfaßt wird.89

85
BT-Drs. 19/1716, S. 11; Kühne-Hörmann, BR-Prot. 948, S. 350D.
86
BT-Drs. 19/1716, S. 15.
87
BVerfGE 120, 274, 314.
88
BVerfGE 120, 274, 313.
89
Anders Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267, 271, 273 f., dazu s. u. bei Fn. 101.
946 Carl-Friedrich Stuckenberg

Zweitens betrifft der vorgeschlagene Tatbestand, wie die Bundesregierung zu


recht bereits hervorgehoben hat,90 auch Systeme, die keine personenbezogenen
Daten verarbeiten und somit nicht unter das Grundrecht fallen, nämlich die von
Abs. 6 Nr. 1b) erfaßten Automatisierungs-, Prozeßsteuerungs- und Prozeßleitsyste-
me wie das beispielhaft genannte „ferngesteuerte Schleusentor“. Hiermit wird offen-
bar der Schutz kritischer Infrastruktur bezweckt, wofür es bereits u. a. den Tatbestand
der Computersabotage nach § 303b StGB gibt.
Dies führt zum vierten Schutzaspekt, den der Entwurf nennt, nämlich die hohe
Gefahr für die Allgemeinheit, die von unbefugt genutzten informationstechnischen
Systemen ausgehe,91 während andererseits angenommen wird, der einfache „digitale
Hausfriedensbruch“ berühre Belange der Allgemeinheit mitunter so wenig, daß er als
Privatklagedelikt ausgestaltet werden könne92. Die Gemeingefahren für Infrastruk-
tureinrichtungen durch spezialisierte Botnetze sind gar nicht zu bezweifeln, jedoch
fragt sich, was sie in diesem Tatbestand zu suchen haben.93
Insgesamt erscheint schon der Ansatz des Gesetzentwurfs verfehlt: Das Errichten
eines Botnetzes ist in erster Linie nicht deshalb sozialschädlich, weil die Nutzer der
infiltrierten Systeme massiv geschädigt würden – deren Beeinträchtigung ist oft nicht
spürbar –, sondern weil damit ein mächtiges Tatwerkzeug zur Begehung weiterer
Straftaten hergestellt wird.

5. Fehlorientierung: Strafrecht statt IT-Sicherheit?

Schließlich erliegt die Entwurfsbegründung einem Kategorienfehler mit der selt-


sam anmutenden Aussage, weil der Nutzer sich praktisch nicht wirksam auf techni-
schem Wege gegen Schadsoftware schützen könne, müsse der strafrechtliche
„Schutz“ lückenlos ausgebaut werden:94 Verwechselt wird der faktische Schutz,
den Maßnahmen der IT-Sicherheit bewirken können, die entgegen der defätistischen
Haltung des Entwurfs auch der Bürger in gewissem Umfang effektiv ergreifen kann,
und der symbolische Schutz durch das sanktionsbewehrte gesetzliche Verbot schä-
digenden Verhaltens. Das Strafrecht kommt bekanntlich immer zu spät, nämlich
erst dann, wenn der Schaden schon eingetreten ist. Es kann freilich auch präventiv
wirken, falls der Täter sich von der Strafdrohung beeindrucken läßt, doch ist
kaum zu erwarten, daß ein irgendwo im Ausland sitzender Botnetzbetreiber, der
mit guten Gründen darauf vertraut, daß die Strafverfolgungsbehörden ihn nie finden
werden, zumal er gerade auf fileless attacks umgestellt hat, sich vor einem deutschen
Paragraphen fürchten wird.

90
BReg, BT-Drs. 18/10182, S. 19 f.
91
BT-Drs. 19/1716, S. 1 mit Beispielen, 5.
92
BT-Drs. 19/1716, S. 18.
93
Zutr. Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267, 268, 269 f.
94
BT-Drs. 19/1716, S. 3, auch S. 2, 11.
Digitaler Hausfriedensbruch? 947

Geradezu abenteuerlich wäre es, wenn damit zum Ausdruck gebracht werden soll-
te, ein „lückenloser“ Strafrechtsschutz mache tatsächliche Schutzmaßnahmen der
IT-Sicherheit entbehrlich. Dann könnte man auch wegen der jüngsten Verschärfung
der Strafe für Wohnungseinbruchsdiebstahl (§ 244 Abs. 4 StGB)95 die Sicherung von
Türen und Fenstern unterlassen und stattdessen einen Ausdruck des Diebstahlspara-
graphen an die Haustür heften. Gute Kriminalpolitik sollte aber nicht Wunsch und
Wirklichkeit verwechseln.

IV. Alternativen?
Im Schrifttum wurden mehrere alternative Vorschläge zum hessischen Entwurf
entwickelt. Buermeyer/Golla wollen § 202c StGB um die Variante der Malware-In-
fektion ergänzen:96
㤠202c Abs. 1 Satz 2 StGB РEbenso wird bestraft, wer eine Straftat vorbereitet, indem er
Programmcode auf ein informationstechnisches System ohne Einwilligung einer berechtig-
ten Person in der Absicht aufbringt, diesen ausführen zu lassen.“

Damit würden, wie die Autoren einräumen, allenfalls minimale Strafbarkeits-


lücken geschlossen. Es handelt sich also nur um eine überflüssige Klarstellung,
die sich zudem mit dem Nachweis der Vorbereitungsabsicht belastet.
Kahler/Hoffmann-Holland schlagen zwei Vorschriften vor, eine zum Schutz vor
Infiltration und unbefugter Nutzung (§ 303b Abs. 2-neu) und eine zweite zum Schutz
des Grundrechts auf Integrität und Vertraulichkeit persönlicher informationstechni-
scher Systeme (§ 202e-neu).97 Der neue § 303b Abs. 2 soll lauten:
„Ebenso wird bestraft, wer durch unbefugtes Anbringen eines Programmcodes auf einem
informationstechnischen System auf diesem unbefugte Datenverarbeitungsvorgänge aus-
führt oder ausführen lässt und dadurch dem Berechtigten erhebliche Nachteile zufügt.“

Praktische Zweifel ergeben sich schon daraus, daß eine Verringerung der Rechen-
leistung durch die Inanspruchnahme der Bots oft nicht spürbar ist, so daß auch die
Annahme einer „erheblichen Steigerung der Stromrechnung“98 – ganz abgesehen
von den Nachweisproblemen – wenig plausibel erscheint. Es fragt sich weiterhin,
ob überhaupt eine unbefugte Nutzung, die mit erheblichen Nachteilen einhergeht,
vorstellbar ist, die nicht schon unter §§ 202a, 303a StGB fällt. Die Autoren räumen
im übrigen zu recht ein, daß der Schutz vor Botnetzen nicht in erster Linie an Män-
geln oder Lücken des Strafrechts leide.99

95
55. StÄG – Wohnungseinbruchsdiebstahl vom 17. 7. 2017, BGBl. 2017 I, 2442.
96
Buermeyer/Golla, K&R 2017, 14, 18.
97
Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267, 272, 274.
98
Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267, 274.
99
Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267, 272.
948 Carl-Friedrich Stuckenberg

Kahler/Hoffmann-Holland gehen sodann davon aus, daß das neue Grundrecht auf
Integrität und Vertraulichkeit persönlicher informationstechnischer Systeme auch
eine grundrechtliche Schutzpflicht auslöse.100 Der alternative § 202e, der einen vir-
tuellen Raum der Privatheit, die „virtuelle Wohnung“101 schützen soll, soll lauten:
„Wer sich unbefugt zu einem informationstechnischen System, das geeignet ist, personen-
bezogene Daten des Berechtigten zu enthalten, die einen Einblick in wesentliche Teile sei-
ner Lebensgestaltung geben können, Zugang verschafft, wird mit Freiheitsstrafe bis zu
einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit
schwerer Strafe bedroht ist.“

Erfaßt werden sollen auch manuelle Zugänge zu persönlichen IT-Systemen,


zumal nicht einsehbar sei, daß verschlossene Schriftstücke nach § 202 StGB stärker
geschützt würden als hochsensible informationstechnische Systeme. Andererseits
soll eine Orientierung am grundrechtlichen Schutzgut bei der Tatbestandsgestaltung
vorzugswürdig sein gegenüber „Analogien zu analogen Straftatbeständen“102 – dies
hier in der Tat schon deshalb, weil § 202 auf keinem konsistenten Schutzkonzept be-
ruht103.
Verfehlt erscheint zunächst die Eignungsklausel, weil sie den Tatbestand über-
breit macht und Versuche in vollendete Delikte verwandelt: Wer unbefugt das unge-
sicherte Smartphone eines anderen durchsucht, um private Daten zu finden, die dort
nicht mehr zu finden sind, weil sie gelöscht wurden, wäre trotzdem wegen Vollen-
dung strafbar, weil Smartphones generell geeignete Tatobjekte sind. Zweifelhaft er-
scheint ferner, ob die schiere Grundrechtsberührung schon die Schwelle zur Strafbar-
keit überschreitet: Botnetzbetreiber infiltrieren Systeme nicht deshalb, weil sie an
einem „aussagekräftigen Bild der Persönlichkeit“ des Berechtigten interessiert
sind, sondern an Zugangsdaten und Rechenleistung; Familienfotos, Tagebücher
und privater Nachrichtenverkehr werden ansonsten nicht einmal „angeschaut“.
Es fragt sich schließlich, ob der Schutz von Geräten – auch das BVerfG hatte Per-
sonalcomputer, Notebooks, Mobiltelefone oder elektronische Terminkalender im
Blick104 – sich nicht zu sehr an Dinge und damit an den ephemeren Stand der Technik
bindet: Was ist mit demjenigen, der seine Daten in der Cloud speichert, auf die von
überall aus mit beliebigen Geräten zugegriffen werden kann? Vorzugswürdig er-
scheint der Schutz der Daten selbst, den aber §§ 202a, 202b, 303a StGB und
§§ 44, 43 BDSG bereits in weitem Umfang gewährleisten.

100
Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267, 274 mit Verweis auf Papier, NJW 2017,
3025; Heinemann, Grundrechtlicher Schutz informationstechnischer Systeme, 2015, S. 209 ff.
101
Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267, 274.
102
Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267, 274 mit Fn. 78; auch Tassi, DuD 2017,
175, 178.
103
Vgl. nur MüKo-StGB/Graf, § 202 Rn. 2 f.
104
BVerfGE 120, 274, 314.
Digitaler Hausfriedensbruch? 949

V. Fazit
Der von Hessen vorgeschlagene Tatbestand eines neuen § 202e StGB ist unnötig,
unbestimmt, überbreit und unstimmig. Er sollte nicht Gesetz werden. Die über den
Einzelfall hinausreichende Lehre daraus ist, daß Analogien zwar seit der Antike ge-
bräuchliche rhetorische Figuren und noch heute nützliche Hilfsmittel des Denkens
und Argumentierens sind, die aber auch rasch in die Irre führen können, wenn
man vorschnell Ähnlichkeiten annimmt und relevante differentiae specificae über-
sieht. Das sinnenfällige Gleichnis kann rhetorische Verstärkung leisten, enthebt
aber nicht von der dogmatischen Anstrengung,105 auf der ein Gesetzentwurf allein
ruhen kann. Reinhard Merkels Analogie zum Hausfriedensbruch war lediglich bei-
läufige Garnitur nach eingehender Phänomenbeschreibung und rigoroser strafrecht-
licher Analyse. Dem Gesetzgeber sei dies als Vorbild empfohlen.

105
Hilfreich zur Verbesserung der analytischen Klarheit können dabei insbesondere die
von Brodowski ZIS 2019, 49, 51 ff. entwickelten Regelungs- und Auslegungsmodelle sein,
s. o. Fn. 3 und bei Fn. 69.
Das gesetzliche Merkmal „gegen den erkennbaren Willen“
in der Neufassung des § 177 Abs. 1 StGB
Von Gereon Wolters

Durch das inzwischen schon über drei Jahre geltende „Fünfzigste Gesetz zur Än-
derung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbe-
stimmung“1 ist die Strafvorschrift des § 177 StGB unter großer Beachtung der (me-
dialen) Öffentlichkeit2 und viel politischem Beifall3 in weitem Umfang neu gestaltet
worden. Im ersten Satz der Begründung der Beschlussempfehlung des Rechtsaus-
schusses des Deutschen Bundestages wird der (subjektiv) leitende Gedanke heraus-
gehoben: „Der Wille des Opfers soll in das Zentrum der Verletzung der sexuellen
Selbstbestimmung gestellt werden“.4 Die deswegen zu vollziehende Abkehr vom
hergebrachten Erfordernis des (nötigenden) Überwindens eines Widerstands des Op-
fers und die Hinwendung zur (selbst so bezeichneten) „Nichteinverständnislösung“5
glaubte man bei der Gesetzesfassung dadurch in Worte kleiden zu können, dass die
tatbestandsspezifische sexuelle Handlung „gegen den erkennbaren Willen“ der in das
Sexualgeschehen einbezogenen Person vorgenommen oder von ihr hingenommen
wird.6
Nun war es den Buchstaben des Strafgesetzbuchs schon zuvor nicht fremd, für ein
tatbestandliches Verhalten auf einen entgegenstehenden Willen der betroffenen Per-
son abzustellen: So verlangt die „Wählertäuschung“ nach § 108a Abs. 1 StGB, dass
jemand „gegen seinen Willen nicht oder ungültig wählt“, und setzen der „unbefugte
Gebrauch eines Fahrzeugs“ nach § 248b Abs. 1 StGB oder die Regelerschwerung des
„Schwangerschaftsabbruchs“ nach § 218 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB voraus, dass
1
Vom 4. November 2016 (BGBl. I S. 2460).
2
S. dazu aber auch Fischer, StGB, 64. Aufl. (2017), Vor § 174 Rdnr. 3c („nach überaus
emotionalisierter, rechtspolitisch auf abwegige Anlässe gestützter Diskussion zustande ge-
kommen“).
3
Der Umstand, dass die hier zu betrachtende Strafvorschrift vom Bundestag am 7. Juli
2016 in zweiter Lesung einstimmig und ohne Enthaltung beschlossen worden ist (BT-Ple-
narprotokoll 18/183, 18015 D), dürfte keinen ungetrübten Anlass zur Freude geben, sondern
hinsichtlich der parlamentarischen Kultur eher sehr nachdenklich stimmen, da ein derartiges
Abstimmungsergebnis doch einen sicheren Beweis dafür bilden dürfte, dass eine inhaltlich
kritische, gar wissenschaftlich begleitete Beschäftigung mit dem vom Vorabend (!) stam-
menden Entwurf vollständig ausgeblieben ist.
4
BT-Drucks. 18/9097 S. 21 (Hervorhebung nicht im Original).
5
BT-Drucks. 18/9097 S. 21 (mit dem Klammerzusatz „,Nein-heißt-Nein‘-Lösung“).
6
S. dazu BT-Drucks. 18/9097 S. 21.
952 Gereon Wolters

„gegen den Willen des Berechtigten“ bzw. „gegen den Willen der Schwangeren“ ge-
handelt wird. Neben diesen ausdrücklichen Erwähnungen im Gesetz erscheint die
Formel etwa aus den gängigen strafrechtlichen Definitionen des „Eindringens“ bei
§ 123 Abs. 1 StGB oder der „Wegnahme“ bei § 242 Abs. 1 StGB von alters her ver-
traut, wenn sie ein Handeln „gegen den Willen“7 bzw. „gegen oder ohne den Willen“8
des Berechtigten bzw. Gewahrsamsinhabers voraussetzen.9
Der oder die mit Gesetzesfassungen oder -ausfüllungen Beschäftigte darf sich
trotz des vordergründig Vertrauten durchaus ein wenig verwundert darüber zeigen,
dass der Gesetzgeber bei der Neufassung des § 177 Abs. 1 StGB eine Formulierung
anscheinend für unzweideutig gehalten hat, die mit dem menschlichen „Willen“ auf
einen Begriff abstellt, der wohl zu den schillerndsten in der Sprache, in der Philoso-
phie und in der Neurologie gehört und damit auch im Recht facettenreich und un-
scharf sein dürfte. Da es zudem nicht einmal allein um den „Willen“ geht, das Ver-
halten vielmehr auch „gegen“ diesen in die Welt treten und zudem „erkennbar“ sein
muss, bedarf es keiner seherischen Fähigkeiten vorauszusagen, dass jedes einzelne
dieser Merkmale und ihr Verhältnis zueinander kontrovers diskutiert werden und
bleiben wird.
Wenn hierzu die folgenden Zeilen einen kleinen Beitrag leisten möchten, wird
Reinhard Merkel gleich aus zwei Richtungen Geleit geben: So kommentiert der Ju-
bilar mit dem Schwangerschaftsabbruch gerade eine solche Strafvorschrift, die zu
den sehr wenigen Regelungen zählt, welche die Wendung „gegen den Willen“
(dort: der Schwangeren) enthält (§ 218 Abs. 2 Nr. 1 StGB).10 Mag dies hinsichtlich
des Gegenstands der Überlegungen kaum mehr als ein „Zufallsfund“ sein, so werden
die sehr tiefgehenden Beschäftigungen Reinhard Merkels zur allgemeinen Deutung
des menschlichen „Willens“11 eine fruchtbare Stütze sein.

7
Lilie, in: LK-StGB, 12. Aufl. (2009), § 123 Rdnr. 29.
8
Ostendorf, in: NK-StGB, 5. Aufl. (2017), § 123 Rdnr. 29; Schmitz, in: MüKo-StGB,
3. Aufl. (2017), § 242 Rdnr. 86.
9
Auch dem gesetzlichen Merkmal „Nötigen“ wohnt dann ein verwandtes Element inne,
wenn es – wie gängig – im Sinne eines Veranlassens zu einem Verhalten „gegen den Willen“
gedeutet wird (s. etwa Fischer, StGB, 67. Aufl. [2020], § 240 Rdnr. 4); da sich aber gerade an
dieses Etikett kontroverse Diskussion knüpfen (s. nur die kritischen Ausführungen von Kargl,
in: Festschrift Roxin [2001], 905 ff.), liegen abzuleitende Erkenntnisse jedenfalls nicht offen
zutage.
10
Reinhard Merkel, in: NK-StGB, 5. Aufl. (2017), § 218 Rdnrn. 159 ff.
11
Reinhard Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, Eine strafrechtsphilosophische
Untersuchung (2008).
Das gesetzliche Merkmal „gegen den erkennbaren Willen“ 953

I. Näherung an den tatbestandsspezifischen Begriff des „Willens“


In letzterer Hinsicht wird hier natürlich nicht verkannt, dass Reinhard Merkel sich
zwar sehr eingehend, selbstbekennend auf einem „langen, labyrinthischen Weg“,12
mit dem menschlichen „Willen“ und der menschlichen „Willensfreiheit“ auseinan-
dergesetzt hat, seine Überlegungen aber stets darauf gerichtet waren, neue Erkennt-
nisse zur „Schuld“ bzw. für den (modernen) Umgang mit dem Schuldprinzip zu ge-
winnen.13 Anleihen an seine Untersuchungen müssen danach zweierlei berücksich-
tigen: Wird nach der Bedeutung des (freien) Willens für die Bewertung strafrechtli-
cher Schuld gefragt, geht es zum einen um die Legitimation für die Zuschreibung von
Verantwortlichkeit unter dem Gesichtspunkt, ob überhaupt oder in welchem Maße
der Mensch normgemäß motivierbar ist.14 Der (freie) „Wille“ steht in diesem Zusam-
menhang mithin als außerrechtliches Phänomen vor der Auslegung des gesetzlichen
Terminus der „Schuld“ (wie er sich einfachgesetzlich in § 20 oder 46 Abs. 1 StGB
findet15 oder ein grundgesetzlich verbürgtes Element rechtsstaatlichen Strafens dar-
stellt16). Demgegenüber handelt es sich bei dem Untersuchungsgegenstand um ein
straftatbestandlich geschriebenes Merkmal, das es nach den Regeln der Methodik
auszulegen gilt, was sich – am Rande vermerkt – als schlichterer Auftrag erweisen
dürfte. Zum anderen wird natürlich nicht übersehen, dass Reinhard Merkels Überle-
gungen den „Willen“ des Tatsubjekts zu seinem strafrechtswidrigen Verhalten betref-
fen, es hier aber auf jenen des Handlungsobjekts ankommt.
Trotz dieser anderen Lozierungen zeigen seine Gedanken aber auf dem rechten
Weg der Auslegung des Begriffs bereits den wichtigen Ausgangspunkt: So muss
die Normanwendung scharf mit dem Begriff des „Willens“ arbeiten, darf sich also
nicht von dem vielleicht ersten Impuls dazu verleiten lassen, ihn mit dem Eigen-
schaftswort „frei“ zu verbinden (zumal dem Gesetzgeber – wie § 1896 Abs. 1a
BGB zeigt – das Merkmal „gegen den freien Willen“ durchaus vertraut ist). Ob
die Vornahme oder Hinnahme eines bestimmten Verhaltens autonom motiviert ist
oder nicht, mag im allgemeinen Verständnis mit dem (eigentlichen) „Willen“ in Ver-
bindung stehen, in spezifisch straftatbestandlicher Hinsicht steht aber grammatika-
lisch vor der Eigenschaft, „frei“ zu sein, die Notwendigkeit, ihren Bezugsgegenstand
ohne entsprechende Vorwertungen zu beschreiben.17 Demnach verbietet es sich ei-
nerseits, mit dem Hauptwort „Wille“ vorschnell etwaige interne oder externe Zwän-
ge oder andere Fremdbestimmungen zu vermengen.18 Andererseits erscheint es
wenig hilfreich, auf amorphe, weder fassbare noch zueinander zu gewichtende men-
12
Reinhard Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld (2008), S. 133.
13
Zusammenfassend Reinhard Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld (2008),
S. 133 ff.
14
Reinhard Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld (2008), S. 22 ff.
15
Eingehend Reinhard Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld (2008), S. 110 ff.
16
S. hier nur BVerfGE 20, 323 (331).
17
Reinhard Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld (2008), S. 15.
18
Vgl. Reinhard Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld (2008), S. 12.
954 Gereon Wolters

tale Faktoren des Kognitiven, Physiologischen, Emotionalen oder Motivationalen


abzustellen, um dem Begriff die Eigenschaft anzuheften, „selbstbestimmt“ zu
sein.19 Vielmehr wird man eingangs den Begriff des „Willens“ nicht nur von
allem lösen müssen, was in ihm im Sinne einer gutheißenden Einstellung oder gar
eines billigenden Erstrebens mitschwingen mag, sondern ihn auch konzentrieren
müssen auf die jeweilige Tatsituation ohne Ansehung etwaiger Aufklärungsdefizite
oder Erwartungsenttäuschungen des Opfers. Ganz im Sinne Reinhard Merkels wird
man vielmehr die menschliche „Entscheidung“ zu einem Verhalten,20 sei es ein ak-
tives oder passives in Gestalt der Vornahme oder Hinnahme einer (hier: sexuellen)
Handlung, zum Kern der Überlegungen zu machen haben. Die Formulierung des
Art. 36 Abs. 2 der „Istanbul-Konvention“,21 der man sich im Gesetzgebungsverfah-
ren besonders verpflichtet fühlte,22 spricht nicht nur nicht gegen eine Deutung im vor-
gesagten neutralen Sinne, sondern stützt sie durch die – dort auf das erklärte Einver-
ständnis („consent“) gerichtete – Verwendung der Ausdrücke „voluntarily as the re-
sult of the person’s free will“,23 sogar, da auch hierdurch dem Willen gerade eine be-
stimmte Eigenschaft, nämlich frei zu sein, hinzugefügt wird.

II. Der „Wille“ als Merkmal der äußeren Tatseite


Indem das Gesetz die Wendung „gegen den erkennbaren Willen“ aufnimmt und
nicht etwa voraussetzt, dass das Geschehen „erkennbar gegen den Willen“ vonstatten
geht, wird deutlich, dass kein Fahrlässigkeitsaspekt im Sinne eines sorgfaltswidrigen
Verkennens des Widerwillens einzufließen hat,24 sondern sämtliche Elemente (äuße-
re) Tatumstände beschreiben. Da aber auch nicht auf ein Merkmal „gegen den er-
kannten Willen“ abzustellen ist, zeigen sich die maßgebenden Notwendigkeiten,
dass erstens der innere Wille der einbezogenen Person objektiv entgegensteht,
sich dieser zweitens objektiv greifbar zeigt und drittens subjektiv der Täter in Anse-
hung dieser Umstände handelt. Aus dem Miteinander des „Willens“ und der „Er-
kennbarkeit“ auf der äußeren Tatseite zeigt sich dabei ein erster wesentlicher Unter-
schied zu anderen Tatbeständen, die ein Handeln „gegen den Willen“ voraussetzen
(wie die §§ 108a Abs. 1, 218 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 oder 248b Abs. 1 StGB). So wird das
Merkmal „gegen den Willen“ hier nicht gleichzusetzen sein mit einem „generellen“
oder „mutmaßlichen“ Widerstreben, wie es etwa in § 248b Abs. 1 StGB „hineinge-

19
So aber Hörnle, NStZ 2019, 439 (440).
20
Reinhard Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld (2008), S. 7.
21
Council of Europe Convention on preventing and combating violence against women
and domestic violence (CETS No. 210). Vgl. BGBl. II 2017 S. 1026.
22
BT-Drucks. 18/9097 S. 21.
23
Der Absatz lautet im Ganzen: „Consent must be given voluntarily as the result of the
person’s free will assessed in the context of the surrounding circumstances“.
24
Vgl. Renzikowski, NJW 2016, 3553 (3554); El-Ghazi, ZIS 2017, 157 (165 f.); Lederer,
AnwBl 2017, 514 (515); Hoven/Weigend, KriPoZ 2018, 156 (158 [Anmerkung 22]).
Das gesetzliche Merkmal „gegen den erkennbaren Willen“ 955

lesen“ werden mag.25 Auch kann nicht auf einen nur inneren Widerwillen26 oder dar-
auf abgestellt werden, dass er lediglich einer dritten Person gegenüber ausgedrückt
worden ist, wie dies bei § 218 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB für ausreichend erachtet
wird.27 Verlangt nämlich die äußere Tatseite die Erkennbarkeit des Willens, muss
für ihre Beurteilung „die Sicht eines objektiven Dritten“28 auf die konkrete Tatsitua-
tion eingenommen werden; dies spiegelt sich wiederum in Art. 36 Abs. 2 der Istan-
bul-Konvention dahingehend, als auch dort die sich objektiv zeigenden tatsächlichen
Umstände für maßgeblich erachtet werden („… in the context of the surrounding
circumstances“). Damit kann es nicht genügen, dass irgendjemand und sei es (allein)
der Täter (etwa aus früheren Begegnungen oder Gesprächen) um das fehlende Ein-
vernehmen weiß.29 Auch würde der Horizont des Betrachters, der ja ein objektiver
sein soll, dann unzulässig erweitert, wenn man ihm eine Kenntnis der (ganzen, „we-
sentlichen“, längeren, näheren?) Vorgeschichte einpflanzte, da er Beobachter und
nicht Weltgeist ist; mithin hat er allein den Zeitpunkt der Tatbegehung zu betrachten
und aus eben dieser Situation Schlüsse zu ziehen.30 Das Erfordernis der Begrenzung
des Blicks entspricht auch dem im Gesetzgebungsverfahren Herausgehobenen, dass
es dem Opfer zuzumuten sei, „dem entgegenstehenden Willen zum Tatzeitpunkt ein-
deutig Ausdruck zu verleihen“.31
Ist es hiernach eine Obliegenheit des Opfers, seinen entgegenstehenden Willen
gegenüber dem Täter in besagter Situation in die Außenwelt zu tragen, muss es Ge-
gebenheiten schaffen, aus denen eindeutig und ohne Ambivalenzen32 zu schließen ist,
dass sein Einbeziehen in den konkreten sexualbezogenen Vorgang, sei es auch nur zu
dieser Zeit, an diesem Ort oder in dieser Art, nicht stattfinden soll. Neben Fällen eines
ausdrücklich (expressis verbis) geäußerten „Neins“ werden auch und praktisch häu-
fig solche erfasst werden, in welchen sich das Nichtwollen (objektiv) eindeutig
schlüssig aus den Umständen, insbesondere aus der Körpersprache (Weinen, Schrei-
en, Zeichen von Angewidertsein etc.) oder physischen Abwehrzeichen (Wegdrehen
des Körpers, Schließen des Mundes, Zusammenpressen der Beine oder der Gesäß-
backen, Wegschieben der sich nähernden Hand des Täters etc.) ergibt.33

25
S. etwa Vogel, in: LK-StGB, 12. Aufl. (2010), § 248b Rdnr. 7 f.; Hohmann, in: MüKo-
StGB, 3. Aufl. (2017), § 248b Rdnr. 13.
26
Ausdrücklich BT-Drucks. 18/9097 S. 23; Fischer, NStZ 2019, 580 (582 f.).
27
Vgl. Reinhard Merkel, in: NK-StGB, 5. Aufl. (2017), § 218 Rdnrn. 159 f.; gewichtige
Gegenargumente finden sich bei Gropp, in: MüKo-StGB, 3. Aufl. (2017), § 218 Rdnr. 63.
28
Ausdrücklich BT-Drucks. 18/9097 S. 22. S. dazu auch Renzikowski, in: MüKo-StGB,
3. Aufl. (2017), § 177 Rdnr. 47.
29
Hoven/Weigend, JZ 2017, 182 (187); Hörnle, NStZ 2017, 13 (15).
30
Eingehend Hoven/Weigend, JZ 2017, 182 (187); kritisch auch Bezjak, SchlHA 2017, 371
(373).
31
BT-Drucks. 18/9097 S. 23 (Hervorhebung nicht im Original).
32
Ausdrücklich BT-Drucks. 18/9097 S. 23.
33
S. bereits Wolters, in: S/S/W-StGB, 4. Aufl. (2019), § 177 Rdnr. 8 ff.; Hörnle, NStZ
2017, 13 (15). Vgl. BT-Drucks. 18/9097 S. 23.
956 Gereon Wolters

Dieses eindeutig erklärte „Nein“ zum tragenden Element des Übergriffs in § 177
Abs. 1 StGB zu machen, zeigt sich auch systematisch zum einen in der Nummer 1
seines Absatzes 2, der gerade solche Opfer erfasst, die zu einer entsprechenden ein-
deutigen Äußerung außer Stande sind, und zum anderen in dessen Nummern 4 und 5,
die davon ausgehen, dass das Opfer sich wegen des Zwangs – gar mit einem (abge-
nötigten) ausdrücklichen „Ja“ – fügt, es also selbständiger (Auffang-)Vorschriften
bedarf.34

III. Maßgeblicher Zeitpunkt für das Erklären des Willens


bzw. Widerwillens
Aus der sprachlichen Fassung des Tatbestands des § 177 Abs. 1 StGB folgt, dass
– aus der objektiven Warte – Opfer nicht sein kann, wer seine Obliegenheit nicht er-
füllt, seinen entgegenstehenden Willen eben dann ausdrücklich oder schlüssig zu er-
klären, wenn das spezifische Verhalten Platz greift. Hiermit zeigt sich auch der maß-
gebliche temporale Ausgangspunkt für die Erklärung: Im Geiste der §§ 8 und
22 StGB kann den Anfang des Zeitstrahls (dessen Ende weiter unten zu beschreiben
sein wird) nur der Moment bilden, in welchem der Täter, sei es durch Worte oder
Taten, die – von Anbeginn nicht bzw. im Verlaufe des Geschehens nicht mehr gewoll-
te – sexuelle Handlung (etwaig vermittelt durch einen Dritten) in die Außenwelt zu
setzen beginnt (Hinnahmemodalitäten [aus der Perspektive des Opfers]) bzw. in wel-
chem der Täter dazu ansetzt, dass das Opfer entsprechende Handlungen (an dem
Täter, an einem Dritten oder an bzw. mit sich) vollzieht (Vornahmemodalitäten
[aus der Perspektive des Opfers]).
Wenn es allein auf die ablehnende Erklärung des Opfers in der fraglichen Situa-
tion ankommt, versteht es sich angesichts des höchstpersönlichen Charakters dieser
Willensbekundung, dass es ohne jeden Belang ist, ob die Beteiligten zurückliegend
einvernehmlich vergleichbare Handlungen gepflegt haben, sie eine verabredete Ge-
genleistung (etwa im Rahmen der Prostitutionsausübung) darstellen oder – sei es
auch unmittelbar davor – sie bezüglich eine ausdrückliche oder schlüssige Zustim-
mung erklärt worden ist. Die sexuelle Selbstbestimmung ist insoweit unveräußerlich,
als dass die sie tragende Person ihren Willen jederzeit ändern,35 ein Einverständnis
mithin stets frei widerrufen kann. Dies kann sich naturgemäß auch spiegelbildlich,
also etwa dergestalt zeigen, dass ein zunächst erklärtes „Nein“ einem „Nun doch
Ja“ weicht.
Angesichts der so zu verstehenden Obliegenheit zur Äußerung verbietet es sich
von vornherein, aus der Person des Opfers oder den Umständen auf einen „im All-
gemeinen“ entgegenstehenden Willen zu schließen.36 So darf etwa weder postuliert

34
Dazu auch Hörnle, NStZ 2017, 13 (15).
35
BT-Drucks. 18/9097 S. 23.
36
Vgl. Bezjak, KJ 2016, 557 (561).
Das gesetzliche Merkmal „gegen den erkennbaren Willen“ 957

werden, eine im Zölibat lebende Person wolle niemals in ein sexualbezogenes Ge-
schehen eingebunden werden (und habe daher ein „lebenslanges Nein“ erklärt),
noch schon und allein aus der Anwendung von Gewalt geschlossen werden, mit
ihr verknüpfte Sexualität sei stets gegen den Willen des oder der ihr Unterworfenen.37
Umgekehrt darf aber auch nicht „aus den Gesamtumständen“ unter dem Gesichts-
punkt eines etwaig widersprüchlichen Verhaltens geschlossen werden, dass – etwa
bei zuvor zugesagten sexuellen Dienstleistungen gegen Entgelt – ein konkretes
„Nein“ abredewidrig und damit „eigentlich“ keines ist.
Die Äußerungsobliegenheit ist auch insoweit von praktischer Bedeutung, als etwa
das (gewaltsame) Versetzen in den Zustand der Bewusstlosigkeit durch den Täter
(heimliches Beibringen von Knockout-Tropfen etc.) zum Zwecke der Vornahme se-
xueller Handlungen nicht dem Absatz 1, sondern allenfalls Absatz 2 Nr. 1 unter-
fällt.38 Aus dem Anwendungsbereich ersterer und in den letzterer Vorschrift fallen
darüber hinaus und vor allem solche Konstellationen, in welchen der Täter das
Opfer in einer entsprechenden Situation vorfindet.39 Dies liegt auf der Hand, wenn
das Opfer durch äußere Umstände (wie einen Unfall) oder durch eine dritte Person
unbewusst in den besagten Zustand geraten oder versetzt worden ist, gilt aber auch
dann, wenn sich das Opfer durch eigene oder dritte Hand bewusst der Fähigkeit der
sexualbezogenen Willensbildung oder -äußerung (etwa durch Einschlafen oder
durch Einnahme bzw. Verabreichung von Betäubungsmitteln) beraubt hat. Es liegt
nun einmal in der Natur, dass ein Mensch, der sich bewusst gerade der Fähigkeit be-
geben hat, etwas zu wollen oder auch nicht zu wollen, keinen aktuellen Willen (mehr)
hat; in der maßgeblichen Situation äußert er also niemals ein „Nein“. Entsprechendes
gilt dann, wenn das Opfer vom Täter im beiderseitigen Einvernehmen in diesen Zu-
stand (etwa durch Betäubungsmittel) versetzt wird, ohne dass eine nachfolgende se-
xuelle Handlung Teil der Kommunikation geworden ist; die nach früherem Recht ge-
zogene Grenze zwischen sexueller Nötigung mittels Gewalt und sexuellen Miss-
brauchs widerstandsunfähiger Personen40 zeigt sich nicht mehr, da Absatz 1 das
Missachten eines „Nein“ verlangt, das hier nicht geäußert worden ist, und es für
die Anwendbarkeit des Absatzes 2 Nr. 1 keine Rolle spielt, wer die willensbezogen
defizitäre Situation herbeigeführt hat.41
Im Übrigen beansprucht Vorgesagtes im Grundsatz auch bei einem generellen
„Ja“, namentlich dann Geltung, wenn sich eine Person gerade mit dem geäußerten
Willen in diesen Zustand versetzt hat, in ihm durch die von einem anderen vorgenom-
menen sexuellen Handlungen ihr Erleben zu steigern oder ihren Horizont zu erwei-
tern (etwa um sich an späteren Filmaufnahmen zu erfreuen). Wer bewusstlos etc. ist,
hat keinen aktuellen Willen und äußert ihn daher in der Tatsituation selbst dann nicht,

37
S. auch El-Ghazi, ZIS 2017, 157 (163).
38
Ausdrücklich BT-Drucks. 18/9097 S. 23.
39
BT-Drucks. 18/9097 S. 23 f.
40
S. dazu Wolters, in: SK-StGB, 8. Aufl. (2012), § 177 Rdnrn. 13, 15 und 18.
41
Vgl. auch Kratzer-Ceylan, Finalität, Widerstand, „Bescholtenheit“ (2015), S. 356 ff.
958 Gereon Wolters

wenn er zuvor abstrakt sein Einvernehmen erklärt hat. Ein Rückbeziehen auf den
noch „freien Zustand“42 oder auf eine antizipierte Willensbekundung wird hier
nicht nutzbar zu machen sein. Zwar mag man im Allgemeinen einen Menschen,
der ein Einverständnis einmal kundgetan hat, solange an dieses binden, wie er es
nicht in äußerlich erkennbarer Weise (actus contrarius) widerruft;43 die in diesem
Zusammenhang beispielhaft genannten Gestaltungen unterscheiden sich aber von
hiesiger: So gelingt es nämlich – ganz im Lichte des § 856 Abs. 2 BGB – ohne grö-
ßere Schwierigkeiten zu begründen, dass Inhaber der – von einem generellen Willen
getragenen – Sachherrschaft auch derjenige ist, welcher schläft, bewusstlos oder
volltrunken ist,44 und auf diese Weise aufzuzeigen, dass die Sache im maßgeblichen
Zeitpunkt der Wegnahme nicht gewahrsamslos geworden, also ein taugliches Hand-
lungsobjekt geblieben ist. Wenn nun aber der Wille, die Sachherrschaft zu behalten,
in den geschwächten Zustand mitgenommen wird, muss spiegelbildlich auch der
zuvor ausgedrückte Wille, die Sachherrschaft zu verlieren, in den späteren Tatzeit-
punkt (als wirksames Einverständnis) fortwirken. Hinsichtlich der von § 177
Abs. 1 und Abs. 2 StGB vorausgesetzten Situationen verhält es sich aber anders:
Indem nämlich der Wille nicht nur „in das Zentrum der Verletzung der sexuellen
Selbstbestimmung gestellt“45, sondern auch das Erfordernis seiner Äußerung in
der Tatsituation zur Obliegenheit erhoben wird, muss die betroffene Person in diesem
Zeitpunkt noch Herrin über eben diesen „Verfügungsgegenstand“ sein. Einfach ge-
sagt: Den Willen, Gewahrsam an einer Sache (positiv) zu haben und damit ihn auch
(negativ) zu verlieren, nimmt man in den Schlaf etc., nicht aber die Möglichkeit, in
diesem Zustand aktuell „Nein“ zu sagen! Ist damit grundsätzlich Absatz 2 Nr. 1 er-
öffnet, so wird seine Anwendung bei einem zuvor geäußerten „Ja“ aus einem anderen
Grunde ausscheiden: Handelt der Täter in jenem hinsichtlich der Willensbildung etc.
defizitären Zustand in Ansehung des zuvor erklärten Einvernehmens, so wird diese
Situation von ihm schon tatbestandlich nicht „ausgenutzt“, da er gerade nicht davon
ausgeht, dass die spezifische Handlung ohne das Willensdefizit unterblieben oder zu-
rückgewiesen worden wäre oder mit Nötigungsmitteln hätte erzwungen werden müs-
sen.46 Vergleichbares gilt im Übrigen für Fälle, in welchen im Allgemeinen einver-
nehmliche Sexualkontakte gepflegt werden (die Freundin greift dem unbekleidet
schlafenden Partner ins Genital, um ihn zu wecken und zum Austausch von Zärtlich-
keiten zu motivieren).
Mit obigen Erkenntnissen sind die Weichen nun auch für solche Fälle gestellt, in
denen das Opfer sich mit einem unmissverständlich geäußerten „Nein“ in den frag-
lichen Zustand begeben hat. Zwar hat es hierdurch deutlich gemacht, später nicht in
42
Vgl. BGH NStZ 2009, 90. S. auch BGH NStZ-RR 2013, 316; vgl. BGH StV 2014, 414;
BGH MDR (D) 1958, 13.
43
Hoyer, in: SK-StGB, 9. Aufl. (2019), § 242 Rdnr. 53; Schmitz, in: MüKo-StGB, 3. Aufl.
(2017), § 242 Rdnr. 98.
44
Vogel, in: LK-StGB, 12. Aufl. (2010), § 242 Rdnr. 69.
45
BT-Drucks. 18/9097 S. 21.
46
Wolters, in: S/S/W-StGB, 4. Aufl. (2019), § 177 Rdnr. 37; vgl. BGHSt 64, 55 (60).
Das gesetzliche Merkmal „gegen den erkennbaren Willen“ 959

ein sexualbezogenes Geschehen eingebunden werden zu wollen, dennoch ist es im


maßgeblichen Zeitpunkt eben nicht mehr zur Willensbildung etc. in der Lage, unter-
fällt danach allein Absatz 2 Nr. 1. Im Unterschied zum soeben beschriebenen zuvor
geäußerten „Ja“ wird hier die Situation stets „ausgenutzt“, da die Handlung entweder
(angesichts des generellen „Nein“) ganz unterblieben, zurückgewiesen oder zu er-
zwingen gewesen wäre oder sie (bei einem lediglich auf den Zustand bezogenen
„Nein“) zumindest nicht in der konkreten Weise hätte vorgenommen werden können.
Wenn hingegen ein „Nein“ im Sinne des Absatzes 1 geäußert und damit deutlich
wird, in einer – unten zeitlich noch zu konturierenden – Situation gar kein sexuelles
Geschehen oder nur ein bestimmtes zu wollen, kommt es nicht darauf an, auf wel-
chem Wege der Täter diesem Willen entgegen handelt. So wirkt das geäußerte „Nein“
fort nicht nur, wenn die konkrete sexuelle Handlung mittels Gewalt erzwungen, son-
dern auch, wenn sie letztlich durch Überrumpelung ermöglicht wird. Absatz 1 geht in
der zweiten Konstellation Absatz 2 Nr. 3 vor, da letztere auf eine Situation zielt, in
welcher die sexuelle Handlung das Opfer dergestalt unvorbereitet trifft, dass es einen
entgegenstehenden Willen gar nicht erst entwickeln oder ihn jedenfalls nicht mehr
schnell genug in ein ausdrückliches oder konkludentes „Nein“ kleiden kann.47 Dieser
Auffangregelung für Fälle „relativer“ Unfähigkeiten bedarf es nicht, wenn und so-
weit zuvor eine (verbale oder nonverbale) Ablehnung Ausdruck gefunden hat.48
Die beiden Regelungen unterscheiden sich mithin in dieser Hinsicht dadurch, dass
Absatz 2 Nr. 3 anzuwenden ist, wenn durch die Überraschung schon das „Nein“ un-
möglich gemacht wird, während es für Absatz 1 nicht darauf ankommt, ob zusätzlich
zum „Nein“ durch die Überraschung noch Widerstand unmöglich gemacht wird.49

IV. Umfang und zeitliche Geltung des erklärten Willens


bzw. Widerwillens
In welchem inhaltlichen Umfang das „Nein“ Geltung beansprucht, ist eine Frage
des Einzelfalls, bedarf aber angesichts des Erfordernisses der Äußerung in der Tat-
situation einer eindeutigen Begrenzung: So wird ein „Nicht hier“, ein „Nicht jetzt“
oder ein „Nicht so“ eine hinreichende sachliche Kontur haben. Auch einvernehmlich
begonnene sexuelle Handlungen können ohne weitere Erklärung zum sexuellen
Übergriff nach Absatz 1 werden,50 wenn in ihrem weiteren Verlauf zuvor objektiv
gezogene Grenzen überschritten werden: So steht etwa ein erkennbares „Nein“ ent-
gegen, wenn das Opfer aus Sorge vor einer Schwangerschaft ausdrücklich nur Anal-

47
BT-Drucks. 18/9097 S. 25; s. auch BGHSt 64, 55 (59 f.).
48
BT-Drucks. 18/9097 S. 25.
49
Zum Verhältnis beider Tatbestände zueinander bei Handlungseinheit s. eingehend
BGHSt 64, 55 (61 ff.): „nur eine Gesetzesverletzung“.
50
Fischer, StGB, 67. Aufl. (2020), Vor § 177 Rdnr. 12a.
960 Gereon Wolters

verkehr zustimmt, der Täter es aber mit dem Penis vaginal penetriert.51 Indes genügt
es in diesen Konstellationen für den Absatz 1 nicht, dass das Opfer eine bestimmte
Handlung nur als grenzüberschreitend empfindet, wenn dies nicht zuvor zum Gegen-
stand ausdrücklicher oder schlüssiger Kommunikation gemacht worden ist: So han-
delt der Täter nicht bereits dann tatbestandsmäßig, wenn er anlässlich einvernehm-
lichen Vaginalverkehrs das Opfer gegen seinen (inneren) Willen anal penetriert; hier
steht wiederum das Überraschungsmoment im Vordergrund, ist also allein an Ab-
satz 2 Nr. 3 zu denken.
Wenn sich aus der Formulierung des § 177 Abs. 1 StGB ergibt, dass das „Nein“ in
dem Zeitpunkt zu erklären ist, in welchem der Täter, der Dritte oder das Opfer die
(erste) sexuelle Handlung in die Außenwelt zu setzen beginnt, ist noch nicht entschie-
den, wie lange dieses „Nein“ zeitlich fortwirkt, in obigem Bilde bleibend: wann der
Zeitstrahl endet. Diese Frage stellt sich dann nicht, wenn – was praktisch beinahe aus-
nahmslos der Fall sein dürfte – ein einmal geäußertes „Nein“ jedenfalls schlüssig wei-
terschwingt (indem körperliche Distanz hergestellt bzw. bewahrt wird, sich die Körper-
sprache laufend abwehrend zeigt etc.), wird aber dann auf den Plan treten, wenn ein
sexualbezogenes Geschehen nicht mehr Gegenstand der gegenwärtigen Kommunika-
tion ist. Dies ist offensichtlich, wenn sich eine Person dem erklärten „Nein“ zunächst
fügt und erst Tage später in einem Überraschungsmoment gegenüber dem Opfer sexu-
ell übergriffig wird; hier wird kein aktuelles „Nein“ überwunden, sondern ein befürch-
tetes wiederholtes „Nein“ durch Überrumpelung verhindert (womit bei Vorliegen der
weiteren Voraussetzungen allein § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB gegeben ist). Schwieriger zu
beurteilen wird aber schon der ähnlich gelagerte Fall sein, in dem zwar das „Nein“ zu-
nächst respektiert wird, diesem aber in einem näheren räumlichen und zeitlichen Zu-
sammenhang doch zuwider gehandelt wird (der Täter greift der ausersehenen Person
wegen des von ihr geäußerten Widerwillens zwar nicht am Tisch der Gaststätte unter
der Kleidung an das Geschlechtsteil, folgt ihr aber später heimlich auf die Toilette und
setzt seinen Plan dort unerwartet um).
Um Missdeutungen – in diesem durchaus verminten Gelände52 – vorzubeugen:
Bei vorstehender Frage geht es nicht um die Strafbarkeit bzw. Straflosigkeit oder
gar Strafwürdigkeit des Verhaltens, sondern allein darum, ob die vor der Anwendung
des Absatzes 1 notwendige Obliegenheit gegeben oder ob der im Unrecht gleich ge-
wichtete („ebenso wird bestraft“) Absatz 2 anzuwenden ist.
Angesichts der aus objektiver Warte zu bemessenden Erkennbarkeit des Willens
in der Tatsituation und dem Wesen der sexuellen Selbstbestimmung, sich auch än-
dernd zeigen zu können, also nicht nur die Zustimmung, sondern auch die Ablehnung
jederzeit frei widerruflich ist, wird man sich nicht begnügen können, objektiv auf
eine mehr oder weniger vage „Frische der Erklärung“ abzustellen (etwa den Gedan-
ken des § 252 Abs. 1 StGB anzuwenden). Absatz 1 schützt die sexuelle Selbstbe-
stimmung nämlich nur, wenn die sie tragende Person ihrer zumutbaren Obliegenheit,
51
Vgl. Hoffmann, NStZ 2019, 16 (17).
52
Vgl. Weigend, ZStW 129 (2017), 513 (515).
Das gesetzliche Merkmal „gegen den erkennbaren Willen“ 961

Ablehnung zu zeigen, in jenem Zeitpunkt nachgekommen ist, in dem ein sexualbe-


zogenes Geschehen als Gegenstand der Kommunikation konkretisiert worden ist.
Hier begründet das „Nein“ nicht nur formal die Strafbarkeit, sondern es begegnet
als Ausdruck der Selbstbestimmung material dem diese berührende konkreten frem-
den Ansinnen. Strukturell ist dieses „Nein“ damit vergleichbar der Verteidigung
gegen einen erkannten „Angriff“ auf dieses Interesse. Wie die Abwendung der dro-
henden Verletzung bei der Notwehr nur so lange erlaubt bleibt, wie diese Lage noch
andauert (§ 32 Abs. 2 StGB), oder – ähnlich gelagert – so wie der Argwohn des Op-
fers dem heimtückischen Handeln nur so lange entgegensteht, wie er nicht wieder der
Arglosigkeit weicht, so verliert die Trutzwehr des „Nein“ ihre strafbegründende Wir-
kung, wenn der Täter – wiederum aus der objektiven Perspektive – von dem kom-
munikativ konkretisierten sexualbezogenen Geschehen Abstand genommen hat, die-
ser „Angriff“ mithin beendet ist. Einem dieser Beendigung nachfolgenden „Angriff“
ist mit einem neuen „Nein“ zu begegnen, um die Strafbarkeit nach Absatz 1 auszu-
lösen. Wird in dieser Situation weder ein „Nein“ noch ein „Ja“ als einem veränderten
Ausdruck der sexuellen Selbstbestimmung erklärt, ist unter den dortigen Vorausset-
zungen einmal mehr an eine Strafbarkeit nach Absatz 2 Nrn. 3 bis 5 zu denken.

V. Willensmängel
Aus dem Erfordernis der konkret ablehnenden Äußerung zum Zeitpunkt der se-
xuellen Handlung folgt auch, dass Erkenntnisse zum (tatbestandsausschließenden)
Einverständnis nur eingeschränkt übertragen werden können. So stellt letzteres bei
Delikten, welche ein Handeln gegen oder ohne den Willen des Berechtigten beschrei-
ben, ein (spiegelbildliches) negatives Tatbestandsmerkmal dar,53 dessen Vorliegen
die äußere Tatseite entfallen lässt bzw. dessen Nichtvorliegen sie begründet (mit ent-
sprechenden Auswirkungen bei Fehlvorstellungen54). Wenn es aber dem Opfer ob-
liegt, ein „Nein“ im Tatzeitpunkt eindeutig zu erklären, geht es nicht um einen ne-
gativen, den Tatbestand ausnahmsweise ausschließenden Umstand, sondern um
einen positiven, die Norm erst begründenden in Form der Äußerung der Ablehnung
(„Nein“). So darf auch die Etikettierung als „Nichteinverständnislösung“55 nicht der-
gestalt missverstanden werden, dass bereits bei einem fehlenden Einverständnis der
Tatbestand erfüllt wäre; vielmehr muss das subjektive Nichteinverstandensein gera-
de objektiven Ausdruck finden.
Führt man sich diesen Unterschied vor Augen, zeigt sich auch, dass die beim tat-
bestandsausschließenden Einverständnis (oder auch bei der rechtfertigenden Einwil-
ligung) aufgeworfenen Fragen zur Behandlung von Willensmängeln nur sehr einge-

53
S. etwa Vogel, in: LK-StGB, 12. Aufl. (2010), § 248b Rdnr. 8.
54
S. zum Merkmal des Bruchs des Gewahrsams etwa Hoyer, in: SK-StGB, 9. Aufl. (2019),
§ 242 Rdnr. 52.
55
BT-Drucks. 18/9097 S. 21.
962 Gereon Wolters

schränkt nutzbar zu machen sind:56 Selbst wenn man nämlich ein Einverständnis
dann für unwirksam halten mag, wenn es erschlichen worden ist,57 führte dies allein
dazu, ein etwaiges „Ja“ zu eliminieren, begründete aber eben noch kein erklärtes
„Nein“.
Dass nicht auf den „wahren“ Willen eines hypothetisch vollumfänglich ins Bild
gesetzten Sexualpartners und damit auch nicht auf eine hierauf bezogene Kenntnis
des Täters abzustellen ist, folgt nicht nur aus dem Erfordernis der für die Erkennbar-
keit des Willens einzunehmenden objektiven Warte, sondern auch aus der Struktur
der Vorschrift, die auf der einen Seite in Absatz 1 eine Obliegenheit und auf der an-
deren Seite in Absatz 2 bestimmte Umstände beschreibt, in welchen dem Handlungs-
objekt diese Obliegenheit ausnahmsweise nicht auferlegt werden kann, weil es ent-
weder schon gar keinen aktuellen Willen bilden oder ihn zwar bilden, aber nicht
ausdrücken kann oder wegen eines äußeren Zwangs nicht ausdrücken möchte. Ge-
setzestechnisch mögen in Absatz 2 die (über das Merkmal des „Ausnutzens“ wider-
leglichen58) Vermutungen eines „Nein“ ausgedrückt werden, im Zusammenspiel bei-
der Absätze zeigt sich aber eben auch, dass es auf die Erforschung eines inneren, mut-
maßlichen, hypothetischen, „wahren“ etc. Willens der betroffenen Person durch den
Täter gerade nicht ankommt.59
Mit dieser Erkenntnis ist indes nur die Grundlage für die Bewertung solcher Kon-
stellationen geschaffen, in welchen das nach Absatz 1 verlangte „Nein“ zwar objek-
tiv nicht erklärt wird, die betroffene Person es aber ohne seine fehlerhaften Vorstel-
lungen (mit anderen Worten: vollständig „aufgeklärt“) geäußert hätte. So ist es etwa
denkbar, dass sie zwar ein „Nein“ ausdrücken wollte, dies aber objektiv nicht getan
hat, weil sie sich versprochen hat („Erklärungsirrtum“) oder (wegen unzureichender
Sprachkenntnisse) ihrer Äußerung eine andere Bedeutung beigemessen hat („In-
haltsirrtum“ bzw. „Verlautbarungsirrtum“).60 Sieht man nicht nur das „Nein“, son-
dern auch seine Erkennbarkeit als tragende Elemente des Absatzes 1, liegt die Ein-
ordnung auf der Hand: Soweit sich aus den Umständen für einen objektiven Dritten
nichts anderes ergibt (das die Handlung erduldende Opfer sagt mit Worten „Ja“,
macht aber durch Weinen schlüssig ein „Nein“ ersichtlich), so muss sich der Irrende
an seiner Erklärung festhalten lassen, da er seiner Obliegenheit nicht nachgekommen
ist. Eine Strafbarkeit ergibt sich in diesen Fällen auch nicht aus Absatz 2: Mag in obi-

56
Aus der kaum mehr zu überblickenden Diskussion sei hier nur hingewiesen auf die
monographischen Werke von Arzt, Willensmängel bei der Einwilligung (1970) und Amelung,
Irrtum und Täuschung als Grundlage von Willensmängeln bei der Einwilligung des Verletzten
(1998), S. 72 ff. sowie die Beiträge von Kühne, JZ 1979, 241 ff. und Roxin, Gedächtnisschrift
Noll (1984), 275 ff.
57
S. etwa zum Merkmal des „Eindringens“ in § 123 StGB Schäfer, in: LK-StGB, 10. Aufl.
(1988), § 123 Rdnr. 27.
58
Vgl. Wolters, in: SK-StGB, 9. Aufl. (2017), § 174 Rdnr. 17 f.
59
S. eingehend Hoven/Weigend, KriPoZ 2018, 156 (158).
60
S. allgemein zur Unanwendbarkeit der §§ 119 ff. BGB Amelung, ZStW 109 (1997), 490
(493 ff.).
Das gesetzliche Merkmal „gegen den erkennbaren Willen“ 963

gem Beispiel der Inhaltsirrtum auch gerade darauf fußen, dass die Person „nicht in
der Lage ist, einen entgegenstehenden Willen“ sprachlich „zu äußern“, so verlangt
die Nummer 1 eine gänzliche Unfähigkeit, sich überhaupt zu erklären; da dies hin-
sichtlich eines schlüssigen Verhaltens nicht gegeben ist, kommt auch die sprachun-
kundige Person der Obliegenheit des Absatzes 1 nicht nach, trägt also das Erklä-
rungsrisiko selbst dann, wenn der Täter um den inneren Widerwillen weiß. Konse-
quenterweise müsste dies übrigens auch umgekehrt gelten: Macht die Person objek-
tiv ein „Nein“ erkennbar, möchte aber eigentlich ein „Ja“ erklären, und handelt der
Täter in Ansehung des Objektiven, macht er sich nicht nur wegen eines versuchten,
sondern wegen eines vollendeten Übergriffs schuldig; da das Geschehen aber objek-
tiv ein selbstbestimmtes ist, mag an eine teleologische Reduktion des Vollendungs-
tatbestands gedacht werden, da sich das Geschehen materiell nur als („untauglicher“)
Versuch zeigt.
Schwieriger zu beurteilen sein dürften nun jene Fallgestaltungen, in welchen die
sexuelle Interaktion von einer objektiv erkennbaren „Geschäftsgrundlage“ getragen
wird. In diesen Zusammenhang gehören insbesondere auf Täuschungen beruhende
Fehlvorstellungen über innere oder äußere Umstände, von denen das Opfer seine Be-
reitschaft zu sexuellen Handlungen ausdrücklich oder schlüssig abhängig macht.61
Da sie durchweg dadurch gekennzeichnet sind, dass sich zum erklärten „Ja“,
wenn es etwa mit der Identität einer Person, mit der Verabredung einer Gegenleistung
oder der Zusage einer Empfängnisverhütung verknüpft ist, eben auch ein korrespon-
dierend erklärtes „Nein“ (nicht mit einem anderen, nicht ohne Entgelt oder nicht bei
der Gefahr einer Schwangerschaft verkehren zu wollen) formulieren lässt, dürfte es
zu kurz greifen, auch hier zu betonen, dass es auf den „wahren“ Willen nicht an-
kommt,62 da dieser ja kommunikativ manifest geworden ist. Demnach wird man
in diesen Fällen auch nicht sagen können, dass die „Motivlage des Opfers ambivalent
ist“,63 es mithin schon deswegen das Erklärungsrisiko trage.
Die beschriebene Situation mag zwar an die Diskussion um die „Lehre vom be-
dingten Einverständnis“64 erinnern, sie unterscheidet sich aber insoweit von den dort
behandelten Konstellationen (Warenautomaten etc.65), als es hier nicht darum geht,
einen im Tatzeitpunkt wegen Abwesenheit nicht äußerbaren Willen objektivierbar zu
antizipieren. Da sich Täter und Opfer hier – sieht man von der praktisch zu vernach-
lässigenden Modalität der nicht einmal „vor“ (§ 184 h Nr. 2 StGB) einem anderen
vorgenommenen autosexuellen Handlung ab66 – nicht nur „Auge in Auge“ gegen-
überstehen, sondern das weitere sexualbezogene Geschehen auch zum Gegenstand

61
Dazu Hoven/Weigend, KriPoz 2018, 156 (157 ff.).
62
So Hoven/Weigend, KriPoZ 2018, 156 (158).
63
Vgl. BT-Drucks. 18/9097 S. 23 (Hervorhebung nicht im Original).
64
Dazu zusammenfassend und vertiefend Rönnau, Festschrift Roxin (2011), 487 ff.
65
S. im Einzelnen Schmitz, in: MüKo-StGB, 3. Aufl. (2017), § 242 Rdnr. 99 ff.; Hoyer, in:
SK-StGB, 9. Aufl. (2019), § 242 Rdnr. 54 ff.
66
S. Wolters, in: S/S/W-StGB, 4. Aufl. (2019), § 177 Rdnr. 10.
964 Gereon Wolters

der aktuellen Kommunikation machen, wird man die Einordnung in Absatz 1 davon
abhängig zu machen haben, ob sich die sexuelle Handlung als Ausdruck der sexuel-
len Selbstbestimmung oder als insoweit friedensstörender Eingriff darstellt. Diese
Betrachtung ist vertraut von der Grenzziehung bei Selbstschädigungs- und Fremd-
schädigungsdelikten: So ist derjenige, der täuschungsbedingt einverstanden ist mit
der Gewahrsamsverschiebung, nicht Opfer eines Diebstahls, sondern eines Betrugs.
Ähnlich verhält es sich hier: Wer zu einem sexuellen Geschehen mit seiner Beteili-
gung „Ja“ sagt, verfügt über seine Sexualität selbstbestimmt auch dann, wenn irr-
tumsbedingt von anderen Umständen ausgegangen wird. Bildlich formuliert,
„stiehlt“ der Täter des Absatzes 1 die durch ein vom „Nein“ eindeutig abgegrenzte
fremde Sexualität, während das entsprechende Ertrügen zu einer bewussten Entäu-
ßerung führt, wobei sich der Gesetzgeber bei diesem Rechtsgut dazu entschieden hat,
auf einen dem Betrug vergleichbaren Tatbestand zu verzichten (wie ihn § 179 Abs. 1
RStGB für das Vorspiegeln des ehelichen Beischlafs noch kannte).67
Das gezeichnete Bild hilft auch im Übrigen weiter: Wie das Einverständnis beim
Diebstahl nur den genau umrissenen Gegenstand erfasst, so können nur diejenigen
sexuellen Handlungen einvernehmlich sein, die zuvor entsprechender Gegenstand
der Kommunikation geworden sind. Wer seine Zustimmung auf einzelne Bereiche
beschränkt (etwa: nur analer, kein vaginaler oder nur durch Kondom geschützter68
Verkehr), kann demnach ohne weiteres Opfer eines Übergriffs werden. „Gegen-
stand“ der Kommunikation ist aber stets nur die spezifische sexuelle Handlung.
Ist diese irrtumsfrei identifiziert, kommt es auf Motive, Bedingungen, Erwartungen,
Hoffnungen oder andere Vorstellungen nicht an,69 so dass das Vortäuschen einer
Identität, von Gesundheit, von verhütenden Gegebenheiten,70 eines Personenstands
oder einer gesellschaftlichen Stellung ohne jeden Belang ist.71 Mit anderen Worten
verdichtet sich das „Ja“ auf die vorbestimmte sexuelle Interaktion mit der beteiligten
Person vergleichbar der Vorsatzkonkretisierung bei Fehlvorstellungen über das
Handlungsobjekt.72 Das Irrtumsrisiko trägt mithin das Opfer: Das Strafrecht schützt
in diesem Bereich also nicht davor, menschlich enttäuscht oder hintergangen worden

67
S. im Einzelnen Hoven/Weigend, KriPoZ 2018, 156 (158 f.).
68
Zum Phänomen des „Stealthing“ und zu seiner strafrechtlichen Einordnung s. eingehend
Herzog, in: Festschrift Thomas Fischer (2018), 351 ff. und den Überblick bei Hoffmann, NStZ
2019, 16 (17 ff.). S. hierzu auch den Fall AG Tiergarten, Urteil vom 11. Dezember 2018 –
(278 Ls) 284 Js 118/18 (14/18) –, juris sowie Ziegler, in: BeckOK-StGB, 43. Edition (1. Au-
gust 2019), § 177 Rdnr. 9a mit Hinweisen zu den Regelerschwerungen.
69
Man stelle sich bei abweichender Deutung nur auf Motive etc. bezogene Explorations-
erfordernisse im Strafverfahren und zudem vor, dass sogar an sich diskriminierende Aspekte
(vgl. § 46 Abs. 1 Satz 2 Gruppe 1 StGB) die Strafbarkeit begründen könnten (Beispiel bei
Hoven/Weigend, KriPoZ 2018, 156 [158]).
70
S. Hoffmann, NStZ 2019, 16 (17).
71
S. auch El-Ghazi, ZIS 2017, 157 (164); Hoven/Weigend, KriPoZ 2018, 156 (158).
72
Vgl. Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 15 Rdnr. 13.
Das gesetzliche Merkmal „gegen den erkennbaren Willen“ 965

zu sein.73 Vergleichbares gilt für ein Einverständnis, das unter Nötigungsdruck erteilt
(und nicht von einem schlüssigen „Nein“ begleitet) wird: Es ist zwar im Sinne des
Absatzes 1 wirksam, der spezifische Willensmangel ist aber über Absatz 2 einzufan-
gen.
Wenn die spezifische Art sexueller Handlungen erkennbar in der Weise vorbe-
stimmt worden ist, dass hiermit zugleich abweichende Handlungen mit einem
„Nein“ ausgegrenzt werden, vermag es nicht zu überzeugen, in einzelnen Fällen
zur Vermeidung der Strafbarkeit doch wieder „ein normatives Korrektiv heranzuzie-
hen“.74 So mag man zwar in den genannten Beispielsfällen die Vorzeichen umdrehen
können, kaum wird es aber generalisierend gelingen, einen bestimmten Rahmen po-
sitiv und dessen Kehrseite als negativ zu konnotieren. Beim Vaginalverkehr wird
etwa die Verwendung eines Kondoms durchaus ambivalent beurteilt werden können:
Zum hinsichtlich übertragbarer Krankheiten „guten Klang“ gesellt sich vielleicht der
Misston für einen Menschen, der aus religiösen Gründen jede verhütende Maßnahme
zutiefst ablehnt. So mag es sich durchaus auch einmal als Ausfluss der sexuellen
Selbstbestimmung einer Frau zeigen, nur und ausschließlich Vaginalverkehr ohne
Kondom zuzulassen, weil gerade er der Empfängnis dienen75 oder hierdurch patho-
logische Zustände (allergische Reaktionen etc.) vermieden werden sollen; wird diese
Absprache, welche sich nicht im Motivischen verliert (wie dies – an das Beispiel an-
gelehnt – beim schlichten Vorspiegeln der Zeugungsfähigkeit gegenüber einer nach
Empfängnis Trachtenden der Fall sein wird), sondern rein äußerlich die eigentliche
sexuelle Handlung betrifft, durch Verwendung eines Kondoms nicht eingehalten, ist
das „Nein“ eindeutig, eine Korrektur scheint mithin weder angezeigt noch geboten.
Jedenfalls wird man nicht behaupten dürfen, es liege „auf der Hand“, dass „eine
Strafbarkeit kaum am Platze wäre“.76
Strukturell anders gelagert sind demgegenüber jene Fallgestaltungen, in denen
der Täter der anderen in das Geschehen einbezogenen Person schon den (objektiv

73
S. den Vorschlag von Hoven/Weigend, KriPoZ 2018, 156 (161), de lege ferenda (kon-
sequenterweise in Absatz 2 des § 177 StGB) eine Vorschrift vorzusehen, welche die Täu-
schung über den sexuellen Charakter der Handlung und das Vorspiegeln einer bestimmten
Identität erfasst.
74
Hoffmann, NStZ 2019, 16 (17).
75
In den praktisch keineswegs seltenen Fällen einer heterologen Insemination auf „natür-
lichem Wege“ wird diese Methode von der Frau typischerweise einzig und allein deswegen
gewählt, weil sie deutlich wahrscheinlicher zu einer Befruchtung der Eizelle führt als eine
„Heiminsemination“ ohne Penetration; somit liegt es auf der Hand, dass bei Bewirken eines
von der das gesamte Geschehen tragenden Abrede abweichenden Umstands (hier: geschützter
Verkehr) ein „Nein“ offensichtlich entgegensteht. Etwas anderes gilt in diesen Fällen aber
dann, wenn etwa der auserkorene „Spender“ lediglich bewusst abredewidrig eine Ejakulation
in die Vagina unterlässt, da dann das äußere Sexualgeschehen (ungeschützter Vaginalverkehr)
vereinbarungsgemäß vorgenommen und hier nur eine darüber hinaus gehende Erwartung
enttäuscht wird.
76
So aber Hoffmann, NStZ 2019, 16 (17), obwohl er ausdrücklich „identische Parameter“
sieht.
966 Gereon Wolters

gegebenen) sexuellen Charakter seiner Handlung verschleiert.77 Massiert etwa der


Notarzt, der zu einer anaphylaktische Reaktionen zeigenden Patientin gerufen
wird, beim Abtasten des Oberkörpers nach Insektenstichen deren Brüste gegen die
Regeln der Standeskunst mehrere Sekunden lang, so steht dem solange kein
„Nein“ entgegen, wie die untersuchte Person einen entgegenstehenden Willen
nicht zumindest schlüssig zeigt. Fußt dies während der gesamten Untersuchung
auf ihrer irrigen Annahme, das Verhalten sei medizinisch indiziert, und sind nicht
ausnahmsweise die Voraussetzungen der Nummer 2 des Absatzes 2 erfüllt, kommt
eine Strafbarkeit hier nicht nach § 177, sondern allein nach § 174c Abs. 1 StGB in
Betracht.78 Wird der Patientin indes noch während der vermeintlich medizinisch ver-
anlassten Berührungen gewahr, dass die Handlung tatsächlich eine sexuelle ist, und
kann sie nur das „Nein“ nicht mehr schnell genug äußern, ist wiederum an § 177
Abs. 2 Nr. 3 StGB zu denken.

VI. Der „erkennbare Wille“ im Lichte der Tatmodalitäten


Der Tatbestand des § 177 Abs. 1 StGB unterscheidet verschiedene Modalitäten,
die sich strukturell in zwei Gruppen einordnen lassen: Auf der einen Seite beschreibt
er sexuelle Handlungen, die vom Täter oder einer dritten Person an der Person vor-
genommen werden, welche zuvor den entgegenstehenden Willen erkennbar gemacht
hat (Duldungsmodalität); auf der anderen Seite sind sexuelle Handlungen erfasst, die
von letzterer Person selbst am Täter, an einer dritten Person oder an bzw. mit sich
selbst vorgenommen werden (Vornahmemodalität).
Wenn die genannte zweite Verwirklichungsform voraussetzt, dass die (sexuelle)
„Handlung“ vom Opfer selbst in die Welt gesetzt wird, drängt sich im Lichte des Ab-
satzes 1 geradezu die Frage auf, ob es sich überhaupt vertragen kann, dass auf der
einen Seite sein Wille entgegensteht, es aber auf der anderen Seite (dennoch) han-
delt.79 Wenn hier auch die Vornahme einer menschlichen „Handlung“ im Raum
steht und damit ihre schillernde strafrechtliche Deutung berührt ist, wird es auf
den „fruchtlosen Streit“80 um die Handlungslehren nicht ankommen: Hier sind näm-
lich Nuancen einer „natürlichen“, „finalen“ oder „sozialen“ Betrachtung ohne Be-
deutung, vielmehr ist auf den alle Ansätze tragenden Grundgedanken eines „vom
Willen getragenen menschlichen Verhaltens“81 abzustellen. Dass bei der spezifi-
schen sexuellen Handlung der Wille des Opfers und nicht derjenige des Täters maß-
geblich ist, ändert an der Bewertung nichts, wie sich etwa in der Beschreibung des
Opferverhaltens bei der im Sinne des § 240 StGB abgenötigten „Handlung“ zeigt, bei

77
S. dazu auch Hoven/Weigend, KriPoZ 2018, 156 (157 ff.).
78
Dazu Hoven/Weigend, KriPoZ 2018, 156 (158 f.).
79
S. dazu auch Hoven, Irrungen und Wirrungen des neuen Sexualstrafrechts, in: Frank-
furter Allgemeine, Einspruch Magazin vom 13. Februar 2019.
80
Tonio Walter, in: LK-StGB, 12. Aufl. (2007), Vor § 13 Rdnr. 29.
81
Zusammenfassend Tonio Walter, in: LK-StGB, 12. Aufl. (2007), Vor § 13 Rdnr. 29.
Das gesetzliche Merkmal „gegen den erkennbaren Willen“ 967

dem stets auf ein willentliches Verhalten abgestellt wird.82 Die hierdurch erzielte
erste Erkenntnis mag der Intuition widersprechen, ist aber eindeutig: Wer eine sexu-
elle Handlung am Täter, an einem Dritten oder an bzw. mit sich83 vornimmt, entschei-
det sich positiv zu diesem aktiven Tun, handelt mithin – wie schon im Ausgang ver-
deutlicht – willentlich. Wenn nun aber jedes menschliche Verhalten notwendig vom
„Willen“ getragen sein muss, um überhaupt den Begriff der „Handlung“ auszufüllen,
versteht es sich wiederum, dass selbst die Äußerung, die Handlung („an sich“) nicht
vornehmen zu wollen, ohne Bedeutung bleiben muss: Ist nämlich vorausgesetzt, dass
jede Handlung des Menschen auf einem „Wollen“ fußt, macht er eben dies durch die
Vornahme auch äußerlich erkennbar; ein Berufen auf einen dennoch („eigentlich“)
entgegenstehenden Willen, mag er auch zuvor sogar expressis verbis erklärt worden
sein, wäre widersprüchlich und ist daher rechtlich unbeachtlich („venire contra fac-
tum proprium“). Noch einfacher ausgedrückt: Wer etwas innerlich nicht will, hat es
äußerlich zu unterlassen. Dass das Opfer in der Tatsituation bestens beraten sein mag,
eine entsprechende Handlung in diesem rechtlich allein relevanten Sinne zu „wol-
len“, ist ein hiervon scharf zu trennender Aspekt, der nicht den Willen, sondern
nur die Freiheit seines Ursprungs berührt: In jener Sache geht es um nichts anderes
als um die Frage, warum sich das Opfer in der Schlüsselposition sich ihm bietender
zweier Verhaltensmöglichkeiten, namentlich der (willensgetragenen) Vornahme der
angesonnenen Handlung und ihres (willensgetragenen) Unterlassens, um eines hö-
heren Ziels wegen für das aktive Tun entscheidet, eben dies also will. Wenn dieser
rationalen Entscheidung84 zu einem Handeln das Etikett des „Selbstbestimmten“ an-
gehängt wird, findet sich eine unsachgemäße Vermengung des menschlichen Willens
mit seinen Eigenschaften:85 Ob ein Mensch im oben gezeigten Sinne will oder ob er
dies selbstbestimmt will, sind zwei völlig unterschiedliche Fragen. In dieser Hinsicht
sollte zudem nicht übersehen werden, dass die „sexuelle Selbstbestimmung“ kein ge-
setzliches Merkmal,86 sondern ihr Schutz allenfalls der Telos der Norm ist; ob sie
verletzt ist, stellt also das Ergebnis, nicht den Ausgangspunkt der Auslegung dar.87
Im Übrigen erscheint die Kategorie des „selbstbestimmten“ Willens, eingeschoben
zwischen dem (völlig freien) Willen und dem abgenötigten Willen, nicht hinreichend
scharf abgrenzbar: So würde es der Judikative überantwortet, ein Geschehen als eben

82
S. etwa Sinn, in: MüKo-StGB, 3. Aufl. (2017), § 240 Rdnr. 98.
83
Zu den verschiedenen Modalitäten Wolters, in: S/S/W-StGB, 4. Aufl. (2019), § 177
Rdnr. 8 ff.
84
Die gegen die (insbesondere auf Adam Smith zurückgehende) „Theorie der rationalen
Entscheidung“ vorgebrachten Bedenken, seien sie ökonomischer, soziologischer, psycholo-
gischer oder politologischer Provenienz, dürften den hier zu behandelnden Gegenstand nicht
treffen.
85
Hörnle, NStZ 2019, 439 (440). Vorgenannter Beitrag und die Erwiderung Fischers
(NStZ 2019, 580) sind erst nach Abgabe des Typoskriptes erschienen, so dass auf sie nur am
Rande eingegangen werden kann.
86
Zutreffend auch Fischer, NStZ 2019, 580 (581).
87
Zur Kritik der teleologischen Auslegung im Allgemeinen s. eingehend Herzberg, JuS
2005, 1 (6 ff.).
968 Gereon Wolters

noch selbstbestimmt oder gerade schon fremdbestimmt zu deuten, ein Einfallstor für
persönliche Wertungen und moralische Anschauungen wäre weit aufgestoßen, von
Normklarheit mithin keine Spur.88
Dass „in den Gesetzesmaterialien sich keinerlei Anzeichen für diese Interpreta-
tion finden“,89 mag zutreffen, fördert aber mitnichten die (historische) Auslegung,90
sondern zeigt zunächst nur ein weiteres Beispiel dafür, dass die Strafrechtsdogmatik
bei der Tatbestandsgenese keine allzu große Rolle gespielt haben dürfte.91 Dass diese
Deutung „nicht zum Gesetzestext passt“,92 ist vielleicht missliebig, aber eben gerade
das Ergebnis der Auslegung; jedenfalls kann von einem Normverständnis praeter
legem nicht die Rede sein.93
Hiernach kann hinsichtlich dieser Modalitäten zusammengefasst werden, dass
sämtliche allein vom Opfer vorgenommenen sexuellen Handlungen den Grundtatbe-
stand des sexuellen Übergriffs nach § 177 Abs. 1 StGB nicht zu erfüllen vermögen.
Mag im Gesetzgebungsverfahren auch – indes ohne jede Begründung – von anderem
ausgegangen worden sein,94 zeigt sich immerhin das insoweit „richtige“ Gespür
darin, dass mit § 177 Abs. 2 Nr. 5 StGB eine Vorschrift geschaffen worden ist, die
gerade diese Konstellationen auffängt. In ihrem Anwendungsbereich geht es nämlich
– nach Dargelegtem – nicht (allein) um Fälle, in welchen der „entgegenstehende
Wille nicht erkennbar ist“95, sondern insbesondere und praktisch häufig um solche,
in denen durch die Vornahme der sexuellen Handlung durch das Opfer zwar in der
konkreten Tatsituation der faktische Wille ausgedrückt wird, dieser aktuelle Wille
aber gerade die Folge eines zuvor durch Zwang beseitigten, in seinem Ursprung ent-
gegenstehenden Willens ist. Insoweit zutreffend ist die im Gesetzgebungsverfahren
gewählte Formulierung, der Täter müsse „einen entgegenstehenden Willen des Op-
fers durch Zwang brechen“;96 gemeint ist hiermit, dass durch den nötigenden Einfluss
aus dem ursprünglich entgegenstehenden ein faktisch zustimmender Wille wird, das
Opfer also seinen Willen dem Täter unterordnet.97
Nach diesen Erkenntnissen erscheint es nun nicht einmal von vornherein als aus-
gemacht, dass sexuelle Handlungen, die vom Täter oder einer dritten Person an einer
Person vorgenommen werden, die zuvor den entgegenstehenden Willen erkennbar
gemacht hat, stets den Tatbestand des Absatzes 1 begründen. Auch wenn sich in sei-
88
Vgl. Fischer, NStZ 2019, 580 (583).
89
Hörnle, NStZ 2019, 439 (440).
90
Zu ihren generellen Schwächen s. eindrücklich Herzberg, JuS 2005, 1 (4 ff.).
91
Besonders pointiert Fischer, NStZ 2019, 580 (584): „Auch der (historische) Gesetzgeber
macht gelegentlich schlichten Unsinn“.
92
Hörnle, NStZ 2019, 439 (440).
93
So aber Hörnle, NStZ 2019, 439 (440).
94
BT-Drucks. 18/9097 S. 23.
95
BT-Drucks. 18/9097 S. 23.
96
BT-Drucks. 18/9097 S. 26.
97
Vgl. Altvater, in: LK-StGB, 12. Aufl. (2015), § 240 Rdnr. 1.
Das gesetzliche Merkmal „gegen den erkennbaren Willen“ 969

nen Buchstaben der Begriff lediglich in der Modalität der von einem Dritten am
Opfer vorgenommenen sexuellen Handlung findet, mag man nämlich durchaus in
den ganzen Absatz 1 hineinlesen, dass sich diese Fallgestaltungen durch eine opfer-
seitige „Duldung“ kennzeichnen. Legte man insoweit die aus dem Nötigungstatbe-
stand vertraute Unterscheidung zwischen der „Unterlassung“ als einem willensgetra-
genen und der „Duldung“ als einem nicht willensgetragenen Untätigbleiben98 zu-
grunde und beschränkte den Tatbestand ganz technisch auf letzteres, wären einzig
solche Fälle erfasst, in welchen das Opfer sich der sexuellen Handlung des Täters
oder des Dritten fügen muss, da ihm kein gegenläufiges alternatives Verhalten in Ge-
stalt einer Verhinderungshandlung möglich ist. Dieser Ansatz, der allein unwider-
stehlichen Zwang erfasst sähe, findet vordergründig eine Stütze in § 177 Abs. 2
Nr. 4 StGB, der voraussetzt, dass das Opfer der sexuellen Handlung zwar Widerstand
entgegensetzen könnte, diesen aber wegen der spezifischen Zwangslage nicht setzt,
es mit anderen Worten eine mögliche alternative Handlung willentlich unterlässt.
Auch diese Tatsituation zeichnet sich mithin dadurch aus, dass das Opfer die sexuelle
Handlung („eigentlich“) nicht möchte, sie aber nicht nur erdulden muss, sondern be-
wusst zulässt, weil es bei alternativem Verhalten (sprich: Widerstand) gewichtigere
Nachteile subjektiv fürchtet bzw. objektiv fürchten muss.99 Auch hier zeigt sich mit-
hin ein Prozess des abwägenden Entscheidens: Unabhängig davon, ob das Opfer das
Übel als sicher voraussieht oder nur eine (gewisse oder ungewisse) Wahrscheinlich-
keit dafür sieht, seine Abwägung also deterministisch oder stochastisch geprägt ist,
kommt es nach einer Analyse von Chancen und Risiken zu der (subjektiv) rationalen
Erkenntnis, dem Ansinnen der anderen Person keinen Widerstand entgegen zu set-
zen. Da letzterer aber möglich ist, handelt es sich nicht nur um eine bewusste Wahl
einer der sich bietenden Verhaltensweisen, sondern eben auch um den Ausdruck des
„Willens“ des Opfers. Dass dieser unfrei ist, vermag an dieser Charakterisierung
nichts zu ändern, da es nicht darum geht, ob der Wille ein „freier“ ist, sondern allein
um die Entscheidung, die Alternative (Widerstand) zu unterlassen.
Schon eine weitere systematische Betrachtung zeigt, dass sich diese Deutung
nicht stimmig in die neue Gesamtvorschrift einfügen lässt: So setzt Absatz 2 Nr. 5
voraus, dass das Opfer „durch Drohung“, also gerade nicht durch unwiderstehlichen
Zwang zu der „Duldung“ der sexuellen Handlung genötigt wird, was erkennbar
macht, dass der Ausdruck nicht auch, sondern gerade das willensgetragene „Unter-
lassen“ umfasst, was im Übrigen auch der historischen Fassung des § 177 Abs. 1
StGB („nötigt, sexuelle Handlungen … an sich zu dulden“) folgt.
Weit schwerer wiegt, dass das Hineinlesen des Erfordernisses einer fehlenden
Handlungsalternative in Absatz 1 auch in jener Konstellation die Struktur der
neuen Fassung verkennen würde. Sie orientiert sich nämlich gerade nicht mehr
am Überwinden des (möglichen) Widerstands, sondern schlicht am Hinwegsetzen

98
Nachweise bei Sinn, in: MüKo-StGB, 3. Aufl. (2017), § 240 Rdnr. 97.
99
Zur Frage des nur vorgestellten empfindlichen Übels s. Wolters, in: S/S/W-StGB,
4. Aufl. (2019), § 177 Rdnr. 50.
970 Gereon Wolters

über den erkennbaren Willen.100 Hat das nicht handelnde, sondern untätige Opfer
seine Ablehnung ausdrücklich oder schlüssig erklärt, hat es seine einzige Obliegen-
heit erfüllt. Über dies hinaus spielt es keine Rolle, dass es sich im eingangs ausge-
führten Sinne zugleich oder hernach bewusst dazu entschieden hat, auf Widerstand
zu verzichten. Hier begründet nämlich bereits das „Nein“ zur sexuellen Handlung die
Strafe, auf den Willen, ein weiteres mögliches Verhalten zum Schutz des eigenen In-
teresses zu unterlassen, kommt es nach der Neufassung nicht mehr an. Absatz 1 und
Absatz 2 Nr. 4 unterscheiden sich mithin dadurch, dass das Opfer bei ersterem nach
dem „Nein“ nichts Weiteres zur Bewahrung seines Rechtsguts unternimmt, während
es bei zweiterem nicht nur auf den nachfolgenden Widerstand, sondern zudem bereits
auf eine vorausgehende Willensbekundung verzichtet, weil es ihm – etwa wegen des
häufig zitierten „Klimas der Gewalt“ – schon nicht zumutbar ist, seinen (eigentli-
chen) Willen auch nur kundzutun,101 da nicht erst der Widerstand, sondern schon
das Äußern eines Widerwillens Nachteile nach sich führen mag.102 Strukturell unter-
scheiden sich die beschriebenen Phänomene demnach dadurch, dass in Absatz 1 das
Unterlassen eines weiteren Widerstands nach einem ersten „Widerstand“ in Gestalt
eines „Nein“,103 in Absatz 2 Nr. 4 schon das Unterlassen eines Neinsagens abgenötigt
wird.104 In dieses Bild fügt sich auch § 177 Abs. 2 Nr. 5 StGB: Er ist bei Duldung der
sexuellen Handlung (nur) anzuwenden, wenn das Opfer angesichts der Zwangslage
schon von einem „Nein“ absieht; macht es ein solches erkennbar, ist Absatz 1 gege-
ben. Nimmt das Opfer demgegenüber aber die Handlung selbst vor, verhält es sich
stets im Sinne des Absatzes 1 willentlich. Vor einer Strafbarkeit steht danach die
Feststellung der Drohung mit einem empfindlichen Übel nach Absatz 2 Nr. 5; ob
dies eine „Lücke“ darstellt, sie gesetzgeberisch gewollt oder von der Interpretation
hinzunehmen ist, bleibt ohne Belang.
Ein vergleichbares Grundmuster zeigt im Übrigen das Zusammenspiel des Absat-
zes 1 mit Absatz 2 Nr. 1: Letzterer Vorschrift ist zu subsumieren, wenn entweder die
Bildung eines Willens (im Schlaf, im Zustand der Bewusstlosigkeit etc.) nicht möglich
ist, es mithin an der Grundvoraussetzung für ein „Nein“ fehlt, oder wenn ein solches
„Nein“ zwar innerlich gebildet, aber (etwa wegen einer Behinderung) nicht in die Au-
ßenwelt getragen werden kann.105 Der Anwendungsbereich des Absatzes 1 ist in die-
sem Umfeld mithin gerade dann und eindeutig eröffnet, wenn das Opfer ein „Nein“
bilden und äußern kann und dies auch ausdrücklich oder schlüssig in die Welt gesetzt
hat. Hier geht es mithin nicht um eine abgenötigte Zustimmung, sondern zuvörderst um
Fälle, in welchen das Opfer (etwa infolge einer Ganzkörperlähmung) nicht in der Lage
ist, seinen Widerwillen zusätzlich auch (durch Widerstand) auszudrücken. Hier wäre

100
BT-Drucks. 18/9097 S. 21.
101
S. BT-Drucks. 18/9097 S. 23.
102
Vgl. BT-Drucks. 18/9097 S. 26.
103
Vgl. Hörnle, NStZ 2019, 439 (441), die das „Nein“ zutreffend als „Barriere“ bezeichnet.
104
S. dazu auch Hörnle, NStZ 2019, 439 (440).
105
Näher Wolters, in: S/S/W-StGB, 4. Aufl. (2019), § 177 Rdnr. 32.
Das gesetzliche Merkmal „gegen den erkennbaren Willen“ 971

die Verwendung des Begriffs der „Duldung“ im Gesetz etwaig missverständlich, da er


herkömmlich einen Nötigungserfolg beschreibt, hier aber gerade kein Verhalten er-
zwungen wird, sondern ein „Erleiden“ sprachlich und inhaltlich treffender sein dürf-
te.106 Nur am Rande sei notiert, dass der beschriebene Fall dem Absatz 4 auch bei be-
hinderten etc. Tatopfern nicht unterfällt, da dieser sich „ausschließlich“ auf Absatz 2
Nr. 1 bezieht,107 das Übergehen einer geäußerten Ablehnung also milder bestraft
wird als das Handeln ohne den bzw. ohne geäußerten Willen.108
Da sich nach alledem zeigt, dass das dogmatisch scharfe Instrument zwar vom
Opfer selbst vorgenommene Handlungen aus dem Anwendungsbereich des Absat-
zes 1 schneidet, dieser aber bei lediglich „willentlichem“ Unterlassen von Wider-
stand (über das „Nein“ hinaus) nicht versperrt ist, erscheint die praktische Bedeutung
als eine schmale, da Fälle reiner Passivität seitens des Täters eine sehr seltene Aus-
nahmen bilden werden.109 Nur in letzteren bedarf es der tatgerichtlichen Feststellung
einer Drohung durch den Täter.

VII. Das Wichtigste


Die vorstehenden Zeilen verstehen sich natürlich nicht einmal als zaghafter Ver-
such, auch nur ein wenig Licht in das Dunkel der großen Fragen zum menschlichen
Willen und seiner Freiheit zu bringen.110 Vielmehr möchten sie nur einen forensisch
greifbaren Beitrag zur rechten Auslegung eines Tatbestandsmerkmals leisten, das
nicht zuletzt die Strafrechtspraxis vor neue Herausforderungen stellen dürfte. Ge-
schlossen werden darf mit zwei hierzu passenden Gedanken Reinhard Merkels:
Die Wissenschaft des Strafrechts sollte sich nicht nur der „Mahnung zur Bescheiden-
heit“ verpflichtet fühlen, sondern sich – ganz im Geiste Gustav Radbruchs – bewusst
halten, dass die gute Strafjuristin und der gute Strafjurist stets „mit einem schlechten
Gewissen ist“.111 Der so verstandenen Strafrechtswissenschaft ist sehr zu wünschen,
dass Reinhard Merkel sie noch sehr lange gewohnt feinsinnig, gehaltreich und stets
befruchtend begleitet. Weit darüber hinaus mögen dem so sympathischen Jubilar
noch viele Olympiaden beste Gesundheit und viel Lebensglück beschieden sein!
106
Vgl. Sinn, in: MüKo-StGB, 3. Aufl. (2017), § 240 Rdnr. 100.
107
BT-Drucks. 18/9097 S. 27.
108
Der Gedanke, das behinderte etc. Opfer unterfiele im Beispielsfall Absatz 5 Nr. 3 ver-
fängt nicht, da „schutzlos ausgeliefert“ nicht schon diejenige Person ist, die sich angesichts
äußerer Umstände nicht wehren kann, sondern verlangt ist, dass sie bei einem gedachten
(möglichen) Widerstand Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt ist (ausdrücklich BT-Drucks.
18/9097 S. 27; näher Wolters, in: S/S/W-StGB, 4. Aufl. [2019], § 177 Rdnr. 74 ff.).
109
So zeigte sich wohl das Gesamtgeschehen in dem vom Landgericht Bamberg zu wür-
digenden Fall (BGH NStZ 2019, 717 mit Besprechung Ziegler); vgl. Fischer, NStZ 2019, 580.
110
S. dazu Reinhard Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld (2008), S. 133 (An-
merkung 211).
111
Reinhard Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld (2008), S. 136 (mit Anmer-
kung 214).
§ 184 j StGB im Streit der Meinungen
Von Claus Roxin

I. Die widerstreitenden Positionen


§ 184 j StGB ist durch das 50. Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. 11. 2016 einge-
führt worden.1 Er lautet: „Wer eine Straftat dadurch fördert, dass er sich an einer Per-
sonengruppe beteiligt, die eine andere Person zur Begehung einer Straftat an ihr be-
drängt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft, wenn von einem Betei-
ligten der Gruppe eine Straftat nach den §§ 177 oder 184 i begangen wird und die Tat
nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist.“
§ 177 bedroht in neun langen Absätzen den sexuellen Übergriff, sexuelle Nöti-
gung und Vergewaltigung – so die Überschrift des Gesetzes – und § 184 i die sexuelle
Belästigung mit Strafe.
Selten hat eine neue Strafvorschrift so gegensätzliche Reaktionen hervorgerufen.
Von vielen Autoren wird sie als völlig verfehlt und verfassungswidrig beurteilt. So
sagt Renzikowski:2 „Der neue Straftatbestand ist eine der schlimmsten Verirrungen
des Gesetzgebers und hat mit einem rechtsstaatlichen Strafrecht nichts zu tun.“ Seine
Erläuterung fordere „eigentlich keine Kommentierung, sondern eine Parodie“3. Nol-
tenius meint:4 „Eine sinnvolle Kommentierung erscheint … unmöglich, es kann
daher nur der Versuch einer Kommentierung unternommen werden.“
Frommel5 resümiert: „Eine verfassungskonforme Auslegung erscheint schwer
vorstellbar.“ Thomas Fischer6 bezeichnet „die Strafbarkeitskonstruktion“ als „eine
schlichte Umgehung der Regeln der Zurechnung (und des Zweifelssatzes)“. Auch
Hoven/Weigend7 erklären den Tatbestand für „verfassungsrechtlich hoch problema-
tisch“.

1
BGBl. 2016 I, 2460.
2
Renzikowski, Nein! Das neue Sexualstrafrecht, NJW 2016, 3553 – 3558 (3557); wörtlich
gleichlautend ders., MüKo, 3. Aufl. 2017, § 184 j, Rn. 2.
3
Renzikowski (Fn. 2), MüKo, Rn. 1.
4
Noltenius, SK, 9. Aufl. 2017, § 184 j, Rn. 4.
5
Frommel, NK, 5. Aufl. 2017, § 184 j, Rn. 8.
6
Thomas Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, § 184 j, Rn. 20.
7
Hoven/Weigend, „Nein heißt Nein“ – und viele Fragen offen, JZ 2017, 182 – 191 (191).
974 Claus Roxin

Gerügt werden vor allem – was hier vorab nur aufgezählt sei – Verstöße gegen das
Schuldprinzip, aber auch gegen den Bestimmtheitsgrundsatz, das Rechtsgutserfor-
dernis, die Unschuldsvermutung und den Zweifelsgrundsatz.8
Andererseits halten aber namhafte Autoren die neue Strafvorschrift – unbeschadet
einiger Detailbeanstandungen – für tendenziell berechtigt. Hörnle9 kommt bei einer
verfassungsrechtlichen Untersuchung zu dem Ergebnis: „Es ist angemessen, denje-
nigen zu bestrafen, der durch seine Beteiligung an der bedrängenden Gruppe vorsätz-
lich die Begehung eines Delikts gegen die Person fördert, und zwar auch dann, wenn
ihm die genaue Natur dieses Delikts nicht ersichtlich ist oder wenn sich andere Grup-
penmitglieder spontan entschließen, die gemeinsam geschaffene Übermacht über
das Opfer für ein Sexualdelikt auszunutzen.“ Die Regeln für Gehilfen und Mittäter
seien „nicht durch den Schuldgrundsatz zwingend vorgegeben“.
Stuckenberg10 meint ebenfalls: „Der Gesetzgeber durfte von der plausiblen An-
nahme ausgehen, dass die Verstärkung einer in erkennbar strafbarer Absicht handeln-
den Gruppe die abstrakte Gefahr der Realisierung von Straftaten vergrößert, worin
eigenes strafbares Unrecht liegt. Der Schuldgrundsatz ist gewahrt.“
Eisele11 fordert vom Täter des § 184 j eine aktive „Mitwirkung am Bedrängen …
Damit ergibt sich aber in objektiver Hinsicht gegenüber einer Beihilfe … kaum noch
ein eigenständiger Anwendungsbereich … Da weitgehend Deckungsgleichheit mit
der Beihilfe besteht, ist freilich bei einer solch restriktiven Auslegung nicht von
einer Verfassungswidrigkeit auszugehen.“

II. Möglichkeiten einschränkender Auslegung


Natürlich muss man, bevor man dem Problem einer etwaigen Verfassungswidrig-
keit nähertritt, wie auch Eisele vorschlägt, zunächst eine restriktive Auslegung vor-
nehmen und versuchen, dadurch eine Verfassungskonformität zu erreichen.
Was die Beteiligung an einer Personengruppe und damit die erste Strafbarkeits-
voraussetzung betrifft, so bedarf der Begriff der Gruppe ebenso wie derjenige der Be-
teiligung einer klaren und sachgerecht einschränkenden Konturierung. Beide Begrif-
fe sind nicht unumstritten.
Hoven/Weigend12 rügen die „Unbestimmtheit des Gruppenbegriffs“. „Bloße An-
sammlungen von Menschen (wie etwa in einer überfüllten U-Bahn) sollen nach der

8
Näheres dazu unter III.
9
Hörnle, § 184 j (Straftaten aus Gruppen) – ein verfassungswidriger Straftatbestand?,
Bonner Rechtsjournal 2017, 57 – 62 (60).
10
Stuckenberg, Straftaten aus Gruppen (§ 184 StGB) – die unbemerkte Wiederkehr des
Landfriedensbruchs alter Art, FS Rengier, 2018, 353 – 362 (361).
11
Schönke/Schröder/Eisele, 30. Aufl. 2019, § 184 j, Rn. 8.
12
Hoven/Weigend (Fn. 7), 190.
§ 184 j StGB im Streit der Meinungen 975

Vorstellung des Gesetzgebers von dem Tatbestand nicht erfasst sein. Andererseits
verlangt das Bestehen einer Gruppe weder einen mittäterschaftlichen gemeinsamen
Tatplan ihrer Mitglieder noch eine irgendwie geartete Organisation wie bei einer kri-
minellen Vereinigung (§ 129 StGB). Dann fragt man sich jedoch, wie eine bloße ,Per-
sonengruppe‘ den gemeinsamen Willen bilden soll, jemanden zu bedrängen, um eine
Straftat zu begehen … Wie soll man sich an einem solchen amorphen Gebilde betei-
ligen?“
Hinsichtlich der Beteiligung an der „Gruppe“ meint Renzikowski,13 es genüge „die
zufällige Anwesenheit in einer Menschenmenge mit zugestandermaßen unlauteren
Absichten, um jemanden für ein Sexualdelikt verantwortlich zu machen“.
Beide Begriffe sind jedoch einer konkretisierenden Auslegung zugänglich. Unter
einer „Personengruppe“ im Sinne des § 184 j wird man nur eine Mehrzahl von Men-
schen verstehen können, die andere „bedrängt“. Das ergibt sich aus dem Relativsatz,
wonach nur bedrängende Gruppen erfasst werden. Was eine nicht bedrängende
Gruppe ausmacht, kann also offenbleiben, da nach dem Gesetzestext die „Bedrän-
gung“ für die nötige Konkretisierung sorgt. Es muss sich um eine Personenmehrheit
handeln, die einen anderen „mit Nachdruck an der Ausübung seiner Bewegungsfrei-
heit oder seiner sonstigen freien Willensbetätigung“ hindert.14 Damit ist der vom Ge-
setzgeber gewählte spezielle Begriff der bedrängenden Gruppe hinreichend deutlich
bezeichnet. Zwar verlangt das Gesetz nur, dass „eine andere Person“ bedrängt wird.
Aber es ist klar, dass die Bedrängung mehrerer oder gar zahlreicher Personen – wie in
der Kölner Silvesternacht, die den Anlass zur Schaffung der Strafvorschrift gab – erst
recht der Strafvorschrift unterliegt.
Das gruppenkonstituierende Merkmal ist nach § 184 j also das gemeinsame Be-
drängen. Das ist mehr als eine Menschenansammlung, verlangt aber weniger als eine
Mittäterschaft. Denn es ist weder ein gemeinsamer Tatplan noch eine Verabredung
nötig. Es genügt, dass jemand sich dem bedrängenden Verhalten anderer anschließt,
ohne dass die einzelnen „Bedränger“ sich abgesprochen haben müssen.
Damit ist auch das Problem der Beteiligung an der Gruppe gelöst. Es genügt nicht,
wie Renzikowski meint, die zufällige Anwesenheit in einer Menschenmenge. Viel-
mehr beteiligt man sich an einer Gruppe nur dann, wenn man an der von ihr ausge-
henden Bedrängung mitwirkt.

III. Der Straftatbezug der bedrängenden Gruppe


Das eigentliche Problem der Vorschrift liegt aber im Straftatbezug des Bedrän-
gens. Dieser ist so locker, dass die Strafwürdigkeit des nach Meinung des Gesetzge-
bers deliktsfördernden Bedrängers zweifelhaft ist.

13
Renzikowski (Fn. 2), NJW 2016, 3557.
14
BT-Dr. 18/9097, 31.
976 Claus Roxin

Nach dem Wortlaut der Vorschrift muss die Personengruppe, an der sich der Täter
beteiligt, „eine andere Person zur Begehung einer Straftat an ihr“ bedrängen und da-
durch eine Straftat fördern. Aus dem Wort „dadurch“ lässt sich entnehmen, dass die
Beteiligung an der bedrängenden Gruppe für eine Straftatförderung ausreichen soll,
ein zusätzlicher Tatbeitrag also nicht erforderlich ist. Nötig ist aber, dass ein Betei-
ligter aus der Gruppe eine Straftat nach § 177 oder § 184 i begeht. Diese Straftat ist
als objektive Bedingung der Strafbarkeit ausgestaltet, braucht also vom Vorsatz des
Täters nicht umfasst zu werden.
Der Zweck dieser komplizierten Konstruktion liegt in der Überwindung der Be-
weisschwierigkeiten, die sich bei den strafbaren Vorgängen auf dem Kölner Dom-
platz zu Silvester 2015 ergeben haben und denen der Gesetzgeber für die Zukunft
vorbeugen will. Da die Täter der sexuellen Übergriffe nachträglich nicht mehr er-
kannt und festgestellt werden konnten, sollte schon die Beteiligung an einer bedrän-
genden Gruppe bestraft werden können. Da ein beliebiges oder gar freundschaftli-
ches Bedrängen durch eine Gruppe keinen hinreichenden Strafwürdigkeitsgehalt er-
kennen lässt, verlangt der Gesetzgeber, dass es „zur Begehung einer Straftat“ erfolgt.
Diese kann beliebiger Art sein und umfasst auch etwa Körperverletzungen, Beleidi-
gungen, Diebstähle, Raub- und Erpressungstaten.
Die Formulierung des Gesetzes, wonach die Gruppe „zur Begehung einer Straf-
tat“ handeln muss, wird man so verstehen müssen, dass schon die Deliktsabsicht
eines Gruppenmitglieds oder mehrerer Mitglieder zur Tatbegehung ausreicht.
Denn die Gruppe als solche hat keinen gemeinsamen Tatbegehungswillen, sonst
läge eine Mittäterschaft vor. Auch lässt der Gesetzgeber es bei der objektiven Bedin-
gung der Strafbarkeit (der vorausgesetzten Sexualstraftat) genügen, dass sie „von
einem Beteiligten der Gruppe“ begangen wird.
Dass der Täter selbst trotz Beteiligung an der Gruppe keine eigene strafbare Hand-
lung im Sinn haben muss, lässt sich auch daraus entnehmen, dass der Gesetzgeber
sich zur Strafbegründung auf die Förderung hemmungsbeseitigender gruppendyna-
mischer Prozesse beruft, ohne an die Täterschaft weitere Anforderungen zu stellen.15
Um die Legitimität einer solchermaßen begründeten Strafbarkeit zu überprüfen,
will ich unter Anlehnung an den historischen Anlass der Vorschrift einen typischen
Sachverhalt zur Diskussion stellen: Der A begibt sich um Mitternacht auf den Kölner
Domplatz, um dort Silvester zu feiern. Er will zu diesem Zweck womöglich eine
junge Frau, die unbegleitet die Jahreswende ebenfalls an diesem öffentlichen Ort be-
geht, als Partnerin gewinnen. Als er sieht, dass andere junge Männer sich in bedrän-
gender Form darum bemühen, verfährt er ebenso, ohne freilich die Grenze zu einer
Straftat nach §§ 177, 184 i StGB zu überschreiten.
Wird er nun mit Recht, wie § 184 j StGB es vorsieht, mit Freiheitsstrafe bis zu
zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn ein anderer junger Mann, ohne
dass der A ihn kennt oder auch nur sieht, sich zu einer sexuellen Belästigung hinrei-
15
BT-Dr. 18/9097, 31.
§ 184 j StGB im Streit der Meinungen 977

ßen lässt? Der A hat sich keine konkreten Straftaten anderer Bedränger vorgestellt,
sondern nur flüchtig daran gedacht, dass bei der tumultuarischen Bedrängung auf
dem Domplatz irgendetwas Strafbares unterlaufen könnte (z. B. ein Taschendieb-
stahl). Das beeinflusst sein Verhalten aber nicht, weil er selbst der Ansicht ist,
dass er mit einem solchen Delikt nichts zu tun hat.
Ein solches Verhalten bei den Delikten „gegen die sexuelle Selbstbestimmung“
einzustellen, ist sicher verfehlt.16 Denn der Täter muss kein Sexualdelikt begangen
und nicht einmal an die Begehung eines solchen durch ein anderes Gruppenmitglied
gedacht haben. Die Ursache dieses Missgriffs liegt darin, dass der Gesetzgeber einen
sexuellen Übergriff im Interesse des Opfers bestrafen wollte, auch wenn ein konkre-
ter Täter nicht zu ermitteln war. Man kann aber nicht eine ganz andere Strafkonstruk-
tion als Delikt gegen die sexuelle Selbstbestimmung einstufen.
Es fragt sich aber auch, ob die Strafdrohung sich auf andere Weise rechtfertigen
lässt, wie dies Hörnle und Stuckenberg in ihren anfangs zitierten Stellungnahmen
versuchen. Konstruktiv lässt sich § 184 j, wenn man Hörnle17 folgt, als eine Beihilfe
ohne konkreten Rechtsgutsbezug deuten. Danach verwirklicht der Täter „eigenes
Unrecht, indem er sich an einer Personengruppe beteiligt, die eine andere Person
zur Begehung einer Straftat bedrängt. Der Sache nach wird Gehilfenstrafbarkeit in
subjektiver Hinsicht erweitert. Modifiziert wird die Regel, dass Gehilfen die wesent-
lichen Merkmale der Haupttat gekannt haben müssen. Bei der neuen Norm genügt
der Vorsatz, dass aus der Gruppe heraus irgendeine Straftat begangen wird.“
Es handelt sich aber nicht nur um die Bestrafung der Beihilfe zu einem vollende-
ten Delikt unbekannter Art. Auch ein tatsächlich versuchtes Delikt ist nicht voraus-
zusetzen. Vielmehr ist auch schon die durch die Gruppenbeteiligung geleistete Bei-
hilfe zur Planung und Vorbereitung irgendeines Delikts strafbar. Denn auch diese er-
folgt „zur Begehung einer Straftat“18. „Damit würde für § 184 j das Schaffen güns-
tigerer Bedingungen für irgendeine Straftat genügen.“19
Dabei ist zu bedenken, dass auch die Annahme einer durch Schaffung günstigerer
Bedingungen für irgendeine Deliktsbegehung geleisteten tatbestandsfernen Hilfe auf
sehr unsicheren Füßen steht. Denn wenn man dem A vorwirft, hemmungsbeseitigen-
de gruppendynamische Prozesse gefördert zu haben, ist diese Förderung jedenfalls
äußerst marginaler Art. Der potenzielle Delinquent braucht ja die Existenz des A
und seine Mitwirkung in der Gruppe nicht einmal gekannt zu haben.
Zweifelhaft ist auch, ob die Taten auf dem Kölner Domplatz – und Entsprechen-
des gilt ggf. für andere Taten von Gruppenmitgliedern – überhaupt durch irgendeine
Gruppendynamik ausgelöst worden sind. Es ist durchaus denkbar, dass einzelne

16
So auch Hörnle, Das Gesetz zur Verbesserung des Schutzes sexueller Selbstbestimmung,
NStZ 2017, 13 – 21 (21).
17
Hörnle (Fn. 16).
18
Schönke/Schröder/Eisele (Fn. 11), Rn. 11; Hoven/Weigend (Fn. 7), 191.
19
Schönke/Schröder/Eisele (Fn. 11).
978 Claus Roxin

Täter Delikte völlig unabhängig von ihrer Gruppenzugehörigkeit in der Annahme


begangen haben, dass die dort versammelte Menschenmenge und das damit verbun-
dene Gedränge z. B. Taschendiebstähle oder sexuelle Übergriffe erleichtern würden.
Ein realer Strafwürdigkeitsgehalt einer ohne eigene Deliktsbegehung vollzoge-
nen Mitwirkung an einer bedrängenden Gruppe ist also kaum aufweisbar. Das zeigen
auch vergleichbare Konstellationen, bei denen eine sexuelle Beeinträchtigung fehlt,
die den Gesetzgeber offenbar allein zu seiner Strafdrohung motiviert hat. So wird,
wie ich aus eigener Berufserfahrung weiß, ein Professor in der Regel nach einem aus-
wärtigen Gastvortrag von einer Gruppe anwesender Studenten bedrängt, die eine Si-
gnatur oder ein Foto haben wollen. Wer würde auf die Idee kommen, alle an dem
Vorgang beteiligten Studenten zu bestrafen, wenn einer von ihnen den engen Körper-
kontakt benutzt, um dem Professor unbemerkt das Portemonnaie aus der Hosenta-
sche zu ziehen und zu entwenden? Auch wenn der eine oder andere Student an
eine solche Möglichkeit gedacht haben mag, kann daraus kein Bestrafungsgrund her-
geleitet werden.
Ein reales praktisches Beispiel bilden auch die Straftaten, die anlässlich des G20-
Gipfels im Juli 2017 in Hamburg von Mitgliedern einer demonstrierenden Gruppe
begangen worden sind. Das Gericht wird nur solche Gruppenmitglieder bestrafen
dürfen, die an einer konkreten Straftat als Täter, Anstifter oder Gehilfe mitgewirkt
haben. Warum sollte es anders sein, wenn dabei auch ein Sexualdelikt vorgefallen
ist?
Es sprechen also gute Gründe für die These, dass § 184 j StGB gegen das Schuld-
prinzip verstößt. Denn das Schuldprinzip soll ein Tatbestandsstrafrecht garantieren.
Das kann entweder dadurch geschehen, dass das Verhalten des Täters sich als Bei-
hilfe einem anderen Tatbestand zuordnen lässt oder dadurch, dass es ein selbständi-
ges Unrecht verkörpert. Die erste Möglichkeit scheitert daran, dass das Verhalten des
Täters mit dem strafauslösenden Sexualdelikt nichts zu tun hat und auch nicht auf die
Förderung einer bestimmten anderen Tatbestandserfüllung durch andere Gruppen-
mitglieder abzuzielen braucht. Die zweite Möglichkeit, derzufolge dem Täter eine
Bestärkung strafbarkeitsbegünstigender gruppendynamischer Enthemmungsprozes-
se als selbständige Straftat zuzurechnen ist, überdehnt das Strafbarkeitsrisiko. Wenn
jemand sich durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe enthemmen lässt, hat er das
selbst zu verantworten, ohne sich auf den Einfluss rechtstreuer Gruppenmitglieder
berufen zu können.
Hörnle20 hat in einem eigenen Aufsatz versucht, die Vereinbarkeit des § 184 j mit
dem Schuldprinzip zu verteidigen. Sie geht davon aus,21 dass nach dem Schuldgrund-
satz „eine Person nur dann strafrechtlich verantwortlich gemacht werden darf, wenn
dieser Person ein Schaden oder eine Rechtsverletzung individuell zurechenbar ist“22.

20
Hörnle (Fn. 9).
21
Hörnle (Fn. 9), 58.
22
Hörnle unter Berufung auf BVerfGE 95, 96 (140).
§ 184 j StGB im Streit der Meinungen 979

Daraus leitet sie zwei Anforderungen ab: „Erstens kann von individueller Zure-
chenbarkeit nur die Rede sein, wenn ein negativ bewerteter Zustand (z. B. die Ver-
letzung oder Gefährdung einer Person) mit einer Handlung der zu bestrafenden Per-
son in Zusammenhang gebracht werden kann … Zweitens erfordert die individuelle
Zurechenbarkeit über den Konnex von Handlung und Folge hinaus, dass der beschul-
digten Person der Vorwurf gemacht werden kann, entweder Vorsatz bezüglich der
Folge gehabt zu haben oder (bei Fahrlässigkeitsdelikten) pflichtwidrig gehandelt
zu haben.“
Hier stellt sich schon die Frage, ob die Zugehörigkeit zu einer bedrängenden
Gruppe im Fall des § 184 j einen hinreichenden „Zusammenhang“ mit der Handlung
der zu bestrafenden Person herstellt. Diese braucht ja nicht einmal eine Straftat be-
gangen zu haben; auch Hörnle23 verlangt nur ein Handeln „mit dem Zweck der Be-
gehung einer Straftat“. Der hier postulierte „Zusammenhang“ zwischen dem Verhal-
ten des Täters nach § 184 j und der bezweckten Straftat eines anderen Gruppenmit-
gliedes ist weder als Kausalität noch als beweisbare psychische Beeinflussung zu fas-
sen. Er kann daher richtigerweise nicht als Zurechnungsgrundlage dienen.
Dann kann aber auch das zweite Erfordernis, der „Vorsatz bezüglich der Folge“,
nicht gegeben sein. Denn dieser Vorsatz müsste, um auf die Folge gerichtet zu sein,
den Zusammenhang mit ihr umfassen. Die Vorstellung, dass ein anderes Gruppen-
mitglied mit dem Ziel einer Straftatbegehung handelt, genügt dazu nicht.
Auch die Berufung auf gesetzliche Parallelfälle, die allgemein als legitim aner-
kannt werden, führt nicht weiter. So sieht Hörnle24 in § 231 StGB (Beteiligung an
einer Schlägerei) „das Muster“ für § 184 j. Aber hier handelt es sich, wie schon mehr-
fach festgestellt worden ist,25 um nicht vergleichbare Konstellationen. Denn wenn
jemand – wie es der Gesetzgeber verlangt – sich „an einer Schlägerei oder einem
von mehreren verübten Angriff beteiligt“ und dadurch „den Tod eines Menschen
oder eine schwere Körperverletzung … verursacht worden ist“, wird zwischen Tä-
terhandlung und zurechenbarer konkreter Folge ausdrücklich ein Kausalzusammen-
hang gefordert. Da es sich um eine typische Folge handelt, lässt sich die Strafdrohung
rechtfertigen. Im Fall des § 184 j fehlt aber sowohl ein fassbarer Kausalzusammen-
hang wie eine die Strafbarkeit legitimierende konkrete Folge; eine konkrete zu be-
gehende Straftat wird nicht genannt, und der strafbarkeitsbegründende sexuelle
Übergriff steht als objektive Bedingung der Strafbarkeit außerhalb des Zurechnungs-
zusammenhanges.
Stuckenberg26 sieht in § 184 j „die unbewusste Wiederkehr des Landfriedens-
bruchs alter Art“. Der erste Absatz des § 125 a.F., auf den es hier ankommt, lautete:
„Wenn sich eine Menschenmenge öffentlich zusammenrottet und mit vereinten Kräf-

23
Hörnle (Fn. 9), 60.
24
Hörnle ((Fn. 16), 21.
25
Vgl. nur Renzikowski (Fn. 2), NJW 2016, 3557 f.
26
Stuckenberg (Fn. 10); das Zitat entstammt dem Titel des Beitrages.
980 Claus Roxin

ten gegen Personen oder Sachen Gewalttätigkeiten begeht, so wird jeder, welcher an
dieser Zusammenrottung teilnimmt, wegen Landfriedensbruches … bestraft.“
Aber die Teilnahme an strafbaren Gewalttätigkeiten wiegt weitaus schwerer als
die Mitwirkung in einer bedrängenden Gruppe, durch die nicht „mit vereinten Kräf-
ten“ Straftaten begangen werden, sondern nur ein oder mehrere Teilnehmer der
Gruppe „zur Begehung einer Straftat“ unbekannter Art willens sind. Die Beteiligung
an Gewalttätigkeiten ist ein signifikant strafbares Unrecht, während die Beteiligung
an einem Bedrängen nicht strafbar ist und die Vorstellung, dass andere Bedränger
eine Straftat unbekannter Art begehen könnten, nicht als Beteiligung daran beurteilt
werden kann.
Es sollte auch zu denken geben, dass sogar die im Verhältnis zu § 184 j sehr viel
konkretere alte Fassung des § 125 auf rechtsstaatliche Bedenken stieß, so dass die
Beteiligung an einer Zusammenrottung heute durch die Formulierung ersetzt worden
ist: „Wer sich an Gewalttätigkeiten … als Täter oder Teilnehmer beteiligt …“.
Eisele27 meint: „In Anlehnung an § 180 (Förderung sexueller Handlungen Min-
derjähriger) und § 233 a a.F. (Förderung des Menschenhandels) könnte das Fördern
in Anlehnung an ein Vorschubleisten interpretiert werden.“Aber auch bei diesen Vor-
schriften werden die zu fördernden Handlungen tatbestandlich konkret umschrieben.
Daran fehlt es in § 184 j. Der jeder Beweisführung entzogene Enthemmungsbeitrag
trägt die Bestrafung nicht; denn er enthält weder eine Handlungsbeschreibung des
Förderns (die bloße Bedrängung genügt dazu nicht) noch der geförderten Handlung.
Es fehlt also ein konkreter Tatbezug.
Die sonst gegen die Vorschrift erhobenen verfassungsrechtlichen Einwände las-
sen sich letztlich ebenfalls auf einen Verstoß gegen das Schuldprinzip zurückführen.
Wenn etwa Hoven/Weigend28 die „Unbestimmtheit des Regelungskerns“ rügen, wird
damit umschrieben, dass dem Täterverhalten die vom Schuldprinzip geforderte Tat-
bestandsbezogenheit fehlt.
Entsprechendes gilt für Frommels Diktum:29 „Die neu eingefügte Strafnorm
schützt kein individuelles Rechtsgut, sondern erleichtert Ermittlungen gegen Perso-
nen, die sich in einer Gruppe befunden haben, aus der heraus Sexualstraftaten began-
gen worden sind.“
Auch Renzikowskis These:30 „Die bloße Vermeidung von Beweisproblemen ist
kein legitimer Zweck einer Strafvorschrift in einem Rechtsstaat, solange Verfas-
sungsgrundsätze wie die aus der Menschenwürde abgeleitete Unschuldsvermutung
(s. Art. 6 Abs. 2 EMRK) etwas zählen“, bezieht sich auf das Fehlen einer tatbestands-
relevanten Schuld.

27
Schönke/Schröder/Eisele (Fn. 11), Rn. 11.
28
Hoven/Weigend (Fn. 7), 191.
29
Frommel (Fn. 5), Rn. 2.
30
Renzikowski (Fn. 2), MüKo, Rn. 3.
§ 184 j StGB im Streit der Meinungen 981

Die gegenwärtige Fassung des § 184 j erreicht aber bei Geschehnissen von der
Art, wie sie Anlass zur Schaffung der Vorschrift gegeben haben, nicht einmal den
Zweck der Ermittlungserleichterung. Denn auf dem Kölner Domplatz hatten sich na-
türlich zahlreiche Menschen versammelt, die nicht zu einer bedrängenden Gruppe
gehörten, sondern als Kölner Bürger den Jahreswechsel an einem herausgehobenen
Ort unter fröhlichen Menschen erleben wollten. Wenn es angesichts dieser Situation
nachträglich nicht einmal möglich war, die Täter sexueller Übergriffe festzustellen
und dingfest zu machen, ist es noch viel weniger möglich, „Täter“ zu ermitteln, die
sich mit einem straflosen Bedrängen begnügt haben.
Das läuft darauf hinaus, dass junge Nordafrikaner, von denen man einige als über-
griffig erkannt haben will, pauschal und auf Verdacht hin als Täter nach § 184 j be-
urteilt worden wären, obwohl man nicht einmal weiß, ob sich alle auch nur am Be-
drängen beteiligt haben. Mit Recht hat Thomas Fischer31 festgestellt: „Insoweit
schwang gerade in der Diskussion um das ,neuartige Gruppenphänomen‘ und seiner
Erfassung durch § 184 j StGB ein unangenehmes Moment fremdenfeindlicher Stig-
matisierung mit.“ In ähnlicher Weise meint Renzikowski,32 die Vorschrift reihe „sich
zwanglos in das beliebte Flüchtlingsbashing ein, wie man es sich ganz rechtsaußen
nicht schöner vorstellen könnte“.
Man wird die Vorschrift also als dogmatisch und kriminalpolitisch verfehlt und
wegen Verstoßes gegen das Schuldprinzip wohl sogar als verfassungswidrig ansehen
müssen. Zwar nennt Hörnle33 die Berufung auf die Verfassung „eine unter deutschen
Juristen verbreitete Unart“. Es werde damit „kriminalpolitisch begründeten Einwän-
den Drastik verliehen“. Dabei werde verkannt, „dass das Grundgesetz weite Spiel-
räume für gesetzgeberische Entscheidungen lässt“. Dem lässt sich entgegenhalten,
dass das Strafrecht den schärfsten Eingriff in die persönliche Freiheit begründet,
den unsere Rechtsordnung kennt, und dass das BVerfG trotzdem – und obwohl es
sonst viele gesetzliche Verfassungsverstöße beanstandet hat – eine Vorschrift des ma-
teriellen Strafrechts kaum je für verfassungswidrig erklärt hat.
Es wäre gut, wenn sich der Gesetzgeber zu einer Revision der Vorschrift ent-
schlösse. Wenn er sich dazu nicht durchringen kann, sollte das BVerfG sprechen.
Ich widme diesen Beitrag meinem hochverehrten Kollegen Reinhard Merkel mit
den herzlichsten Glückwünschen zum 70. Geburtstag. Mögen ihm noch viele gesun-
de und schaffensreiche Lebensjahre beschieden sein!

31
Thomas Fischer, Straftaten aus Gruppen (§ 184 j StGB) – Ein Lehrstück zwischen
Horden, Dogmatik und der Simulation, FS Ulfrid Neumann, 2017, S. 1089 – 1104 (1103).
32
Renzikowski (Fn. 2), MüKo, Rn. 4.
33
Hörnle (Fn. 9), 60.
Politische Tötungsmotive
als niedrige Beweggründe?
Von Armin Engländer

I. Einleitung
Am 2. Juni 2019 wurde der Regierungspräsident des Regierungsbezirks Kassel,
der CDU-Politiker Walter Lübke, auf der Terrasse seines Wohnhauses erschossen.
In seinem – zwischenzeitlich widerrufenen – Geständnis gegenüber der Polizei er-
klärte der Beschuldigte, ein in Kassel wohnhafter Rechtsextremist, am 25. Juni, we-
sentlicher Grund für die Tat sei eine Äußerung Lübkes auf einer Bürgerversammlung
am 14. Oktober 2015 zu einer geplanten Flüchtlingsunterkunft gewesen.1 Mit dieser
hatte der Politiker auf gezielte Störungen und Beschimpfungen seitens mehrerer An-
hänger des Kasseler Pegida-Ablegers Kagida reagiert. Der Tat vorausgegangen
waren mehrjährige massive Anfeindungen des Tatopfers bis hin zu Gewaltaufrufen
und Morddrohungen in den sozialen Medien. Geweckt werden damit Erinnerungen
an die politisch motivierten Tötungen führender Politiker in der Weimarer Republik,
etwa des ehemaligen Reichsministers für Finanzen Matthias Erzberger im Jahr 1921,
des Reichsaußenministers Walther Rathenau im Jahr 1922 und des bayerischen Mi-
nisterpräsidenten Kurt Eisner im Jahr 1919, jeweils durch rechtsextremistische Täter.
Angenommen, das Geständnis des Beschuldigten im obigen Fall trifft ungeachtet
des Widerrufs hinsichtlich Täterschaft und Tatmotiv zu (wofür nach derzeitigem
Kenntnisstand erdrückende Indizien sprechen), stellt sich die Frage, ob der Beschul-
digte sein Opfer aus einem niedrigen Beweggrund getötet hat und deshalb des Mor-
des gemäß § 211 StGB schuldig ist. Nach der jüngsten Rechtsprechung des BGH ist
dies eindeutig zu bejahen. Mit Beschluss vom 2. Mai 2018 hat der 3. Strafsenat ent-
schieden, dass jenseits des Widerstandsrechts aus Art. 20 Abs. 4 GG politische Be-
weggründe zur Tötung eines Menschen stets als niedrig im Sinne des § 211 Abs. 2 zu
bewerten seien.2 In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall ging es um die
Liquidierung eines aus Jugoslawien nach Deutschland emigrierten Oppositionellen
durch Mitglieder des jugoslawischen Geheimdienstes im Jahr 1983. Näher begründet
hat der 3. Strafsenat seine Auffassung, abgesehen von einem Verweis auf die Kom-
1
Lübke hatte geäußert: „Es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte
eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er
nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.“
2
BGH NStZ-RR 2018, 245 mit Anm. Engländer, NStZ 2019, 342.
984 Armin Engländer

mentierung von Schneider zu § 211 StGB im Münchener Kommentar, allerdings


nicht. Nun wäre ein solches Vorgehen nicht zu beanstanden, wenn über diesen
Punkt Einigkeit bestünde. Dem ist jedoch keineswegs so. Die bisherige Rspr.
zeigt sich nicht einheitlich und im Schrifttum wird über die richtige Lösung gestrit-
ten. Vor diesem Hintergrund bietet der oben skizzierte Fall einen aktuellen Anlass,
über die Problematik der politisch motivierten Tötung als Mord aus niedrigem Be-
weggrund noch einmal näher nachzudenken.

II. Der Begriff des politischen Motivs


Wendet man sich der Thematik zu, stellt man etwas überrascht fest, dass der
Frage, was eigentlich unter einem politischen Tötungsmotiv zu verstehen ist, bislang
nur relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Das wäre nicht weiter proble-
matisch, wenn die Einordnung des Beweggrundes3 als politisch noch nichts über
seine Bewertung als niedrig im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB besagte. Indes will
der 3. Strafsenat von einer entsprechenden Trennung von Klassifikation und Bewer-
tung gerade absehen. Ihm zufolge ist jedes politische Tötungsmotiv (jenseits des Wi-
derstandsrechts aus Art. 20 Abs. 4 GG) per se niedrig. Somit soll eine Einordnung
des Beweggrundes als politisch seine Bewertung als niedrig implizieren. Das
setzt, unabhängig von der noch zu erörternden sachlichen Richtigkeit dieser
These, allerdings voraus, dass über den Begriff des politischen Tötungsmotivs zu-
nächst einmal Klarheit besteht. Denn anderenfalls bliebe unbestimmt, welche
Fälle aufgrund politischer Motivation allesamt als Mord aus niedrigem Beweggrund
zählen sollen.4
Im Schrifttum behilft man sich bei der Begriffsbestimmung zumeist mit einer bei-
spielhaften Aufzählung.5 Erwähnt werden in der Kommentarliteratur etwa die Besei-
tigung politischer Gegner aus Machtstreben, rassistisch motivierte Tötungen, terro-
ristische Akte zur Veränderung der Gesellschaftsordnung, aber auch der „Tyrannen-
mord“.6 Diese Begriffserläuterung durch Beispiele setzt indes implizit schon einen
Begriff des Politischen voraus, dessen Merkmale freilich nicht näher expliziert wer-
den. Nun sind Begriffsbildungen eine Frage der Zweckmäßigkeit. Es gibt keinen
„wahren“ Begriff des Politischen. So wird man unter einem ethisch-normativen

3
Die Begriffe des Motivs, des Antriebs und des Beweggrundes werden hier synonym
gebraucht. Näher dazu Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt, 2010, S. 91 f., Merkel, ZIS
2015, 429, 436.
4
Dass der 3. Senat sich in BGH NStZ-RR 2018, 245, nicht mit der angesprochenen be-
grifflichen Frage auseinander gesetzt hat, verdient vor diesem Hintergrund Kritik.
5
Zu einem begrifflichen Klärungsversuch s. aber Zielke, JR 1991, 136. Als „kaum ein-
grenzbar“ sehen den Begriff des Politischen dagegen LK-Rissing-van Saan/G. Zimmermann,
StGB, 12. Aufl. 2019, § 211 Rn. 66.
6
Vgl. etwa MüKo-Schneider, StGB, 3. Aufl. 2017, § 211 Rn. 91; NK-Neumann, StGB,
5. Aufl. 2017, § 211 Rn. 39 f.; SK-Sinn, StGB, 9. Aufl. 2017, § 211 Rn. 26.
Politische Tötungsmotive als niedrige Beweggründe? 985

Blickwinkel den Politikbegriff womöglich anders konzeptualisieren als aus einer so-
ziologisch-deskriptiven Perspektive.7 Während er im ersten Fall im Hinblick auf ge-
wisse Ideale gebildet werden mag – z. B. Politik als die Ermöglichung eines wohl-
geordneten, d. h. stabilen und gerechten, Zusammenlebens freier und gleicher Bürger
unter den Bedingungen eines vernünftigen Pluralismus in religiösen, philosophi-
schen und moralischen Fragen8 –, soll er im zweiten Fall ein als erklärungsbedürftig
angesehenes Phänomen unserer sozialen Realität angemessen erfassen – etwa Politik
als „Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es
zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die
er umschließt“9. Dem BGH dürfte wohl ein relativ anspruchsloser, an alltagssprach-
liche Gebrauchskonventionen anknüpfender Politikbegriff vorschweben. Bemüht
man sich um eine Explikation des alltäglichen Sprachgebrauchs, legt das einen re-
lativ weiten, formalen Begriff des Politischen nahe. Danach geht es der Politik um
die Herbeiführung und Durchsetzung allgemeinverbindlicher Entscheidungen in
den Angelegenheiten des Gemeinwesens; wichtige Faktoren bilden auch dabei der
Erwerb, der Erhalt, der Verlust und die Ausübung der entsprechenden politischen Ge-
staltungsmacht. Tötungsmotive, die auf einen Aspekt der so definierten Politik ab-
zielen, sind demzufolge als politisch zu klassifizieren.10

III. Die Motivgeneralklausel der niedrigen Beweggründe


Ist nun ein politisches Tötungsmotiv im vorgenannten Sinne stets als niedrig zu
bewerten? Und wonach beurteilt sich das? Noch vor der Heimtücke gilt die Motiv-
generalklausel der niedrigen Beweggründe als besonders problembehaftetes Mord-
merkmal.11 Die zentrale Schwierigkeit wird in ihrer Unbestimmtheit gesehen. § 211
Abs. 2 StGB besagt lediglich, dass der Beweggrund niedrig sein muss, benennt aber
keine Kriterien dafür, wann das der Fall ist. Ein Vergleich mit den benannten nied-
rigen Beweggründen (unstreitig: Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs,

7
Einen knappen Überblick über die unterschiedlichen Konzeptualisierungen bieten Celi-
kates/Gosepath, Politische Philosophie, 2013, S. 14 ff.
8
Zu einem solchen Begriff des Politischen s. Rawls, Political Liberalism, 1993, S. 3 f.
9
Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 1972, S. 822.
10
Nicht erfasst werden damit eskalierende Streitigkeiten über politische Fragen zwischen
Privaten, die mit dem Tod eines der Beteiligten enden, da es hier weder um Herbeiführung
oder Durchsetzung allgemeinverbindlicher Entscheidungen in den Angelegenheiten des Ge-
meinwesens, noch um Erwerb, Erhalt oder Ausübung politischer Gestaltungsmacht geht.
Ebenso Zielke, JR 1991, 136; a.A. Stock, SJZ 1947, Sp. 529, 534 Fn. 20. Enger Otto, Jura
1994, 141, 146, der das Ziel der Erlangung oder Verteidigung einer eigenen Machtposition
nicht als politischen Beweggrund versteht.
11
AnwK-Mitsch, StGB, 3. Aufl. 2019, § 211 Rn. 34 ff.; BeckOK-Eschelbach, StGB, Stand
1. 5. 2019, § 211 Rn. 29 ff.; NK-Neumann/Saliger (Fn. 6), § 211 Rn. 26; SK-Sinn (Fn. 6),
§ 211 Rn. 20 f. Ausführliche Kritik bei Grünewald (Fn. 3), S. 89 ff. S. auch Haas, ZStW 128
(2016), 316, 325 ff.
986 Armin Engländer

aus Habgier12) vermag allenfalls einen ungefähren Aufschluss zu geben. Trotz der
weithin geteilten Kritik konnten sich Forderungen, die Motivgeneralklausel abzu-
schaffen und durch sachhaltigere Mordmerkmale zu ersetzen,13 jedoch bislang
nicht durchsetzen. Daran wird sich auch in absehbarer Zeit nichts ändern. Denn
nicht nur sind die Bestrebungen zur Reform der Tötungsdelikte vorerst politisch ge-
scheitert. Die vom Bundesjustizminister im Mai 2014 eingesetzte Expertengruppe
hat in ihrem im Juni 2015 vorgelegten Abschlussbericht außerdem mehrheitlich
für die unveränderte Beibehaltung der Motivgeneralklausel votiert14 und lediglich
eine Ergänzung um weitere benannte niedrige Beweggründe15 vorgeschlagen.
Auch vom BVerfG ist keine Intervention zu erwarten, hat es doch schon vor Jahren
die Motivgeneralklausel als verfassungskonform gebilligt.16
Gemäß der in ständiger Rechtsprechung verfestigten Definitionsformel zählt als
niedriger Beweggrund ein Tatantrieb, der „nach allgemeiner sittlicher Wertung auf
tiefster Stufe steht und deshalb besonders verwerflich ist.“17 Dazu müsse das Motiv
„in deutlich weiter reichendem Maße als bei einem Totschlag verachtenswert er-
scheinen“.18 Zur Beurteilung bedürfe es „einer Gesamtwürdigung aller äußeren
und inneren für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblichen Faktoren“.19
Dazu zählten „die Umstände der Tat, die Lebensverhältnisse des Täters und seine
Persönlichkeit.“20 Subjektiv müsse der Täter die Umstände, die die Niedrigkeit seiner
Tatmotive begründeten, „in sein Bewusstsein aufgenommen und erkannt haben
sowie – insbesondere auch bei affektiver Erregung und gefühlsmäßigen oder trieb-
haften Regungen … – in der Lage gewesen sein, sie gedanklich zu beherrschen und
willensmäßig zu steuern.“21 Dabei sei zu beachten, dass die Verfolgung eigener In-

12
Ob es sich auch bei den Mordmerkmalen der 3. Gruppe um niedrige Beweggründe
handelt, ist umstritten. Dies bejahend BGHSt 11, 226, 228; 23, 39, 40; 35, 116, 126 f. (anders
allerdings BGH NJW 1996, 939); MüKo-Schneider (Fn. 6), § 211 Rn 216 f; SK-Sinn (Fn. 6),
§ 211 Rn 75. Krit. Haas, FS Weber, 2004, S. 235, 248; NK-Neumann/Saliger (Fn. 6), § 211
Rn 97.
13
Dafür etwa Merkel, ZIS 2015, 429, 444. Für eine Beibehaltung der Motivgeneralklausel
und die Abschaffung der benannten niedrigen Beweggründe dagegen Kubik/T. Zimmermann,
StV 2013, 582, 588 f.
14
Abschlussbericht der Expertengruppe zur Reform der Tötungsdelikte (§§ 211 – 213, 57a
StGB), 2015, S. 36.
15
Im Einzelnen: „wegen des Geschlechts“, „wegen der ethnischen oder sonstigen Her-
kunft“, „wegen des Glaubens oder der religiösen Anschauung“, „wegen der sexuellen Identität
oder Orientierung“ und „aus rassistischen Beweggründen“. Ablehnt wurde dagegen die Auf-
nahme eines Mordmerkmals „wegen der politischen Anschauung“. Vgl. Abschlussbericht
(Fn. 14), S. 38 f.
16
BVerfGE 54, 100, 112.
17
S. pars pro toto BGH NStZ 2019, 206, 207.
18
BGH NStZ 2018, 527.
19
BGH NJW 2004, 3051, 3054.
20
BGHSt 56, 11, 18.
21
BGH NStZ 2012, 691, 692.
Politische Tötungsmotive als niedrige Beweggründe? 987

teressen und ein Missverhältnis zwischen Anlass und Tat „der Regelfall der vorsätz-
lichen rechtswidrigen Tötung“ seien und deshalb für eine Bejahung niedriger Be-
weggründe nicht genügten.22 Auch dem Umstand, dass der Täter dem Opfer das Le-
bensrecht abgesprochen habe, „kommt für sich allein kein über § 212 hinausgehen-
des Gewicht zu.“23 Niedrige Beweggründe lägen daher nur vor, wenn ein „eklatantes
Missverhältnis“ bestehe,24 die Tat von „besonders krasser Selbstsucht geprägt“ sei,25
eine tatauslösende Gefühlsregung „jeglichen nachvollziehbaren Grundes“ entbehre26
oder der „personelle Eigenwert des Opfers“ missachtet werde, indem der Täter dieses
„nicht einmal mehr ansatzweise als Person“ behandele, „sondern nur noch wie ein
beliebiges Objekt, mit dem man nach hemmungslosem Gutdünken verfahren
kann.“27 Im Falle eines Motivbündels beruhe die vorsätzliche Tötung auf niedrigen
Beweggründen, wenn „das Hauptmotiv, welches der Tat ihr Gepräge gibt, nach all-
gemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe steht und deshalb verwerflich ist“;28
wie die Begleitmotive zu bewerten sind, spielt danach keine Rolle.

IV. Die Anwendung der Motivgeneralklausel


der niedrigen Beweggründe auf politische Tötungsmotive
in Rechtsprechung und Schrifttum
Ob und inwieweit die soeben skizzierte Konkretisierung, welche die Motivgene-
ralklausel durch die Rechtsprechung erfahren hat, Zustimmung oder Kritik verdient,
kann im Rahmen dieses Beitrags nicht näher untersucht werden.29 Seine Zielsetzung
ist eine begrenztere. Beantwortet werden soll allein die Frage, wie politische Tö-
tungsmotive zu bewerten sind, wenn man die konkretisierenden Leitlinien des
BGH zur Motivgeneralklausel (und sei es nur probehalber) als Ausgangspunkt zu-
grunde legt. Dazu sei eingangs der aktuelle Diskussionsstand kurz referiert.

22
BGH NStZ-RR 2008, 308.
23
BGH NStZ 2019, 204, 206.
24
BGH NStZ-RR 2010, 175, 176.
25
BGH NStZ-RR 2008, 308.
26
BGH NStZ 2012, 691, 692.
27
BGHSt 60, 52, 55.
28
BGH NStZ-RR 2007, 111.
29
Sehr kritische Beurteilung etwa bei AnwK-Mitsch (Fn. 6), § 211 Rn. 35; kritisch auch
BeckOK-Eschelbach (Fn. 6), § 211 Rn. 29.2; NK-Neumann/Saliger (Fn. 6), § 211 Rn. 26;
jedenfalls im Grundsatz positiv dagegen Kubik/T. Zimmermann, StV 2013, 582, 588; LK-
Rissing-van Saan/G. Zimmermann (Fn. 6), § 211 Rn. 26; MüKo-Schneider (Fn. 6), § 211
Rn. 72 f.
988 Armin Engländer

1. Die Rechtsprechung

Zunächst zur höchstgerichtlichen Judikatur. Ein erstes thematisch einschlägiges


Urteil findet sich bereits im Jahr 1948 in der Rechtsprechung des OGH.30 In dem
zu entscheidenden Fall ging es um die vorsätzliche Tötung eines (bereits im Sterben
liegenden) Landrats in der Endphase des Zweiten Weltkriegs wegen eines von die-
sem zuvor unternommenen Suizidversuchs. In dieser versuchten Selbsttötung hatte
der Angeklagte, ein Kreisleiter der NSDAP, eine „feige Fahnenflucht“ des Tatopfers,
eine „gröblichste Verletzung der gegenüber Volk und Staat bestehenden Pflichten“,
ein „Versagen im Augenblick der Bewährung“ gesehen. Der OGH verneinte hier die
niedrigen Beweggründe. Dem Angeklagten sei es, wenn auch fehlgeleitet, um die
Wahrung von Ansprüchen der Allgemeinheit gegangen. Die in § 211 StGB angeführ-
ten Beispiele der Mordlust, der Befriedigung des Geschlechtstriebs und der Habgier
zeigten aber, „daß das Gesetz bei niedrigen Beweggründen vorwiegend an selbst-
süchtige und nicht an solche denkt, die durch die Interessen der Allgemeinheit be-
stimmt werden, mögen diese auch im Einzelnen falsch gesehen oder beurteilt wer-
den.“
Im Jahr darauf hatte der OGH über die Teilnahme mehrerer Angeklagter an den
Novemberpogromen 1938 zu befinden, bei denen nicht nur Synagogen, jüdische
Friedhöfe, Geschäftsräume und Wohnungen von Juden beschädigt und zerstört, son-
dern auch zahlreiche Juden getötet worden waren.31 Der OGH beanstandete hier die
Verneinung der niedrigen Beweggründe durch die Vorinstanz. Seine Begründung legt
dabei allerdings eine differenzierende Betrachtungsweise nahe. Aus der Annahme
der besonderen Verwerflichkeit im zu entscheidenden Fall folge nicht, „daß jede Tö-
tung aus politischen Gründen als Mord beurteilt werden müßte, weil der politische
Beweggrund in jedem Fall ein niedriger Beweggrund sei.“ Während nämlich übli-
cherweise bei der politisch motivierten Tötung sich das Motiv auf eine missbilligte
politische Auffassung oder Handlung des Getöteten beziehe, habe vorliegend nicht
irgendein Verhalten der Tatopfer, „sondern ihr bloßes Dasein, ihre Zugehörigkeit zu
einer bestimmten rassischen oder religiösen Gemeinschaft“ den Grund für ihre Tö-
tung gebildet. Damit seien „völlig schuldlose Menschen ohne jeden menschlich ver-
ständlichen Anlass zu Tode gehetzt“ worden, woraus sich hier die besondere Verächt-
lichkeit der Tat ergebe.
Die erste einschlägige Entscheidung des BGH datiert sodann aus den frühen fünf-
ziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Zeittypisch ging es wie schon in den Urteilen
des OGH um die strafrechtliche Aufarbeitung von Verbrechen aus der NS-Zeit. Der
1. Strafsenat bejahte hier das Vorliegen niedriger Beweggründe für die vorsätzliche
Tötung von vier Personen „aus politischer und rassischer Unduldsamkeit und Über-
30
OGHSt 1, 95, 98 f.
31
OGHSt 2, 179, 180 f. In einer weiteren Entscheidung (im Fall der sog. Anstaltstötungen
psychisch kranker Insassen) äußerte der OGH lediglich pauschal, niedrige Beweggründe
könnten auch den durch politische Erwägungen maßgebend bestimmten Täter leiten; OGH
SJZ 1949, Sp. 347, 350.
Politische Tötungsmotive als niedrige Beweggründe? 989

hebung und zur Abschreckung politischer Gegner der NSDAP“.32 Nähere Ausfüh-
rungen dazu erfolgten indes nicht, da dieser Aspekt des Falls mangels Kenntnis
der entsprechenden Umstände seitens der hier allein angeklagten Gehilfen nicht ent-
scheidungserheblich war und deshalb vom Gericht nur en passant erwähnt wurde.
Keine niedrigen Beweggründe sah der 3. Strafsenat rund 35 Jahre später im Start-
bahn West-Urteil.33 Gegenstand der Entscheidung war die vom bedingten Tatvorsatz
getragene vollendete Tötung zweier Polizisten sowie die versuchte Tötung zweier
weiterer Beamter aus einer „Protesthaltung“ gegen den Bau und den Betrieb der
Startbahn West des Flughafens Frankfurt/Main durch einen Ausbaugegner. Der
BGH vertrat hier die Auffassung, die Wertung des Tatgerichts, dass der Tatantrieb
„nicht in einer von Unrecht und Schuld des Totschlags deutlich abgehobenen
Weise als besonders verwerflich“ erscheine, sei vor dem Hintergrund einer eskalie-
renden Konfrontation von Polizei und Demonstranten nicht zu beanstanden.
Zum gegenteiligen Ergebnis gelangte der 2. Strafsenat in einem Beschluss aus
dem Jahr 2003.34 Dort ging es um die versuchte Tötung eines dem äußeren Erschei-
nungsbild nach der Skinhead-Szene angehörenden Tatopfers, dem eine Personen-
gruppe mit dem Angeklagten zufällig in der Innenstadt begegnet war. Der Senat er-
klärte, „dass auch ,politische‘ Motive niedrige Beweggründe i.S. des § 211 II StGB
sein können“. Das gelte namentlich dann, „wenn dem Opfer allein wegen seiner Zu-
gehörigkeit zu einer politischen, sozialen oder ethnischen Gruppe das Lebensrecht
abgesprochen und es in entpersönlichter Weise quasi als Repräsentant einer Gruppe
getötet werden soll“.
2004 erging sodann das vielbeachtete Urteil des 5. Strafsenats zum Sprengstoff-
anschlag auf die Berliner Diskothek „La Belle“ im Jahre 1986.35 Anlass für den An-
schlag waren seinerzeit wachsende politische Spannungen zwischen den USA und
Libyen gewesen. Während die Vorinstanz das Vorliegen niedriger Beweggründe auf-
grund des politischen Motivs der Täter noch verneint hatte, gelangte der Senat zum
gegenteiligen Ergebnis: „Wer aus terroristischen Motiven gezielt an der politischen
Auseinandersetzung unbeteiligte Dritte durch einen Sprengstoffanschlag tötet, han-
delt aus niedrigen Beweggründen.“ Die „zufällige, unterschiedslose und deshalb
willkürliche Auswahl von unbeteiligten Menschen als Opfer“ rechtfertige die Be-
wertung des Tatmotivs als niedrig. Zudem sei der unkontrollierte Einsatz von Bom-
ben aufgrund seiner verheerenden Wirkung „von vornherein eklatant menschenver-
achtend“.
Schließlich ist der bereits eingangs erwähnte Beschluss des 3. Strafsenats im Falle
der Liquidierung eines nach Deutschland emigrierten jugoslawischen Oppositionel-
len zu nennen, wonach jenseits des Widerstandsrechts aus Art. 20 Abs. 4 GG poli-

32
BGH NJW 1952, 834.
33
BGH NStZ 1993, 341, 342.
34
BGH NStZ 2004, 89, 90.
35
BGH NJW 2004, 3051.
990 Armin Engländer

tische Beweggründe zur Tötung eines Menschen stets als niedrig im Sinne des § 211
Abs. 2 StGB zu bewerten seien.36
Betrachtet man die hier vorgestellten Entscheidungen, so fällt auf, dass sich die
Rechtsprechung – abgesehen von dem zuletzt genannten Beschluss des 3. Strafsenats
– mit allgemeingültigen Aussagen zur Tötung aus politischen Beweggründen eher
zurückhält. Als entscheidungsleitend werden vielmehr zumeist gewisse Besonder-
heiten herausgestellt: im Startbahn West-Urteil etwa die eskalierende Konfrontation
zwischen Polizei und Demonstranten sowie weitere, vom Gericht nicht näher spezi-
fizierte Umstände, im Novemberpogrom-Urteil, in der Skinhead-Entscheidung und
im La Belle-Urteil die völlige Entpersönlichung der Tatopfer. Geändert hat sich das
erst mit der jüngsten Entscheidung des 3. Strafsenats – freilich ohne dass dieser Um-
stand dem Senat eine Begründung wert gewesen wäre.

2. Der Meinungsstand im Schrifttum

Auch das Schrifttum hat sich schon früh mit der Thematik der politisch motivier-
ten Tötung befasst. Dabei stand die Debatte in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu-
nächst noch ganz unter dem Eindruck der bereits eingangs erwähnten Tötungen de-
mokratischer Politiker in der Weimarer Republik durch rechtsextreme Täter sowie
der politischen Tötungsverbrechen der NS-Zeit. Geführt wurde sie nicht nur als Streit
um die richtige Auslegung des zu diesem Zeitpunkt erst vor wenigen Jahren neu ge-
fassten § 211 StGB, sondern darüber hinaus auch als Auseinandersetzung über die
Aufnahme eines eigenen Mordmerkmals des politischen Beweggrundes in den
schon damals als reformbedürftig angesehenen Tatbestand. Während Stock für
eine Einzelfallbetrachtung plädierte (jedoch ohne die Bewertungskriterien klar zu
benennen),37 votierte Zinn in einer scharfen Replik dafür, politisch motivierte Tötun-
gen ausnahmslos als Mord zu beurteilen.38 Radbruch schlug eine Beschränkung der
Mordstrafbarkeit auf die Fälle der Tötung „aus politischer Unduldsamkeit und Ge-
hässigkeit“ vor39 und Jagusch neigte, freilich ohne sich abschließend festzulegen, der
Position Zinns zu.40
Inzwischen haben sich im Schrifttum zwei relativ gefestigte Theorielager heraus-
gebildet. Nach einer an die Rechtsprechung des OGH im Landrat-Fall anknüpfenden
Differenzierungslösung kommt es für die Bewertung des politischen Tötungsmotivs
als niedrig darauf an, ob es egoistischer oder gemeinwohlorientierter Natur ist.41 Als

36
BGH NStZ-RR 2018, 245.
37
Stock, SJZ 1947, Sp. 529, 533 f.
38
Zinn, SJZ 1948, Sp. 141.
39
Radbruch, SJZ 1948, Sp. 311, 312.
40
Jagusch, SJZ 1949, Sp. 324, 326.
41
Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT 1, 10. Aufl. 2009, § 2 Rn. 38; NK-Neu-
mann/Saliger (Fn. 6), § 211 Rn. 39; Schönke/Schröder-Eser/Sternberg-Lieben, 30. Aufl.
Politische Tötungsmotive als niedrige Beweggründe? 991

niedrig im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB seien somit etwa das selbstsüchtige Streben
nach eigener Macht oder das gruppenegoistische Streben nach Macht einer bestimm-
ten Gruppe, der der Täter sich verbunden fühlt, zu bewerten. Gehe es dem Täter da-
gegen um tatsächliche oder vermeintliche Belange des Gemeinwohls, zum Beispiel
um die Erhaltung einer intakten Umwelt oder den Tierschutz, stelle das keinen nied-
rigen Beweggrund dar. Begründet wird das mit der bereits vom OGH angestellten
Überlegung, nur im ersteren Fall liege eine rücksichtslose, grob egoistische Instru-
mentalisierung des Lebens zur Verwirklichung eigener Ziele vor, die der bei der Hab-
gier und bei der Befriedigung des Geschlechtstriebs entspreche.42 Eine Ausnahme
von der Ausklammerung tatsächlicher oder vermeintlicher Gemeinwohlbelange
soll allerdings gemacht werden, wenn das Allgemeininteresse, auf das der Täter
sich beruft, den menschenrechtlichen Wertungen widerspricht.43 Das wäre beispiels-
weise der Fall, wenn der Täter aus ideologischer Verblendung die Unterdrückung
einer religiösen Minderheit als für das Wohl der Gemeinschaft erforderlich ansieht
und sodann zur Durchsetzung dieses Ziels einen anderen Menschen tötet. Im Übrigen
scheide eine Bewertung der politischen Position bei der Beurteilung der Niedrigkeit
des Beweggrundes aus.44 Nicht angängig wäre es deshalb zum Beispiel, die Tötung
eines einflussreichen Ministers zum Protest gegen dessen klimaschutzfeindliche Po-
litik nicht als Mord aus niedrigen Beweggründen anzusehen, die Tötung des Minis-
ters unter sonst gleichbleibenden Umständen zur Auflehnung gegen dessen flücht-
lingsfreundliche Politik hingegen schon.
Die Gegenauffassung, der sich jüngst auch der. 3. Strafsenat angeschlossen hat,
will jenseits des Anwendungsbereichs des Art. 20 Abs. 4 GG alle politischen Tö-
tungsmotive einheitlich als niedrige Beweggründe einstufen.45 Zur Begründung die-
ser Einheitlichkeitslösung bringen ihre Vertreter gleich eine Vielzahl von Argumen-
ten vor: Die Missachtung des Grundsatzes der Gewaltfreiheit der politischen Ausein-
andersetzung durch die physische Vernichtung politischer Gegner sei besonders
wertwidrig und asozial.46 Zudem könnten politische Tötungen leicht eskalieren
und ein Klima von Furcht, Schrecken und Hass erzeugen; ihnen wohne daher eine
besondere Gefährlichkeit inne.47 Der Täter missachte zur Durchsetzung seiner poli-

2019, § 211 Rn. 20; SK-Sinn (Fn. 6), § 211 Rn. 26; Zielke, JR 1991, 136, 138 f.; ders., JR
1992, 230.
42
NK-Neumann/Saliger (Fn. 6), § 211 Rn. 39; Zielke, JR 1991, 136, 138 f.; ders., JR 1992,
230.
43
NK-Neumann/Saliger (Fn. 6), § 211 Rn. 40; SSW-Momsen, StGB, 4. Aufl. 2018, § 211
Rn. 30; i. E. auch Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, Rn. 21a („jedenfalls“).
44
NK-Neumann/Saliger (Fn. 6), § 211 Rn. 40.
45
Bosch, Jura 2015, 803, 811 f.; Brocker, JR 1992, 13; LK-Rissing-van Saan/G. Zimmer-
mann (Fn. 6), § 211 Rn. 66; MüKo-Schneider (Fn. 6), § 211 Rn. 93 f.; Otto, Jura 1994, 141,
146.
46
Brocker, NStZ 1994, 33; MüKo-Schneider (Fn. 6), § 211 Rn. 93.
47
Bosch, Jura 2015, 803, 811 f.; Brocker, JR 1992, 13, 14; ders., NStZ 1994, 33; MüKo-
Schneider (Fn. 6), § 211 Rn. 93; Otto, Jura 1994, 141, 146. Der Sache nach auch schon Zinn,
SJZ 1948, Sp. 141, 143 f.
992 Armin Engländer

tischen Ziele das Leben anderer und maße sich einen politischen Alleinvertretungs-
anspruch an.48 In dieser Anmaßung, außerhalb der demokratischen Prozeduren ge-
waltsam bestimmen zu wollen, welche politischen Ziele im Allgemeininteresse zu
realisieren seien, drücke sich außerdem eine besonders egozentrische Einstellung
des Täters aus.49 Ferner sei im demokratischen Rechtsstaat die Tötung eines Men-
schen zu politischen Zwecken immer krass unverhältnismäßig.50 Weiterhin bleibe
das Kriterium des Allgemeininteresses so unbestimmt, dass es nicht einmal ansatz-
weise eine trennscharfe Abgrenzung zwischen niedrigen und noch nachvollziehba-
ren Beweggründen ermögliche.51 Den rechtlichen Rahmen für achtenswerte politi-
sche Tötungsmotive stecke schließlich allein Art. 20 Abs. 4 GG ab; folglich müssten
alle anderen, jenseits des Anwendungsbereichs dieser Vorschrift liegenden politi-
schen Beweggründe, aus denen heraus jemand einen anderen töte, als niedrig ange-
sehen werden.52

V. Plädoyer für eine multifaktorielle Einzelfallbewertung


Was ist nun von den zwei im Schrifttum vertretenen Auffassungen zu halten? Im
Folgenden soll gezeigt werden, dass beide Ansichten im Ergebnis nicht zu überzeu-
gen vermögen. Sie sind, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, zu undifferen-
ziert. Vielmehr bedarf es einer multifaktoriellen Einzelfallbewertung politischer Tö-
tungsmotive.

1. Die Schwachpunkte der Differenzierungslösung

Für die Differenzierungslösung spricht zwar auf den ersten Blick, dass nach stän-
diger Rechtsprechung niedrige Beweggründe sich von nicht-niedrigen Tatantrieben
durch ihre „hemmungslose Eigensucht“ unterscheiden. Daran scheint die Differen-
zierung zwischen egoistischen und gemeinwohlorientierten Tötungsmotiven ganz
zwanglos anknüpfen zu können. Eine nähere Betrachtung zeigt allerdings gleich
mehrere Schwächen der Differenzierungslösung auf.
Zunächst ist sie mit dem Problem der Unbestimmtheit des Gemeinwohlbegriffs
behaftet. Sämtliche Versuche der politischen Philosophie und ihrer Nachbardiszipli-
nen, zu klären, was unter dem Gemeinwohl bzw. dem Allgemeininteresse zu verste-
hen ist und wie man es ermittelt, um sodann an diesem Maßstab kollektive Zielvor-

48
Brocker, JR 1992, 13; ders., NStZ 1994, 33.
49
MüKo-Schneider (Fn. 6), § 211 Rn. 93; in diese Richtung auch LK-Rissing-van Saan/G.
Zimmermann (Fn. 6), § 211 Rn. 66.
50
Bosch, Jura 2015, 803, 811 f.
51
MüKo-Schneider (Fn. 6), § 211 Rn. 94.
52
Brocker, JR 1992, 13, 14; ders., NStZ 1994, 33; LK-Rissing-van Saan/G. Zimmermann
(Fn. 6), § 211 Rn. 66; MüKo-Schneider (Fn. 6), § 211 Rn. 94; Otto, Jura 1994, 141, 146.
Politische Tötungsmotive als niedrige Beweggründe? 993

stellungen zu messen, waren bislang wenig erfolgreich.53 Und gerade in pluralisti-


schen Gesellschaften, in denen es keine gemeinsamen Vorstellungen über das
Gute gibt, für die das „Faktum des vernünftigen Pluralismus“ also geradezu ein We-
sensmerkmal darstellt,54 dürften politische Ziele nahezu unvermeidbar immer nur
Ausdruck gewisser Partikularinteressen sein, so dass ein nach Eigen- und Gruppen-
interessen einerseits und Allgemeininteressen andererseits unterscheidender Ansatz
leerzulaufen droht.
Wenn man aber einmal unterstellt, es ließe sich ein hinreichend konsentierter und
operationalisierbarer Gemeinwohlbegriff bilden, erschiene es zudem nicht sachge-
recht, jedes politische Interesse, das nicht als Allgemeininteresse zählt, als egoistisch
anzusehen. Die Begriffe des Allgemeininteresses und des Eigeninteresses sind nicht
kontradiktorisch. Es gibt Interessen, die weder unter den einen noch unter den ande-
ren Begriff fallen. Ein Beispiel dafür sind altruistische Interessen des Einzelnen am
Wohlergehen einer anderen Person.55 Zwar kann dieses Wohlergehen des anderen
durchaus auch im Allgemeininteresse liegen, muss dies jedoch keineswegs. Tut es
das nicht, macht dies das altruistische Interesse des Einzelnen an ihm nicht zu
einem egoistischen. Nun versucht die Differenzierungslösung, die geschilderte Pro-
blematik zu lösen, indem sie für den Vorwurf selbstsüchtigen Verhaltens auch einen
gruppenegoistischen Tatantrieb genügen lässt. Das ist jedoch abermals wenig über-
zeugend. Zunächst: Nicht jeder Einzelne bildet zusammen mit demjenigen, an des-
sen Wohl er ein altruistisches Interesse hat, eine Gruppe, so dass man seine Präferen-
zen als Form eines Gruppenegoismus deuten könnte. Ferner: Es wäre wiederum ver-
fehlt, jedes Interesse eines Gruppenangehörigen, das auf einen Vorteil für die Gruppe
gerichtet ist, unabhängig davon als egoistisch zu klassifizieren, ob er selbst an diesem
persönlich partizipiert oder nicht. Schließlich: Selbst wenn man altruistische Inter-
essen zugunsten anderer Personen oder Personengruppen, die allerdings nicht die
Voraussetzungen des Allgemeininteresses erfüllen, unter einen weit gefassten Be-
griff des Eigeninteresses subsumierte, genügte das nicht, um den Vorwurf des nied-
rigen Beweggrundes zu rechtfertigen. Nach ständiger Rechtsprechung bedarf es hier-
für einer „besonders krassen Selbstsucht“.56 Es soll also nicht schon jeder auf die Be-
förderung eigener Interessen gerichtete Tatantrieb genügen. Eine extreme Form des

53
Grundlegend zur Vorstellung einer volonté générale, die „immer auf dem rechten Weg ist
und das öffentliche Wohl ins Auge fasst“, Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, 1996, S. 42 f.
Die Frage, wie man aus der Summe der heterogenen Einzelwillen, der volonté de tous, die von
ihr zu unterscheidende volonté générale herausfiltern kann, vermochte Rousseau freilich
ebenso wenig zu beantworten wie seine an ihn anknüpfenden Nachfolger. Auch das Unter-
nehmen einer diskursiv-prozeduralistischen Gemeinwohlkonzeption, vgl. Habermas; Fakti-
zität und Geltung, 4. Aufl. 1994, S. 221 ff., hat hier keine schlüssige Lösung gefunden. Zur
Kritik des diskurstheoretischen Rechtsstaats- und Demokratieverständnisses s. Engländer,
Diskurs als Rechtsquelle?, 2002, S. 88 ff.
54
Dazu grundlegend Rawls (Fn. 8), S. 36 f.
55
Zur Unzweckmäßigkeit, altruistische Interessen unter den Begriff des Eigeninteresses zu
fassen, s. Hoerster, Ethik und Interesse, 2003, S. 175 ff.
56
BGH NStZ-RR 2008, 308.
994 Armin Engländer

Eigennutzes lässt sich bejahen, wenn der Täter mit seiner Tat einen politischen Vor-
teil anstrebt, der gerade ihm selbst zukommen soll, wie etwa der Erwerb oder das
Behalten einer bestimmten Machtposition. Um Missverständnisse zu vermeiden:
Dem steht nicht entgegen, dass womöglich auch andere oder sogar alle (außer
dem Tatopfer) an dem angestrebten Vorteil partizipieren würden. Entscheidend für
das Vorliegen krasser Selbstsucht ist, dass dieser Umstand für den Tatentschluss
des Täters keine Rolle spielt, er sein politisches Ziel also auch dann verfolgen
würde, wenn die anderen nicht profitierten. Politische Vorteile, die der Täter nicht
in dieser Form für sich selbst erstrebt, vermögen dagegen keinen hemmungslosen
Eigennutz zu begründen.
Auf die bislang vorgebrachten Einwände könnte ein Vertreter der Differenzie-
rungslösung nun allerdings erwidern, dass sie zwar womöglich die Notwendigkeit
gewisser Modifikationen aufzeigen, aber doch nicht den Kern der Lösung tangieren,
nämlich die Bewertung des politischen Tötungsmotivs als niedrig davon abhängig zu
machen, ob es krass egoistisch ist oder nicht. Daher gebe es keinen Grund, die Dif-
ferenzierungslösung im Grundsatz aufzugeben. Ein weiteres, bislang nicht zurei-
chend beachtetes Problem dieser Lösung reicht indes tiefer. Es resultiert aus Verän-
derungen bei der Definitionsformel der niedrigen Beweggründe in der neueren
höchstgerichtlichen Rechtsprechung. Während lange Zeit die „hemmungslose Ei-
gensucht“ ein Element dieser Formel bildete,57 hat der BGH sie mittlerweile still-
schweigend aus ihr eliminiert.58 Zwar erachtet er einen extremen Egoismus nach
wie vor als hinreichend, um einen Beweggrund als niedrig zu klassifizieren, jedoch
nicht mehr als notwendig. Der BGH erkennt, wie oben bereits gezeigt, inzwischen an,
dass sich die Niedrigkeit des Tatantriebs auch aus anderen Gesichtspunkten wie der
völligen Missachtung des personellen Eigenwerts des Opfers ergeben kann.59 Ein
Beispiel hierfür sind Tötungen aus rassistischen Motiven.60 Fälle des krassen Eigen-
nutzes sind demnach nur eine – wenn auch verbreitete – Spielart der niedrigen Be-
weggründe. Das hat zur Konsequenz, dass aus der Verneinung der hemmungslosen
Selbstsucht noch nicht folgt, dass die Beweggründe nicht niedrig sind. Ihre Niedrig-
keit kann sich auch aus anderen Gründen ergeben. Diesen Punkt übersieht die her-
kömmliche Differenzierungslösung, wenn sie einseitig nur auf das Kriterium des ex-
tremen Eigennutzes abstellt.

57
Grundlegend BGHSt 3, 132: Niedrig sind die Tatantriebe, „die nach allgemeiner sittli-
cher Wertung auf tiefster Stufe stehen, durch ungehemmte, triebhafte Eigensucht bestimmt
(Hervorhebung durch Verf.) und deshalb besonders verwerflich, ja verächtlich sind.“
58
Vgl. etwa BGH NStZ 2019, 206, 207: „Ein Beweggrund ist dann niedrig, wenn er nach
allgemeiner sittlicher Würdigung auf tiefster Stufe steht und deshalb besonders verachtens-
wert ist.“
59
BGHSt 60, 52, 55; BGH NStZ 2015, 690.
60
So der Sache nach bereits OGHSt 2, 179, 180 f.
Politische Tötungsmotive als niedrige Beweggründe? 995

2. Die Schwachpunkte der Einheitlichkeitslösung

Mit der Kritik an der Differenzierungslösung (in der Gestalt, die ihr ihre Vertreter
gegeben haben) ist freilich noch nicht gesagt, dass dann die Einheitlichkeitslösung
Zustimmung verdient, politische Tötungsmotive stets als niedrige Beweggründe an-
zusehen. Einige der für sie angeführten Argumente vermögen jedenfalls schwerlich
zu überzeugen. Soweit vorgebracht wird, die Missachtung des Grundsatzes der Ge-
waltfreiheit der politischen Auseinandersetzung durch die physische Vernichtung
politischer Gegner sei besonders wertwidrig und asozial, paraphrasiert das lediglich
die Wertung, der Tatantrieb stehe auf tiefster Stufe, begründet diese aber nicht. Der
Einwand, das Allgemeininteresse, auf das die Differenzierungslösung abstelle, sei
viel zu unbestimmt, um eine Abgrenzung zu ermöglichen, trifft zwar wie gesehen
zu, rechtfertigt es indes nicht, deshalb pauschal alle Tötungen aus politischen Beweg-
gründen als Mord zu qualifizieren. Das Argument, der Täter missachte zur Durch-
setzung seiner politischen Ziele das Leben anderer, verkennt, dass die Verfolgung
eigener Interessen und ein Missverhältnis zwischen Anlass und Tat typisch für die
vorsätzliche rechtswidrige Tötung sind und deshalb zur Bejahung einer gegenüber
§ 212 StGB gesteigerten Verwerflichkeit nicht ausreichen. Die These, das Missver-
hältnis zwischen Mittel und Zweck sei besonders krass, weil in einer Demokratie an-
dere Möglichkeiten bestünden, die eigenen politischen Ziele zu realisieren,61 über-
sieht, dass ganz allgemein dem Täter in den Fällen, in denen er mit der Tötung
einen außerhalb ihrer selbst liegenden Zweck verfolgt, regelmäßig noch andere
Handlungsoptionen zur Zielerreichung offen stehen; auch dieser Umstand vermag
daher eine Unrechts- und Schuldsteigerung gegenüber dem Totschlag nicht plausibel
zu machen.62 Der Annahme, den rechtlichen Rahmen für achtenswerte politische Tö-
tungsmotive stecke allein Art. 20 Abs. 4 GG ab, ist entgegenzuhalten, dass die Re-
gelung lediglich die Voraussetzungen bestimmt, unter denen (selbst tödliche) Gewalt
zu politischen Zwecken gerechtfertigt sein kann. Ihr lässt sich jedoch nicht die Wer-
tung entnehmen, dass eine politisch motivierte Tötung, die diese Rechtfertigungsbe-
dingungen nicht erfüllt und die deshalb rechtswidrig bleibt, auch immer schon beson-
ders verwerflich ist und deshalb nicht nur unter § 212 StGB, sondern unter § 211
StGB fällt.63 Und die Behauptung, in der Anmaßung, gewaltsam bestimmen zu wol-
len, welche politischen Ziele zu realisieren seien, drücke sich stets eine besonders
egozentrische Haltung des Täters aus, konfundiert Hybris und übersteigertes Sen-
dungsbewusstsein mit krassem Egoismus. Am Beispiel: Tötet jemand einen Politi-
ker, der sich für eine weitergehende Freigabe von Abtreibungen einsetzt, weil er darin
einen unbedingt zu unterbindenden Verstoß gegen die göttlichen Gebote sieht, wird
man als Beweggrund fehlgeleitete religiöse Überzeugungen, aber kaum hemmungs-
61
In diesem Sinne verstehe ich das etwas skizzenhafte Argument Boschs, dass „gerade in
einem demokratischen Rechtsstaat zwischen den Beweggründen und dem hierfür eingesetzten
Mittel der Tötung immer ein besonders krasses Missverhältnis besteht“; vgl. Bosch, Jura 2015,
803, 811 f.
62
Ebenso i. E. SK-Sinn (Fn. 6), § 211 Rn. 26.
63
Zutreffend Selle, NJW 2000, 992, 995.
996 Armin Engländer

lose Eigensucht (jedenfalls solange man den Begriff den herkömmlichen Gebrauchs-
regeln entsprechend verwendet) bejahen können.
Bleibt das zunächst plausibel scheinende Argument, politische Tötungen könnten
leicht eskalieren und ein Klima von Furcht, Schrecken und Hass erzeugen, so dass
ihnen eine besondere Gefährlichkeit innewohne, der mit der absoluten Strafandro-
hung des § 211 StGB entgegengewirkt werden müsse. Durchschlagskraft könnte
diese Erwägung freilich nur entfalten, wenn sich die Motivgeneralklausel auch ge-
fährlichkeitsbezogen interpretieren ließe. Zweifel daran begründen indes schon die
grundsätzlichen Einwände, die Merkel gegen eine Verwendung des Gefährlichkeits-
gedankens als Leitprinzip des § 211 StGB vorbringt.64 Zudem mag es zwar zutreffen,
dass der Täter bei einer Tötung aus politischen Motiven um der von ihm angestrebten
Ziele willen die Zivilisierung der politischen Auseinandersetzung aufs Spiel setzt.
Bei der Vergiftung des politischen Klimas handelt es sich – solange sie nicht vom
Täter angestrebt wird – allerdings lediglich um eine mögliche Nebenfolge und
nicht um den Zweck der Tat. Nebenfolgen sind aber weder Beweggründe noch die
Bezugsobjekte von Beweggründen; sie liegen jenseits davon. Bezugsobjekt – das,
wozu der Beweggrund den Antrieb bildet – ist allein die Tat, im vorliegenden Kontext
die Tötung eines anderen Menschen. Und Beweggründe – das, was den Täter zu die-
ser Tat motiviert – sind die Ziele, die er durch die Tat erreichen bzw. die Gefühle oder
Haltungen, denen er mit ihrer Hilfe Ausdruck verleihen will.65 Die Niedrigkeit eines
Beweggrundes kann sich deshalb auch nur entweder aus der Verwerflichkeit des
Ziels als solchem oder aus dem krassen Missverhältnis zwischen dem Ziel und
dem zu seiner Erreichung eingesetzten Mittel der Tötung ergeben; nicht dagegen
lässt sie sich mit der Schädlichkeit einer Nebenfolge begründen. Das Risiko der Ver-
giftung des politischen Prozesses als Nebenfolge der politisch motivierten Tötung
macht deshalb zwar womöglich die Tat zu einer besonders gefährlichen; es vermag
aber, da es nicht zum Beweggrund zählt, nicht dessen Niedrigkeit zu erweisen.66
Auch die Einheitlichkeitslösung überzeugt somit im Ergebnis nicht. Während die
herkömmliche Differenzierungslösung zu restriktiv ausfällt, weil sie zu einseitig
auf das Merkmal des Eigennutzes abstellt, gerät die Einheitslösung zu weit, wenn
sie pauschal jedes politische Tötungsmotiv als niedrig bewertet.

3. Leitlinien einer multifaktoriellen Einzelfallbewertung

Damit stellt sich die Frage, welche weiteren Faktoren jenseits des krassen Egois-
mus – im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung aller Umstände – eine Einstu-
fung des politischen Tötungsmotivs als niedrigen Beweggrund zu rechtfertigen ver-

64
Merkel, ZIS 2015, 429.
65
Richtig weist Merkel, ZIS 2015, 429, 437 f., darauf hin, dass es neben teleologischen
auch expressive Beweggründe gibt.
66
Dieser Einwand trifft auch meine eigenen – freilich noch tentativen – Erwägungen in
NStZ 2019, 342, 343.
Politische Tötungsmotive als niedrige Beweggründe? 997

mögen. Das kann hier nicht erschöpfend beantwortet werden. Zwei besonders rele-
vante Faktoren seien aber kurz genannt. Zunächst kann sich aus den grundlegenden
Wertungen der Verfassungsordnung bereits eine besondere Verwerflichkeit des vom
Täter verfolgten politischen Ziels als solchem ergeben. Solange das Ziel mit jenen
Wertungen in Einklang steht, beispielsweise im Falle der Erhaltung der natürlichen
Lebensgrundlagen, ist es zwar für sich gesehen nicht zu beanstanden und vermag
deshalb isoliert betrachtet auch nicht die Niedrigkeit des Tatantriebs zu begründen.
Anders verhält es sich aber dort, wo es gegen sie verstößt, so etwa, wenn der Täter die
Unterdrückung einer religiösen oder ethnischen Minderheit anstrebt. Gleiches gilt,
wenn es dem Täter darum geht, die Verfassungsordnung selbst zu beseitigen. In die-
sen Fällen begründet schon der Umstand, dass sich die Zielvorstellung des Täters
gegen die zentralen verfassungsrechtlichen Ordnungsprinzipien richtet, die besonde-
re Verwerflichkeit und damit die Niedrigkeit seines Tötungsmotivs.
Weiterhin kann sich, wie schon erwähnt, dem BGH zufolge ein eklatantes Miss-
verhältnis zwischen dem Zweck und dem dazu eingesetzten Mittel der Tötung auch
daraus ergeben, dass mit der Tötung eine Missachtung des personellen Eigenwerts
des Opfers verbunden ist.67 Zwar drängt sich hier auf den ersten Blick der Einwand
auf, dass in jeder vorsätzlichen Tötung eine solche Missachtung liegt, wird doch das
Opfer unterschiedslos seiner Existenz beraubt. Welche stärkere Missachtung kann es
geben? Träfe das zu, könnte es sich bei ihr kaum um ein qualifizierendes Merkmal
handeln. Indes geht es bei der genannten Fallgruppe nicht darum, dass der Täter den
personellen Eigenwert des Opfers missachtet, indem er es tötet, sondern darum, dass
er es tötet, weil er seinen personellen Eigenwert missachtet. Nur unter dieser Voraus-
setzung erhält die Missachtung im Rahmen des Tatmotivs eine eigenständige Bedeu-
tung, die die Qualifizierung zum Mord zu begründen vermag.
Das betrifft zunächst die Konstellationen, in denen das Tatopfer als völlig aus-
tauschbar behandelt wird. Ein Beispiel dafür sind Terroranschläge wie der oben ge-
nannte auf die Berliner Diskothek „La Belle“, bei denen es den Tätern zur Verfolgung
ihrer politischen Ziele nur darum geht, willkürlich irgendwelche Menschen zu
töten.68 Die Opfer werden somit ihrer Individualität vollständig entkleidet. Ferner
sind die Fälle zu nennen, in denen der Täter die Opfer schlicht aufgrund ihres So-
Seins auswählt und damit zum Ausdruck bringt, dass sie aufgrund von Eigenschaften
wie etwa Alter, Geschlecht, Abstammung, Nationalität, sexueller Orientierung oder

67
BGHSt 60, 52, 55; s. ferner BGH NStZ 2015, 690. Nicht näher thematisiert werden kann
im Rahmen dieses Beitrages die komplexe Frage, was genau diesen personellen Eigenwert
ausmacht und worin er begründet liegt. Für die hiesigen Zwecke genügt es, ihn im Grundsatz
als normative, genauer: positiv-rechtliche, Zuschreibung anzusehen, die sich aus Art. 1 Abs. 1
GG ergibt.
68
So auch BeckOK-Eschelbach (Fn. 6), § 211 Rn. 30.2; Fischer (Fn. 43), § 211 Rn. 21;
Selle, NJW 2000, 992, 996; SSW-Momsen, StGB, 4. Aufl. 2018, § 211 Rn. 30. Richtig somit
i. E., auch wenn der Leitgedanke der Missachtung des personellen Eigenwerts des Opfers
nicht klar herausgearbeitet wird, BGH NJW 2004, 3051, 3054.
998 Armin Engländer

Religion keine Existenzberechtigung besitzen.69 Am Beispiel: Der Täter tötet Mus-


lime, um gegen die aus seiner Sicht verfehlte Migrationspolitik der Bundesregierung
zu protestieren. Auch hier wird das Tatopfer nicht als individuelle Person gesehen,
sondern nur als Träger irgendwelcher Gruppenmerkmale (deren Vorliegen zudem
seinem Einfluss weitgehend entzogen sind70).
Anders scheint es sich freilich in den Fällen zu verhalten, in denen der Täter das
Opfer tötet, weil es eine von ihm (= dem Täter) abgelehnte und bekämpfte politische
Auffassung aktiv vertritt. Hier bildet personales Handeln des Opfers den Grund für
den Tatentschluss, so dass dieses auf den ersten Blick gerade als Person in den Fokus
des Täters gerät. Deshalb verneint eine Auffassung in solchen Konstellationen auch
eine Missachtung des personellen Eigenwerts und als Konsequenz das Vorliegen
niedriger Beweggründe.71 Das vermag jedoch nicht zu überzeugen. Personalität
hat eine politische Dimension. Sie umfasst das Recht des Einzelnen, sich als Freier
und Gleicher zu den Belangen des Gemeinwesens seine eigene Meinung zu bilden
und für diese einzutreten.72 Bestimmt nun aber der Täter das Opfer zum Tod, weil aus
seiner Sicht jemand, der einen bestimmten, von ihm abgelehnten politischen Stand-
punkt propagiert, über keine Existenzberechtigung verfügt und deshalb im politi-
schen Meinungskampf zur Durchsetzung der eigenen Auffassung getötet werden
darf, schließt er den Betreffenden aus dem Kreis der gleichberechtigten Teilnehmer
an der politischen Meinungs- und Willensbildung aus. Er spricht ihm den Status einer
politischen Person ab, die ein Recht auf das Eintreten für ihre eigenen politischen
Überzeugungen besitzt; mit anderen Worten: er verweigert ihm die Anerkennung
als politisch Gleicher73. Am Beispiel: Ein Rechtsextremist tötet zur Bekämpfung
der von ihm abgelehnten Migrationspolitik der Bundesregierung einen Staatssekretär
derselben, weil er der Auffassung ist, dass ein solcher „Volksverräter“ es nicht zu
leben verdient. Damit drückt der Täter aus, dass das Opfer aufgrund seiner politi-
schen Ansichten nicht zählt, wertlos ist, und man deshalb mit ihm machen kann,
was man will. Darin liegt klarerweise eine Missachtung des personellen Eigenwerts

69
Zutreffend daher insoweit OGHSt 2, 179, 180 f.
70
Die Einschränkung, dass die Merkmale dem Einfluss des Opfers weitgehend (und nicht
vollständig) entzogen sind, wird hier gemacht, weil Nationalität und Religion zumindest in
gewissem Umfang auch der persönlichen Entscheidung unterliegen.
71
In diesem Sinne ist wohl OGHSt 2, 179, 180 zu verstehen.
72
Wiederum reicht es für die hiesigen Zwecke, den Status der politischen Person schlicht
als Resultat einer verfassungsrechtlichen Zuordnung von bestimmten grundlegenden politi-
schen Rechten und Pflichten anzusehen. Zu einem sozialphilosophischen Versuch, einen Be-
griff der politischen Person zu entwickeln, der weitgehend unabhängig ist von umfassenden
religiösen, philosophischen oder moralischen Lehren, s. Rawls (Fn. 8), S. 29 ff. Allgemein zur
philosophischen Debatte über den Personenbegriff (mit eigenem Ansatz) Quante, Person,
2. Aufl. 2012; knapp Borsche, fiph Journal des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover,
Nr. 5 (2005), 1.
73
Eine Bezugnahme auf die Anerkennungstheorie Hegels ist mit diesem Argument nicht
impliziert. S. zu jener Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, Neubearb.
2014. Zum Topos der Anerkennung in der Moralphilosophie Honneth, ZphilF 1997, 25.
Politische Tötungsmotive als niedrige Beweggründe? 999

des Opfers. Davon zu unterscheiden sind allerdings die Konstellationen, in denen das
personale Verhalten des Opfers – beispielsweise in Gestalt einer bewusst provozie-
renden politischen Äußerung – zu einer menschlich noch irgendwie nachvollziehba-
ren tatauslösenden Gefühlsregung geführt hat. In einem solchen Fall ist das Mord-
merkmal des niedrigen Beweggrundes zu verneinen, da der Täter dem Opfer hier
nicht den Eigenwert als politisch Gleichem absprechen will.
Wendet man diese Überlegungen auf die eingangs geschilderte Tötung des Kas-
seler Regierungspräsidenten Walter Lübke an, so kommt es zunächst darauf an, ob
schlicht die flüchtlingspolitische Einstellung des Opfers den Anstoß zur Tat gegeben
hat, oder die etwas zugespitzte, vom Beschuldigten als Provokation empfundene Er-
klärung, dass ein jeder, der sich mit den Grundwerten unserer Gesellschaftsordnung
nicht identifizieren könne, die Freiheit besitze, jederzeit das Land zu verlassen. Träfe
letzteres zu, stellte sich die Folgefrage, ob die Nachvollziehbarkeit der Gefühlsre-
gung nicht schon aufgrund der langen Zeitspanne zwischen Äußerung (Oktober
2015) und Tat (Juni 2019) zu verneinen wäre. Zieht man hier die Rechtsprechung
des BGH zum Provokationszusammenhang bei der Notwehr heran, wonach es
eines engen zeitlichen Ursachenzusammenhangs bedarf,74 ist das klar zu bejahen.
Denn nach Verstreichen eines gewissen Zeitraums kann erwartet werden, dass der
Betroffene seine Emotionen unter Kontrolle bringt.75

VI. Fazit
Die Frage, ob politische Tötungsmotive niedrige Beweggründe im Sinne des
§ 211 Abs. 2 StGB darstellen, kann entgegen der Einheitlichkeitstheorie nicht pau-
schal beantwortet werden. Zu kurz gegriffen ist es aber auch, mit der herkömmlichen
Differenzierungstheorie nach egoistischen und gemeinwohlorientierten Tatantrieben
zu unterscheiden und nur die ersteren als niedrig zu klassifizieren. Vielmehr bedarf es
einer multifaktoriellen Einzelfallbewertung. Neben den Aspekt des extremen Eigen-
nutzes treten insbesondere die Faktoren der Missachtung des personellen Eigenwerts
des Tatopfers und des Verstoßes des angestrebten politischen Ziels gegen die zentra-
len verfassungsrechtlichen Ordnungsprinzipien. Eine Missachtung des personalen
Eigenwerts liegt dabei auch dann vor, wenn das Opfer allein aufgrund seiner politi-
schen Überzeugung zum Tod bestimmt wird.

74
BGH NStZ 2006, 332, 333; NStZ-RR 2011, 74, 75; NStZ 2016, 84, 86.
75
MüKo-Erb, StGB, 3. Aufl. 2017, § 32 Rn. 237.
The Challenge of Brain Death
for the Sanctity of Life Ethic1
By Peter Singer

I. Introduction
In 1968, Black’s Law Dictionary defined death as follows:
The cessation of life; the ceasing to exist; defined by physicians as a total stoppage of the
circulation of the blood, and a cessation of the animal and vital functions consequent there-
upon, such as respiration, pulsation, etc.

Twenty years later, most of the world had accepted, with surprisingly little con-
troversy, a new way in which one could be dead, even if one’s heart was beating, one’s
blood was circulating, and “animal and vital functions,” including breathing and hav-
ing a pulse, continued. That new way was defined in terms of the irreversible cessa-
tion of all functions of the entire brain, including the brain stem. One reason why this
view gained acceptance without controversy was that the new definition was gener-
ally presented as an improved scientific understanding of the nature of death, and not
as taking a new stance on an ethical issue. This was consistent with an oft-cited state-
ment made by Pope Pius XII at a conference of anesthesiologists, held in 1957, at a
time when respirators were beginning to be used. Pius XII was asked how a doctor
should determine that a patient on a respirator is dead. He reiterated the Church’s
view that death occurred when the soul separated from the body; but, aware that
this was not of great practical help to the doctors in his audience, he added: “It re-
mains for the doctor, and especially the anesthesiologist, to give a clear and precise
definition of ‘death’ and ‘the moment of death’ of a patient who passes away in a state
of unconsciousness.”2
Over the thirty years since brain death became widely accepted as a criterion of
death, a few bioethicists and physicians have raised questions about it, but public dis-
cussions have been rare. The case of Jahi McMath, could change that, and threaten
the broad consensus that when a human being’s brain has irreversibly ceased to func-
tion, that human being is dead. In 2013, at the age of 13, Jahi underwent what should
1
This paper originally appeared, in modified form, in Ethics & Bioethics (in Central
Europe), 8/2018, 153 – 165.
2
“The Prolongation of Life: An Address of Pope Pius XII to International Congress of An-
esthesiologists”, The Pope Speaks, vol. 4, 1957, p. 396.
1002 Peter Singer

have been a routine tonsillectomy. After the operation she bled excessively, and the
bleeding was not stopped. Jahi was placed on a ventilator, and two days later, de-
clared brain-dead. A social worker urged her family to take her off the ventilator,
and to consider donating her organs. Her mother, Nailah McMath, did not understand
how she could be dead when her skin was still warm and she was occasionally moving
her arms, ankles and hips – movements that the hospital doctors said were only a spi-
nal reflex. In any case, the family insisted on first finding out what had happened to
her before taking her off the ventilator. (The family is African American, and suspect-
ed that a white patient would have received better care.) A lawyer agreed to take their
case on a pro bono basis.
The coroner issued a death certificate for Jahi, but the family, using funds raised
online, took what was then officially a corpse, and flew it (or her), attached to a port-
able respirator, to New Jersey, where state law forbids hospitals from treating a pa-
tient with a beating heart as dead if the family has religious objections to brain death.
Nailah, a Christian, said she did have such objections. Jahi was admitted to St Peter’s
University Hospital, a Roman Catholic hospital in New Brunswick.
In newspapers and on television, leading American bioethicists criticized both the
family’s actions and the hospital’s decision to admit Jahi. Lawrence McCullough said
that the hospital’s decision was “crazy.” Art Caplan managed to say both that “Keep-
ing her on a ventilator amounts to desecration of a body” and that “There isn’t any
likelihood that she’s gonna survive very long.” Robert Truog, on the other hand, was
troubled by criticisms of the family, subsequently telling Rachel Aviv of the New
Yorker: “I think that the bioethics community felt this need to support the traditional
understanding of brain death, to the point that they were really treating the family
with disdain, and I felt terrible about that.”
After eight months at St Peter’s, Jahi was discharged from hospital: the diagnosis
on the discharge was brain death. But her family had not given up. They rented a near-
by apartment where she remained on a ventilator and was fed through a tube for four
years after she had been officially declared dead. In June 2018 her liver failed, her
heart stopped, and her family accepted that she had died. A lawsuit that the family
had brought against the California hospital where the tonsillectomy was performed
was settled out of court.
In this article, I update my earlier writings on the definition of death to show that
there are good reasons for rejecting the prevailing view of brain death.3 A second aim
is to show that rejecting brain death raises the stakes in the debate between those who
believe in the sanctity of human life, and those who hold that the quality of a life must
affect its value. I conclude by pointing to possible ways forward.
The relevance of this essay to the discussion about the sanctity of human life
makes it fitting for this volume. It takes me back to June 1989, when I first saw

3
See especially Peter Singer, Rethinking Life and Death, Text, Melbourne, 1994 and
Oxford University Press, Oxford, 1995, Chs. 1 – 4.
The Challenge of Brain Death for the Sanctity of Life Ethic 1003

the name ”Reinhard Merkel.” I had been invited to Marburg to speak at a symposium
organized by Lebenshilfe, the largest German association of the parents of intellec-
tually disabled infants. Disability groups as well as conservative supporters of the
sanctity of human life protested against the invitation, on the grounds that I favour
allowing parents to choose euthanasia for severely disabled newborn infants. The
protests received wide coverage in the German media, which almost unanimously
condemned me and my views, while giving its readers a caricature of those views
that suggested that I was some kind of neo-Nazi. The invitation to me was withdrawn,
and in the end, the entire symposium was cancelled. In this chorus of condemnation,
there appeared one beacon of reason: ”Der Streit um Leben und Tod,” by Reinhard
Merkel.4 The question of how to act with regard to infants with disabilities that cause
them to suffer and doom them to a short life is, Merkel argued, more complex than
most people think. After a lengthy and very fair discussion of my views, he said that
the appropriate response, for those who disagreed with me, was not to silence me, but
to debate me and attempt to show why I was wrong. Fortunately, over the ensuing
decades, that discussion has taken place, in Germany as elsewhere, thanks to Merkel
and others who support his approach to bioethics and to freedom of thought and dis-
cussion.

II. The Origins of the New Definition of Death


The first step towards the development of a new definition of death can be traced to
Henry Beecher, a distinguished professor of medicine at Harvard University and
chair of a committee that oversaw the ethics of experimentation on human beings.
In 1967 he wrote to Robert Ebert, Dean of the Harvard Medical School, proposing
that the committee should take up the issue of the definition of death. This idea had
emerged, he told Ebert, from conversations with Joseph Murray, a surgeon at Mas-
sachusetts General Hospital and a pioneer in kidney transplantation. The need for
further consideration of the definition of death arose, Beecher wrote, from the fact
that ”Every major hospital has patients stacked up waiting for suitable donors.”5
The issue gained added urgency when Dr Christiaan Barnard carried out the world’s
first heart transplant. Shortly thereafter Ebert set up the Harvard Brain Death Com-
mittee, under Beecher’s chairmanship. It published its report in the Journal of the
American Medical Association in August 1968. The report began as follows:
Our primary purpose is to define irreversible coma as a new criterion for death. There are two
reasons why there is a need for a definition: (1) Improvements in resuscitative and supportive
measures have led to increased efforts to save those who are desperately injured. Sometimes

4
Reinhard Merkel, Der Streit um Leben und Tod. Die ZEIT, 26/1989, https://www.zeit.de/
1989/26/der-streit-um-leben-und-tod [accessed Nov 28th, 2019].
5
Henry Beecher to Robert Ebert, 30 October 1967. The letter is in the Henry Beecher Ma-
nuscripts at the Francis A. Countway Library of Medicine, Harvard University, and is quoted by
David Rothman, in: Strangers at the Bedside, Basic Books, New York, 1991, pp. 160 – 161.
1004 Peter Singer

these efforts have only a partial success so that the result is an individual whose heart con-
tinues to beat but whose brain is irreversibly damaged. The burden is great on patients who
suffer permanent loss of intellect, on their families, on the hospitals, and on those in need of
hospital beds already occupied by these comatose patients. (2) Obsolete criteria for the def-
inition of death can lead to controversy in obtaining organs for transplantation.

Nowhere in the Harvard committee’s final report does the committee claim that
the new definition of death reflects some scientific discoveries about, or improved
scientific understanding of, the nature of death. It was, instead, because the commit-
tee saw the status quo as imposing great burdens on various people and institutions
affected by it, including preventing the proper use of the ”life-saving potential” of the
organs of people in ”irreversible coma” that the committee recommended the new
definition of death. But the judgment that it is good to avoid these burdens, and to
ensure that organs can be used, is an ethical judgment, not a scientific one.
The Harvard committee’s report was influential. In the decade following its pub-
lication, a number of U.S. states changed their legal definition of death so that, if tests
showed that the brain had ceased to function, patients could be declared dead, despite
the fact that their hearts were still beating, and their blood circulating. That meant that
a patient with a beating heart but no brain function might be declared in one state, but
if moved to another state would legally be alive.
In 1981 the United States President’s Commission for the Study of Ethical Prob-
lems in Medicine took up the problem of the definition of death. Its report, Defining
Death, recommended uniform legislation that would enable people to be declared
dead if tests established the irreversible cessation of all brain function.6 The report
was endorsed by the American Medical Association, and subsequently every state
and territory of the U.S. adopted legislation recognizing that a person whose brain
has irreversibly ceased to function is dead.

III. Death as the Irreversible Loss


of Integrated Organic Functioning
A proponent of the view that brain death really is death might argue that the Har-
vard committee made the right recommendation for the wrong reasons. What non-
ethical reasons would there be for such a change? A typical answer is that the intro-
duction of modern methods of intensive care has exposed a certain vagueness in the
concept of death, and a new account is needed to clear this up. The question is wheth-
er this could be done without the intrusion of ethical judgment.
The President’s Commission said that brain death is the death of the human or-
ganism because without brain function, the body is no longer an integrated whole,
6
President’s Commission for the Study of Ethical Problems in Medicine Defining Death:
A Report on the Medical, Legal and Ethical Issues in the Determination of Death, U.S. Go-
vernment Printing Office, Washington, D.C., 1981.
The Challenge of Brain Death for the Sanctity of Life Ethic 1005

but just a collection of cells and organs. In this they were following two prominent
Roman Catholic bioethicists, Germain Grisez and Joseph Boyle, who, in Life and
Death with Liberty and Justice, had argued that death is to be understood in theoret-
ical terms as ”the permanent termination of the integrated functioning characteristic
of a living body as a whole …”7
Since Defining Death was published, however, it has become clear that integrated
organic functioning can persist despite the irreversible cessation of all brain func-
tions. Already in 1998, a literature search conducted by Alan Shewmon, then profes-
sor of pediatric neurology at the University of California, Los Angeles, Medical
School, found 175 cases of brain dead patients ”surviving” for at least one week,
80 for at least two weeks, 44 for at least four weeks, 20 for at least two months,
and seven for at least six months. These were all cases in which there was a formal
diagnosis of brain death made by a physician, usually including at least one neurol-
ogist or neurosurgeon. Shewmon notes that many examples are of ”unequivocal BD
[brain death] confirmed by multiple clinical examinations, EEGs, intracranial blood
flow, and necropsy findings.” Moreover in many of these cases, treatment was even-
tually withdrawn. The number of patients ”surviving” for long periods would have
been greater still if treatment had been maintained in all cases. As Shewmon says, the
diagnosis of brain death is nearly always ”a self-fulfilling prophecy” as it is followed
by organ harvesting or the discontinuation of support.8 Occasionally, however, a fam-
ily will insist on support being maintained even after a diagnosis of brain death, as
Jahi McMath’s mother did. Another such case has been described by Shewmon. The
patient, known as ”TK” contracted a form of meningitis at the age of four and was
declared dead. Shewmon visited him when he was 18 years old. He described the case
as follows:
Cerebral edema was so extreme that the cranial sutures split. Multiple EEGs have been iso-
electric, and no spontaneous respirations or brain-stem reflexes have been observed over the
past 14 1/2 years. Multimodality evoked potentials revealed no intracranial peaks, magnetic
resonance angiography disclosed no intracranial blood flow, and neuroimaging showed the
entire cranial cavity to be filled with disorganised membranes, proteinaceous fluids and
ghost-like outlines of the former brain.9

Shewmon examined TK and documented everything photographically. He con-


cluded: ”There is no question that he became ”brain-dead” at age 4; neither is
there any question that he is still alive at age 18 1/2.” TK “lived” – if that is the
right word – at home on a ventilator, fed by a gastrostomy tube. His heart continued
to beat for another six years after Shewmon wrote the account just quoted. During the

7
Germain Grizez/Joseph Boyle, Life and Death with Liberty and Justice, University of Notre
Dame Press, Notre Dame, Indiana, 1979, p. 77. For a similar view, see David Lamb, Death, Brain
Death and Ethics, London, Croom Helm, 1985.
8
D. Alan Shewmon, “Chronic ‘Brain Death’: Meta-Analysis and Conceptual Consequences”,
Neurology 51 (1998) 1538 – 1545; see also Correspondence, Neurology 53 (1999) 1369 – 1372.
9
D. Alan Shewmon, “Chronic ‘Brain Death.’”
1006 Peter Singer

20 years he was without brain function, he grew, overcame infections, and healed
wounds.10
In cases like TK exhaustive tests have shown that the brain no longer exists, and
there can be no brain function at all. Such cases force us to reconsider the assumption
on which Grisez and Boyle, as well as the President’s Commission, rely for their ac-
ceptance of brain death: that a functioning brain is a necessary condition for an in-
tegrated organism. Instead, Shewmon concludes, ”The body’s integrative unity de-
rives from mutual interaction among its parts, not from a top-down imposition of
one ”critical organ” upon an otherwise mere bag of organs and tissues.” How this
is possible, and what parts are interacting to maintain this integrative unity, is an in-
teresting scientific question, but is beyond the scope of this paper.11
The development of Shewmon’s own views is worth a short digression. A Roman
Catholic, in 1989 he presented a defence of a version of ”whole-brain death” to the
Pontifical Academy of Sciences. Subsequently he rejected all brain-based formula-
tions of death. In this he is joined by another leading Roman Catholic scholar in this
area, John Finnis, Professor of Law at the University of Oxford, and by the former
archbishop of Cologne, Joachim Cardinal Meisner, who in 1994 declared that ”the
identification of brain death with death of the person is from a Christian point of
view no longer justifiable.”12
More recently, Shewmon has added another complication to the discussion. He
examined Jahi McMath, and also watched videos taken by her family in which
she appears to respond, with a frequency said to be beyond chance, to spoken requests
to raise a finger or make other movements. His conclusion is that at the time when
Jahi was declared dead, she did fulfil the requirements of brain death, but “With the
passage of time, her brain has recovered the ability to generate electrical activity, in
parallel with its recovery of ability to respond to commands.” Jahi is therefore now, in
his view, “an extremely disabled but very much alive teenage girl.”13 The problem
with this statement is that brain death is defined as the irreversible cessation of all
brain functions, so it is logically impossible for Jahi to have been dead in accordance
with this definition, and for her brain to then recover some function. If her brain now

10
D. Alan Shewmon, “‘Brain-stem death’, ‘brain death’ and death: a critical re-evaluation of
the purported equivalence”, Issues in Law & Medicine 14 (2) 1998, 125 – 145; S. Repertinger et
al., “Long Survival Following Bacterial Meningitis-Associated Brain Destruction,” Journal of
Child Neurology, 21 (7) 2006, 591 – 595.
11
For further discussion see D. Alan Shewmon, “The Brain and Somatic Integration: Insights
into the standard biological rationale for equating ‘brain death’ with death”, Journal of Medicine
and Philosophy, 26(5) 2001, 457 – 478.
12
John Finnis expressed his view in unpublished comments on a paper I gave to the Philo-
sophy Society, Oxford University, 14 May 1998; for Joachim Cardinal Meisner, see “Erklärung
des Erzbischofs von Köln zum beabsichtigten Transplanationsgesetz” [Declaration of the Ar-
chbishop of Cologne on the proposed transplantation law], Ethik Med, vol. 6, pp. 189 – 207
(1994), cited by Shewmon, “Brain Stem Death”.
13
Quoted in Rachel Aviv, “What Does It Mean To Die?” New Yorker, February 5, 2018.
The Challenge of Brain Death for the Sanctity of Life Ethic 1007

has some function, she was never dead. Shewmon may have meant that at when Jahi
was declared dead, the tests standardly used to establish brain death were correctly
carried out, and yielded the readings standardly taken to mean that all brain functions
have irreversibly ceased. If that is the case, however, it shows only that the standard
tests are not a completely reliable indicator of brain death.
Once it became clear that the integrating function of the brain can be replaced by a
combination of medical technology and good nursing care, the claim that the irrever-
sible cessation of all brain function means the death of the organism was on shaky
ground. We can see this In the case of patients with ”locked-in syndrome”, caused
by severe injury to the brain stem that has spared other parts of the brain. Even though
the brain has not lost all functions, it has lost its integrative function, because it can no
longer communicate with the body below the brain stem. Instead, machines take over
virtually all of the integrating functions of the brain. Theoretically, at least, machines
could take over all of the integrating functions. Yet patients with locked-in syndrome
are still conscious. Some are able to show their awareness by blinking an eye in re-
sponse to questions. Others may not be.14 It would be absurd to say that because the
integrative functions of the brain have been taken over by machines, and the patient is
therefore ”a mechanical, not an organic system”, this fully conscious patient is dead!

IV. President Bush’s Council on Bioethics Enters the Debate


In 2008, the President’s Council on Bioethics, a conservative-leaning body ap-
pointed by President George W. Bush to replace its more liberal predecessor, took
up the question of brain death, noting controversy about the view that “total brain
failure” (as the Council refers to brain death) is the death of the human being. On
the basis of evidence from Shewmon and others, the Council rejected the view
that total brain failure means the end of an integrated organism. It might therefore
seem that the Council must reject brain death itself. After all, Shewmon concluded,
as the Council correctly notes, that to hold that the condition of the brain determines
the death of the organism is a mistake.15 Nevertheless, the Council did not recom-
mend a return to the traditional view that death occurs when the heart stops beating
and the blood ceases to circulate. Instead a majority of its members found a new ra-
tionale for supporting the view that brain death is the death of the organism. The ma-
jority proposed that we take note of the fact that living organisms “engage in com-
merce with the surrounding world.”16 The “commerce” on which the majority fo-
cused most attention, and regarded as most critical, is breathing:
14
Jeff McMahan drew my attention to the significance of locked-in syndrome in this context.
See his “Brain Death, Cortical Death, and Persistent Vegetative State”, in: Helga Kuhse/Peter
Singer (eds.), A Companion to Bioethics, Blackwell, Oxford, 1988.
15
Controversies in the Determination of Death, p. 54–55.
16
President’s Council on Bioethics, Controversies in the Determination of Death, Was-
hington, DC, December 2008, www.bioethics.gov, p. 60.
1008 Peter Singer

As a vital sign, the spontaneous action of breathing can and must be distinguished from the
technologically supported, passive condition of being ventilated (i. e., of having one’s
“breathing” replaced by a mechanical ventilator). The natural work of breathing, even
apart from consciousness or self-awareness, is itself a sure sign that the organ-ism as a
whole is doing the work that constitutes – and preserves – it as a whole. In contrast, artificial,
non-spontaneous breathing produced by a machine is not such a sign. It does not signify an
activity of the organism as a whole. It is not driven by felt need, and the ex-change of gases
that it effects is neither an achievement of the organism nor a sign of its genuine vitality.17

The idea that spontaneous breathing could be used as a criterion for deciding
whether someone is dead or alive faces several objections. Most obviously, many pa-
tients placed on respirators have lost the ability to breathe spontaneously. They will,
after an interval, regain it, and walk out of hospital. The Council is aware of this, of
course, and sees only the irreversible loss of the capacity as a sign of death. But peo-
ple with locked-in syndrome may have irreversibly lost the ability to breathe sponta-
neously, and yet be fully conscious. Again, the Council acknowledges this, and adds
that “other vital capacities might still be present.” The report continues:
For example, patients with spinal cord injuries may be permanently apneic or unable to
breathe without ventilatory support and yet retain full or partial possession of their conscious
faculties. Just as much as striving to breathe, signs of consciousness are incontrovertible evi-
dence that a living organism, a patient, is alive.18

The Council therefore decides, though with some dissenting members, to stay
with brain death, not because this signifies the death of the integrated organism,
but because “total brain failure” indicates the irreversible absence of both spontane-
ous breathing and consciousness.
This is a desperate attempt to reach a much-desired conclusion. Let’s first see why
the Council was so keen to preserve the definition of death in terms of brain death,
and then see why its attempt to do so fails.
The Council’s report contemplates the possible conclusion that brain death is not
the death of the organism, and the consequent we need to return to defining death in
terms of the cessation of heartbeat and circulation of the blood. What practical differ-
ence would this make? There are two possible ways of responding to this situation.
One is that we preserve the rule that organs may be taken from dead donors, and there-
fore do not take organs from donors whose hearts are still beating, even if their brains
have irreversibly ceased to function. Because some organs, including the liver and the
heart itself, are subject to rapid damage once the heart stops, this is likely to mean that
significantly fewer people would benefit from organ transplants, and many lives now
saved would be lost. In addition, the Council expresses concern that the need to cer-
tify a patient as dead as soon as possible after the heart stops beating would have an
adverse impact on the care of dying patients whose hearts stop, but perhaps could be
resuscitated.
17
Controversies in the Determination of Death, p. 63.
18
Controversies in the Determination of Death, p. 64.
The Challenge of Brain Death for the Sanctity of Life Ethic 1009

The other possible way of responding to the return to the traditional definition of
death is to draw on the present criteria for ascertaining total brain failure in order to
determine, not that a patient is dead, but that the patient is eligible to be an organ
donor. Such patients would be eligible because (and here I use my own words, not
those of the Council) their lives are over, not as organisms, but as conscious beings.
They will never again experience anything. In these very specific circumstances, con-
tinuing their lives beyond this point is of no further benefit to them.
The Council is aware of the attractions of this view. It requires no questionable
arguments defending a new concept of death, and it does not force us to reject or sig-
nificantly hamper the practice of organ donation. Nevertheless, the Council finds this
view unacceptable on ethical grounds:
… this solution is deeply disturbing, for it embraces the idea that a living human being may
be used merely as a means for another human being’s ends, losing his or her own life in the
process. For good reason, many recoil from the thought that it would be permissible to end
one life in order to obtain body parts needed by another… abandoning the “dead donor rule”
would entail dismantling the moral foundations of the practice of organ donation.19

In short, the Council knows that if organs cannot ethically be removed from do-
nors with beating hearts, then many people whose lives could be saved by organ trans-
plants will die; but the Council nevertheless believes that it is ethically unacceptable
to remove vital organs from living human beings in order to benefit others. No won-
der that most members of the Council were desperate to find a basis for retaining a
definition of death that includes total brain failure.
A strong desire to reach a pre-determined conclusion often leads to poor reason-
ing. That applies to the Council’s stance that spontaneous breathing, but not assisted
breathing, is a sign of life – except when it isn’t, for example when there is conscious-
ness in the absence of spontaneous breathing. This addition to the initial selection of
spontaneous breathing reveals that the Council has been forced to patch together
from disparate elements its account of the difference between life and death. As Al-
bert Garth Thomas, an anesthesiologist with qualifications in philosophy, notes in his
discussion of the Council’s report, this conjunction “marks their analysis as ad hoc
and unconvincing.” Thomas also points out that “Just how one would understand
spontaneous respiration as the epitome of human life is difficult to grasp.” That’s be-
cause breathing is no more crucial to our normal lives than many other functions, such
as those of the kidneys, liver, and pancreas.20 These organs too could be described as
“engaged in commerce with the surrounding world” and they can continue to operate
spontaneously after spontaneous breathing has ceased. Why is their spontaneous op-
eration not enough to show that a patient is alive?

19
Controversies in the Determination of Death, p. 17.
20
Albert Garth Thomas, “Continuing the Definition of Death Debate: The Report of the
President’s Council on Bioethics on Controversies in the Definition of Death,” Bioethics 26
(2012) pp. 101 – 107, at p. 106.
1010 Peter Singer

As we have seen, the Council sought to avoid a return to the traditional definition
of death. It rejected the alternative of abandoning the “dead donor rule” on the
grounds that this would “dismantle” the moral foundations of the practice of
organ donation. That is not so; at most, it would amend the moral foundations of
that practice, and even that claim presupposes that these moral foundations have
the Kantian basis described in this passage. Historically speaking, this presupposition
is highly dubious. As we saw earlier, the moral foundations of the initial stimulus for
the change in the definition of death, and thereby for the development of the modern
practice of organ transplantation, seems to have been much closer to utilitarian prin-
ciples than to Kantian ones.
One might, of course, accept, as a matter of historical fact, that the Harvard com-
mittee was thinking upon broadly utilitarian lines, and yet deplore this, and seek to
persuade current practitioners that the only defensible moral foundation of the prac-
tice is Kantian. The more significant question, however, is whether the Kantian ob-
jection to using living, but irreversibly brain-dead human beings as organ donors, is
valid. In my view, it is not. Whatever Kant may have meant by his famous statement
that we should treat others “never merely as a means to an end, but always at the same
time as an end,” the principle is plainly indefensible unless it includes, in the idea of
treating someone “merely as a means” the proviso that the person did not freely and
voluntarily consent to being so used. Otherwise, why is not mailing a letter wrongly
using the people who collect, sort and deliver the mail as mere means? The standard
Kantian answer to this obvious objection is that postal employees freely consent to do
their work. Hence the work is an end, for them, and there is no wrong-doing in mail-
ing a letter. But organ donors also consent, prior to their death, at least in countries
that have “opt-in” systems of donation, as the United States does. It is also arguable
that in “opt-out” systems, people who do not opt out are giving implicit consent, as
long as the opportunity to opt out is well-known to everyone and easily accessible.
It might be said that under either opt-in or opt-out systems, donors consent for
their organs to be taken after their death, but if we abandon the dead donor rule, the
organs will be taken when they are not dead. If that is the concern, then the problem
that the President’s Council finds so morally fundamental could easily be over-
come. All that is necessary is to rephrase the question potential donors are
asked, so that they are asked to consent to organs being taken after irreversible
total brain failure, with no hope of any recovery of consciousness. We could
then see what proportion of those currently willing to be organ donors would con-
tinue to be willing to donate under the new conditions. My hope is that this change
would not cause a significant drop in the number of donors, as long as they received
information about the irreversible nature of the condition that they would be have to
be in before they could be considered as a donor.
The Challenge of Brain Death for the Sanctity of Life Ethic 1011

V. The Significance of Irreversible Unconsciousness


We have seen that the Harvard committee thought that people in an “irreversible
coma” should be regarded as dead. We have also noted the reasons the Harvard com-
mittee gave for this change. It was, in large part, because of the good consequences
that would flow from this change, for the families of the person in the irreversible
coma, for the hospitals, and for the potential organ recipients. All of these reasons
apply not only to patients whose brains have totally and irreversibly ceased to func-
tion, but also to patients who have irreversibly lost all capacity for consciousness.
Why then did the Harvard committee limit its concern to those with no brain activity
at all?
One reason may be that in 1968, the only form of “irreversible coma” that could be
reliably diagnosed – with no possibility of a patient being declared dead and then
“waking up” – was that in which there was no discernible brain activity at all. Another
possible reason for the committee redefining death to cover only those with no brain
activity at all is that if the respirator is removed from such patients, they stop breath-
ing and so will soon be dead by anyone’s standard. People in a persistent vegetative
state, on the other hand, continue to breathe without mechanical assistance. So if the
Harvard committee had included in its definition of death people who are in an irre-
versible coma but still have some brain activity, they would have been suggesting that
people could be buried while they are still breathing.
Technology has, in many cases, eliminated the first of these reasons. Admittedly,
in some cases of patients in a long-term persistent vegetative state, we still lack any
completely reliable means of saying when recovery is impossible. In other cases,
however, new forms of brain imaging can establish that the parts of the brain asso-
ciated with consciousness have ceased to exist, and hence that consciousness cannot
return. The problem of declaring patients dead when they are breathing spontaneous-
ly, however, remains.
Several writers have urged that the solution to the present unsatisfactory state of
the definition of death is to draw on our improved diagnostic abilities to move on to a
definition of death in terms of the irreversible loss of consciousness. Among those
defending this view are Michael Green and Daniel Wikler, John Lizza, Calixto Ma-
chado, Jeff McMahan, and Robert Veatch.21
21
See, for example: Tristram Engelhardt, Jr., “Defining death: A philosophical problem for
medicine and law,” American Review of Respiratory Disease 112 (1975), 587 – 90; Robert Veatch,
“The whole-brain-oriented concept of death: An outmoded philosophical formulation.” Journal of
Thanatology 3 (1975) 13 – 30; Michael Green/Daniel Wikler, “Brain Death and Personal Identity”,
Philosophy and Public Affairs, 9 (1980), 105 – 133; Calixto Machado, “A New Definition of
Death Based on the Basic Mechanism of Consciousness Generation in Human Beings,” in:
C. Machado (ed.), Brain Death: Proceedings of the Second International Symposium on Brain
Death, C. Elsevier, Amsterdam, 1995; Jeff McMahan, “The Metaphysics of Brain Death”,
Bioethics 9 (1995) 91 – 126; John Lizza, Persons, Humanity, and the Definition of Death, The
Johns Hopkins University Press, Baltimore, 2006; John Lizza, “Defining Death: Beyond Biology,
Diametros 55 (2018), 1 – 19 (with commentaries and a response, pp. 20 – 90).
1012 Peter Singer

The significance of consciousness, and its link with the brain, answers the funda-
mental question – “why the brain?” – which supporters of the whole brain death cri-
terion have never been able to answer satisfactorily. The death of the whole brain is
the end of everything that matters about a person’s life, but so too is the death of those
parts of the brain required for consciousness. So the definition of death in terms of the
irreversible loss of consciousness means that the criterion for death is the irreversible
cessation of function of what is variously referred to as the cortex, the cerebral hemi-
spheres, or the cerebrum. To avoid the need to define this more precisely, I shall use
the expression “the higher brain” to refer to whatever parts of the brain are required
for consciousness.
We have already seen that even total brain failure is not the same as the death of the
organism. Given that, it is obviously going to be difficult to argue that an irreversible
loss of consciousness is equivalent to the death of the human organism. Warm,
breathing human beings, with their heart beating and their blood circulating, are
not dead, whether the breathing is spontaneous or mechanically assisted. “Dead”
is a term applied much more widely than human beings, or conscious beings. Living
things with no brain at all, let alone a higher brain, can be alive, and they can die.
Jeff McMahan’s defence of the higher brain account of the death of human beings
is more philosophically sophisticated than most, and worth our attention for that rea-
son. McMahan takes his cue from Mark Johnston’s assertion that we are not “essen-
tially human organisms”22 and uses this claim to distinguish the death of the person
from the death of the organism. Our survival as persons, McMahan claims, requires
“continuity of mind”, and so our continued existence, for all practical purposes, “re-
quires the preservation of various mental powers or capacities in the areas of the brain
in which consciousness and mental activity occur.”23 Thus, unlike organisms without
minds, we can die while our body is still alive. McMahan recognises that the category
of “organisms with minds” is not limited to the human species, nor applicable to all
members of that species. A dog may die while its body is still living, and an anen-
cephalic human infant is a living human organism without a mind. On this view,
the grieving family of the warm, breathing body in the hospital ward are right to
think that they are not facing a dead body. But they are also right if they understand
that the person they loved is gone forever. In McMahan’s terms, that person is dead.

VI. The Centrality of Ethics


McMahan’s proposal has the merit of not denying that human organisms die in the
same sense that plants die. Hence it does less violence to the common conception of
death than other defences of a move to a higher brain definition of death. His view

22
Mark Johnston, “Human Beings”, Journal of Philosophy, 84 (1987) pp. 75 – 76.
23
McMahan, p. 111; cf. Michael Green/Daniel Wikler, “Brain Death and Personal Identity”,
Philosophy and Public Affairs, 9 (1980).
The Challenge of Brain Death for the Sanctity of Life Ethic 1013

helps us to conceptualise what is going on when the higher brain has been destroyed
and the body continues to live, but he acknowledges that it does not resolve the ethical
questions. Is it wrong to cut the heart out of a anencephalic infant, which is a living
human organism but can never be a person? Or out of an irreversibly unconscious
human organism who has been, but can never again be, a person?
The existence, during the past three or four decades, of the definition of death in
terms of brain death has, quite literally, made it possible for Christians to get away
with what would, under the earlier traditional definition of death, have been murder –
an without abandoning their support for the sanctity of all human life! Moreover, if
brain death is not the death of the human organism, it is hard to see how defenders of
the equal value of all human life can support the removal of respirators from brain-
dead patients with beating hearts. Roman Catholic teaching holds that extraordinary
treatment is not obligatory when it imposes a disproportionate burden on the patient
or others – disproportionate, that is, in terms of the benefits gained. This doctrine al-
lows Christians to discontinue extraordinary means of life-support that are burden-
some to a patient or demand scarce medical resources, and the burden on the patient
or the use of the resources is disproportionate to the benefit that will be achieved. This
may be the case when the patient is suffering and will, in any case, live for only a short
time, or when the medical resources could save other patients who will live much
longer. Now consider a brain-dead human being who, like TK, could live another
10 or 15 years, cared for at home by his family at relatively modest cost. In what
way are the measures taken to keep him alive disproportionate to the benefit of an
extra 10 years of life? There is no suffering. Admittedly, there is also no joy, nor
any other experiences at all. But to say that the extension of human life is not a sig-
nificant benefit because it brings no conscious experiences of any sort, and therefore
the life of the human being need not be prolonged, is to invoke a quality-of-life judg-
ment as the basis for discontinuing treatment. It is in direct contradiction to the words
of Pope John Paul II in Evangelium Vitae: “As far as the right to life is concerned,
every innocent human being is absolutely equal to all others…” For those who
take this view, if brain dead human beings can be kept alive for many years without
the use of scarce medical resources, the distinction between “ordinary” and “extra-
ordinary”, or between “proportionate” and “disproportionate” means of care cannot
be used to justify withdrawing medical support from them.
If, on the other hand, we reject the view that all human life is of equal value, we
have another ethical option. We could accept the traditional conception of death –
thus agreeing, in effect, with Shewmon and Finnis on this question – but reject
their ethical view that it is always wrong intentionally to end the life of an innocent
human being. We could then regard it as justifiable to remove organs for transplan-
tation, when there has been an irreversible loss of consciousness, as long as the donor
gave the appropriate consent, applicable to this situation. We would then achieve the
same practical outcome as we would achieve by redefining death in terms of the ir-
reversible loss of consciousness. To return to the language used by the Harvard com-
mittee, we would be able to relieve the burden on families, hospitals and those in need
1014 Peter Singer

of hospital beds, not only when the patient’s brain has wholly ceased to function, but
also when the patient’s higher brain has irreversibly ceased to function. We would be
able to do this without having had to finesse the definition of death in order to achieve
our objective. Last but by no means least, we would have made our ethical judgments
transparent, thus advancing public understanding of the issues involved rather than
obscuring it.
I suggested this approach many years ago, in Rethinking Life and Death. More
recently, Franklin Miller and Robert Truog have defended it with much greater thor-
oughness in their book Death, Dying, and Organ Transplantation.24 The most trou-
bling objection to it is a practical one: no matter how logically compelling the pro-
posal may be, it is so out of touch with political reality that it stands no chance of
success. After all, it is a head-on challenge to the traditional doctrine of the sanctity
of all human life. Better, some will say, to do our best to push back the extent of that
doctrine’s reach, than to hurl ourselves vainly against its citadel. Better, in other
words, to maintain the idea that brain death really is death, and indeed to try to go
beyond whole brain death, by arguing that we die when we irreversibly lose con-
sciousness.

VII. Conclusion
We are left with two options that preserve and extend the possibility of organ
transplantation without using anyone without their consent, or violating anyone’s
human rights. We could hold that conscious beings die when they irreversibly lose
consciousness, and that this, and not the death of the organism, is what makes per-
missible the removal of organs from a consenting donor. Alternatively, we could re-
turn to the traditional definition of death in terms of the cessation of heartbeat and the
stoppage of the circulation of the blood, but hold that it is not wrong to remove organs
from living human beings who have irreversibly lost consciousness, and have con-
sented to the donation of their vital organs in such circumstances. Both of these op-
tions avoid the misconceptions involved in the view that organs can only be taken
from dead donors, and that the test of death for a donor with a beating heart is the
irreversible loss of all brain function.
I will not here attempt to choose between these two options, for they converge on
the crucial point: the existence of a living human organism is not a sufficient reason
for ruling out the removal of vital organs from that organism.

24
Oxford University Press, New York, 2011.
„Hirntod und kein Ende“ – nach zwanzig Jahren
Von Dieter Birnbacher

I. Einleitung: Kein Ende


Nimmt man sich heute erneut Reinhard Merkels Aufsatz „Hirntod und kein Ende“
von 1999 vor,1, ist darin ein Unterton der Ungeduld unüberhörbar – Ungeduld über
die Hartnäckigkeit, mit der im Vorfeld wie im Gefolge des Transplantationsgesetzes
von 1997 über das Hirntodkriterium gestritten wurde –, aber auch die Einsicht, dass
es weiterer Diskussion bedarf, um zu einer befriedigenden Klärung und womöglich
Einigung über die Kriterien der Todesfeststellung zu kommen. Zwanzig Jahre später
– in dem Jahr, in dem die Bedingungen für die Entnahme durchbluteter Organe post
mortem möglicherweise neu bestimmt werden –, hat sich an der wechselseitigen Ver-
hakelung der gegensätzlichen Auffassungen zur Todesdefinition wenig geändert.
Während die so genannte „Hirntoddefinition“ in so gut wie allen Ländern, in
denen Transplantationen durchgeführt werden, in die Rechtsordnungen eingegangen
ist und der Praxis der Todesfeststellung zugrunde gelegt wird, ist diese Definition in
großen Teilen der Welt unter Laien wie unter Angehörigen der medizinischen und
juristischen Profession weiterhin umstritten. Selbst die intensive Befassung des
Deutschen Ethikrats mit der Frage führte lediglich zu einem gespaltenen Votum,2
wobei bemerkenswert war, dass sich die Mehrheit der ärztlichen Mitglieder dieses
Gremiums dem Minderheitsvotum angeschlossen hat, das gegen eine Gleichsetzung
von Hirntod und Tod argumentiert.
Wo liegt der Kern der Kontroverse? Was ist der Streitpunkt, an dem sich die De-
batte vor und nach ihrem „revival“3 festgebissen hat? Dieser Punkt gerät leicht aus
dem Blick angesichts der Vielschichtigkeit der Fragen, die in der Debatte strittig sind,
aber auch angesichts der Tendenz vieler in der Medizin geführter Diskussionen, sich
auf erkenntnisbezogene Fragen zu beschränken und quasi verifikationistisch die
Frage nach den Kriterien der Feststellung des Todes an die Stelle der Frage danach
zu setzen, was es eigentlich ist, was damit festgestellt wird.

1
Merkel, Reinhard, Hirntod und kein Ende. Zur notwendigen Fortsetzung einer unerle-
digten Debatte. Jura 1999, S. 113 – 122.
2
Deutscher Ethikrat, Hirntod und Entscheidung zur Organspende. Stellungnahme. Berlin
2015.
3
Müller, Sabine, Revival der Hirntod-Debatte: Funktionelle Bildgebung für die Hirntod-
Diagnostik. Ethik in der Medizin 22 (2010), S. 5 – 17.
1016 Dieter Birnbacher

Zur Herauspräparierung des Kerns erweist sich die Lektüre von Merkels Aufsatz
auch heute als ausgesprochen hilfreich. Insofern werde ich mir im Folgenden die
Freiheit nehmen, sowohl einige seiner expliziten Thesen als auch einige seiner im-
pliziten Annahmen aus der Perspektive der Medizinethik systematisch Revue passie-
ren zu lassen und, wo immer nötig, kritisch zu kommentieren und zu ergänzen.

II. Der Hirntod – Kriterium oder (auch) Definition?


Eine der ältesten und bewährtesten analytischen Instrumente zur Klärung der
Frage nach dem Verhältnis, in dem der Hirntod, verstanden als endgültiger und irre-
versibler Ausfall der gesamten Hirnfunktion, zum Tod des Menschen steht, ist die
Unterscheidung der Ebenen von Definition, Kriterium und Testverfahren.4 Die Ebe-
nen sind hierarchisch über- und untergeordnet. Die Definition erklärt die Sache, für
die ein behauptetes Kriterium als Anzeichen gelten soll. Die Testverfahren stellen die
Mittel bereit, die Erfülltheit des jeweiligen Kriteriums nachzuweisen. Die Items auf
den verschiedenen Ebenen stehen dabei in der Regel in der Relation der Ein-Mehr-
deutigkeit zueinander: Eine durch eine bestimmte Definition identifizierte Sache
kann mehr als ein Kriterium haben, die deren Gegebenheit anzeigt; für ein bestimm-
tes Kriterium kann es mehr als ein Testverfahren geben, das dessen Erfülltheit an-
zeigt. Entsprechend lassen sich die Kontroversen ordnen, die um die Items auf
den verschiedenen Ebenen geführt werden. Kontrovers ist etwa der Umfang der Test-
verfahren, die die Erfülltheit des Todeskriteriums – das Eingetretensein des Hirntods
– eindeutig nachweisen. Während in Deutschland vorgeschrieben ist, dass jede kli-
nische Diagnose des eingetretenen irreversiblen Hirnfunktionsausfalls entweder
durch eine frühestens zwölf Stunden später wiederholte klinische Untersuchung
oder durch eine sich zeitlich anschließende apparative Untersuchung bestätigt
wird,5 verlangen die in der Schweiz geltenden Richtlinien lediglich eine einmalige
klinische und nur in Zweifelsfällen eine zusätzliche apparative Diagnostik.6 Auch
bei der in Deutschland verbotenen Entnahme von Organen nach anhaltendem Kreis-
laufstillstand, deren Einführung zu einer signifikanten Erhöhung des Aufkommens
an Transplantaten geführt hat, fordern die Schweizerischen Richtlinien nur eine ein-
malige klinische Untersuchung. Bei einer Wartezeit von zehn Minuten nach Kreis-
laufstillstand wird angenommen, dass sich eine zusätzliche apparative Untersuchung

4
Vgl. Bernat, James L./Culver, Charles M./Gert, Bernard (1981), On the definition and
criterion of death. Annals of Internal Medicine 94 (1981), S. 389 – 394.
5
Vgl. Bundesärztekammer, Richtlinie gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 TPG für die Regeln zur
Feststellung des Todes nach § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TPG und die Verfahrensregeln zur Fest-
stellung des endgültigen, nicht behebbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des Großhirns, des
Kleinhirns und des Hirnstamms nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG. Vierte Fortschreibung. Deutsches
Ärzteblatt 30. 3. 2015, S. 3.
6
SAMW (Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften), Feststellung des
Todes mit Bezug auf Organtransplantationen. Medizin-ethische Richtlinien und Empfehlun-
gen. Basel 2011, S. 6.
„Hirntod und kein Ende“ – nach zwanzig Jahren 1017

erübrigt.7 Eine andere Differenz betrifft das Todeskriterium. Während in Europa


ganz überwiegend der endgültige und irreversible Ausfall der Gesamtfunktion des
Gehirns als Todeskriterium gilt, gilt in Großbritannien das Kriterium des irreversi-
blen Ausfalls ausschließlich des Stammhirns. Dass diese Differenzen bestehen, be-
deutet dabei nicht eo ipso, dass nur einer der Beteiligten das richtige oder beste Kri-
terium oder die richtigen oder besten Testverfahren vertritt. Was die Kriterien betrifft,
so können sie auch gleichermaßen valide und ihre Verschiedenheit darin begründet
sein, dass sie zusätzlichen Anforderungen genügen, etwa einer größeren Chance auf
Akzeptanz oder der Anpassung an kulturelle Muster. Dasselbe gilt für die für viele
Laien zunächst verwirrende Vielfalt der von den zuständigen nationalen Gremien
verlangten Testverfahren. Die Tatsache ihrer Verschiedenheit besagt für sich genom-
men nicht, dass sie bereits deshalb unterschiedlich valide oder zuverlässig sind.
Auf welcher Ebene der Hierarchie von Definition, Kriterium und Testverfahren ist
der Hirntod anzusiedeln? – Auf diese Frage geben weder das Transplantationsgesetz
noch die von der Bundesärztekammer erlassenen Richtlinien für die Todesfeststel-
lung eine befriedigende Antwort. Das Transplantationsgesetz macht in § 3 Abs. 2
Satz 2 die Organentnahme von der Feststellung des Hirntods abhängig und legt
damit nahe, dass es den Hirntod als Kriterium des Todes auffasst, und zwar – zumin-
dest im Zusammenhang mit der Organentnahme – als einziges zulässiges Kriterium.
Deutlicher noch wird der dem Hirntod zugewiesene kriteriale Status in der Vierten
Fortschreibung der Richtlinien für die Todesfeststellung der Bundesärztekammer
von 2015. Dort heißt es:
„Mit der Feststellung des endgültigen, nicht behebbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des
Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms (irreversibler Hirnfunktionsausfall) ist na-
turwissenschaftlich-medizinisch der Tod des Menschen festgestellt.“8

Im Unterschied zum Transplantationsgesetz legt diese Formulierung nahe, dass


das Kriterium des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls nur eines von mehreren mög-
lichen Kriterien für den Tod des Menschen ist, nämlich eines, das sich dem Tod des
Menschen von der naturwissenschaftlich-medizinischen Seite nähert. Es lässt offen,
wie weit es andere gibt oder geben könnte, die sich demselben Tod von einer anderen
Seite nähern. Noch stärker tritt diese Selbstrelativierung in einem kürzlich erschie-
nenen Artikel aus dem Umfeld des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekam-
mer hervor:
„Es wird nicht immer zwischen dem objektiven medizinisch-wissenschaftlichen Aspekt der
Todesfeststellung und verschiedenen anderen Aspekten des Todes (zum Beispiel metaphy-
sischen und kulturellen Aspekten einschließlich Fragen des Umgangs der Lebenden mit den
Toten) unterschieden.“9

7
SAMW, a.a.O., S. 7.
8
Bundesärztekammer, a.a.O., S. 2.
9
Brandt, Stephan A./Angstwurm, Heinz (2018), Bedeutung des irreversiblen Hirnfunkti-
onsausfalls als sicheres Todeszeichen. Deutsches Ärzteblatt International 115(41) 2015,
S. 675 – 681, S. 675.
1018 Dieter Birnbacher

Auch hier wird offengelassen, wie weit es neben dem naturwissenschaftlichen Zu-
gang zur Feststellung des Todes noch weitere (metaphysische?) Verfahren gibt, die
einen Erkenntniszugang dazu eröffnen, ob ein Mensch tot ist oder lebt.
Unbefriedigend an beiden Ansätzen ist, dass sie lediglich ein Kriterium (ein ein-
ziges oder eins von mehreren) formulieren, dabei aber offenlassen, wofür dieses Kri-
terium ein Kriterium sein soll und damit keine Handhabe bieten, dieses Kriterium auf
seine Validität zu prüfen. Die Frage, wie weit der Hirntod ein (mehr oder weniger
gutes oder valides) Kriterium für die angezielte Sache, den Tod, ist, läuft ins
Leere. Das Bezugsobjekt, auf das das Kriterium verweist, bleibt ungeklärt.
Merkel füllt diese logische Lücke auf die einzige Weise, die kohärent erscheint,
nämlich indem er dem Hirntod – allerdings mehr implizit als explizit – eine Doppel-
funktion zuweist: die einer Definition des Todes, die zugleich als Kriterium des Todes
fungiert. Damit „überspringt“ der Hirntod gewissermaßen die zwischen zwei Ebenen
der logischen Hierarchie bestehende Schwelle. Er erklärt einerseits, was als Tod ver-
standen werden soll, und er gibt gleichzeitig ein Kriterium für das Bestehen des Sach-
verhalts an, den er konstituiert. Zwar sind „Hirntodkriterium“ und „Hirntoddefiniti-
on“ semantisch klar unterschiedene Begriffe. Aber in ihrem Fall fällt die von ihnen
bezeichnete Sache in eine zusammen. Sie sind intensional, aber nicht extensional
verschieden.
An einer Doppelfunktion dieser Art ist nichts Paradoxes. Bei mehreren Arten von
Sachverhalten fungieren die (ontologischen) Bedingungen ihrer Existenz oder ihres
Eintretens zugleich als (epistemologische) Bedingungen ihrer tatsächlichen oder
möglichen Feststellung. Das gilt etwa für Erscheinungen im unmittelbaren sensori-
schen Erleben. Die konstitutiven Bedingungen von Nachbildern oder Traumerlebnis-
sen sind zugleich auch Bedingungen ihrer Feststellung oder ihres Wahrgenommen-
werdens. Für sie gilt das Berkeleysche esse est percipi. Andere Sachverhalte können
sich ereignen, ohne wahrgenommen zu werden, während aber dennoch die Bedin-
gungen ihres Eintretens zugleich Bedingungen ihrer möglichen Wahrnehmung
sind. Zu diesen gehört der Tod des Menschen. Wenn der Hirntod der Tod des Men-
schen ist (den Tod des Menschen konstituiert), dann ist sein Eintreten auch ein valides
Kriterium für den Tod. Eine Definition ist immer dann auch ein Kriterium, wenn sie
festzustellen erlaubt, ob der von ihr bezeichnete Sachverhalt besteht oder nicht be-
steht. Diese Bedingung erfüllt der Hirntod.

III. Die Unumgänglichkeit von Konventionen


Für die Begründung des Hirntodkriteriums heißt das, dass es – solange am Hirntod
als Definition des Todes festgehalten wird – seine Begründung keinen Raum für
Zweifel lässt: Es folgt aus der zugrunde gelegten Definition analytisch. Zweifel
an der Validität des Hirntodkriteriums können sich nur entweder auf die Adäquatheit
der zugrunde gelegten Definition beziehen oder auf die Validität der zur Prüfung der
„Hirntod und kein Ende“ – nach zwanzig Jahren 1019

Erfülltheit des Kriteriums herangezogenen Testverfahren. Nur im letzteren Fall han-


delt es sich, wenn an der Validität des Hirntodkriteriums gezweifelt wird, um einen
epistemischen Zweifel, der im Prinzip durch weiteres empirisches Wissen behoben
werden kann. Zweifel an der Adäquatheit der zugrunde gelegten Definition sind
grundlegend anderer Art. Insofern ist der Kritik Merkels an der Behauptung Wolfram
Höflings, dass „ein prinzipielles Nichtwissen darüber besteht, ob er [der Hirntote]
den Sterbeprozeß bereits abgeschlossen hat“, recht zu geben.10
Die Ungewissheit über die Grenze zwischen Leben und Tod ist keine empirische
Ungewissheit, die einer genaueren Prüfung mithilfe neuer Erkenntnisse oder verfei-
nerter Verfahren zugänglich wäre. In diesem Punkt griff bereits Hans Jonas’ Kritik
am Harvard Ad hoc Committee von 1968 zu kurz. Jonas wandte gegen das Harvard-
Komitee u. a. ein, dass seine Definition des Todes durch den vollständigen und un-
umkehrbaren Ausfall der Hirnfunktion „unsicher“ sei.11 Er schien von der Annahme
auszugehen, es könne so etwas wie eine „richtige“ Definition geben. Aber wenn
etwas hinsichtlich des Todesbegriffs „unsicher“ ist, dann nicht, ob diese Definition
richtig oder falsch ist, sondern ob ihr ein angemessenes oder akzeptables Verständnis
des Todes zugrunde liegt. Nicht um eine Faktenfrage geht es, sondern um eine Frage
des Verständnisses. Die Frage ist, welche der miteinander konkurrierenden Defini-
tionsvorschläge als der angemessenste und plausibelste gelten kann und wie weit
man sich angesichts der Unsicherheit darüber – im Sinne eines „definitional tutio-
rism“12 – konservativ verhalten und die althergebrachte Definition unangetastet las-
sen sollte. Welche Definition vernünftig und angemessen ist, lässt sich zwar nur unter
Berücksichtigung empirischer Befunde, aber nicht auf der Grundlage empirischer
Befunde entscheiden. Definitionen sind man made und nicht – wie Tests und Krite-
rien, empirische Verallgemeinerungen und Gesetzesaussagen – wahr oder falsch. Sie
sind allenfalls sinnvoll oder sinnlos, angemessen oder unangemessen, zweckmäßig
oder unzweckmäßig.
Ich wage die Behauptung, dass auch das Transplantationsgesetz zumindest eine
Suggestion in der Richtung enthält, dass es ein wissenschaftlich richtiges Verständnis
des Todes geben könne: durch den Verweis in § 3 Abs. 2 Satz 2 auf die Feststellung
des Hirntods nach „Verfahrensregeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizini-
schen Wissenschaft entsprechen“. Genau gelesen bezieht sich dieser Verweis aus-
schließlich auf die Testverfahren zur Ermittlung des Eintritts des Hirntods. In
einem Kontext, in dem man eine Begründung für das Hirntodkriterium erwartet
und diese Erwartung enttäuscht wird, wird sie jedoch – zumindest bei oberflächlicher
Lektüre – leicht als nachgeschobene Begründung (miss)verstanden.

10
Merkel, a.a.O., S. 118.
11
Jonas, Hans, Against the stream. Comments on the definition and redefinition of death
(1970), in: Hans Jonas. Philosophical Essays. From ancient creed to technological man. New
York: Atropos Press 1980, S. 134 – 142.
12
Walton, Douglas N., Brain death. Ethical considerations. West Lafayette (Ind.): Purdue
University 1980, S. 22.
1020 Dieter Birnbacher

Kraft der Identität des Hirntodkriteriums mit der Hirntoddefinition hat dieses Kri-
terium selbst den logischen Status einer Konvention – was nicht heißt, dass es Ergeb-
nis einer willkürlichen Setzung oder aller Kritik entzogen ist. Es heißt jedoch, dass
die Gründe seiner Akzeptabilität anderer Art sind als die Gründe für die Akzeptie-
rung einer wissenschaftlichen Hypothese. Man kann sich über alle wissenschaftli-
chen Fragen, die den Tod betreffen, einig sein, und dennoch abweichende Auffassun-
gen darüber vertreten, was als „Tod eines Menschen“ gelten soll.
Das ist, wie Merkel zu Recht anmerkt, nicht der einzige Zug von Konventionalität,
der dem Hirntodkriterium anhaftet. Ein anderer, der ebenfalls in der Natur der Sache
liegt, und für den keine Überbietung durch verbesserte Erkenntnis- oder Messverfah-
ren denkbar scheint, ist die inhärente Prozesshaftigkeit des Sterbens, die – vergleich-
bar der Ontogenese des Menschen als Embryo – keine eindeutige Zäsur aufweist, die
als „naturgegebene“ Abgrenzung dienen könnte. Die Grenze zwischen Leben und
Tod ist kein punktuelles Ereignis. Es gibt nur das Gestorbensein, keinen objektiven
Todeszeitpunkt. Auch wenn zwischen Eintritt des Todes und seiner Feststellung als
epistemischer Akt logisch strikt zu trennen ist, macht die besondere Natur des Todes
verständlich, dass in vielen normativen Texten zum Hirntod die „Feststellung des
Todes“ als naheliegende Operationalisierung an dessen Stelle tritt.

IV. Anforderungen an Explikationen


An dieser Stelle ist eine Klarstellung vorzunehmen: Wenn im Zusammenhang mit
dem Tod des Menschen von „Hirntoddefinition“ die Rede ist, ist die Redeweise von
„Definition“ in einem kontextadäquaten Sinn zu verstehen. Offensichtlich handelt
sich weder um eine willkürliche Stipulation noch um eine Lexikondefinition, die
einen bestehenden Sprachgebrauch möglichst adäquat wiedergibt. Anders als eine
stipulative Definition ist sie nicht ausschließlich an Gesichtspunkten der theoreti-
schen und praktischen Zweckmäßigkeit orientiert, sondern schließt an bestehende
Vorverständnisse an. Auf der anderen Seite muss sie schon deshalb mehr sein als
eine bloße Analyse herrschender Denkweisen, weil eine einheitliche „herrschende
Denkweise“, die zum Gegenstand der Analyse gemacht werden könnte, nicht exis-
tiert. Angesichts dieser Ausgangssituation kann die „Hirntoddefinition“ nur als Re-
sultat einer Explikation aufgefasst werden, wie sie zuerst von Carnap für den Bereich
der Logik und der Naturwissenschaften entwickelt worden ist. Eine Explikation ist
bestimmt als ein unter bestimmten Zwecken stehendes begriffliches Konstrukt, das
in festgelegten Kontexten einen unklaren, mehrdeutigen oder semantisch instabilen
Begriff – das Explikandum – ersetzt. Eine Explikation hat insofern stets den Charak-
ter einer motivierten Entscheidung: Sie rechtfertigt sich jeweils durch den Bezug auf
bestimmte explizite oder implizit vorausgesetzte Zwecke. Je nachdem, welche An-
forderungen an eine angemessene, adäquate oder „vernünftige“ Explikation gestellt
werden, erweisen sich für ein bestimmtes Explikandum unterschiedliche Explikate
als vorzugswürdig.
„Hirntod und kein Ende“ – nach zwanzig Jahren 1021

Einen Hauptteil von Merkels Argumentation von 1999 macht die Argumentation
dafür aus, dass die Hirntoddefinition den für eine Explikation geltenden Anforderun-
gen in höherem Maße genügt als ihre Alternativen. Das heißt zugleich, dass diese
Anforderungen für den Streit über den Hirntod eine entscheidende, ja die entschei-
dende Rolle übernehmen und die Vermutung berechtigt erscheint, dass an diesem
Punkt die Wurzel für den bisher unaufgelösten Dissens zu suchen ist.
Ich möchte im Folgenden zunächst die bei Carnap für die Güte von Explikation im
Theoriebereich formulierten Anforderungen vorstellen und prüfen, wie weit die von
Merkel formulierten Anforderungen als deren angemessene „Übersetzung“ für den
Bereich der Praxis aufgefasst werden können. Die vier von Carnap für den theoreti-
schen Bereich formulierten Anforderungen sind 1. Ähnlichkeit mit dem Explikan-
dum, 2. Exaktheit, 3. Fruchtbarkeit und 4. Einfachheit, wobei die vierte Anforderung
als den drei anderen lexikografisch nachgeordnet verstanden wird. Einfachheit soll
nur so weit zum Zuge kommen, als die drei anderen Anforderungen nicht hinreichend
sind, einen von mehreren Kandidaten als vorzugswürdig auszuzeichnen. Viele in der
Wissenschaft gebräuchlichen Explikate seien alles andere als einfach, bewährten
sich aber dennoch aufgrund ihrer theoretischen Zweckmäßigkeit.13
Die erste Anforderung, Ähnlichkeit mit dem Explikandum besagt, dass das Expli-
kat in der Mehrzahl der Fälle, in denen das Explikandum faktisch verwendet wird,
das Explikandum ersetzen können soll, auch dann, wenn es mit diesem nicht oder
nicht vollständig bedeutungsgleich ist. Carnap lässt sogar zu, dass die Bedeutungs-
unterschiede in einigen Anwendungsfällen gravierend sind.14
Die zweite Anforderung, Exaktheit, verlangt, dass das Explikat geeignet ist, in
einen systematischen Theoriezusammenhang eingebettet zu werden. Anders als
der Explikandumbegriff soll es sich in die für den jeweiligen Bereich geltenden wis-
senschaftlichen Theorien integrieren lassen. Impliziert ist damit, dass die Hinzufü-
gung des Explikats in den jeweiligen Theoriekontext weder die Kohärenz noch die
Erklärungskraft dieses Kontexts beeinträchtigt.
Carnaps dritte Anforderung, Fruchtbarkeit, bezieht sich primär auf die Chance
eines Explikats, innerhalb wissenschaftlicher Theorien zur Erklärung empirischer
Befunde mithilfe von Gesetzen beizutragen. Ein wissenschaftlicher Begriff sei
umso fruchtbarer, je mehr er sich zur Formulierung von Gesetzesaussagen eignet.15
Die vierte Anforderung, Einfachheit wird von Carnap nur fragmentarisch erläu-
tert. Man kann es so verstehen, dass sie darauf zielt, ein Explikat so einfach zu halten,
dass es gelehrt und gelernt werden kann und Chancen hat, ungeachtet der Pluralität
kultureller Rahmenbedingungen zum Gemeinbesitz der scientific community zu wer-
den.

13
Carnap, Rudolf, The logical foundations of probability. Second edition. Chicago: Chi-
cago University Press 1963, S. 7.
14
Carnap, a.a.O., S. 7.
15
Carnap, a.a.O., S. 6.
1022 Dieter Birnbacher

Merkel geht für praktische Kontexte von drei Anforderungen aus: 1. Konsistenz
mit grundlegenden Prinzipien der Ethik und des Rechts, 2. anthropologische Plau-
sibilität sowie 3. Verträglichkeit mit tradierten Alltagsbegriffen. Anders als Carnap
verzichtet er darauf, diese Anforderungen genauer inhaltlich zu bestimmen. Ihr Ge-
halt muss aus dem Gebrauch erschlossen werden, den er von ihnen im Zusammen-
hang mit der Explikation des Explikandums „Tod des Menschen“ macht.
Zwischen Carnaps und Merkels Anforderungen bestehen offenkundige Gemein-
samkeiten. Carnaps erste Anforderung entspricht weitgehend Merkels dritter Anfor-
derung – allerdings nur weitgehend, da diese deutlich anspruchsvoller ist. Sie ist
sogar möglicherweise zu anspruchsvoll, um bei der Explikation des Todesbegriffs
erfüllt werden zu können. Falls die Hirntoddefinition das Explikat der Wahl ist,
mag dieses zwar Carnaps Ähnlichkeitsforderung genügen, man muss aber bezwei-
feln, ob sie mit den tradierten Alltagsbegriffen des Todes verträglich ist. Das gilt
vor allem für die lebensweltlich-phänomenologischen Aspekte von Explikandum
und Explikat. Die Anwendung der Hirntoddefinition hat in der Praxis nicht nur
die von vielen als segensreich empfundene Chance auf eine Organentnahme vom
Hirntoten zur Folge, sondern auch einige der von vielen als unzumutbar empfunde-
nen Zumutungen und Irritationen für Angehörige und Pflegende. Maschinell beat-
mete Patienten, die zur Organtransplantation vorgesehen sind, unterscheiden sich
in der Zeitspanne zwischen Eintritt des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls und
der Transplantation dem Anschein nach nicht von Lebenden. Eine ganze Reihe
von Lebensfunktionen werden durch die Beatmung direkt oder indirekt aufrechter-
halten, darunter Herzschlag, Blutkreislauf, Verdauung und Wundheilung. Reflexe,
soweit diese im Rückenmark verschaltet sind, sind weiterhin intakt. Dass jedoch
ein Hirntoter, der alle Zeichen von Lebendigkeit zeigt, tot sein soll, verlangt Ange-
hörigen und Pflegenden ab, zwischen dem, was sie sehen, und dem, was sie wissen,
eine beträchtliche kognitive Dissonanz auszuhalten.
Carnaps zweite Anforderung entspricht weitgehend Merkels zweiter Anforde-
rung. Exaktheit bedeutet für Carnap nicht Präzision, sondern Ingrierbarkeit in
einen relativ abgesicherten Theoriebestand. Das Explikat soll so gewählt werden,
dass es in einen Zusammenhang von Aussagen von wissenschaftlicher Dignität ein-
gebettet werden kann und auf diese Weise anschlussfähig ist an ein bereits bestehen-
des Wissenskorpus. Für die Explikation des Todesbegriffs lässt sich diese Anforde-
rung so verstehen, dass das Explikat mit dem zusammenstimmen sollte, was wir über
den Menschen wissen. Das Explikat sollte mit den anthropologischen Standardtheo-
rien so weit harmonieren, dass es nicht zu Widersprüchen kommt und dadurch die
Kohärenz und Erklärungskraft dieser Theorien mindert. Es ist klar, dass dieser An-
forderung nicht alle denkbaren Explikate für den Todesbegriff gerecht werden. So
lassen sich etwa zahlreiche esoterische Vorstellungen, etwa die einer die organischen
Lebensfunktionen steuernden Geistseele oder die eines Astralleibs, nur schwer mit
dem Stand des anthropologischen Wissens vereinbaren. Sie bleiben innerhalb der
Wissenschaft vom Menschen ein nicht integrierbarer Fremdkörper.
„Hirntod und kein Ende“ – nach zwanzig Jahren 1023

Für die Anforderung der Exaktheit liegt noch eine weitere Interpretation nahe, die
in praktischen Kontexten sogar noch relevanter ist als in theoretischen: das Desiderat,
dass das Explikat hinreichend operationalisierbar ist, um über das Vorliegen der mit
seiner Hilfe konstituierten Sachverhalte entscheiden zu können. Das Explikat sollte
wann immer möglich so gefasst sein, dass geprüft werden kann, ob es in real gege-
benen Fällen erfüllt ist, d. h. es sollten verlässliche Kriterien für seine Gegebenheit
zur Verfügung stehen.16 Für den Fall des Todes bedeutet das, dass wissenschaftlich
gesicherte Todeskriterien und Testverfahren zur Todesfeststellung verfügbar sind
oder dass es geeignet ist, selbst als Kriterium zu dienen. Die durch eine Operationa-
lisierung gegebene Sicherheit ist insbesondere für einen rechtlich so bedeutsamen
Begriff wie den Todesbegriff unentbehrlich. Wann immer ein Explikat zur Grundlage
rechtlicher Normierungen wird, ist „Exaktheit“ in diesem Sinn u. a. ein Gebot der
Rechtssicherheit. Man muss nicht so weit gehen wie Merkel, der bereits vom Expli-
kat des unscharfen Todesbegriffs verlangt, dass es als „trennscharfe Markierung für
einen brauchbaren Rechtsbegriff tauglich“ ist.17 Es genügt, dass hinreichend trenn-
scharfe Kriterien zur Verfügung stehen.
Dieser Anforderung wird die Hirntoddefinition besser gerecht als die Konkurren-
ten. Für keine der alternativen Explikationen des Todesbegriffs besteht dasselbe Maß
an Sicherheit. Gerade der Rechtfertigungsdruck, der von der verbreiteten Nichtak-
zeptanz dieser Explikation ausgeht, hat dazu geführt, dass die Kriterien fortwährend
verfeinert und für eine große Vielfalt von Sondersituationen ausdifferenziert worden
sind. Mit der Vierten Fortschreibung der Richtlinien zur Todesfeststellung sind in
Deutschland diese Kriterien noch einmal der medizinischen Erfahrung angepasst
worden, u. a. durch eine Einbeziehung von Vertretern aller relevanter medizinischer
Einzeldisziplinen. Die nunmehr geltenden Kriterien für den Todeszeitpunkt gewäh-
ren ein anerkannt hohes Maß an Rechtsicherheit – im Gegensatz zu anderen Begrif-
fen im Umfeld des Todes, die weiterhin Unschärfen aufweisen (etwa „Sterbepro-
zess“), aber auch zu den Kriterien für den alternativen Begriff des Herz-Kreislauf-
Todes. Das zeigt sich u. a. in den unterschiedlich langen Wartezeiten, die in Ländern,
in denen die Entnahme von Organen nach Herztod (donation after cardiac determi-
nation of death, DCD) zulässig ist, zwischen Kreislaufstillstand bzw. Ende der Wie-
derbelebungsversuche und Organentnahme gefordert werden. Auch die für viele
Menschen wichtige Sicherheit, dass mit dem Eintritt der in den Richtlinien genann-
ten Bedingungen kein Bewusstseinsleben mehr möglich ist (und etwa die Entnahme
der Organe im Fall einer Explantation gespürt werden könnte), könnte größer nicht
sein. Mit dem irreversiblen Ausfall der Hirnfunktionen ist auch ein bewusstes Erle-
ben nicht mehr möglich, mögen dies auch einige der im Rückenmark verschalteten
Reflexe des Hirntoten (wie dem Zusammenzucken bei Einschnitten in die Haut) na-
helegen.

16
Vgl. Radnitzky, Gerard, Explikation, in: Helmut Seiffert/Gerard Radnitzky (Hrsg.),
Handlexikon der Wissenschaftstheorie. München: Ehrenwirth 1989, S. 73 – 80, S. 74.
17
Merkel, a.a.O., S. 116.
1024 Dieter Birnbacher

Während umstritten ist, wie weit die Hirntoddefinition der Anforderung der Ver-
träglichkeit mit dem vorexplikativen Begriff des Todes genügen kann, trifft die dritte
Anforderung Merkels, die Übereinstimmung mit anerkannten ethischen und rechtli-
chen Grundsätzen, bereits für sich genommen auf Vorbehalte. Immer wieder ist der
zuerst von Hans Jonas in die Debatte geworfene Vorwurf zu hören, durch die Mora-
lisierung des Todesbegriffs werde dieser verzwecklicht, menschlichen Zielsetzungen
dienstbar gemacht und für wie immer hochherzige Zwecke „pragmatisch“ zurecht-
gebogen. Hintergrund dieses Vorwurfs ist die Überzeugung, die Grenze zwischen
Leben und Tod stehe als elementarer biologischer Sachverhalte „von Natur aus“
und vorgängig zu allen menschlichen Setzungen fest. Das ist, wie gezeigt, eine na-
turalistische Illusion. Weder ist „von der Natur“ eine eindeutige Grenze gezogen,
noch ist überhaupt eine Grenzziehung denkbar, die nicht wesentlich auf menschliche
Entscheidungen zurückgeht und insofern Elemente einer Konvention aufweist. Dar-
über hinaus spricht alles dafür, in Merkels Anforderung eine überaus plausible Über-
setzung von Carnaps dritter Anforderung, Fruchtbarkeit, für praktisch relevante Be-
griffe zu sehen. Explikationen für praktische Begriffe sollten nicht nur auf Erkennt-
nisinteressen, sondern auch auf praktische Interessen der Verwirklichung des Guten
verpflichtet sein. Entsprechend tritt bei ihnen zu den Anforderungen an ihre theore-
tische Angemessenheit eine spezifische Anforderung hinzu, die bei den rein erkennt-
nisbezogenen Mitteln in der Regel vernachlässigt werden kann: die Anforderung der
ethischen Akzeptabilität ihrer Anwendung in der Praxis. Ein Explikat, das in prak-
tischen Kontexten mit einer gewissen Verbindlichkeit ausgestattet wird – etwa da-
durch, dass es in rechtliche Regelungen eingeht –, muss sich über die von Carnap
genannten erkenntnisbezogenen Kriterien hinaus u. a. auch danach fragen lassen,
wie weit seine Anwendung eine unter moralischen Gesichtspunkten gerechtfertigte
Praxis konstituiert, ermöglicht oder unterstützt. Unterstützt wird eine Praxis von
praktisch relevanten Explikaten dabei nicht erst dann, wenn sie in ausdrückliche Nor-
mierungen wie Gesetze, Verfahrensregeln oder Leitlinien eingeht, sondern schon im
Vorfeld durch ihren akzeptierenden Gebrauch.
Was durch das Merkmal der moralischen Legitimität der Verwendungszwecke
hinzukommt, ist eine weitere Dimension der Zwecke, in Bezug auf die von Explika-
tionen Funktionalität erwartet wird. Sie sollen nicht nur zweckrational in dem Sinne
sein, dass sie sich für die Zwecke, auf die sie bezogen sind, eignen, sondern die Zwe-
cke sollen ihrerseits im ethischen Sinn rational sein. Es ist zu bezweifeln, ob die ver-
breitete Gepflogenheit von Gegnern der Hirntoddefinition, mit abwertender Konno-
tation von „pragmatisch“ zu sprechen, der Seriosität dieser Anforderung gerecht
wird. Die Ermöglichung bzw. Erleichterung der Organexplantation nach eingetrete-
nem Hirntod ist ein durch und durch seriöser ethischer Grund, der Hirntoddefinition
den Vorzug zu geben vor alternativen Explikationen, vor allem solchen, die eine Or-
ganentnahme nur unter Verletzung der dead donor rule zulassen. Die dead donor
rule, die eine Organentnahme vom Moribunden oder Sterbenden (und damit vom Le-
benden) kategorisch ausschließt, ist in der Medizin fest etabliert. Sie zu verletzen,
würde die Praxis der Transplantation post mortem tiefgreifend in Frage stellen.
„Hirntod und kein Ende“ – nach zwanzig Jahren 1025

V. Weitere Anforderungen und ihre Konsequenzen


Soweit es um ihre methodischen Grundlagen geht, hält Merkels Anwendung des
Verfahrens der Explikation auf den Todesbegriff auch nach zwanzig Jahren der kri-
tischen Prüfung stand. In der konkreten Ausführung erweist sie sich in einem Punkt
ergänzungs-, in einem anderen klärungsbedürftig. Der erste Punkt betrifft das Desi-
derat der Univozität des Todesbegriffs, der zweite das, was Merkel den Kompromiss-
charakter der Hirntoddefinition nennt.
Dass es nur einen Todesbegriff geben sollte bzw. nur ein einziger Todesbegriff im
wissenschaftlichen und normativen Diskurs als Referenzpunkt dienen sollte – dieses
Desiderat erschien dem Autor möglicherweise zu selbstverständlich, um ausdrück-
lich darauf hinzuweisen. Überdies ergibt es sich zwanglos aus Merkels Postulat, dass
insbesondere das Recht auf eine stabile, kontextinvariante und möglichst trennschar-
fe Grenzziehung zwischen Leben und Tod angewiesen ist. Dennoch ist diese Anfor-
derung nicht selbstverständlich.
Es folgt nicht automatisch aus den der Methodologie der Explikation zugrunde
liegenden Zielen einer vereindeutigenden Fixierung der Bedeutung unscharfer,
mehrdeutiger und schwankender Begriffsverwendungen. Eine Explikation kann
durchaus auch kontextspezifisch sein, so dass mehrere wechselseitig unvereinbare
Explikate koexistieren. Auch Carnap räumte diese Möglichkeit ein. Begründet
war das für ihn in der Tatsache, dass ein Explikat mehrere Anforderungen zugleich
erfüllen soll, die es nicht oder nicht vollständig erfüllen kann. Es stellt insofern stets
einen Kompromiss dar. Dabei können die Anforderungen aber unterschiedlich ge-
wichtet werden, wobei es insbesondere Gründe geben kann, die Anforderung der
Ähnlichkeit mit bestehenden Begriffen in einigen Kontexten (z. B. praxisnäheren)
höher zu gewichten als in anderen (z. B. wissenschaftlichen). Für den vorwissen-
schaftlichen Begriff „Fisch“ könnte es deshalb mehr als ein Explikat geben, je nach-
dem, welche Aufgaben dem Explikat innerhalb einer Theorie zugewiesen werden
und wieviel Nähe zum umgangssprachlichen Begriff wünschenswert scheint.18
Hinzu kommt, dass de facto in den zwanzig Jahren seit dem Erscheinen von Merkels
Artikel eine Reihe von prominenten Medizinethikern einer Pluralisierung des Todes-
begriffs das Wort geredet haben, so etwa Jeff McMahan einer Aufspaltung des To-
desbegriffs in einen mentalistischen und einen biologischen Todesbegriff,19 Alan
Shewmon einer Aufspaltung in zwei Begriffe („passing away“ und „deanimation“),
die verschiedene Zeitpunkte des Sterbeprozesses markieren.20 Robert Veatch ist so
weit gegangen, den Todesbegriff gänzlich zu relativieren und vorzuschlagen, die

18
Carnap, a.a.O., S. 6.
19
McMahan, Jeff, The ethics of killing. Problems at the margins of life. Oxford: Oxford
University Press 2002, S. 423.
20
Shewmon, D. Alan, Constructing the death elephant: A synthetic paradigm shift for the
definition, criteria, and tests for death. Journal of Medicine and Philosophy 35 (2010), S. 256 –
298, S. 276.
1026 Dieter Birnbacher

Grenzziehung zwischen Leben und Tod der Wahlentscheidung der Individuen zu


überlassen.21
Bei einem für die gesellschaftliche Kommunikation so grundlegenden Begriff wie
dem des Todes erscheint eine Vielfalt von koexistierenden Begriffen als unerwünsch-
tes Hindernis für eine problemlose Verständigung. Missverständnisse wären vorpro-
grammiert. Vollends im Recht wäre eine Pluralisierung von Begriffen – wie sie in
Deutschland gegenwärtig u. a. beim Begriff „Embryo“ besteht – wenig wünschens-
wert. Sie würde die Rechtsprechung für das allgemeine Publikum undurchsichtiger
machen, als sie es sein müsste, und tendenziell die Rechtssicherheit gefährden.
Der zweite Punkt betrifft die inhaltliche Seite von Merkels Anwendung des Ex-
plikationsverfahren und dabei insbesondere den Kompromisscharakter der Hirntod-
definition, den diese nach Merkel in anthropologischer Hinsicht aufweist. Er besteht
Merkel zufolge darin, dass diese Definition dem biologisch-somatischen wie dem
mentalen Aspekt des Menschen gerecht werden soll, dies aber nur dadurch vermag,
dass sie beide in ein prekäres Gleichgewicht bringt, in dem keines dieser „Grundele-
mente“ eindeutig dominiert:
„Weil die Hirntod-Definition … keines der beiden anthropologischen Grundelemente auf-
gibt, sondern durch wesentliche Aspekte miteinander verknüpft, expliziert sie den weitaus
vernünftigsten Todesbegriff“22

Merkel klärt den Leser allerdings nur unvollständig darüber auf, wie dieses
Gleichgewicht genauer beschaffen ist und welche „Schieflagen“ einerseits zuguns-
ten der biologischen, andererseits zugunsten der mentalen Seite zugelassen sein sol-
len, ohne das Gleichgewicht kippen zu lassen. Auf der einen Seite lässt Merkel kei-
nen Zweifel, dass ein Mensch mit einer so schwer geschädigten Hirnfunktion, dass er
nicht nur das Bewusstsein, sondern auch die Bewusstseinsfähigkeit irreversibel ein-
gebüßt hat, dessen zentrale Körperfunktionen wie Atmung und Blutkreislauf aber
weiterhin vom Stammhirn gesteuert werden, eindeutig als Lebender gelten muss.
Da es allerdings nicht auf den Zeitpunkt des Verlusts der Bewusstseinsfähigkeit an-
kommen kann, muss danach konsequenterweise auch ein anenzephaler Neugebore-
ner, soweit er von vornherein zu einem bewussten Erleben unfähig ist, als lebend gel-
ten. Es gäbe demnach auch in diesen Extremfällen Formen von menschlichem Leben,
in denen der mentale Aspekt entweder irreversibel verlorengegangen ist oder voll-
ständig fehlt. Das biologisch-mentale Gleichgewicht, das die Hirntoddefinition auf-
rechterhalten soll, wäre empfindlich gestört. Lässt sich überhaupt noch in einem ver-
tretbaren Sinn von Gleichgewicht sprechen?
Aber auch auf der mentalen Seite scheint Merkel Extremfälle zulassen zu wollen –
Fälle, in denen zwar das Bewusstseinsleben eines Menschen intakt ist, die das Be-
wusstsein ermöglichenden Hirnfunktionen jedoch ganz oder teilweise durch künst-

21
Veatch, Robert M./Ross, Lainie F., Defining death. The case for choice. Washington
D. C.: Georgetown U. P. 2016, S. 152.
22
Merkel, a.a.O., S. 118.
„Hirntod und kein Ende“ – nach zwanzig Jahren 1027

liche Aggregate ersetzt sind, so dass die das Bewusstseinsleben tragenden Körper-
funktionen nicht mehr von dem Organismus des Patienten selbst (in seiner ursprüng-
lichen Verfasstheit und ohne die künstlichen Hilfsmittel), sondern ganz oder teilwei-
se von einer „Hirnprothese“ (zusammen mit den Restfunktionen des Organismus)
aufrechterhalten werden. Ein solcher Mensch muss Merkel zufolge eindeutig als le-
bend aufgefasst werden, auch dann, wenn die Lebensfunktionen, von denen das Be-
wusstseinsleben abhängt, nicht aus sich selbst heraus funktionsfähig sind:
„Ein aus sich selbst nicht mehr zum systematischen Organismus integrierbarer Körper darf
dann und nur dann für tot erklärt werden, wenn es außerdem niemanden, kein noch so ru-
dimentär vorhandenes Subjekt mehr gibt, das dem Körper zugehört.“23

Aus dieser Bemerkung wird deutlich, weshalb Merkel der Meinung ist, dass die
Hirntoddefinition ein labiles Gleichgewicht markiert, das sehr viel weniger konse-
quent ist, als es sein könnte, allerdings dann sehr viel weniger der mit dem Todesbe-
griff verbundenen Intuitionen einfangen könnte:
„Der Hirntod-Begriff als Todesdefinition … formuliert … einen in mancher Hinsicht
schwierigen Kompromiß, der nicht ohne Abstriche an Konsequenz nach beiden Richtungen
zu haben ist.“24

Der Kompromisscharakter besteht genau darin, dass der Hirntodbegriff auf der
einen Seite die Grenze zwischen Leben und Tod rein biologisch bestimmt und
davon absieht, ob in einem von der Gattungszugehörigkeit her eindeutig menschli-
chen Organismus Bewusstsein oder Bewusstseinsfähigkeit realisiert ist, dass er auf
der anderen Seite aber der Intuition gerecht werden muss, dass ein Organismus, der
der Organismus eines bewusstseinsfähigen Subjekts ist, nicht tot sein kann. Danach
setzt Bewusstsein und Bewusstseinsfähigkeit grundsätzlich Lebendigkeit voraus,
auch dann, wenn diese von externen Aggregaten abhängt – als Prothesen, die ausge-
fallene Funktionen ersetzen, oder als Cyborg-ähnliche Erweiterungen, die den Orga-
nismus mit zusätzlichen Funktionen ausstatten. Auf der einen Seite – im Fall des
anenzephalen Säuglings – soll die Antwort auf die Frage, ob es sich bei einem ge-
gebenen Organismus um einen lebenden oder toten handelt, gänzlich unabhängig
von dem Vorhandensein der Fähigkeit zu bewusstem Erleben sein. Auf der anderen
– im Fall des Cyborgs – soll die Antwort ausschließlich von dem Vorhandensein die-
ser Fähigkeit abhängen. Wie immer heikel die damit vollführte begriffliche Gratwan-
derung, in beiden Extremfällen steht die Antwort, die die Hirntoddefinition (sofern
man sie so versteht, wie Merkel sie verstehen will) im Einklang mit unseren vortheo-
retischen Intuitionen: Ein anenzephaler Säugling ist ebenso wenig tot wie ein Patient,
der aufgrund seiner Erkrankung auf ein Beatmungsgerät oder auf einen Herzschritt-
macher zur Lebenserhaltung angewiesen ist. Einerseits wäre es inakzeptabel, einen
Menschen als einen Toten zu betrachten, nur, weil er dauerhaft oder irreversibel be-
wusstseinsunfähig ist. Auf der anderen Seite wäre es ebenso inakzeptabel, einen

23
Merkel, a.a.O., S. 118.
24
Merkel, a.a.O., S. 118.
1028 Dieter Birnbacher

Menschen als einen Toten zu betrachten, nur weil sein Organismus ohne externe Un-
terstützung nicht lebensfähig ist.25 Das Problem liegt darin, dass der jeweiligen An-
wendung der Hirntoddefinition unterschiedliche Begründungen zugrunde gelegt
werden. Im ersten Fall liegt der Anwendung der Hirntoddefinition ein Autonomie-
kriterium zugrunde: Auch der Organismus des Anenzephalen ist dank der erhaltenen
Funktionsfähigkeit einiger Hirnfunktionen noch „aus sich selbst … zum systemati-
schen Organismus integrierbar“. Im zweiten Fall liegt der Anwendung der Hirntod-
definition ein Bewusstseinskriterium zugrunde: Auch wenn der Organismus des Cy-
borgs nicht die Bedingungen erfüllt, „aus sich selbst … zum systematischen Orga-
nismus integrierbar“ zu sein, lebt er dennoch, solange die Bewusstseinsfähigkeit er-
halten ist, auch wenn diese wesentlich von künstlichen Aggregaten abhängt.26
An dieser Stelle stellt sich die naheliegende Frage: Wenn die Aufrechterhaltung
des Bewusstseinslebens (und möglicherweise sogar der bloßen Bewusstseinsfähig-
keit) eines Menschen mithilfe künstlicher Aggregate hinreichend ist, von einem le-
benden Menschen zu sprechen, warum ist dann nicht die Aufrechterhaltung der Kör-
perfunktionen mithilfe künstlicher Aggregate, wie im Fall der Beatmung durch ein
Beatmungsgerät, ebenso hinreichend? Wenn Hirnfunktionen durch technischen Er-
satz gesteuert werden können, ohne das Leben zu gefährden, wieso reicht dazu nicht
ebenfalls die Ersetzung der Atem- und Kreislauffunktion durch das Beatmungsgerät?
Worin liegt die Berechtigung, dem Gehirn eine so überragende Sonderstellung ein-
zuräumen, dass die Stimulierung von Gehirnfunktionen durch ein künstliches Aggre-
gat im ersten Fall als ein Fall von Leben, die Stimulierung von Körperfunktionen
durch ein künstliches Aggregat im zweiten Fall als ein Fall von Nicht-Leben gilt?

VI. Woher die Sonderstellung des Gehirns?


Die zwei Begründungsansätze, mit denen am häufigsten für die Sonderstellung
des Gehirns für die Lebens- und damit auch die Todesdefinition argumentiert
wird, sind einerseits der Integrations-, andererseits der Autonomieansatz. Nach
dem Integrationsansatz besteht die Sonderstellung des Gehirns darin, dass es als ein-
ziges Körperorgan in der Lage ist, die Körperfunktionen zu einer Ganzheit zu inte-
grieren und systematisch aufeinander abzustimmen. Seine herausgehobene Stellung
ist die des zentralen Kontrollraums, in dem die Fäden – die Impulse des zentralen
Nervensystems – zusammenlaufen und von wo aus der Organismus die für die Ko-

25
Vgl. Deutscher Ethikrat, 2015, 92 f.
26
Vorausgesetzt ist dabei, dass es sich um die Abhängigkeit von einer dauerhaften und
kontinuierlichen Funktion dieser Aggregate handelt und diese nicht nur dazu eingesetzt wer-
den, die Bewusstseinsfähigkeit, nachdem sie einmal verlorengegangen ist, wiederherzustellen.
Soweit eine künstliche Wiederherstellung der Funktion von Hirnzellen gelingen sollte, wie sie
nach einer Meldung der New York Times vom 17. 4. 2019 bei Schweinen gelungen zu sein
scheint, handelte es sich nicht um eine dauerhafte Abhängigkeit, sondern um eine Form von
Reanimation.
„Hirntod und kein Ende“ – nach zwanzig Jahren 1029

ordination und Kooperation der Teilsysteme erforderlichen Steuerungsbefehle er-


hält.
Dieser Begründungsansatz ist zu Recht umstritten, nicht zuletzt, weil er mit dem
Verweis auf „Integration“ und „Ganzheit“ auf nur unzureichend geklärte Begriffe zu-
rückgreift. Dass ein Organismus ohne funktionierendes Gehirn keine vollständige
Ganzheit sein kann, scheint einerseits bereits analytisch zu folgen, da man von
einem Körper ohne Gehirn – zumindest bei einem Säugetier – kaum sagen wollen
wird, dass es ein vollständiges Ganzes ist. Andererseits weist auch ein beatmeter
Hirntoter eine große Zahl von hochgradig integrierten Systemen auf, u. a. die im Rü-
ckenmark verschalteten Reflexe, die regelmäßig für Irritationen sorgen.27 Es er-
scheint in der Tat mehr oder weniger offensichtlich, dass die komplexen Körperfunk-
tionen, die bei Hirntoten aufrechterhalten bleiben, etwa der Blutkreislauf oder die
Verdauung nicht ohne eine zielgerichtete Kooperation und Koordination zwischen
jeweils verschiedenen körperlichen Mechanismen denkbar ist, die auf eine Integra-
tion unterschiedlicher Körperfunktionen unabhängig von allen Gehirnfunktionen
hinweisen. Wie anders sollte es etwa möglich sein, dass ein Hirntoter das so genannte
Lazarus-Zeichen zeigt, bei dem ein hirntoter Patient bei Berührung seine Hände aus-
streckt und seinen Oberkörper anhebt, wenn nicht jedes Mal eine Vielzahl von Kör-
perfunktionen koordiniert und integriert werden, darunter unbewusste Wahrneh-
mung, Bewegungsimpulse und Muskelanspannung. Es scheint jedenfalls eine offene
Frage, ob sich die für das Gehirn behauptete Fähigkeit zur Integration der Körper-
funktionen in eine Ganzheit von der Integration von Teilsystemen des Organismus
bei Hirntoten unter externer Beatmung hinreichend präzise abgrenzen lässt, um zu
begründen, dass im ersten Fall ein Mensch lebt und im zweiten nicht.
Vielversprechender erscheint der zweite Ansatz zur Begründung der Hirntodde-
finition: der Verweis auf die Fähigkeit des lebenden Organismus und die Unfähigkeit
des toten, eigenständig auf die Umwelt einzuwirken. Beim Hirntoten finden zwar
weiterhin Reaktionen auf aus der Umwelt kommende Reize statt, nicht zuletzt die
Reaktion, auf die Impulse eines Beatmungsgeräts mit Atembewegungen zu antwor-
ten. Aber die damit erfolgende Aktion ist nicht mehr als eine Reaktion, keine Aktion,
die der Organismus des Hirntoten selbst erbringt. Nicht nur fehlt es – trivialerweise –
an einer bewussten Intention, es fehlt auch an einem aus dem Organismus selbst kom-
menden zielgerichteten Verhalten. Das ausschlaggebende Merkmal des Lebens ist
nach diesem Ansatz die Fähigkeit, das eigene Leben autonom aufrechtzuerhalten.
Diese fehlt beim Hirntoten. Auch die beim Hirntoten verbleibende Integration von
Körperfunktionen ist keine, die der Organismus selbst, aus eigener Kraft, leistet.
Sie ist abhängig von einem externen Impulsgeber.28 Dabei ist es gleichgültig, ob die-
ser räumlich wortwörtlich „von außen“, also von außerhalb der Körpergrenzen auf
27
Vgl. Truog, Robert D./Robinson, Walter M., Role of brain death and the dead-donor rule
in the ethics of organ transplantation. Critical Care Medicine 31 (2003), S. 2391 – 2396,
S. 2392.
28
Vgl. Condic, Maureen L., Determination of death: a scientific perspective on biological
integration. Journal of Medicine and Philosophy 41 (2016), S. 257 – 278, S. 257 ff.
1030 Dieter Birnbacher

den Organismus einwirkt. Es kommt nicht darauf an, ob die Körperfunktionen bei
einem Patienten, dessen Organismus die Fähigkeit irreversibel verloren hat, diese ei-
genständig aufrechtzuerhalten, durch ein außerhalb seines Körpers liegendes Aggre-
gat aufrechterhalten werden oder durch ein in seinen Körper implantiertes Aggregat
mit derselben Funktion. Das „externe“Agens muss auch nicht notwendig „künstlich“
sein, also keine Maschine oder Apparatur und nicht einmal ein anderweitiges Produkt
menschlicher Kunst, etwa ein bestimmtes Arzneimittel. Es kann auch ein natürlich
vorkommendes, aber dem Organismus fremdes Mittel sein, das dasselbe bewirkt.
Entscheidend ist lediglich, dass es nicht aus dem Organismus selbst stammt, sondern
ihm zusätzlich zugeführt wird. Konfrontiert mit der Science-Fiction-Vision eines
Computers, der fähig wären, nach irreversiblem Funktionsausfall des Gesamtgehirns
die vegetativen Steuerungsfunktionen des Gehirns vollständig zu ersetzen und den
Körper wie einen lebendigen Menschen agieren zu lassen, würde ein Vertreter dieses
Ansatzes verneinen müssen, dass der betreffende Mensch lebt. In einem Fall wie die-
sem wird die Integrationsleistung in keiner Weise mehr von dem Menschen oder sei-
nem Organismus selbst erbracht. Wenn es bei der Grenzziehung zwischen Leben und
Tod darauf ankommt, ob der Organismus fähig ist, die Steuerung seiner Körperfunk-
tionen „aus eigener Kraft“ zu leisten, ist ein Mensch auch dann tot, wenn nicht nur die
Integration einzelner seiner Körperfunktionen, sondern selbst die Integration der
Körperfunktionen „zu einem Ganzen“ aufrechterhalten bleiben, aber nicht mehr
von ihm selbst. Die Sonderstellung des Gehirns beruhte darauf, dass unter Realbe-
dingungen allein ein funktionsfähiges Gehirn ein auf die Umwelt gerichtetes Verhal-
ten ermöglicht.
Beide Begründungsansätze für die Sonderstellung des Gehirns sind mit Proble-
men behaftet. Der Integrations-Ansatz ist mit der Schwierigkeit konfrontiert, die be-
hauptete Integration der Körperfunktionen zu einer Ganzheit, die das Leben vom Tod
unterscheiden soll, gegen die Integrationsleistungen beim beatmeten Hirntoten ab-
zugrenzen. Der Autonomie-Ansatz andererseits ist mit der Schwierigkeit konfron-
tiert, dass er mit Ausnahmeklauseln versehen werden muss, um die Selbstverständ-
lichkeit einzufangen, dass bewusstseinsfähige Menschen, deren Leben von externen
Impulsgebern (wie Herzschrittmachern) abhängt, trotz dieser Autonomie-Lücke
nicht als tot gelten. Schließlich kann die Autonomie des Organismus nicht nur
durch einen Funktionsverlust des Gehirns, sondern auch durch anderweitige Störun-
gen eingeschränkt sein.
Aus guten Gründen, so scheint es, hat bereits Carnap die Anforderung der Ein-
fachheit an Explikationen nur sekundäre Bedeutung beigemessen. Auch für die
Grenze zwischen Leben und Tod scheint sich zwar eine klare und operationalisier-
bare, aber alles andere als einfache Grenze ziehen zu lassen. Das ist zumindest ein
Grund, weswegen auch heute die Hirntod-Debatte nicht ad acta gelegt werden kann.
Menschenwürde und Sterbehilfe
Von Dietmar von der Pfordten

I. Einleitung
Am 27. Oktober 1997 verabschiedete das Parlament des US-Bundesstaats Oregon
den sog. „Death with Dignity Act“, welcher es Kranken im Endstadium ihrer Krank-
heit erlaubt, ihr Leben durch die eigene, freiwillige Einnahme tödlicher Substanzen,
welche durch einen Arzt verschrieben wurden, zu beenden, sofern ein anderer Arzt
das Vorliegen dieser Voraussetzungen bestätigt.1 Erlaubt ist also nicht die aktive Ster-
behilfe, denn der Arzt darf zwar anwesend sein, die tödliche Substanz aber – anders
als in den Niederlanden und Belgien – nicht selbst injizieren oder auf sonstige Weise
verabreichen. Erlaubt ist nach diesem Gesetz somit nur die Beihilfe zum Suizid. Al-
lerdings wurde mit dieser Gesetzgebung des Staates Oregon die Würde mit der Ster-
behilfe in Verbindung gebracht. Die Beihilfe zum Suizid soll offenbar ein würdevol-
les Sterben ermöglichen, woraus man den Umkehrschluss ziehen kann, dass das Par-
lament von Oregon ein Sterben ohne derartige Beihilfe zum Suizid in bestimmten
sehr leidvollen Konstellationen nicht oder zumindest nicht im gleichen Maße als
würdevoll ansieht. Ist diese Auffassung begründet?
Die Tötung des Sterbenden durch Andere auf dessen Verlangen (sog. „aktive Ster-
behilfe“) ist gemäß §§ 212, 216 StGB in Deutschland strafbar und wird von vielen
auch als ethisch und moralisch verboten angesehen. Dagegen ist die Beihilfe zum
Suizid (sog. „assistierte Sterbehilfe“) in Deutschland straflos, sofern sie nicht ge-
schäftsmäßig erfolgt (§ 217 StGB). Die ethische Beurteilung ist uneinheitlicher.2
Der Jubilar hat zur Rechtfertigung der aktiven Sterbehilfe für die Annahme eines
Notstands nach § 34 StGB plädiert, weil das Interesse des Patienten an der Schmerz-
linderung dasjenige am Leben überwiegen könne, sofern er selbst eine solche Bewer-
tung vornehme.3 Die Rechtsprechung und die weit überwiegende Literatur sind dem
jedoch nicht gefolgt und halten die Tötung des Sterbenden trotz seines Verlangens

1
Vgl. https://www.oregon.gov/oha/PH/ProviderPartnerResources/Evaluationresearch/death
withdignityact/Pages/index.aspx. Mittlerweile haben einschließlich des Districts of Columbia
neun US-Bundesstaaten vergleichbare Regelungen.
2
Anne und Nikolaus Schneider, Vom Leben und Sterben.
3
Reinhard Merkel, Teilnahme am Suizid. Tötung auf Verlangen. Euthanasie. Fragen an die
Strafrechtsdogmatik, S. 93; Reinhard Merkel, Früheuthanasie, S. 528 ff.
1032 Dietmar von der Pfordten

nach wie vor für nicht nach § 34 StGB gerechtfertigt.4 Die strafrechtlichen Argumen-
te für und wider können hier nicht erörtert werden. Die Anwendung des § 34 StGB
und damit der Übergang zur Legalisierung der aktiven Sterbehilfe in Deutschland mit
der notwendigen Folge ihrer Organisation in Krankenhäusern und Hospizen würde
allerdings eine so gravierende gesellschaftliche Veränderung darstellen, dass man sie
keinesfalls einer Rechtsprechungskorrektur durch die Obergerichte überlassen dürf-
te.5 Aus demokratietheoretischen Gründen würde sie in jedem Fall eine breite gesell-
schaftliche Diskussion und eine Änderung des Strafgesetzbuches durch das Parla-
ment erfordern. Jenseits der Frage der Anwendbarkeit des § 34 StGB plädieren man-
che für eine derartige gesetzliche Aufhebung oder zumindest Einschränkung der
Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen nach § 216 StGB.6 Für die Aufrechterhaltung
des § 216 StGB auch für Sterbenskranke oder seine Aufhebung bzw. Einschränkung
werden eine Vielzahl von Gründen und Gegengründen geltend gemacht.7 Nachfol-
gend soll nur ein einziger Typ von Gründen in dieser Debatte um die rechtliche
und ethische Beurteilung der aktiven Sterbehilfe untersucht werden, nämlich der
Typ von Gründen, welcher sich auf die Menschenwürde stützt. Die Frage lautet
also, welche Folgerung sich aus der rechtlich und von der weit überwiegenden Mehr-
heit der Menschen auch moralisch und ethisch anerkannten Würde des Menschen für
die ethische und dann auch rechtliche Qualifikation der Tötung auf Verlangen des
Sterbenden bzw. die aktive Sterbehilfe ergibt.8 Gebietet die Menschenwürde bzw.
die Verpflichtung zu Achtung und Schutz der Menschenwürde eine Freigabe der ak-
tiven Sterbehilfe oder verbietet sie diese nicht vielmehr? Sekundär wird dann auch
auf die Beihilfe zum Suizid eingegangen. Dabei kann hier angesichts des beschränk-
ten Platzes kein Überblick über das mittlerweile unübersehbare Schrifttum gegeben
werden. Vielmehr soll im Ausgang vom Begriff der Menschenwürde nur eine kurze
systematische Überlegung entfaltet werden: Zunächst wird erläutert, was unter Men-
schenwürde zu verstehen ist (II.). Dann wird gefragt, was daraus für die ethische Be-
urteilung der Tötung auf Verlangen des Sterbenden und der Beilhilfe zum Suizid
folgt (III.).

4
Volker Erb, in: Münchner Kommentar zum Strafgesetzbuch, § 34, Rn. 112 ff.; Claus
Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 16 A III 1. b), S. 737 ff.
5
Dieser Einwand trifft auch die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zur Zu-
gänglichmachung von Substanzen, welche in extremen Notsituationen Sterbenskranken eine
Selbsttötung ermöglichen sollen: BVerwG Urteil vom 3. März 2017 – 3 C 19.15.
6
Norbert Hoerster, Sterbehilfe im säkularen Staat; Brian Stoffel, Voluntary Euthanasia,
Suicide and Physician-assisted Suicide.
7
Gegen die Sterbehilfe etwa: Tom Koch, Living Versus Dying with Dignity: A new Per-
spective on the Euthanasia Debate.
8
Die rechtliche Verpflichtung zur Achtung der Menschenwürde ergibt sich in Deutschland
aus Art. 1 I GG, in Europa aus Art. 1 der EU-Grundrechtecharta. Vereinzelte Fundamental-
kritik an der Menschenwürde findet sich in der Philosophie etwa bei Rüdiger Bittner, Ab-
schied von der Menschenwürde, oder Achim Lohmar, Falsches moralisches Bewusstsein. Eine
Kritik der Idee der Menschenwürde.
Menschenwürde und Sterbehilfe 1033

II. Die verschiedenen Teilbegriffe der Menschenwürde


Man muss zwischen wenigstens vier (Teil-)Begriffen der Menschenwürde unter-
scheiden: einer „großen“, einer „kleinen“, einer „mittleren“ und einer „ökonomi-
schen“ Würde.9
(1) Bei der großen Menschenwürde handelt es sich um eine nichtkörperliche, inne-
re, im Kern unveränderliche, notwendige, gleiche und allgemeine Eigenschaft
des Menschen, wie sie in einer ersten, noch wenig reflektierten Form bei Cicero
auftauchte,10 vor allem vom Christentum entwickelt und dann nach ersten An-
sätzen in der italienischen Renaissance insbesondere von Kant als Selbstgesetz-
gebung bzw. Selbstbestimmung konkretisiert wurde. Diese große Menschenwür-
de lässt sich – so der gleich noch näher darzustellende Vorschlag – am besten als
Selbstbestimmung über die eigenen Belange verstehen.
(2) Mit der kleinen Menschenwürde ist dagegen die nichtkörperliche, äußere, ver-
änderliche Eigenschaft der wesentlichen sozialen Stellung und Leistung eines
Menschen gemeint, wie sie auf eine herausgehobene soziale Position einge-
schränkt bereits mit dem lateinischen Ausdruck dignitas bezeichnet wurde.11
(3) Als Grenzfall der kleinen Würde kennt man seit Samuel von Pufendorf im
17. Jahrhundert noch eine Art mittlere Würde.12 Auch sie bezieht sich auf die
äußere Eigenschaft der wesentlichen sozialen Stellung der Menschen, betont
aber die natürliche und damit im Prinzip unveränderliche Gleichheit dieser so-
zialen Stellung aller Menschen.
(4) Schließlich forderten im 19. Jahrhundert insbesondere Vertreter der sozialisti-
schen Bewegung ein „menschenwürdiges Dasein“. Damit wurde die Verwirkli-
chung ökonomischer bzw. materieller Voraussetzungen der Menschenwürde
verlangt. Man kann insofern abkürzend von einer „ökonomischen“ Würde spre-
chen, genauer von einer „ökonomischen Würdebedingung“.
Weder die Tötung auf Verlangen des Sterbenden noch deren Verweigerung negie-
ren im Normalfall dessen grundsätzlich gleiche soziale Stellung als Mensch in der
Gesellschaft. Bettlägerigkeit, Wachkoma, Bewusstlosigkeit usw. ändern nichts an
der gleichen sozialen Wertigkeit des Menschen. Der Sterbende wird weder durch sei-
nen Zustand noch durch andere gedemütigt oder erniedrigt. Und es werden ihm auch
nicht die materiellen Voraussetzungen der großen, kleinen oder mittleren Menschen-
würde vorenthalten. Die Teilbegriffe (2) bis (4) der Menschenwürde, also die Begrif-
fe der Achtung der gleichen sozialen Wertigkeit und der Sicherung der materiellen
9
Vgl. zum Folgenden die ausführlichere Darstellung in: Verf., Menschenwürde, S. 8 ff.
10
Cicero, De Officiis, 105 f.
11
Vgl. etwa Tatjana Hörnle, Menschenwürde als Freiheit von Demütigungen; Avishai
Margalit: The Decent Society; wohl auch Gunnar Duttge, Menschenwürdiges Sterben,
S. 355.
12
Samuel von Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers, Kap. 7, §§ 1, 4;
m.w.N.: Verf., Menschenwürde, S. 29 ff.
1034 Dietmar von der Pfordten

Voraussetzungen der Menschenwürde scheiden also zur Beurteilung der Tötung auf
Verlangen des Sterbenden durch andere aus. Übrig bleibt nur der Teilbegriff (1) der
Menschenwürde, also die nichtkörperliche, innere, im Kern unveränderliche, not-
wendige, gleiche und allgemeine Eigenschaft der Selbstbestimmung des Menschen.
Sie muss zunächst weiter erklärt werden:
Die wesentlichen inneren Eigenschaften des Menschen, welche sowohl tatsäch-
lich bestehen als auch normative Kraft entfalten können sind seine Strebungen, Be-
dürfnisse, Wünsche und Ziele.13 Diese vier Eigenschaften stehen in einem Kontinuum
bzw. einer Reihe von Abstufungen zwischen körperlicher und mentaler Bestimmt-
heit: Strebungen sind rein vegetativ-körperlich fundierte und orientierte Eigenschaf-
ten, die der Aufrechterhaltung der körperlichen Einheit jenseits der bloßen Wirkung
der physikalischen Grundkräfte dienen. Bedürfnisse haben häufig eine körperliche
Basis, sind aber geistig beeinflussbar, etwa im Hinblick auf den Zeitpunkt und
den Umfang ihrer Befriedigung. Wünsche haben gelegentlich auch eine körperliche,
primär aber eine geistige Komponente. Die geistige Komponente kann sich anders als
bei Bedürfnissen vollständig durchsetzen, also die Befriedigung des Wunsches gänz-
lich verändern oder sogar ganz verhindern. Ziele (Absichten) sind schließlich rein
mentale Eigenschaften, etwa das Verfassen eines Buches oder das Erreichen einer
beruflichen Stellung. Die vier normativ-ethisch relevanten Begriffe der Strebungen,
Bedürfnisse, Wünsche und Ziele lassen sich mit den abstrakteren Begriffen der Be-
lange bzw. Interessen zusammenfassen. Diese Belange bzw. Interessen schützen die
Menschenrechte, wie sie seit dem 18. Jahrhundert in den klassischen Menschen-
rechtserklärungen und dann in vielen Verfassungen und internationalen Verträgen
statuiert wurden: das Recht auf Leben, auf körperliche und psychische Unversehrt-
heit, auf Freiheit der Handlung, Bewegung, Religion, Meinung usw. Sind diese Be-
lange aber schon durch die klassischen Menschenrechte gesichert, dann stellt sich die
zentrale Frage: Worin kann dann noch die Menschenwürde bestehen? Die Men-
schenwürde ist spät zum Bewusstsein gelangt und spät statuiert worden, weil sie
kein einfacher, primärer Belang des Menschen, wie sein Interesse an Leben, Leib,
Psyche, Freiheit der Handlung, Bewegung, Religion, Meinung, Eigentum etc. ist.
Man muss sich vor Augen führen, dass wir sekundäre Wünsche und Ziele mit
Bezug auf primäre Belange haben. Wir können also etwa den sekundären Wunsch
fassen, das primäre Bedürfnis nach Sport oder den primären Wunsch nach schöner
Musik zu entfalten.14 Wünsche und Ziele sind also im Gegensatz zu Bedürfnissen und
Strebungen aufeinander beziehbar bzw. iterierbar, das heißt mögliche Eigenschaften
zweiter und höherer Ordnung gegenüber primären Strebungen, Bedürfnissen, Wün-
schen und Zielen, also anderen normativ relevanten Eigenschaften primärer bzw. nie-
derer Ordnung. Ein wesentlicher Aspekt menschlicher Personalität und Individuali-
tät besteht gerade darin, eine solche, vernunft- und gefühlsmäßig gut begründete
13
Verf., Normative Ethik, S. 50 ff.
14
Zu derart sekundären Bezugnahmen, allerdings beschränkt auf Wünsche und ohne
Qualifikation als Menschenwürde: Harry Frankfurt, Freedom of the Will and the Concept of a
Person.
Menschenwürde und Sterbehilfe 1035

Rangordnung der eigenen Belange zu entwickeln und in einzelnen Entscheidungs-


situationen anzuwenden. Die mit der Eingangsfrage gesuchte weitere Konkretisie-
rung der großen Menschenwürde als Selbstbestimmung ist damit gefunden: Die in-
nere, unveränderliche Eigenschaft der großen Menschenwürde ist die Eigenschaft
der tatsächlichen oder wenigstens potentiellen Selbstbestimmung über die eigenen
Belange, das heißt die Bestimmung der eigenen Belange primärer bzw. niederer
Stufe durch die Wünsche und Ziele zweiter bzw. höherer Stufe.
Die Auffassung der Menschenwürde als Selbstbestimmung über die eigenen Be-
lange erster bzw. niederer Stufe passt gut zur häufigen – wenn auch textinterpreta-
torisch zum Zeitpunkt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten nicht gerechtfer-
tigten15 – Identifikation des Menschenwürdebegriffs mit dem Verbot der ausschließ-
lichen Instrumentalisierung des Menschen in Kants zweiter Formel des Kategori-
schen Imperativs. Fragt man sich, was es überhaupt bedeuten kann, den anderen
nicht nur als Mittel zu gebrauchen, so genügt es nicht, einzelne Belange erster
Stufe zu berücksichtigen. Werden die Wünsche und Ziele hinsichtlich eigener Belan-
ge, also die normativen Eigenschaften zweiter bzw. höherer Stufe negiert, dann im-
pliziert das auch eine Entwertung aller Belange erster bzw. niederer Stufe. Darf je-
mand nicht einmal mehr über seine Wünsche und Ziele bezüglich seiner eigenen Be-
lange entscheiden, dann sind auch alle Belange erster Stufe als eigenständige Inter-
essen entwertet. Auf diese Weise wird verständlich, wie ein Anderer vollständig oder
zumindest weitgehend instrumentalisiert werden kann, ohne dass es sich nur um die
allgemeine ethische Anforderung handelt, andere überhaupt als ethisch relevante
Wesen mit eigenen Belangen zu respektieren.
Die Menschenwürde als Selbstbestimmung über die eigenen Belange darf aller-
dings nicht als aktuell notwendige Leistung des Menschenwürdeträgers verstanden
werden. Sie kennzeichnet die Gattung Mensch. Deshalb wird sie auch schon vor ihrer
Ausprägung als aktuelle Eigenschaft im Hinblick auf ihre zukünftige Entfaltung bei
einzelnen Menschen geschützt und kann in ihrer Schutzdimension auch nicht verlo-
ren gehen, wenn ein Mensch krank, bewusstlos oder komatös wird.16 Der sterbende
Mensch ist also in jedem Stadium des Sterbeprozesses uneingeschränkt in seiner
Menschenwürde geschützt.
Um die große Menschenwürde als Selbstbestimmung über die eigenen Belange
besser zu verstehen, seien die Folter, Sklaverei, Zwangsarbeit und lebenslangen Frei-
heitsstrafe als paradigmatische Fälle erläutert:
(1) Das Besondere der Folter liegt in der zweckgerichteten Verbindung des physi-
schen oder psychischen Leids mit der Willensbrechung des Gefolterten. Die na-
türliche Fähigkeit, durch Wünsche und Ziele zweiter Stufe über die eigenen pri-
mären körperlichen Strebungen und körperlichen und seelischen Bedürfnisse
und Wünsche zu entscheiden, wird stark reduziert.

15
Verf., Zur Würde des Menschen bei Kant.
16
Vgl. Verf., Menschenwürde, S. 81 ff.
1036 Dietmar von der Pfordten

(2) Bei der Sklaverei wird der Versklavte vollständig vom Sklavenhalter fremdbe-
stimmt. Diese Fremdbestimmung beherrscht nicht nur zentrale Belange erster
Stufe, wie den Körper des Sklaven, seine Tätigkeit usw., sondern auch wesent-
liche Belange zweiter und höherer Stufe, etwa seinen Willen, einen Wunsch
nach Freiheit und selbstbestimmter Arbeit zu bilden. Die Ausprägung eigenstän-
diger Belange zweiter Stufe ist für den Sklaven sinnlos, da seine Belange erster
Stufe praktisch vollständig vom Sklavenhalter determiniert werden.
(3) Bei der Zwangsarbeit handelt es sich um eine Art beschränkter Sklaverei, die mit
der Arbeit einen wesentlichen Lebensbereich des Menschen umfasst. Der
Zwangsarbeiter kann nicht mehr selbstbestimmt entscheiden, welche Bedürfnis-
se, Wünsche und Ziele er mit seiner Arbeit befriedigen bzw. erreichen will.
(4) Die lebenslange Freiheitsstrafe ohne Chance jemals wieder freizukommen äh-
nelt der Sklaverei oder Zwangsarbeit. Die primären Belange des Eingesperrten
sind stark eingeschränkt, so dass es für ihn wenig sinnvoll ist, Belange zweiter
Stufe zu entfalten.17
Wichtig ist zu betonen, dass die Menschenwürde nicht mit der allgemeinen
Selbstbestimmung bzw. Autonomie als solche gleichzusetzen ist.18 Würde man so
weit in der Bestimmung der Menschenwürde gehen, so wäre jede Einschränkung
der Autonomie eines Menschen, welche im Alter regelmäßig eintritt, schon eine Ver-
letzung oder zumindest Einschränkung der Menschenwürde.

III. Folgerungen für die Beurteilung der Tötung auf Verlangen


und der Beihilfe zum Suizid?
Zunächst gilt es zu betonen, dass der schwer Kranke bzw. Sterbende bis an sein
Lebensende den Schutz seiner Menschenwürde in vollem Umfang genießt. Auch
prekäre Zustände wie Bewusstlosigkeit oder Koma nehmen ihm diesen Schutz
nicht, weil seine eigene Leistung für diesen Schutz ja nicht notwendig ist. Die
oben erwähnten paradigmatischen Verletzungen der Folter, Sklaverei, Zwangsarbeit
und lebenslangen Freiheitsstrafe tasten die Menschenwürde zwar an bzw. schränken
sie ein, aber der Folterer oder Sklavenhalter kann dem Gefolterten oder Sklaven seine
große Menschenwürde nicht nehmen. Allerdings sollte man sich vor Augen führen,
dass alle paradigmatischen Verletzungen der Menschenwürde durch Andere gesche-
hen. Folter, Sklaverei, Zwangsarbeit und lebenslange Freiheitsstrafe beruhen auf
dem Handeln Anderer. Es ist kein allgemein anerkannter Fall bekannt, wo der Träger
der Menschenwürde selbst seine Würde verletzt. Man müsste hierzu wie Kant und

17
Vgl. Verf., Menschenwürde, S. 112.
18
Diese Tendenz findet sich nicht selten in der Literatur, etwa bei Katharina Woellert/
Heinz-Peter Schmiedebach, Sterbehilfe, S. 42 ff.
Menschenwürde und Sterbehilfe 1037

manche seiner Vorgänger Pflichten gegen sich selbst annehmen,19 was in einem star-
ken, ethisch-moralischen Sinn dieser Pflichten säkular nur schwer zu begründen ist.
Im Hinblick auf den Sterbenden lassen sich zwei grundsätzlich zu unterscheiden-
de Typen der Einschränkung bzw. Verletzung der Menschenwürde ins Auge fassen.20
Der eine Typ der Verletzung könnte in der ärztlichen Tätigkeit liegen, etwa in der
intensivmedizinischen Krankenbehandlung mittels einer Vielzahl von Apparaten.
Die Frage lautet also, ob der heute immer weiter zunehmende Einsatz der Appara-
temedizin am Lebensende die Menschenwürde des Patienten verletzen kann. Der an-
dere Typ der Verletzung könnte im Zustand des Kranken selbst bestehen, also dem
möglichen Zustand der dauernden Bettlägerigkeit, der Unbeweglichkeit, der Läh-
mung, der Bewusstlosigkeit, des Wachkomas, der starken Schmerzen, der Abnahme
der Fähigkeit zu seiner Selbstbestimmung, der Ausweglosigkeit seiner Lage, der
Hoffnungslosigkeit im Hinblick auf seine Zukunft usw. Beide Typen einer möglichen
Verletzung hängen nur insofern faktisch zusammen, als die intensivmedizinische Be-
handlung erst beim Schwerkranken notwendig wird, dann aber die Dauer seines
möglicherweise menschenunwürdigen Zustands der Einschränkung seiner Selbstbe-
stimmung über die eigenen Belange verlängert. Wie sind beide Gesichtspunkte zu
beurteilen?

1. Die medizinische Behandlung

Anders als Folter, Sklaverei, Zwangsarbeit oder lebenslange Gefängnisstrafe ge-


schieht die medizinische Heilbehandlung per definitionem nicht mit dem Ziel, dem
Patienten ein Übel zuzufügen, sondern um ihm Heilung oder Schmerzlinderung zu
ermöglichen, also mit dem Ziel eines Gutes. Der Patient soll durch die ärztliche Be-
handlung von seiner Krankheit geheilt oder zumindest sein Gesundheitszustand so
weit als möglich gebessert werden. Insofern kann man schon nicht von einer „Ver-
letzung“ sprechen. Zur Heilbehandlung können allerdings Maßnahmen erforderlich
werden, welche die tatsächliche Selbstbestimmung des Patienten für eine gewisse,
wenn auch kurze Zeit aufheben, etwa eine Narkose oder die Versetzung in ein künst-
liches Koma. Die Selbstbestimmung kann auch durch Schläuche, Kanülen und Ap-
parate eingeschränkt werden. Damit ist für eine gewisse Dauer auch die faktische
Selbstbestimmung des Patienten über die eigenen Belange aufgehoben oder massiv
beschnitten. Allerdings ist diese Zeit anders als bei der Folter, Sklaverei, Zwangsar-
beit und lebenslangen Freiheitsstrafe von vornherein eng begrenzt und vom Kranken
nach Mitteilung durch den Arzt regelmäßig vernünftig überschaubar, also quantitativ
einigermaßen vorhersehbar. Schließlich ist es zwingend erforderlich, dass der Patient
oder ein gesetzlicher Vertreter einwilligt, und zwar nach hinreichender Aufklärung
durch den Arzt. Ansonsten handelt es sich nicht um eine medizinische Behandlung,

19
Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, S. 417 ff.
20
Dies wird häufig nicht beachtet, etwa in Katharina Woellert/Heinz-Peter Schmiedebach,
Sterbehilfe, S. 42 ff.
1038 Dietmar von der Pfordten

sondern um eine Körperverletzung. Wenigstens drei Faktoren unterscheiden die me-


dizinische Heilbehandlung also von den paradigmatischen Menschenwürdeverlet-
zungen: (1) die regelmäßige Intention des Guten beim Arzt im Gegensatz zur Inten-
tion eines Übels, (2) die eng begrenzte, vom Kranken regelmäßig vernünftig über-
schaubare Dauer der Einschränkung und (3) das Erfordernis seiner Einwilligung.
All dies schließt es aus, die lege artis sowie möglichst schonende und mit Einwilli-
gung durchgeführte ärztliche Heilbehandlung als Menschenwürdeverletzung anzu-
sehen, mag diese Behandlung auch im konkreten Fall belastend sein, Schmerzen
und Leid verursachen sowie die Selbstbestimmung des Patienten einschränken. Spre-
chen wir insofern manchmal von „Quälerei“, bedeutet das nicht die Qualifikation der
Heilbehandlung als Menschenwürdeverletzung, sondern als schmerzhaft, leidvoll
und autonomieeinschränkend. Und es bedarf keiner besonderen Betonung, dass
alle derartigen Belastungen des Patienten durch die Heilbehandlung so weit wie
möglich vermieden werden müssen. Die Autonomie des Patienten und sein gleicher
Wert sind durch den Arzt und die Pflegenden zu achten. Sonst kann es im Einzelfall
zu einer Demütigung und damit Verletzung der kleinen Menschenwürde kommen.
Was ist aber mit vergleichbaren Handlungen Anderer, die von manchen als Men-
schenwürdeverletzungen qualifiziert wurden, etwa der sog. Zwergenweitwurf oder
das Betrachten nackter Personen in Peep-Shows?21 Zunächst ist festzuhalten, dass
es sich hierbei nicht um allgemein anerkannte paradigmatische Fälle von Menschen-
würdeverletzungen handelt, sondern um sehr umstrittene Randfälle, die nur in eini-
gen Ländern als solche Verletzungen der Menschenwürde anerkannt werden, etwa
der Zwergenweitwurf zwar in Deutschland und Frankreich,22 nicht aber in den angel-
sächsischen Ländern, und das Betrachten nackter Personen in Peep-Shows ebenfalls
in Deutschland durch das Bundesverwaltungsgericht,23 nicht aber in vielen anderen
Ländern. Zum zweiten ist fraglich, ob derartige Handlungen überhaupt als Men-
schenwürdeverletzungen zu qualifizieren sind. Zum dritten sind diese Handlungen
zwar wie die medizinische Heilbehandlung von einer Einwilligung abhängig und
zeitlich eng begrenzt sowie regelmäßig klar überschaubar. Aber sie geschehen
nicht mit der Intention direkt etwas Gutes für den Geworfenen oder in einer Peep-
Show Betrachteten herbeizuführen. Der Zwergenweitwurf und das Betrachten in
einer Peep-Show sind ein Übel, mit dem nicht direkt kausal etwas Gutes verbunden
ist, wie mit der Heilbehandlung. Die Menschen lassen sich auf diese Praktiken nur
ein, weil ihnen als sekundäre Kompensation Geld oder sonstige Vergünstigungen an-
geboten werden, welche ein zusätzliches Gut für sie darstellen. Die direkte, kausale
Verbindung des regelmäßigen Heilungserfolgs mit der guten Intention und den guten
Folgen stellt den zentralen Unterschied der medizinischen Heilbehandlung gegen-
über dem Zwergenweitwurf und der Peepshow dar (sofern man diese Typen von Fäl-

21
Vgl. Verf., Menschenwürde als Selbstbestimmung über die eigenen Belange, 252 – 254.
22
VG Neustadt, in: NVwZ 1993, 98 f.; 27. 10. 1995 Commune de Morsang-sur-Orge, Re-
cueil Dalloz Sirey 1996, 177.
23
BVerwG 64, 274 (278 f.).
Menschenwürde und Sterbehilfe 1039

len überhaupt als Menschenwürdeverletzungen anerkennt), welcher die Qualifikati-


on der Heilbehandlung als Menschenwürdeverletzung ausschließt.

2. Der Zustand des Sterbenden

Aber liegt nicht im spezifischen Zustand des unheilbar kranken Patienten eine
Verletzung seiner Menschenwürde, welche vielleicht die aktive Sterbehilfe rechtfer-
tigen würde?
Wesentlich ist hier zunächst, dass – wie oben bereits erwähnt wurde – der Zustand
des sterbenskranken Patienten nicht durch die Handlung eines anderen herbeigeführt
wurde, sondern seine einzige oder zumindest wesentliche Ursache in der Person des
Betroffenen selbst hat (einmal abgesehen von atypischen, strafrechtlich relevanten
Körperverletzungen durch Andere). Insofern scheidet die Qualifikation dieses Zu-
stands als „Verletzung“ von vornherein aus. Es kann also in diesem bloßen Zustand
auch keine Menschenwürdeverletzung liegen.
Allerdings wird man kaum bestreiten können, dass der Zustand mancher Ster-
benskranker faktisch dem Zustand vergleichbar ist, welcher sich als Folge der
oben erwähnten paradigmatischen Menschenwürdeverletzungen einstellt. Wer be-
wegungsunfähig, etwa in einem „Locked-in-Syndrom“ oder im Wachkoma auf
dem Krankenbett liegt, der ähnelt in seinem Zustand dem gefesselten Folteropfer
auf einer Streckbank, selbst wenn er keine Schmerzen erleiden muss. Und wenn die-
ser Zustand nach jeder vernünftigen Prognose irreversibel ist, dann ist er in seiner
Selbstbestimmung über seine eigenen Belange in ähnlichem Maße eingeschränkt
wie ein Gefolterter, ein Sklave, ein Zwangsarbeiter oder ein lebenslänglich Inhaftier-
ter. Seine Menschenwürde wird nicht willentlich durch andere verletzt, aber er be-
findet sich in einem Zustand, welcher dem Resultat einer solchen paradigmatischen
Menschenwürdeverletzung vergleichbar ist, etwa ebenso leidvoll, schmerzhaft und
nicht selbstbestimmt.
Was folgt daraus? Sieht man bei den paradigmatischen Menschenwürdeverlet-
zungen den ethisch relevanten Sachverhalt nicht nur in der schlechten Absicht des
Verletzers oder in der schädigenden Durchführung der Verletzungshandlung, son-
dern auch in den herbeigeführten negativen Konsequenzen – was einer humanen
und deshalb notwendig umfassenden Ethik aufgegeben ist24 – dann wird man den
Vergleich dieser negativen Konsequenzen mit dem faktischen Zustand mancher Ster-
benskranker nicht ausweichen können. Angesichts dieser Vergleichbarkeit der bei-
den Typen von Zuständen muss man auch Verständnis haben, wenn sich der Sterbens-
kranke ähnlich wie ein Folteropfer, ein Sklave, ein Zwangsarbeiter oder ein lebens-
länglich Inhaftierter die Beendigung dieses Zustands wünscht bzw. seine Angehöri-
gen oder gesetzlichen Vertreter die Beendigung dieses Zustands für ihn wünschen.

24
Vgl. dazu Verf., Normative Ethik.
1040 Dietmar von der Pfordten

Fraglich ist allerdings, was aus der in manchen Situationen gerechtfertigten Ver-
gleichbarkeit dieser Zustände des Opfers einer Menschenwürdeverletzung und des
Sterbenskranken folgt. Lässt sich mit Verweis auf diesen leidvollen Zustand mancher
Sterbender das moralische oder rechtliche Verbot der Tötung auf Verlangen oder der
Einschränkung der Beihilfe zum Suizid als Einschränkung der Menschenwürde kri-
tisieren?
An dieser Stelle muss man sich einen wesentlichen Unterschied in der möglichen
Aufhebung beider Typen von Zuständen vor Augen führen: Im Falle der paradigma-
tischen Menschenwürdeverletzungen ist es tatsächlich möglich und ethisch, mora-
lisch und rechtlich geboten, die Verletzungshandlung sofort zu beenden, so dass
das Opfer seine Menschenwürde wieder ohne Einschränkungen hat. Der Folterer
kann und muss seine Folter, der Sklavenhalter seine Versklavung, der zur Arbeit
Zwingende seinen Zwang zur Arbeit und die Strafverfolgungsbehörde ihre lebens-
lange Freiheitstrafe nach einer gewissen Verbüßungszeit beenden. Das Folteropfer
kann und muss also frei kommen und ebenso der Sklave, der Zwangsarbeiter und
auch – nach Vollstreckung einer gewissen Strafzeit – der Strafgefangene.
Beim Sterbenskranken, bei dem nach der Rechtfertigung der Sterbehilfe gefragt
wird, sind vergleichbare Möglichkeiten der Beendigung des belastenden Zustands
aber bedauerlicherweise versperrt: Sein zum Tode führender Zustand ist nicht
mehr revidierbar, sonst könnte und müsste ja eine kurative Behandlung erfolgen
und die Frage nach der Tötung auf Verlangen in Form der aktiven Sterbehilfe
würde sich nicht stellen. Beim Sterbenskranken kann also der Zustand, welcher
sich in seiner Schwere mit dem Zustand durch eine Menschenwürdeverletzung ver-
gleichen lässt, gar nicht mehr in einen guten, nicht belastenden Zustand rücküber-
führt werden, wie das bei der möglichen und gebotenen Beendigung jeder Menschen-
würdeverletzung der Fall ist. Der einem menschenunwürdigen Zustand vergleichba-
re Zustand kann also nicht beendet werden, es sei denn durch den Tod, welcher aber –
zumindest in der immanenten Welt – jeden Lebenszustand des Sterbenskranken, sei
er negativ oder positiv, aufhebt. Dann kann aber die Sterbehilfe nicht mit Verweis auf
die Vergleichbarkeit der Beendigung beider Typen von Zuständen gerechtfertigt wer-
den. Oder anders formuliert: Weil die Pflicht zur Beendigung der Menschenwürde-
verletzung nicht die Tötung des Verletzten erlaubt oder gar gebietet, kann auch der
vergleichbar leidvolle Zustand des Todkranken nicht mit Verweis auf die Menschen-
würde dessen Tötung erlauben oder gar gebieten. Aus der Vergleichbarkeit der Zu-
stände infolge einer Menschenwürdeverletzung und infolge einer tödlichen Krank-
heit kann also keine Rechtfertigung für die Sterbehilfe mit Verweis auf die Men-
schenwürde folgen – einfach deshalb, weil eine Aufhebung der Menschenwürdever-
letzung durch Tötung weder erlaubt noch gar geboten ist. Auch wenn man also den
Zustand des Opfers einer Menschenwürdeverletzung und einer tödlichen Erkrankung
mit ihrer schwerwiegenden Einschränkung der Selbstbestimmung über die eigenen
Belange vergleichen kann, folgt daraus keine Begründung aus der Menschenwürde
für die Sterbehilfe.
Menschenwürde und Sterbehilfe 1041

Die Verneinung des Verweises auf die Menschenwürde als Begründung schließt
allerdings natürlich andere Gründe, welche an den negativen Zustand eines Todkran-
ken anknüpfen, nicht aus, etwa den Verweis auf sein irreversibles Leiden, seine
Schmerzen, seinen Verlust an Selbstbestimmung. Es kann nicht bezweifelt werden,
dass jedes Leiden zumindest in einer immanenten, nichtreligiösen Perspektive
grundsätzlich als schlecht angesehen werden muss. Das gibt eine Rechtfertigung
für die Beendigung dieses Leidens. Ob diese Rechtfertigung der Beendigung des Lei-
dens dann in der Abwägung das Negative, das jeder Tötungshandlung unweigerlich
innewohnt, überwiegt, ist eine andere Frage. Und selbst wenn man diese Frage be-
jahen würde, könnte es selbstredend andere Gründe geben, welche die Etablierung
eines solchen staatlich erlaubten Tötungssystems ausschließen würden, etwa die Ge-
fahr einer realen oder auch nur vermeintlichen Drucksituation, der sich Sterbens-
kranke als besonders schwache Mitglieder unserer Gesellschaft ausgesetzt sähen.
Das Wort „dignity“ im eingangs erwähnten „Death with Dignity Act“ des Staates
Oregon wird man also nicht mit „Menschenwürde“ übersetzen können, sondern al-
lenfalls als „Leid- oder Schmerzfreiheit“ bzw. „Würde“ im weiteren Sinn.25 Dies kor-
respondiert mit der weit überwiegenden Literatur, welche die Sterbehilfe mit Verweis
auf die Leidvermeidung begründet.26

3. Stellt die Tötung auf Verlangen oder die Beihilfe zum Suizid
ihrerseits eine Menschenwürdeverletzung dar?

Um das Verhältnis von Menschenwürde und Sterbehilfe umfassend zu erörtern,


wird man noch fragen müssen, ob die Tötung auf Verlangen oder die Beihilfe
zum Suizid nicht ihrerseits eine Menschenwürdeverletzung darstellen. Die Frage er-
scheint umso dringlicher, weil für einzelne Typen von Tötungshandlungen eine sol-
che zusätzliche Qualifikation als Menschenwürdeverletzung bejaht wurde, etwa die
gesetzliche Erlaubnis zu einer Tötung in der Form des Abschusses eines gekidnapp-
ten Verkehrsflugzeugs durch Piloten der Streitkräfte.27 Jede Tötung zerstört das
Leben als vitale Basis der Eigenschaft der Menschenwürde. Während der lebendige
Mensch die Menschenwürde trägt, gilt dies für den toten Menschen nicht mehr – sieht
man einmal von gewissen Nachwirkungen ab, etwa im Hinblick auf den Schutz vor
schwerwiegenden postmortalen Abwertungen, welche die kleine oder mittlere Men-
schenwürde verletzen können.

25
Man kann dann allerdings fragen, ob die Verwendung des Wortes „dignity“/„Würde“ in
diesem erweiterten Sinn nicht mehr Verwirrung stiftet als Klarheit.
26
Vgl. etwa: Brian Stoffel, Voluntary Euthanasia, Suicide and Physician-assisted Suicide,
S. 318.
27
BVerfGE 115, 118. Vgl. Verf., Menschenwürde, S. 114 f. Reinhard Merkel hat diese
Entscheidung scharf kritisiert: Reinhard Merkel, § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und
warum darf der Staat töten?
1042 Dietmar von der Pfordten

Trotz dieser kausalgesetzlichen Verbindung von Tötung und Vernichtung der


Menschenwürde, wird man die einfache Tötung in ethischer und a fortiori auch mo-
ralischer und juristischer Perspektive nicht als spezifische Menschenwürdeverlet-
zung ansehen dürfen.28 Wie bei der Instrumentalisierung der Passagiere zur Rettung
Anderer muss zur einfachen Tötungshandlung ein weiterer Umstand mit zusätzli-
chem spezifischem Unrechtsgehalt hinzutreten, um eine Tötung auch zur Menschen-
würdeverletzung werden zu lassen. Dabei kommen alle vier, oben dargestellten Be-
griffe der Menschenwürde in Frage.
Enthält die typische Tötung auf Verlangen eines Sterbenden über die einfache Tö-
tung hinaus einen zusätzlichen Unrechtsgehalt, so dass sie als Menschenwürdever-
letzung zu qualifizieren wäre? Im Regelfall verfolgt derjenige, welcher auf Verlan-
gen tötet oder beim Suizid hilft, nur das Motiv, dem Wunsch des Sterbenden zu ent-
sprechen. Darin liegt kein zusätzlicher, die Menschenwürde verletzender, spezifi-
scher Unrechtsgehalt. In einem solchen typischen Fall wird man die aktive
Sterbehilfe oder die Beihilfe zum Suizid des Sterbenden nicht als Menschenwürde-
verletzung ansehen können, so dass sich kein zusätzlicher Grund gewinnen lässt, um
die aktive Sterbehilfe oder die Beihilfe zum Suizid des Sterbenden zu verbieten oder
zu kritisieren. Allerdings können natürlich auch bei der aktiven Sterbehilfe oder der
Beihilfe zur Selbsttötung Absichten, Formen der Durchführung oder Konsequenzen
hinzutreten, welche die Tötung auf Verlangen zu einer Menschenwürdeverletzung
werden lassen. Dies könnte etwa der Fall sein, wenn der Tötende oder der Helfende
dem Sterbenskranken nicht wirklich dienen will, sondern ihn etwa nur zum Gelder-
werb eines Unternehmens instrumentalisiert oder die Durchführung der Sterbehilfe
eine Demütigung enthält usw. Die Tötung auf Verlangen verletzt also die Menschen-
würde typischerweise nicht, aber spezifische, zusätzliche Umstände können in der
einzelnen Situation eine Menschenwürdeverletzung implizieren.

IV. Ergebnis der Untersuchung


Das Ergebnis der hier angestellten Untersuchung lautet: Der Schutz der Men-
schenwürde kann in ihren typischen Konstellationen weder eine Begründung noch
eine Kritik der Tötung auf Verlangen des Sterbenden oder der Beihilfe zum Suizid
rechtfertigen.29 Mit diesem Ergebnis ist allerdings nur ein beschränkter Beitrag zur
Diskussion um die Tötung auf Verlangen bzw. die Sterbehilfe geleistet, weil in dieser
Diskussion eine Vielzahl weiterer Gründe und Gegengründe angeführt werden kön-
nen und müssen.

28
Vgl. Verf., Menschenwürde, S. 64 f.
29
Für eine Streichung des Menschenwürdekriteriums aus der Sterbehilfediskussion: Rein-
hard Merkel, Früheuthanasie, S. 313 – 321.
Menschenwürde und Sterbehilfe 1043

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Ethische Fragen der Selbsttötung
angesichts der aktuellen deutschen Diskussion
um ärztliche Sterbehilfe und
um Sterbehilfevereine
Von Carl Friedrich Gethmann

I. Einleitung
Die Frage der moralischen Erlaubtheit der Selbsttötung beschäftigt die ethische
Reflexion seit Jahrtausenden. Kaum einer der bedeutenden Philosophen hat sich
nicht dazu geäußert1, was nicht überraschen kann, wenn man bedenkt, dass mit dieser
Frage eine Reihe grundsätzlicher ethischer und anthropologischer Themen eng ver-
bunden sind. Die leitende philosophische Frage lautet dabei, ob die Selbsttötung mo-
ralisch erlaubt bzw. der Zwang zum Weiterleben moralisch gerechtfertigt ist. Gegen-
über dieser Fragestellung ist die öffentliche Diskussion um die Selbsttötung in
Deutschland in den letzten Jahrzehnten allerdings durch eine iterierte Problemreduk-
tion geprägt. Die erste Problemreduktion besteht darin, die Frage auf den Sterbe-
wunsch des leidenden, oft schwerkranken Menschen zu beschränken.2 Stellt man
in Rechnung, dass in Deutschland von jährlich etwa 100.000 Suizidversuchen aus-
zugehen ist (wegen der Dunkelziffer ist das eine eher grobe Schätzung), von denen
etwa 10.000 aus der Sicht der Suizidenten erfolgreich sind3, erscheint diese Problem-
reduktion als unangemessen; nur eine Minderheit der Suizidwilligen dürfte über-
haupt in ärztlicher Behandlung (gewesen) sein, geschweige denn, sich in einer kli-
nisch beschriebenen Sterbephase befinden (befunden haben). Die meisten Suizidwil-
ligen sind also jedenfalls prima facie keine Kranken, schon gar nicht sterbenskranke

1
Siehe Ebeling, Hans, „Selbstmord“, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried, Historisches
Wörterbuch der Philosophie Band 9, Basel 1995, 493 – 499; von Engelhardt, Dietrich, „Die
Beurteilung des Suizids im Wandel der Geschichte“, in: Wolfslast, Gabriele/Schmidt, Kurt W.
(Hrsg.), Suizid und Suizidversuch. Ethische und rechtliche Herausforderung im klinischen
Alltag, München 2005, 11 – 26.
2
Dabei dürften veröffentlichte Reflexionen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens
wie Gunter Sachs (†2011), Udo Reiter (†2014), Fritz J. Raddatz (†2015) zu ihrer Selbsttötung
eine wichtige Rolle gespielt haben.
3
Die Zahl der Selbsttötungen ist in Deutschland in den letzten zehn Jahren recht konstant,
der langfristige Trend ist eher sinkend. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/318378/um
frage/anzahl-der-Suizide-in-deutschland-im-vergleich-zu-ausgewaehlten-todesursachen/–.
1046 Carl Friedrich Gethmann

Menschen.4 Eine zweite Problemreduktion liegt darin, vor allem das Handeln derje-
nigen Menschen moralisch zu qualifizieren, die Beihilfe zur Selbsttötung leisten.
Während die individuelle Beihilfe unter Hinweis auf eine menschliche Extremsitua-
tion oft noch auf ein mehr oder weniger eingeschränktes Verständnis trifft, werden
Sterbehilfevereine unabhängig von ihrem tatsächlichen Wirken in Deutschland weit-
gehend moralisch und rechtlich disqualifiziert. Eine dritte Problemreduktion, die mit
der ersten eng zusammenhängt, liegt darin, als Helfer die Angehörigen der Heilbe-
rufe, insbesondere die Ärzte, in das Zentrum der ethischen Überlegungen zu rücken.
Die drei genannten Problemreduktionen haben dazu geführt, dass in der öffentli-
chen Debatte der letzten Jahrzehnte in Deutschland an die Stelle der Erörterung der
moralischen Erlaubtheit der Selbsttötung bzw. der Zumutbarkeit des Zwanges zum
Weiterleben die Frage nach der moralischen Erlaubtheit des ärztlich assistierten Sui-
zids und der Erlaubtheit von Sterbehilfevereinen getreten ist. Die dreifache Problem-
reduktion bestimmt auch die verfassungs- und strafrechtliche Debatte in der Bundes-
republik. Auch die umfangreichen Stellungnahmen der Bioethikkommission des
Landes Rheinland-Pfalz5, des Nationalen6 und des Deutschen Ethikrates7 sind von
den Problemreduktionen bestimmt.
Aus einfachen subsumtionslogischen Gründen ist es jedoch methodisch unver-
meidlich, vor die rechtlichen und politischen Fragen der Suizidassistenz und der Zu-
lässigkeit von Sterbehilfevereinen die ethische Frage nach der grundsätzlichen Er-
laubtheit der Selbsttötung bzw. der Zumutbarkeit des Zwanges zum Weiterleben
zu stellen. Es ist nämlich schwer einzusehen, die ärztliche Assistenz für moralisch
verwerflich zu erklären, wenn für jedermann die Beihilfe zur Selbsttötung moralisch
zulässig (wenn nicht sogar empfehlenswert) sein sollte, und es ist erst recht schwer
einzusehen, dass die Beihilfe zur Selbsttötung durch Sterbehilfevereine grundsätz-
lich verwerflich sein sollte, wenn die Selbsttötung selbst moralisch zulässig wäre.
Zu der ethischen Grundfrage trifft man in der öffentlichen und veröffentlichten Mei-
nung allerdings auf erstaunliche Ungereimtheiten. Obwohl die Selbsttötung in
Deutschland somit auch die (jedenfalls individuelle) Beihilfe zu ihr straffrei ist,
steht sie in der öffentlichen Debatte oft unter einem mehr oder weniger verdeckten
Illegitimitätsverdacht, der sich aus ganz unterschiedlichen intuitiven Quellen speist,
religiösen („Leben als Geschenk“), sozialen („läßt die Mitmenschen im Stich“) u. a.
Dieser Illegitimitätsverdacht amalgamiert sich leicht mit juristischen und ethischen
Irreführungen, die z. B. dazu führen, weiterhin von „Selbst-Mord“ zu sprechen und
die Beihilfe zur Selbsttötung mit der Tötung auf Verlangen (gegebenenfalls durch
4
Zu der nicht selten anzutreffenden generellen Pathologisierung des Selbsttötungswun-
sches s. u. IV. 1.
5
Ministerium der Justiz Rheinland-Pfalz: Sterbehilfe und Sterbebegleitung, Mainz 2004. –
Dazu Kreß, Hartmut, „Selbstbestimmung am Lebensende“, in: Ethik in der Medizin 3 (2004)
291 – 297.
6
Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende, Berlin 2006 (mit einem bedenkens-
werten Vorschlag zur Verbesserung der Terminologie).
7
Suizidprävention statt Suizidunterstützung, Berlin 2017.
Ethische Fragen der Selbsttötung 1047

Unterlassung) gleichzusetzen.8 In auffälligem Kontrast zu diesem weitverbreiteten


Illegitimitätsverdacht stehen Äußerungen bedeutender Philosophen und Theologen
wie Karl Löwith9, Jean Améry10, Wilhelm Kamlah11 und Hans Küng12. Neben diesen
haben sich mehrere fach-ethische Untersuchungen in den letzten Jahren mit dem
Thema beschäftigt.13

II. Handlungsurheberschaft
Dass die Selbsttötung das einzige philosophische Problem sei, über das zu disku-
tieren sich lohnt14, ist sicher einer Übertreibung, die einem „philosophierenden
Schriftsteller“ nachgesehen werden kann. Die Diskussion über die Selbsttötung
wird allerdings in den letzten Jahrzehnten zunehmend weniger im Rahmen der Phi-
losophie geführt, vielmehr wird sie wie selbstverständlich im Rahmen der (Natur-)
Wissenschaft vom Menschen (Medizin, Biologie, Soziologie, u. a.) vorrangig unter
dem Gesichtspunkt der Suizidprävention verortet. Suizidale Handlungen werden
dabei grundsätzlich als mehr oder weniger gut erklärbare Wirkungen von Ursachen,
d. h. auf der Grundlage eines naturalistischen Handlungsverständnisses interpretiert.
Wenn der Selbsttötungswille im Akteur kausal bewirkt wird, dann ist es grundsätz-
lich möglich, die Selbsttötung durch Intervention in den Kausalprozess zu verhin-
dern. Wenn aus welchen Gründen auch immer die Selbsttötung als zu verhinderndes
Übel gilt, dann ist Suizidprävention generell geboten. Dies ist in der Tat die durch die
modernen (Natur-)Wissenschaften vom Menschen unterstellte (wenn auch selten ex-
plizit diskutierte) Prämisse. Angesichts dieser Entwicklung stellt sich aus philoso-
phischer Sicht nicht mehr primär die Frage nach der moralischen Erlaubtheit der
Selbsttötung, sondern die Frage, „ob erlaubt ist, eine Person auch gegen ihren aus-
drücklich bezeugten Willen am Suizid zu hindern.“15 Wer vom „ausdrücklich be-
zeugten Willen“ spricht, unterstellt allerdings, dass das menschliche Handeln
durch den Urheber der Handlung hervorgebracht wird, somit nicht von Anfang an

8
Als Beleg für viele: Interview des Präsidenten der Ärztekammer Westfalen, Theodor
Windhorst: Westdeutsche Allgemeinen Zeitung vom 12. 11. 2014.
9
„Die Freiheit zum Tode“, in: Vorträge und Abhandlungen, Stuttgart 1966, 274 – 289.
10
Hand an sich legen – Diskurs über den Freitod, Stuttgart 1976.
11
Meditatio Mortis, Stuttgart 1976.
12
Jens, Walter/Küng, Hans (Hrsg.), Menschwürdig sterben, Zürich 2010; Küng, Hans,
Glücklich sterben, München 2014.
13
Hervorzuheben ist die gründliche Untersuchung von Wittwer, Héctor, Selbsttötung als
philosophisches Problem, Paderborn 2003; s. ferner; Birnbacher, Dieter, Suizid und Suizid-
prävention aus ethischer Sicht, in: ders., Bioethik zwischen Natur und Interesse, Frankfurt am
Main 2006, 195 – 221; Pieper, Annemarie, Läßt sich der Suizid ethisch rechtfertigen?, in:
J. Küchenhoff (Hrsg.), Selbstzerstörung und Selbstfürsorge, Gießen 1999, 257 – 273.
14
Camus, Albert, Le Mythe de Sysiph, Paris 1965, 89 ff.
15
Wittwer, Héctor, Selbsttötung, a. a. O. 26.
1048 Carl Friedrich Gethmann

durch Ursachen der einen oder anderen Art determiniert ist. Somit ist mit der Frage
nach Handlungsurheberschaft und Selbstbestimmung zu beginnen.
Wenn man von „Selbst-tötung“ spricht, unterstellt man, dass das Phänomen des
Todes überhaupt in den Handlungsraum des Akteurs gehört und nicht vielmehr
ein Widerfahrnis ist, das sich dem Handeln des Akteurs bezüglich seiner selbst a prio-
ri entzieht. Den reinen Widerfahrnischarakter des Todes unterstellt eine Argumenta-
tion zur „Realität des Todes“, die auf Epikur zurückgeht, und die im Anschluss an ihn
seit der älteren Stoa bis heute zitiert wird. Danach berühre der Tod den Menschen gar
nicht, da er nicht eingetreten sei, solange der Mensch noch Erfahrungen machen
könne, der Mensch ihn auf der anderen Seite aber nicht erfahren könne, wenn er ein-
getreten sei.16 Epikur fasst damit die Skepsis seiner philosophischen Vorläufer hin-
sichtlich der Aussagbarkeit von Entstehen und Vergehen zusammen und löst so die
weitverzweigten Überlegungen der abendländischen Philosophie zum Phänomen der
Erkennbarkeit und Aussagbarkeit des Todes aus17; gelegentlich wird von einer „Er-
kenntnistheorie des Todes“18 gesprochen.
Gegen die Argumentation Epikurs hat Martin Heidegger den Menschen als „Sein
zum Tode“ charakterisiert. Demgemäß hat der Tod im Leben dadurch Realität, dass
der Mensch auf ihn hin existiert, ihn antizipiert, auf ihn „vorläuft“.19 In diesem Sinne
ist der Tod zwar nicht ein raumzeitliches Ereignis „in“ der menschlichen Lebens-
spanne (insoweit hat Epikur Recht), er ist jedoch als ein Apriori menschlicher Exis-
tenz jederzeit präsent. Der Tod im Sinne des Seins zum Tode wird zwar in jeder Le-
bensphase neu erfahren – die Abgrenzung von Lebensphasen erfolgt sogar oft über
die verschiedenen Bedeutungen des Seins zum Tode in den Lebensphasen. Es besteht
somit kein exklusives Verhältnis des Todes zu der Lebensphase, die wir mit „Sterben“
bezeichnen; im Sterben erlebt sich der Sterbende „dem Ende nahe“, aber ein aprio-
risches Verhältnis zum Tode hat jede Lebensphase. Das Sein zum Tode bedeutet in
jeder Lebensphase, dass diese Erfahrung jetzt auch diese Entscheidung jetzt unwie-
derholbar, einzigartig ist. Sinnvolle Existenz heißt somit endliche Existenz. Daher ist
der Tod in jeder Lebensphase Teil des Selbstverhältnisses des Akteurs und somit ist
die Frage des Weiterlebens kontinuierlich implizites – in dramatischen Lebenssitua-
tionen: explizites – Thema der Handlungen des Akteurs. Insoweit ist die Sterbephase
keine Sonderphase. Ein Wesen, das sich selbst immer wieder als Handlungsurheber
erfährt, kann diesem Thema nicht entrinnen.20
16
Epikur: Brief an Menoikeus, in: Nickel, Rainer (Hrsg.), Wege zum Glück, Düsseldorf
2
2003, 124 – 126.
17
Vgl. Scherer, Georg: Das Problem des Todes in der Philosophie, Darmstadt 1979; Hügli,
Anton, „Tod“, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried, Historisches Wörterbuch der Philoso-
phie. Band 10, Basel 1998, 1227 – 1242.
18
Scherer, Georg, Das Problem des Todes in der Philosophie, Darmstadt 1979, 41.
19
Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Freiburg 1927, 235 – 267.
20
Vgl. Gethmann, Carl Friedrich, „Person und Kontingenz“, in: Quante, Michael/Goto,
Hiroshi/Rojek, Tim/Shingo, Segawa (Hrsg.), Der Begriff der Person in systematischer und
historischer Perspektive: ein deutsch-japanischer Dialog, Paderborn 2020, 131 – 144.
Ethische Fragen der Selbsttötung 1049

Dass der Akteur Urheber seiner Handlung ist, konstituiert ein mehr oder weniger
explizites präsuppositionelles Wissen, das jede Handlung begleitet.21 Dieses präsup-
positionelle Wissen kann nicht ohne semantische Verluste in propositionales über-
setzt werden. Unter Anspielung auf Kants Grundsatz der transzendentalen Apperzep-
tion22 kann man daher einen Grundsatz der „transzendentalen Ad-Operation“ formu-
lieren:
„Das: ,Ich bin der Urheber dieser Handlung‘ muss alle meine Handlungen begleiten kön-
nen …“

Die mit der transzendentalen Ad-Operation verbundene präsuppositionelle Ein-


sicht ist in folgendem Sinne unhintergehbar: Wenn der Akteur in der 1. Person-Per-
spektive schon einsehen muss, dass seine vermeintlich zweckorientierte Handlung
„eigentlich“ nur die Wirkung bestimmter Ursachen war (neuraler, hormoneller, kli-
matischer, ökonomischer usw. Art), dann ist doch dieses Einsehen eine zweckorien-
tierte Handlung (oder steht im Zusammenhang mit einer solchen), wenn er aber ein-
sehen muss, dass dieses Einsehen selbst wiederum … sed non ad infinitum. Das be-
trifft auch die Frage, wem der Akteur in der 3. Person-Perspektive zugesteht, sich so
irreduzibel als Handlungsautor zu setzen, wie er selbst sich als Handlungsautor setzt.
Damit ist die Frage nach dem Scopus, der Extension des Begriffes der „Person“, auf-
geworfen. Personalität bezeichnet das Merkmal des Akteurs, sich selbst unaus-
tauschbar als handelnd zu präsupponieren. Diese Handlungspräsupposition der
Handlungsurheberschaft ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass Akteure
grundsätzlich fähig sind, Handlungen aus eigener Spontaneität auszuführen oder
zu unterlassen. Sie ist somit auch Grundlage dafür, dass Akteure ihre Handlungen
nach Regeln mittlerer Reichweite („Maximen“) ausrichten, die sie sich selbst setzen
(„Autonomie“). Verfügten sie über diese Fähigkeiten nicht, wären sie etwa gezwun-
gen, Handlungen auszuführen oder zu unterlassen, oder aber, wären Handlungen
nichts anderes als Wirkungen von Ursachen, seien sie physikalischer, genetischer
oder neuronaler Art, dann gäbe es keine Probleme mit moralischer und rechtlicher
Regulierung von Handlungen.
Der gelegentlich dieser Sicht entgegenstellte Hinweis auf die „mentale Verursa-
chung“ von Handlungen beruht auf einer Verwechslung von Dadurch-dass- und
Indem-Verhältnissen zwischen Phänomenen im Rahmen menschlicher Selbst-Erfah-
rung. In der Regel wird es den Akteur kaum in der Erfahrung der Handlungsurheber-
schaft seiner Handlung irritieren, wenn man ihn mit der Tatsache konfrontiert, dass
sein Handeln auf gewisse ermöglichende physische Bedingungen angewiesen ist. So
wie er beim Laufen auf ein Ziel hin nicht stets aufmerksam darauf ist, dass er seine
Beine bewegt, sich dabei aber jederzeit klar machen kann, dass er läuft, indem er sie

21
Vgl. für eine ausführlichere subjekttheoretische Untersuchung: Gethmann, Carl Fried-
rich, „Was bleibt vom fundamentum inconcussum angesichts der modernen Naturwissen-
schaften vom Menschen?“, in: Quante, Michael (Hrsg.), Geschichte – Gesellschaft – Geltung.
XXIII. Deutscher Kongreß für Philosophie, Hamburg 2016, 3 – 27.
22
Kritik der reinen Vernunft: WWW (Akademie) B 131 f.
1050 Carl Friedrich Gethmann

bewegt, so kann er sich – hinreichende theoretische Kenntnisse vorausgesetzt – klar


machen, dass er läuft, indem in seinem Gehirn diese oder jene (mit Hilfe entsprechen-
der Visualisierungstechniken gegebenenfalls von außen beobachtbare) Prozesse ab-
laufen. So wenig wie es sinnvoll ist, die Bewegung der Beine als Ursache des Laufens
zu erklären, so wenig ist es in vielen Kontexten sinnvoll, Gehirnaktivitäten als Ursa-
chen des Handelns zu erklären. Auf der anderen Seite ist es durchaus sinnvoll, die
gebrochenen Beine als Ursache des Nicht-Laufen-Könnens zu beschreiben. Die
Frage, ob Handlungen Wirkungen von Ursachen oder Ursachen von Wirkungen
sind, ist dabei nicht im Sinne eines grundsätzlichen theoretischen Antagonismus,
sondern im Sinne eines Beschreibungspluralismus zu beantworten. Es ist daher
nicht zu fragen, welche Handlungserklärung „richtig“ ist, sondern welche für wel-
chen Zweck zu wählen ist. Die Ursache-Wirkungs-Sicht empfiehlt sich immer
dann, wenn Störungen eines erwarteten (Handlungs-)ablaufs erklärt werden sollen.
Dies gilt insbesondere für therapeutische Kontexte. 23
Grundsätzlich wird die Struktur der Handlungsurheberschaft nicht über bestimm-
te (erfahrungsmäßig überprüfbare) Fertigkeiten und Fähigkeiten definiert, sondern
ist die grundlegende Präsupposition eines zu Handlungen fähigen Wesens, die ihm
auch bei eingeschränkten Fertigkeiten und Fähigkeiten zugestanden werden muss.

III. Selbstbestimmung und Selbsttötung


Die Struktur der Handlungsurheberschaft ist die Bedingung der Möglichkeit
dafür, dass Menschen Handlungsschemata verwirklichen können oder dies unterlas-
sen. Das Verfügenkönnen über ein Handlungsschema wird häufig als Fähigkeit der
Selbstbestimmung charakterisiert. Selbstbestimmung übt eine Person nach Maßgabe
eines Mehr oder Weniger aus, in Kantischer Diktion: die Selbstbestimmung hat einen
Grad. Während man einem (möglichen) Akteur die Struktur der Handlungsurheber-
schaft zuschreibt oder nicht (kontradiktorischer Gegensatz), übt der Akteur Selbst-
bestimmung mehr oder weniger aus (polar-konträrer Gegensatz). So ist auch die fak-
tisch untätige, schlafende oder ohnmächtige Person ein durch Handlungsurheber-
schaft charakterisiertes Wesen, auch wenn sie während der Untätigkeit, des Schlafes
oder der Ohnmacht wenig bis keine Selbstbestimmung ausübt.
Unterstellt man, dass der Handlungsurheber einen kategorischen Anspruch auf
ein selbstbestimmtes Weiterleben hat, dann fällt der Selbsttötungswunsch grundsätz-
lich in die Kategorie des Verzichts. Auf Selbstbestimmung kann der Akteur damit
mehr oder weniger verzichten, wenn auch nicht auf Handlungsurheberschaft, denn
er ist ja derjenige, der die Handlung des Verzichts ausführt oder deren Ausführung

23
S. dazu Gethmann, Carl Friedrich, „Die Erfahrung der Handlungsurheberschaft und die
Erkenntnisse der Neurowissenschaften“, in: Sturma, Dieter (Hrsg.): Philosophie und Neuro-
wissenschaften, Frankfurt am Main 2006, 215 – 239.
Ethische Fragen der Selbsttötung 1051

unterlässt. In Anspielung auf ein Diktum von Jean Paul Sartre24: Der Mensch ist zur
Handlungsurheberschaft, aber nicht zur Selbstbestimmung verurteilt. Das bedeutet
allerdings auch, dass der Verzicht nicht gefordert oder gar erzwungen werden kann.
Zurückzuweisen sind daher heroische Lebensformkonzeptionen, die die Selbsttö-
tung, wenn nicht verlangen, so doch wenigstens erwarten.
Wie bei jeder Handlung muss der Akteur sich auch für die Handlungsoption des
Verzichts vor sich selbst und anderen gegenüber rechtfertigen können. Eine Hand-
lung, die nach den einschlägigen Kriterien gerechtfertigt werden kann, wird als „rich-
tig“ qualifiziert.25 Allerdings sind die Anforderungen an die Richtigkeit einer Hand-
lung noch nicht dann erfüllt, wenn die Motive des Akteurs angegeben werden kön-
nen. Die Kenntnis der Motive einer Handlung ist für eine Reihe praktischer Kontexte
von Bedeutung (wie die Verständlichkeit und Verlässlichkeit einer Handlung oder die
Bestimmung eines Maßes von „Schuld“), sie löst aber nicht die Anforderungen an die
Richtigkeit ein. Allerdings wird in der lebensweltlichen Argumentationspraxis nicht
hinreichend scharf zwischen Motiven und Rechtfertigungsversuchen für die Selbst-
tötung unterschieden. Entsprechende Angaben reichen von der in der 1. Person-Per-
spektive vollzogenen Einsicht, dass ein Lebensplan sich erfüllt hat (sog. Bilanzsui-
zid), über den Protest gegen die Zumutung des Weiterlebens, etwa unter Bedingun-
gen sozialer Des-integration, bis zu als unerträglich empfundenen Schmerzen, leib-
lichen Entstellungen oder anderen Beeinträchtigungen (wie eine sich abzeichnende
Demenz).
Ob im Einzelfall eine Rechtfertigung gelingt, hängt von den faktischen Prämis-
sen und Präsuppositionen ab, die ein Akteur im sozialen Kontext heranziehen kann.
Allerdings werden in der philosophischen Tradition eine Reihe von Argumenten
vorgetragen, die es angeblich erlauben, die Nicht-Rechtfertigbarkeit generell zu
begründen.26 Dabei hängen das Argument der Widernatürlichkeit (es gehört zur
Natur eines Lebewesens, sein Leben zu behaupten und gegen Angriffe zu vertei-
digen), das Argument des Irrtums (der Suizident schätzt seine Lebensmöglichkei-
ten falsch ein oder ist darüber getäuscht worden) und das Argument der Unverfüg-
barkeit des Lebens von empirischen oder religiösen Prämissen ab, die aus systema-
tischen Gründen nicht verallgemeinerbar sind und daher an dieser Stelle nicht wei-
ter diskutiert werden sollen.
Einer gründlicheren Erörterung bedarf dagegen das von Platon über Kant bis
Camus in mehreren Varianten vorgetragene Argument der Selbstwidersprüchlichkeit
der Handlungszwecke des Suizidenten. Besonders die von Kant in der Grundlegung
zur Metaphysik der Sitten entwickelte Version ist bis in die jüngste Zeit immer wieder

24
L‘existencialisme et un humanisme, Paris 1946, 5.
25
Vgl. Gethmann, Carl Friedrich, „Warum sollen wir überhaupt etwas und nicht vielmehr
nichts? Zum Problem einer lebensweltlichen Fundierung von Normativität“, in: P. Janich
(Hrsg.), Naturalismus und Menschenbild, Hamburg 2008, 138 – 156.
26
Vgl. die Übersicht bei Wittwer, Héctor/Schäfer, Daniel/Frewer, Andreas (Hrsg.), Sterben
und Tod. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, 327 ff.
1052 Carl Friedrich Gethmann

diskutiert worden.27 Der Widerspruch vom Typ der contradictio exercita (Wider-
spruch im Vollzuge, Retorsion28) wird von Kant darin gesehen, dass sich der suizid-
willige Akteur durch seine aus Freiheit ausgeführte Handlung der Selbsttötung ge-
rade der Freiheit beraubt und damit sich selbst zur Unfreiheit bestimmt; der Hand-
lungsvollzug der Selbsttötung „widerspricht“ gemäß Kant der Gelingensbedingung
der Handlung.
Die Kritik an Kant29 muss bei der von Kant nicht diskutierten Unterstellung an-
setzen, derjenigen Entität, die nach der gelungenen Selbsttötung übrigbleibt, nämlich
dem menschlichen Leichnam, den Prädikator „frei (x)“ abzusprechen bzw. „unfrei
(x)“ zuzusprechen. Gemäß dem in der Sprachphilosophie behandelten Lehrstück
der Prädikationstheorie werden die Bedeutungen von Prädikatoren durch Prädikato-
renregelsysteme festgelegt, wie sie beispielsweise in Terminologien kanonisch zu-
sammengefasst sind. Die Festlegung von Bedeutungen von Prädikatoren ist dabei
nicht zu verwechseln mit der Prüfung von Wahrheit und Falschheit von Aussagen.30
Zu den Regeln des korrekten Zu- und Absprechens von Prädikatoren gehört auch das
von Aristoteles aufgestellte Verbot des Überschreitens des jeweiligen generischen
Kontextes (let\basir eQr %kko c]mor).31 Für diesen Typ von Argumentationsfehlern
hat Gilbert Ryle den inzwischen geradezu volkstümlich gewordenen Begriff des
„Kategorienfehlers“ geprägt.32 Zur Illustration mögen als Beispiele das Prädikato-
renregelsystem der Musikinstrumente und das Prädikatorenregelsystem der Tiere
dienen. Im Rahmen der Terminologie für Musikinstrumente ist eine korrekte Prädi-
katorenregel:
Fagott (x) => Holzblasinstrument (x),
eine inkorrekte Prädikatorenregel dagegen:
Fagott (x) ¼
6 > Blechblasinstrument (x).

27
Z. B. Birnbacher, Dieter: Suizid und Suizidprävention, 199 f., zur Selbstwidersprüch-
lichkeit, 202; Wittwer, Héctor, Selbsttötung, 120 – 143, bes. 128 – 131, 154 – 178, Fazit 131.
28
S. Gethmann, Carl Friedrich, Artikel Retorsion, in: Mittelstraß, Jürgen (Hrsg.), Enzy-
klopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 7, Stuttgart 22018, 115 – 118.
29
Kritik an Kant kann auch durch Hinweis auf interne In-Kohärenzen der praktischen
Philosophie Kants geübt werden (eingehend Wittwer, Héctor, Selbstbettötung a.a.O.). Eine
solche Kritik hängt allerdings von der grundsätzlichen Unterstellung der Philosophie Kants ab.
30
Zum Begriff der Prädikatorenregel vgl. Kamlah, Wilhelm/Lorenzen, Paul, Logische
Propädeutik, Mannheim 2. Aufl. 1973, 70 – 116; Lorenz, Kuno, Elemente der Sprachkritik,
Frankfurt am Main 1970, 167 ff. Eine besonders ausführliche Darstellung findet sich bei Ja-
nich, Peter, Logisch-pragmatische Propädeutik, Weilerswist 2001. Zum sprachphilosophi-
schen Rahmen vgl. Gethmann, Carl Friedrich/Siegwart, Geo, Sprache, in: Martens, Ekkehart/
Schnädelbach, Herbert (Hrsg.), Philosophie. Ein Grundkurs. Bd. 2, Reinbek bei Hamburg
1991, 549 – 605.
31
An. Post. I, 7. – Für den Hinweis auf Aristoteles dankt der Autor Otto Muck (Innsbruck).
32
Ryle, Gilbert, The Concept of Mind, London 1949. S. dazu Lorenz, Kuno, Art. Katego-
rienfehler, in: Mittelstraß, Jürgen (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheo-
rie. Bd. 4, Stuttgart 2010, 1774.
Ethische Fragen der Selbsttötung 1053

Eine Überschreitung (Metabasis) des generischen Kontextes wäre:


Fagott (x) => Reptil (x) bzw.
Fagott (x) ¼
6 > Reptil (x).
Eine solche den generischen Kontext überschreitende Regel möge „disparat“ hei-
ßen.
Wichtig ist es somit, zwischen dem inkorrekten Zusprechen (bzw. korrekten Ab-
sprechen) und dem Zusprechen durch Überschreiten des generischen Kontextes und
der dadurch erzeugten Disparatheit zu unterscheiden. Das Zusprechen eines inkor-
rekten Prädikators ist kategorial etwas anderes als das Zusprechen eines disparaten
Prädikators.
Der formale Fehler von Kants Selbstwiderspruchsargument besteht somit darin,
dass Prädikatoren, die der lebenden Person in in-disparater Weise zugesprochen wer-
den können (hier: Freiheit/Unfreiheit), bezüglich der nicht mehr lebenden Person,
d. h. des Leichnams, disparat sein können. Wenn hierbei die Disparatheit nicht be-
merkt wird, dürfte die metaphysische Unterstellung eine Rolle spielen, dergemäß
der Leichnam doch noch „ein bisschen“ lebende Person ist. Diese metaphysische Un-
terstellung wird scheinbar dadurch gestützt, dass Kulturpraktiken im Umgang mit
nicht mehr lebenden Personen, wie beispielsweise die Anerkennung von Testamen-
ten oder bestimmte Totenkulte, zu unterstellen scheinen, dass diese als Berechti-
gungsträger irgendwie doch noch leben. Der Tote ist jedoch tot, d. h. Prädikationen,
die auf ihn zu seinen Lebzeiten zutrafen (oder nicht), können mit seinem Ableben
unter Umständen nicht mehr angemessen sein. Während nun für einen lebenden Ak-
teur bzw. die von ihm vollzogenen Handlungen die Prädikation frei (x) bzw. unfrei
(x) korrekt oder inkorrekt, jedenfalls in-disparat ist, ist sie für einen Leichnam dis-
parat, da ein Leichnam per definitionem kein Akteur ist.

IV. Grenzen der Selbstbestimmung


Aus ethischer Sicht gibt es prima facie keine grundsätzlichen triftigen Gründe, die
Handlungszuständigkeit des Akteurs hinsichtlich seiner eigenen Lebensspanne ein-
zuschränken. Unter dem Gesichtspunkt der korrekten Zuordnung von Rechtferti-
gungslasten, lautet die Frage auch nicht, ob die Selbsttötung moralisch erlaubt ist,
sondern die Frage lautet: „Müssen wir uns das gefallen lassen, dass wir zum Weiter-
leben auch dann gezwungen werden, wenn wir ein erfülltes, lebenswertes Leben
nicht mehr führen können?“33 Diese Frage hebt wohlgemerkt nicht darauf ab, dass
der Sterbewillige zu der Einschätzung, ob sein Leben erfüllt und lebenswert ist,
durch Gründe kommt, die am Kriterium der Verallgemeinerbarkeit zu messen
sind. Ob solche Gründe aus der Perspektive des Sterbewilligen gegeben sind oder
nicht ist nach Kamlah eine Frage der Widerfahrnis, d. h. einer Ereigniskonstellation,
33
Kamlah, Wilhelm, Meditatio Mortis, a. a. O. 14.
1054 Carl Friedrich Gethmann

über die der Mensch allenfalls in sehr beschränktem Umfang selbst verfügt. Wenn
einem Menschen „der Verlust aller unabdingbaren Lebensbedingungen widerfährt,
… [ist er] berechtigt, freiwillig aus dem Leben zu gehen“.34
Zur Anerkennung der Autonomie gehört die Anerkennung der Beurteilung einer
Lebenssituation kraft der Binnenrationalität des Akteurs, die zwar weder Geltung für
andere Akteure beanspruchen kann, noch aber auch von anderen Akteuren außer
Kraft gesetzt werden kann. Die Rede von der Binnenrationalität unterstellt aber
nicht eine unzugängliche Privatsphäre, denn die Gründe-Erwägungen im Raume
der Binnenrationalität nehmen an einer öffentlichen Sprache teil. Die Binnenratio-
nalität liegt somit nicht außerhalb des Raumes intersubjektiver Verstehbarkeit,
auch wenn sie sich im Einzelfall der Zustimmungsfähigkeit entzieht. Dies ist der
Kern dessen, was man mit Individualität der Person bezeichnet. Die Anerkennung
der Individualität steht somit grundsätzlich in Widerspruch zu starken paternalisti-
schen Vorstellungen.35
Die Wendung vom „Grad der Selbstbestimmung“ macht jedoch schon deutlich,
dass der Raum der individuellen Selbstbestimmung oft begrenzt ist, einmal (1.)
durch interne Grenzen, die aus Selbsttäuschung, Irreführung und Folgen offenkun-
diger Erkrankung herrühren, (2.) ferner durch externe Grenzen, die durch soziale
Verpflichtungs- und Berechtigungsverhältnisse jedem Akteur, somit auch dem Sui-
zidenten auferlegt sind.
1. Grundsätzlich dürfte unstrittig sein, dass Kriterien für einen authentischen Selbst-
tötungswunsch vor allem die Stabilität über die Zeit und die innere, binnenratio-
nale Kohärenz des Selbsttötungswunsches sind. Diese Kriterien sind erkennbar
kontextbestimmt. Die zeitliche Dringlichkeit ist bei einem sogenannten Bilanz-
suizidenten mit weitem zeitlichen Planungshorizont eine ganz andere als bei
einem Sterbenden, der unter starken Schmerzen oder für ihn unerträglicher Ver-
unstaltung leidet. Die Ermittlung der inneren Kohärenz dürfte je nach den Um-
ständen äußerst unterschiedlich ausfallen. Bei dieser Unschärfe der kriteriellen
Konturen geschieht es nicht von ungefähr, dass die Umstehenden dazu neigen,
ihre eigenen weltanschaulichen Überzeugungen zum Maßstab der Beurteilung
zu machen; paternalistische Einstellungen beruhen sicher oft auf dieser Konstel-
lation. Darüber hinaus ist unbestreitbar, dass es pathologische Fälle von Selbst-
tötungswünschen, ausgelöst durch Enttäuschungen, situative Perspektivlosigkeit,
subjektive Blindheit für Lösungsmöglichkeiten usw. gibt. Hierher gehört auch die
wohl nicht geringe Zahl von Fällen sogenannten Appell-Suizids.
Allerdings sind depressive Stimmungslagen als solche noch kein hinreichendes
Indiz dafür, dass der Akteur nicht in der Lage ist, selbstbestimmt zu handeln.
34
Kamlah, Wilhelm, Philosophische Anthropologie, Zürich 1972, 175 f. Vgl. ders., Me-
ditatio Mortis, a.a.O. 14 – 26.
35
Zur Kritik am Paternalismus im Zusammenhang mit den ethischen Fragen am Lebens-
ende s. Quante, Michael, Personales Leben und menschlicher Tod, Frankfurt am Main 2002,
296 – 337; Birnbacher, Dieter, Suizid und Suizidprävention a.a.O. 210 ff.
Ethische Fragen der Selbsttötung 1055

Vielmehr ist davon auszugehen, dass jedes Handeln von Affektionen bzw. Emo-
tionen begleitet ist. Würde man in solchen Fällen bereits die Handlungsurheber-
schaft in Frage stellen, müsste man folglich die Möglichkeit der Selbstbestim-
mung im Sinne eines affektiven Determinismus negieren. Gerade weil bezüglich
affektiver Befindlichkeiten schwer zu entscheiden ist, ob sie die Handlungsurhe-
berschaft konterkarieren, sollte man im Zweifelsfall zunächst von der Hand-
lungssouveränität ausgehen.
Grundsätzlich sind die Probleme der Pathologie des Selbsttötungswunsches
durch erhebliche Grauzonen bestimmt, die wiederum zu schwierigen morali-
schen Beurteilungskontexten führen können. Diese Probleme sind ohne ein er-
hebliches Maß an kasuistisch gebildetem Urteilsvermögen moralisch nicht zu be-
wältigen. Insgesamt ist jedoch einer prinzipiellen Pathologisierung des Selbsttö-
tungswunsches entgegenzutreten.36 Der Selbsttötungswunsch mag für lebenswil-
lige „normale“ Menschen eine Option sein, bezüglich derer sie sich nicht
vorstellen können, dass sie selbst je davon Gebrauch machen könnten. Abgese-
hen davon, dass die okkasionelle Vorstellungsfähigkeit nach der Lebenserfah-
rung eine labile Urteilsgrundlage darstellt, lässt sich leicht zeigen, dass die oft
unterschwellig vertretene Hypothese, der Selbsttötungswunsch sei als solcher
schon Symptom einer schweren psychischen Erkrankung, deswegen Indiz
einer nicht hinreichend ausgeprägten Fähigkeit, Selbstbestimmung auszuüben
und demzufolge therapiebedürftig, zu weitgehenden pragmatischen Ungereimt-
heiten führt. Zunächst ist auf die diachrone und synchrone Varianz des Krank-
heitsverständnisses vor allem im Bereich der sogenannten psychischen Erkran-
kungen hinzuweisen. Ferner ist die Hypothese durchaus schwach fundiert. Die in
diesem Zusammenhang häufig herangezogene sogenannte empirische Suizidfor-
schung ist durch (aufgrund der Zirkularität der begrifflichen Investitionen) zwei-
felhafte Statistiken gekennzeichnet.37 Von stärkerem Gewicht ist jedoch, dass die
Hypothese – wie in der ethischen Reflexion nicht selten – nicht nur zu schwach,
sondern auch zu stark ist: d. h., dass ihre Annahme bei kohärenter Anwendung zu
sozial unerwünschten Konsequenzen führt. Wenn sozial deviantes Verhalten
prinzipiell nicht auf die Handlungsurheberschaft eines zwecksetzenden Akteurs
zurückzuführen ist, sondern auf naturhafte Ursachen, können ihm auch prinzipi-
ell keine moralischen (und wohl auch keine strafrechtlichen) Vorhaltungen ge-
macht werden. Wenn die Bereitschaft, Regeln zu brechen, sicheres Symptom
für die Regelbrecher-Krankheit ist (man denke an Bankraub – Kleptomanie,
Brandstiftung – Pyromanie usw.), dann laufen moralische (und wohl auch legale)
Vorhaltungen leer.

36
Vgl. Wittwer, Héctor, a.a.O. 113 – 119.
37
Hier kann nicht näher auf den epistemologischen Zustand der mit psychischen Krank-
heiten befassten Disziplinen eingegangen werden, der moralische Qualifikationen aufgrund
schlecht fundierter Prämissen als grundsätzlich problematisch erscheinen lässt. Dazu sei nur
an das wissenschaftliche Erklärungschaos nach dem Germanwings A320-Absturz am 24. 02.
2015 erinnert.
1056 Carl Friedrich Gethmann

An dieser Stelle ist auch auf den Argumentationszug einzugehen, der zwar zuge-
steht, dass es sogenannte Bilanz-Suizide geben könne, die Fälle jedoch so selten
seien, dass sie für die weitere ethische Reflexion außer Betracht bleiben könn-
ten.38 Abgesehen davon, dass solche Zahlenangaben schon deshalb problema-
tisch sind, weil nur die den Suizidversuch Überlebenden befragt werden können,
kann auch eine geringe Zahl von Betroffenen moralisch erheblich sein. Hier be-
steht zwischen ethischen und rechts-politischen Überlegungen unter Umständen
ein erheblicher Unterschied. Beispielsweise wäre es für die ethische Reflexion
keineswegs beruhigend, wenn berichtet würde, dass die Zahl der Gefolterten
in Deutschland sehr niedrig sei. Für die ethische Reflexion kann es sogar ausrei-
chend gravierend sein, wenn es überhaupt keinen Fall gibt, ein entsprechendes
Ereignis aber für denkbar gehalten wird.
Die hinsichtlich der Pathologie des Selbsttötungswunsches erwähnten Grauzo-
nenprobleme und die dadurch gegebenen schwierigen moralischen Beurteilungs-
kontexte führen zu einer angemessenen Interpretation der Klugheitsregel, einem
Suizidenten bei unklaren Entscheidungsumständen zunächst einmal in den Arm
zu fallen. Diese Klugheitsregel ist keineswegs als Ausdruck einer spontanen mo-
ralischen Verurteilung des Selbsttötungswunsches zu interpretieren und somit
auch nicht als Datum einer Ethik des common sense zu werten, sondern diese
Regel fasst die in vielen Lebensumständen heranzuziehende Einsicht der „provi-
sorischen Moral“39 zusammen, dass bei Handlungen mit irreversiblen Folgen
gilt: Je unübersichtlicher die Handlungsumstände sind, desto eher sollte man ver-
suchen, die endgültige Entscheidung hinauszuschieben. Was hinsichtlich des In-
den-Arm-Fallens in der konkreten Situation gilt, ist auch auf die generelle Sui-
zidprävention zu beziehen. Die Rede von einer Prävention erzeugt allerdings
einen starken semantischen Sog in Richtung einer Pathologisierung des Suizids.
Die Frage der Suizidprävention kann sich aus ethischer Sicht nur auf diejenigen
Suizidenten beziehen, die aufgrund psychopathologischer Feststellungen nicht
als unverursachte Handlungsurheber eingestuft werden können. In solchen Fällen
ist die Suizidprävention ethisch geboten. Die Frage der moralischen Erlaubtheit

38
So schreibt beispielsweise Peter Dabrock, dass „jenseits eines altruistisch, religiös, po-
litisch motivierten Selbstopfertodes nur ein ganz geringer Anteil der sich in einer Lebens- oder
Identitätskrise ereignenden Suizide und Suizidversuche auf eine freiverantwortliche Ent-
scheidung zurückgeht“ (Dabrock, Peter, Bioethik des Menschen, in: Huber, Wolfgang/Mei-
reis, Torsten/Reuter, Hans-Richard (Hrsg.), Handbuch der evangelischen Ethik, München
2015, 533; „Bei einer (offensichtlich kaum anzutreffenden) Sicherheit einer freien Entschei-
dung gilt es, sie zu respektierten, im Zweifelsfall ist das Leben zu retten.“ (Ders., Art.
Selbsttötung, in: Heun, Werner/Honecker, Martin/Morlok, Martin/Wieland, Joachim (Hrsg.),
Evangelisches Staatslexikon, Stuttgart 2006, 2426 – 2432). Hervorhebungen CFG.
39
Mit provisorischer Moral (morale par provision) bezeichnet Descartes das Resultat einer
moralischen Urteilsbildung unter Bedingungen unzureichenden Wissens (wie sie auf dieser
Welt häufig gegeben sind) (Descartes, René, Discours de la méthode, ed. Adam/Tannéry, Paris
1902, 23 – 32).
Ethische Fragen der Selbsttötung 1057

des Suizids ist somit von derjenigen der moralischen Gebotenheit der Suizidprä-
vention klar zu unterscheiden.40
2. Dass ein Suizident durch Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts soziale Kon-
flikte erzeugen kann bzw. durch die Selbsttötung versucht, ihnen aus dem Weg zu
gehen, ist aus ethischer Sicht durchaus ernst zu nehmen.41 Das Einstehen für über-
nommene oder billigerweise erwartete Verpflichtungen und entsprechend die An-
erkennung der Berechtigungen anderer ist ein Grundphänomen des sozialen Le-
bens, somit keineswegs eine Eigentümlichkeit der durch einen Selbsttötungs-
wunsch konstituierten Sondersituation. Verpflichtungen, die sich aus sozialen
Rollen als Eltern, Kinder, Lehrer, Ärzte usw. ergeben, stehen dem individuellen
Interesse an Selbstbestimmung grundsätzlich entgegen. Aus dem Antagonismus
von Selbstbestimmungswünschen ergeben sich möglicherweise moralische Dis-
sonanzen wie Normenkollisionen (der Akteur verstößt gegen wenigstens eine der
von ihm für richtig gehaltene Normen, um eine andere zu befolgen), Normenkon-
flikten (verschiedene Akteure versuchen miteinander unvereinbare Normen zu
befolgen) und Dilemmata (was immer Akteure durch Ausführen oder Unterlassen
tun, verstößt gegen von ihnen für richtig gehaltenen Normen). Die bekannten ethi-
schen Paradigmen wie Tugendethik, Verpflichtungsethik, Nutzenethik sehen eine
ihrer Hauptaufgaben darin, für die Vermeidung moralischer Dissonanzen Abwä-
gungskriterien (Goldene Regel, Kategorischer Imperativ, Glückmaximierungsre-
gel o. ä.) zu formulieren. Man kann annehmen, dass der Selbsttötungswunsch auf-
grund der möglichen tiefgreifenden sozialen Folgen immer dann als ethisch ver-
boten zu qualifizieren ist, wenn die sozialen Verpflichtungen, denen sich der Sui-
zident möglicherweise entziehen will, hinreichend gravierend sind. Dies bedeutet
im Umkehrschluss, dass der Selbsttötungswunsch nur unter Bedingungen hinrei-
chend schwacher sozialer Verpflichtungen als moralisch unproblematisch einzu-
stufen ist. Allerdings darf dieser Schluss nicht zu der Verallgemeinerung führen,
ein Selbsttötungswunsch sei stets Ausdruck einer zu verurteilenden egoistischen
Motivlage; dagegen spricht schon, dass es auch Selbsttötungswünsche aus altru-
istischer Motivation geben kann.42

40
In den politischen Debatten der Gegenwart scheint jedoch genau diese Unterscheidung
nicht beachtet zu werden, so dass die Gebotenheit der Suizidverhütung in den dafür passenden
Fällen wenigstens unterschwellig zu dem Eindruck führt, die Selbsttötung als solche sei mo-
ralisch verwerflich (so auch Birnbacher, Dieter, Suizid und Suizidprävention a.a.O. 208 ff.).
41
Vgl. Birnbacher, Dieter, Suizid und Suizidprävention a.a.O. 204 ff.
42
Grundsätzlich ist zu beachten, dass Motive keine hinreichende Grundlage für die ethi-
sche Qualifikation einer Handlung sind. Auch eine altruistisch motivierte Handlung kann
moralisch verwerflich sein, so wie eine egoistische motivierte Handlung moralisch empfeh-
lenswert sein kann.
1058 Carl Friedrich Gethmann

V. Korrolare
1. Sterbehilfevereine

In der deutschen politischen Diskussion spielt die Frage der Zulassung von Ster-
behilfevereinen eine merkwürdige Rolle. Es ist nicht zu übersehen, dass sich die
Skepsis vor allem aus der Neigung zur generellen Pathologisierung der Selbsttötung
speist und im Übrigen im Zusammenhang mit einer schon seit längerer Zeit beobach-
tenden Tendenz steht, bioethische Fragen unter das Regime eines mehr oder weniger
starken Paternalismus zu stellen.43 Sterbehilfevereine stehen unter Verdacht, Wer-
bung für eine heroische Lebensgestaltung mit suizidalem Ende zu betreiben, und
eine solche Werbung wäre aus ethischer Sicht in der Tat verwerflich. Als mehr
oder weniger deutliche Bestätigung für den Verdacht wird zudem eine mögliche
kommerzielle Zwecksetzung gesehen. Grundsätzlich muss dagegen jedoch einge-
wendet werden, dass eine kommerzielle Orientierung des Handelns nicht per se
schon ein Merkmal der ethischen Verwerflichkeit der Handlung ist. Allerdings
kann es zu kritischen Anreizlagen kommen, die gesetzgeberische Grenzziehungen
erfordern.44
Wichtiger ist jedoch der Umstand, dass Sterbehilfevereine Hilfe anbieten, somit
dem Anliegen Rechnung tragen, dass Menschen, die mit sich selbst und ihrer sozia-
len Umgebung einen Selbsttötungswunsch auszumachen haben, in besonderer Weise
hilfebedürftig sind. Sterbehilfevereine, die sich als Instrumente bezogen auf einen
solchen Zweck verstehen und entsprechend organisieren, sind Instrumente der Sui-
zidprävention. Sie bieten ihren Mitgliedern zwar die Sicherheit, im Falle eines
Selbsttötungswunsches durch Beschaffen eines todbringenden Medikaments Beihil-
fe zu leisten, aber zuvor haben sie die Möglichkeit, durch eine strenge Überprüfung
der Authentizität des Selbsttötungswunsches Kurzschluss-Handlungen zu verhin-
dern, Appell-Suizidenten vom Selbsttötungsversuch abzuhalten und darüber hinaus
gezielt psychotherapeutische Unterstützung zu vermitteln.
Auf der anderen Seite ist zu bedenken, dass, wer einem Selbsttötungswilligen
grundsätzlich Hilfe und Beihilfe verweigert, Mitverantwortung dafür trägt, dass
der Betroffene keine andere Möglichkeit sieht, als mit roher Gewalt Hand an sich

43
Hartmut Kreß hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die zunehmend restriktive Ge-
setzgebung in bio-ethischen Fragen (darunter auch zur Frage der Selbsttötung) Kennzeichen
eines zunehmenden Paternalismus und damit einer zunehmenden restriktiven Einstellung be-
züglich der individuellen Selbstbestimmung darstellt (Selbstbestimmung am Lebensende
a.a.O.; Kreß, Hartmut, Medizinisch assistierter Suizid – Regulierungsbedarf im Strafrecht?,
in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 20 (2015) 29 – 49). Aus rechtwissenschaftlicher
Perspektive argumentieren in die gleiche Richtung z. B. Gutmann, Thomas, der eigene Tod –
die Selbstbestimmung des Patienten und der Schutz des Lebens in ethischer und rechtlicher
Dimension, in: Ethik in der Medizin 14 (2002) 170 – 185; Hufen, Friedhelm, Selbstbestimmtes
Sterben – Das verweigerte Grundrecht, in: NJW 2018, 1524 – 1528.
44
Vgl. zur rechtlichen Beurteilung: Hilgendorf, Eric, Zur Strafwürdigkeit von Sterbehil-
fegesellschaften, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 2007, 479 – 499.
Ethische Fragen der Selbsttötung 1059

zu legen.45 Ferner werden in solchen Fällen fast immer Unbeteiligte (beispielsweise


nicht nur Lokomotivführer, sondern auch einfache Bahnreisende) in unzumutbarer
Weise belastet, nur weil einem Menschen unter Umständen die Wahrnehmung seiner
legitimen Selbstbestimmungsrechte verweigert wird. Noch dramatischer sind die
Fälle, in denen der Suizident keinen anderen Weg findet, als durch Ausführung seiner
Handlung andere mit in den Tod zu reißen, was selbstverständlich ethisch zu miss-
billigen ist.

2. Ärztlich assistierte Selbsttötung46

Die moralische Beurteilung der Beihilfe zur Selbsttötung ergibt sich aus dem all-
gemeinen Hilfegebot, demgemäß der in Not befindliche Mensch Anspruch auf Hilfe
durch seine Mitmenschen hat. Dieser Hilfeanspruch wird selbstverständlich durch
die Fähigkeiten und Fertigkeiten des Helfers moderiert. Den Angehörigen der Heil-
berufe, insbesondere Ärzten, stehen allerdings in der Regel weitergehende Möglich-
keiten zur Hilfe zur Verfügung als Angehörigen der Normalbevölkerung. D. h. je-
doch nicht, dass die Beihilfe zur Selbsttötung eine spezifisch ärztliche Tätigkeit
ist. Allerdings kann niemand, auch nicht ein Arzt, zu einer entsprechenden Hilfeleis-
tung verpflichtet werden, beispielsweise, wenn er aus weltanschaulichen Überzeu-
gungen eine tiefe Aversion gegen diese Hilfeleistung hat. Die Beteuerung, die Bei-
hilfe zur Selbsttötung könne keine ärztliche Leistung sein47, läuft daher leer. Die im
deutschen Rechtsraum lange Zeit bestehende Paradoxie, dass ein Arzt zunächst zwar
Beihilfe zur Selbsttötung leisten darf, dann aber in Garantenstellung Wiederbele-
bungsmaßnahmen einleiten muss, ist durch neueste Rechtsprechung wohl erledigt.48
Oft kann nur ein Arzt dem authentisch entscheidenden Selbsttötungswilligen Beihil-
fe leisten (andernfalls notwendige Hilfe anbieten oder vermitteln).
Dennoch wird von ärztlichen Standesvertretern in Deutschland ein vehementer
Widerstand gegen die ärztlich assistierte Selbsttötung zum Ausdruck gebracht.49
Dabei wird häufig von dem Topos Gebrauch gemacht, das ärztliche Handeln sei
nicht auf das Sterben, sondern auf das Eintreten für „das Leben“ gerichtet.50 Die Be-
stimmung des Telos ärztlichen Handelns mittels einer solchen Ontologisierung „des
Lebens“ bedarf allerdings der Kritik. Es ist nämlich offenkundig, dass mit der Wen-
dung von den Ärzten als Anwälten des Lebens auf die Mitwirkung von Ärzten an
45
Vgl. die diesbezügliche Klage bei Kamlah, Wilhelm, Meditatio Mortis, 23.
46
Zum gesamtem Themenkomplex aus rechtlicher und ethischer Sicht vgl. Merkel, Rein-
hard, Selbstbestimmung am Lebensende: Nachdenken über assistierten Suizid und aktive
Sterbehilfe, Berlin 2012.
47
Deutscher Ethikrat, Suizidprävention statt Suizidunterstützung, Berlin 2017.
48
BGH-Urteil vom 03. 07. 2019.
49
Vgl. dazu Birnbacher, Dieter, Die ärztliche Beihilfe zum Suizid in der ärztlichen Stan-
desethik, in: Aufklärung und Kritik 2006, 7 – 19.
50
So z. B. der vormalige Präsident der Bundesärztekammer: Montgomery, Frank Ulrich,
Ärztlich assistierter Suizid engt das Leben ein: Tagesspiegel 10. 09. 2014.
1060 Carl Friedrich Gethmann

menschrechtswidrigen Humanexperimenten angespielt wird und somit ein Lerner-


trag aus der jüngeren deutschen Geschichte in Anspruch genommen wird.51 Diesbe-
züglich ist daran zu erinnern, dass die „Lebens-Rede“ in der Ideologie des National-
sozialismus eine durchaus ungute Rolle gespielt hat („Lebensraum“, „Lebensborn“
u. a.), deren biologistische, in Sonderheit rassistische Konnotationen zur Vorsicht
mahnen sollten. Die Eigenschaft des Lebendigseins wird im Übrigen vielen Substra-
ten von den Kieselalgen bis zu den Göttern zugeschrieben; humanmedizinisch täti-
gen Ärzten geht es aber um menschliches Leben. Dass die Ärzte versuchen, mensch-
liches Leben zu retten und zu bewahren, gilt allerdings nur so weit, wie der Patient
damit seine nach angemessener Unterrichtung erfolgte Zustimmung gibt. Genau ge-
nommen ist daher nicht „das Leben“ des Patienten, sondern die Anerkennung seiner
Selbstbestimmungsrechte, insbesondere des „Rechts auf Leben“, und die daraus re-
sultierende Hilfeverpflichtung der höchste Zweck ärztlichen Handelns.52 Unter nor-
malen Umständen, etwa wenn der Patient (wie beispielsweise in der Unfallmedizin
nicht selten) nicht oder nicht hinreichend äußerungsfähig ist, wird man annehmen
dürfen, dass die Rettung des Lebens dem Selbstbestimmungsrecht des Betreffenden
entspricht. Dies ist jedoch nicht Ausdruck der kategorischen Setzung eines Wertes
„das Leben“, sondern eine umsichtige Wahrnehmung des Hilfeanspruches des Pati-
enten. Das eigentliche Telos des ärztlichen Handelns sollte daher die Gewährung
sachverständiger Hilfe bezüglich des Hilfebegehrens des Patienten sein. Solche
Hilfe ist daher in den medizinischen Standardkontexten im Übrigen nicht nur erlaubt,
sondern geboten.
Hinsichtlich der Selbsttötung ist allerdings zu unterstreichen, dass die Handlungs-
urheberschaft dem Selbsttötungswilligen zukommt. Wird diese durch den Helfer
übernommen53, ist die Situation der Tötung auf Verlangen gegeben. Während die
Hilfe zur Selbsttötung unter Umständen erlaubt oder sogar geboten ist, ist Tötung
auf Verlangen abgesehen von dramatischen Sonderfällen als verwerflich zu qualifi-
zieren.
Nicht selten wird die Debatte über ärztlich assistierten Suizid und Sterbehilfever-
eine in die Forderung nach Ausbau der Palliativmedizin, Stärkung der Hospizbewe-
gung und Ausweitung der Schmerztherapie gewissermaßen umgebogen.54 Zweifel-
51
Z. B. Montgomery, Frank Ulrich, „Wo ist der Unterschied zur Euthanasie?“: Spiegel
Online 08. 05. 2019.
52
Auf diesen Unterschied zwischen „Leben“ und „Recht auf Leben“ hat Reinhard Merkel
in verschiedenen Zusammenhängen hingewiesen, vgl. Merkel, Reinhard, Früheuthanasie,
Baden-Baden 2001, 403 ff.
53
Im deutschen Strafrecht wird dann vom Wechsel der „Tatherrschaft“ gesprochen.
54
So auch die Kurz-Stellungnahme des Deutschen Ethikrates, Suizidprävention statt Sui-
zidunterstützung, Berlin 2017. Der Autor dieses Beitrags hat sich mit Reinhard Merkel und
anderen dem Minderheitenvotum angeschlossen. S. dazu: Merkel, Reinhard, Das Recht auf
Selbsttötung gehört zu unserer Würde, in: Philosophie-Magazin, Gibt es einen guten Tod?,
Stuttgart 2017, 23 – 27. Vgl. ferner Borasio, Domenico Gian/Jox, Ralf J./Taupitz, Jochen/
Wiesing, Urban, Selbstbestimmung im Sterben – Fürsorge am Lebensende. Ein Gesetzesvor-
schlag zur Regelung des assistierten Suizids, Stuttgart 2014.
Ethische Fragen der Selbsttötung 1061

los sind dies wichtige Themen für kranke Menschen. Fortschritte in diesen Bereichen
sind begrüßenswert, soweit Patienten davon Gebrauch machen wollen. Selbsttö-
tungswilligen vom Typus Wilhelm Kamlah palliativmedizinische Angebote zu ma-
chen, kann jedoch nur als widersinnig eingestuft werden. Wer sich gar nicht in der
Sterbephase befindet, sondern durch kohärente und stabile Abwägung seinem
Leben ein Ende bereiten will, bei dem laufen palliativmedizinische Angebote
nicht nur in die Leere, sie stellen eine Missachtung des Selbstbestimmungsrechtes
dar.55

55
Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung vgl. Hufen, Friedhelm, Selbstbestimmtes Ster-
ben a.a.O. 1526.
Zur prozeduralen Regelung der Freitodhilfe
Von Frank Saliger

I. Das Problem
Reinhard Merkel hat sich in seiner Stellungnahme für die öffentliche Anhörung zu
§ 217 StGB gegen den Gesetzentwurf von Brand/Griese u. a., der bekanntlich Gesetz
geworden ist, ausgesprochen. In dieser tiefgehenden Stellungnahme findet sich nicht
nur eine überzeugende Darlegung des fehlenden Strafunrechts von Suizid, individu-
eller und geschäftsmäßiger Hilfe zum freiverantwortlichen Suizid. Reinhard Merkel
ermahnt den Strafgesetzgeber auch wiederholt, dass er kollektive Risiken zwar de-
finieren und unterbinden, nicht aber erfinden dürfe.1
Bemerkenswert ist die Stellungnahme des Jubilars noch in einer weiteren Hin-
sicht. Reinhard Merkel erklärt über die Kritik des späteren § 217 StGB hinaus aus-
drücklich seine Zustimmung zu den alternativen Gesetzentwürfen von Künast/Sitte
u. a. sowie Hintze/Lauterbach u. a. Das ist aus zwei Gründen bemerkenswert. Zum
einen ist diesen alternativen Gesetzentwürfen im Gesetzgebungsverfahren zu
§ 217 StGB nicht die gebotene Aufmerksamkeit zuteilgeworden. Zum anderen ma-
chen diese Gesetzentwürfe die Zulässigkeit von Freitodhilfe auch von verfahrensmä-
ßigen Voraussetzungen abhängig und können daher als prozedurale Regelungen der
Freitodhilfe angesehen werden.2
Um letztere Problematik soll es in diesem, dem Jubilar in großer Wertschätzung
gewidmeten Beitrag gehen. Anlass dazu gibt der Umstand, dass am zweiten Tag der
mündlichen Anhörung zu § 217 StGB vor dem BVerfG mehrere Verfassungsrichter
mit Blick auf die Beratungslösung beim Schwangerschaftsabbruch in § 218a Abs. 1
StGB von der Möglichkeit einer prozeduralen Legalisierung bzw. Regelung der Frei-
todhilfe gesprochen haben.3 Der Beitrag spürt daher der Frage nach, was der Gesetz-
geber bei der Freitodhilfe tun sollte, falls das BVerfG – die Verkündung des Urteils ist
für den 26. Februar 2020 angekündigt4 – § 217 StGB für verfassungswidrig erklärt.

1
Merkel, Stellungnahme für die öffentliche Anhörung vom 23. September 2015 im Aus-
schuss des Deutschen Bundestages für Recht und Verbraucherschutz, S. 3.
2
Zutreffend Schweiger, Prozedurales Strafrecht, 2018, S. 269 ff.
3
Siehe nur den Bericht von Hipp, Warum das Verfassungsgericht Sterbewilligen Recht
geben könnte, Spiegel Panorama vom 18. 04. 2019.
4
Siehe Pressemitteilung Nr. 1/2020 des BVerfG v. 08. 01. 2020.
1064 Frank Saliger

II. Klassifikation der Gesetzesvorschläge zur Freitodhilfe


Um die Frage zu beantworten, empfiehlt es sich, mit einem Überblick über die
zahlreichen vorgeschlagenen Regelungsentwürfe zur Freitodhilfe zu beginnen.
Denn die Regelungsvorschläge lassen sich in den verschiedensten Hinsichten klas-
sifizieren.

1. Rein materiell-rechtliche Regelungsvorschläge

Zunächst zu nennen sind jene Regelungsvorschläge, welche – wie der Gesetzge-


ber – entweder nur die geschäftsmäßige Freitodhilfe oder jede individuelle wie ge-
schäftsmäßige Freitodhilfe nach unterschiedlichen Leitkriterien und in unterschied-
lichem Umfang kriminalisieren wollen. Da diese Regelungsvorschläge die Krimina-
lisierung der Freitodhilfe allein von materiellen Gesichtspunkten abhängig machen,
werden sie als rein materiell-rechtliche Regelungsvorschläge klassifiziert.
Als Erstes ist der Regelungsvorschlag von Jäger anzuführen, da er sich auf § 217
StGB beschränkt. Jäger will den Ausnahmetatbestand des Abs. 2 dahin erweitern,
dass auch Ärzte und Angehörige anderer Heilberufe von der Strafdrohung nicht er-
fasst werden, wenn sie Personen, die an einer unerträglichen, unheilbaren und mit
palliativmedizinischen Mitteln nicht ausreichend zu lindernden Krankheit leiden,
in Einzelfällen auf deren Bitte hin ein tödliches Medikament überlassen und das Han-
deln Ausdruck eines engen Vertrauens- und Fürsorgeverhältnisses ist.5
Eine zweite Gruppe von Vorschlägen nimmt – unabhängig von § 217 StGB – die
Gewinnsucht bzw. Gewerbsmäßigkeit zum Leitkriterium der Kriminalisierung. So
soll etwa nach § 215a des Alternativ-Entwurfs Sterbebegleitung (AE-StB) mit Frei-
heitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft werden, wer die Selbsttötung
eines anderen aus Gewinnsucht unterstützt.6 Der AE-StB enthält daneben – ähnlich
wie der AE-Sterbehilfe von 1986 – eine Strafvorschrift zur Nichthinderung einer
nicht freiverantwortlichen Selbsttötung (§ 215) sowie in einem Sterbebegleitungsge-
setz eine ausschließlich an materiellen Kriterien orientierte Freigabe der ärztlich as-
sistierten Selbsttötung.7 Enger schlägt Schroth vor, einen wucherähnlichen Tatbe-
stand zu schaffen, wonach die Beihilfe zur Selbsttötung unter Ausbeutung einer
Zwangslage in Bereicherungsabsicht zu kriminalisieren wäre.8 Der 66. DJT hat
5
Jäger, JZ 2015, 875 (883).
6
Schöch/Verrel, Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung, GA 2005, 553 (585), einer Emp-
fehlung der Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz folgend; dazu auch Verrel, Gutachten zum
66. DJT, 2006, C 116 f.
7
Schöch/Verrel, Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung, GA 2005, 553 (585 f.); zu diesen
Vorschlägen kritisch U. Neumann/Saliger, HRRS 2006, 280 (286 ff.).
8
Schroth, GA 2006, 549 (570). Der Vorschlag lautet: „Wer einem anderen, um sich oder
einen Dritten zu bereichern, unter Ausbeutung von dessen Zwangslage Beihilfe zur Selbsttö-
tung leistet oder einer solchen Handlung durch seine Vermittlung Vorschub leistet, wird …
bestraft.“ Zustimmend etwa Schöch, FS Kühl, 2014, 585 (601).
Zur prozeduralen Regelung der Freitodhilfe 1065

2006 beide Vorschläge mit nahezu identischem Ergebnis angenommen.9 Auch die
Bundesregierung wollte 2012 noch die Suizidbeihilfe als kommerzialisierte Dienst-
leistung unter Strafe stellen. Der damalige Regierungsentwurf sah deshalb die Ein-
führung eines § 217 StGB gegen die gewerbsmäßige Förderung der Selbsttötung
vor.10
Noch in der Sache mit der zweiten Gruppe verbunden, jedoch in dem Kriminali-
sierungskriterium über die Kommerzialisierung hinaus geht Art. 115 schwStGB. Da-
nach wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft, wer aus
selbstsüchtigen Beweggründen jemanden zum Selbstmorde verleitet oder ihm
dazu Hilfe leistet, wenn der Selbstmord ausgeführt oder versucht wird. Diese, an
der Motivationslage des Suizidhelfers orientierte Regelung wird – zusammen mit
Anpassungen im Betäubungsmittelgesetz und im Standesrecht – auch dem deutschen
Gesetzgeber anempfohlen.11
Eine dritte Gruppe von rein materiell-rechtlichen Regelungsvorschlägen will jede
Form der Beteiligung an einem Suizid unter Strafe stellen. Paradigmatisch für diese
Meinungsgruppe steht der Gesetzentwurf von Sensburg/Dörflinger u. a. im Gesetz-
gebungsverfahren zu § 217 StGB. Danach sollte mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren
bestraft werden, wer einen anderen dazu anstiftet, sich selbst zu töten, oder ihm dazu
Hilfe leistet. Auch eine Strafbarkeit des Versuchs war vorgesehen.12 Im Schrifttum
finden sich ähnliche, teils zu konkreten Straftatbeständen13 ausgearbeitete Vorschlä-
ge.14
Indes können diese Regelungsvorschläge im Folgenden vernachlässigt werden.
Was den Vorschlag von Jäger anbelangt, so wird seine einzelfallbezogene Zulassung
der Suizidassistenz für Ärzte und Angehörige anderer Heilberufe für den Fall, dass
das BVerfG § 217 StGB für verfassungswidrig erklärt, dem Regelungsproblem in
Umfang und Tiefe nicht (mehr) gerecht. Gegen die anderen rein materiell-rechtli-
chen Vorschläge spricht, dass sie nicht nur § 217 StGB in Frage stellen. Sie würden
vielmehr den tradierten Grundsatz der Straflosigkeit der individuellen Freitodhilfe
insgesamt preisgeben und damit eine erhebliche Verschärfung des geltenden Rechts
vor und nach Einführung des § 217 StGB bedeuten. Abgesehen davon, dass solche
Vorschläge derzeit nicht mehrheitsfähig erscheinen, taugen sie nicht als Maßstab für

9
Siehe 66. DJT, Beschlüsse, S. 12.
10
BT-Drucks. 17/11126, S. 5: „Wer absichtlich und gewerbsmäßig einem anderen die
Gelegenheit zur Selbsttötung gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis
zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“ (§ 217 Abs. 1 StGB-E). Dazu Saliger, Selbstbe-
stimmung bis zuletzt, 2015, S. 178 ff.
11
Britzke, § 217 StGB im Lichte des strafrechtlichen Rechtsgutskonzepts, 2019, S. 224 ff.
12
BT-Drucks. 18/5376, S. 5.
13
Bei Freund/Timm, GA 2012, 491 (495) und Feldmann, GA 2012, 498 (516).
14
Dafür z. B. Kubiciel, JZ 2009, 600 (608); mit Grenzen bei freiverantwortlichen und
überlegten Suiziden auch Engländer, FS Schünemann, 2014, 583 (594 f.).
1066 Frank Saliger

die rechtspolitische Diskussion, falls das BVerfG bereits die in § 217 StGB liegende
Strafrechtsverschärfung als mit der Verfassung unvereinbar ansehen sollte.

2. Strafrechtliche Verbote mit prozeduralen Legalisierungen

Eine weitere Gruppe von Regelungsvorschlägen kombiniert strafrechtliche Ver-


bote bei der Suizidteilnahme mit auch von prozeduralen Anforderungen abhängigen
Legalisierungen. Einen frühen Vorschlag in diese Richtung hat Hoerster unterbreitet.
In einer Monografie zur Sterbehilfe will er einerseits die Teilnahme (Verleiten oder
Förderung) an der Selbsttötung kriminalisieren (§ 214 Abs. 1 StGB-E). Andererseits
soll die Teilnahme eines Arztes an der Selbsttötung nicht rechtswidrig sein, sofern die
Voraussetzungen vorliegen, unter denen Hoerster die Sterbehilfe nicht für rechtswid-
rig hält (§ 214 Abs. 2 i.V.m. § 216a StGB-E). Zu diesen Voraussetzungen gehören die
prozedurale Kautelen der Aufklärung und Untersuchung durch einen zweiten Arzt
sowie die schriftliche Dokumentation (§ 216a Abs. 2 StGB-E).15
Auch Gottwald favorisiert in ihrer Dissertation zu den Sterbehilfegesellschaften
ein Kombinationsmodell. So unterstützt sie den Vorschlag des AE-StGB zur Krimi-
nalisierung der Unterstützung einer Selbsttötung aus Gewinnsucht. Zugleich fordert
sie, ohne es näher auszuarbeiten, dass die Tätigkeit der Sterbehilfegesellschaften an
Sorgfaltsanforderungen orientiert und staatlich kontrolliert wird.16
Konkreter hinsichtlich der prozeduralen Legalisierung wird der im Schrifttum auf
Widerhall17 gestoßene Gesetzesvorschlag von Borasio/Jox/Taupitz/Wiesing. Zwar
will auch er – neben der Werbung für die Beihilfe zur Selbsttötung – die Beihilfe
zur Selbsttötung bestrafen, sofern die Selbsttötung ausgeführt oder versucht wird
(§ 217 Abs. 1 StGB-E).18 Jedoch zielen die Autoren in § 217 Abs. 3 und 4 StGB-
E vor allem auf die Konturierung eines Katalogs von materiellen und prozeduralen
Kriterien, nach denen der ärztlich assistierte Suizid gerechtfertigt wird. So ist eine
ärztliche Suizidhilfe materiell nur zulässig gegenüber einem volljährigen und einwil-
ligungsfähigen Suizidenten mit ständigem Wohnsitz in Deutschland, der an einer un-
heilbaren, zum Tode führenden Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung leidet
sowie freiwillig und ernsthaft die Suizidbeihilfe verlangt. Prozedural muss der Arzt
folgende Anforderungen erfüllen: ein persönliches Gespräch mit dem Patienten über
den Entschluss zur Selbsttötung; eine persönliche Untersuchung des Patienten zum
Gesundheitszustand; eine umfassende und lebensorientierte Aufklärung, auch über
Alternativen; die Hinzuziehung eines zweiten unabhängigen Arztes, der ebenfalls

15
Hoerster, Sterbehilfe im säkularen Staat, 1998, S. 168 ff.
16
Gottwald, Die rechtliche Regulierung von Sterbehilfegesellschaften, 2009, S. 231 ff. und
255 f.
17
Siehe zum ihm etwa U. Neumann, medstra 1/2015, S. 16 ff. und Saliger, Selbstbestim-
mung (Fn. 10), S. 187 ff.
18
Angehörige oder nahestehende Personen bei einem freiverantwortlichen Suizid eines
Volljährigen ausgenommen (§ 217 Abs. 2 StGB-E).
Zur prozeduralen Regelung der Freitodhilfe 1067

persönlich kommuniziert, untersucht und ein schriftliches Gutachten erstattet; die


Einhaltung eines Zeitraums von mindestens zehn Tagen zwischen dem Aufklärungs-
gespräch und der Beihilfe zur Selbsttötung.19
Strafrecht mit Prozeduralisierung kombiniert ferner der bereits erwähnte Entwurf
von Künast/Sitte u. a. zu einem Gesetz über die Straffreiheit der Hilfe zur Selbsttö-
tung.20 Das mag auf den ersten Blick überraschen, weil der Entwurf nach seinem er-
klärten Zweck die Zulässigkeit einer Selbsttötungshilfe durch Ärzte, Einzelpersonen
und Organisationen regeln will (§ 1) und die Hilfe zur Selbsttötung deshalb für
grundsätzlich straflos erklärt (§ 2 Abs. 2). Allerdings beinhaltet der Entwurf auch
Neupönalisierungen zur gewerbsmäßigen Hilfe zur Selbsttötung (§ 4) und zur ge-
werbsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 5). Soweit der Gesetzentwurf daher
die Freitodhilfe durch Ärzte, nichtärztliche Mitarbeiter in Hospizen und Kranken-
häusern, Sterbehelfer sowie Mitglieder und Angestellte von Sterbehilfeorganisatio-
nen differenzierenden Beratungspflichten (§ 7) und Dokumentationspflichten (§ 8)
unterwirft sowie Pflichtverletzungen mit eigener Strafe bedroht (§ 9)21, liegt gleich-
wohl ein Mischmodell vor.
Zu diesen Mischmodellen ist auch der Regelungsvorschlag von Kampmann zu
zählen. Er plädiert für eine Streichung von § 217 StGB und eine Regelung des ärzt-
lich assistierten Suizids im BtMG. Er schlägt einen neuen § 13a BtMG vor, der im
Unterschied zu dem Verbotstatbestand in § 13 Abs. 1 BtMG für Ärzte die Verschrei-
bung oder Überlassung bestimmter Betäubungsmittel zum Zwecke einer freiverant-
wortlichen Selbsttötung unter bestimmten materiellen und prozeduralen Anforde-
rungen (z. B. umfassende und lebensnahe Beratung, Dokumentation, 3-Tage-Zeit-
raum zwischen Beratung und Freitodhilfe) erlaubt. Flankiert wird diese Erlaubnis
durch eine Strafnorm bei Pflichtverletzungen und durch Ordnungswidrigkeiten.22
Schließlich findet sich ein Mischmodell auch in Bezug auf den geltenden § 217
StGB. So bilanziert Berghäuser ihre eingehende Kritik des § 217 StGB nicht mit dem
Verdikt der Verfassungswidrigkeit. Vielmehr wechselt sie zu einer rechtspolitischen
Kritik, in der sie in Anlehnung an die Regelung der Euthanasie im niederländischen
Strafgesetzbuch (Art. 293 Abs. 2 und Art. 294 Abs. 2 nlStGB) und an die Verfah-
renslösung gemäß § 218a Abs. 1 StGB für eine „Ergänzung des Verbotstatbestandes
der geschäftsmäßigen Suizidhilfe um eine in einen Ausnahmetatbestand gefasste
Verfahrensregelung“ plädiert.23
19
Borasio/Jox/Taupitz/Wiesing, Selbstbestimmung im Sterben – Fürsorge zum Leben. Ein
Gesetzesvorschlag zur Regelung des assistierten Suizids, 2014, S. 22 ff. Dazu auch Borasio,
Selbst bestimmt sterben usw., 2016, S. 101 ff.
20
BT-Drucks. 18/5375.
21
BT-Drucks. 18/5375, S. 3 ff. Sympathie dafür auch bei Hoven, ZIS 2016, 1 (9) und
Hecker, GA 2016, 455 (467).
22
Kampmann, Die Pönalisierung der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung – eine
kritische Analyse. Zugleich ein Reformvorschlag zur Normierung ärztlicher Suizidassistenz,
2017, S. 144 ff. (174 ff.).
23
Berghäuser, ZStW 2016, 741 (782).
1068 Frank Saliger

3. Außerstrafrechtliche Regelungen mit materiellen


und prozeduralen Kautelen

Eine letzte Gruppe von Regelungsvorschlägen sucht eine Regelung der Freitod-
hilfe außerhalb des Strafrechts, wobei auf materielle und prozedurale Gesichtspunk-
te zurückgegriffen wird. Das Spektrum der Vorschläge ist sehr heterogen. Beginnen
kann man mit einer Gruppe von außerstrafrechtlichen Vorschlägen, die allein die
ärztliche Suizidassistenz regeln wollen. So votiert Lindner für eine gesetzliche Re-
gelung, die aus drei Elementen besteht: dem grundsätzlichen Verbot der ärztlichen
Suizidassistenz, den materiellen Voraussetzungen für eine Ausnahme von diesem
Verbot (z. B. Leiden an einer schweren und unheilbaren Krankheit, hoher Leidens-
druck, keine hinreichende oder zumutbare Schmerz- und Angsttherapie) und verfah-
rensrechtlichen Kautelen zur Missbrauchsverhinderung (z. B. Begutachtung der ma-
teriellen Voraussetzungen durch zwei weitere Ärzte, Drei-Tage-Zeitraum zwischen
Feststellung und Selbsttötung, Dokumentation).24
Roxin schlägt eine aus zwei Elementen bestehende Regelung vor: Zum einen soll-
te der Gesetzgeber das öffentliche Angebot einer Selbsttötungshilfe als Ordnungs-
widrigkeit ahnden. Zum anderen sollte der ärztlich assistierte Suizid in Anlehnung
an eine Entscheidung des VG Berlin in aussichtslosen Fällen eines schweren und
nicht therapierbaren Leidens des Selbsttötungswilligen ausdrücklich zugelassen
werden.25
Eine rein zivilrechtliche Regelung des ärztlich assistierten Suizids schlägt der Ge-
setzentwurf von Hintze/Lauterbach u. a. vor. Im Buch 4 des BGB will er einen neuen
Abschnitt 4 „Selbstbestimmung des Patienten“ einfügen und dort in einem neuen
§ 1921a BGB-E die materiellen und prozeduralen Anforderungen für die Zulässig-
keit der ärztlich begleiteten Lebensbeendigung regeln. Materiell wird etwa voraus-
gesetzt, dass der Patient volljährig und einwilligungsfähig ist, er an einer unheilba-
ren, unmittelbar zum Tode führenden Erkrankung leidet und der Patient die ärztliche
Hilfestellung bei der Selbsttötung ernsthaft und endgültig wünscht. Prozedural for-
dert der Gesetzentwurf eine ärztliche Beratung des Patienten sowie die Bestätigung
der Unumkehrbarkeit des Krankheitsverlaufs, der Wahrscheinlichkeit des Todes
sowie des Patientenwunsches und der Einwilligungsfähigkeit des Patienten durch
einen zweiten Arzt.26
Eine zweite Gruppe von Regelungsvorschlägen geht über die ärztliche Suizidas-
sistenz hinaus. Sie kann sich eine verwaltungsrechtliche Kontrolle der Tätigkeit von
Sterbehilfegesellschaften anhand von Sorgfaltskriterien vorstellen, wie sie etwa die
Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin der Schweiz 200627 für

24
Lindner, NJW 2013, 136 (138 f.).
25
Roxin, NStZ 2016, 185 (190 ff.).
26
BT-Drucks. 18/5374, S. 5; Sympathie bei U. Neumann, medstra 1/2015, 16 (18).
27
NEK-CNE, Stellungnahme Nr. 13/2006.
Zur prozeduralen Regelung der Freitodhilfe 1069

den Umgang mit Suizidbeihilfe empfohlen hat28, gegebenenfalls in Verbindung mit


einer gesetzlichen Freigabe des ärztlich assistierten Suizids.29

III. Leitlinien für eine auch prozedurale Regelung


der Freitodhilfe
Auf Basis dieses Überblicks der Regelungsvorschläge gilt es, Leitlinien für eine
auch prozedurale Regelung der Freitodhilfe zu erarbeiten.

1. Gesetzgeberischer Handlungsbedarf?

Zunächst stellt sich die Frage, ob nach einer möglichen Nichtigkeitserklärung von
§ 217 StGB durch das BVerfG ohne konkreten Regelungsauftrag – allein dieser Fall
sei aus Vereinfachungsgründen betrachtet30 – überhaupt gesetzgeberischer Hand-
lungsbedarf besteht.
Dagegen könnte sprechen, dass die Rechtsprechung nach Inkrafttreten des § 217
StGB Ende 2015 einige wichtige mit der Suizidbeihilfe zusammenhängende Fragen
geklärt hat. So hat das BVerwG bekanntlich 2017 entschieden, dass der Erwerb eines
Betäubungsmittels zum Zwecke der Selbsttötung ausnahmsweise erlaubnisfähig ist,
wenn sich der suizidwillige Erwerber wegen einer schweren und unheilbaren Erkran-
kung in einer extremen Notlage befindet.31 Darüber hinaus hat der 5. Strafsenat des
BGH Mitte 2019 in zwei Entscheidungen ausgesprochen, dass ein Arzt sich weder
wegen (versuchter) Tötung auf Verlangen durch Unterlassen noch wegen unterlasse-
ner Hilfeleistung strafbar macht, wenn er eine freiverantwortliche Selbsttötung nach
Bewusstseinsverlust des Suizidenten vereinbarungsgemäß nur noch begleitet.32
Indes wäre mit diesen Entscheidungen die Regelungslücke nach einer Nichtig-
keitserklärung von § 217 StGB nicht geschlossen. Sieht man davon ab, dass die

28
Schreiber, NStZ 2006, 473 (478) unter Bezug auf Duttge; Hilgendorf, JRE 2007, 479
(495 ff.) und ders., JZ 2014, 545 (551 f.); Saliger, ZRP 2008, 199 und ders., medstra 2015, 132
(138) und ders. (Fn. 10), S. 208 ff.; Rosenau/Sorge, NK 2013, 108 (118); Hecker, GA 2016,
455 (467); F. Neumann, Die Mitwirkung am Suizid als Straftat? 2015, S. 294. Für Untersa-
gungen im Vereins- oder Gewerberecht Kempf, JR 2013, 11 (13 f.) und Schmidt-Jortzig, ZRP
2014, 62.
29
Für eine Regelung bei den §§ 630a ff. StGB Saliger, medstra 2015, 132 (138) und ders.
(Fn. 10), S. 212 f. Für eine Regelung am Vorbild des niederländischen Rechts Hoven, ZIS
2016, 1 (9).
30
Zu den Entscheidungsalternativen der Teilnichtigkeit, funktionalen Nichtigkeit und
verschiedenen Unvereinbarkeitserklärungen, etwa mit Übergangsfrist, jeweils mit oder ohne
Regelungsauftrag statt aller Lechner/Zuck, BVerfGG, 8. Aufl. 2019, Rn. 20 ff.
31
BVerwG NJW 2017, 2215 (2217 f. Rn. 22 ff.); bestätigt in BVerwG NJW 2019, 2789
(2790 Rn. 18).
32
BGH NJW 2019, 3089 ff. (Berliner Fall) und 3092 ff. (Hamburger Fall).
1070 Frank Saliger

rechtskräftige Entscheidung des BVerwG aufgrund einer hochproblematischen Wei-


sung des Bundesgesundheitsministers derzeit vom Bundesinstitut für Arzneimittel
und Medizinprodukte nicht umgesetzt wird33, betreffen die erwähnten Gerichtsent-
scheidungen allein die individuelle Selbsttötungshilfe durch Mitarbeiter des Bundes-
instituts für Arzneimittel und Medizinprodukte bzw. Ärzte. Dort sprechen sie richtige
Neuerungen (BVerwG) und Klarstellungen (5. Strafsenat) aus. Jedoch enthalten sie
keine Aussagen zur organisierten Freitodhilfe durch Sterbehilfevereine oder zu se-
riell Freitodhilfe leistenden Ärzten, also zu jenen Phänomenen, auf die § 217
StGB eine unverhältnismäßige strafrechtliche Antwort gegeben hat. Damit bleibt
auch die mehrpolige Grundrechtslage, welche die Problematik der seriellen Freitod-
hilfe im Verhältnis von Freitodwilligen, assistierendem Arzt, organisiertem Sterbe-
helfer und Sterbehilfevereinen aufwirft34, ungeregelt. Da diese mehrpolige Grund-
rechtslage hochrangige Rechtsgüter betrifft, die durch die serielle Freitodhilfe Irr-
tums- und Missbrauchsgefahren ausgesetzt werden35, bestünde also gesetzgeberi-
scher Handlungsbedarf.

2. Strafgesetzliche Verfahrenslösung?

Als nächste Frage ist zu klären, ob eine strafgesetzliche Verfahrenslösung im


Sinne einer der Regelungsvorschläge aus der Gruppe „Strafrechtliche Verbote mit
prozeduralen Legalisierungen“36 zu befürworten ist.
Betrachten wir zuerst den Regelungsvorschlag, der insofern mit dem geringsten
Neuregelungsaufwand verbunden ist, als er bei Beibehaltung von § 217 StGB für die
Aufnahme einer als Ausnahmetatbestand gefassten Verfahrensregelung in Anleh-
nung an das niederländische Euthanasiegesetz und die Verfahrenslösung in § 218a
Abs. 1 StGB votiert. Berghäuser begründet diesen Vorschlag mit zwei notwendigen
Schritten. Im ersten Schritt bedürfe es eines strafgesetzlichen Verbots, das positiv-
generalpräventiv „den herausragenden Wert des Rechtsguts Leben und das grund-
sätzliche Unrecht (nicht die Normalität) dessen abstrakter Gefährdung“ unterstrei-
che. Damit könne anders als bei verwaltungs- und zivilrechtlichen Vorschriften nie-
mand auf die moralische Erlaubtheit der geschäftsmäßigen Suizidhilfe schließen.37
Im zweiten Schritt könne der Gesetzgeber sein grundsätzliches Unrechtsurteil über
die geschäftsmäßige Suizidhilfe in einem als Ausnahmetatbestand gefassten Erlaub-
nisverfahren zurückzunehmen. Tatbestandslos wären danach jene Suizidassistenten,
bei denen keine Verletzung oder „auch nur Gefährdung der Eigenverantwortlichkeit
(durch eine nicht verfahrensmäßige, geschäftsmäßige Suizidhilfe) ausgemacht wer-

33
Vgl. etwa Klapsa, Moral steht nicht über dem Recht, Welt vom 15. 01. 2020.
34
Dazu etwa F. Neumann, Mitwirkung (Fn. 28), S. 241 ff.; Saliger, Selbstbestimmung
(Fn. 10), S. 23 ff.; Kampmann, Pönalisierung (Fn. 22), S. 36 ff.
35
Vgl. auch BVerwG NJW 2017, 2215 (2220 Rn. 40).
36
Oben II. 2.
37
Berghäuser, ZStW 2016, 741 (782).
Zur prozeduralen Regelung der Freitodhilfe 1071

den kann.“38 So würde in schlüssiger, ja zwingender Weise sowohl einer von der
Strafdrohung begleiteten Kontrollbedürftigkeit Ausdruck verliehen als auch der
von § 217 StGB bekämpften Habitualisierung „suizidfreundlicher“ Wert- und Un-
rechtsvorstellungen Einhalt geboten.39
Dieser Regelungsvorschlag ist aus mehreren Gründen abzulehnen. Das betrifft
zunächst das Fehlverständnis zum Einsatz des Verfahrensrechts bzw. prozeduralen
Rechts. Unabhängig von den Unsicherheiten um Begriff und Funktionen des proze-
duralen Rechts40 besteht hinsichtlich der hier einschlägigen Rechtsbegründungs-
funktion von prozeduralem Strafrecht Einigkeit, dass das prozedurale Recht eine li-
berale Straffreistellungsfunktion hat.41 In der Begründung bei Berghäuser erhält das
Verfahrensrecht aber eine kriminalisierende Funktion, die das Rechtsgut für sie erst
erträglich und legitimierbar macht. Das zeigt der Unterschied zur Regelung des be-
ratenen Schwangerschaftsabbruchs in §§ 218a Abs. 1, 219 StGB i.V.m. dem
Schwangerschaftskonfliktgesetz. Dort findet sich mit dem Leben des nasciturus
ein substantielles Rechtsgut, um das das prozedurale Lebensschutzkonzept zentriert
ist. Bei § 217 StGB begründet die – behauptete – abstrakte Gefahr für das Leben
durch eine Suizidkultur dagegen kein substantielles Rechtsgut, an das ein prozedu-
rales Schutzkonzept anknüpfen könnte.
Das erklärt auch, warum bei der Strafbegründung von Berghäuser der Zweck so
dominant wird, den Anschein einer Normalität von Freitodhilfe durch ein gesetzli-
ches Kontrollverfahren zu vermeiden. Aber eine solche Zwecksetzung ist im Straf-
recht doppelt untauglich. Zum einen lässt sich eine Strafvorschrift nicht auf die wi-
dersprüchliche Erwägung stützen, ein gesetzliches Erlaubnisverfahren dürfe nicht
den Anschein von Normalität eben jenes erlaubten Verhaltens – warum wird das Ver-
halten dann erlaubt? – erwecken. Das gilt erst recht im Hinblick auf den ultima ratio-
Grundsatz. Zum anderen werden solche Erwägungen schon bei §§ 218a f. StGB wi-
derlegt. Denn dort hat die Missbilligung der Tatbestandslosigkeit des beratenen
Schwangerschaftsabbruchs nichts am Schwangerschaftsabbruch als Massenphäno-
men geändert.42
Vor allem überzeugt der Regelungsvorschlag von Berghäuser nicht, weil die Ver-
fahrensregelung das unterstellte Unrecht bei § 217 StGB überhaupt nicht ausräumen
kann. Wenn für den Gesetzgeber wie Berghäuser das Strafunrecht des § 217 StGB in
der abstrakten Gefährdung für das Rechtsgut Leben durch eine geschäftsmäßige
Freitodhilfe liegt43, dann kann dieses Unrecht durch den prozeduralen Nachweis

38
Berghäuser, ZStW 2016, 741 (781).
39
Berghäuser, ZStW 2016, 741 (782 f.).
40
Dazu m.w.Nw. Saliger, in: Hassemer/Neumann/Saliger (Hrsg.), Einführung in die
Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 9. Aufl. 2016, S. 434 ff.
41
Siehe statt aller m.w.Nw. Schweiger, Prozedurales Strafrecht (Fn. 2), S. 64 ff.
42
Vgl. exemplarisch Fischer, StGB, 67. Aufl. 2020, Vor §§ 218 – 219b, Rn. 10 ff.
43
Zum Gesetzgeber siehe BT-Drucks. 18/5373, S. 12, ferner 2 f. und 10; dazu NK-Saliger,
StGB, 5. Aufl. 2017, § 217 Rn. 2.
1072 Frank Saliger

einer fehlenden Verletzung oder konkreten Gefährdung der Freiverantwortlichkeit


des Suizidenten nicht aufgehoben werden. Denn die abstrakte Gefährlichkeit einer
Handlung bleibt vom Nachweis ihrer mangelnden konkreten Gefährlichkeit grund-
sätzlich unberührt.44 Daher gehört das von Berghäuser vorgeschlagene Kontrollver-
fahren richtigerweise nicht zu § 217 StGB, sondern zu allen jenen Vorschlägen von
Strafnormen, welche die individuelle Freitodhilfe generell aus Gründen des Überei-
lungsschutzes kriminalisieren wollen.
Zu diesen Vorschlägen zählen neben den rein materiellen Regelungsansätzen45
auch die strafgesetzlichen Verfahrenslösungen von Hoerster, Borasio u. a. sowie Kü-
nast/Sitte u. a.46 Freilich zeigen sich die bei Berghäuser zu Tage getretenen Schwä-
chen auch bei letzteren Vorschlägen. Das beginnt bei der Unrechtsbegründung für
eine generelle Kriminalisierung der Suizidteilnahme. Wenn die (versuchte) Selbsttö-
tung als Haupttat kein Rechtsgut verletzt, stehen die Befürworter einer generellen
Kriminalisierung der Suizidteilnahme vor der Schwierigkeit, wider den Grundsatz
der Akzessorietät und einer über 140 Jahre währenden Tradition der grundsätzlichen
Straflosigkeit der Suizidteilnahme in Deutschland eine selbständige Rechtsgutver-
letzung für die Suizidteilnahme zu begründen. Das ist bis heute konsensfähig
nicht gelungen.47 Entsprechend hat auch der Gesetzgeber des § 217 StGB darauf ver-
zichtet, die Suizidteilnahme im Einzelfall zu pönalisieren.48 Unbefriedigend bleibt
hier auch der Gesetzentwurf von Künast/Sitte u. a. Denn soweit er nur die gewerbs-
mäßige Hilfe zur Selbsttötung und die gewerbsmäßige Förderung der Selbsttötung
neu kriminalisieren will, verfehlt er tendenziell das Regelungsproblem der seriellen
Freitodhilfe.
Eine weitere Schwäche kommt hinzu. Befürworter einer strafgesetzlichen Verfah-
renslösung tendieren zu einer Überkriminalisierung von Verfahrensverstößen. So
führt beim Vorschlag von Borasio u. a. die Ausgestaltung des ärztlich assistierten Sui-
zids als Rechtfertigungsgrund dazu, dass Ärzte sich bei (vorsätzlicher) Nichteinhal-
tung der Rechtfertigungsvoraussetzungen wegen Beihilfe zur Selbsttötung strafbar
machen können. Das ist nicht nur im Verhältnis zur geltenden Rechtslage eine unver-
hältnismäßige Verschärfung, wo Ärzte, wenn sie Freitodhilfe im Einzelfall (also
nicht geschäftsmäßig) leisten, straflos sind. Darüber hinaus ist es unverhältnismäßig,
bei bloßen Formalverstößen wie Verletzungen von Dokumentationsanforderungen
(§ 217 Abs. 5 Nr. 3 StGB-E Borasio u. a.) oder einer geringfügigen Unterschreitung
des Zehn-Tage-Zeitraums zwischen Suizidverlangen und Suizidhilfe (§ 217 Abs. 4
Nr. 5 StGB-E Borasio u. a.) für Ärzte die volle Vorsatzstrafe einer Selbsttötungsbei-
44
Vgl. exemplarisch NK-Kargl, StGB, Vorbem. zu §§ 306 ff. Rn. 24.
45
Siehe z. B. die Vorschläge aus der Gruppe II. 1. mit Nw. in den Fn. 11 – 13.
46
Zum Übereilungs- und Missbrauchsschutz in diesen Vorschlägen vgl. Hoerster, Sterbe-
hilfe (Fn. 15), S. 56; Borasio/Jox/Taupitz/Wiesing, Selbstbestimmung (Fn. 19), S. 19 f. und 46;
§ 3 des Gesetzentwurfs von Künast/Sitte u. a., BT-Drucks. 18/5375, S. 3 f. und 10.
47
Zu den Argumenten gegen eine generelle Kriminalisierung der Suizidteilnahme Saliger,
Selbstbestimmung (Fn. 10), S. 136 ff.
48
BT-Drucks. 18/5373, S. 3 und 14.
Zur prozeduralen Regelung der Freitodhilfe 1073

hilfe eintreten zu lassen.49 Eine solche unzulässige Gleichbehandlung von materiel-


lem (vgl. § 5 E-Künast/Sitte u. a.) und prozeduralem Strafunrecht (vgl. § 9 Abs. 1 E-
Künast/Sitte u. a.) findet sich auch im Gesetzentwurf von Künast/Sitte u. a.50

3. Materielle Kriterien

Ist im Ergebnis eine strafgesetzliche Verfahrenslösung abzulehnen, so erhebt sich


die weitere Frage, unter welchen materiellen Kriterien eine Freitodhilfe erlaubt sein
sollte.
Konsens dürfte hinsichtlich der Freiverantwortlichkeit des gefassten und geäußer-
ten Selbsttötungsentschlusses des Suizidenten zu erzielen sein. Denn nur ein freiver-
antwortlicher Suizidentschluss kann Ausdruck des Menschenrechts auf ein selbstbe-
stimmtes Sterben sein.51 Insoweit kann an die Kriterien des BGH angeknüpft werden.
Danach ist ein Selbsttötungsentschluss freiverantwortlich, wenn der Suizident die
natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit für seine Entscheidung besitzt und der
Selbsttötungsentschluss mangelfrei gebildet sowie von innerer Festigkeit gekenn-
zeichnet ist.52 Die meisten Regelungsentwürfe verwenden in der Sache gleichlauten-
de Formulierungen.53 Die reifliche Überlegung sollte keine Voraussetzung für die
Anerkennung eines Selbsttötungsentschlusses sein, weil das Raum für unzulässige
Vernünfteleien von dritter Seite eröffnet.54 Die Freiverantwortlichkeit des Suizident-
schlusses muss sich in einer eigenverantwortlichen Selbsttötungshandlung fortset-
zen. Das ist der Fall, wenn der Suizident das zum Tode führende Geschehen be-
herrscht.55
Vor Alternativen stellen die weiteren Kriterien. Das gilt zunächst hinsichtlich der
Frage, ob der Personenkreis weiter eingeengt werden sollte. So wird teilweise die

49
Zu dieser Kritik Saliger, Selbstbestimmung (Fn. 10), S. 194 ff.
50
Zur Kritik eines solchen Hyperprozeduralismus Saliger (Fn. 40), S. 451 f.; Schweiger,
Prozedurales Strafrecht (Fn. 2), S. 271 ff.
51
Vgl. dazu auch EGMR NJW 2011, 3773 (3774 Rn. 51) – Fall Haas/Schweiz.
52
BGH NJW 2019, 3089 (3090 Rn. 17); BGH NJW 2019, 3092 (3093 Rn. 21); vgl. auch
BVerwG NJW 2017, 2215 (2219 Rn. 31).
53
Siehe Nr. 4.1., 4.4. und 4.5. der Stellungnahme Nr. 13/2006 der Nationalen Schweizer
Ethikkommission im Bereich Humanmedizin, 2006, S. 4 f.; Lindner, NJW 2013, 136 (139);
§ 217 Abs. 2 – 4 StGB-E Borasio u. a., Selbstbestimmung (Fn. 19), S. 22 f.; § 3 Abs. 1 Gesetz-
entwurf Künast/Sitte, BT-Drucks. 18/5375, S. 3; § 1921a Abs. 1 BGB-E Hintze/Lauterbach u. a.,
BT-Drucks. 18/5374, S. 5; Kampmann, Pönalisierung (Fn. 22), S. 176.
54
Str., wie hier etwa Schöch/Verrel, AE-StB, GA 2005, 553 (585 f.); Lindner, NJW 2013,
136 (139); § 1921a Abs. 2 BGB-E Hintze/Lauterbach u. a., BT-Drucks. 18/5374, S. 5. A.A.
Hoerster, Sterbehilfe (Fn. 15), S. 169; § 3 Abs. 2 Gesetzentwurf Künast/Sitte, BT-Drucks. 18/
5375, S. 4.
55
BGH NJW 2019, 3092 (3093 Rn. 17); auch BGH NJW 2019, 3089 f. Rn. 13.
1074 Frank Saliger

Volljährigkeit des Suizidenten verlangt.56 Das ist abzulehnen, weil Beurteilungsbasis


der Freiverantwortlichkeit des Selbsttötungsentschlusses die natürliche Einsichts-
und Urteilsfähigkeit ist, die auch Minderjährige besitzen können.57 Ob psychisch
Kranken die Freitodhilfe zuzubilligen ist, ist eine Frage des Einzelfalls. Ist die Sui-
zidalität aber Ausdruck oder Symptom der Erkrankung, so darf keine Suizidbeihilfe
gewährt werden.58 Eine Eingrenzung auf Personen mit ständigem Wohnsitz in
Deutschland59, um einen Freitodhilfetourismus zu verhindern, ist nicht zwingend,
sondern eine Frage der Ordnungspolitik.
Die große Mehrzahl der Regelungsentwürfe schränken den Zugang zur Freitod-
hilfe auf Personen mit einer spezifischen Erkrankung ein. Häufig wird eine schwere
und unheilbare Erkrankung verlangt60, daneben ein hoher Leidensdruck61 und verein-
zelt eine unumkehrbar zum Tode führende Erkrankung62 oder – am engsten – eine
zum Tode führende Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung.63 Das BVerwG
hat die ausnahmsweise Erlaubnis zum Erwerb eines Betäubungsmittels zum Zwecke
der Selbsttötung an eine schwere und unheilbare Erkrankung mit gravierenden kör-
perlichen Leiden, insbesondere starken Schmerzen gebunden, die bei dem Betroffe-
nen zu einem unerträglichen Leidensdruck führt.64 Vereinzelt wird auch gar keine
Eingrenzung auf spezifische Erkrankungen vorgenommen.65 Richtigerweise ist
eine schwere und unheilbare Erkrankung mit hohem Leidensdruck für den Betroffe-
nen zu fordern. Zwar ist zu beachten, dass jede zu enge krankheitsbezogene Eingren-
zung zulässiger Freitodhilfe die Gefahr einer verdeckten Vernünftelei durch Dritte in
sich bergen kann. Jedoch gebietet es die Rechtssicherheit für Dritte, die Freitodhilfe
an einem spezifischen Krankheitszustand des Suizidenten zu binden, damit der Sui-
zidhelfer die Validität des freiverantwortlich gebildeten und geäußerten Selbsttö-
tungsentschlusses nachvollziehbar und nachprüfbar feststellen kann.66

56
§ 217 Abs. 2, 3 StGB E-Borasio u. a., Selbstbestimmung (Fn. 19), S. 22; § 1921a Abs. 1
BGB-E Hintze/Lauterbach u. a., BT-Drucks. 18/5374, S. 5.
57
Im Ergebnis wie hier Lindner, NJW 2013, 136 (139); § 3 Gesetzentwurf Künast/Sitte,
BT-Drucks. 18/5375, S. 3 f.
58
4.3. der Stellungnahme Nr. 13/2006 der Nationalen Schweizer Ethikkommission im
Bereich Humanmedizin, 2006, S. 4.
59
So § 217 Abs. 3 StGB-E Borasio u. a., Selbstbestimmung (Fn. 19), S. 22 für den ärztlich
assistierten Suizid.
60
Z. B. Hoerster, Sterbehilfe (Fn. 15), S. 169; Lindner, NJW 2013, 136 (139).
61
Vgl. 4.2. der Stellungnahme Nr. 13/2006 der Nationalen Schweizer Ethikkommission im
Bereich Humanmedizin, 2006, S. 4; Schöch/Verrel, AE-StB, GA 2005, 553 (586; dort § 4
Abs. 1); Lindner, NJW 2013, 136 (139).
62
§ 1921a Abs. 1 BGB-E Hintze/Lauterbach u. a., BT-Drucks. 18/5374, S. 5.
63
§ 217 Abs. 4 Nr. 2 StGB-E Borasio u. a., Selbstbestimmung (Fn. 19), S. 23.
64
BVerwG NJW 2017, 2215 (2219 Rn. 31).
65
So § 3 Gesetzentwurf Künast/Sitte, BT-Drucks. 18/5375, S. 3 f.
66
Vgl. auch 4.2. der Stellungnahme Nr. 13/2006 der Nationalen Schweizer Ethikkom-
mission im Bereich Humanmedizin, 2006, S. 4.
Zur prozeduralen Regelung der Freitodhilfe 1075

Verbreitet wird zusätzlich die Unmöglichkeit einer hinreichend zumutbaren


Schmerz- und Angsttherapie67 oder – enger – die Ausschöpfung aller therapeutischen
Alternativen68 bzw. das Fehlen einer anderen zumutbaren Möglichkeit der Verwirk-
lichung des Sterbewunsches verlangt.69 Das überzeugt nicht. Eine solche Subsidia-
rität der Suizidhilfe entspricht nicht dem Menschenrecht auf ein menschenwürdiges
Sterben. Zudem kann ihr der Sache nach dadurch Rechnung getragen werden, dass
im Rahmen der Aufklärung und Beratung des Freitodwilligen auf alternative Be-
handlungsmöglichkeiten eingegangen werden muss.70
Eine Eingrenzung des Adressatenkreises zulässiger Freitodhilfe ist nicht geboten.
Insbesondere ist keine Beschränkung der gesetzlichen Regelung bzw. Straffreistel-
lung auf Ärzte angezeigt.71 Gewiss sind Ärzte – richtig verstanden – die „geborenen“
Freitodhelfer. Deshalb wäre eine gesetzliche Regelung des ärztlich assistierten Sui-
zids auch wünschenswert. Daneben muss aber die Freitodhilfe durch professionelle
Suizidhelfer ebenso zulässig sein wie die Freitodhilfe durch Angehörige oder sonst
nahestehende Personen.

4. Prozedurale Kautelen

Die prozeduralen Kautelen einer zulässigen Freitodhilfe beurteilen sich einerseits


nach dem materiellen Grundrechtsschutz des Freitodwilligen, der Grund und Grenze
von Verfahren markiert, andererseits nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.72
Beide Maßgaben legen eine nach den Adressaten der zulässigen Freitodhilfe – Ärzte,
professionelle Suizidhelfer, Angehörige etc. – differenzierende Regelung nahe.73
Hinsichtlich der prozeduralen Kautelen für den ärztlich assistierten Suizid lässt
sich innerhalb der meisten Regelungsvorschläge ein Grundkanon an gemeinsamen
Voraussetzungen feststellen. Mit Recht werden insoweit gefordert die Feststellung
von Freiverantwortlichkeit des Selbsttötungsentschlusses und Krankheitszustand
des Betroffenen durch den Arzt; eine Aufklärung und lebensorientierte Beratung
des Betroffenen über seinen Zustand, die Behandlungsmöglichkeiten und den Ablauf
67
Lindner, NJW 2013, 136 (139).
68
Schöch/Verrel, AE-StB, GA 2005, 553 (586).
69
So BVerwG NJW 2017, 2215 (2219 Rn. 31).
70
Ebenso § 217 Abs. 4 Nr. 3 StGB-E Borasio u. a., Selbstbestimmung (Fn. 19), S. 23;
§ 1921a Abs. 2 BGB-E Hintze/Lauterbach u. a., BT-Drucks. 18/5374, S. 5; § 7 Gesetzentwurf
Künast/Sitte, BT-Drucks. 18/5375, S. 4 f.; Kampmann, Pönalisierung (Fn. 22), S. 176.
71
So aber etwa Hoerster, Sterbehilfe (Fn. 15), S. 169 ff.; Lindner, NJW 2013, 136 (139);
Kampmann, Pönalisierung (Fn. 22), S. 174 ff.
72
Zuletzt Saliger (Fn. 40), S. 442; zustimmend Francuski, Prozeduralisierung im Wirt-
schaftsstrafrecht, 2014, S. 216, 224 ff.; näher Schweiger, Prozedurales Strafrecht (Fn. 2),
S. 229 ff., 246 ff.
73
So im Ergebnis auch der Gesetzentwurf von Künast/Sitte, vgl. §§ 1 ff. BT-Drucks. 18/
5375, S. 3 ff.; vgl. ferner § 217 Abs. 2, 3 StGB-E Borasio u. a., Selbstbestimmung (Fn. 19),
S. 22, 101.
1076 Frank Saliger

eines Suizids mit möglichen Komplikationen; die Bestätigung der materiellen Vor-
aussetzungen einer Freitodhilfe durch einen zweiten Arzt; ein bestimmter Zeitraum
zwischen der Beratung sowie der Leistung der Freitodhilfe, wobei 14 Tage74 ange-
messen sein dürften; die Dokumentation und Meldung des ärztlichen Handelns.75
Dagegen wird man die ex-ante Einschaltung von Ethik-Kommissionen, Behörden
oder Gerichten, weil im Hinblick auf den materiellen Grundrechtsschutz als Grenze
hyperprozedural, generell nicht verlangen müssen.76
Für die Regelung der Freitodhilfe durch professionelle Sterbehelfer in Sterbehil-
feorganisationen werden im Wesentlichen ähnliche Verfahrenskautelen vorgeschla-
gen, abgesehen davon, dass die medizinischen Feststellungen und Beratungen natür-
lich durch einen Arzt vorgenommen werden müssen.77 Im Kern entsprechen diese
Vorschläge den Sorgfaltskriterien, die die Nationale Ethikkommission der Schweiz
im Bereich der Humanmedizin vor fast 15 Jahren für die organisierte Suizidbeihilfe
formuliert hat.78 Auch die Ethischen Grundsätze der Suizidbegleitung des Vereins
Sterbehilfe Deutschland stimmen damit im Großen und Ganzen überein.79
Die Freitodhilfe durch Angehörige und nahestehende Personen sollte nicht an
prozedurale Kautelen gebunden werden. Allerdings ist auch diesem Personenkreis
aus Gründen der Rechtssicherheit zu empfehlen, dass sie vor Vornahme einer Frei-
todhilfe die Freiverantwortlichkeit und die medizinischen Voraussetzungen durch
einen Arzt dokumentiert abklären lässt.
Eine eigenständige Kriminalisierung von Verfahrensverletzungen, wie sie einige
Regelungsvorschläge vorsehen80, liegt im Einschätzungs- und Ermessensspielraum
des Gesetzgebers, ist aber nicht zwingend.

74
So auch § 3 Abs. 3 Gesetzentwurf Künast/Sitte u. a., BT-Drucks. 18/5375, S. 4.
75
Vgl. zu diesen Voraussetzungen mit Unterschieden im Detail Lindner, NJW 2013, 136
(139); § 217 Abs. 4, 5 StGB-E Borasio u. a., Selbstbestimmung (Fn. 19), S. 23; §§ 3, 7, 8, 10
Gesetzentwurf Künast/Sitte u. a., BT-Drucks. 18/5375, S. 3 ff.; Kampmann, Pönalisierung
(Fn. 22), S. 176. Aufklärung und schriftliche Dokumentation der Voraussetzungen durch zwei
Ärzte lässt genügen Hoerster, Sterbehilfe (Fn. 15), S. 169 f. Allein Beratung und Bestätigung
durch einen zweiten Arzt verlangt § 1921a BGB-E Hintze/ Lauterbach u. a., BT-Drucks. 18/
5374, S. 5.
76
Vgl. für die Einschaltung eines interdisziplinär besetzten Begutachtungsgremiums neuer
Art Duttge, NJW 2016, 120 (125).
77
Siehe §§ 3, 7, 8, 9 des Gesetzentwurfs Künast/Sitte u. a., BT-Drucks. 18/5375, S. 3 ff.,
der auch die Suizidhilfe durch nichtärztliche Mitarbeiter in einem Hospiz oder einem Kran-
kenhaus und durch serielle Sterbehelfer ohne Sterbehilfeorganisation regelt.
78
Stellungnahme Nr. 13/2006 vom Oktober 2006.
79
Zu Voraussetzungen und Ablauf der Suizidbegleitung bei Sterbehilfe Deutschland Sali-
ger, Selbstbestimmung (Fn. 10), S. 17 ff.
80
Etwa § 9 Gesetzentwurf Künast/Sitte u. a., BT-Drucks. 18/5375, S. 9; Kampmann,
Pönalisierung (Fn. 22), S. 177.
Zur prozeduralen Regelung der Freitodhilfe 1077

5. Standort der Regelung

Eine letzte Frage, die sich bei der (auch prozeduralen) Regelung von Freitodhilfe
stellt, betrifft den Standort einer Regelung. Das hängt zunächst davon ab, ob eine ein-
heitliche Regelung für alle Freitodhelfer politisch gelingt oder nur etwa der ärztlich
assistierte Suizid gesetzlich geregelt wird. Für eine einheitliche Regelung empfiehlt
sich ein Freitodhilfegesetz gleich dem Regelungsansatz des Gesetzentwurfs von Kü-
nast/Sitte u. a.81
Sind nur Teilregelungen politisch machbar, so kommen unterschiedliche Standor-
te in Betracht. Wird allein der ärztlich assistierte Suizid geregelt, so erscheint eine
Regelung im BGB vorzugswürdig. Gegen eine Verortung im Betäubungsmittelge-
setz82 spricht, dass das Mittel der Selbsttötung nicht den Regelungsort für eine so sen-
sible Problematik wie die Freitodhilfe vorgeben sollte. Innerhalb des BGB werden
eine Regelung im Familienrecht in einem eigenen Abschnitt 4 „Selbstbestimmung
des Patienten“ als neuer § 1921a BGB83 oder im Recht der Schuldverhältnisse bei
den §§ 630a ff. BGB (Behandlungsvertrag) vorgeschlagen.84 Beide Verortungen pas-
sen nicht perfekt, weil der Freitodwillige nicht betreuungsbedürftig ist und die Frei-
todhilfe mangels ärztlicher Pflicht nicht Teil des Behandlungsvertrags ist. Die Ent-
scheidung hängt davon ab, ob man mehr die Vulnerabilität – dann Familienrecht –
oder Autonomie des Freitodwilligen – dann Recht der Schuldverhältnisse – betont.
Sollen nur die Sorgfaltsanforderungen für professionelle Freitodhelfer – seien sie
Mitglieder von Sterbehilfeorganisationen oder nicht –, gesetzlich geregelt werden, so
dürfte sich – akzentuiert man den Aspekt der Vulnerabilität – eine Regelung im Fa-
milienrecht (in neuen §§ 1901a ff. BGB) oder in einem eigenen Verwaltungsgesetz
empfehlen. Auf jeden Fall bedürfte es ergänzender Regelungen im Betäubungsmit-
telgesetz, sofern Betäubungsmittel als Freitodmittel zugelassen werden.

IV. Zusammenfassung
1. Es lassen sich drei Typen von Gesetzesvorschlägen zur Freitodhilfe unterschei-
den: Rein materiell-rechtliche Regelungsvorschläge, strafrechtliche Verbote
mit prozeduralen Legalisierungen und außerstrafrechtliche Regelungen mit ma-
teriellen und prozeduralen Kautelen.
2. Nach einer möglichen Nichtigkeitserklärung von § 217 StGB durch das BVerfG
besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf.
3. Eine strafgesetzliche Verfahrenslösung ist abzulehnen.

81
Vgl. BT-Drucks. 18/5375.
82
So Kampmann, Pönalisierung (Fn. 22), S. 175 ff.
83
So Gesetzentwurf Hintze/Lauterbach, BT-Drucks. 18/5374, S. 5.
84
So Saliger, medstra 2015, 132 (138).
1078 Frank Saliger

4. Die materiell zentralen Kriterien einer zulässigen Freitodhilfe sind Freiverant-


wortlichkeit des Selbsttötungsentschlusses sowie eine schwere und unheilbare
Erkrankung des Betroffenen mit hohem Leidensdruck.
5. Hinsichtlich Art und Umfang der prozeduralen Kautelen ist nach dem Adressaten
der Suizidhilfe (Arzt, professioneller Sterbehelfer, Angehöriger etc.) zu differen-
zieren.
6. Der Standort einer gesetzlichen Regelung von Freitodhilfe ist abhängig von Art
und Umfang der politisch mehrheitsfähigen Freitodhilfe.
Weiterleben als Schaden? –
Weiterleiden als Schaden!
Grundrechtsschutz gegen Übertherapie vor dem Tode

Von Friedhelm Hufen

I. Eine starke Stimme gegen bioethischen Paternalismus


Es sind Lebensanfang und Lebensende, die den Kern individueller Lebensgestal-
tung und der Persönlichkeit jedes Menschen ausmachen. Doch ausgerechnet in die-
sem Kern, bei den Themen Zeugung, Schwangerschaft, Geburt einerseits, selbstbe-
stimmtes Sterben andererseits, greift der Staat auf der Grundlage unbestreitbarer his-
torischer Belastungen, aber auch unhistorischer Verallgemeinerungen und durchaus
übergriffiger Einflussmöglichkeiten konservativer und kirchlicher Kreise, besonders
tief in die menschliche Selbstbestimmung ein. So wird das Grundrecht auf Fortpflan-
zung z. B. durch das Verbot der Eizellspende in § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG, die Drei-Em-
bryonen-Regel in § 1 Abs. 1 Nr. 4 ESchG und die Übertragungspflicht erzeugter Em-
bryonen in § 1 Abs. 1 Nr. 6 EschG, durch die immer noch restriktive Regelung der
Präimplantationsdiagnostik in § 3a EschG sowie die fehlende Kostentragung für die
nicht invasive frühe Pränataldiagnostik erschwert – mit den damit verbundenen Ri-
siken für das Leben und die Gesundheit der Mutter1. Spät manifestierende Krankhei-
ten sind in verfassungsrechtlich fragwürdiger Weise von rechtzeitiger Gendiagnostik
ausgeschlossen (§ 15 Abs. 2 GenDG). Auf der anderen Seite des Spektrums des
menschlichen Lebens war ein langer Kampf zu bestehen, bevor Patientenverfügun-
gen anerkannt und dem Grundsatz „in dubio pro dignitate“2 gegenüber einem kate-
gorischen „in dubio pro vita“ Geltung verschafft wurde. Immer noch ist das im
Grundsatz kaum noch umstrittene Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben3 in
der Praxis ein verweigertes Grundrecht4. Bis zu seiner hoffentlich wenigstens parti-
ellen Aufhebung durch das BVerfG bedroht § 217 StGB die ärztliche Hilfe zum

1
So zu Recht jetzt die Stellungnahme der Leopoldina zur Fortpflanzungsmedizin vom
11. 06. 2019.
2
Hufen, NJW 2001, 849 ff.
3
Vgl. nur Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung (1992) , 82, 110, 154; H. Dreier, JZ
2007, 317, 318; Lindner, NJW 2013, 136; Lindner/Huber, MedStra 2017, 268; Putz/Steldin-
ger, Patientenrechte am Ende des Lebens, 4. Aufl. (2012); Schütz/Sitte, NJW 2017, 2155.
4
Hufen, Selbstbestimmtes Sterben – Das verweigerte Grundrecht. NVwZ 2018, 1524.
1080 Friedhelm Hufen

selbstbestimmten Sterben mit strafrechtlichen Folgen; der mühsam vor dem


BVerwG erkämpfte Zugang zu letal wirkenden Medikamenten für Schwerstkranke5
wird durch eine rechtsstaatlich höchst zweifelhafte Nichtanwendungsweisung des
zuständigen Ministers unterlaufen. Kürzlich gelang es immerhin, vor dem BGH
die Straflosigkeit der ärztlichen Sterbebegleitung und den Vorwurf der Tötung auf
Verlangen durch Unterlassen zu relativieren6 – ein aus der Sicht von Ärzten bei Gel-
tung des § 217 StGB gleichwohl höchst risikoreicher „Sieg“ menschlicher Selbstbe-
stimmung.
Gegenüber all diesen Entwicklungen hat sich der Strafrechtler Reinhard Merkel
als zuverlässiger Bewahrer verfassungsrechtlicher Freiheiten erwiesen. Erst kürzlich
ist er überzeugend dem Versuch entgegengetreten, den historisch belasteten Begriff
der „Selektion“ im Rahmen aktueller Debatten um die nicht invasive Pränataldiag-
nostik in Stellung zu bringen7. Schon früh hat er überzeugend zum Verhältnis des
Embryonenschutzes zur medizinischen Forschung Stellung genommen8 und auf
den Widerspruch zwischen einem fast überzogenen Schutz des menschlichen Lebens
in vitro einerseits und einem wesentlich schwächeren Schutz in utero andererseits
hingewiesen. Noch deutlicher fiel seine Kritik an der Verweigerung des Grundrechts
auf selbstbestimmtes Sterben aus. § 217 StGB zwingt seiner Auffassung nach den
sterbewilligen Todkranken zur tödlichen Gewalt gegen sich selbst9, und er sieht in
der Verweigerung der Sterbehilfe ein „Diktat trostloser Unbarmherzigkeit“10. Im
Rahmen des Deutschen Ethikrats war er stets auf der Seite derjenigen, die für Selbst-
bestimmung und Menschenwürde eingetreten sind – bis hin zu seiner Verteidigung
des Hirntods als sicheres Zeichen für die Legitimität der Organentnahme11 und zur
überzeugenden Bejahung der Widerspruchslösung bei der Organtransplantation12.
Man sieht: Die Probleme sind vielfältig und sie fordern die Kooperation zwischen
einem sich seines eigenen „ultima ratio-Charakters“ bewussten Strafrecht und einem
zwar der historischen Verantwortung gerecht werdenden, aber auch den Gesetzen der
Aufklärung und damit der menschlichen Selbstbestimmung folgenden Verfassungs-
recht immer wieder heraus.

5
BVerwG, NJW 2017, 2215.
6
BGH, Urt. vom 3. 7. 2019, AZ 5 Str 132/18.
7
R. Merkel, Von wegen Selektion, FAZ 26. 04. 2019, 9.
8
R. Merkel, Forschungsobjekt Embryo. Verfassungsrechtliche und ethische Grundlagen
der Forschung an embryonalen Stammzellen (2002).
9
R. Merkel, Tödliche Gewalt gegen sich selbst, NJW-Editorial, Heft 9 (2018), S. 3.
10
R. Merkel, Der Staat darf beim Suizid helfen, FAZ 13. 02. 2015, S. 6.
11
Deutscher Ethikrat, Hirntod und Entscheidung zur Organspende, Stellungnahme 2015,
S. 51.
12
Deutscher Ethikrat, Diskussion über Widerspruchslösung. Infobrief 01/2019, 7. 12. 12.
2018.
Weiterleben als Schaden? – Weiterleiden als Schaden! 1081

II. Ein neues Beispiel für bioethischen Rigorismus:


„Weiterleben ist niemals Schaden“ (BGH)
Ein neues Beispiel jenes Konflikts zwischen Selbstbestimmung und paternalisti-
scher Bevormundung geht nicht auf den Gesetzgeber und die Politik, sondern auf ein
neues Urteil des BGH13 zurück. In diesem Verfahren ging es um Schadensersatzan-
sprüche der Erben eines im Oktober 2011 verstorbenen hoch dementen Patienten, der
ohne Patientenverfügung und ohne feststellbaren mutmaßlichen Willen hinsichtlich
des Einsatzes lebenserhaltener Maßnahmen in einem Pflegeheim von einem Arzt be-
treut und – man muss es so hart formulieren – unter unsäglichen Umständen zum
Weiterleben gezwungen wurde. Die bereits 2006 angelegte PEG-Sonde war spätes-
tens seit dem 1. 1. 2010 bis zum Tod am 19. 10. 2011 medizinisch nicht mehr indiziert.
In diesem Zeitraum hat der Patient nach dem Tatbestand des BGH-Urteils regelmä-
ßig Fieber, Atembeschwerden und wiederkehrende Druckgeschwüre (Dekubiti) er-
litten. Viermal wurde eine Lungenentzündung festgestellt. Hinzu kamen Gallenbla-
senentzündung, Abszesse und zahlreiche weitere Komplikationen. Der Patient muss
unter Schmerzen gelitten haben, die einer Folter gleichkamen. Zahlreiche Versuche
des Sohnes, die erkennbare Übertherapie einzustellen und ein Sterben des Patienten
unter palliativmedizinischer Betreuung zuzulassen, blieben erfolglos. Das LG hatte
die Klage abgewiesen. Auf Berufung des Klägers hatte das OLG diesem ein Schmer-
zensgeld in Höhe von E 40.000,– zugesprochen. Der BGH hat das Urteil des OLG
aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des LG zurückgewiesen.
Die Begründung des Senats überrascht zunächst damit, dass sämtliche Fragen
eines rechtswidrigen Verhaltens des behandelnden Arztes für unerheblich erklärt
werden14. So komme es nicht darauf an, ob eine Verpflichtung zur Aufklärung be-
standen habe und eine Verletzung dieser Pflicht festzustellen gewesen sein. Ebenso
könne es offen bleiben, ob ein Behandlungsfehler vorlag und dadurch eine Verlet-
zung der Gesundheit beim Patienten verursacht worden sei, denn es fehle jedenfalls
an einem immateriellen Schaden (§ 253 Abs. 2 BGB). Im Vergleich der bestehenden
Gesamtlage mit der Lage, die ohne das schädigende Ereignis bestanden hätte, stehe
der durch die künstliche Ernährung ermöglichte Zustand des Weiterlebens mit krank-
heitsbedingtem Leiden dem Zustand gegenüber, die eher bei Abbruch der künstli-
chen Ernährung eingetreten wäre, also dem Tod. Das menschliche Leben sei ein
höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig. Das Urteil über seinen
Wert stehe keinem Dritten zu. Deshalb verbiete es sich, das Leben – auch ein leidens-
behaftetes Weiterleben – als Schaden anzusehen. Das begründet der Senat nicht nur
mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, sondern mit nichts Geringerem als der Menschenwürde
(Art. 1 Abs. 1 GG). Anders als bei der Problematik „Kind als Schaden“15 sei es im
13
BGH, Urteil v. 02. 04. 2019. VI ZR 13/18 = NJW 2019, 1741 – zitiert wird hier nach dem
Original der Urteilsbegründung.
14
Ähnl. Ivo Bach, Das Leben ist kein Schaden, NJW 2019, 1915: „Pferd vom Schwanz
aufgezäumt“.
15
BGHZ 86, 241, 253.
1082 Friedhelm Hufen

vorliegenden Fall auch nicht möglich, zwischen dem Leben einerseits (das niemals
Schaden sei) und den Unterhaltskosten für ein behindertes Kind zu unterscheiden,
denn juristisch und erkenntnistheoretisch gebe es im vorliegenden Fall keine Mög-
lichkeit, das Weiterleben als solches von den damit untrennbar verbundenen Leiden
zu unterscheiden.

III. Prüfung der Verfassungsmäßigkeit –


Grundrechtsverletzung durch das BGH-Urteil?
Aus verfassungsrechtlicher Sicht stellt sich naturgemäß die Frage, ob diese Argu-
mentation mit ihrer Betonung „des Weiterlebens um jeden Preis“ und der schlichten
Verdrängung des Problems ärztlichen Fehlverhaltens durch Übertherapie die Grund-
rechte des Betroffenen, also insbesondere die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG)
(III. 1.), das Grundrecht auf Leben (III. 2.) und körperliche Unversehrtheit (Art. 2
Abs. 2 1. Alt. – III. 3.) sowie das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1
i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) in Gestalt des Rechts auf Selbstbestimmung über den eige-
nen Körper (III. 4.) verletzt. Dabei kann hier – anders als bei der durch den Sohn des
Patienten inzwischen erhobenen Verfassungsbeschwerde – die Frage des Übergangs
der Grundrechtsträgerschaft auf den Sohn und damit der Beschwerdebefugnis im
Verfassungsbeschwerdeverfahren außer Betracht bleiben.

1. Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG)

Wie gezeigt beruft sich der BGH zur Begründung seiner These: „Weiterleben ist
niemals Schaden“ nicht zuletzt auf die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG). Zu
fragen ist aber viel eher, ob nicht in der Fortsetzung der Behandlung des hilflosen
Patienten und in der Verweigerung des Schadenersatzes für das erlittene Leiden
selbst eine Verletzung der Menschenwürde liegt, wobei hier vorausgesetzt wird,
dass die Menschenwürde nicht nur allgemeiner Grundsatz des Verfassungsrechts
sondern auch subjektives Grundrecht ist16. Diese durchaus gegensätzliche Fragestel-
lung zeigt bereits, wie schwierig die Definition des Schutzbereichs eines solchen
Grundrechts ist. Festzuhalten ist jedenfalls, dass der Patient nicht zum willenlosen
Objekt der Fremdbestimmung durch Andere werden darf. Auch ein dementer oder
auf andere Weise hilfloser Mensch verfügt über eine unantastbare Sphäre seiner Per-
sönlichkeit, in die nicht eingegriffen werden und die auch keiner übergeordneten In-
stanz unterworfen werden darf. Exakt dagegen hat sich der Arzt hier verhalten. Er hat
den schwerkranken Patienten in eine Position der Abhängigkeit gebracht, die dessen
Subjektqualität in Frage stellte, und damit den Patienten einer übergeordneten In-
16
Std. Rspr. seit BVerfGE 1, 322, 343; weiterhin etwa BVerfGE 88, 203, 251 – Schwan-
gerschaftsabbruch II; wie hier Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1, Rn. 26 ff.; Ipsen,
DVBl. 2004, 1381; Michael/Morlok, Grundrechte, 6. Aufl. (201 7), Rn. 132; Schmidt-Jortzig,
FS Isensee [2007], 491; Tornow, Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht [2008]).
Weiterleben als Schaden? – Weiterleiden als Schaden! 1083

stanz unterworfen 17. Vergegenwärtigt man sich die im Tatbestand des BGH-Urteils –
mehr noch aber die in den Akten der Ausgangsverfahren genannten – buchstäblich
unmenschlichen Schmerzen, insbesondere durch Atemnot, Krämpfe, offene Wunden
(„totes Fleisch“) usw., so stehen hier nicht nur schwerste Eingriffe in die körperliche
Unversehrtheit (also Art. 2 Abs. 2 GG) in Frage, sondern es war auch die Würde des
Patienten betroffen. Dieser wurde zwar nicht Objekt staatlicher Willkür, aber seine
Subjektqualität wurde in grober Weise durch den ärztlichen Willen zum „Lebens-
schutz um jeden Preis“ in Frage gestellt. Geht man ferner davon aus, dass die Men-
schenwürde auch davor schützt, zum Objekt der Würdedefinition eines Anderen zu
werden18, so ist hier anzumerken, dass im Urteil des BGH die Menschenwürde zu-
mindest an einer Stelle19 aufgegriffen wird, dort aber um die Unterstellung zu begrün-
den, der Beendigung einer lebenserhaltenden Behandlung gehe ein Unwerturteil
über dieses Leben voraus, was den Grundsatz der Menschenwürde verletze. Hier
wird deutlich, dass der BGH den Gehalt der Menschenwürde rein objektiv bestimmt
und die Würde des Patienten damit seiner eigenen Definition unterwirft. Die grund-
sätzliche Subjektqualität des Patienten20 und der daraus folgende Achtungsanspruch
werden – gerade im Hinblick auf das ihm zugefügte Leid – schon im Ansatz verkannt.
Insofern liegt in der Bestätigung der Anmaßung des behandelnden Arztes durch den
BGH selbst ein Eingriff in die Menschenwürde des Patienten, der nach den allgemei-
nen Grundsätzen zu Art. 1 GG („unantastbar“) auch nicht durch ein anderes Grund-
recht oder die Schutzpflicht des Staates zur Wahrung des menschlichen Lebens ge-
rechtfertigt werden kann.

2. Grundrecht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 1. Alt. GG)

Im Handeln des Arztes und dessen Bestätigung durch den BGH kann – so paradox
es auf den ersten Blick klingt – auch eine Verletzung des Grundrechts auf Leben
(Art. 2 Abs. 2 GG) liegen. So kann mit guten Gründen argumentiert werden, dass
der Schutzbereich des Grundrechts auf Leben auch das „Recht auf den eigenen
Tod“ und damit auf selbstbestimmtes (leidensfreies) Sterben umfasst21. Für einen sol-
chen engen Zusammenhang spricht schon die allgemeine Aussage, wonach der Tod
und das Sterben Teil des menschlichen Lebens sind. Auch aus verfassungsrechtlicher
Sicht lässt sich sehr wohl argumentieren, dass das Recht auf Leben, also die biolo-
gisch-physische Existenz des Menschen, auch das Recht auf das natürliche Ende die-

17
BVerfGE 115, 118.
18
Hufen, In dubio pro dignitate: Selbstbestimmung und Grundrechtsschutz am Ende des
Lebens, NJW 2001, 849.
19
BGH, Urteil S. 7, Rn. 14.
20
BVerfGE 144, 20, 207.
21
So etwa Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, bis 32. Aufl. (2016), Rn. 438;
Michael/Morlok, Grundrechte 5. Aufl. (2016), Rn. 46, 160.
1084 Friedhelm Hufen

ser Existenz umfasst. Selbst wenn man darin kein Recht auf Selbsttötung sieht22, ent-
hält Art. 2 Abs. 2 GG insofern ein Abwehrrecht gegen nicht gewollte und medizi-
nisch nicht begründete Lebensverlängerung.
Daraus folgt zwingend, dass die diesen Ablauf unterbrechende medizinisch-tech-
nische Lebensverlängerung ein Eingriff in das Lebensgrundrecht ist. Beachtet der
Arzt diesen natürlichen Ablauf und stellt er lebenserhaltende Maßnahmen ein, so be-
deutet dies keine – wie vom BGH 23 unterstellt – „Beendigung durch den Behand-
lungsabbruch“, sondern der Arzt folgt gerade seiner Verpflichtung zum Schutz
des natürlichen Lebensablaufs. Aufgrund aller ärztlichen Leitlinien und Grundsätze
zur palliativen Versorgung des von der Natur gestalteten Sterbeprozesses wäre der
Arzt hier nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet gewesen, die Behandlung auf
eine palliative Versorgung umzustellen. Maßstab der Sorgfalt ist insofern der in
allen Bereichen der Medizin existierende und für alle Ärzte verbindliche Facharzt-
standard (§ 630a Absatz 2 BGB: „Die Behandlung hat nach den zum Zeitpunkt der
Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen,
soweit nicht etwas anderes vereinbart ist“).
Gerade bei einer Dauerbehandlung, einem nicht erkennbaren Patientenwillen und
insbesondere bei einer PEG-Sonde bedarf es einer permanenten Überprüfung, ob die
Substitution der Ernährung weiterhin angezeigt ist. Nicht in der Umstellung auf eine
palliative Behandlung, sondern in der Aufrechterhaltung der künstlichen Ernährung
und anderer lebensverlängernder Maßnahmen liegt dann der Grundrechtseingriff.
Sofern dieser Eingriff nach dem genannten Facharztstandard medizinisch nicht indi-
ziert und auch durch eine Einwilligung des Patienten nicht gerechtfertigt ist, liegt
eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 GG – Lebensschutz – vor.
Diesen Aspekt des Lebensschutzes deutet selbst das Urteil des BGH 24an, wenn es,
die frühere Entscheidung zum „Kind als Schaden“25 zitierend, das Recht (und die
Pflicht) nennt, „das Leben so hinzunehmen, wie es von der Natur gestaltet ist“.
„Von der Natur gestaltet“ war das (Weiter)Leben des Patienten im vorliegenden
Fall aber keineswegs. Es wurde vielmehr lediglich durch die künstliche Ernährung
aufrechterhalten und nahm die Gestalt einer qualvollen Existenz an, während „Na-
turgestaltung“ längst auf eine palliative Versorgung und den natürlichen Tod hinaus-
gelaufen wäre. Das hätte der behandelnde Arzt beachten müssen, auch wenn der Pa-
tient nicht explizit widersprochen hatte und auch nicht mehr widersprechen konnte.
Hier wäre nicht der Behandlungsabbruch einer Tötung gleichzusetzen; die Aufrecht-
erhaltung der künstlichen Ernährung bedeutete vielmehr einen Eingriff in das Grund-
recht auf Leben in seinem natürlichen Verlauf, der – wie (unten 3.c)) zu zeigen sein

22
Hufen, Selbstbestimmtes Sterben – Das verweigerte Grundrecht, NVwZ 2018, 1524,
1525.
23
BGH, S. 9, Rn. 18.
24
BGH, S. 8, Rn. 15.
25
BGHZ 86, 241, 253.
Weiterleben als Schaden? – Weiterleiden als Schaden! 1085

wird – weder durch Einwilligung des Betroffenen noch durch eine medizinische In-
dikation gerechtfertigt war.

3. Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG)

Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2, 2. Alt. GG) schützt
die körperliche Integrität einschließlich der Freiheit von Schmerz, Übelkeit, Krämp-
fen, körperlichem Unwohlsein usw. Einer der medizinrechtlichen allgemein aner-
kannten Grundaussagen zufolge ist jede invasive medizinische Maßnahme ein – in
der Regel allerdings durch Einwilligung und/oder medizinische Indikation gerecht-
fertiger – Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Das gilt für jede direkte Beein-
trächtigung der körperlichen Integrität einschließlich Zufügung von Schmerz, Blut-
entnahme, Einflößen von Stoffen oder die Beimischung zu Getränken und Speisen 26
und es gilt selbst dann, wenn der Eingriff zum Zweck der Heilung oder des Lebens-
erhalts vorgenommen wird 27. Unstreitig sind also das Anlegen einer PEG – Sonde
und andere invasive Maßnahmen Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit. So wie
es einen Eingriff in das Grundrecht eines kranken Menschen darstellen kann, wenn
ihm eine nach dem Stand der medizinischen Forschung indizierte Therapie versagt
bleibt28, stellt es einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit dar, wenn eine nicht
konsentierte und auch medizinisch nicht indizierte Therapie aufgezwungen wird.
Diese „Übertherapie“ ist damit ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit.
Nach den Regeln der allgemeinen Grundrechtsdogmatik liegt ferner in jeder Ver-
kennung der Bedeutung des Grundrechts bei der Lösung eines Falles durch ein Ge-
richt ein Grundrechtseingriff29.
Exakt dies ist durch die Bewertung der ärztlichen Handlungen im vorliegenden
Fall durch den BGH geschehen: Zum einen hat der BGH die Bedeutung des Grund-
rechts und dessen möglicher Verletzung von vornherein verdrängt. Wegen seiner ab-
solut gesetzten Prämisse: „Weiterleben kann kein Schaden sein“ hat er Fragen des
Behandlungsfehlers und der Gesundheitsverletzung durch Übertherapie für irrele-
vant erklärt30. Exakt diese Fragen wären aber im Schmerzensgeldprozess von ent-
scheidender Bedeutung gewesen. Schon damit hat das Gericht die Bedeutung des
Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit und des in der nicht indizierten und
nicht konsentierten Fortsetzung der Behandlung liegenden Eingriffs verkannt.

26
BVerfG, Kammer, NStZ 2000, 96.
27
BVerfGE 128, 282, 300.
28
BVerfGE, NJW 2017, 2096.
29
BVerfGE 39, 1, 41; BVerfGE 88, 288; 49, 89, 124.
30
„Ebenso kann offen bleiben, ob das hier zu beurteilende Verhalten des Beklagten…als
behandlungsfehlerhaft zu qualifizieren ist. Keiner Entscheidung bedarf ferner die Frage, ob
etwaige Pflichtverletzungen zu einer Gesundheitsverletzung beim Patienten geführt haben, die
dem Beklagten zuzurechnen ist (BGH, Urteil, S. 7, Rn. 12).
1086 Friedhelm Hufen

Ferner geht der BGH erkennbar von der verfehlten Annahme aus, nicht in der le-
bensverlängernden Maßnahme, sondern in deren Beendigung liege eine aktive Be-
endigung des Lebens und damit ein Eingriff in Art. 2 Abs. 2 GG. Das wird an
einer eher unscheinbaren Stelle im Urteil deutlich: „Leben, das nicht durch einen
Behandlungsabbruch beendet wurde …“31. Der Behandlungsabbruch erscheint
hier nicht als natürliches Sterbenlassen, sondern als aktives Tun. Der BGH verkennt
hier den Unterschied von aktiver Tötung und Sterbenlassen („passive Sterbehilfe“),
wie er nach langen Auseinandersetzungen inzwischen herrschende Lehre im gesam-
ten Medizinrecht32 und zudem Grundlage der gesetzlichen Regelung zur Patitienten-
verfügung in § 1901 a – c BGB ist. Nicht in dem (ggf. gebotenen) Behandlungsab-
bruch, sondern in der invasiv herbeigeführten und aufrechterhaltenen Lebensverlän-
gerung und damit im ärztlich erzwungenen Weiterleben durch die PEG – Sonde liegt
aber der Eingriff in das Grundrecht. Das hat der BGH schon im Ansatz verkannt, und
er ist damit dessen Bedeutung nicht gerecht geworden.
Ein dritter entscheidender Denkfehler unterläuft dem BGH schließlich dadurch,
dass er – anders als in der ausführlich zitierten „Kind als Schaden“ Rechtsprechung –
von einem untrennbaren Zusammenhang von Weiterleben und Schaden ausging.
Während es dort möglich war, nicht das Leben als solches, sondern den Unterhalt
für das behinderte Kind als Schaden anzusehen33, seien Weiterleben und Schmerz
hier untrennbar verbunden. Da aber das Weiterleben dem Schutz des höchstrangigen
Rechtsguts Lebenserhaltung diene und nicht schadensauslösend sein könne, sei ein
Schadensersatzanspruch auszuschließen. Hier hat das Gericht – abgesehen von dem
offenkundigen „Zirkelschlussverdacht“ – verkannt, dass es sehr wohl eine Möglich-
keit der Trennung gibt, nämlich das Weiterleben als solches einerseits und das durch
die verfehlte ärztliche Übertherapie erzeugte Weiterleiden andererseits34. Selbst
wenn man mit dem BGH annähme, die Rechtsordnung erkenne „Weiterleben“
nicht als Schadensgrund an, wäre zu konstatieren, dass die Rechtsordnung die Zufü-
gung von Schmerz als geradezu „klassischen“ Schadens(ersatz)grund sehr wohl an-
erkennt. Nicht das Leben, sondern die Zufügung von Schmerz durch Übertherapie ist
also der zu kompensierende Schaden. Wie im Fall „Kind als Schaden“ die Unter-
haltskosten der vom Leben des Kindes unabhängige Schadensgrund sind, so sind
im vorliegenden Fall Leiden und körperliche Qualen der vom Leben unabhängige
Grund für den materiellen und immateriellen Schaden. Auch das hat der BGH ver-
kannt.
Der Eingriff in das Leben und die körperliche Unversehrtheit ist auch nicht ge-
rechtfertigt. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistet das Recht auf Leben und körper-
liche Unversehrtheit als Freiheitsrecht, macht deshalb den ärztlichen Eingriff vom

31
BGH, Urteil S. 9, Rn. 18.
32
S. nur Verrel/Simon, Patientenverfügungen [2010]; Knauer/Brose, in: Spickhoff, Medi-
zinrecht, 3. Aufl. 2018, § 216 StGB, Rn. 6 ff.
33
BGHZ 124, 128; BGH, NJW 2007, 989.
34
So auch Ivo Bach, NJW 2019, 1915,1917.
Weiterleben als Schaden? – Weiterleiden als Schaden! 1087

Willen des Patienten abhängig35. Wie auch durch den BGH festgestellt, lag im vor-
liegenden Fall aber eine rechtfertigende Einwilligung weder durch schriftliche Ver-
fügung noch durch einen mutmaßlichen Willen vor. Jedenfalls ist davon auszugehen,
dass der mutmaßliche Wille gewiss nicht die Fortsetzung der Behandlung und damit
die qualvolle Weiterexistenz umfasst hätte.
Liegt eine explizite oder mutmaßliche Einwilligung nicht vor, so kommt ein ge-
rechtfertigter Eingriff allenfalls dann in Frage, wenn dieser nach objektiven Kriterien
aus medizinischer Sicht erforderlich ist, um Leben und Gesundheit des Patienten zu
retten. Anhaltspunkte ergeben sich insofern aus der Rechtsprechung des BVerfG zur
Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug und in der Psychiatrie. Nach dieser kann
eine ggf. schmerzhafte Behandlung immer nur gerechtfertigt – und dann ggf. auch
erforderlich – sein, wenn gerade insofern eine medizinische Indikation im Rahmen
der Schutzpflicht für das Leben besteht36. Ausgangspunkt für die Schutzpflicht ist
hierbei aber, – anders als im vorliegenden Fall – dass sich der Zwangsbehandelte
in (erzwungener) staatlicher Obhut befindet und damit eine besondere Fürsorge-
pflicht des Staates besteht. So hat das BVerfG z. B. entschieden, dass jeder Patient,
der sich in Behandlung eines Universitätskrankenhauses begibt, sicher sein muss,
dass sein Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG
nach allen Regeln ärztlicher Kunst gewahrt wird (BVerfGE 57, 70, 99). „Wahrung
ärztlicher Kunst in diesem Sinne“ heißt aber nicht Lebenserhaltung um jeden
Preis, sondern Einhaltung der Grenzen der ärztlichen Kunst und des Facharztstan-
dards – auch und insbesondere dann –, wenn deren Fortsetzung ihrerseits permanente
Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit als gleichgewichtiger Bestandteil des
Art. 2 Abs. 2 GG bedeuten.
Übertragbar sind aber die strengen Maßstäbe an das Vorliegen der medizinischen
Indikation. Diese ist bei nicht vorliegender Einwilligung und unter strikter Beach-
tung des Einzelfalls allenfalls dann zu bejahen, wenn die Maßnahmen geeignet, er-
forderlich und zumutbar sind, um das Leben und die Gesundheit des Patienten zu
schützen. Liegen keine Anhaltspunkte für einen abweichenden Wunsch des Betrof-
fenen vor, so ist davon auszugehen, dass nur die medizinisch indizierten und nach
allgemein sozialethischer Anschauung erforderlichen Maßnahmen zu treffen sind 37
Im vorliegenden Fall waren die Fortsetzung der künstlichen Ernährung und die
sonstigen ärztlichen Maßnahmen aber medizinisch erkennbar nicht (mehr) indiziert,
sondern nach allen Kriterien der Verhältnismäßigkeitsprüfung weder erforderlich
noch zumutbar. Hier wurde der hochgradig demente, deshalb aber keineswegs
schmerzunempfindliche Patient einer besonders drastischen Übertherapie ausge-
setzt. Ohne Aussicht, jemals in ein normales Leben zurückzukehren, erlitt er über
Jahre hinweg unerträgliche Schmerzen. Deren Umfang wird schon im Tatbestand
des BGH-Urteils dargestellt; in den Akten findet sich eine Schilderung, die schon
35
BVerfGE 89, 120, 130.
36
BVerfG, NJW 2017, 53.
37
Knaur/Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, 3. Aufl., § 216 StGB, Rn. 17.
1088 Friedhelm Hufen

bei oberflächlicher Betrachtung ein Schaudern hervorruft: Offene Wunden, „totes


Fleisch“ durch Durchliegen, Krämpfe, Atemnot, Erstickungsanfälle würden –
wären sie bewusst und aktiv zugefügt der Kategorie „schwere Körperverletzung“,
wenn nicht „Folter“ zuzuordnen sein. Überdies hat der Beklagte des Ausgangsver-
fahrens gegen seine ihm auch nach § 1 Abs. 2 der Bayerischen Berufsordnung für
Ärzte obliegende Pflicht verstoßen, auch beim Schutz des Lebens Leiden zu lindern
und Sterbende zu begleiten, nicht das Leiden zu verlängern.
Diese Eingriffe waren also weder durch die Einwilligung des Patienten noch
durch eine medizinische Indikation gerechtfertigt. Sie stellten schon deshalb Grund-
rechtsverletzungen dar38.
Wenn schon nicht als Rechtfertigungsgrund im engeren Sinne, so sieht der BGH
doch den Schutz des Lebens als solches als Rechtfertigungsgrund für nahezu jede
Form der medizinischen Behandlung. Dient diese dem Schutz des Lebens, so
könne in ihr kein Schaden liegen, oder umgekehrt: Ein Schaden sei nur gegeben,
„wenn die Rechtsordnung dieses als Schaden anerkennt“.
Auch dieser Argumentation liegen mehrere Fehler zugrunde. Zum einen wird ver-
kannt, dass der Lebensschutz zwar ein hochrangiges Verfasssungsgut ist, welches
aber keineswegs ohne Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips jeden Eingriff
in andere Grundrechte rechtfertigen kann. So hat auch das BVerfG betont, dass
der Schutz des Lebens nicht in dem Sinne absolut geboten ist, dass dieses gegenüber
jedem anderen Rechtsgut ausnahmslos Vorrang genösse39. Insbesondere der Schutz
der Menschenwürde und der Schutz vor körperlichem und seelischem Leiden können
im Einzelfall in praktische Konkordanz zum reinen Lebensschutz zu setzen sein. Das
hat der BGH mit seinem rigorosen Statement vom absoluten Wert des Lebensschut-
zes schon im Ansatz verkannt. In seinem Verbot der Wertung menschlichen Lebens
liegt selbst eine sehr rigorose Wertung des Inhalts, dass die Lebenserhaltung in jedem
Fall der Vermeidung von Leid und Schmerz vorgeht. Zu Ende gedacht, wäre ärztlich
verursachtes Leiden nie Schaden, und selbst Patientenverfügungen könnten, ja müss-
ten übergangen werden, wenn nur das Weiterleben – unter welchen Bedingungen
auch immer – angestrebt werde. Über den hier zu behandelnden Fall hinaus bedeutet
eine solche Sichtweise eine elementare Gefahr für die körperliche Unversehrtheit
und die Würde aller Patienten, die sich – wie immer noch die große Mehrheit
aller Menschen – ohne Patientenverfügung in die Behandlung eines Arztes oder
einer Pflegestation begeben.

38
BGH, NJW 2005 2385 – „Traunsteiner Patient“.
39
BVerfGE 88, 203, 253.
Weiterleben als Schaden? – Weiterleiden als Schaden! 1089

4. Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 1 Abs. 1 S. 1 i.V.m. 2 Abs. 1 GG)/


Selbstbestimmung über den eigenen Körper

Die Mehrheit der Autoren sieht das Recht auf den eigenen Tod im Grundrecht auf
freie Entfaltung der Persönlichkeit oder im allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2
I GG i.V. mit Art. 1 I 1 GG) verortet40. Eine Verletzung liegt hier vor, weil die ärzt-
liche Behandlung weder durch den Willen des Patienten noch durch eine medizini-
sche Indikation gerechtfertigt war.

IV. Ergebnis
Im Ergebnis hat der Arzt durch die allein auf die Erhaltung des Lebens gerichtete,
medizinisch nicht mehr indizierte Therapie, hat aber auch das bestätigende Urteil des
BGH und die Verweigerung des Schadenersatzes den Betroffenen in seiner Men-
schenwürde, im Recht auf Leben (und damit natürlichen Tod), der körperlichen Un-
versehrtheit und dem Persönlichkeitsrecht verletzt.
Es steht zu hoffen, dass der Erste Senat des BVerfG, bei dem Verfassungsbe-
schwerde gegen das Urteil des BGH anhängig ist, die Gelegenheit dieses Falls wahr-
nehmen wird, die verfassungsrechtlichen Probleme medizinischer Übertherapie vor
dem Tode zu klären. Unabhängig davon bleibt es überzeugten Verteidigern der
menschlichen Selbstbestimmung wie Reinhard Merkel aufgegeben, elementare
Grundrechte des Menschen gegen paternalistische Bevormundung und aufgedrängte
Moralvorstellungen Dritter – sei es auch solche eines BGH-Senats – zu bewahren.

40
Grundlegend Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung (1992) , 82, 110, 154; H. Dreier,
JZ 2007, 317, 318; Lindner, NJW 2013, 136; Lindner/Huber, MedStra 2017, 268; Putz/Stel-
dinger, Patientenrechte am Ende des Lebens, 4. Aufl. (2012); Schütz/Sitte, NJW 2017, 2155.
Abgestufte Anforderungen
an selbstbestimmtes Sterben?
Von Thomas Hillenkamp

I.
Willentlich sterben kann man von eigener Hand. Gesprochen wird dann von
Selbstmord, Selbsttötung oder Suizid, wird dazu Hilfe geleistet, von einer Beihilfe
hierzu.1 Willentlich sterben kann man von dritter Hand, indem man in die eigene Tö-
tung einwilligt2 oder sie von einem Dritten verlangt (§ 216 StGB).3 Schließlich kann
man willentlich sterben, indem man sich das Abwenden eines Sterbeprozesses durch
ein Interventions- oder (Weiter)Behandlungsveto verbittet. Soll der Wille zu sterben
rechtliche, namentlich Beteiligte entlastende4 Folgen haben, muss er (irgendwie)
frei, selbstbestimmt, freiverantwortlich, das Geschehen auch deshalb eigen- oder
mitverantwortet sein.5
Man sollte glauben, dass sich die Anforderungen an die Selbstbestimmtheit des
Sterbeentschlusses in diesen Fällen nicht maßgeblich unterscheiden, geht es doch
einheitlich um das Ziel, aus der hora incerta des Sterbens eine hora certa und

1
Krit. zu dieser Bezeichnung Merkel, in: Hegselmann/Merkel, Zur Debatte über Eutha-
nasie, 1991, S. 73 (75).
2
Zu einem „unbedingten Todeswunsch“ s. den Dresdener Kannibalen-Fall BGH NStZ
2016, 469, BGH NStZ-RR 2018, 172; zur trotz § 216 StGB rechtlichen Relevanz der Ein-
willigung s. Hillenkamp, GS für Tröndle, 2019, S. 553 (566 ff. m.w.N.).
3
Zum Verhältnis von Verlangen und Einwilligung s. Knierim, Das Tatbestandsmerkmal
„Verlangen“ im Strafrecht, 2018, S. 116 ff., 275 ff., 316 ff.
4
„Belastend“ ist eine Selbsttötung in „freier Willensbestimmung“ für den (Lebens)Versi-
cherten, „entlastend“ für den Versicherer nach § 161 I 2 VVG, s. dazu Hillenkamp, JZ 2015,
391 (392, 397).
5
Dazu genauer später. Die vorgelagerte Frage der (allgemeinen) Willensfreiheit bleibt hier
zugunsten der Annahme ausgeblendet, dass der Staat in „normativer Setzung“ (zu ihr in der
Gesetzgebung Hillenkamp, JZ 2015, 391 ff.) von einem Anders-Handeln- und Dafürkönnen
i.S. von (Täter)Schuld und also auch von der Möglichkeit freier Rechtsgutsaufopferung Ein-
griffsbetroffener ausgeht; zu aus In-dubio-pro-reo ableitbaren Bedenken gegen Ersteres s.
Merkel, Willensfreiheit und Schuld, 2008, S. 115 ff., 134 einerseits, Hillenkamp, ZStW 127
(2015), 10 (80, 83 ff.) andererseits. Sie betreffen die Freiheitsfrage bei der Rechtsgutspreis-
gabe nicht. Merkel geht im „Konflikt zwischen Autonomie (!) und Lebensschutz“ von der
„Zuschreibung autonomer Eigen- (statt Frei-) Verantwortlichkeit“ für den (eigenen) Tod aus,
s. Merkel (Fn. 1), S. 77 (81).
1092 Thomas Hillenkamp

darum, in ihr die Lebensbeendigung zu einer selbstbestimmten Modalität des Endes


zu machen. Andreas Voßkuhle hat hierzu aber unlängst Zweifel gesät.6 Er hat im Ver-
fahren zu § 217 StGB n. F. gefragt7, ob wir die Freiverantwortlichkeit eines Suizid-
entschlusses nicht weit strenger beurteilen, als die Freiverantwortlichkeit einer Ver-
fügung, in einer bestimmten Situation keine lebenserhaltenden Maßnahmen mehr zu
wollen. Und er hat angedeutet, dass ihm die vermutete Diskrepanz, dass ihm Abstu-
fungen, wenn es sie denn gibt, nicht ohne weiteres einleuchteten.
Dem in einem Reinhard Merkel mit herzlichem Glückwunsch zu seinem 70. Ge-
burtstag gewidmeten Beitrag nachzugehen, muss man nicht eigens rechtfertigen,
liegt doch sein Interesse an solchen Fragen nach seinem beeindruckenden, selbst-
wie fremdbestimmtes Verfügen8 über das Leben in all seinen Phasen immer wieder
thematisierenden Lebenswerk auf der Hand. Und es spricht auch einiges dafür, dass
er die Skepsis Voßkuhles teilt. Denn wenn – so sagt er – richtig wäre, dass so gut wie
alle Suizide unfrei sind, dann beträfe das doch auch „den jährlich vieltausendfach
praktizierten Therapieverzicht mit lebensverkürzender Wirkung“, dessen regelmäßi-
ge Zulässig- und Wirksamkeit aber „niemand“ – und folglich auch er nicht – bestrei-
te.9

II.
Wenden wir uns zunächst den Antipoden zu, die dafür Beleg sein könnten, dass es
abgestufte Anforderungen an die „Freiverantwortlichkeit“10 gibt. Es sind dies der
Suizid und der todbringende Behandlungsverzicht. Beginnen wir mit Ersterem,
bei dem Voßkuhle und Merkel einen strengeren Maßstab vermuten.
1. Eine Selbsttötung ist eigen-, nicht fremdverantwortet, wenn zum tatherrschaft-
lichen Selbstvollzug die Freiverantwortlichkeit des Selbsttötungsentschlusses hinzu-
tritt.11 Wann von ihr zu reden ist, ist zwischen „Exkulpations-“ und „Einwilligungs-

6
Erneut, s. dazu vorerst nur Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, Vor §§ 211 – 217, Rn. 41a
m.w.N.
7
Bei der Befragung des Sachverständigen Lindner am 16./17. 4. 2019 in Karlsruhe.
8
S. zu Letzterem namentlich den in seinem Opus Magnum – Merkel, Früheuthanasie, 2001
– umfassend erörterten Behandlungsverzicht gegenüber (noch) Einwilligungsunfähigen wie
seine zu vielen dieser Fragen anregende Kommentierung der §§ 218 ff. in NK-StGB, 5. Aufl.
2017.
9
So Merkel in der öffentlichen Anhörung am 23. 9. 2015 zu § 217 StGB n.F. in: Deutscher
Bundestag, Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, Protokoll-Nr. 18/66, S. 174, 175.
10
Der Begriff ist zum Suizid, aber auch bei (tödlicher) Behandlungsbegrenzung zu finden,
s. Neumann, in NK- StGB, 5. Aufl. 2017, Vor § 211, Rn. 108a mit Rn. 64 – 66.
11
Das ist im Anschluss an Roxin, FS Dreher, 1977, S. 331 ff.; ders., GA 1993, 177 ff. heute
h.M.; auch Merkel (Fn. 1), S. 73 (75 ff.) greift das – mit Vorbehalten zur Gleichsetzung von
Frei- und Eigenverantwortlichkeit (S. 81 f.) – auf; s. genauer Ingelfinger, Grundlagen und
Grenzbereiche des Tötungsverbots, 2004, S. 225 ff.
Abgestufte Anforderungen an selbstbestimmtes Sterben? 1093

lösung“ streitig.12 Die Exkulpationslösung verneint sie, wenn der Suizident – ge-
dacht, er beginge in derselben Verfasstheit eine Straftat – nach §§ 19, 20, 35
StGB, § 3 JGG strafrechtlich ohne Verantwortung handelte. Da der diesem Schluss
zugrundeliegende Zustand (jedenfalls in der Regel)13 auch die Unfähigkeit begrün-
det, in die Verletzung des Lebens einzuwilligen, stimmt die vor allem Einwilligungs-
fähigkeit verlangende Einwilligungslösung hiermit im Ergebnis regelmäßig überein.
Sie will Freiverantwortlichkeit aber darüber hinaus aus allen übrigen (subjektiven)
Gründen, die eine Einwilligung unwirksam machen, verneinen. Mangelt es dem Sui-
zidenten an hinreichender Einsichts- und Urteilsfähigkeit bezüglich des Wesens, der
Bedeutung und Tragweite seines Schritts oder vermag er sich nicht nach seiner Ein-
sicht zu richten,14 so soll mit der Einwilligungsfähigkeit zugleich die Freiverantwort-
lichkeit auch dann fehlen, wenn Exkulpationsgründe nicht erreicht sind. Ebenso sol-
len durch Täuschung hervorgerufene (Motiv-)Irrtümer15 und durch Drohung oder
Zwang auch unterhalb der Schwelle des § 35 StGB16 hervorgerufene Willensmängel
Freiverantwortlichkeit ausschließen.
Es bleiben Fragen, die lagerunabhängig gestellt und beantwortet werden. So spre-
chen sich drei Alternativentwürfe – was mit Blick auf § 1901a BGB beachtenswert
ist – dafür aus, einen freiverantwortlichen Selbsttötungsentschluss bei unter 18-Jäh-

12
Ausführlich zum Streit Schneider, in MüKo-StGB, 3. Aufl. 2017, Vor § 211 Rn. 37 – 64
(trotz „Patts“ für Exkulpationslehre, Rn. 62); knapper Eser/Sternberg-Lieben, in Schönke-
Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, Vor §§ 211 ff. Rn. 34 ff. ( für eine Kombinationslehre); Fi-
scher (Fn. 6), Vor §§ 211 – 217, Rn. 26 ff. (Skepsis gegenüber beiden Positionen); Neumann
(Fn. 10), Vor § 211 Rn. 64 ff. (für Einwilligungslösung); Rosenau, in: LK-StGB, 12. Aufl.
2019, Vor §§ 211 ff. Rn. 101 ff. (für Einwilligungslehre). In Monographien ausführlich Feld-
mann, Die Strafbarkeit der Mitwirkungshandlungen am Suizid, 2008, S. 165 – 231 (für Ein-
willigungslehre mit Ernstlichkeitskriterium, S. 231); knapper Ingelfinger (Fn. 11), S. 228 ff.
(für Einwilligungslösung, S. 230); Gavela, Ärztlich assistierter Suizid und organisierte Ster-
behilfe, 2013, S. 16 ff. (für Einwilligungslösung S. 22 f.); Magnus, Patientenautonomie im
Strafrecht, 2015, S. 239 ff., 245 ff. (für Exkulpationslösung – §§ 20, 21 – mit dem Kriterium
der Endgültigkeit, S. 257, 248). S. auch Bottke, GA 1983, 22, 30 ff. (für Exkulpationslösung);
Dölling, FS Maiwald, 2010, S. 119, 125 ff. (für Exkulpationslösung); Hillenkamp, in: An-
derheiden/Eckart, Handbuch Sterben und Menschenwürde, Bd. 2, 2012, S. 1033, 1036 ff. (für
Einwilligungslösung); Roxin (Fn. 11), S. 331 ff. (für Exkulpationslehre); Saliger, Selbstbe-
stimmung bis zuletzt, 2015, S. 145 ff. (für Einwilligungslösung ohne Ernstlichkeitskriterium,
S. 147 ff.); Verrel, Verhandlungen des 66. DJT, 2006, Bd. I, Gutachten C 112 ff. (für Exkul-
pationslösung – §§ 20, 21 – mit Ernstlichkeitskriterium, C 112 f., 122).
13
Einwände bei Odenwald, Die Einwilligungsfähigkeit im Strafrecht unter besonderer
Hervorhebung ärztlichen Handelns, 2004, S. 34 f.; krit. auch Merkel (Fn. 1), S. 73 (85), wenn
er den „Suizidentschluß … eines Geisteskranken oder eines Jugendlichen … (etwa wenn er im
Terminalstadium einer qualvollen Krankheit gefaßt wird)“ für „achtenswert“ hält.
14
So die zweipolige, an gesetzliche Vorgaben – s. dazu Amelung, ZStW 104 (1992)
S. 531 ff; Hillenkamp, MedR 2016, 109 (114); Odenwald (Fn. 13), S. 14 ff. – angelehnte De-
finition der Einwilligungsfähigkeit.
15
Zu Differenzierungen dazu s. Feldmann (Fn. 12), S. 208 f.
16
S. dazu Schneider (Fn. 12), Vor § 211 Rn. 50 m.w.N.
1094 Thomas Hillenkamp

rigen auszuschließen.17 Das hat sich allerdings in beiden Lagern nicht durchgesetzt.18
Es wird aber versucht, dem damit verbundenen Anliegen Genüge zu tun, Freiverant-
wortlichkeit bei hier überproportional vermuteten Kurzschluss- oder Appell-Suizi-
den generell ausschließen zu können. Dazu wird teils die Beachtlichkeit des Ent-
schlusses in Anlehnung an § 216 StGB davon abhängig gemacht, dass die „Selbst-
tötung auf einer … (auch) ernstlichen, ausdrücklich erklärten … Entscheidung be-
ruht,“19 die bei „Augenblicksregungen“ zu verneinen sei.20 Nur auf Verbalisierung
verzichtet, wer sagt, dass schon der für einen eigenverantworteten Suizid erforderli-
che Selbstvollzug hinreichender Ausdruck für Ernsthaftigkeit sei.21 Andere greifen
die Forderung auf, der „wohl bedachten Entscheidung“ nur dann Respekt zu zollen,
wenn sie prospektiv „unabänderlich“, Ausdruck eines „unerschütterlichen Todes-
wunschs“ sei.22 Wird vom Suizidenten Hilfe eingefordert, darf man sie dann erst leis-
ten, wenn sich „Unumstößlichkeit“ in anhaltender „Stabilität“ des Entschlusses er-
weist.23
Die angesichts fehlender gesetzlicher Fingerzeige24 einstweilen maßgebliche
Rechtspraxis25 hat den Grundsatzstreit bisher nicht entschieden. Dort, wo er einmal
angeklungen ist, hat sie mangels Entscheidungsrelevanz eine Stellungnahme vermie-

17
In Vorschriften, die die Straflosigkeit der Nichthinderung einer Selbsttötung betreffen, s.
Baumann u. a., AE- StGB, BT, Straftaten gegen die Person, 1. Halbband, 1970, § 103 I mit der
Begr., S. 21 „eindeutiger Kriterien“; Baumann u. a., AE-Sterbehilfe (AE-StbH), 1986, § 215 II
mit der Begr., S. 30, bei Kindern und Jugendlichen sei „so gut wie nie von einer frei verant-
wortlichen und ernsthaften Entscheidung“ zu sprechen; Schöch/Verrel u. a., AE-Sterbebe-
gleitung (AE-StB), 2005, § 215 II mit der Begr., GA 2005, 579, Einwilligungsfähigkeit sei ein
sehr weites und unbestimmtes Kriterium, „im Zweifel … ein Eingreifen geboten.“ Die Vor-
schrift ist in Heine u. a., AE-Leben, GA 2008, 193, 202 beibehalten.
18
Verrel (Fn. 12), C 112 f. rät davon wie von einer gesetzlichen Entscheidung des Streits
ab; bei Kindern wird überwiegend der Exkulpationslehre (§ 19 StGB) zugestimmt, s.
Schneider (Fn. 12), Vor § 211 Rn. 43 m.w.N.
19
So z. B. § 215 I AE-StB (Fn. 17). Dort tritt das zur Freiverantwortlichkeit hinzu.
20
Beispiel hierfür bei Jähnke, LK-StGB, 11. Aufl. 2005, § 216 Rn. 7 mit Rn. 27 Vor § 211.
21
Eser/Sternberg-Lieben (Fn. 12), Vor §§ 211 ff. Rn. 36 verzichten deshalb auf eine Ver-
knüpfung mit § 216 StGB; s. auch schon Roxin, FS Dreher, 1977, 331 (345); Schroth, GA
2006, 549 (568); krit. dazu Feldmann (Fn. 12), S. 219 f.
22
Im Anschluss an Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz, in: MdJ Rheinland-Pfalz,
Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 2004, S. 103 so Verrel (Fn. 12), C 148 nach Ablehnung des
Ernstlichkeitskriteriums; von „unerschütterlichem“ Todeswunsch spricht BGHSt 32, 367, 376.
23
Unumstößlichkeit prüft der Sterbehilfe Deutschland e.V., s. Saliger (Fn. 12), S. 19. Zur
Prüfung der „Stabilität“ einer Entscheidung (i.R. einer Lebendorganspende) s. Hillenkamp,
MedR 2016, S. 109 (115 f). Beispiele eindrücklich dokumentierter „Unumstößlichkeit/Stabi-
lität“ sind StA München I, NStZ 2011, 345 (Alzheimer-Patientin), BGHSt 46, 279 (Exit-Fall);
LG Berlin NStZ-RR 2018, 246.
24
Der Gesetzgeber hat sich trotz langer „Sterbehilfedebatte“ – s. dazu Hillenkamp, KriPoZ
2016, 3 ff. – weder des Anliegens der AEe (s. Fn. 17) noch im 3. BetrÄndG (BGBl I 2286)
bzw. PatientenRG (s. BT-Ds 17/10488, S. 23 zu § 630d) der Regelung der Einwilligungsfä-
higkeit angenommen.
25
S. zu ihr bis 2012 genauer Hillenkamp (Fn. 12), S. 1040 ff.
Abgestufte Anforderungen an selbstbestimmtes Sterben? 1095

den.26 Wenige Entscheidungen stützen die Verneinung der Verantwortlichkeit zwar


(nur) auf einen Grund für Exkulpation.27 Da das aber – wie umgekehrt für die An-
nahme von Freiverantwortlichkeit der Ausschluss einer Zurechnung hindernden
„psychiatrischen Erkrankung“28 – zum gemeinsamen „Bodensatz“ beider Auffassun-
gen gehört, ist ein Bekenntnis zur Exkulpationslehre hieraus nicht herleitbar. Sie ist
auch Entscheidungen nicht zu entnehmen, in denen die (nur) für die Einwilligungs-
lehre naheliegende Prüfung fehlender Freiverantwortlichkeit schlicht unterblieb.29
Vielmehr spricht die seit langem erfolgende Aufnahme strengerer Einwilligungskri-
terien für die Bereitschaft, auch bei nur ihrem Fehlen Freiverantwortlichkeit zu ver-
neinen und durch die Einbeziehung der Ernstlichkeit der Entscheidung nach dem
Maßstab des § 216 StGB insgesamt einer hierdurch „qualifizierten Einwilligungslö-
sung“ zu folgen,30 die die Ausschlussgründe der Exkulpationslehre miteinbezieht.
So oszilliert zwischen § 3 JGG und qualifizierter Einwilligung im Gisela-Fall,
dass die 16jährige mit dem „ernstlichen(!) und im vollen Bewusstsein seiner Trag-
weite zum Ausdruck gebrachten Wunsch … unmissverständlich zu verstehen“ gege-
ben habe, dass sie „den Tod suche und wolle.“31 Im Stechapfeltee-Fall stellt der BGH
für die Freiverantwortlichkeit zweier 15jähriger zwar maßgeblich auf die Kriterien
des § 3 JGG ab. Er betont aber, dass es hier um die Grundsätze der „Zustimmung
Jugendlicher zur Verletzung eigener Rechtsgüter“ und deshalb um eine auch „von
Willensmängeln und Fremdeinflüssen freie Entscheidung“32 geht. In weiteren Fällen
macht der BGH die frei verantwortete Selbsttötung von „Art und Tragweite“ des dort

26
So in OLG München NJW 1987, 2940 (2941 f.) (Hackethal); in BGHSt 32, 262 (Hun-
derter- Hit) geht es um Selbstgefährdung. Ihre Eigenverantwortlichkeit setzt der BGH aber der
einer Selbsttötung gleich. OLG Hamburg NStZ 2016, 530 (532 f.) bejaht beim begleiteten
Suizid zweier betagter Damen nach beiden Positionen Freiverantwortlichkeit, eine Entschei-
dung, die man aber ebenso wie die am 3. 7. 2019 ergangenen des 5. Strafsenats BGH JZ 2019,
1042 (Hamburger Fall) und BGH JZ 2019, 1046 (Berliner Fall) wohl für die Einwilligungs-
lehre vereinnahmen kann, s. dazu u. im Text und Hillenkamp, JZ 2014, 1054 f.
27
So RGSt 7, 332 (334): geisteskranke Suizidentin; in BGHSt 50, 80 (82): krankhafte
seelische Störung und BGH NJW 1981, 932: Geisteskrankheit und Jugendlichkeit ohne hin-
reichende Verstandesreife ging es um § 216 StGB.
28
S. sie verneinend StA München NStZ 2011, 345 (346) und AG Tiergarten MedR 2006,
298, 299, sie vermutend KG Berlin medstra 2017, 180 (182); in Grenzfällen „zwischen freier
Willensbildung und Verlust des freien Willens durch psychotisch aufgezwungene Handlun-
gen“ ist in dubio pro reo von Freiverantwortlichkeit auszugehen, s. LG Gießen NStZ 2013, 43.
29
So in RGSt 20, 313; BGHSt 13, 162 (Hammerteich); BGHSt 24, 342 (Dienstpistole); s.
dazu Hillenkamp (Fn. 12), S. 1041.
30
Ebenso Saliger (Fn. 12), S. 146 f.; den Begriff „qualifizierte Einwilligungslösung“ habe
ich in JZ 2019, 1055 eingeführt.
31
BGHSt 19, 135 (137); nach den AEn (Fn. 17), deren Forderung diese Formulierungen
entsprechen, scheitert Freiverantwortlichkeit allerdings am Alter Giselas (16 Jahre). Der BGH
teilt diese Einschränkung offenbar nicht; RGSt 72, 399 (400) nimmt dagegen als Regel an,
dass „jugendliche Personen unter achtzehn Jahren kein hinreichendes Urteil über Wert oder
Unwert des Lebens besitzen.“
32
BGH NStZ 1985, 25 (26).
1096 Thomas Hillenkamp

durch arglistige Täuschung verursachten Irrtums abhängig.33 Im Wittig-Fall spricht


er von der Unterscheidung „eines freiverantwortlich gefaßten oder eines auf Willens-
mängeln beruhenden Tatentschlusses (des) Selbstmörders.“34 Im Alzheimer-Fall feh-
len Hinweise darauf, „dass die Verstorbene durch Dritte in einer Art und Weise be-
einflusst wurde, dass ihre freiverantwortliche Willensbetätigung ausgeschlossen“
war.35 Im Exit-Fall schließlich war die Suizidentin „im Vollbesitz ihrer geistigen
Kräfte … und ihr Todeswunsch ernsthaft (!) und nicht Folge eines auch nur entfernt
erkennbaren äußeren Drängens“, ihre Selbsttötung also die einer „vollverantwortlich
Handelnden“.36
Es überrascht hiernach nicht, dass das OLG Hamburg 2016 die Verneinung mit-
telbarer Täterschaft mit der für es offenbar feststehenden Erkenntnis einleitet, „frei-
verantwortlich ist (!) ein Selbsttötungsentschluss, wenn das Opfer die zureichende
natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit für die Entscheidung besitzt und die Man-
gelfreiheit des Suizidwillens sowie die innere Festigkeit des Selbsttötungsentschlus-
ses gegeben sind (… vgl. sog. Einwilligungstheorie: …; zu den Gegenansichten vgl.
unten c)“.37 Zwar passt die dann folgende erste Subkonkretion, das die „erforderliche
natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit zur Abwägung von Bedeutung und Trag-
weite des Entschlusses38 … bei alters-, krankheits- oder alkoholbedingtem Mangel
dieser Fähigkeit“ fehle39 und dass dies „insbesondere bei einem Defizit im Sinne
des § 21 StGB“ der Fall sein könne, „wenn der sich Verletzende infolge einer Into-
xikation … oder … einer psychischen Störung … nicht (mehr) zu einer hinreichen-
den Risikobeurteilung und -abwägung in der Lage ist,“ auch zur Exkulpationslehre.40
Nur mit der Einwilligungslösung lässt sich aber dann das Fehlen der für Freiverant-
wortlichkeit erforderlichen „Mangelfreiheit des Suizidwillens“ daraus herleiten,
33
BGH GA 1986, 508 (Störfaktor); BGHSt 32, 38 (Sirius). Zu einem „die Selbstverant-
wortlichkeit betreffenden Irrtum“ bei Beteiligung an einer Selbstgefährdung s. BGHSt 53, 288
(290).
34
BGHSt 32, 367, 376. Die Rede vom Tatentschluss ist wenig glücklich; zum Fehlen von
Willensmängeln ebenso LG Deggendorf BeckRS 2015, 20138.
35
StA München NStZ 2011, 345 (346).
36
BGHSt 46, 279 (282, 284).
37
OLG Hamburg NStZ 2016, 530 (532). Unter c. folgt (S. 533 f.) nur knapp, dass auch
„unter Zugrundelegung der Exkulpationslehre … und einer weiteren Ansicht, nach der Sui-
zidenten nur in den Ausnahmefällen der sog. Bilanzselbstmorde eigenverantwortlich han-
deln“, beide Suizidentinnen freiverantwortlich handelten. Für die zitierte Eingangsformel
führt das OLG die Störfaktor- (BGH JZ 1987, 474 = GA 1986, 508), die Stechapfeltee- (BGH
NStZ 1985, 25) und mit BGH NStZ 2011, 340 = StV 2011, 284, eine § 216 StGB betreffende,
u. noch zu behandelnde Entscheidung an.
38
Das nähert sich der Definition der Einwilligungsfähigkeit, vgl. dazu o. bei Fn. 14.
39
Diese Aussage stützt das OLG auf BGH NStZ 2011, 340 (341) und BGH NJW 1981, 932
zu § 216 StGB.
40
Zitiert werden hierfür BGHSt 53, 288 (290); BGH NStZ 2011, 341 (342), Fälle der
Beteiligung an eigenverantwortlicher Selbstgefährdung durch Betäubungsmittel, und noch-
mals BGH NStZ 2011, 340; ob § 21 StGB der Exkulpationslehre reicht, ist in ihr allerdings
umstritten.
Abgestufte Anforderungen an selbstbestimmtes Sterben? 1097

dass „der Selbsttötungsentschluss auf Zwang, Drohung oder arglistiger Täuschung


beruht.“41 Und nur mit ihr harmoniert die abschließend aufgenommene, diese Lösung
qualifizierende Forderung, die im Einleitungssatz vorausgesetzte „innere Festigkeit“
mit der „Ernstlichkeit des Tötungsverlangens“ des § 216 StGB gleichzusetzen. Für
sie teilt das OLG das vom BGH aufgestellte Postulat „innerer Festigkeit und Zielstre-
bigkeit“ mit dem Zusatz „tieferer Reflexion … über den Todeswunsch.“42 Liegen „in-
nere Festigkeit und Zielstrebigkeit“ vor, können – weil eine „innerlich unbeschwerte
Willensentscheidung zur Beendigung des eigenen Lebens … kaum vorstellbar ist“ –
auch trauriges Gestimmtsein und Verzweiflung Freiverantwortlichkeit und Ernst-
lichkeit nicht ausschließen.43 Und das gilt mit dem BVerwG selbst dann, wenn die
Verzweiflung „unerträglichem Leidensdruck“ entspringt und den Suizidentschluss
subjektiv alternativlos macht. Denn wenn auch die Urteilsfähigkeit hierdurch einmal
getrübt sein mag, ist autonomes Handeln trotz solchen „Drucks“ nicht kategorial aus-
geschlossen.44 Das alles sieht nun auch der 5. Strafsenat des BGH so. Er hat sich in
seinen im September 2019 abgesetzten Urteilen zur Straffreiheit ärztlicher Suizidas-
sistenz in Duktus und Begründung an die hier nachgezeichneten Ausführungen des
OLG Hamburg so eng angelehnt, dass man sie mit der gleichen Berechtigung in der
41
Zu Zwang und Drohung gilt das jedenfalls unterhalb der Schwelle des § 35. Zitiert
werden hierzu nochmals BGH NStZ 2011, 340 und BGH JZ 1987, 474. Die Einschränkung,
nur ein „rechtsgutsbezogener Motivirrtum“ schließe Freiverantwortlichkeit aus, folgt nicht aus
BGH NStZ 2011, 340, BGH NJW 2003, 2326 und BGHSt 32, 38, 43 und ist str., s. Hillen-
kamp/Cornelius, 32 Probleme aus dem Strafrecht, AT, 15. Aufl. 2017, 7. Problem.
42
OLG Hamburg NStZ 2016, 533; der Zusatz findet sich nur im Leitsatz der Schriftleitung,
nicht im Text von BGH NStZ 2011, 340 (341); auch BGH NStZ 2012, 85 (86) nimmt nur
„innere Festigkeit und Zielstrebigkeit“ auf, ebenso Eser/Sternberg-Lieben (Fn. 12), § 216
Rn. 8; Schneider (Fn. 12), § 216 Rn. 13, die Leitsatzversion dagegen Fischer (Fn. 6), § 216
Rn. 9a und Magnus (Fn. 12), S. 268, die zudem einen unwiderruflichen(!), absoluten und
endgültigen Sterbewillen verlangt, S. 248, s. dazu bei Fn. 22 f. BGH JZ 2019, 1042, 1044
(Hamburger Fall) und BGH JZ 2019, 1046, 1047 (Berliner Fall) sprechen von „bilanzierender
Reflexion“, die auch einen bisweilen allein für freiverantwortet erklärten „Bilanzselbstmord“
begründet.
43
Diese an Schneider (Fn. 12), § 216 Rn. 16 angelehnte Einsicht hat das LG Hamburg
MedR 2018, 421, 424 aus der Entscheidung des HansOLG (Rn. 56 des Langtextes bei juris)
übernommen, zust. Hillenkamp, MedR 2018, 379 (380). BGH JZ 2019, 1046, 1047 (Berliner
Fall) bejaht Freiverantwortlichkeit trotz „tiefer Verzweiflung“ einer „reaktiv depressiven“
Frau, zust. Hillenkamp, JZ 2019, 1054.
44
BVerwGE 158, 142 setzt (schon in den Leitsätzen) in einer durch „unerträglichen Lei-
densdruck“ geprägten „extremen Notlage“ die Möglichkeit eines „frei und ernsthaft“ gefass-
ten Selbsttötungsentschlusses zu Recht voraus, s. dazu Hillenkamp, ZMGR 2018, 289 (297);
Magnus, KriPoZ 2018, 180; Merkel, MedR 2017, 823 und auch schon Bioethik-Kommission
(Fn. 22), S. 133; Nationaler Ethikrat, Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende, 2006,
S. 18 f.; Fischer (Fn. 6), Vor §§ 211 – 217 Rn. 29. Zu Urteilsfähigkeit und Autonomie unter
drängenden „naturgegebenen Prämissen“ s. Merkel, in: Berlin-Brandenburgische Akademie
der Wissenschaften, Prot. der Plenarsitzung v. 27. 9. 2012, Vorträge und Diskussion zum
Thema „Suizid und Suizidbeihilfe“, S. 27. Zu einer Variation des von ihm gebrauchten Bei-
spiels einer „hundertprozentig determiniert(en)“ Nierenentfernung s. BGH NJW 1987, 2925;
zur Autonomie trotz subjektiver Alternativlosigkeit dort s. Hillenkamp, MedR 2016, 109
(111 – 113).
1098 Thomas Hillenkamp

Sache der qualifizierten Einwilligungslösung zuschlagen kann.45 Eindeutig ist das


allerdings auch hier nicht bekannt.
2. Das lässt zu unserem Thema ein erstes Zwischenfazit zu. Wenn von einem frei-
verantworteten Selbsttötungsentschluss nur nach Ausschluss von Befunden der
§§ 20, (21), 35 StGB und bei Verantwortlichkeit nach § 19 StGB, § 3 JGG die
Rede sein kann und Freiverantwortlichkeit darüber hinaus alle subjektiv relevanten
Voraussetzungen46 einer Einwilligung bis hin zu einer nach den Maßstäben des § 216
StGB zu messenden, zum Ausdruck gekommenen Ernstlichkeit verlangt,47 so ergibt
sich ein vollkommener Gleichklang48 zwischen der Selbstbestimmtheit eines Suizid-
entschlusses und der eines Tötungsverlangens nach § 216 StGB. Zu den drei hier ein-
gangs (o. u. I.) genannten Formen willentlichen Sterbens bestätigt sich die Vermu-
tung von Abstufungen zwischen den beiden zuerst genannten Konstellationen also
in der Justizpraxis nicht. Das sollte auch dort gelten, wo ein Verlangen, weil bei-
spielsweise nicht „handlungsleitend“, oder eine bloße Einwilligung § 216 StGB
nicht auslösen. Denn wenn man ihnen, wie es richtig ist, eine immerhin strafmildern-
de Wirkung zuschreibt, sind an sie selbst keine geringeren Anforderungen zu stel-
len.49 Diesen Gleichklang beizubehalten legt schon nahe, dass die Schranke zum
Tod durch beide Entschlüsse in annähernd gleicher Intensität aufgehoben wird,
vor allem aber, dass die Konstellationen, in denen sie wirken, nicht selten nahezu aus-
tauschbar, dogmatisch fast ebenso gut dem begleiteten Suizid wie einer Tötung auf
Verlangen zuzuordnen, die Grenzziehungen häufig „hauchdünn“ sind.50 Ob die An-
forderungen so streng sein sollten, ist damit freilich ebenso wenig beantwortet, wie,
45
Ein ausdrückliches Bekenntnis zu ihr fehlt freilich (krit. dazu Hillenkamp, JZ 2019,
1054 f.), da die Subsumtion auch unter die „innerhalb des Schrifttums … formulierten Krite-
rien“ Freiverantwortlichkeit ergibt. Im Hamburger Fall BGH JZ 2019, 1042 steht das ganz
außer Frage; im Berliner Fall BGH JZ 2019, 1046 hat KG medstra 2017, 180 (182) „allen
Anlass“ zu Zweifeln gesehen, der 5. Senat diese aber in einer deshalb etwas ausführlicheren
Begründung (1047) mit dem Ausgangsgericht zerstreut.
46
Das Einhalten objektiver Einwilligungsschranken – etwa der §§ 228, 216 StGB – ist für
Freiverantwortlichkeit naturgemäß nicht erforderlich.
47
S. zum Verhältnis von freier Willensbestimmung, Schuldfähigkeit, Einwilligung und
Stabilität unter dem Blickwinkel autonomer und freiwilliger Entscheidung Hillenkamp, MedR
2016, 109 ff.
48
Zweifel daran, dass Ernstlichkeit für beide Fälle für den BGH dasselbe meint, bei
Magnus (Fn. 12), S. 120.
49
S. hierzu als Strafmilderungsgrund im Dresdener Kannibalen-Fall genauer Hillenkamp
(Fn. 2), S. 553 (566 ff.). Auch eine Einwilligung muss, wenn sie denn überhaupt ein Minus
gegenüber dem Verlangen ist – s. dazu nochmals Knierim (Fn. 3), S. 116 ff. – als Strafmilde-
rungsgrund ernstlich sein.
50
Wie „hauchdünn“ (Merkel, Fn. 1, S. 80; Feldmann, Fn. 12, S. 227) zeigen z. B. BGHSt
19, 135, BGH NStZ-RR 2018, 172 (dazu Hillenkamp, Fn. 2, S. 553, 557 ff.) und auch die str.
Einordnung der Tötung sterbewilliger Menschen, die nur physisch außerstande sind, sich
selbst zu töten. Für Beihilfe zum Suizid trotz vom Dritten vollzogenen Tötungsakts Hillen-
kamp, FS Schünemann, 2014, S. 415 (419); ders., ZGMR 2018, 289 (292); Magnus, KriPoZ
2018, 180 jeweils mit Nachw. zur Gegenmeinung = § 216, u. U. gerechtfertigt, s. Roxin, FS
Fischer, 2018, S. 509 (518).
Abgestufte Anforderungen an selbstbestimmtes Sterben? 1099

ob sie strenger oder anders als zum übrig bleibenden Antipoden des Suizids, der töd-
lichen Behandlungsbegrenzung, sind. Hierauf verengt sich nun unser Thema.

III.
Eine zum Tode führende willentliche Behandlungsbegrenzung begegnet an sie ge-
bundenen Personen entweder als aktuelle Äußerung eines (noch) erklärungsfähigen
Menschen oder als Teil einer Patientenverfügung, die auf die „aktuelle Lebens- und
Behandlungssituation“ zutrifft (§ 1901a BGB).51
1. Sucht man die Bedingungen auf, die in der zuerst genannten Situation an die
psychische Verfasstheit des Verweigerers zu stellen sind, 52 findet man in der zivil-
rechtlichen Literatur nur karge Antwort. Die Einwilligungsfähigkeit, verstanden als
natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit, müsse gegeben sein, auch die eines Min-
derjährigen reiche – gegebenenfalls – folglich aus.53 Damit hat es gemeinhin schon
sein Bewenden. Klärend tritt der Vorschlag hinzu, da es bei solchen Sachverhaltsge-
staltungen nicht nur um Einwilligung in medizinische Maßnahmen, sondern eben
auch (wie im hier aufgerufenen Fall) „um deren Verweigerung“ geht, „zutreffender
von Entscheidungsfähigkeit“ zu sprechen. In ihren Voraussetzungen unterscheiden
sich Einwilligungs-, Einwilligungsverweigerungs-, Veto- und Entscheidungsfähig-
keit aber nicht.54 Anders als die Einwilligung in eine (aktive) medizinische Maßnah-
me soll allerdings ihre (aktuelle) Ablehnung auch ohne ärztliche Aufklärung wirk-
sam sein.55 Die durch eine solche schlichte Einwilligungslösung bewirkte Absen-

51
Beispiele in den Textbausteinen von Muster-Patientenverfügungen z. B. des BMJV, Pa-
tientenverfügung, Stand: Januar 2019, S. 25 ff und der BÄK/ZEKO, Hinweise und Empfeh-
lungen zum Umgang mit Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen im ärztlichen All-
tag, Stand: 25. 10. 2018, DÄBl 115 (2018), A 2434 (2438).
52
Ein Beispiel ist Peter Noll, s. dazu Jens/Küng, Menschenwürdig sterben, 2009, S. 104 ff.
53
Götz, in: Palandt, BGB, 78. Aufl. 2019, § 1901a Rn. 10.
54
Der klärende Vorschlag findet sich bei Bienwald, in: Bienwald u. a., Betreuungsrecht,
6. Aufl. 2016, § 1901a Rn. 11; im Weiteren s. Rn. 3, 48 und § 1904 Rn. 5; ders., in: Stau-
dinger, BGB, 2013, §§ 1901 a und b Rn. 26. Vgl. auch Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht,
7. Aufl. 2014, Rn. 991; Götz (Fn. 53), § 1904 Rn. 9 (eine aktuelle Erklärung geht einer
„kongruenten“ Patientenverfügung vor, § 1901a Rn. 19); Kemper, in: HK-BGB, 10. Aufl.
2019, § 1901a Rn. 10; Müller-Engels, in: BeckOK BGB, Stand: 01. 09. 2019, § 1904 Rn. 8 mit
Rn. 7; Roth, in Erman, BGB, 15. Aufl. 2017, § 1901a Rn. 2. Von Einwilligungs(verweige-
rungs)fähigkeit sprechen im Strafrecht auch Eser/Sternberg-Lieben (Fn. 12), Vor §§ 211 ff.
Rn. 28 g. Zur Identität der Voraussetzungen s. Bleiler, Strafbarkeitsrisiken des Arztes bei
religiös motiviertem Behandlungsveto, 2010, S. 51; Odenwald (Fn. 13), S. 114 ff., jeweils
m.w.N.; s. auch Hillenkamp, FS Küper, 2007, S. 123 (129, 134, mit Differenzierung bezüglich
der Maßnahme S.141).
55
Eine begründungslose Wiederholung dieser Aussage findet sich in BT-Ds 16/8442, S.7,
10, 14 (E-Stünker u. a. zur Änderung des BetrR); BT-Ds 16, 11360, S. 9 (E-Bosbach u. a. zur
Änderung des BetrR); BT-Ds. 17/10488, S. 24 (E-PatRG der BReg); Götz (Fn. 53), § 1901a
Rn. 2, 13; eher krit. Müller-Engels (Fn. 54), § 1901a Rn. 22; Roth (Fn. 54), § 1901a Rn. 8.
1100 Thomas Hillenkamp

kung des Lebensschutzniveaus zeigt sich in dem gedachten Fall, dass nach einem
ärztlich assistiert eingeleiteten Suizid der noch entscheidungsfähige Suizident sich
gegenüber einem von Dritten herbeizitierten Notarzt die einzig lebensrettende Inter-
vention verbittet. Während die Assistenz nur bei der o. u. II. beschriebenen „Freiver-
antwortlichkeit“ i.S. der hier sog. qualifizierten Einwilligungslösung gewährt wer-
den darf, ist dem Notarzt nach den zitierten Stimmen schon dann die Rettung verlegt
und das Sterbenlassen geboten, wenn (nur) von „Entscheidungsfähigkeit“ auszuge-
hen ist.56
In der strafrechtlichen Literatur findet sich kein vergleichbar einheitliches Bild.
Am deutlichsten wird der strengere Maßstab der „Freiverantwortlichkeit“ des Sui-
zids auch für die tödliche Verweigerung dort reklamiert, wo sie als „Suizid durch Be-
handlungsverweigerung“, als „passiver Suizid“ bezeichnet und der aktiven Selbsttö-
tung gleichgestellt wird.57 Allerdings wird aus dieser vermeintlich „zutreffenden
Gleichstellung“58 auch umgekehrt auf „die Zweifelhaftigkeit einer zu engen Freiwil-
ligkeitsbeurteilung in Suizid-Fällen“ geschlossen und für die Wirksamkeit des Be-
handlungsvetos wie in der Zivilrechtsliteratur nur auf einen „entscheidungsfähigen
Patienten“ abgestellt.59 Andere Stimmen dagegen gleichen das Lebensschutzniveau
beim Behandlungsverzicht dem Suizidbereich wiederum an, indem sie, um „sicher-
zustellen, dass Behandlungsbegrenzungen nur aufgrund eines eindeutigen und frei-
verantwortlich zustande gekommenen Verlangens des Patienten vorgenommen wer-
den“, dafür eintreten, „das aus § 216 StGB bekannte und bewährte Merkmalspaar
,ausdrücklich und ernstlich‘“ für das todbringende Veto zu übernehmen.60 Den für

S. auch Nationaler Ethikrat, Patientenverfügung, 2005, S. 17 f. mit S. 14. Näher zur „informed
refusal“ (E.Deutsch) mit Gründen und Gegengründen Taupitz, 63. DJT (2000), Gutachten A
12 f., 32 ff., der selbst die sonst „unerträglichen Schutzlücken“ schließt.
56
Dem steht nach dem 5. Strafsenat (s. Fn. 26) auch nicht mehr entgegen, dass es ein
suizidaler Wille ist.
57
So namentlich Saliger (Fn. 12), S. 58 – 62 unter Berufung auf Antoine, Aktive Sterbe-
hilfe in der Grundrechtsordnung, 2004, S. 214; Bottke, GA 1982, 346 (355); Günzel, Das
Recht auf Selbsttötung, seine Schranken und die strafrechtlichen Konsequenzen, 2000,
S. 47 ff. S. auch Ebert, JuS 1976, 319 (320); Ingelfinger (Fn. 11), S. 298, 307 ff. und Neumann
(Fn. 10), Vor § 211 Rn. 108a, der zur „eigenverantwortlichen Entscheidung“ auf die „Aus-
führungen zum Problem der Freiverantwortlichkeit eines Suizids“ verweist.
58
Einwände bei Hillenkamp (Fn. 54), S. 123 (131 f.) mit Nachw. zu ihren älteren Ver-
fechtern.
59
So Fischer (Fn. 6), Vor §§ 211 – 217, Rn. 41a, 42, der den entscheidungsfähigen in
Rn. 43 mit dem urteils- und einsichtsfähigen Patienten gleichsetzt. Zur Freiverantwortlichkeit
des Suizids s. dort Rn. 26 – 29. Eser/Sternberg-Lieben (Fn. 12) verweisen Vor §§ 211 ff. Rn. 28
auf die Parallelität und verlangen – Rn. 28a – „Freiverantwortlichkeit“, wollen sie zum Be-
handlungsverzicht dann aber allein nach der „Einsichts- und Urteilsfähigkeit“ bestimmen, s.
den Verweis auf § 223 Rn. 38 und Vor § 32 Rn. 40.
60
So Verrel (Fn. 12), C 79; der Vorschlag, das ins Gesetz aufzunehmen, wurde vom 66.
DJT 2006 gebilligt, s. Beschlüsse der Abt. Strafrecht II 1 b. Auch Roxin, in: Roxin/Schroth,
Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S.75 (93) zitiert diese an § 214 AE-StbH und
AE-StB (Fn. 17) angelehnte Forderung zustimmend; s. auch Chatsikostas, Die Disponibilität
des Rechtsguts Leben usw., 2001, S. 330 mit S. 87.
Abgestufte Anforderungen an selbstbestimmtes Sterben? 1101

den Arzt bei dem „noch kommunikationsfähigen Patienten … unschätzbaren Vorteil,


sich ein authentisches Bild von den Behandlungswünschen seines Patienten machen
und auf dessen Willensbildung Einfluss nehmen zu können,“ verbindet dieser Vor-
schlag mit der ärztlichen Pflicht, „den Patienten über alle in Betracht kommenden
Behandlungsmöglichkeiten sowie über die Konsequenzen einer Behandlungsbe-
grenzung auf(zu)klären und … sich nicht vorschnell mit einer aus ärztlicher Sicht
unvernünftigen Behandlungsverweigerung ab(zu)finden.“61 Einig ist man sich
darin, dass die Entscheidung unabhängig davon gilt, ob sie medizinisch kontraindi-
ziert, vom Verweigerer begründet und wenn ja, für den Außenstehenden nachvoll-
ziehbar oder aber unvernünftig, angesichts sozialer Verpflichtungen (auch) unverant-
wortlich oder religiös verblendet erscheint.62 Schließlich sei noch eine Stimme er-
wähnt, die immerhin, wenn auch „lediglich Ernstlichkeit der Erklärung“ als Zusatz
zur Entscheidungsfähigkeit verlangt, es „insoweit“ aber nicht für „erforderlich“ hält,
„dass die Willensäußerung den Anforderungen des § 216 genügt“.63
Auch die Rechtsprechung ergibt kein eindeutiges Bild. Eine „Rechtspflicht“, den
in einer Wohn- und Lebensgemeinschaft verbundenen schwer erkrankten Freund
„am selbstgewollten Ableben“ durch das Herbeiholen ärztlicher Hilfe „zu hindern“,
hat der BGH verneint, weil sich der Erkrankte „in freier Willensentscheidung“ und
„in voller Erkenntnis der Bedeutung und Tragweite … seiner Entscheidung“ dazu
entschlossen hatte, „dem für ihn erkennbar herannahenden Tod keinen Widerstand
mehr entgegenzusetzen …“64 Einem solchen schon ein Behandlungsangebot ab
ovo verlegenden Interventionsveto stellt das LG Ravensburg das Verlangen, nicht
mehr „künstlich beatmet zu werden“, gleich, wenn ihm der „ernsthafte Todes-
wunsch“ einer „urteilsfähigen“ Patientin zugrunde liegt.65 Hier also verbindet sich
die dem BGH offenbar ausreichende Entscheidungsfähigkeit wieder mit einer an
§ 216 StGB angelehnten Prämisse. Die Ablehnung einer medizinisch vital indizier-
ten Fremdbluttransfusion lässt – auch wenn sie aus ärztlicher Sicht „vernunftwidrig
oder nicht nachvollziehbar“ und absehbar mit tödlichem Ausgang verbunden ist – das
BSG andererseits wiederum gelten, wenn der Verweigerer „in der Lage war, …eine
autonome Entscheidung frei von Willensmängeln“ zu treffen.66 In Suizidfällen, in
61
Verrel (Fn. 12), C 79; ebenso zur Aufklärung E-Bosbach u. a. (Fn. 55), S. 13; zur Dis-
kussion und i.E. für eine Aufklärungspflicht Bleiler (Fn. 54), S. 97 ff.; s. auch Taupitz (Fn. 55),
A 33 f.
62
S. dazu Hillenkamp, in: Anderheiden/Eckart, Handbuch Sterben und Menschenwürde,
Bd. 1, 2012, S. 349 (360, 366); ders., ZMGR 2018, 289 (290) sowie E-Stünker (Fn. 55),
S. 7 ff.; Nationaler Ethikrat, Patientenverfügung, 2005, S. 10; Fischer (Fn. 6), Vor §§ 211 –
217 Rn. 42; Neumann (Fn. 10), Vor § 211 Rn. 108b; Schneider (Fn. 12), Vor § 211 Rn. 115.
63
So Schneider (Fn. 12), Vor § 211 Rn. 115, der auch hier zuvor von einer „freiverant-
wortlichen Willensentscheidung“ spricht. Zur „Ernstlichkeit“ als Wirksamkeitsvoraussetzung
(schon) einer Einwilligung s. Knierim (Fn. 3), S. 110, 145 f.; Magnus (Fn. 12), S.167; Stern-
berg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, Vor §§ 32 ff. Rn. 49.
64
BGH NStZ 1983, 117 (118).
65
LG Ravensburg NStZ 1987, 229.
66
BSG BeckRS 2004, 40461; es ging dort um einen Zeugen Jehovas.
1102 Thomas Hillenkamp

denen sich die Suizidierenden durch ausdrückliche schriftliche Anweisung67 oder je-
denfalls konkludent68 eindeutig und aktuell jede rettende Intervention nach Eintritt
ihrer Entscheidungsunfähigkeit verbeten hatten, findet sich ein – allerdings nirgends
offengelegter – Gleichklang zu den Anforderungen an den Selbsttötungsentschluss
und dessen Absicherung im Interventionsveto i.S. strengerer Freiverantwortlichkeit.
Da an deren Fortbestehen bis zum jeweiligen Ende in den entschiedenen Fällen kein
Zweifel bestand, war aber nicht zu entscheiden, ob ein Weniger zum Veto ausgereicht
hätte.69 Man kann folglich diese Entscheidungen nicht für ein generelles Bekenntnis
der Rechtsprechung anführen, dass ein tödliches Behandlungsveto nur bei Freiver-
antwortlichkeit i.S. der qualifizierten Einwilligungslösung bestandskräftig sei.70
Aufklärung ist naturgemäß nicht vorausgesetzt, wo ein jede Intervention verbittendes
Veto dem nichtärztlichen persönlichen Umfeld des Lebensbedrohten schon die Zu-
führung zu Rettungsmaßnahmen verlegt.71 Einem Arzt ist dagegen nach der Recht-
sprechung zu raten, die „Stabilität“ der Entscheidung durch Aufklärung auf den Prüf-
stand zu stellen. Dafür reichte dem RG aus, „durch eine entsprechende Belehrung auf
den Kranken einzuwirken und ihn in einer der Lage des Falles angemessenen Weise
auf die Folgen seiner Weigerung aufmerksam zu machen.“72 Beruht die Weigerung
auf Religiosität, verletzte es das Neutralitätsgebot gegenüber den Weigerungsgrün-
den, verlangte man mehr, etwa eine bekehrende Aufklärung. Auch die Forderung,
„unter Aufbietung aller Energie und Überredungskunst“ dem Patienten die Situation

67
So im Wittig-Fall BGHSt 32, 367: hier hatte die Suizidentin ihre zurückliegende
schriftliche Weigerung im Zeitpunkt ihrer Selbsttötung auf einem Zettel in der Hand erneuert;
dann geht es um die hier behandelte Konstellation, weil das aktuell im entscheidungsfähigen
Zustand ausgesprochene Veto die ältere „Patientenverfügung“ auch bei Kongruenz überholt
und nach Eintritt der Entscheidungsunfähigkeit weiterwirkt, s. dazu nur Götz (Fn. 53), § 1901a
Rn. 4, 19; § 1904 n 19; Kemper (Fn. 54), § 1901a Rn. 10. Auch im Spittler-Fall – LG Ham-
burg MedR 2018, 421 (423); BGH JZ 2019, 1042 – lag eine auf den aktuellen Suizid unmit-
telbar bezogene schriftliche Erklärung beider Suizidentinnen vom Vortag des Suizids vor, in
der sie „jeder sie etwa noch lebend antreffenden Person im Falle ihrer Handlungsunfähigkeit
jegliche Rettungsmaßnahmen“ untersagten; Klarheit bestand auch im Berliner Fall BGH JZ
2019, 1046.
68
So z. B. im Fall Hackethal OLG München JZ 1988, 201; ebenso in LG Berlin NStZ-RR
2018. 246; LG Deggendorf BeckRS 2015, 20138; StA München I NStZ 2011, 345 (Alzhei-
mer-Fall); BGH NJW 1988, 1532.
69
Ausgeschlossen muss natürlich sein, dass „ein ursprünglich durchaus ernsthafter
Selbsttötungswille nach Beendigung des Suizidversuchs … ,verfällt‘“ oder der „zwischen
Selbstmordhandlung und Todeseintritt“ eingerichteten „längere(n) Latenzperiode, … in der
das Hinzukommen Dritter ermöglicht wird“, schon von vornherein kein „unerschütterlicher
Todeswunsch“ zugrunde liegt, s. BGHSt 32, 367 (376).
70
Gegen Verallgemeinerungsfähigkeit sprechen auch mit RGSt 25, 375 (378), RGZ 155,
349 (355 mit 352) und BGHSt 11, 111 (114) Entscheidungen, in denen die Ablehnung le-
bensrettender Eingriffe als Ausfluss des Selbstbestimmungsrechts in ihrer Wirksamkeit von
nicht mehr als dem erklärten Willen abhängig gemacht wird; s. auch EGMR NJW 2002, 2851
(2854).
71
So in BGH NStZ 1983, 117.
72
RGZ 151, 349, 355; s. auch BGH NJW 1997, 3090 (3091).
Abgestufte Anforderungen an selbstbestimmtes Sterben? 1103

„so drastisch vor Augen zu führen“, dass der medizinischen Vernunft nicht zu folgen
nur noch aus gänzlich „irrationalen Gründen“ übrigbliebe, überspannte in paterna-
listischer Weise den Bogen.73
2. Entsteht hiernach zum tödlichen Veto eines aktuell entscheidungsfähigen Men-
schen zwar ein Momente der qualifizierten Einwilligungslösung teils noch einfor-
derndes, de lege lata sich aber doch auch schon in vielen Äußerungen demgegenüber
nur mit den Kriterien schlichter Einwilligung begnügendes und damit im Vergleich
zum Suizid erodierendes Bild, so wird Letzteres für die in einer Patientenverfügung
antizipativ entschiedene Untersagung lebensrettender Intervention vollständig domi-
nant. Von der vom Gesetz (§ 1901a I 1 BGB) verlangten Einwilligungs-, im Verwei-
gerungsfall besser Entscheidungsfähigkeit, die unbestritten auf die konkrete, hier
also tödliche Behandlungsbegrenzung und damit eine „lebensentscheidende“ Maß-
nahme zu beziehen ist,74 heißt es, der Arzt könne von ihr, „sofern keine gegenteiligen
Anhaltspunkte vorliegen,“ beim „volljährigen Patienten ausgehen.“75 Genauere Prü-
fung selbst dieser Minimalforderung, allerdings ohnehin nicht leicht zu bewältigen,76
wird für den Regelfall nicht verlangt. Volljährigkeit als zweite Voraussetzung mag in
alltäglichen Entscheidungslagen eine solche „Vermutungspraxis“ rechtfertigen, in
einer Leben und Tod betreffenden aber mit gleicher Selbstverständlichkeit nicht.
Sie ist zudem – umstrittener Fremdkörper in Bezug auf Einwilligungsfähigkeit77 -
auch gar nicht als zusätzlicher Garant einer hinreichend verantworteten Entschei-
dung, sondern gänzlich begründungslos in das Gesetz gelangt.78 Es begnügt sich –
wie die im Zivil- und Strafrecht h.M. – mit dem Veto eines einwilligungsfähigen Voll-
73
Diese Zitate aus BGH VerSR 1954, 98 (99) und OLG Oldenburg VersR 1998, 1110
(1111) stammen aus nicht religiös motivierten, medizinisch aber unvernünftigen Weige-
rungsfällen; zu religiös gefärbten Fällen s. die Nachweise bei Bleiler (Fn. 54), S. 27 ff.; Hil-
lenkamp (Fn. 54), S. 123 ff. sowie BSG BeckRS 2004, 40461 (präoperative Aufklärung über
das hohe Risiko der Ablehnung von Fremdbluttransfusionen).
74
S. nur Deutsch/Spickhoff (Fn. 54), Rn. 992; Götz (Fn. 53), § 1904 Rn. 8. Angesichts der
Irreversibilität sind also hohe Anforderungen zu stellen.
75
So BÄK/ZEKO (Fn. 52), A 2439; Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 7. Aufl.
2015, VI Rn. 148; auch Magnus (Fn. 12), S. 189 spricht von einer entsprechenden „Vermu-
tung“. Zur auf den Arzt abfärbenden strengeren Kognitionspflicht des Gerichts im Fall aktu-
eller Weigerung s. BGH JZ 2019, 1046, 1047.
76
Taupitz (Fn. 54), A 112 weist darauf hin, dass der Arzt „einer Erklärung folgen soll, bei
der die äußeren Umstände des Zustandekommens und die Einwilligungsfähigkeit des Betref-
fenden zum Zeitpunkt der Erklärung völlig unbekannt sind.“
77
Die mit Volljährigkeit oder Geschäftsfähigkeit nicht identisch und von starren Alters-
grenzen unabhängig ist, s. Odenwald (Fn. 13), S.18 ff; Spickhoff, Medizinrecht, 3. Aufl. 2018,
§ 630d Rn. 3 ff.; Müller-Engels (Fn. 54), § 1904 Rn. 5 f. Götz (Fn. 53), § 1901a Rn. 10 sieht
darin einen verfassungswidrigen Missgriff; krit. auch Spickhoff, FamRZ 2009, 1949 ff.;
Sternberg-Lieben/Reichmann, NJW 2012, 257 ff.
78
Möglicherweise in Anlehnung an § 1896 BGB; s. MAH ErbR/Lipp, 5. Aufl. 2018, § 44
Rn. 90; E-Bosbach (Fn. 55) und E- Zöller, BT-Ds 16/11493, verzichten auf Volljährigkeit, der
Gesetz gewordene E-Stünker (Fn. 55) hat sie begründungslos aufgenommen, s. dazu Stern-
berg-Lieben/Reichmann, NJW 2012, 257 f. Wäre erhöhter Lebensschutz Motiv, hätte ein
Verweis auf die AEe (s. bei Fn. 17) nahe gelegen. Er fehlt.
1104 Thomas Hillenkamp

jährigen, das zwar auch die übrigen Wirksamkeitsvoraussetzungen einer Einwilli-


gung wie z. B. die Abwesenheit von Täuschung und Zwang erfüllen, dem aber
nach der gesetzgeberischen Entscheidung kein in ärztlicher Beratung und Aufklä-
rung gereifter und gefestigter Entschluss zugrunde liegen muss.79 Dass die vorge-
schriebene Schriftform Schutz vor „übereilten und unüberlegten Festlegungen“
und eine gewisse „Ernsthaftigkeits- und Missbrauchskontrolle“80 verbürgt, ist ange-
sichts der gängigen Übernahme vorformulierter Bausteine zum hier behandelten
„häufigsten Anwendungsfall“81 der Patientenverfügung eine zweifelhafte Annahme.
Zudem wird auch nirgends ausdrücklich verlangt, so etwas wie „Ernsthaftigkeit“
oder „innere Festigkeit“ des Vetos zu prüfen. Da eine Patientenverfügung weder zeit-
nah zu ihrer Umsetzung entstanden noch wenigstens aktualisiert sein muss, fallen
auch verlässliche Indizien für solche Anforderungen aus. Auch nur entfernte Anleh-
nungen an die strengeren Kautelen der qualifizierten Einwilligungslösung finden
sich nicht.82
Dieser Negativbefund betrifft auch die Rechtsprechung. Sie begnügt sich mit den
soeben abgebildeten Vorgaben selbst dort, wo sich das tödliche Veto nicht aus einer
wirksamen Patientenverfügung, sondern z. B. aus einer nur mündlichen Festlegung
oder der eines Minderjährigen als nach § 1901a II BGB zu beachtender Behand-
lungswunsch oder als Inhalt nur des mutmaßlichen Willens ergibt. Zwar sollen
„für die Feststellung des behandlungsbezogenen Patientenwillens … beweismäßig
strenge Maßstäbe (gelten), die der hohen Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter
Rechnung“ tragen.83 Die strengen Maßstäbe erstrecken sich aber auf die inhaltlichen
Wirksamkeitsvoraussetzungen einer letalen Verweigerung nicht. Ernsthaftigkeit, in-
nere Festigkeit erwähnen auch solche Konstellationen betreffende Entscheidungen
nicht.84

79
Der gegenteiligen Forderung von Taupitz (Fn. 55), A 111 ff. ist der Gesetzgeber nicht
gefolgt; krit. dazu Duttge, Intensiv und Notfallbehandlung 44 (2019), S. 77, 81; Müller-Engels
(Fn. 54), § 1901a Rn. 22; s. auch E-Bosbach (Fn. 55), S. 10, der in § 1901b II eine Aufklärung
bei Vetoentscheidungen verlangt. Empfohlen wird sie von BÄK/ZEKO (Fn. 52), A 2437 f.
Gegen die Verpflichtung bei (bloßer) Verweigerung einer lebenserhaltenden Maßnahme auch
nach Einfügung des § 630d BGB aber die im Zivilrecht h.M., s. nur Götz (Fn. 53), § 1901a
Rn. 2, 13; Katzenmeier, in: BeckOK BGB, Stand: 1.5. 2019, § 630d Rn. 19; Lipp (Fn. 75), VI
Rn. 152; Roth (Fn. 54), § 1901a Rn. 8. Zu Gründen für einen unaufgeklärten Behandlungs-
verzicht Verrel (Fn. 12), C 84.
80
Götz (Fn. 53), § 1901a Rn. 11; Verrel (Fn. 12), C 82.
81
So Magnus (Fn. 12), S. 224; Lipp (Fn. 75), VI Rn. 184; Roth (Fn. 54), § 1901a Rn. 8.
82
Für dieses Negativattest stehen die bisher zur Thematik ausgewerteten Fundstellen.
83
So BGHSt 55, 191 (205), eine Entscheidung, die schon auf §§ 1901a ff. BGB Bezug
nimmt, und BGHZ FamRZ 2014, 1909 (1913).
84
S. dazu auch die dem BSG BeckRS 2015, 65568 (Rn. 4, 9, 20, 33) genügenden Fest-
stellungen des LSG bei einer nur mündlichen Äußerung.
Abgestufte Anforderungen an selbstbestimmtes Sterben? 1105

IV.
Es ergeben sich also in der Tat Abstufungen, ein dreistufiges Gefälle, von einer
nur ohne Exkulpationsgründe, Einwilligungs- und Ernstlichkeitsmängel begründba-
ren Freiverantwortlichkeit eines Suizidenten oder eines seine Tötung Verlangenden
über eine immerhin durch Nachfragen85 und bei ärztlicher Beteiligung durch Aufklä-
rung stabilisierbare Entscheidung eines aktuell entscheidungsfähigen Verweigerers
bis hin zu einem nur noch den einfachen Voraussetzungen einer Einwilligung ent-
sprechenden tödlichen Veto in einer Patientenverfügung. Das Gefälle verstärkt
sich, wenn man zum Suizid vor Annahme von Freiverantwortlichkeit mit der Suizid-
forschung mahnt, es handele sich hierbei um einen allenfalls einstelligen Prozentsatz
aller Fälle86 und im gleichen Atemzug die Vermutung zulässt, bei Volljährigen sei die
Fähigkeit auch zu finaler Entscheidung in einem u. U. weit zurückliegenden Papier
die kaum einmal hinterfragungswürdige Regel.
Zwei Gründe sprechen als erstes dafür, die Abstufungen zugunsten einer die
Wirksamkeit aller lebensbeendenden Entscheidungen nach einem einheitlichen
Maßstab beurteilenden Vorgabe aufzugeben. Der erste ist die Affinität zwischen Sui-
zid und lebensbeendendem Veto. Wer für das Veto die Rede vom „passiven Suizid“
oder „suizidaler Behandlungsverweigerung“ für eine den inhaltlich identischen Ge-
halt beider Entscheidungen treffend kennzeichnende Gleichstellung hält, muss auch
für identische Anforderungen streiten.87 Es hat aber auch, wer sagt, „niemand“ würde
bei einer bloßen Behandlungsverweigerung oder einem Abbruchsverlangen „von
Suizid sprechen“,88 gegen eine Gleichbenennung zwar semantische, gegen eine
Gleichstellung jedenfalls zu unserer Frage aber kaum sachliche Gründe. Denn
„dass unsere Rechtsordnung in Übereinstimmung mit dem Urteil der Rechtsgemein-
schaft“ und also wohl zu Recht „einen entscheidenden normativen (!) Unterschied
darin“ sehen soll, „ob jemand seinem natürlichen Tod durch aktives Handeln vor-
greift, oder ob er nur – mit den Worten des BGH – einem ohne Behandlung zum
Tode führenden ,Krankheitsprozess seinen Lauf lässt‘“, ist schon deshalb eine inhalt-
lich fragliche Aussage,89 weil im immer wieder hierfür angeführten Beispiel des ver-

85
BGH NStZ 1983, 117.
86
S. dagegen die nachdrückliche Empfehlung der Trennung von psychiatrischer und
rechtlicher Sicht bei Feldmann (Rn. 12), S. 168 ff., 175 ff. und Fenner, Suizid – Krankheits-
symptom oder Signatur der Freiheit, 2008, S. 111 ff., 199 ff.; ferner Eser/Sternberg-Lieben
(Fn. 12), Vor §§ 211 ff. Rn. 34 und Saliger (Fn. 12), S. 47 ff. mit Nachw. zur freie Selbsttö-
tungen belegender Rechtsprechung; dazu zählen der Wittig- und der Spittler-Fall, s. Hillen-
kamp, MedR 2018, 379 f.; ders. (Fn. 2), S. 1033 (1036 f.). Rosenau (Fn. 12), Vor §§ 211 ff.
Rn. 104 spricht zu Recht von „älteren Erkenntnissen der Suizidforschung“.
87
Dazu, ob für strenge oder weniger strenge, s. weiter u. im Text und o. bei Fn. 58 f.
Nachw. zur gleichstellenden Wortwahl s. o. Fn. 57; von „suizidaler Behandlungsverweige-
rung“ spricht auch Merkel (Fn. 1), S. 90.
88
Belege für das Gegenteil in Fn. 57, 87 und bei Hillenkamp (Fn. 54), S. 123 (131 f.).
89
Sie findet sich mit dem Zitat aus BGHSt 55, 191 (204 f.) bei Roxin, FS Fischer, 2018,
S. 509 (515).
1106 Thomas Hillenkamp

langten Abbruchs künstlicher Ernährung ja keinesfalls stets die Krankheit ihren „na-
türlichen, schicksalhaften Verlauf“ nimmt, sondern eine „ganz neue, von der Erkran-
kung unabhängige“ und sie u. U. überholende „Kausalität“ einsetzt.90 Kappt der Er-
krankte den Sondenschlauch selbst oder lehnt er jede Ernährung von vornherein ab,
kann man zudem die Rede von Suizid, wie die Debatte um das „Sterbefasten“ zeigt,
weder semantisch noch inhaltlich vollständig abweisen.91 All das zeigt, dass ähnlich
wie zwischen Suizid und einer Tötung auf Verlangen auch zwischen Suizid und ver-
langtem Behandlungsabbruch nur „hauchdünne“ Grenzen bestehen, die „entschei-
dende normative Unterschiede“ nahezu einebnen.92 Vor allem aber ist nicht zu
sehen, dass sich Gründe gegen eine (normative) Gleichstellung im Ganzen, die es
gibt, auch gegen gleiche Anforderungen an Suizid- und Vetoentschluss richten.93
Da beide unterschiedslos den Tod bedeuten,94 ist ein ungleicher Maßstab jedenfalls
hierzu nicht zu begründen.
Der zweite Grund für einen identischen Maßstab ist die Affinität auch zwischen
einer Tötung auf Verlangen und einer tödlichen Behandlungsbegrenzung. Das zu zei-
gen, mag hier der Verweis auf das schon zitierte Putz-Urteil reichen. Es stellt seinen
letztlich den Freispruch tragenden Gründen voran, eine „Rechtfertigung für die Tö-
tungshandlung“ könne sich „allein aus dem … Willen der Betroffenen, also ihrer Ein-
willigung ergeben, die künstliche Ernährung abzubrechen …“95 Beim Wort genom-
men, deutet das auf eine durch das Abbruchsverlangen gerechtfertigte Tötung nach
§ 216 StGB hin.96 Auch wenn man richtigerweise mit dem Abbruchsverlangen den
Abbrechenden aus seiner Lebensgarantenstellung entlässt und deshalb schon ein tat-
bestandliches Tötungsgeschehen verneint,97 zeigt die im Streit hierum abermals auf-
leuchtende Affinität, dass auch hier für die Wirksamkeitsvoraussetzungen des tod-
bringenden Entschlusses ein von der dogmatischen Einordnung des Geschehens un-
abhängiger, sachlich identischer Maßstab gelten muss. Jedenfalls zu ihm gibt es
keine normativ begründbare Differenzierung.

90
Merkel, ZStW 107 (1995), 545 (562 f.); i.S. Roxins dagegen Verrel (Fn. 12), C 64.
91
Zum Sterbefasten als Suizid s. Duttge/Simon, NStZ 2017 512 ff.; Hilgendorf, in: Bor-
mann, Lebensbeendende Handlungen, 2017, S. 701 (705 ff.); Hillenkamp, ZMGR 2018, 289
(296).
92
S. dazu schon o. II. 2. Ein faktischer Unterschied besteht in den Bluttransfusionsver-
weigerungsfällen, weil der Tod dort nicht gewollt und deshalb von Suizid schwerlich zu
sprechen ist, s. Hillenkamp (Fn. 54), S. 129 (131 f.).
93
Das sagt auch Roxin nicht, der sich in seinem zitierten Beitrag (Fn. 89) mit dieser Frage
gar nicht beschäftigt.
94
Relativierend Verrel (Fn. 12), C 64.
95
BGHSt 55, 191 (198).
96
S. dazu nur Rosenau, FS Roxin, 2011, 577 ff.; Roxin (Fn. 89), S. 509 (515 f.).
97
S. dazu Hillenkamp (Fn. 54), S. 129 (133 f.); ders., MedR 2018, 379 (381 f.) m.w.N.; es
fehlt schon am (Weiter)Behandlungsrecht und einer korrespondierenden Pflicht, s. dazu klä-
rend schon Merkel, ZStW 107 (1995), 545 ( 559 ff.); Verrel (Fn. 12), C 37; i.E. ebenso Haas,
JZ 2016, 714 (718, 721); Lipp (Fn. 75), VI Rn. 8; Roxin (Fn. 87), S. 509 (515 f.) und BGH JZ
2019, 1046 mit Anm. Engländer (1049) und Hillenkamp (1053).
Abgestufte Anforderungen an selbstbestimmtes Sterben? 1107

Wenn man mit der Rechtsprechung daran festhält, die Bestimmung der Freiver-
antwortlichkeit des Suizids mit der qualifizierten Einwilligungslösung (auch) an die
strengen Voraussetzungen eines Tötungsverlangens zu binden,98 so müssen diese An-
forderungen – als zweites und letztes – auch die für alle hier behandelten Entschei-
dungen sein. Zwar tragen die normativen und ethischen Differenzen zwischen
(Selbst)Töten und Sterbenlassen trotz der hier aufgezeigten Affinitäten99 auch recht-
lich differente Behandlung.100 Wie aber der dem Putz-Fall101 zugrundeliegende Le-
benssachverhalt zeigt, kann man sie nicht mit angebbaren Gründen auf die hier er-
örterte Frage erstrecken. Denn dass ein letztlich für die Lebensbeendigung maßgeb-
licher Wille unterschiedlich autonom, ernsthaft und gefestigt je nachdem sein kön-
nen soll, ob er sich in einer Selbst- oder verlangten Dritttötung oder einem
Sterbenlassen aufgrund einer antizipativ, aktuell oder auch nur gemutmaßten Ent-
scheidung vollzieht, ist nicht zu rechtfertigen.102

98
Dass man das sollte, hat die besseren Gründe, die hier nicht noch einmal aufgerufen
werden, s. dazu Hillenkamp (Fn. 12), S. 1034 (1036 ff., 1051 f.).
99
Zur „hauchdünnen“ Differenz zwischen Suizid und Tötung auf Verlangen s. schon o.
II. 2.
100
S. dazu nur Ingelfinger (Fn. 12), S. 281 ff.; Verrel (Fn. 12), C 37.
101
Gleichermaßen der Kemptener Fall BGHSt 40, 257.
102
Der Akzeptanz des strengsten Maßstabs hilft, dass der nach der („älteren“, s. Rosenau,
Fn. 12, Vor §§ 211 ff. Rn. 104) Suizidforschung vermeintliche Ausnahmefall forensisch mitt-
lerweile eindrücklich und in nennenswerter Zahl dokumentiert ist.
Die Tatherrschaft als Zurechnungsinstrument
im Spannungsfeld von Selbst- und Fremdtötung
Von Christoph Sowada

Vor nunmehr beinahe 30 Jahren hat Reinhard Merkel seine „Fragen an die Straf-
rechtsdogmatik“1 zum Spannungsverhältnis zwischen strafloser Suizidteilnahme
und strafbarer Tötung auf Verlangen gestellt. Obwohl es seitdem an Diskussionsbei-
trägen (auch des Jubilars)2 nicht gefehlt hat, steht eine allseits befriedigende Lösung
noch aus. Als jüngste Etappe des zurückgelegten Weges hat der 5. Strafsenat des
BGH3 im vergangenen Jahr den Freispruch von Personen bestätigt, die bei einem frei-
verantwortlichen Suizid nach Eintritt der Bewusstlosigkeit der Sterbewilligen von
Rettungsmaßnahmen abgesehen hatten. Hierbei entwickelte der BGH zwar seine
Rechtsprechung zur Garantenproblematik fort, ohne sich aber ausdrücklich von
der im berühmten Wittig-Urteil des 3. Strafsenats4 aus dem Jahr 1984 vertretenen,
vielfach kritisierten und inzwischen weitgehend als überholt geltenden Lehre vom
Tatherrschaftswechsel loszusagen,5 nach welcher die Tatherrschaft mit dem Eintritt
der Bewusstlosigkeit des Suizidenten von diesem auf den anwesenden Garanten
übergeht.6 Immerhin rückte auch die enttäuschte Hoffnung auf eine Rechtspre-
chungskorrektur das Tatherrschaftskriterium erneut ins dogmatische Scheinwerfer-
licht, und so lädt die verpasste Chance dazu ein, allgemein nach der Konsistenz des
Tatherrschaftskriteriums in einem Bereich zu fragen, in dem über Jahrzehnte hinweg

1
So der Untertitel seines Beitrags in: Hegselmann/Merkel (Hrsg.), Zur Debatte über Eu-
thanasie, 1991, S. 71 ff. Hierzu Roxin, in: Wolter (Hrsg.), 140 Jahre Goltdammer’s Archiv
(= FS Pötz), 1993, S. 177 ff.
2
Neben seiner Habilitationsschrift (Früheuthanasie, 2001) sind (insbesondere zu § 216
StGB) zu nennen: ZStW 107 (1995), 545 ff.; JZ 1996, 1145 ff., in: Roxin/Schroth (Hrsg.),
Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 603 ff.; FS Schroeder, 2006, 297 ff.; in:
Heinrich Böll Stiftung (Hrsg.), Selbstbestimmung am Lebensende. Nachdenken über assis-
tierten Suizid und aktive Sterbehilfe (Schriften zu Wirtschaft und Soziales, Band 10), 2012,
S. 27 ff.; FS U. Neumann, 2017, 1133 ff.
3
BGH JZ 2019, 1042 ff. und 1046 ff. mit Anm. Engländer (S. 1049 ff.) und Anm. Hil-
lenkamp (S. 1053 ff.) = NStZ 2019, 662 ff. und 666 ff. mit Anm. Sowada (S. 670 ff.); zu
beiden Urteilen auch Lorenz, HRRS 2019, 351 ff.; s. ferner Kudlich, JA 2019, 867 ff.
4
BGHSt 32, 367.
5
Ohne inhaltlich auf die These vom Tatherrschaftswechsel einzugehen, begnügen sich
beide in Fn. 3 angegebenen Urteile (in Rn. 48 bzw. 36) mit der Verneinung einer die Anfra-
gepflicht gemäß § 132 Abs. 3 S. 1 GVG auslösenden Abweichung von der Entscheidung
BGHSt 32, 367 ff.
6
BGHSt 32, 367, 374 ff.
1110 Christoph Sowada

ständig neue Fallgestaltungen die alten Abgrenzungen in Frage stell(t)en.7 Mögen


neue Erkenntnisse bezüglich der eingehend erörterten Leitfälle vielleicht auch
nicht unbedingt zu erwarten sein, so ist die die nachfolgenden Überlegungen anlei-
tende Frage grundlegenderer Natur: Was leistet die Tatherrschaftslehre für die Ab-
grenzung zwischen Suizid und Fremdtötung, und inwieweit ist diese allgemeine
Doktrin für das hier interessierende Problemfeld zu modifizieren? Angesichts der
Fokussierung auf die äußere Abgrenzung zwischen Suizid und Fremdtötung bleibt
das die innere Abgrenzung zu den §§ 211 ff. StGB betreffende, bezüglich seiner Vor-
aussetzungen sehr umstrittene Merkmal der Freiverantwortlichkeit (Stichwort: Ex-
kulpations- oder Einwilligungslösung)8 nachfolgend ausgeblendet.

I. Ausgangspunkt:
Die Tatherrschaftslehre als Zurechnungsinstrument
Die Abgrenzung zwischen einer Selbst- und einer Fremdtötung wird ganz über-
wiegend – und seit der Entscheidung des BGH im „Gisela-Fall“9 auch von der Recht-
sprechung –10 anhand des Merkmals der Tatherrschaft vorgenommen, das jedoch teil-
weise in unterschiedlichen Richtungen modifiziert wird.11 Freilich ist die originäre
Aufgabe der Beteiligungslehre, die Verantwortlichkeit mehrerer an der Verwirkli-
chung strafbaren Unrechts arbeitsteilig zusammenwirkender Personen voneinander
abzuschichten, vorliegend nicht betroffen, da die Selbsttötung kein strafrechtlich re-
levantes Unrecht darstellt. Vielmehr geht es darum, jene Vorgänge, die im eigenen
Rechtskreis des Sterbewilligen verbleiben, von denjenigen Geschehnissen abzugren-
zen, die als Fremdschädigungen das Augenmerk des Strafrechts auf sich ziehen.12
Damit ist der allgemeine Aspekt der Eigenverantwortlichkeit als Grund fehlender ob-
jektiver Zurechnung angesprochen, der über die Festlegung des Anwendungsbe-
reichs der Tötung auf Verlangen hinausreicht und sich z. B. auf die Reichweite der
Garantenhaftung und auf die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit (auch im Spannungsfeld

7
Roxin (Fn. 1), S. 177.
8
Vgl. hierzu Schneider, in: Münchener Kommentar zum StGB, 3. Aufl. 2017, vor § 211
Rn. 37 ff.; ferner Eser/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, Vor
§ 211 Rn. 36; Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, 5. Aufl. 2017, § 217
Rn. 64 ff.
9
BGHSt 19, 135 ff. Hierzu ausführlich Roxin, Täterschaft und Teilnahme, 9. Aufl. 2015,
S. 567 ff.; Vöhringer, Tötung auf Verlangen, 2008, S. 122 ff.
10
Vgl. zur Rechtsprechung Gropp, NStZ 1985, 97 ff.; Scheffler, JRE 7 (1999), 342 ff.
11
Überblicksartig zum Streitstand bezüglich der Abgrenzung zwischen der Suizidteilnah-
me und § 216 StGB Hillenkamp, 40 Probleme aus dem Strafrecht – Besonderer Teil, 12. Aufl.
2013, 2. Problem (= S. 5 ff.); s. ferner Feldmann, Die Strafbarkeit der Mitwirkungshandlun-
gen am Suizid, 2009, S. 236 ff.; A. C. Fischer, Straflose Mitwirkung am Suizid oder strafbare
Fremdtötung?, 2010, S. 28 ff.; Palm, Selbsttötung in mittelbarer Täterschaft – Der Täter als
Werkzeug des Opfers?, Diss. iur. Bonn 2008, S. 93 ff., 116 f.
12
Engländer, Grund und Grenzen der Nothilfe, 2008, S. 130 f.; Kühl, Jura 2010, 81, 83.
Die Tatherrschaft als Zurechnungsinstrument 1111

zwischen eigenverantwortlicher Selbst- und einverständlicher Fremdgefährdung) er-


streckt. Angesichts der spezifischen Abschichtungsfunktion und der Einbindung in
den größeren Zurechnungskontext versteht sich der Rückgriff auf die Tatherrschafts-
lehre nicht von selbst, und es fehlt auch nicht an Versuchen, andere Kriterien für die
Bestimmung des Strafbarkeitsbereichs heranzuziehen.13 Eine die Verbindung zur Be-
teiligungslehre kappende „Emanzipation“ von der Tatherrschaftslehre erschiene
dennoch voreilig; denn sie übersähe, dass sich die Beteiligungsformen durchaus
als Zurechnungsformen begreifen lassen,14 bei denen die Tatherrschaft eine verhal-
tensorientiert abgestufte Verantwortung für ein Geschehen zuweist. Das überdies ein
relativ hohes Maß an Bestimmtheit aufweisende15 Tatherrschaftskriterium lässt sich
dergestalt in das Zurechnungsmodell integrieren, dass die primäre (quasi-täterschaft-
liche) Verantwortung des Sterbewilligen eine Zurechnungssperre gegenüber nur
nachrangig (als Quasi-Anstifter oder Quasi-Gehilfen) mitwirkenden Dritten errich-
tet.16

13
Für eine von der Tatherrschaft abgelöste „Eigenverantwortlichkeit“ z. B. Hohmann/
König, NStZ 1989, 304, 305 ff. (krit. und m.w.N. Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, § 216
Rn. 4b); für eine am Kriterium der missbilligten Gefahrschaffung ausgerichtete Konzeption
Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 353 ff. Aus Gründen
der Rechtssicherheit verdient die (modifizierte) Tatherrschaftsbetrachtung Vorzug gegenüber
einer auf die Überwindung einer psychologischen Hemmschwelle abstellenden Abgrenzung
(wie hier NK-StGB/Neumann, Vor § 211 Rn. 58; Palm [Fn. 11], S. 113 ff., gegen Hilgendorf,
in: Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht – Besonderer Teil, 3. Aufl. 2015, § 3 Rn. 42).
Vgl. im Übrigen die oben in Fn. 11 angegebenen Nachweise.
14
Vgl. Bloy, Die Beteiligungsform als Zurechnungstypus im Strafrecht, 1985; s. auch
Goeckenjan, Revision der Lehre von der objektiven Zurechnung, 2017, S. 10 ff.
15
Bechtel, JuS 2016, 882, 884 f.
16
Soweit Merkel in einem frühen Beitrag ([Fn. 1], S. 77 ff., 80, 87) die von der h.M.
vorgenommene Grenzziehung für „auf eine kaum erträgliche Weise unplausibel“ erklärt und
stattdessen darauf abstellen will, ob der konkrete Todeswunsch unter Berücksichtigung der
Motive des Sterbewilligen hinnehmbar ist, zielt diese Kritik (zumindest vorrangig) erkennbar
darauf ab, dass die Tatherrschaft nicht das „letzte Wort“ haben und auch in Fremdtötungsfällen
ggf. die Verneinung einer Strafbarkeit gemäß § 216 StGB möglich sein soll (vgl. Merkel,
Früheuthanasie [Fn. 2], S. 412 f.; 421 f., 427 f.; ders., in: Heinrich Böll Stiftung [Fn. 2],
S. 35 ff.; hierzu auch v. Hirsch/Neumann, GA 2007, 671, 681 ff.; Palm [Fn. 11], S. 108 ff.;
Roxin, FS Fischer, 2018, 509, 516 ff., 522). Eine Umkehrung dahingehend, dass auch die
Mitwirkung an einer (im übrigen) freiverantwortlichen und eigenhändig vollzogenen Selbst-
tötung zu einer Strafbarkeit des Dritten führt, wenn der Suizident keine „akzeptablen“ Gründe
für seinen Todeswunsch benennen kann, wäre (u. a. vor dem Hintergrund des § 1901a Abs. 3
BGB) abzulehnen und ist wohl auch von Merkel (de lege lata) nicht intendiert. So verneint er
in seiner Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung im Rechtsausschuss des Deutschen Bun-
destages am 23. 9. 2015 (https://www.bundestag.de/resource/blob/388404/ad20696aca7464874
fd19e2dd93933c1/merkel-data.pdf; letztmalig abgerufen am 14. 10. 2019) den Unrechtsgehalt
der Suizidteilnahme ohne den einschränkenden Vorbehalt, dass der Suizid auf anerkennens-
werten Gründen beruhen müsse.
1112 Christoph Sowada

Ist die analoge Heranziehung der Beteiligungsregeln mithin grundsätzlich zur


Konturierung der Eigenverantwortlichkeit durchaus geeignet,17 so schließt dies par-
tielle Modifikationen der Tatherrschaftslehre nicht aus.18 Derartige der Feinsteue-
rung der Eigenverantwortlichkeit dienende Abänderungen der schon in ihrem origi-
nären Anwendungsbereich konkretisierungsbedürftigen Leitformel des „vom Vor-
satz umfassten In-den-Händen-Halten des tatbestandsmäßigen Geschehensablau-
fes“19 müssen allerdings mit dem Regelungsgehalt des § 216 StGB als dem
normativen „Gegenspieler“ zum straflosen Suizidbereich verträglich sein.20

II. Der Strafgrund des § 216 StGB


Freilich bereitet die Legitimation dieser hinsichtlich ihres Strafgrundes sehr um-
strittenen Strafnorm erhebliche Probleme.21 Im Wesentlichen stehen sich individual-
rechtliche Ansätze und eine auf die Sicherung von Kollektivinteressen ausgerichtete
Konzeption gegenüber, die teilweise auch (in unterschiedlicher Gewichtung) mitein-
ander kombiniert werden.22 Ein zentraler Aspekt dieses komplexen Problems, das
hier nicht in allen Facetten ausgeleuchtet werden kann, ist darin zu sehen, dass
der Suizident die Festigkeit seines Entschlusses gleichsam durch seine Tat unter Be-
weis stellt. Vor dem Hintergrund der Beobachtung, dass schon viele die Pistole an die
Schläfe gesetzt, aber nicht abgedrückt haben,23 überwindet der Lebensmüde mit dem
Vollzug seiner Absicht die der Selbsttötung gegenüber bestehende psychologische

17
Matthes-Wegfraß, Der Konflikt zwischen Eigenverantwortung und Mitverantwortung im
Strafrecht, 2013, S. 220 ff., 224; Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013,
S. 210 ff.; Rissing-van Saan, in: Leipziger Kommentar zum StGB, Band 7 1. Teilband,
12. Aufl. 2019, § 216 Rn. 14.
18
Magnus, Patientenautonomie im Strafrecht, 2015, S. 245; NK-StGB/Neumann, Vor
§ 211 Rn. 48. Gegen Modifizierungen der Tatherrschaftslehre MüKo-StGB/Schneider, § 216
Rn. 46 ff.; Schroeder, ZStW 106 (1994), 565, 574 ff.
19
Renzikowski, in: Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 2, 8. Aufl.
2014, § 47 Rn. 85 ff. (87); s. auch Schönke/Schröder/Heine/Weißer, Vor §§ 25 Rn. 57; Schü-
nemann, in: Leipziger Kommentar zum StGB, Band 1, 12. Aufl. 2007, § 25 Rn. 38.
20
Zu § 216 StGB als Grenze der Eigenverantwortlichkeit Rigopoulou (Fn. 17), S. 221;
Vöhringer (Fn. 9), S. 174.
21
Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben, § 216 Rn. 1a, 1b; Kühl, in: Lackner/Kühl,
StGB, 29. Aufl. 2018, § 216 Rn. 1; NK-StGB/Neumann/Saliger, § 216 Rn. 1, 3; s. auch
Schroeder, FS Deutsch II, 2009, 505 ff. sowie ausführlich Chatzikostas, Die Disponibilität des
Rechtsgutes Leben und ihre Bedeutung für die Probleme von Suizid und Euthanasie, 2001,
S. 236 ff.; Feldmann (Fn. 11), S. 323 ff.; Merkel, Früheuthanasie (Fn. 2), S. 407 ff., 425 ff.;
F. Müller, § 216 StGB als Verbot abstrakter Gefährdung, 2010, S. 29 ff.; Palm (Fn.11), S. 80 ff.
22
MüKo-StGB/Schneider, § 216 Rn. 2 ff.; Sinn, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kom-
mentar zum StGB, 9. Aufl. 2017, § 216 Rn. 2 sowie die in der vorigen Fn. angegebenen
Nachweise.
23
Roxin (Fn. 1), S. 184; ders. (Fn. 9), S. 571 und GA 2013, 313, 318 f.
Die Tatherrschaft als Zurechnungsinstrument 1113

Hemmschwelle.24 Im Gegensatz hierzu begründet das Abschieben der Verantwor-


tung auf einen den Tötungsakt vollziehenden Dritten tendenziell Zweifel am Vorlie-
gen eines (hinreichend starken) eigenverantwortlichen Sterbewillens.25 Mit dieser
Deutung des § 216 StGB als einem individuell-paternalistischen abstrakten Gefähr-
dungsdelikt sind keineswegs alle Probleme gelöst.26 So ließe sich insbesondere fra-
gen, ob das die Fremdtötung strikt untersagende Gesetz zumindest eine Ausnahme
zugunsten einer Ausräumung des Freiverantwortlichkeitszweifels im Einzelfall
sowie für jene Fälle zulassen müsste, in denen dem Sterbewilligen der eigenhändige
Vollzug seines Vorhabens aus physischen Gründen unmöglich ist27 (für beide Kon-
stellationen wird teilweise der Gedanke des Tabuschutzes aktiviert)28. Auch wirkt die
Charakterisierung dieser Normbegründung als „Übereilungsschutz“ terminologisch
irritierend,29 da hiermit nahegelegt wird, durch längeres und intensiveres Nachden-
ken könnte der Sterbewillige zu einem für ihn richtigeren Ergebnis gelangen. In
Wahrheit kommt es hierauf nicht an; vielmehr gleicht seine Position derjenigen
des Hasen im Märchen, der trotz aller Bemühungen am Ende seiner Wegstrecke
auf den „Igel“ trifft, der ihm die Tafel mit dem Verbot der Fremdtötung entgegenhält.
Dessen ungeachtet ist die Festlegung, dass die Straflosigkeit der Mitwirkung Dritter
an eine quasi-täterschaftliche Beherrschung des Geschehens durch den Suizidenten
selbst gebunden ist, als ein die Auslegung des § 216 StGB leitender Gesichtspunkt
anzuerkennen.

24
Ebenso auch Chatzikostas (Fn. 21), S. 265 f.; Gavela, Ärztlich assistierter Suizid und
organisierte Sterbehilfe, 2013, S. 16 f.; Palm (Fn. 11), S. 82 ff. Ausführlich (und teilweise
krit.) zum „Hemmschwellenargument“ Feldmann (Fn. 11), S. 334 ff.; v. Hirsch/Neumann, GA
2007, 679 ff., 689 ff. S. auch oben Fn. 13.
25
MüKo-StGB/Schneider, § 216 Rn. 5 ff.; s. auch Jakobs, Tötung auf Verlangen, Eutha-
nasie und Strafrechtssystem, 1998, S. 22 f.; Saliger, Selbstbestimmung bis zuletzt, 2015,
S. 139 f.; ders., medstra 2015, 132, 134.
26
Zu der in Bezug auf § 216 StGB lebhaft geführten Paternalismus-Debatte vgl. v. Hirsch/
Neumann, GA 2007, 671 ff.; Magnus (Fn. 18), S. 90 ff., 102 ff. Einigkeit besteht darüber, dass
es sich insoweit um einen indirekten Paternalismus handelt, weil ausschließlich Dritte Ver-
botsadressaten sind. Überwiegend wird § 216 StGB als „weich“ paternalistische Norm legi-
timiert (so u. a. Merkel [Fn. 1], S. 82 ff.), teilweise aber auch als „hart“ paternalistische
Strafvorschrift gerechtfertigt (so Feldmann [Fn. 11], S. 329 ff., 350 ff.).
27
Hierzu Hillenkamp, FS Kühl, 2014, 521, 522 ff.; Pawlik, FS Wolter, 2013, 627, 639 ff.
28
Duttge, ZfL 2004, 30, 35 f.; Matthes-Wegfraß (Fn. 17), S. 113 – 122; hiergegen jedoch
Merkel, Früheuthanasie (Fn. 2), S. 426 f.
29
Ebenso Merkel, Früheuthanasie (Fn. 2), S. 131 f.
1114 Christoph Sowada

III. Modifikationen der Tatherrschaftslehre


1. Die „Tatherrschaft über den todbringenden Moment“
(bzw. den „point of no return“)

Eine erste Modifikation30 besteht in der zeitlichen Verengung der Tatherrschafts-


betrachtung auf den (vielfach auch als „point of no return“ umschriebenen) todbrin-
genden Augenblick. Hiernach wird die quasi-täterschaftliche Beherrschung des Ge-
schehens nicht auf das gesamte Ausführungsstadium erstreckt, sondern auf den ent-
scheidenden Moment fokussiert. Das hat insbesondere zur Folge, dass z. B. die Ver-
abreichung der tödlichen Injektion nicht unter Hinweis auf den wesentlichen
Tatbeitrag des seinen Arm hinstreckenden Opfers als (quasi-)mittäterschaftliche
Selbsttötung, sondern zutreffend als Tötung auf Verlangen beurteilt wird.31 Diese Zu-
spitzung entspricht auch durchaus der Teleologie des § 216 StGB, weil sich die Sta-
bilität des Sterbewunsches nicht generell in der Ausführungsphase, sondern exakt in
jenem Zeitpunkt bewähren muss, in dem es „um Leben und Tod“ geht.

a) Die Fälle des einseitig fehlgeschlagenen Doppelsuizids

Während die beschriebene Wirkung den Anwendungsbereich des § 216 StGB ge-
genüber einer Aushöhlung durch ein zu weites Suizidverständnis absichert, ist die
zeitliche Konzentration mit einer durchaus gegenläufigen Stoßrichtung entwickelt
worden. Den Ausgangspunkt bildete das Urteil des BGH32 im „Gisela-Fall“, das
die Konstellation eines einseitig fehlgeschlagenen Doppelsuizids zum Gegenstand
hatte. Der BGH hatte den Angeklagten, der die Abgase seines Pkw in das Wagenin-
nere geleitet und durch Niederdrücken des Gaspedals die tödliche Vergiftung des Op-
fers bewirkt hatte, gemäß § 216 StGB verurteilt. Hiergegen wird überwiegend ein-
gewandt, das Opfer habe bis zum Eintritt seiner Bewusstlosigkeit das Geschehen be-
herrscht, da es ihm jederzeit möglich war, das Fahrzeug zu verlassen.33 Diese Kritik
überzeugt nicht.34 Denn sie begnügt sich nicht mit der zeitlichen Verengung, sondern

30
Freilich zeigt bereits die Diskussion um den Maßstab der Freiverantwortlichkeit die
Bereitschaft zu einer Modifizierung der Tatherrschaftslehre, da die Einwilligungslösung von
der herkömmlichen Bestimmung der mittelbaren Täterschaft anhand der §§ 19, 20, 35 StGB
und § 3 JGG abweicht.
31
In diesem Sinne aber wohl Dreher, MDR 1964; 337, 338; dagegen zutreffend Roxin
(Fn. 9), S. 569 f.; Vöhringer (Fn. 9), S. 125 ff.; s. auch Chatzikostas (Fn. 21), S. 39. Das für
§ 216 StGB typische Sich-Bereithalten des Opfers kann die Anwendbarkeit dieser Strafnorm
nicht ausschließen; MüKo-StGB/Schneider, § 216 Rn. 48; Schroeder, ZStW 106 (1994), 565,
578.
32
BGHSt 19, 135 ff.
33
Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben, § 216 Rn. 11; Heinrich/Hellmann/Krey,
Strafrecht – Besonderer Teil Band 1, 16. Aufl. 2015, Rn. 108 ff.; Wessels/Hettinger/Englän-
der, Strafrecht – Besonderer Teil 1, 43. Aufl. 2019, Rn. 125.
34
Freilich hat der BGH diese Kritik insofern „herausgefordert“, als er eine Beurteilung als
Suizidbeihilfe für zutreffend gehalten hätte, wenn nach dem (für entscheidend erklärten) Ge-
Die Tatherrschaft als Zurechnungsinstrument 1115

sie gibt das Merkmal der Tatherrschaft auf. Eine Beherrschung im Sinne eines steu-
ernden Voranbringens eines Vorhabens ist durch Unterlassen nicht möglich, und die
bloße Vermeidemacht, die auch Anstifter und Gehilfen vielfach haben, genügt nicht,
um jemandem Tatherrschaft zuzusprechen.35 Es ist ungereimt, einerseits für die Zeit
nach Eintritt der Bewusstlosigkeit die Lehre vom Tatherrschaftswechsel (durchaus
zutreffend) mit der Begründung abzulehnen, der untätige Garant habe (ungeachtet
seiner Möglichkeit zum Eingreifen) keine Tatherrschaft, andererseits aber dem
Opfer allein aufgrund der Möglichkeit, sich den Wirkungen des Dritthandelns zu ent-
ziehen, Tatherrschaft zuzuweisen.36 Wenn in der kritischen Phase der Täter durch
Drücken des Gaspedals aktiv auf die Tötung seiner Partnerin hinwirkt, während
jene nur untätig das für sie vermeidbare Geschehen hinnimmt, so liegt eine Tötung
auf Verlangen vor.37 Niemand käme auf den Gedanken, eine Strafbarkeit gemäß
§ 216 StGB zu verneinen, weil das Opfer während der tödlichen Injektion die Spritze
aus seiner Vene ziehen könnte.
Das Unbehagen gegen die Strafbarkeit des überlebenden Teils der geplanten ge-
meinsamen Tötung dürfte sich aus einer anderen Quelle speisen: Anders als in Fäl-
len, in denen die Aktivitäten auf die Herbeiführung des Todes nur einer Person ab-
zielen, sind beim geplanten Doppelsuizid beide Partner in einem vorjuristischen
Sinne gleichermaßen sowohl „Täter“ als auch „Opfer“. Die hiermit intuitiv nahege-
legte Gleichrangigkeit wird durchkreuzt, wenn in der juristischen Bewertung der ver-
storbene Teil ausschließlich als Opfer und der überlebende Teil allein als Täter wahr-
genommen wird. Die hierdurch ausgelösten „Störgefühle“ verstärken sich, wenn die
Rollenverteilung mehr oder weniger zufällig erscheint, sodass scheinbar unbedeu-
tende Nuancen über Strafbarkeit und Straflosigkeit entscheiden.38 Allerdings erhebt
die Tatherrschaft ihrer Natur nach die Modalitäten der Erfolgsherbeiführung zum
Entscheidungskriterium. Dass manche (vor allem Nichtjuristen) unter Geringach-
tung der ihrer Meinung nach marginalen äußerlichen Unterschiede das Anreichen
des Giftbechers ebenso behandeln wollen wie die tödliche Injektion und dass sie
den ärztlich assistierten Suizid mit der aktiven Sterbehilfe gleichsetzen,39 rechtfertigt
kein Abrücken von der aus prinzipiellen Gründen bedeutsamen Entscheidungsrele-
vanz der Tatgestaltung.40 Abgesehen davon, dass die unterschiedliche Rollenvertei-
lung auch Ausdruck größerer oder geringerer Entschlossenheit der Beteiligten sein

samtplan dem Opfer nach Vornahme der Handlung des Beteiligten die freie Entscheidung
darüber verbleiben sollte, sich deren Wirkung zu entziehen (BGHSt 19, 135, 140).
35
Vgl. Roxin (Fn. 9), S. 38 ff., 463 ff. Im Suizidkontext wie hier Rigopoulou (Fn. 17),
S. 215; MüKo-StGB/Schneider, § 216 Rn. 47 ff.
36
Vgl. aber Roxin, NStZ 1987, 345, 346, 347.
37
Ebenso Bechtel, JuS 2016, 882, 884; MüKo-StGB/Schneider, § 216 Rn. 52.
38
Chatzikostas (Fn. 21), S. 275 f.; Otto, FS Tröndle, 1989, 147, 165; SK-StGB/Sinn, § 216
Rn. 14.
39
Vgl. Hoppe, in: Rehmann-Sutter/Bondolfi/Fischer/Leuthold (Hrsg.), Beihilfe zum Sui-
zid in der Schweiz, 2006, S. 79; zweifelnd Fischer, § 216 Rn. 4a.
40
S. auch Jakobs (Fn. 25), S. 25.
1116 Christoph Sowada

kann,41 lassen sich etwaige Ungerechtigkeiten im Einzelfall auf der Strafzumes-


sungsebene abmildern.42
Eine weitgehend parallele Beurteilung zum „Gisela-Fall“ erfährt eine andere,
vom RG43 entschiedene Konstellation eines einseitig fehlgeschlagenen gemeinsa-
men Vergiftungstodes.44 Dort hatte der gemäß § 216 StGB verurteilte Mann die Gas-
hähne aufgedreht, während die zu Tode gekommene Frau die Ritzen von Fenster und
Türen verstopfte. Insoweit gilt es zu beachten, dass hier beide Personen ihre Hand-
lungen zu einem frühen Zeitpunkt abgeschlossen haben. Zweifelsfrei kann der „kri-
tische“ Augenblick nicht erreicht sein, bevor – bildhaft gesprochen – die Schwelle
zum „Jetzt geht es los“ überschritten wurde. Man mag darüber diskutieren, ob das
Aufdrehen der Gashähne trotz der vom anwesenden Täter (und vom Opfer) über-
wachten Gefahrenquelle bereits die Versuchsgrenze markiert. Selbst wenn man
dies bejahen wollte (z. B. weil das Einatmen des Gases keine todesverursachende Op-
fermitwirkung ist)45, erscheint es angemessen, für den „kritischen Augenblick“ (in
Anlehnung an den Versuchsbeginn beim unechten Unterlassungsdelikt)46 den Eintritt
einer konkreten Gefahr zu verlangen. Dann zeigt sich der entscheidende Unterschied
zum „Gisela-Fall“: Während dort der Angeklagte in der kritischen Phase weiterhin
auf den Tod (auch) seiner Partnerin hinwirkte, verhielt er sich im „Gashahn-Fall“ in
diesem Zeitraum ebenso passiv wie das Opfer selbst. Allgemein gesprochen ist bei
der modifizierten Tatherrschaftslehre nicht unbesehen auf die letzte den Tod verur-
sachende Handlung abzustellen,47 sondern es ist das Kriterium des „kritischen Au-
genblicks“ auch als Restriktionselement ernst zu nehmen.

b) Das bereitgestellte Gegengift

Eine weitere vielfach diskutierte Problemkonstellation bildet der von Merkel48 in


die Diskussion eingeführte Fall, dass der Dritte dem Sterbewilligen auf dessen
Wunsch hin eine grundsätzlich tödliche Dosis Gift injiziert, wobei aber – wie beiden
Beteiligten bewusst ist – für einen bestimmten Zeitraum die Möglichkeit verbleibt,
den Todeseintritt durch Einnahme eines zur Verfügung stehenden Gegenmittels ab-
zuwenden. Macht das Opfer von dieser Gelegenheit keinen Gebrauch, so wird das
41
MüKo-StGB/Schneider, § 216 Rn. 53 m.w.N.
42
Vgl. hierzu AG Berlin-Tiergarten, MedR 2006, 298 ff.; Feldmann (Fn. 11), S. 386 ff.
43
RG JW 1921, 579.
44
Jeweils für Strafbarkeit A. C. Fischer (Fn. 11), S. 45; MüKo-StGB/Schneider, § 216
Rn. 33, 52 f.; für Straflosigkeit Chatzikostas (Fn. 21), S. 275 f.; Herzberg, NStZ 2004, 1, 6;
Rengier, Strafrecht – Besonderer Teil II, 20. Aufl. 2019, § 8 Rn. 10.
45
Schroeder, ZStW 106 (1994), 565, 578 f.; Vöhringer (Fn. 9), S. 176; a.A. Kühl, Jura
2010, 81, 84; NK-StGB/Neumann, Vor § 211 Rn. 55; Zaczyk, Strafrechtliches Unrecht und die
Selbstverantwortung des Verletzten, 1993, S. 42 f.
46
Vgl. nur Lackner/Kühl/Kühl, § 22 Rn. 17.
47
So jedoch MüKo-StGB/Schneider, § 216 Rn. 52.
48
Merkel (Fn. 1), S. 80 f.
Die Tatherrschaft als Zurechnungsinstrument 1117

Geschehen teilweise als Suizid interpretiert;49 denn maßgeblich sei nicht, wer als
letzter gehandelt, sondern wer als letzter entschieden habe.50 Diese Argumentation
ist abzulehnen, soweit sie darauf beruht, den entscheidenden Augenblick im Sinne
eines „point of no return“ nach hinten zu verschieben.51 Denn wiederum gilt, dass
die bloße Abwendungsmöglichkeit dem Opfer keine „Tatherrschaft“ verleiht; über-
dies hat das durchgängig passive Opfer seinen Todesentschluss nicht durch eigenes
Handeln „beglaubigt“.52 Diskutabel erschiene allenfalls ein anderweitiger Begrün-
dungsansatz für die Straflosigkeit des Dritten: Die Verabreichung der Injektion stellt
sich – sofern das berechtigte Vertrauen auf die spätere Rettung nicht bereits (aus-
nahmsweise) den Tatentschluss ausschließt – als beendeter Versuch der Fremdtötung
dar, weil dem Handelnden bewusst ist, alles für den Erfolgseintritt ggf. Erforderliche
getan zu haben. Dies führt zu der im Kontext des Rücktritts vom Versuch (§ 24 StGB)
allgemein diskutierten Frage, ob die Verweigerung oder Vereitelung der Rettung
durch das Opfer ein Zurechnungshindernis bezüglich des Taterfolgs und bei
einem (hier allerdings zweifelhaften) freiwilligen und ernsthaften Bemühen des Tä-
ters einen strafbefreienden Rücktritt gemäß (oder analog) § 24 Abs. 1 S. 2 StGB be-
gründet.53

2. Die Fälle des (quasi-)mittäterschaftlichen Zusammenwirkens

Uneinigkeit besteht ferner hinsichtlich der Beurteilung der Fälle des (quasi-)mit-
täterschaftlichen Zusammenwirkens zwischen dem Suizidenten und dem Dritten.
Diese Konstellation lässt sich exemplarisch anhand eines von Herzberg54 gebildeten
Beispielsfalls verdeutlichen, in welchem der bei einer Spedition tätige Sterbewillige
(um seinen Angehörigen die Lebensversicherungssumme zukommen zu lassen) sei-
nen Tod als Unfall erscheinen lassen möchte und zu diesem Zweck mit einem Kol-
legen übereinkommt, dieser solle mit einem Lkw auf dem Betriebshof fahren, sodass
sich der Suizident – scheinbar stolpernd – vor das Fahrzeug werfen kann. Hier wirken
beide Beteiligte im todbringenden Augenblick aktiv handelnd arbeitsteilig zusam-
men. Während einige Autoren diese Situation mit einem primären Blick auf den Mit-

49
Roxin (Fn. 1), S. 185; differenzierend Ingelfinger, Grundlagen und Grenzfragen des
Tötungsverbots, 2004, S. 232. S. auch Murmann (Fn. 13), S. 366 ff.
50
So Ingelfinger (Fn. 49), S. 231; zu Recht kritisch Feldmann (Fn. 11), S. 241, 246 f.
51
Gegen eine straflose Suizidteilnahme auch Bechtel, JuS 2016, 882, 884; Herzberg, NStZ
2004, 1, 7; Kindhäuser, Strafrecht – Besonderer Teil I, 8. Aufl. 2017, § 4 Rn. 10; NK-StGB/
Neumann, Vor § 211 Rn. 56 ff.; Vöhringer (Fn. 9), S. 132 f.
52
Rigopoulou (Fn. 17), S. 218.
53
LK-StGB/Lilie/Albrecht, § 24 Rn. 81 ff.; NK-StGB/Zaczyk, § 24 Rn. 55; s. zum Suizid-
kontext Eisele, Strafrecht – Besonderer Teil I, 5. Aufl. 2019, Rn. 180; F. Müller (Fn. 21),
S. 229; a.A. Degener, „Die Lehre vom Schutzzweck der Norm“ und die strafgesetzlichen
Erfolgsdelikte, 2001, S. 333 f.; Schönke/Schröder/Eser/Bosch, § 24 Rn. 62/63; Gavela
(Fn. 24), S. 30.
54
JA 1985, 131, 137; ders., JuS 1988, 771, 776 und NStZ 1989, 559 f.
1118 Christoph Sowada

wirkenden beurteilen und zur Bejahung des § 216 StGB gelangen,55 erscheint es vor-
zugswürdig, bezüglich der Abgrenzung zwischen Selbst- und Fremdtötung ein Ex-
klusivitätsverhältnis unter Vorrang der Opferperspektive anzunehmen.56 Dahinter
steht die Überlegung, „dass man in zurechenbarer Weise nur jemanden töten
kann, wenn er sich nicht selbst voll verantwortlich handelnd getötet hat.“57 Wichtiger
als die Tatsache, dass der Sterbewillige zur Verwirklichung seines Vorhabens der
gleichberechtigten Mitwirkung eines anderen bedarf, ist der Umstand, dass der Mit-
wirkende seinerseits auf das zeitgleiche aktive Zutun des Suizidenten angewiesen ist
und dessen unrechtsneutrales Handeln ihm nicht über § 25 Abs. 2 StGB zugerechnet
werden kann.58 Diese Beurteilung der „fifty-fifty“-Konstellationen mit symmetri-
scher Beherrschung des todbringenden Akts als den § 216 StGB ausschließende
Selbsttötung59 steht auch durchaus im Einklang mit der Ratio des § 216 StGB;
denn der Sterbewillige, der sich vor das herannahende Auto wirft, beweist mit diesem
buchstäblich „letzten Schritt“ die Festigkeit seines Sterbewunsches. Ebenso ist es für
die Ernsthaftigkeit und Stabilität des Sterbewunsches ohne Belang, ob der Fahrer ah-
nungslos oder ein in den Plan eingeweihter Komplize ist.
Die bisherigen Überlegungen lassen sich somit wie folgt zusammenfassen: Eine
strafbare Fremdtötung liegt vor, wenn der Dritte das zum Tod des Sterbewilligen füh-
rende Geschehen im kritischen Augenblick in einem höheren Maße beherrscht als
das Opfer selbst.60

3. Suizid in (quasi-)mittelbarer Täterschaft

a) Eigenhändigkeit als Suizidmerkmal?

Die Schnittstelle zwischen einer Selbsttötung und der Rechtsfigur der (quasi-)mit-
telbaren Täterschaft betrifft vor allem den Bereich der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit des
mitwirkenden Dritten. Die diesbezügliche Diskussion ist maßgeblich durch zwei
kurz aufeinander entschiedene Justizfälle in Gang gekommen, in denen das Opfer
55
So im Ergebnis Herzberg, NStZ 2004, 1, 2 ff.; MüKo-StGB/Schneider, § 216 Rn. 50, 52.
56
Engländer, JZ 2003, 747, 748; Gavela (Fn. 24), S. 30; Neumann, JA 1987, 244, 249;
Walter, NStZ 2013, 673, 676; vgl. auch Lackner/Kühl/Kühl, § 216 Rn. 3 (m.w.N.). Für den
Bereich der Selbstgefährdung ebenso BayObLG JR 1990, 473, 474 mit Anm. Dölling a.a.O.
S. 474, 475.
57
Roxin (Fn. 9), S. 573.
58
Engländer, Jura 2004, 234, 236.
59
Merkel (Fn. 1), S. 79 f.; NK-StGB/Neumann/Saliger, § 216 Rn. 5; SK-StGB/Sinn, § 216
Rn. 15. Vgl. ferner RGSt 70, 313 ff. (hierzu Murmann [Fn. 13], S. 319 f.). Dort hatten sich ein
Mann und eine Frau in beiderseitiger Suizidabsicht verabredungsgemäß in zwei an den Enden
desselben Stricks geknüpfte Schlingen fallen lassen; der Mann überlebte, weil er in seiner
Todesangst die Schlinge mit seinem Messer zerschnitt. Das RG bewertete die Tat (ohne auf
Aspekte der Tatherrschaft einzugehen) als Beihilfe zum Suizid der getöteten Frau.
60
Ebenso Neumann, JA 1987, 244, 248 f.; Hecker/Witteck, JuS 2005, 397, 401; s. auch
Hellmann, FS Roxin I, 2001, 271, 283 f.
Die Tatherrschaft als Zurechnungsinstrument 1119

durch Verschleierung seines Sterbewunsches einen anderen zur Vornahme der töd-
lichen Handlung veranlasst hatte.61 In dem einen (vom OLG Nürnberg62 entschiede-
nen) Fall hatte der sterbewillige Ehemann seine Frau aufgefordert, auf ihn zu schie-
ßen, und ihr auf die Ablehnung seines Ansinnens hin vorgespiegelt, die Pistole sei
ungeladen. Als sie schließlich aufgrund seiner beharrlichen Einflussnahme die
Waffe abfeuerte, löste sich – wie von dem Mann erstrebt – die im Lauf befindliche
tödliche Kugel. In dem wenige Monate später vom BGH63 entschiedenen Fall hatte
der Angeklagte als Zivildienstleistender einen von ihm betreuten schwerstbehinder-
ten ALS-Patienten auf dessen Wunsch hin nackt in zwei Plastikmüllsäcke verpackt
und in einen Müllcontainer verbracht; dort war das sterbewillige Opfer erstickt und/
oder erfroren, weil es – anders als dem Zivildienstleistenden gegenüber behauptet –
keine Vorkehrungen zu seiner Rettung getroffen hatte. Beide Gerichte sahen eine
Strafbarkeit gemäß § 222 StGB als gegeben an und haben hierfür teils Zustimmung,
teils Widerspruch erfahren.
Im Hintergrund dieser Auseinandersetzung steht eine ebenfalls zum Kreis der lea-
ding cases zu zählende BGH-Entscheidung64 aus dem Jahr 1972. Im dortigen Fall war
der Angeklagte vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen worden, nach-
dem er (als Polizeibeamter) seine Dienstpistole vorschriftswidrig auf dem Armatu-
renbrett seines privaten Pkw hatte liegen lassen und sich seine Begleiterin mit dieser
Waffe das Leben nahm. Jener Freispruch basierte maßgeblich auf der Überlegung,
dass das vorsätzliche Überlassen der Pistole zur Ermöglichung der Selbsttötung
als Suizidbeihilfe straflos gewesen wäre und die Haftung für ein entsprechendes fahr-
lässiges Verhalten nicht strenger sein dürfe als jene für die vorsätzliche Mitwirkung.65
Aus der zutreffenden Beobachtung, dass dieser Erst-recht-Schluss in den später ent-
schiedenen Fällen nicht greift (die Ehefrau wäre bei Kenntnis vom geladenen Zu-
stand der Waffe ebenso wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts strafbar wie der
Zivildienstleistende, dem das Ausbleiben der Rettung durch Dritte bekannt gewesen
wäre), ergibt sich allerdings kein durchschlagendes Argument für die Fahrlässig-

61
Zu beiden Fällen Hecker/Witteck, JuS 2005, 397 ff.; Küpper, JuS 2004, 757 ff.; Roxin, FS
Otto, 2007, 441 ff.; MüKo-StGB/Schneider, Vorbemerkung zu § 211 Rn. 86 ff. sowie aus-
führlich A. C. Fischer (Fn. 11), S. 67 ff.; Palm (Fn. 11), S. 2 ff., 118 ff., 136 ff.
62
JZ 2003, 745 ff. mit abl. Anm. Engländer; s. auch Hecker/Witteck, JuS 2005, 397, 398 f.
Zur umgekehrten Situation des Hervorrufens eines Suizids durch einen in mittelbarer Täter-
schaft agierenden Hintermann vgl. MüKo-StGB/Schneider, Vorbemerkung zu § 211 Rn. 43 –
53.
63
NStZ 2003, 537; dazu Engländer, Jura 2004, 234 ff.; Herzberg, NStZ 2004, 1 ff.; ders.,
Jura 2004, 670 ff.
64
BGHSt 24, 342 ff.
65
Auch im Fall des Amoklaufs von Winnenden wurde der die Tatwaffe nicht hinreichend
sichernde Vater des Amokläufers zwar gemäß §§ 222, 229 StGB bezüglich der bei dem
Amoklauf getöteten bzw. verletzten Opfer, nicht aber hinsichtlich des Suizids seines Sohnes
verurteilt; vgl. BGH JR 2013, 34 ff. mit Anm. Braun; Mitsch, ZJS 2011, 128, 130; s. auch
Matthes-Wegfraß (Fn. 17), S. 265 ff.; Murmann, Grundkurs Strafrecht, 5. Aufl. 2019, § 23
Rn. 77 sowie LG Gießen NStZ 2013, 43 f.
1120 Christoph Sowada

keitsstrafbarkeit. Denn es lässt sich nicht sagen, dass ein fahrlässiges Verhalten straf-
bar sein müsse, weil ein paralleles vorsätzliches Handeln es wäre.66 Ferner nutzt der
Sterbewillige in den aktuelleren Fällen nicht lediglich die Unachtsamkeit eines an-
deren für seine Selbsttötung aus, sondern er hat die Fehlvorstellung des Mitwirken-
den gezielt hervorgerufen. Damit fällt ihm die Steuerungsherrschaft über den kriti-
schen Augenblick zu; es handelt sich – in den Denkfiguren der Beteiligungslehre ge-
sprochen – um einen Suizid in (quasi-)mittelbarer Täterschaft unter Verwendung
eines irrenden Werkzeugs.
Gegen diese Argumentation lässt sich der zentrale (freilich kaum erörterte) dog-
matische Einwand denken, für das Vorliegen eines Suizids müsse der Sterbewillige
die Festigkeit seines Tötungsentschlusses gerade durch den eigenhändigen Vollzug
der todbringenden Handlung unter Beweis gestellt haben.67 Ein solches Postulat der
Eigenhändigkeit würde den Rückgriff auf die allgemeine Steuerungsherrschaft eben-
so ausschließen, wie die mittelbare Täterschaft bei eigenhändigen Delikten für un-
anwendbar gehalten wird.68 Pointiert ließe sich diese Position wie folgt umschreiben:
Durch Reden kann man sich nicht selbst töten – und zwar weder durch inständiges
Bitten (Verlangen) noch durch eine den Anforderungen der mittelbaren Täterschaft
entsprechende intellektuelle Einwirkung auf einen anderen.69
Gleichwohl verdient eine solche Sichtweise keinen Beifall. Denn es ist zu beden-
ken, dass das Eigenhändigkeitspostulat zur Reichweitenbestimmung des § 216 StGB
in Ansehung konkurrierender auf die Todesherbeiführung gerichteter Finalakte des
Sterbewilligen und des Dritten entwickelt wurde. Hiervon unterscheiden sich die
Fahrlässigkeitsfälle grundlegend. Jedenfalls bei unbewusster Fahrlässigkeit des Tat-
mittlers erscheint dessen Tun – ungeachtet der freiwilligen Vornahme des entschei-
denden Tätigkeitsakts – mangels Finalität als blinder Kausalfaktor.70 Vertauscht ein
todeswilliger Patient die Ampulle mit der für ihn vorgesehenen Medizin gegen ein
tödlich wirkendes Gift, das ihm von der abgelenkten Krankenschwester injiziert
wird, so hat ausschließlich der Sterbewillige über sein Leben verfügt und es handelt
sich um eine Selbsttötung auch dann, wenn der Irrtum für die Tatmittlerin vermeidbar

66
So jedoch Herzberg, NStZ 2004, 1, 2; Norouzi, JuS 2007, 146, 149. Wie hier Gavela
(Fn. 24), S. 35; vgl. auch Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben, Vor § 211 Rn. 35; Mat-
thes-Wegfraß (Fn. 17), S. 198 ff., 289.
67
So Gavela (Fn. 24), S. 16 f., 35 f. Vgl. auch Jakobs ([Fn. 25], S. 22 f.), der die Eigen-
händigkeit des Vollzuges als „Formvorschrift“ deutet, und Schroeder, ZStW 106 (1994), 565,
574. Auch Roxin stellt zwar allgemein auf die Eigenhändigkeit ab ([Fn. 1], S. 184; ders., FS
Fischer, 2018, 509, 511), ohne aber unter diesem Gesichtspunkt die Annahme eines Suizids in
mittelbarer Täterschaft zu problematisieren (FS Otto, 2007, 441, 443, 446); ähnlich Ingelfin-
ger (Fn. 49), S. 225, 227, 229 (Fn. 331).
68
Schönke/Schröder/Heine/Weißer, § 25 Rn. 50; LK-StGB/Schünemann, § 25 Rn. 45 ff.
69
In diesem Sinne Palm (Fn. 11), S. 164 f., 173; s. auch Jäger/Joecks, Studienkommentar
StGB, 12. Aufl. 2018, § 216 Rn. 21 f.
70
Roxin (Fn. 9), S. 171.
Die Tatherrschaft als Zurechnungsinstrument 1121

gewesen wäre.71 Dieselbe Wertung wird man auch in den Fällen einer bewussten
Fahrlässigkeit jedenfalls dann annehmen müssen, wenn der Hintermann aufgrund
seines überlegenen Wissens den Willen des Tatmittlers im Wege der Irrtumsherr-
schaft steuert.72 Schließlich steht diese Beurteilung auch in Einklang mit den Vorga-
ben aus § 216 StGB; denn die diese Strafnorm tragenden Überlegungen (Gefahren
für die Autonomie des Sterbewilligen,73 Beweisprobleme bezüglich verkappter Tö-
tungen ohne Verlangen, Tabu vorsätzlicher Fremdtötungen) sind hier nicht (in glei-
chem Maße) betroffen.74

b) Reichweite des Zurechnungsausschlusses


im Zwei-Personen-Verhältnis

Der Verzicht auf das Eigenhändigkeitserfordernis im Fahrlässigkeitsbereich und


die hiermit korrespondierende Anerkennung eines Suizids in (quasi-)mittelbarer Tä-
terschaft führen zu der Frage nach der Reichweite des hierdurch bewirkten Zurech-
nungsausschlusses. Zu weitgehend wäre es, alle Konstellationen, die aus der Sicht
des Hintermannes als Fälle einer (quasi-)mittelbaren Täterschaft konstruierbar
sind, pauschal als Selbsttötung anzusehen. Würde der Sterbewillige im „Pistolen-
Fall“ des OLG Nürnberg seine Ehefrau zur Abgabe des tödlichen Schusses nötigen
oder jemand seinen 13-jährigen Sohn überreden, die Waffe abzufeuern,75 so handelte
es sich keineswegs um Suizide in (quasi-)mittelbarer Täterschaft, sondern um dem
§ 216 StGB (oder § 212 StGB) unterfallende Fremdtötungen, deren Straflosigkeit
sich für die als Werkzeug eingesetzten Personen anhand der §§ 19 bzw. 32, 35
StGB bestimmt. Hierin liegt keine kritikwürdige Inkonsequenz, sondern es handelt
sich um die angemessene Umsetzung der durch die Tatherrschaftslehre vorgezeich-
neten Strukturen. Denn in den Fällen der Nötigungsherrschaft setzt (anders als bei der
Irrtumsherrschaft!) die mittelbare Täterschaft des Hintermannes geradezu voraus,
dass der Tatmittler seinerseits den Handlungsablauf beherrscht.76 Haben genötigte
oder aus anderen Gründen rechtmäßig oder schuldlos handelnde Personen die Tat-
herrschaft inne, so ergibt sich daraus – sofern es an einer eigenhändigen Mitherr-
schaft des Opfers über den kritischen Augenblick fehlt – für die auf der Tatbestands-

71
Hecker/Witteck, JuS 2005, 397, 399 f.; Wessels/Hettinger/Engländer, BT I, Rn. 135. Vgl.
auch Roxin, FS Otto, 2007, 441, 451 f. (gegen Küpper, JuS 2004, 757, 759 f.).
72
Vgl. Roxin, Strafrecht – Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 25 Rn. 65; LK-StGB/Schü-
nemann, § 25 Rn. 83.
73
Im Gegenteil unterminiert der täuschende Hintermann die durch § 216 StGB gegenüber
einer Fremdtötung errichtete Hemmschwelle.
74
Vöhringer (Fn. 9), S. 177 f.; a.A. LK-StGB/Walter, vor § 13 Rn. 135. Gegen die Heran-
ziehung von Tatherrschaftskriterien Schlehofer, FS Herzberg, 2008, 355, 357 f., 364.
75
Beispiel nach Herzberg, Jura 2004, 670, 671. Zu weiteren Fallkonstellationen vgl.
A. C. Fischer (Fn. 11), S. 97 ff.
76
Roxin (Fn. 9), S. 132 – 137; ders., AT II, § 25 Rn. 47; LK-StGB/Schünemann, § 25
Rn. 69.
1122 Christoph Sowada

ebene vorzunehmende Abschichtung eine Einordnung als Fremdtötung.77 Auf diese


Weise wird zugleich die Gefahr vermieden, die in den einschlägigen Normen des
StGB geregelten Voraussetzungen einer Straflosigkeit durch den pauschalen Rück-
griff auf die objektive Zurechnung zu unterlaufen. Ferner folgt hieraus, dass das sich
als Fremdtötung darstellende Handeln ungeachtet des etwaigen Strafbarkeitsdefizits
die Strafbarkeit weiterer (defektfrei) mitwirkender Personen vermitteln kann.
Damit ergibt sich als weitere Modifizierung der Tatherrschaftslehre im Suizid-
kontext, dass das den Kernbereich der mittelbaren Täterschaft bildende sog. Verant-
wortungsprinzip78 nicht unbesehen in den Bereich der objektiven Zurechnung über-
nommen werden kann.79
Vor diesem Hintergrund kommt in der besonderen Konstellation der Hervorru-
fung eines Erlaubnistatbestandsirrtums auch eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit des Ge-
täuschten in Betracht. Will ein Straftäter lieber in den Tod als für den Rest seines Le-
bens ins Gefängnis gehen und täuscht er deshalb in der Festnahmesituation einen le-
bensbedrohlichen Angriff auf eine Geisel oder auf die Polizisten vor, um diese zu
einem für ihn tödlichen „Rettungsschuss“ zu veranlassen, so handelt es sich (unge-
achtet der Irrtumsherrschaft des Veranlassers bezüglich der Rechtfertigungslage) um
eine Fremdtötung, da der Schütze das Geschehen mit einem final auf die Tötung ge-
richteten Willen beherrscht. Fehlt es deshalb an einer die Zurechnung ausschließen-
den Selbsttötung, so ist bei Vermeidbarkeit des Irrtums eine Fahrlässigkeitsstrafbar-
keit des Täters grundsätzlich zu bejahen. Bleibt demgegenüber – wie in dem vom
OLG Nürnberg entschiedenen „Pistolen-Fall“ – dem Handelnden infolge der Mani-
pulation bereits der todbringende Charakter seines Tuns verborgen, fehlt es an seiner
finalen Tatherrschaft; es liegt ein Suizid in (quasi-)mittelbarer Täterschaft vor, der
eine Strafbarkeit gemäß § 222 StGB sperrt. Komplizierter liegen die Dinge hingegen
im „Zivi-Fall“.80 Der BGH81 stützt die Verurteilung gemäß § 216 StGB auf die dem
Angeklagten ungeachtet der Täuschung zukommende Gefährdungsherrschaft. Dies
unterstreichend könnte man darauf verweisen, dass das Vertrauen auf eine spätere
Rettung ebenso unbeachtlich sein müsse wie die Bereitstellung des Gegengifts im
Rahmen des § 216 StGB.82 Gleichwohl sprechen die besseren Gründe gegen die

77
Ebenso Roxin, FS Otto, 2007, 441, 449.
78
Lackner/Kühl/Kühl, § 25 Rn. 2; LK-StGB/Schünemann, § 25 Rn. 62 ff.
79
Erst recht begründet eine Analogie zur Rechtsfigur des „Täters hinter dem Täter“ keinen
Zurechnungsausschluss. Gelänge es beispielsweise dem Sterbewilligen, seine Ehefrau davon
zu überzeugen, dass § 216 StGB im Verhältnis von Ehegatten zueinander nicht gelte, so richtet
sich die Strafbarkeit der ihren Ehemann daraufhin vorsätzlich tötenden Frau nach der Ver-
meidbarkeit ihres Verbotsirrtums (§ 17 StGB). Verfehlt wäre es demgegenüber, das Geschehen
(unter Hinweis auf BGHSt 35, 347) in eine (quasi-)mittelbare Selbsttötung umzudeuten und
auf diesem Wege zur Straflosigkeit trotz Vermeidbarkeit des Irrtums zu gelangen.
80
Für eine Strafbarkeit gemäß § 222 StGB trotz Straflosigkeit im „Pistolen-Fall“
A. C. Fischer (Fn. 11), S. 86 f.; Hecker/Witteck, JuS 2005, 397, 401.
81
NStZ 2003, 537, 538.
82
S. oben zu III.1.b).
Die Tatherrschaft als Zurechnungsinstrument 1123

Strafbarkeit des Verhaltens. Denn das Gefährdungsbewusstsein erreicht nicht das für
die Tatherrschaft bezüglich der Todesherbeiführung erforderliche Maß. Bejaht man
eine in (quasi-)mittelbarer Täterschaft begangene Selbsttötung auch bei Einschal-
tung eines bewusst fahrlässig handelnden Tatmittlers,83 so führt dies auch im Fall
des Zivildienstleistenden zum Zurechnungsausschluss.84

c) Die Beurteilung von Drei-Personen-Verhältnissen

Zusätzliche Komplikationen können sich ergeben, wenn man die zu diskutierende


Fallkonstellation durch die Mitwirkung einer weiteren Person ausbaut. Diesbezüg-
lich kann zur Veranschaulichung auf einen von Norouzi85 gebildeten Examensfall zu-
rückgegriffen werden. Hierbei vereinbart ein sterbewilliger Patient mit dem ihn be-
handelnden Arzt, dass dieser am darauffolgenden Tag die Ampulle der Spritze gegen
ein tödlich wirkendes Gift austauscht, das die ahnungslose Krankenschwester dem
Patienten verabreicht.86 Sofern man für eine zurechnungsausschließende Selbsttö-
tung den eigenhändigen Vollzug der todbringenden Handlung durch den Suizidenten
verlangt, bestehen bezüglich der Strafbarkeit der Krankenschwester (gemäß § 222
StGB) und des Arztes (gemäß § 216 StGB) keine Bedenken.87 Lässt man hingegen
mit der hier befürworteten Sichtweise eine Selbsttötung in (quasi-)mittelbarer Täter-
schaft zu, so ergibt sich hinsichtlich der Krankenschwester – entsprechend dem „Pis-
tolen-Fall“ der getäuschten Ehefrau – die Straflosigkeit ihres Verhaltens, da sie auf
den Tod des Patienten keinen steuernden Einfluss hat und es aus ihrer Sicht gleich-
gültig ist, ob sie aufgrund einer unmittelbar vom Opfer oder einer mit dessen Willen
vom Arzt vorgenommenen Manipulation tätig wird. Dem Arzt hingegen ist die
Handlung der von ihm getäuschten Krankenschwester über § 25 Abs. 1 2. Alt.
StGB zuzurechnen. Er ist deshalb so zu behandeln, als hätte er selbst die tödliche
Spritze verabreicht, und mithin wegen einer in mittelbarer Täterschaft begangenen
Tötung auf Verlangen strafbar. Dem kann nicht entgegengehalten werden, aufgrund
der Absprache mit dem Patienten sei die von der Krankenschwester gesetzte Spritze
auch dem Patienten wie eine Selbstinjektion als eigene Handlung zuzurechnen. Denn
eine Quasi-Mittäterschaft (hier: mit dem Arzt) führt nur bei einem vom Opfer eigen-
händig vollzogenen Handlungsakt zur Entlastung des Mitwirkenden.88 Die aufge-
spaltene Bewertung, nach der sich derselbe Vorgang für den Sterbewilligen sowohl
als Suizid als auch als Fremdtötung erweist, mag auf den ersten Blick im Wider-

83
S. oben zu Fn. 71.
84
Ebenso Engländer, Jura 2004, 234, 237; Rigopoulou (Fn. 17), S. 223 f.; Roxin, FS Otto,
2007, 441, 446 f.; MüKo-StGB/Schneider, Vorbemerkung zu § 211 Rn. 92.
85
JuS 2007, 146 ff.
86
Vgl. auch zur fahrlässigen Nichthinderung einer Tötung auf Verlangen durch einen
Garanten Herzberg, NStZ 2004, 1, 8; Roxin, FS Schreiber, 2003, S. 399 ff.; MüKo-StGB/
Schneider, § 216 Rn. 68 f.
87
So im Ergebnis Norouzi, JuS 2007, 146, 149 f.
88
Vgl. oben zu III.2. sowie vor Fn. 69.
1124 Christoph Sowada

spruch zum Exklusivitätsdogma zu stehen. Dennoch ist diese Beurteilung folgerich-


tig. Denn es ist nicht einzusehen, warum der zur Fremdtötung Entschlossene seine
strafrechtliche Verantwortung durch die (sei es auch mit dem Opfer abgesprochene)
Zwischenschaltung eines Tatmittlers sollte abstreifen können.89 Das Entweder-Oder
ist mithin in Mehr-Personen-Konstellationen jeweils auf das Verhältnis des Sterbe-
willigen zu dem betreffenden Mitwirkenden gesondert zu beziehen.

IV. Aktuelle Fragestellungen


Die für den hier interessierenden Themenkreis gültige Beobachtung, dass die dog-
matische Diskussion ihre Impulse nicht zuletzt aus den Fällen der Rechtspraxis be-
zieht, lässt sich auch bezüglich einer der eingangs angesprochenen aktuellen Ent-
scheidungen des BGH zur Garantenproblematik fortschreiben. Im „Berliner
Fall“90 hatte die Staatsanwaltschaft dem angeklagten Arzt vorgeworfen, eine aktive
Tötung auf Verlangen dadurch begangen zu haben, dass er der Suizidentin nach ihrer
Einnahme der Schlafmittel den Brechreiz unterdrückende Medikamente verabreicht
und die Angehörigen der sterbewilligen Frau durch Gespräche davon abgehalten
habe, Rettungsmaßnahmen zu veranlassen.91 Obwohl sich beide Aspekte nach
dem Ergebnis der Beweisaufnahme als bedeutungslos erwiesen,92 erscheint es reiz-
voll, die strafrechtliche Bewertung dieser Fallvarianten zu durchdenken.

1. Physische Einwirkungen auf den bewusstlosen Suizidenten

Die Injektion der den Brechreiz unterdrückenden Mittel führte nach den Angaben
des Sachverständigen eher zu einer Lebensverlängerung; jedenfalls bewirkte sie
keine Lebensverkürzung. Damit ist bezüglich dieser Handlung die objektive Zurech-
nung unter dem Aspekt der Risikoverringerung zu verneinen; da dem angeklagten
Arzt diese Wirkung bekannt war, scheidet auch eine Versuchsstrafbarkeit aus. Frag-
lich ist, wie es zu beurteilen wäre, wenn in einem Fall durch ärztliche Einwirkung auf
den Körper des bewusstlosen Suizidenten der Erfolg der Selbsttötung abgesichert
worden wäre. Dann wiese der Fall Ähnlichkeiten mit dem 1986 vom BGH93 entschie-
denen „Scophedal-Fall“ auf. Dort hatte der Angeklagte seinem bewusstlosen Onkel
nach dessen Suizidversuch verabredungsgemäß eine (kleinere) Dosis des Mittels ge-
spritzt, um den Erfolg des Selbsttötungsvorhabens zu gewährleisten. Dieses Verhal-
89
Hätte der Arzt die ihm zuzurechnende Handlung der Tatmittlerin (Injektion) selbst vor-
genommen, unterläge seine Strafbarkeit gemäß § 216 StGB keinem Zweifel.
90
BGH NStZ 2019, 666 ff.
91
KG medstra 2017, 180, 181 f. mit Anm. Eidam = StV 2018, 304 mit Anm. Vogel.
92
LG Berlin medstra 2019, 108, 114 mit Anm. Mitsch.
93
JR 1988, 336 mit Anm. Kühl a.a.O. S. 338, 339 f.; vgl. zu dieser Entscheidung auch
Herzberg, JuS 1988, 771 ff.; ders., NStZ 1989, 559; Roxin, NStZ 1987, 345 ff.; ders., FS
Fischer, 2018, 509, 519 ff.
Die Tatherrschaft als Zurechnungsinstrument 1125

ten, das eine zumindest einstündige Lebensverkürzung zur Folge hatte, sah der BGH
zu Recht als strafbare Tötung auf Verlangen an.94 Die im Schrifttum teilweise befür-
wortete Beurteilung als nachträglich geleistete Suizidbeihilfe95 kann sich darauf be-
rufen, dass der Sterbewillige seine Entscheidung eigenhändig ins Werk gesetzt und
somit seine Entscheidung durch seine Tat beglaubigt hat.96 Dennoch kann es hierauf
nicht entscheidend ankommen; denn angesichts der ausschließlich vom Neffen be-
herrschten aktiven Lebensverkürzung markiert dessen Intervention den lebensbeen-
denden Akt.97 Dies gälte grundsätzlich auch in der Konstellation der Unterdrückung
des Brechreizes, sofern das unterdrückte Erbrechen der Schlaftabletten zu einer Le-
bensverlängerung oder -rettung geführt hätte.98 Eine Straffreiheit des Arztes könnte
sich deshalb nicht unter Tatherrschaftsgesichtspunkten, sondern allenfalls als An-
wendungsfall der indirekten Sterbehilfe ergeben.99

2. Die Unterbindung von Rettungsmaßnahmen

Die psychische Einwirkung auf die Angehörigen beschränkte sich im „Berliner


Fall“ ausweislich der tatrichterlichen Feststellungen auf die Mitteilung des Sterbe-
wunsches der Suizidentin und der von ihr geäußerten Bitte, diesen Entschluss zu re-
spektieren. Mithin handelte es sich der Sache nach um eine straflose Anstiftung zu
einer auch für die potenziell Rettungswilligen straflosen Unterlassungstat. Aller-
dings lassen sich auf dieser Schiene auch intensivere Einwirkungsformen denken,
die von der Inanspruchnahme ärztlicher Autorität über die Täuschung bezüglich
des Zustands der Patientin bis hin zur physischen Unterbindung von Rettungsmaß-
nahmen (z. B. durch Wegnahme des Handys und/oder Einsperren des Rettungswil-
ligen) reichen und als Abbruch bzw. Unterbindung eines unmittelbar bevorstehenden
rettenden Kausalverlaufs erscheinen. Die apodiktische Behauptung, die Frage der
Strafbarkeit könne nicht davon abhängen, ob ein helfender Arzt im Stadium der Be-
wusstlosigkeit eines freiverantwortlich handelnden Suizidenten einfach nur tatenlos

94
Vgl. auch zu einem weiteren, vom LG München II (Urt. v. 7. 4. 2005 – 1 KLs 34 Js
43359/03) entschiedenen Fall Vöhringer (Fn. 9), S. 178 ff.
95
So z. B. NK-StGB/Neumann, Vor § 211 Rn. 96; Roxin, NStZ 1987, 345, 346 ff.; im
Ergebnis ebenso Hohmann/König, NStZ 1989, 304, 309.
96
Auf die Herrschaft über den aus der Sicht des Suizidenten unmittelbar lebensbeendenden
Akt abstellend SK-StGB/Sinn, § 216 Rn. 12.
97
Wie hier Chatzikostas (Fn. 21), S. 273 (Fn. 213); Feldmann (Fn. 11), S. 267 ff., Herz-
berg, NStZ 1989, 559, 561; Ingelfinger (Fn. 49), S. 237 f.; Schroeder, ZStW 106 (1994), 565,
570 f., Vöhringer (Fn. 9), S. 142 ff.
98
Könnte nicht hinreichend aufgeklärt werden, ob es ohne die Verabreichung der den
Brechreiz unterdrückenden Mittel zu einer solchen körperlichen Reaktion gekommen wäre,
käme ein Versuch gemäß §§ 216, 22 StGB in Betracht. Gleichwohl für eine Beurteilung als
Suizidbeihilfe Eidam, medstra 2017, 182, 184; Vogel, StV 2018, 306, 307.
99
Vgl. BGHSt 42, 301 ff.; MüKo-StGB/Schneider, Vorbemerkung zu § 211 Rn. 104. Dies
würde freilich voraussetzen, dass es sich bei der Verabreichung der Medikamente um eine
lebensverkürzende Maßnahme zur Schmerzbekämpfung handelt.
1126 Christoph Sowada

zuschaue oder unterstützende Tätigkeiten vornehme,100 verzichtet im Vertrauen auf


die (vermeintliche) Richtigkeit des Ergebnisses auf eine dogmatische Begründung.
Der Rechtssatz, wer nicht zur Rettung verpflichtet sei, dürfe auch andere straflos von
einer Rettung abhalten, ginge ersichtlich zu weit. Dennoch erscheint es sachgerecht,
die nicht-invasive abschirmende Tätigkeit als straflose (nachträgliche) Suizidbeihil-
fe zu beurteilen. Hierfür lassen sich mehrere Begründungsansätze ins Feld führen.
Während ein den Todeszeitpunkt nach vorn verlegendes Verhalten (wie im „Scophe-
dal-Fall“) stets den „kritischen Augenblick“ betrifft, können Handlungen, die ledig-
lich den ungestörten Fortgang des eingeleiteten Geschehens bewirken, insoweit als
unbeachtlich ausgeschieden werden. Dies entspräche zugleich der hier vertretenen
Ansicht, dass die Eröffnung einer Rettungsoption (durch Bereitstellen eines Gegen-
gifts) an der Maßgeblichkeit des auf die Todesherbeiführung gerichteten Tätigkeits-
akts nichts ändert. Ein weiterer diskutabler Ansatz besteht darin, das Unterbinden
einer Rettung durch den Arzt als einen antizipierten aktiven Behandlungsabbruch
zu bewerten.101 Schließlich spricht die aus § 1901a BGB ableitbare Anerkennung
des Sterbewunsches auch im Zeitraum fehlender Entscheidungsfähigkeit ebenfalls
dafür, die nachträgliche Absicherung als straflose Suizidbeihilfe anzusehen. Wenn
nach einem freiverantwortlichen Suizid niemand rettungspflichtig ist,102 kann das
Vorenthalten oder Vereiteln einer solchen Rettung kein Tötungsunrecht begründen.
Nicht näher zu klären ist an dieser Stelle die Frage, ob dem abschirmenden Helfer
über die Verneinung der objektiven Zurechnung hinaus sogar ein (ggf. auch andere
Tatbestände wie §§ 239 oder 240 StGB rechtfertigendes) Nothilferecht zugunsten
des Suizidenten zuzubilligen ist.

V. Schlussbetrachtung
Die Hauptergebnisse der vorstehenden Überlegungen lassen sich wie folgt zusam-
menfassen: Bei der Abgrenzung zwischen einer Selbst- und einer Fremdtötung han-
delt es sich um ein Zurechnungsproblem, für dessen Bewältigung sich der analoge
Rückgriff auf die Tatherrschaftslehre anbietet. Bei dieser Übertragung in den Zurech-
nungskontext ergeben sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen der straflosen
Mitwirkung am freiverantwortlichen Suizid und der gemäß § 216 StGB strafbaren
Tötung auf Verlangen Modifikationen der Tatherrschaftslehre. So erscheint es ange-
messen, die Tatherrschaftsbeurteilung (nicht auf das gesamte Ausführungsstadium
zu beziehen, sondern) auf den „kritischen Augenblick“ zu verengen. Bei einem
(quasi-)mittäterschaftlichen Zusammenwirken führt die eigenhändig vollzogene
gleichberechtigte Mitherrschaft über den todbringenden Augenblick zum Zurech-
nungsausschluss. Eine strafbare Fremdtötung setzt mithin voraus, dass der Mitwir-
100
So Eidam, medstra 2019, 182, 184.
101
Vogel, StV 2018, 306, 308.
102
Zur Frage einer Rettungspflicht aus § 323c StGB vgl. BGH NStZ 2019, 662, 666
(Rn. 43 ff.) mit Anm. Sowada a.a.O. S. 670, 671 f.
Die Tatherrschaft als Zurechnungsinstrument 1127

kende das zum Tod führende Geschehen im kritischen Moment in einem höheren
Maße beherrscht als das Opfer selbst. Bezüglich eines in (quasi-)mittelbarer Täter-
schaft vorgenommenen Suizids ergibt sich ein gespaltenes Bild: Für den fahrlässig
handelnden Tatmittler ergibt sich ein Zurechnungsausschluss, ohne dass jedoch eine
generelle Übertragung des Verantwortungsprinzips anzuerkennen wäre (für die vor-
sätzlich agierenden Tatmittler bleibt es bei einer Fremdtötung mit der Folge, dass
sich ihre Straflosigkeit anhand der einschlägigen Rechtfertigungs- oder Entschuldi-
gungsgründe bestimmt).
Unabhängig davon, ob man den hier vorgeschlagenen Grenzziehungen und den
hieraus abgeleiteten weiteren Verästelungen (z. B. der relativen Beurteilung in
Mehr-Personen-Konstellationen oder der Straflosigkeit einer rein abschirmenden
Tätigkeit nach Eintritt der Bewusstlosigkeit) im Einzelnen zustimmt, verdient ein
grundsätzlicher Aspekt der Hervorhebung. Die Modifikationen der Tatherrschafts-
lehre bezüglich der zeitlichen Fokussierung, des Vorrangs der Opferperspektive in
„fifty:fifty“-Konstellationen und der Beschränkung der (quasi-)mittelbaren Täter-
schaft im Selbstschädigungskontext betreffen zwar die Reichweite des Tatherr-
schaftsgedankens; sie tasten seinen Inhalt aber nicht an. Wer hingegen die bloße
Möglichkeit, sich den Wirkungen des Drittverhaltens zu entziehen oder den Todes-
erfolg auf andere Weise abzuwenden, als eine „Tatherrschaft“ des passiv bleibenden
Opfers deklariert, modifiziert nicht die Tatherrschaftslehre, sondern er gibt das
Merkmal der „Tatherrschaft“ in Wahrheit preis. Ebenso wenig wie eine Umdeutung
von Nicht-Herrschaft in Herrschaft sollte umgekehrt eine Umdeutung von Herrschaft
in Nicht-Herrschaft dadurch erfolgen, dass unmittelbar lebensverkürzende Handlun-
gen (entgegen dem Bedeutungsgehalt des Merkmals „Töten“) durch eine Verschie-
bung des „kritischen Augenblicks“ für irrelevant erklärt werden. Die Tatherrschaft
erscheint (nicht zuletzt unter Bestimmtheitsaspekten) prinzipiell gut geeignet, die
Hauptlast der Abgrenzung zwischen Selbst- und Fremdschädigung zu tragen. Frei-
lich muss sie dann um einer konsistenten Argumentation willen auch ernst genom-
men werden. Die mit der Anerkennung von Modifikationen einhergehenden Spiel-
räume geben keinen Freibrief, sich zur Durchsetzung kriminalpolitscher Vorstellun-
gen in geeignet erscheinenden Fällen vom Kern der Tatherrschaft zu verabschie-
den.103
Das Magazin „Der Spiegel“ hat den „Star-Professor Reinhard Merkel“ im Jahr
2012 mit der Überschrift „Nichts für Lerner, was für Denker“ vorgestellt.104 Nicht
nur seine eingangs angeführten „Fragen an die Strafrechtswissenschaft“, sondern
auch seine Überlegungen zur indirekten Sterbehilfe105 (und zu vielen anderen
103
Vgl. (zur Tatbestandsbezogenheit der Tatherrschaftslehre) Roxin (Fn. 9), S. 442: „Was
bei der Tatherrschaft bei jedem Delikt wechselt, ist die ,Tat‘; die ,Herrschaft‘ dagegen wird
überall durch dieselben Elemente bestimmt.“
104
Abrufbar unter https://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/professoren-der-extraklasse-
der-hamburger-jurist-reinhard-merkel-a-843998-druck.html (zuletzt abgerufen am 14. 10.
2019).
105
FS Schroeder, 2006, 297 ff.
1128 Christoph Sowada

Rechtsproblemen) zeigen das Unbehagen des Jubilars gegenüber Lösungen, die ohne
hinreichende Rückbindung vornehmlich vom Konsens über weithin geteilte Ergeb-
nisse getragen werden, und sie belegen sein Insistieren auf prinzipiengeleitete Argu-
mentationen. In der Hoffnung, dass die hier geäußerten Überlegungen ungeachtet der
von ihm früher gegenüber der Heranziehung der Tatherrschaftslehre in diesem Be-
reich geäußerten Skepsis sein Interesse finden, wünsche ich Reinhard Merkel Ge-
sundheit, Schaffenskraft und Lebensfreude und dass er die strafrechtsdogmatische
Diskussion noch lange mit kritischen Nachfragen und wertvollen Anregungen berei-
chert.
Teilnahme am nicht freiverantwortlichen Suizid?
Von Thomas Weigend

Den ersten (schriftlichen) Kontakt mit Reinhard Merkel hatte ich Anfang der
1990er Jahre im Zusammenhang mit der Veröffentlichung seines brillanten Aufsat-
zes über Franz von Liszt und Karl Kraus in der ZStW.1 Seit dieser Zeit erfreue ich
mich an der prägnanten Klarheit und Originalität seiner Gedanken wie an der locke-
ren Eleganz seiner Sprache. Im Laufe der Jahre ist die Bewunderung für die geradezu
unfassbare Spannweite seiner wissenschaftlichen Interessen hinzugekommen – und
die Freude an manchen netten unmittelbaren Begegnungen. Es freut mich deshalb
ganz besonders, dass ich ein Blümchen zu dem großen Geburtstagsstrauß für Rein-
hard Merkel beitragen darf.

I. Das Problem: Suizidbeteiligung als Täterschaft


Bei aller Leichtigkeit des Stils sind Reinhard Merkels Stellungnahmen stets von
großem Ernst in wissenschaftlichen und ethischen Fragen geprägt. In seinem Werk
spielen die Grundfragen der menschlichen Existenz, die Fragen von Leben und Tod
eine wichtige Rolle. Aus diesem großen Bereich habe ich eine Detailfrage ausge-
wählt, über die – soweit ich sehe – bisher relativ wenig nachgedacht worden ist.
Es geht um Folgendes: Die Mitwirkung an einem freiverantwortlichen Suizid ist –
diesseits von § 217 StGB – straflos; sobald es aber an der Freiverantwortlichkeit
des Suizidenten fehlt, soll jede bewusste Mitwirkung, auch mit einem geringen ak-
tiven Beitrag oder durch garantenpflichtwidriges Unterlassen, den Beteiligten zum
Totschläger, unter Umständen sogar zum Mörder machen. Das lässt sich nach den
Regeln der Dogmatik einwandfrei begründen – aber ist es auch gerecht? Und
wenn nicht, welche alternativen Lösungen wären denkbar?
Der Hintergrund des Problems ist rasch skizziert. Seinem Leben ein Ende zu set-
zen gehört zu der Entfaltung der Persönlichkeit, deren Freiheit Art. 2 Abs. 1 GG ga-
rantiert; und da (und soweit2) durch die Wahrnehmung dieser Option weder die All-
gemeinheit geschädigt noch einzelne Andere in ihren Rechten beeinträchtigt werden,

1
Merkel, ZStW 105 (1993), S. 871.
2
Selbstverständlich verschafft Art. 2 Abs. 1 GG dem Suizidenten nicht das Recht, andere
Menschen mit in den Tod zu reißen oder zu verletzen.
1130 Thomas Weigend

ist die Freiheit zum Suizid auch nicht eingeschränkt.3 Daher verlieren auch Garan-
tenpflichten ihre Wirkung, sobald und solange der Suizident ausdrücklich oder kon-
kludent auf seine Rettung verzichtet.4 Da der Suizident in zulässiger Weise von seiner
Freiheit zu sterben Gebrauch macht, kann es grundsätzlich auch nicht verboten sein,
ihm bei der Verwirklichung seines Entschlusses zu helfen;5 die Entscheidung des Ge-
setzgebers, in § 217 StGB die „geschäftsmäßige“ Suizidassistenz unter Strafe zu stel-
len, ist deshalb nicht nur aus praktischen und kriminalpolitischen, sondern auch aus
verfassungsrechtlichen Gründen anfechtbar.6
Die Betrachtung verändert sich jedoch schlagartig, wenn der Suizident nicht „frei-
verantwortlich“ handelt. Dann – so die im Prinzip kaum angreifbare Schlussfolge-
rung – liegt keine autonome Entscheidung für den eigenen Tod vor, so dass nicht
die Selbstbestimmung des Suizidwilligen, sondern die Erhaltung seines Lebens
den Schutz durch die Rechtsordnung verlangt. Für das Strafrecht wird daraus abge-
leitet, dass jeder, der sich in irgendeiner Weise bewusst an dem Tod des nicht frei-
verantwortlichen Suizidenten beteiligt – sei es durch Anraten der Selbsttötung,
durch Hilfeleistung bei der Durchführung des Suizids oder auch (als Garant)
durch bloß untätiges Geschehenlassen –, wegen vorsätzlicher Tötung7 des Suiziden-
ten zu bestrafen ist. Dogmatisch lässt sich dieses Ergebnis so erklären, dass der Sui-
zident als verantwortliches Zurechnungssubjekt gewissermaßen gestrichen wird, so

3
BVerwGE 158, 142 Rn. 24, 32. Ebenso Dreier, JZ 2007, 317, 319; LK/Rosenau, 12. Aufl.
2019, vor § 211 Rn. 88; Roxin, NStZ 2016, 185, 186; Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lie-
ben, StGB, 30. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 33; siehe auch EGMR, Pretty v. UK, Urt. v. 29. 4.
2002, no. 2346/02, § 67 (zu Art. 8 EMRK). Ob ein Sterbewilliger unter bestimmten Voraus-
setzungen einen Anspruch gegen den Staat auf Hilfe bei der Verwirklichung seines Wunsches
haben kann, steht hier nicht zur Debatte; s. dazu BVerwGE 158, 142 Rn. 27; BVerwGE NJW
2019, 2789 (mit Differenzierung zwischen Fällen schwersten Leidens und „bloßen“ Sterbe-
willens).
4
Durch zwei Urteile v. 3. 7. 2019 (5 StR 132/18 und 5 StR 393/18) hat der BGH die
erstinstanzlichen Freisprüche von Ärzten aus Hamburg (LG Hamburg NStZ 2018, 281 m.
Anm. Hoven) und Berlin (LG Berlin NStZ-RR 2018, 246), die bei dem Suizid ihrer Patienten
gemäß deren Wunsch nicht eingegriffen haben, bestätigt (anders noch OLG Hamburg NStZ
2016, 530 m. Anm. Miebach). Noch 2001 hatte der BGH die Rechtswidrigkeit der Selbsttö-
tung und damit auch von deren Unterstützung angenommen; BGHSt 46, 279, 285. S. zur
Entwicklung der Rechtsprechung Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben, 30. Aufl. 2019,
vor § 211 Rn. 42 f.
5
Einwände gegen dieses Argument bei Engländer, FS für Schünemann, 2014, S. 583,
591 f. Die von Engländer als Gegenbeispiele angeführten Strafvorschriften (etwa § 120 StGB)
treffen aber nicht die hier behandelte Problematik.
6
Dies hat Reinhard Merkel schon bei der Experten-Anhörung am 23. 9. 2015 zu dem Ge-
setzentwurf von § 217 StGB im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages eindrucksvoll
dargelegt; https://www.bundestag.de/blob/388404/ad20696aca 7464874fd19e2dd93933c1/mer
kel-data.pdf (zuletzt abgerufen am 21. 01. 2020). S. auch Hillenkamp, KriPoZ 2016, 1; Hoven,
ZIS 2016,1; LK/Rosenau, 12. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 87 ff.
7
Anwendbar sind §§ 211, 212 StGB; § 216 StGB soll nicht in Betracht kommen, da die
fehlende Freiverantwortlichkeit auch ein „ernstliches Verlangen“ ausschließt; NK/Neumann,
5. Aufl. 2017, vor § 211 Rn. 62.
Teilnahme am nicht freiverantwortlichen Suizid? 1131

dass die Zurechnungskette von dessen Tod unmittelbar zu allen Personen reicht, die
einen Kausalbeitrag zu dem „Erfolg“ des Suizids geleistet haben oder ihn (im Fall des
Unterlassens) bei pflichtgemäßem Verhalten hätten verhindern können. Da der Sui-
zident mangels Tatbestandserfüllung als „Haupttäter“ nicht in Betracht kommt, lässt
sich auch nicht zwischen Täterschaft und Teilnahme differenzieren – jeder, der auch
nur einen fördernden Kausalbeitrag leistet, ist Täter.8 Meist wird von „mittelbarer
Täterschaft“ des Suizid-Unterstützers gesprochen, der Suizident wird also als dessen
Werkzeug eingeordnet.9 In gleicher Weise sieht man auch den Garanten, der seinen
nicht freiverantwortlich handelnden Schützling sterben lässt, als Täter eines Tot-
schlags durch Unterlassen an.10

II. Zum Begriff der Freiverantwortlichkeit


Auf den ersten Blick klingt das alles vertraut, dogmatisch einleuchtend und rich-
tig. Bei näherem Überlegen stellen sich allerdings Zweifel ein. Sie beginnen bereits
bei dem Begriff der Freiverantwortlichkeit. Manche Autoren stellen schon grund-
sätzlich die Möglichkeit eines in Freiheit gefassten Selbsttötungsentschlusses in
Frage. So schreibt Peter Bringewat unter Berufung auf medizinisch-empirische
Forschungsergebnisse, dass „jeder Selbsttötungswille den Charakter einer patho-
logischen Zusammenballung unterschiedlichster Fehlmotivationen aufweist und
der motivatorische Entwicklungsprozeß bis zum Selbsttötungsentschluß einwand-
frei pathologischen und krankhaften Charakter hat“.11 Diese radikale Negation der
Möglichkeit eines freiverantwortlichen Suizids wird allerdings von der Mehrheit
der Autoren nicht geteilt. Reinhard Merkel etwa argumentiert, dass jedenfalls
die „extreme innere Belastung“, ohne die ja ein Suizid kaum zustande kommen
könnte, keine rechtlich relevante psychische Unfreiheit begründe, da sonst auch
der „jährlich vieltausendfach praktizierte Therapieverzicht mit lebensverkürzen-
der Wirkung“ zur Strafbarkeit des behandelnden Arztes führen müsste.12 Und

8
Demjenigen, der den Suizid täterschaftlich unterstützt, kann allerdings wiederum Bei-
hilfe geleistet werden. Beispiel: T äußert gegenüber G, dass er plane, dem nicht freiverant-
wortlichen O Gift zu besorgen, damit dieser seinen Suizidwunsch verwirklichen kann; G
bestärkt den T in dieser Absicht, und O tötet sich mittels des von T besorgten Giftes. G ist
Gehilfe zu der von T verwirklichten Tötung nach § 212 StGB. S. dazu auch LK/Rosenau,
12. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 75.
9
OLG München NJW 1987, 2940, 2941; LK/Rosenau, 12. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 75,
98; MüKo StGB/Schneider, 2. Aufl. 2017, vor § 211 Rn. 32 („… gestaltet sich … bei wer-
tender Betrachtung als Fall einer in mittelbarer Täterschaft begangenen Fremdtötung…“);
Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben, 30. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 37.
10
Wessels/Hettinger/Engländer, Strafrecht BT 1, 43. Aufl. 2019, Rn. 128. Nach LK/Ro-
senau, 12. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 83 soll dabei die Zumutbarkeit des Eingreifens keine
Rolle spielen, da der psychisch kranke Suizident der Hilfe bedürfe.
11
Bringewat, ZStW 87 (1975), 623, 634.
12
Merkel (Fn. 6) S. 2.
1132 Thomas Weigend

auch andere Autoren betonen, dass es verfehlt wäre, jedwede vorschnelle Entschei-
dung des Suizidenten und jede fehlerhafte Bestimmung der eigenen Interessenlage
zu „pathologisieren“ und ihr die Freiverantwortlichkeit abzusprechen.13 Dies gilt
ungeachtet der Ergebnisse der Suizidforschung, die bei Suizidenten häufig psychi-
sche oder affektive Beeinträchtigungen feststellt. So wurde in einer Meta-Analyse
von 27 Untersuchungen zur psychischen Vorbelastung von insgesamt 3275 Suizi-
denten ermittelt, dass bei 87 % der Betroffenen eine psychiatrische Diagnose vor-
lag; dabei wurden am häufigsten affektive Störungen (43 % aller Fälle), insbeson-
dere Depressionen, sowie Suchterkrankungen (26 % aller Fälle), insbesondere Al-
koholsucht, festgestellt.14 Diese Zahlen zeigen zunächst die nummerische Bedeu-
tung des hier angesprochenen Problems: Sie legen es nahe, dass die deutliche
Mehrzahl der rund 10.000 Menschen, die sich in Deutschland jedes Jahr das
Leben nehmen, in ihrer Entscheidungsfreiheit eingeschränkt ist. Andererseits stellt
sich jedoch auch die Frage, ob und wie die Erkrankung oder Sucht dieser Personen
mit ihrem Suizidentschluss verbunden ist.
In die übliche juristische Denkweise übersetzt, geht es dabei um die Definition der
Freiverantwortlichkeit. Der Begriff kommt bekanntlich im Strafgesetzbuch nicht
vor, so dass er den Interpreten große Freiheit lässt, die diese auch bereitwillig wahr-
nehmen. Dabei gibt es einige Fallgruppen, bei denen die Freiverantwortlichkeit all-
gemein verneint wird. Dazu gehören zunächst Irrtümer über die tödliche Folge einer
Handlung, die ein wissender „Hintermann“ vorgeschlagen hat: Wer ein ihm angebo-
tenes Glas Wein austrinkt, ohne zu wissen, dass der Inhalt vergiftet ist, oder wer an-
nimmt, dass er nach der Herbeiführung eines (tödlichen) Stromschlags aus seiner Ba-
dewanne in ein Haus am Genfer See versetzt wird, wo er einen neuen Körper bekom-
men soll,15 begeht schon gar keinen Suizid, da er nicht bewusst seinen (endgültigen)
Tod herbeiführt. Weitgehend unstreitig sind auch die Fälle, in denen der Suizident
schuldlos wäre, wenn er einen anderen Menschen tötete, wenn er also jünger als
14 Jahre ist (§ 19 StGB), durch Drohung mit Tötung oder Körperverletzung (z. B.
für einen nahen Angehörigen) unter massiven Druck gesetzt wird (§ 35 StGB)
oder aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht in der Lage ist, sein Verhalten
zu bestimmen oder zu kontrollieren (§ 20 StGB). In all diesen Fällen kann von
einer freiverantwortlichen Entscheidung für den eigenen Tod keine Rede sein.16

13
Bottke, GA 1983, 22, 30 f.; Engländer, FS für Schünemann, 2014, S. 583, 589; Wessels/
Hettinger/Engländer, Strafrecht BT 1, 43. Aufl. 2019, Rn. 117.
14
Arsenault-Lapierre/Kim/Turecki, Psychiatric diagnoses in 3275 suicides; a meta-analy-
sis, 2004 (https://bmcpsychiatry.biomedcentral.com/articles/10.1186/1471 – 244X-4 – 37; zu-
letzt abgerufen am 21. 01. 2020). Ähnliche Zahlen aus älteren Studien bei LK/Rosenau,
12. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 104.
15
So im Sirius-Fall BGHSt 32, 38. Auch im „Cleanmagic“-Fall (BGH NStZ 2012, 319)
fehlte es bereits an einem Selbsttötungsvorsatz der Geschädigten.
16
Ganz h.M.; siehe die Nachweise bei LK/Rosenau, 12. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 99 f. Für
Beschränkung der fehlenden Freiverantwortlichkeit auf diese Fälle die sog. Exkulpationslö-
sung; s. etwa Roxin, FS für Dreher, 1977, S. 331, 344 ff.
Teilnahme am nicht freiverantwortlichen Suizid? 1133

Überwiegend werden jedoch heute an die Freiverantwortlichkeit höhere Anforde-


rungen gestellt als die bloße Abwesenheit von (Quasi-)Exkulpation. Positiv wird die
Voraussetzung etwa so formuliert, dass der Entschluss zum Suizid „Ausdruck eines
freien und ernstlichen Verlangens nach dem eigenen Tod“ sein müsse17 oder, noch
weitergehend, dass das Verlangen „auf einer tieferen Reflexion des Tatopfers über
seinen Todeswunsch beruht und von innerer Festigkeit und Zielstrebigkeit getragen
wird“.18 Der Suizident müsse „die Urteilskraft aufweis[en], um die Bedeutung und
Tragweite seines Entschlusses verstandesmäßig zu überblicken“.19 Das sind große
Worte. Nimmt man sie ernst und erkennt man den Suizid nur dann als freiverantwort-
lich an, wenn sich auch eine maßstabsgerecht rationale Person in der Lebenssituation
des Suizidenten getötet hätte, so dürften seit Sokrates nicht mehr viele Suizidenten
die Voraussetzungen der Freiverantwortlichkeit erfüllt haben.
In der Lebenswirklichkeit sind es allerdings relativ kleinteilige Streitfragen, die
mit Hilfe der zitierten Formeln für die Freiheit des Selbsttötungsentschlusses ent-
schieden werden sollen. Es geht etwa um Fälle subtiler Nötigung unterhalb der
Schwelle des § 35 StGB, um Motivirrtümer, die der Angeklagte selbst herbeiführt
oder bei dem Suizidenten vorfindet, um Suizide von Jugendlichen zwischen 14
und 17 Jahren, vor allem aber um psychische Belastungen des Suizidenten, die
die Freiheit seiner Willensbestimmung mindern, aber nicht in Analogie zu § 20
StGB völlig ausschließen. Beispielhaft für den kontroversen Diskussionsstand ist
der praktisch nicht irrelevante Fall des Motivirrtums:20 Der Suizident weiß zwar,
dass er sich tötet, aber er tut dies aus einem Grund, der in der Wirklichkeit nicht ge-
geben ist. Wer für Freiverantwortlichkeit die vollkommene „Mangelfreiheit“ der
Willensentschließung fordert, muss konsequenterweise schon bei relativ marginalen
Motivirrtümern des Suizidenten, die auf dessen konkrete Entscheidung Einfluss ge-
wonnen haben, die Freiverantwortlichkeit verneinen,21 also etwa dann, wenn sich der
Suizident die Dauer und das Ausmaß der Schmerzen, die aufgrund seiner (tatsächlich
vorhandenen) Krebserkrankung zu erwarten sind, schlimmer vorgestellt hat als es der
tatsächlichen medizinischen Prognose entspricht oder wenn er irrtümlich annimmt,
durch den Tod zu dem von ihm gewählten Zeitpunkt eine gewünschte Erbfolge her-
beiführen zu können. Überwiegend werden allerdings nicht „rechtsgutsbezogene“
Motivirrtümer – wie in dem letztgenannten Beispiel – für unbeachtlich erklärt.22 An-

17
OLG München NJW 1987, 2940, 2942 (Fall Hackethal).
18
OLG Hamburg NStZ 2016, 530, 533.
19
So MüKo StGB/Schneider, 2. Aufl. 2017, vor § 211 Rn. 32; ähnlich LK/Rosenau,
12. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 103.
20
S. dazu eingehend MüKo/Schneider, 2. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 51 f.; Neumann, JA
1987, 244.
21
In diese Richtung etwa Brandts/Schlehofer, JZ 1987, 442, 447 f.; Mitsch, JuS 1995, 888,
892.
22
S. etwa OLG Hamburg NStZ 2016, 530, 532; Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl. 2018, vor
§ 211 Rn. 13b; Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben, 30. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 36.
1134 Thomas Weigend

dere Autoren bewerten die Nachvollziehbarkeit des Irrtums23 oder verschieben die
Perspektive von der Situation des Suizidenten zu derjenigen des „Hintermannes“
und nehmen dessen Strafbarkeit dann an, wenn er den Motivirrtum bei dem Anderen
hervorgerufen (und nicht bloß ausgenutzt) hat.24
Es geht hier nicht darum, diese und andere Grenzfragen zu entscheiden. Für meine
Argumentation genügt die Feststellung, dass der Begriff der Freiverantwortlichkeit
hierfür keinen verlässlichen oder intersubjektiv überzeugenden Maßstab zu liefern
vermag, zumal er die typische emotionale Steuerung der Entscheidung zwischen
Leben und Tod ausblendet, die rationales Entscheidungsverhalten mehr oder weniger
stark überlagert oder sogar außer Kraft setzt.25 Wir stehen also vor der Situation, dass
es in vielen Fällen durchaus – faktisch und normativ – unklar ist, ob ein Suizident in
zu respektierender Weise seinen autonomen Willen zu sterben verwirklicht oder ob in
seiner Handlung ein „Schrei nach Hilfe“ liegt, der bei den Mitmenschen nicht ohne
Resonanz bleiben sollte.26 Das Dilemma ist umso größer, als nicht ersichtlich ist, wie
man die Grenze zwischen diesen beiden Fällen in rechtssicherer Weise beschreiben
sollte. Zwischen den eindeutigen Fällen des Suizids, der philosophisch fundiert oder
in berechtigter Furcht vor schwerem Leid in der absehbaren Schlussphase des Lebens
begründet ist, einerseits und der Selbsttötung im Zustand einer sinnesverwirrenden
psychischen Krankheit andererseits liegt eine breite Grauzone, in der die Entschei-
dungsfreiheit des Betroffenen durch innere und äußere Umstände, Ängste, Emotio-
nen und Rücksichtnahme auf die Interessen anderer mehr oder weniger stark einge-
schränkt ist. Weder der bloße Begriff der Freiverantwortlichkeit noch eine umständ-
liche Umschreibung des damit Gemeinten vermag die Vielfalt der tatsächlichen und
denkbaren Suizidsituationen auf einen normativ brauchbaren gemeinsamen Nenner
zu bringen.

III. Differenzierende Lösungen?


Wenn das so ist, sollte das Recht für die Frage der strafrechtlichen Verantwortlich-
keit bei einer Beteiligung am Suizid oder bei dessen passivem Geschehenlassen fle-
xible Antworten anbieten, die es den Gerichten ermöglichen, die Zuschreibung von
Verantwortung und die Sanktion der Schuld des Angeklagten im konkreten Fall an-
zupassen. Der gegenwärtige Rechtszustand wird, wie wir gesehen haben, diesem De-
siderat nicht gerecht: Er lässt nur die Wahl zwischen Straffreiheit oder Täterschaft
nach §§ 211, 212 StGB. Daran verstört nicht nur der Umstand, dass den Gerichten
23
NK/Neumann, 5. Aufl. 2017, vor § 211 Rn. 71.
24
In diesem Sinne Wessels/Hettinger/Engländer, Strafrecht BT 1, 43. Aufl. 2019, Rn. 119
im Anschluss an Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, 2001, S. 410 ff.
Zu einem Fall des vorgetäuschten Doppelsuizids s. BGH GA 1986, 508 m. Bspr. Charalam-
bakis, GA 1986, 485.
25
Zutr. Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 29.
26
Formulierung nach LK/Rosenau, 12. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 102.
Teilnahme am nicht freiverantwortlichen Suizid? 1135

in schwierigen Fällen eine sachlich oft unangemessene Alles-oder-Nichts-Entschei-


dung abverlangt wird, sondern auch die Abweichung von dem sonst die Verantwort-
lichkeitszuschreibung beherrschenden Prinzip der Tatherrschaft: Da bei der Annah-
me fehlender Freiverantwortlichkeit die Handlung des Suizidenten für die Zurech-
nung als Nullum behandelt wird, wird auch der bloße Unterstützer, der faktisch
nur einen geringen Beitrag zum Suizidgeschehen leistet, ebenso wie der passiv blei-
bende Garant aus dogmatischen Gründen zum Täter einer Tötung hochgestuft. Dar-
aus ergeben sich dann auch paradoxe Diskrepanzen bei der Beurteilung ein und der-
selben Unterstützungshandlung in Bezug auf eine Fremdtötung (Beihilfe) und eine
(nicht freiverantwortliche) Selbsttötung (Täterschaft).27
Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Eberhard Schmidhäuser hat vor Jah-
ren eine elegante Lösung vorgeschlagen, die den Vorzug hat, sich mit dem Wortlaut
von § 212 StGB vereinbaren zu lassen: Der Suizident, so lautet das Argument
Schmidhäusers, verwirklicht den Tatbestand des § 212 StGB, da er „einen Menschen
tötet“.28 Der Suizident selbst kann allerdings nach Schmidhäusers Auffassung auch
im Fall des fehlgeschlagenen Versuchs nicht bestraft werden, da er aufgrund des Er-
lebnisses der Sinnlosigkeit des eigenen Lebens (übergesetzlich) entschuldigt sei.29
Da die Selbsttötung nichtsdestoweniger rechtswidrig sein soll, wäre sie eine teilnah-
mefähige Haupttat, zu der Anstiftung und Beihilfe nach den allgemeinen Regeln
möglich sind. Auf diese Weise ließen sich Abstufungen zwischen (mittelbarer) Tä-
terschaft einer Fremdtötung, Anstiftung und Beihilfe zum Suizid schon nach gelten-
dem Recht verwirklichen. Leider steht Schmidhäusers Ansatz jedoch unter der – hier
bereits abgelehnten – Prämisse, dass jeder Mensch gegenüber der Gemeinschaft eine
Pflicht zum Weiterleben habe;30 nur so kann der Autor die Rechtswidrigkeit des Sui-
zids begründen.
Denkbar wäre allerdings eine Differenzierung zwischen Fällen „echter“ mittelba-
rer Täterschaft einer Tötung des (nach dem äußeren Geschehen) Suizidenten und
sonstigen Fällen einer Beteiligung am Suizid. Dabei ließen sich die Fälle genuiner,
nicht nur konstruktiver mittelbarer Täterschaft anhand der üblichen Kriterien der Tat-
herrschaft durch Beherrschung eines Anderen relativ trennscharf herausarbeiten:
Wer „den Suizidenten in der Hand hat“31, indem er etwa ein Kind zur Selbsttötung
veranlasst oder einen Menschen durch massive Drohung zum Suizid zwingt (Wil-
lensherrschaft), kann ohne Weiteres als mittelbarer Täter angesehen und nach den
27
Klar gesehen von Merkel (Fn. 6) S. 2.
28
Schmidhäuser, FS für Welzel, 1974, S. 801, 812. Einen ähnlichen Vorschlag de lege
ferenda macht Bringewat ZStW 87 (1975), 623, 646, der allerdings nicht die Schuld, sondern
(wegen stark geminderten Unrechts) die Strafwürdigkeit des Suizidenten verneinen würde.
Für den Gehilfen würde Bringewat über § 28 Abs. 2 StGB Strafbarkeit nach §§ 212, 27 StGB
annehmen.
29
Schmidhäuser, FS für Welzel, S. 801, 815.
30
Schmidhäuser, FS für Welzel, S. 801, 817. Dagegen schon Roxin, FS für Dreher, 1977,
S. 331, 335 f.; ebenso Merkel (Fn. 6) S. 1.
31
Vgl. Lackner/Kühl, 29. Aufl. 2018, vor § 211 Rn. 13.
1136 Thomas Weigend

Vorschriften über vorsätzliche Tötung bestraft werden. Damit bliebe aber die Frage
ungelöst, wie die sonstigen Fälle einer Mitwirkung an einem „nicht freiverantwort-
lichen“ Suizid behandelt werden sollten. Solche möglicherweise strafwürdigen Fälle
blieben auch dann erhalten, wenn man die Freiverantwortlichkeit entsprechend der
„Exkulpationslösung“ weit verstünde – man denke etwa an das Überreden eines er-
sichtlich psychisch labilen und/oder depressiven Menschen zur Selbsttötung oder an
das Ausnutzen eines vorhandenen Motivirrtums aus eigennützigen Zwecken. (Bei-
spiel: O glaubt irrtümlich, er sei unheilbar an Krebs erkrankt. T weiß, dass O gesund
ist; da er ihn bald beerben möchte, bestärkt er O jedoch in dessen Wunsch, den Leiden
durch Suizid zuvorzukommen, und besorgt ihm ein dafür geeignetes Gift.) Mittelba-
re Täterschaft ließe sich in solchen Fällen nach den herkömmlichen Maßstäben al-
lenfalls mühsam begründen; andererseits widerspräche ein Freispruch des „Hinter-
manns“ sicher dem Rechtsgefühl vieler Menschen. Für solche Fälle bietet die lex lata
jedoch keine adäquate Strafnorm, sondern nur die Einstufung schon geringfügiger
Beiträge zum „unfreien“ Suizid als Täterschaft nach §§ 211, 212 StGB.
Könnte der Gesetzgeber helfen? Ausländische Rechtsordnungen bieten eine – auf
den ersten Blick – einfache Lösung an: Sie inkriminieren die Anstiftung und Beihilfe
zum Suizid. So ist nach § 78 des österreichischen StGB mit Freiheitsstrafe bis zu fünf
Jahren zu bestrafen, wer einen anderen dazu verleitet, sich selbst zu töten, oder ihm
dazu Hilfe leistet; dasselbe gilt nach Art. 115 des schweizerischen StGB, wenn der
Täter aus selbstsüchtigen Motiven handelt; und auch nach Art. 294 des niederländi-
schen Wetboek van strafrecht sind die Anstiftung und die Beihilfe zum (tatsächlich
begangenen) Suizid mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bedroht. Der Strafrahmen
der Suizidteilnahme liegt in allen drei Ländern deutlich unter demjenigen für vorsätz-
liche Tötung eines anderen Menschen, so dass eine angemessene Abstufung der
Sanktion auch gegenüber den Fällen von Tötung in mittelbarer Täterschaft möglich
ist. Der Pferdefuß dieser Regelungen ist jedoch ihre übermäßige Reichweite: Straf-
bar ist die Unterstützung auch – und gerade – der perfekt freiverantwortlichen Selbst-
tötung.32 Diese Lösung widerspricht unserer Prämisse von der rechtlichen Respek-
tierung der grundsätzlichen Freiheit zum Suizid.33
Armin Engländer versucht diesem Problem Rechnung zu tragen, indem er eine
generelle Inkriminierung der Suizidunterstützung befürwortet, aber einen Recht-
fertigungsgrund für solche Fälle vorschlägt, in denen der Suizid „auf freier und
reiflicher Überlegung beruht“.34 Mit einer solchen Vorschrift ließe sich – wie in
den zitierten ausländischen Regelungen – die gebotene Abstufung der Strafbarkeit
zwischen Täterschafts- und Teilnahmefällen schaffen, und die nicht strafwürdigen
Fälle wären (dogmatisch korrekt: als gerechtfertigt) von der Strafbarkeit ausge-

32
Die Mitwirkung an einem unfreien Suizid wird in Österreich nicht nach § 78 ö.StGB,
sondern als mittelbare Täterschaft einer Tötung bestraft, s. Fuchs/Reindl-Krauskopf, Straf-
recht Besonderer Teil I, 4. Aufl. 2014, S. 18.
33
Für eine Inkriminierung der Beteiligung am Suizid aber Kubiciel, JZ 2009, 600, 608.
34
Engländer, FS für Schünemann, 2014, S. 583, 595 f.
Teilnahme am nicht freiverantwortlichen Suizid? 1137

nommen. Allerdings scheint mir das Regel-Ausnahme-Verhältnis bei Engländers


Vorschlag verkehrt zu sein: Die Mitwirkung am „freien“ Suizid sollte nicht als
Ausnahmefall eingeordnet, sondern gar nicht vom Tatbestand erfasst sein. Ange-
sichts der Geltung der Regel in dubio pro reo auch für Fragen der Rechtfertigung
wäre dies freilich aus praktischer Sicht hinnehmbar – wenn die vorgeschlagene
Vorschrift das Problem der Abgrenzung zwischen freiem und unfreiem Suizid
zu lösen vermöchte. Dazu liefert sie allerdings nur die Formel von der „freien
und reiflichen Überlegung“, bei der insbesondere das Wort „reiflich“ den von Eng-
länder vor allem angezielten „Übereilungsschutz“ im Blick hat. Es bleibt also zu-
nächst die oben angesprochene Problematik der Umsetzung des Begriffs der Frei-
verantwortlichkeit (nichts Anderes dürfte die „freie Überlegung“ bedeuten) beste-
hen, und das Erfordernis der „Reiflichkeit“ erschwert die Operationalisierung der
Vorschrift noch mehr: Wie lange muss der Suizident seinen Todeswunsch gehegt
haben, bevor ihn der Beteiligte als „reiflich“ erwogen ansehen darf? Kommt es
dafür auf zusätzliche Umstände (etwa die inhaltliche Plausibilität des Sterbewun-
sches?) an, und gegebenenfalls auf welche?

IV. Ein Vorschlag


Trotz der zutage getretenen Schwierigkeit der Aufgabe, die Problematik der
Teilnahme am Suizid in eine gesetzliche Regelung zu gießen, möchte ich abschlie-
ßend ein paar Gedanken dazu zusammenstellen. Zunächst scheint mir die Erkennt-
nis wichtig, dass es einer eigenen gesetzlichen Regelung bedarf, um die Schwächen
des derzeitigen Rechtszustands zu beheben. Dabei sind als Eckpunkte festzuhal-
ten: Erstens, die Teilnahme (Aufforderung und Unterstützung) an einem freiver-
antwortlichen35 Suizid verdient keine Bestrafung; einer Regelung dazu bedarf es
nicht. Zweitens, die Fälle, in denen das Opfer durch Täuschung zu einer Handlung
veranlasst wird, durch die es unbeabsichtigt seinen eigenen Tod herbeiführt, sind
bei Vorsatz des Hintermanns nach §§ 211, 212 StGB zu bestrafen; da hier nur
scheinbar ein Suizid gegeben ist, braucht auch dieser Fall nicht gesondert geregelt
zu werden.
Die oben benannten Fälle der Herrschaft über einen nicht zur Selbstbestimmung
fähigen Suizidenten sind unstreitig – d. h. auch nach der engen „Exkulpationslö-
sung“ – als (genuine) mittelbare Täterschaft einer vorsätzlichen Tötung zu bestra-
fen. Da dies nicht ganz selbstverständlich ist und es insbesondere einer Abgren-
zung zu den sonstigen Fällen der Mitwirkung am Suizid bedarf, empfiehlt sich in-
soweit eine eigenständige gesetzliche Regelung. Sie könnte inhaltlich36 etwa lau-
ten:
35
Hier wird der Einfachheit halber an diesem eingeführten, gleichwohl aber inhaltlich
flexiblen Begriff festgehalten.
36
Die hier vorgeschlagenen Vorschriften sollen nur grobe Anhaltspunkte für den inten-
dierten Inhalt bieten; es handelt sich nicht um technisch akkurate Gesetzesvorschläge.
1138 Thomas Weigend

§ A:
„Wer ein Kind oder eine Person, die aufgrund einer psychischen Erkrankung unfähig ist,
ihren Willen zu bilden oder ihre Handlungen zu kontrollieren, dazu veranlasst, sich zu
töten, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft. Ebenso wird bestraft, wer
eine andere Person dadurch zur Selbsttötung veranlasst, dass er sie oder eine andere Person
mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit bedroht.“

In allen in § A geregelten Fällen ist es klar, dass der Suizident nicht selbstverant-
wortlich handelt. Die Tatherrschaft liegt bei demjenigen, der ihn zur Selbsttötung
veranlasst. Deshalb wird hier dieselbe Rechtsfolge wie in § 212 Abs. 1 StGB vorge-
schlagen; denkbar wäre auch eine Rechtsfolgenverweisung auf §§ 211, 212 StGB
insgesamt.
Größere Schwierigkeiten bereiten die Fälle, in denen sich der Täter in weniger
intensiver Weise – etwa durch bloße Unterstützung – an einem nicht freiverantwort-
lichen Suizid beteiligt. Hier sind zunächst mehrere rechtspolitische Weichen zu stel-
len. Die erste betrifft die Definition der Freiverantwortlichkeit. Da die Fälle der Be-
herrschung des Suizidenten durch Täuschung über den tödlichen Charakter der
Handlung, wegen seiner fehlenden persönlichen Entscheidungsfähigkeit sowie
durch Aufhebung der Willensfreiheit durch schwere Nötigung bereits anderweitig
erfasst sind, kann es hier nur noch um die Fälle gehen, in denen die Autonomie
des Suizidenten in anderer, weniger schwerwiegender Weise beeinträchtigt ist. In Be-
tracht kommen z. B. jugendliches Alter, psychische Erkrankungen mit weniger
schweren Auswirkung als nach § A, Nötigung mit einem empfindlichen Übel unter-
halb der in § A genannten Schwelle sowie Motivirrtümer. Man könnte diese Fälle
unter dem Begriff der „erheblichen Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit“ zu-
sammenfassen.37 Dieser Begriff würde auch Raum für andere ähnliche Fälle lassen,
andererseits durch das Wort „erheblich“ solche Fallgestaltungen ausschließen, in
denen – wie etwa bei einem marginalen oder idiosynkratischen Motivirrtum des Sui-
zidenten – die Beteiligung eines Anderen an dem Suizid keiner Strafe bedarf. Ist die
Freiverantwortlichkeit jedoch erheblich beeinträchtigt, so besteht durchaus Anlass,
die Mitwirkung an dem Suizid bei Strafe zu verbieten, da sich in der Selbsttötung
dann keine autonome Entscheidung des Suizidenten verwirklicht. Die Rechtsord-
nung sollte deshalb dafür sorgen, dass ihm bei seinem Vorhaben weder psychische
Ermutigung noch physische Unterstützung zukommt, sondern dass ihm vielmehr
Hilfe zum Weiterleben geleistet wird.
Wenn man dies grundsätzlich für richtig hält, ist weiter zu erwägen, welche Arten
der Teilnahme mit welchem relativen Gewicht einzuordnen sind. Am schwersten
dürfte – wie ja auch in der Sanktionsdrohung des § 26 StGB zum Ausdruck
kommt – das „Bestimmen“ oder „Verleiten“ des nicht freiverantwortlichen Suiziden-

37
Eine gewisse Parallele besteht zu dem Begriff des „ernstlichen“ Verlangens in § 216
StGB. Ich würde hier jedoch eine eigene Begriffsbildung vorziehen, um zu vermeiden, dass
ohne hinreichende Überlegung die Auslegung des Begriffs der „Ernstlichkeit“ auf eine andere
Fallgestaltung übertragen wird.
Teilnahme am nicht freiverantwortlichen Suizid? 1139

ten zur Selbsttötung wiegen: Weiß der Täter, dass jemand in seiner Entscheidungs-
freiheit erheblich beeinträchtigt ist, und überredet er ihn dennoch zum Suizid, so liegt
darin gravierendes Unrecht. Auch das (besonders verwerfliche) Hervorrufen eines
Motivirrtums bei dem Suizidenten ist eine Form des Bestimmens zur Selbsttötung
und wäre von der hier zu treffenden Regelung erfasst. Wegen des größeren Maßes
an verbleibender Entscheidungsfreiheit als in den unter § A aufgeführten Fällen
mag man die Mindeststrafe etwas niedriger bemessen als bei der „echten“ mittelba-
ren Täterschaft der vorsätzlichen Tötung, aber für besonders schwerwiegende Fälle
sollte das Höchstmaß der zeitigen Freiheitsstrafe zur Verfügung stehen. Angesichts
der Bedeutung des Rechtsguts Leben sollte auch schon die versuchte „Anstiftung“
unter Strafe gestellt werden.
Für die Figur der „Beihilfe“ zum nicht freiverantwortlichen Suizid kommt ein
breites Spektrum an faktischen Situationen in Betracht, das von der Beschaffung
eines anderweit nicht erhältlichen Giftstoffes bis zur bloßen verbalen Unterstützung
des bereits gefassten Selbsttötungsentschlusses reicht. Man könnte erwägen, ob man
Fälle wie den zuletzt genannten aus dem Bereich des Strafbaren ausnimmt; eine ma-
terial überzeugende Grenze zwischen strafbedürftiger und wegen ihrer Geringfügig-
keit strafrechtlich unbeachtlicher Hilfe zum Suizidvorhaben dürfte jedoch kaum zu
ziehen sein, so dass man die Behandlung von Bagatell-Unterstützungshandlungen
dem Ermessen der Staatsanwaltschaft im Rahmen von §§ 153, 153a StPO überlassen
sollte.
Schließlich stellt sich die Frage nach der Strafbarkeit eines Garanten, der den Sui-
zid eines in seiner Entscheidungsfähigkeit erheblich eingeschränkten Menschen
nicht verhindert, obwohl ihm dies möglich wäre. Auch in diesem Bereich kommen
ganz unterschiedliche Fallgestaltungen in Betracht, die von höchst vorwerfbarem
Verhalten (Beispiel: Der Vater eines 16jährigen Mädchens sieht untätig zu, wie
sich seine Tochter wegen Liebeskummers das Leben nimmt) zu nachvollziehbarer
Passivität (Beispiel: Die Ehefrau ruft keinen Notarzt, nachdem sich ihr 83jähriger
leicht dementer und depressiver Ehemann nach mehreren vergeblichen Versuchen
in Suizidabsicht mit Schlafmitteln vergiftet hat) reichen. Grundsätzlich wird man
jeden Garanten durch eine Strafdrohung dazu anhalten müssen, bei nicht freiverant-
wortlichem Suizid einer Person, für die er Verantwortung trägt, helfend tätig zu wer-
den. Das generalisiert zu bestimmende Maß des Unrechts dürfte dabei jedoch eher
der aktiven Unterstützung als der mittelbaren Täterschaft entsprechen, wobei auch
die Wertung des § 13 Abs. 2 StGB zu berücksichtigen ist.
Diese Überlegungen könnten zu einer Regelung folgenden Inhalts führen:
§B
(1) „Wer eine Person, deren Entscheidungsfreiheit aufgrund ihres jugendlichen Alters,
einer psychischen Erkrankung, eines Irrtums über die für den Entschluss zur Selbsttö-
tung relevante Sachlage oder aus einem anderen Grund erheblich beeinträchtigt ist,
dazu bestimmt, sich selbst zu töten, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren be-
straft. Der Versuch ist strafbar.
1140 Thomas Weigend

(2) Wer einer im Sinne von Abs. 1 in ihrer Entscheidungsfreiheit erheblich eingeschränk-
ten Person bei dem Vorhaben, sich selbst zu töten, Hilfe leistet, wird, wenn sich die Per-
son getötet hat, mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren oder mit Geld-
strafe bestraft.
(3) Wer rechtlich für die Erhaltung des Lebens einer anderen Person einzustehen hat, wird
mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft,
wenn er es unterlässt, die Selbsttötung einer solchen Person, deren Entscheidungsfrei-
heit im Sinne von Abs. 1 erheblich eingeschränkt ist, abzuwenden. Die Strafe kann nach
§ 49 Abs. 1 gemildert werden.“

Selbstverständlich bedarf dieser Vorschlag noch der eingehenden kritischen Dis-


kussion. Schön wäre es, wenn Reinhard Merkel sich mit seiner Sachkunde und sei-
nem rechtsethischen Engagement daran beteiligen könnte!
Verhältnismäßigkeit und Kompromisse
am Beispiel des deutschen Abtreibungsgesetzes1
Von Véronique Zanetti

I. Einleitung
Bekanntlich geraten individuelle Rechte, vor allem Grundrechte, gelegentlich in
Konflikt mit anderen Rechten oder einem öffentlichen Gut. In solchen Fällen erwar-
ten wir von Richtern und Politikern, die an Rechtsprechungsverfahren beteiligt sind,
dass sie eine Abwägung vornehmen. Diese Abwägung soll darauf achten, dass die
Vorteile durch Erfüllung des verfolgten Ziels die dabei entstehenden Verluste für
die beteiligten Parteien überwiegen. Juristen sprechen mit Blick auf diesen Abwä-
gungsprozess vom Verhältnismäßigkeitsprinzip. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip
bietet ein Instrument, um herauszufinden, ob Zwangsmaßnahmen durch die staatli-
che Gesetzgebung gerechtfertigt sind. Im Prinzip sind sie genau dann gerechtfertigt,
wenn erstens die erhofften Vorteile bezüglich des öffentlichen Guts oder konkurrie-
renden Rechts die Nachteile seitens des verletzten Rechtes überwiegen und wenn
zweitens die Verletzung des jeweiligen Rechts als legitim angesehen wird.
Ich möchte im Folgenden die These verteidigen, dass der oben genannte Abwä-
gungsprozess in einigen Fällen dem der Kompromissfindung ähnelt. Genauer gesagt,
der Kompromiss stellt einen besonderen Fall von Verhältnismäßigkeitsabwägungen
dar, die in die konkrete Aushandlung eines Kompromisses eingehen. Ich habe schon
angedeutet, dass Richter und Politiker, die an Rechtssprechungsverfahren beteiligt
sind, abwägen müssen, ob das öffentliche Ziel, das mit dem Staatshandeln verfolgt
wird, die Auswirkungen auf die Rechte von Individuen übertrumpft. Hierbei treten
unweigerlich Konflikte zwischen verschiedenen Rechten auf, wie auch solche zwi-
schen individuellen Rechten und öffentlichen Gütern. Konfligierende Rechte mitein-
ander zu versöhnen, gehört zum klassischen Arbeitsbereich der Legislative. Aller-
dings sind in einigen Fällen Kompromisse unausweichlich, nämlich immer dort,
wo die Rechte beider Seiten nicht miteinander zu versöhnen sind und/oder die Erfor-
dernisse des Verhältnismäßigkeitskalküls nicht gänzlich erfüllt werden können.

1
Dieser Text übernimmt Teile einer englischen Fassung, die im Journal of Moral Philo-
sophy Ende 2019 erscheinen soll. Der vorliegende Text unterscheidet sich allerdings insge-
samt wesentlich von dieser Version. Ich danke Valerij Zisman für seine wertvolle Hilfe bei der
deutschen Übersetzung.
1142 Véronique Zanetti

Rechtsexperten, insbesondere Verfassungsrechtler, setzen darauf, dass das Prü-


fungsverfahren zu einer Lösung führen wird, die mit den Grundrechten verträglich
ist und mit der beide Parteien zufrieden sind.2 Das Vertrauen in dieses Verfahren er-
scheint allerdings überstürzt. Besonders wenn moralische Werte und Normen auf
dem Spiel stehen, kann es zwar vorkommen, dass die Rechtsexperten sich auf
einen gemeinsamen Nenner einigen können, dass dieser aber den Wertvorstellungen
nicht entspricht, an denen sie weiterhin festhalten. Die aufkommende Diskrepanz,
die sich daraus ergibt, dass man sich in einigen Fällen für einen gemeinsamen Nenner
X entscheidet, obgleich man vom Wert Y überzeugt ist, ist das wesentliche Merkmal
des Kompromisses. Kompromisse treten tatsächlich an die Stelle einer optimalen Lö-
sung, die sich unter gegebenen Verhältnissen nicht durchsetzen ließ. Sie zeichnen
sich demnach durch einen Verlust aus: man möchte ein Ziel erreichen, von dem
man denkt, es wäre wünschenswert, gibt sich jedoch mit weniger zufrieden, als
mit dem, was man für richtig oder berechtigt hält. Zum Wesen des Kompromisses
gehört allerdings, dass jeder Beteiligte bei seinen Präferenzen und den Grundsätzen
bleibt, die er verteidigt.
Die Verhältnismäßigkeitsabwägung führt in drei Arten von Fällen zu Kompromis-
sen.
(1) In den Fällen, in denen die nach reiflicher Abwägung erreichte Lösung gemäß
den eigenen Prinzipien eine zweitbeste Lösung darstellt, die aber unter den vor-
herrschenden Umständen als bestmögliche angesehen wird. Hierbei wird von
den entscheidenden Autoritäten erwartet, dass sie eine Rechtsprechung unter-
stützen, die sie für unangemessen halten würden, wenn den Forderungen beider
Parteien bei Unterstellung ihrer Legitimität nachgekommen werden könnte.
(2) In den Fällen, in denen versucht wird, Elemente aus zwei verschiedenen mora-
lischen Theorien, wie der deontologischen und der utilitaristischen, miteinander
zu verbinden, um dabei die Mängel der jeweiligen Theorie abzuschwächen.
(3) In den Fällen, in denen es nach Austausch von Argumenten zu einem vernünf-
tigen Dissens kommt. Uneinigkeit bezüglich Recht und Gerechtigkeit ist Kern-
bestandteil sowohl der Normenkontrolle als auch der Gesetzgebung – daher be-
darf es einer Methode, um Lösungen für solche Uneinigkeiten zu finden. Hier ist
ein Abstimmungsverfahren die klassische Methode, die zudem als Paradigma
eines fairen demokratischen Verfahrens gilt. Sie wird deswegen als faire demo-
kratische Prozedur angesehen, weil sie das Prinzip politischer Gleichheit respek-
tiert. Bei Mehrheitsentscheidungen gibt es allerdings nur einen Gewinner. Wenn
es um moralische Themen geht, muss die Minderheit eine Wahl akzeptieren, die
sie als unmoralisch oder vom geringeren moralischen Wert ansieht. Kompro-

2
Ein Beispiel aus Deutschland liefert Gertrude Lübbe-Wolffs Analyse der kulturellen
Unterschiede zwischen der deutschen und der angelsächsischen Tradition innerhalb des Ver-
fassungsgerichts (Lübbe-Wolff war selbst Richterin des Bundesverfassungsgerichts). Gertru-
de Lübbe-Wolff, „Cultures of Deliberation in Constitutional Courts“, in: P. Maraniello (Hrsg.),
Justicia Constitucional, 1 (Resistencia, Chaco: ConTexto, 2016), S. 37 – 52.
Verhältnismäßigkeit und Kompromisse 1143

misslösungen funktionieren ähnlich, da man sich auch hier auf eine Lösung ei-
nigt, die man eigentlich als moralisch falsch ansieht, die sich aber unter den ge-
gebenen Umständen als die relativ beste darstellt. Verglichen mit Mehrheitsent-
scheiden sind Kompromisse allerdings fairer, da sie von beiden Parteien verlan-
gen, Teile ihrer Forderungen zurückzustellen. Kompromisse resultieren aus
wechselseitigem Geben und Nehmen und können daher eine Mittelposition an-
bieten, der beide Parteien etwas abgewinnen können.
Im Folgenden möchte ich auf diese drei Fälle näher eingehen. Zuvor werde ich das
Verhältnismäßigkeitsprinzip etwas näher beleuchten. Ich werde dann untersuchen,
ob das Abwägungsverfahren gemäß des Verhältnismäßigkeitsprinzips mit dem Ver-
fahren der Kompromissfindung verglichen werden kann. In einem nächsten Schritt
werde ich untersuchen, ob das Verhältnismäßigkeitsprinzip selbst ein Kompromiss
zwischen zwei ethischen Grundeinstellungen ist. Zuletzt werde ich mich der inter-
subjektiven Kompromissfindung innerhalb von Verfassungsgerichten zuwenden.
Wenn sich Richter und Politiker uneinig darüber sind, auf welche Weise konfligie-
rende Rechte gegeneinander aufgewogen werden können, könnten sie einen Kom-
promiss anstreben, der das auf beiden Seiten der auseinanderstrebenden Interessen
Wesentliche zu wahren versucht. Bleibt es allerdings bei der Uneinigkeit, wird typi-
scherweise eine Entscheidung durch Mehrheitsvotum getroffen. Hier werde ich die
Frage stellen, ob das, was Dworkin interne Kompromisse („internal compromises“)
nennt – er meint solche Kompromisse, bei denen sich die Parteien auf halbem Wege
treffen –, selbst bei moralischen Fragen nicht eine Alternative zum Mehrheitsvotum
bieten kann, welches letztlich nur das Interesse einer Partei durchsetzt.

II. Verhältnismäßigkeit als eine Art von Kompromiss


Wir kennen das Verhältnismäßigkeitsprinzip aus der Ethik3 und der Theorie des
gerechten Krieges. Im Recht wird es angewandt, wenn Rechte, besonders Grund-

3
Es ist allerdings unklar, ob das Verhältnismäßigkeitsprinzip in Ethik und Recht gleich
verstanden wird. In der Ethik ist es vor allem in der katholischen Theologie ein sehr ein-
flussreiches moralisches Prinzip, welches ausschließlich das Prinzip der Doppelwirkung be-
trifft. Das Prinzip der Doppelwirkung betrifft Handlungen, bei denen mehr als eine moralisch
relevante Konsequenz aus einer Handlung folgt, d. h. sowohl moralisch erwünschte als auch
nicht-intendierte, moralisch problematische Folgen. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip führt
eine konsequentialistische Logik in das deontologische katholische Moraldenken ein, da es die
Richtigkeit einer moralischen Handlung überprüft, und zwar „by reference to the proportion of
non-moral goods and evils caused by the act. If the non-moral good is in due proportion or
relationship with the non-moral evil, then the act is justified, even if the non-moral evil is the
causal means for achieving the non-moral good.“ Christopher Kaczor, ,Introduction‘, in:
Kaczor (Hrsg.), Proportionalism. For and Against (Milwaukee: Marquette University Press,
2000, S. 9 – 19, S. 9 – 10). Im Fall der Moral betrifft das Prinzip die intendierten und nicht-
intendierten Folgen einer Handlung, während das Prinzip im Recht zum Einsatz kommt, um
die Einschränkung fundamentaler Rechte, oder aber auch die Einschränkung öffentlicher In-
1144 Véronique Zanetti

rechte, zugunsten anderer damit konfligierender Rechte oder öffentlicher Güter ein-
geschränkt werden. Wie bereits angesprochen, dient das Verhältnismäßigkeitsprin-
zip dazu, herauszufinden, ob die Einschränkung der Grundrechte gerechtfertigt
ist. Während das Verhältnismäßigkeitsprinzip eine lange Tradition im internationa-
len Recht hat, wurde es erst kürzlich im Bereich des öffentlichen Rechts und Straf-
rechts angewandt. In Deutschland hat das Verfassungsgericht erst 1963 die Anwen-
dung des Prinzips in allen Fällen anerkannt, in denen grundlegende Freiheiten ein-
geschränkt werden.4
Im Kern geht es bei dem Prinzip um die Lösung eines Konfliktes zwischen ver-
schiedenen Rechten oder Interessen.5 Folgende Kriterien müssen für die Rechtferti-
gung in Betracht gezogen werden: (1) der Eingriff ins Recht muss damit ein legitimes
Ziel verfolgen;6 (2) die Mittel zum Erreichen des Ziels müssen notwendig sein, d. h.
es darf keine Recht schonenderen Alternativmittel zur Erreichung des Ziels geben;
(3) in einem dritten Schritt benötigt die Abwägung „a balancing between the funda-
mental rights interests and the good in whose interest the right is limited“.7 Die Ein-
schränkung der Rechte soll ,angemessen‘ und ,zumutbar‘ sein.8 Ein Gesetz ist „un-
angemessen“, wenn es die fundamentalen Rechte von Personen zu stark einschränkt
oder zu wenig aufbietet, um diese zu schützen. Es ist ,unzumutbar‘, wenn man nicht
davon ausgehen kann, dass die betroffene Person diese Einschränkung akzeptieren
könnte. Ich komme auf diese letzte Qualifikation gleich zurück. Die Entscheidung,
ob ein Gesetz die Richtlinien erfüllt, ist dem Verfassungsgericht überlassen.
Die Verhältnismäßigkeitsabwägung hat zwei Herausforderungen zu parieren. Die
erste ist, dass Richter und Politiker, die am Entscheidungsprozess beteiligt sind, es
meistens mit Gütern, Werten oder Optionen zu tun haben, die nicht quantifizierbar
sind. Gerade wenn man es im Bereich des öffentlichen Rechts mit solchen nicht-
quantifizierbaren Werten zu tun hat, wird die Rechtfertigung für die Einschränkung
von Rechten dadurch erschwert, dass sich die Gewinne und Verluste der streitenden

teressen, gegeneinander abzuwägen. Zukünftige Forschung sollte die Parallelen und Unter-
schiede zwischen der ethischen und juristischen Perspektive weiter beleuchten.
4
Siehe Dieter Grimm, „Proportionality in Canadian and German Constitutional Juris-
prudence“, University of Toronto Law Journal 57 (2007), S. 383 – 398, S. 385.
5
Siehe Kai Möller, „Proportionality: Challenging the Critics“, International Journal of
Constitutional Law 10 (2012), S. 709 – 731, S. 711.
6
Für das deutsche Verfassungsgericht ist ein Ziel genau dann gerechtfertigt, wenn es nicht
von der Verfassung verboten wird. Die Vereinbarkeit mit der Verfassung ist die Grundbedin-
gung für die Erfüllung der Verhältnismäßigkeitsabwägung. Siehe Grimm, „Proportionality in
Canadian and German Constitutional Jurisprudence“, S. 388 ff.
7
Grimm: „Proportionality in Canadian and German Constitutional Jurisprudence“,
S. 387 ff. Siehe auch Gertrude Lübbe-Wolff: „The Principle of Proportionality in the Case-
Law of the German Federal Constitutional Court“, Human Rights Law Journal, 34/1 – 6
(2014), S. 12 – 17.
8
Diese Unterscheidung wird von Gertrude Lübbe-Wolff als Übersetzung von „adequate“
vorgeschlagen: „the person in question may reasonably be expected to bear it [the prejudice]“.
Ebd., S. 13.
Verhältnismäßigkeit und Kompromisse 1145

Parteien nicht gegeneinander aufrechnen lassen. Als Beispiel hierfür kann man die
viel diskutierte Entscheidung über illegale Immigration betrachten. Die Europäische
Menschenrechts-Konvention garantiert ein Recht auf Respekt für Privat- und Fami-
lienleben.9 Wenn Richter darüber entscheiden, ob ein Immigrant und dessen Familie
abgeschoben werden dürfen, müssen sie einschätzen, ob die Folgen der Abschiebung
für die Familie das öffentliche Ziel, welches mit der Abschiebung generell verfolgt
wird, überwiegen. Dann aber stellt sich das Problem, dass Richter kein Werkzeug zur
Hand haben, die Gewinne und Verluste auf beiden Seiten der Interessensträger zu
quantifizieren. Ähnlich kommt es auch bei Kompromissen darauf an, dass Güter aus-
tauschbar sind und dass zwischen verschiedenen Objekten Ausgleiche möglich sind.
Wenn wir nach der Fairness von Kompromissen fragen, denken wir gewöhnlich dar-
über nach, ob die beiderseits eingegangenen Zugeständnisse äquivalent sind. Sollte
einer mehr als der andere geben, so halten wir den Kompromiss für unfair. Um über-
haupt von fairen Kompromissen sprechen zu können, ist es daher notwendig, die re-
levanten Alternativen irgendwie miteinander vergleichen zu können. Das ist enthal-
ten in der Formulierung „sich auf halbem Wege – oder in der Mitte – treffen“ („split-
ting the difference“)10. Kompromisse gelten in diesem Sinne als fair, wenn die ge-
wählte Alternative zwar nicht dem Ideal beider Parteien entspricht, aber doch
beide Parteien zu gleich gewichtigen Abstrichen vom Ideal verpflichtet.
Nimmt man an, dass Güter wie Rechte generell nicht gegeneinander abzuwägen
sind, wird die Idee der Proportionalität und des fairen Kompromisses fast unmög-
lich.11 Ich betone „fast“, da Inkommensurabilität nicht notwendigerweise alle For-
men der Kompensation oder des Kompromisses ausschließt. Selbst wenn keine
Summe Geld den Verlust für den ausgewiesenen Immigranten und dessen Familie
kompensieren kann, nach vielen Jahren das Land verlassen zu müssen, so kann
der Immigrant es dennoch vorziehen, nicht mit leeren Händen auszugehen und
eine Kompensation zu akzeptieren. Dadurch erhält allerdings das Lösungsangebot
eine pragmatische Dimension; man einigt sich auf eine Lösung, von der man aus-
geht, dass sie zumutbar ist.

9
European Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, 4
November 1950, ETS 5, („European Convention“), Article 8. Zitiert nach: Timothy Endicott,
„Proportionality and Incommensurability“, University of Oxford Legal Research Paper Series,
40/2012 (2013). Elektronische Kopie heruntergeladen im Februar 2017: http://ssrn.com/ab
stract=2086622.
10
Martin Benjamin, Splitting the Difference, Compromise and Integrity in Ethics and
Politics, Kansas 1990.
11
Siehe Elisabeth Anderson, „Practical Reason and Incommensurable Goods“, in:
R. Chang (Hrsg.), Incommensurability, Incomparability, and Practical Reason (Cambridge,
London: CUP 1997), S. 90 – 109). Außerdem Steven Lukes, „Comparing the Incomparable“,
in: Chang (Hrsg.), Incommensurability, Incomparability, and Practical, S. 184 – 195, S. 194.
Lukes schlägt vor, dass wir die Werte, die wir als ,heilig‘ ansehen, dadurch schützen, dass wir
sie als inkommensurabel betrachten. Siehe auch Avishai Margalit, On Compromise and Rotten
Compromises (Princeton, Oxford: Princeton University Press, 2010), S. 24 ff.
1146 Véronique Zanetti

Die zweite Herausforderung besteht darin, dass in einigen Fällen der betroffenen
Person keine Kompensation für die Verluste und/oder keine Rechtfertigung für die
Einschränkung ihrer Rechte angeboten werden kann (z. B., weil die Person gestorben
ist).
Diese Schwierigkeit hat Reinhard Merkel im Kontext der Theorie des gerechten
Kriegs, des Luftsicherheitsgesetzes und der Gesetzgebung zum „embryonic research
on human embryos“ analysiert.12 All diese Fälle haben gemein, dass es seitens des
Rechts einer Rechtfertigung für die radikale Einschränkung von Grundrechten be-
darf, die nicht gegeben werden kann, da die Einschränkung des Rechts den Tod
der betroffenen Person bedeutet. Ein Paradebeispiel für das Verhältnismäßigkeits-
prinzip und dessen Probleme ist die Rechtfertigung der Tötung Unschuldiger in
der Theorie des gerechten Krieges. Ein Kernbestandteil der Theorie des gerechten
Krieges (und der Genfer Konvention) ist das Diskriminierungsprinzip, welches die
gezielte Tötung von Zivilisten im Krieg verbietet. Da dieses Prinzip allerdings
nicht vor dem unabsichtlichen Töten von Zivilisten während des Gefechts schützt,
muss es durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip erweitert werden. Dieses soll heraus-
finden helfen, ob die erhofften Vorteile bezüglich des angestrebten Ziels die Nach-
teile seitens des verletzten Rechtes überwiegen, vorausgesetzt, die Handlung ist le-
gitim und die Rechtsverletzung steht in angemessenem Verhältnis zum Ziel. Militä-
rische Gefechte mit Zivilisten unter den Getöteten können mithin rechtens sein, wenn
diese mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip konform gehen. Und genau hier kommt
das oben genannte Problem ins Spiel. Für die Erfüllung des Prinzips müsste gegen-
über der betroffenen Partei gerechtfertigt werden, dass die Einschränkung ihrer
Rechte angemessen ist. Sie ist aber nur dann angemessen, wenn die Einschränkung
für alle akzeptierbar wäre, allen voran für die Betroffenen. Das Problem ist aller-
dings, dass, „[w]as immer aus einem tödlichen Eingriff als Vorteil erwachsen
mag, […] sich trivialerweise nur zugunsten der Überlebenden ergeben [kann]. Des-
halb taugt es dem Getöteten gegenüber a limine nicht zur Rechtfertigung. Denn er hat
nichts davon.“13
Aus demselben Grund ist auch die Kompensation für den zugefügten Schaden
nicht möglich, denn der getöteten Person gegenüber kann keine Kompensation ge-
leistet werden. Man könnte aus diesen begrifflichen Schwierigkeiten schließen,
dass Angriffe mit möglicher Gefährdung von Zivilisten gar nicht gerechtfertigt wer-

12
Reinhard Merkel, „Die ,kollaterale‘ Tötung von Zivilisten im Krieg. Rechtsethische
Grundlagen und Grenzen einer prekären Erlaubnis des humanitären Völkerrechts“, in: Juristen
Zeitung, 23 (67), 2012, 1137 – 1145; ders., 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und warum
darf der Staat töten? Über taugliche und untaugliche „Prinzipien zur Lösung eines Grund-
problems des Rechts“, in: Juristen Zeitung 8/62, 2007, 373 – 424; ders., Forschungsobjekt
Embryo. Verfassungsrechtliche und ethische Grundlagen der Forschung an menschlichen
embryonalen Stammzellen. (München: dtv, 2002). Siehe auch Reinhard Merkel, „Rechte für
Embryonen“, in: C. Geyer (Hrsg.), Biopolitik. Die Positionen (Frankfurt/Main: Suhrkamp,
2001), S. 51 – 72.
13
Reinhard Merkel, „Die ,kollaterale‘ Tötung von Zivilisten im Krieg“, S. 1139.
Verhältnismäßigkeit und Kompromisse 1147

den können. Dennoch erkennt das Recht solche Handlungen auf Grundlage der Ver-
hältnismäßigkeitsabwägung als zulässig an. Der eigentliche Grund hierfür ist, dass,
wenn man die Probleme der Verhältnismäßigkeitsabwägung in solchen Fällen nicht
anerkennen würde, jeder Fall von unabsichtlicher Tötung im Krieg als ungerechtfer-
tigt angesehen werden müsste. Das würde dazu führen, dass weder die Selbstvertei-
digung im Krieg noch humanitäre Interventionen gerechtfertigt werden können.
Das Verhältnismäßigkeitsprinzip in solchen Fällen dennoch anzuwenden, so
meine These, stellt eine Kompromisslösung dar. Auf theoretischer Ebene kann das
Recht auf Leben nicht berechtigterweise eingeschränkt werden. Da allerdings bei
den derzeit ausdenkbaren Kriegsszenarien das Töten Unschuldiger unvermeidbar
ist, würde ein Verbot dazu führen, dass jegliche Art des Krieges verboten werden
müsste. Um den Schaden dort einzuschränken, wo er unvermeidbar ist, bietet die
Suche nach einer Rechtfertigung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips
eine zweitbeste Lösung. Nichtsdestoweniger kann der Schaden den Opfern guten Ge-
wissen nicht als ,akzeptabel‘ oder ,angemessen‘ verkauft werden. Das Töten bleibt
ohne Rechtfertigung; es wird, wenn überhaupt, bloß entschuldigt. Ich nenne diese
Lösung eine Kompromisslösung, weil sie nicht diejenige ist, die man für richtig
hält. Man hält die Einschränkung der Rechte der betroffenen Person sogar für falsch,
unter den gegebenen Umständen jedoch für unausweichlich und angemessen.
An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob das Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht
selbst eine Kompromisslösung ist – und zwar in dem Sinne, dass es versucht, zwei
entgegengesetzte ethische Doktrinen miteinander zu versöhnen, ohne dass deren
Grundelemente verloren gehen. Der Kompromiss verbände demnach die deontolo-
gische Perspektive, wonach Rechte von besonderer Bedeutung sind und ein schweres
,Gewicht‘ bei ethischen Abwägungen tragen sollten, mit der utilitaristischen Per-
spektive, dass dieses Gewicht in manchen Fällen von den Konsequenzen der relevan-
ten Handlungen übertrumpft wird.

III. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Kompromiss


Das Problem, das ich unter die Lupe nehmen will, kann so zugespitzt werden:
Wenn wir abschätzen wollen, ob die Kosten einer bestimmten Handlung den Zielen
der Handlung gegenüber angemessen sind, dann obliegt die Verhältnismäßigkeitsab-
wägung einem konsequentialistischen Kosten-Nutzen-Kalkül. Der Metapher des
Abwägens von angemessenen Kosten liegt die konsequentialistische Perspektive
einer Nutzenmaximierung zugrunde. Auf der anderen Seite werden Verfassungsrech-
te in der deontologischen Begründung als eine Art von ’Mauern’ interpretiert, die den
Einzelnen vor zwingenden Auswirkungen staatlicher Eingriffe schützen. Sie bieten
Gründe für die Ablehnung der Berufung auf Effizienz, wenn die Nutzenmaximierung
von öffentlichen Interessen mit Grundrechten konfligiert.
Diese Perspektive kann man besonders am Deutschen Grundgesetz illustrieren.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ lautet der erste Satz in Artikel I der deut-
1148 Véronique Zanetti

schen Verfassung. Gemäß dem Artikel fußen alle Grundrechte auf dem Prinzip und
durchdringen daher die ganze gesetzliche Ordnung: „[T]hey are not limited to ver-
tical application but also influence private law relations and function as guidelines for
the interpretation of ordinary law“.14
Ungeachtet der Schwierigkeit, ein angemessenes Gleichgewicht zu finden, wenn
Recht oder öffentliche Ordnung bei wesentlichen Entscheidungen auf unvergleich-
liche Werte stößt, besteht das schwerwiegende Problem darin, dass die Logik der Ver-
hältnismäßigkeit die Grundrechte gegen Nützlichkeitsüberlegungen abwägt und ent-
sprechend einschränkt, solange diese in angemessener Relation zu dem verfolgten
Ziel stehen.
Nüchtern betrachtet gelten Grundrechte allerdings nie absolut. Nur sehr wenige
Rechte sollen eine kategorische Garantie bieten. Ein Beispiel für solch ein tatsächlich
kategorisch gemeintes Recht ist das Folterverbot aus der Europäischen Menschen-
rechtskonvention, die unter keinen Umständen Ausnahmen zulässt. Im Regelfall ba-
sieren Rechte jedoch auf gewichtigen Gründen, die in einigen Fällen von anderen
Gründen überwogen werden können. So kommt es unweigerlich zu Konflikten zwi-
schen Rechten und öffentlichen Gütern, wenn Richter beim Versuch, angesichts be-
grenzter Ressourcen unterschiedliche Pflichten gegeneinander abzuwägen, Abzüge
auf der einen oder anderen Seite machen müssen. Wenn diese Verfahren nicht will-
kürlich sein sollen, bedarf es einer verhältnismäßigen Abwägung.
Das deutsche Abtreibungsgesetz bietet ein gutes Beispiel für das Problem, das ich
vor Augen habe. Das Gesetz ist gespalten zwischen dem kantisch inspirierten Ver-
ständnis der Menschenwürde an erster Stelle des Grundgesetzes,15 und dem politi-
schen Gebot, die Autonomie derer zu respektieren, die eine Schwangerschaft abbre-
chen wollen. Der Abwägungsprozess ist nichts anderes als ein Versuch, dort eine ak-
zeptable Lösung zu finden, wo weder ein Konsens noch eine gemeinsame Basis ge-
funden werden können und wo außerdem der Partei keine Kompensation erstattet
werden kann, deren Recht eingeschränkt wird. Das Ergebnis ist dann eine Kompro-
misslösung.
In Kürze: In Deutschland gilt, dass ein Schwangerschaftsabbruch gemäß § 218
Strafgesetzbuch (StGB) grundsätzlich für alle Beteiligten strafbar ist. Ein Schwan-
gerschaftsabbruch ist nicht strafbar, wenn er nach einer Beratung durch eine aner-
kannte Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle von einem Arzt oder einer Ärztin
vorgenommen wird und seit der Empfängnis nicht mehr als 12 Wochen verstrichen
sind.16

14
Dieter Grimm, „Proportionality in Canadian and German Constitutional Jurisprudence“,
S. 387.
15
Siehe hierfür Horst Dreiers Kommentar zum Art. 1. In: Horst Dreier (Hrsg.), Grund-
gesetz. Kommentar, B. I, Tübingen: Mohr Siebeck, 2007, S. 130 ff.
16
Straflos bleibt der Schwangerschaftsabbruch außerdem auch, wenn eine medizinische
oder kriminologische Indikation vorliegt: Wenn für die Schwangere Lebensgefahr besteht
Verhältnismäßigkeit und Kompromisse 1149

Das Gesetz ist ein Kompromissgesetz: Die Fristenlösung bietet einen Kompro-
miss hinsichtlich der Bedingungen, unter denen Abtreibung zu ahnden ist: Der Em-
bryo kann bis zur 12. Woche, aber nicht später, zerstört werden. Der Kompromiss
findet aber auf einer weiteren Ebene statt: Eine liberal eingestellte Person, die glaubt,
dass Abtreibungen private Angelegenheiten sind und nur von der betroffenen Frau
und/oder den betroffenen Eltern entschieden werden sollten, muss hier mit der Zeit-
beschränkung Zugeständnisse machen. Aber auch eine konservativ eingestellte Per-
son, die Abtreibungen kategorisch ablehnt, ist zu Zugeständnissen gezwungen
(gehen wir einfachheitshalber von diesen zwei entgegengesetzten normativen Posi-
tionen aus: Pro-life und radikaler Liberalismus). Für die konservative Person sind die
Zugeständnisse zwar größer, denn aus ihrer Sicht geht es um das Recht auf Leben und
nicht bloß um das Recht auf Autonomie. Dennoch sollte auch sie diese Kompromiss-
lösung aus konsequentialistischer Sicht vorziehen. Tatsächlich würde ein radikales
Verbot in Deutschland aller Wahrscheinlichkeit nach dazu führen, dass Frauen
eine Abtreibung im Ausland vornehmen lassen würden, und dies womöglich
sogar unter schlechteren hygienischen und medizinischen Bedingungen als im eige-
nen Land.
Die von vielen als ,dritter Weg‘ gepriesene Fristenlösung wurde jedoch von an-
deren als rechtlich inkonsistent verurteilt.17 Der Kern des Problems liegt in der Aus-
legung der Erweiterung von Artikel 1 § 1 (Menschenwürde) und Artikel 2 § 2
(Grundrecht auf Leben) der Verfassung. Wenn dem ungeborenen Kind die gleichen
Grundrechte auf Leben und Würde zugestanden werden wie dem geborenen Kind,
dann muss Artikel 218a für verfassungswidrig erklärt werden.18 Das Verfassungsge-
richt hat zweimal Stellung bezogen. In der Interpretation von 1975 wird ausdrücklich
darauf hingewiesen: „Das Leben, das sich im Schoß der Mutter entwickelt, ist ein
unabhängiger Rechtswert, der den Schutz der Verfassung genießt.“ Die Entschei-
dung von 1993 bestätigt: „Das Grundgesetz verlangt vom Staat den Schutz des
menschlichen Lebens, auch des Ungeborenen. Selbst das ungeborene menschliche
Leben genießt die Würde des Menschen.“ Beide Urteile unterstreichen nicht nur
die Würde des Embryos, sondern betonen auch die positive Pflicht des Staats auf
Schutz von ungeborenem Leben. Der Rechtsschutz gilt für die gesamte Zeit der
Schwangerschaft, und zwar gegenüber allen, einschließlich der Mutter. Gleichzeitig
jedoch garantiert die Rechtsprechung Frauen, die abtreiben wollen, eine „hinreichen-
de Unterstützung“ und die Bereitstellung ausreichender klinischer Einrichtungen,
um die Abtreibung unter medizinischer Aufsicht durchführen zu lassen.19 Bedenkt

oder wenn die Schwangerschaft auf einem Sexualdelikt, also zum Beispiel einer Vergewalti-
gung, beruht (Indikationen nach § 218a Abs. 2 und 3 StGB).
17
Siehe Reinhard Merkel, Forschungsobjekt Embryo. Siehe auch Merkel, „Rechte für
Embryonen“.
18
Siehe Reinhard Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 65 ff.
19
„Ein ausreichendes und flächendeckendes Angebot sowohl ambulanter als auch statio-
närer Einrichtungen zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen sicherzustellen“.
BVerfGe 88, 328 f. Siehe auch Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 65 – 66.
1150 Véronique Zanetti

man, dass die ausdrückliche und offizielle Beihilfe zur rechtswidrigen Tat selbst
rechtswidrig ist, führt das zu dem Widerspruch, dass der Staat von Rechts wegen
zum Unrecht verpflichtet ist.20 Trotzdem ist es schwer zu bestreiten, dass die Kom-
promisslösung einen annehmbaren, pragmatischen Ausweg aus einem ansonsten un-
lösbaren Konflikt weist.
Fassen wir zusammen. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip selbst ist ein Kompro-
miss, da es Elemente aus sowohl der deontologischen als auch der teleologischen
Ethik zusammenbringt, um dabei die Auswirkungen auf die jeweiligen Standpunkte
zu lindern. Richter und am Entscheidungsprozess beteiligte Politiker müssen versu-
chen, diese beiden Perspektiven miteinander zu versöhnen, in dem Wissen, dass es
keine gemeinsame Basis gibt, an der die Abwägung ihr Maß findet. „Any legisla-
tion“, schreibt Griffin, „is bound to be a messy compromise with human nature
and social needs. But it is not that behind the legislator’s messy deliberation there
is the moralist’s purer thought. The two deliberations will be virtually identical:
the same problems, the same compromises, the same vagueness and incomplete-
ness“.21 Kompromisse sind ,unsauber‘ (,messy‘), da es kein übergeordnetes morali-
sches Prinzip gibt, welches die Entscheidung in einem konkreten und in allen ähn-
lichen Fällen leiten kann. Wir halten uns beispielsweise bei Notwehr oder im Kriegs-
fall nur so lange an die Norm, keine Unschuldigen zu töten, bis wir eine zufrieden-
stellende Rechtfertigung finden, die eine Ausnahme erlaubt.22 Allerdings ist es in den
meisten Fällen nicht eindeutig, ob ein Recht im Falle eines Konfliktes eingeschränkt
werden darf. Wir müssen Kompromisse akzeptieren, da sich der Abwägungsprozess
nur langsam an eine Einigung zwischen den beiden Rechtfertigungslogiken heran-
tasten kann, indem er versucht, Elemente aus beiden miteinander zu verbinden
und gleichzeitig die Auswirkungen auf beide Theorien zu mindern.
Man könnte einwenden, dass, obgleich Richter sich bei ihrer Entscheidungsfin-
dung des Verhältnismäßigkeitsprinzips bedienen, diese doch keinen Prozess der
Kompromissfindung darstellt. Und zwar deswegen nicht, weil Richter nicht darum
bemüht sind, die Parteien auf halbem Wege sich treffen zu lassen. Sie müssen viel-
mehr feststellen, was der besser legitimierte von zwei im Konflikt stehenden Ansprü-
chen ist, und werden bei dieser Entscheidung von Gerechtigkeitsüberlegungen gelei-
tet, die sich gleichermaßen aufs Bürgerliche Gesetzbuch wie auf die Verfassung stüt-
zen. Bei der Rechtsprechung geht es um die Feststellung, was jeder Partei nach dem
Gesetz zukommt. Kompromisse hingegen sind ergebnisoffene Prozesse, die von den
jeweiligen Verhandlungsstärken und -positionen abhängen. Hierbei ist es auch mög-
lich, dass das aus den Verhandlungen hervorgehende Ergebnis unannehmbar ist,

20
„Damit ist der selbstdestruktive Grundwiderspruch der Entscheidung fixiert: Eine
Rechtspflicht zum Unrecht ist normenlogisch unmöglich.“ Merkel, Forschungsobjekt Embryo,
S. 72.
21
James Griffin, „Incommensurability. What’s the Problem?“, in: Chang (Hrsg.), Incom-
mensurability, Incomparability, and Practical Reason, S. 35 – 51, S. 50.
22
James Griffin, „Incommensurability. What’s the Problem?“, S. 50.
Verhältnismäßigkeit und Kompromisse 1151

indem es etwa aus einer unzulässigen Rechtsauslegung hervorgeht oder der Verfas-
sung widerspricht.
Dies bringt mich zu meinem dritten Punkt. Wir sollten nicht unterschätzen, dass
Meinungsverschiedenheiten für das Recht wie auch für die Politik grundlegend sind.
Bereits auf der fundamentalsten Ebene, nämlich bei der Frage, was Rechte sind, wel-
che Rechte wir haben, und auf welcher Grundlage sie stehen, gibt es Meinungsver-
schiedenheiten. Und selbst wenn es einen groben Konsens über einige Grundrechte
gibt, streiten sich Philosophen und Rechtswissenschaftler darüber, was aus diesen
Grundrechten für die konkrete Anwendung folgt.23
Natürlich ist die Rechtsprechung – anders als unglücklicherweise oftmals die Po-
litik – kein Unternehmen, „in which each person tries to plant the flag of his convic-
tions over as large a domain of power or rules as possible“.24 Vielmehr geht es ihr um
die Abwägung von Gründen zur Entscheidung über private oder öffentliche Hand-
lungsvorschläge; und die soll das Streben der Gemeinschaft nach Gerechtigkeit wi-
derspiegeln. Dazu kommt öfters, dass Richter in ihrer Auslegung von Recht und Ver-
fassung nicht übereinstimmen. Hier kann das Ergebnis ihrer Abwägung dem Kom-
promiss ähneln, bei welchem man eine Handlungsoption akzeptiert, die nur als
zweitbeste Lösung angesehen wird. Somit entdecken wir eine dritte Art und
Weise, in der der Abwägungsprozess zwischen konkurrierenden Interessen und
Rechten der Kompromissfindung ähnelt.

IV. Kompromisse zwischen Richtern


Üblicherweise wird ein Kompromiss als Konfliktlösung einer Verhandlung zwi-
schen verschiedenen Parteien mit unterschiedlich starker Verhandlungsposition ver-
standen, die sich bereit erklären, weniger zu erreichen als die eigentlich angestrebten
Ziele. Sie sind bereit dazu, da es keine andere Lösung des Konflikts gibt und da ein
weiterführender Streit zwischen den Parteien womöglich zu noch schwerer annehm-
baren Konsequenzen führen würde, als es die Verluste durch Abstriche an eigenen
Interessen sind. Ein Kompromiss ist also dann erreicht, wenn beide Parteien trotz
ihres Bemühens, bloß die eigenen Interessen durchzusetzen, sich auf eine Ad-hoc-
Lösung einigen, die nicht genau diesen Interessen entspricht. Ein Kompromiss
setzt daher also immer voraus, dass die Parteien bereit sind, Teile ihrer Interessen
zurückzustellen, selbst da, wo die Zugeständnisse zwischen den Parteien ungleich
verteilt sind. Dennoch ändert keine der Parteien ihre ursprünglichen und eigentlichen
Überzeugungen; und die Kompromisslösung besteht als solche nur so lange, wie die
Gegenpartei an ihrer Option festhält, sie aber nicht völlig durchsetzt.
Manchmal fungieren Richter als „compromiser trimmers“, wie Cass Sunstein ar-
gumentiert. Dies ist besonders bei Gerichtshöfen mit mehreren Richtern der Fall, wo
23
Siehe Jeremy Waldron, Law and Disagreement (Oxford: OUP, 1999), S. 11 – 12.
24
Ronald Dworkin, Law’s Empire (Cambridge MA: Harvard UP, 1986), S. 211.
1152 Véronique Zanetti

moralische Überzeugungen bezüglich wichtiger Themen radikal auseinanderfallen


können. Cass Sunstein weist darauf hin, dass das Wort ,trimming‘ aus der Praxis
der ,Trimmer‘ aus dem siebzehnten Jahrhundert stammt, die dazu neigten, die Extre-
me abzulehnen und in heftigen sozialen Kontroversen Ideen von beiden Seiten auf-
zunehmen. Sunstein unterscheidet zwei Typen von Trimmern: einerseits die ,com-
promisers‘, die im Glauben, dass die mittlere Position die beste ist, versuchen, beiden
Seiten etwas zu geben, andererseits die ,preservers‘. Diese versuchen, das Wesent-
lichste und Wertvollste in den konkurrierenden Ansichten zu identifizieren und zu
bewahren.25 Von beiden Typen kann man sagen, dass sie um faire Kompromisse be-
müht sind, da sie sich zwischen den entgegengesetzten Polen bewegen und dabei
jeder Partei ihren angemessen Anteil zusprechen. In Fällen von Unsicherheit kann
es sogar klug sein, Extreme zu meiden: „A judge who is unsure might choose the
average position, on the ground that it is most likely to be right.“26 In allen Fällen
von ,trimming‘ sind Richter auf der Suche nach einem Kompromiss.
Man kann zwar einwenden, dass Richter sich nicht strategisch verhalten, sondern
ausschließlich um die beste Interpretation der Verfassung bemüht sind. Die Praxis
des ,Trimmens‘ sollte den Politikern überlassen bleiben. Aber politische Entschei-
dungen werden manchmal auf verfassungsrechtlicher Ebene angefochten, wie Sun-
stein richtig bemerkt. In diesen Fällen müssen Richter eine Entscheidung treffen, die
unter Umständen in Konflikt stehende Meinungen berücksichtigen muss.27 Sunstein
betont, das ,trimming‘ müsse jedoch nicht abschätzend betrachtet werden: „[I]n
many domains, including constitutional law, there are powerful arguments on behalf
of trimming, and [that] in both law and politics, trimming should be taken not as an
insult, but as a descriptive term for an approach that often has considerable appeal.“28
Ich möchte mich abschließend einem kontroverseren Punkt widmen. Wie bereits
betont, sollten wir die Tatsache der Uneinigkeit im Recht nicht unterschätzen. Die
Entscheidungen des Bundesgerichtshofs „are based on extensive, consensus-orient-
ed discussion. […] [W]herever views differ, extensive effort is made to find common
ground and get at a decision without separate opinions, and the normal result is con-
siderable convergence.“29 Dennoch können Richter bei der Auslegung des Rechts
auch nach dem Austausch von Argumenten verschiedener Meinung sein – besonders
dann, wenn moralische Überzeugungen auf dem Spiel stehen. „Judges vote when
they disagree and […] many important U.S. Surpreme Court cases are settled by a
vote of five to four among the Justices, even when the Court is reviewing legislation
and deciding whether to overturn the result of a majority vote among elected repre-

25
Cass Sunstein, „Trimming“, Harvard Law Review, 122/4 (2009), S. 1049 – 1094.
26
Cass Sunstein, „Trimming“, S. 1065 – 1066.
27
Cass Sunstein, „Trimming“, S. 1079.
28
Cass Sunstein, „Trimming“, S. 1053.
29
Gertrude Lübbe-Wolff, „Cultures of Deliberation in Constitutional Courts“, S. 40 – 41.
Verhältnismäßigkeit und Kompromisse 1153

sentatives.“30 Der Mehrheitsentscheid als Prinzip wird gerechtfertigt unter Bezug-


nahme auf politische Gleichheit. Auch der epistemische Vorteil wird oft als Begrün-
dung hervorgehoben, da man sich erhofft, dass die Mehrheit der Wahrheit oder einer
gut begründeten Position näherkommt. Man kann allerdings berechtigte Zweifel
daran haben, dass es irgendeine intrinsische Verbindung zwischen der Anzahl an
Meinungen einerseits und der Qualität der Entscheidungen andererseits gibt. Dies
ist besonders dann fraglich, wenn moralische Überzeugungen auf dem Spiel stehen.
In den Fällen, in denen Expertise überhaupt möglich ist, kann signifikanter Konsens
von Experten natürlich ein Indikator dafür sein, dass andere Meinungen mit guten
Gründen verworfen werden können. Es ist aber zweifelhaft, wie Waldron betont,
dass dieses epistemische Argument auf den Fall von knapper Mehrheit (5 zu 4 Stim-
men) angewandt werden kann.31
Neben dem Mehrheitsentscheid kommen auch andere Verfahrensweisen der Gel-
tungsbegründung in Frage, und auch sie lassen sich epistemisch stützen: so zum Bei-
spiel ein Prozedere, in welchem den Stimmen älterer und erfahrenerer Richter mehr
Gewicht verliehen wird. Oder aber man gibt den jüngeren Richtern mehr Stimmen,
weil deren Urteil eher am Puls der Zeit ist.32 Das Zählen von Stimmen führt allerdings
in jedem Fall zu einer Lösung, in der der Gewinner alles bekommt und der Verlierer
nichts. Das bedeutet, dass bei moralischen Themen die Minderheit gezwungen ist,
eine Lösung zu akzeptieren, die sie als unmoralisch ansieht. So müssen beispielswei-
se ProLife-Anhänger Gesetze zur Abtreibung oder Embryonenforschung akzeptie-
ren, obwohl sie glauben, dass diese grundsätzlich unmoralisch sind, da sie der Über-
zeugung sind, dass auch Embryonen Personen sind.
Angesichts dieser Probleme möchte ich die Frage stellen, ob wir überhaupt gute
Gründe haben, eine Kompromissfindung im Sinne des ,Sich-in-der Mitte-Treffens‘
zu verbieten.
Kompromisse haben einen schlechten Ruf und werden oft nur als Notlösungen
angesehen. Bei moralischen Fragen verlangen sie von uns Abstriche an unseren mo-
ralischen Überzeugungen. Bei sozialpolitischen Fragen erwarten wir, dass die Ent-
scheidung von Experten auf dem Gesetz und einem gründlichen Abwägungsprozess
beruht. Aber gerade in den Fällen, in denen Uneinigkeit selbst nach gründlicher Ab-
wägung zwischen Parteien besteht, kann ein Kompromiss als Mittel verteidigt wer-
den, um politische Konflikte zu domestizieren, und um das zu schützen, was jeder
Partei das Wichtigste ist. Es lohnt sich daher, unsere Neigung zur Abwertung von
Kompromissen in der Gesetzgebung zu prüfen und im Anschluss auf Samantha Bes-
son zu fragen: „How [can we] explain our hostility towards compromise of principle
within the law in the face of the widespread practice of bargaining and compromising

30
Jeremy Waldron, „Five to Four: Why Do Bare Majorities Rule on Courts?“, The Yale
Law Journal, 123 (2014), S. 1692 – 1729.
31
Jeremy Waldron, „Five to Four: Why Do Bare Majorities Rule on Courts?“, S. 1713.
32
Ronald Dworkin, Response. 90 B.U.L. Rev. 1059, 1086 (2010). Quoted in: Waldon,
„Five to Four: Why Do Bare Majorities Rule on Courts“, S. 1703.
1154 Véronique Zanetti

over matters of fact, interest and even, sometimes, of principle within the political
arena?“33

V. Checkerboard Statute und interne Kompromisse


Kompromisse werden in der philosophischen und juristischen Literatur weitge-
hend ignoriert. Es ist deshalb bemerkenswert, dass Ronald Dworkin ihnen in seinem
Buch Law’s Empire ein ganzes Kapitel eingeräumt hat.34
Dworkin unterscheidet zwischen internen und externen Kompromissen. Kompro-
misse sind extern, wenn sie nach einem unabhängigen Prinzip abgeschlossen wer-
den. Ein Beispiel, dessen sich David Luban35 bedient: In einer Bevölkerung vertritt
die eine Hälfte eine Gerechtigkeitsvorstellung im Sinne von „jedem nach seinen Be-
dürfnissen“, und die andere eine von „jedem nach der geleisteten Arbeit“. Jede Seite
lehnt die Ansicht der anderen vehement ab. Sie schließen folgenden Kompromiss:
Jedem nach seiner geleisteten Arbeit, es sei denn, diese reiche nicht für die grund-
legendsten Bedürfnisse. In diesem Fall werden diese durch Transferzahlungen ge-
währleistet. Jede Seite sieht den Kompromiss als Verstoß gegen das eigene Prinzip
gerechter Verteilung von Ressourcen an – und in diesem Sinne dann auch als unmo-
ralisch. Dennoch scheint der Kompromiss eine mittlere Position zwischen zwei sub-
stantiellen Forderungen zu markieren. Die daraus sich ergebende Ausnahme, indem
sie ein Existenzminimum festlegt, unter das Menschen nicht fallen dürfen, ist prin-
zipieller Natur, weil sie einen unabhängigen Gerechtigkeitsgrund annimmt, der je-
doch logisch mit dem Gesetz verbunden ist.
Im Gegensatz dazu ist ein interner Kompromiss nicht prinzipiengeleitet. Er ergibt
sich aus einer Verfahrensentscheidung, wenn selbst nach einem gründlichen Mei-
nungsaustausch zwischen den Parteien kein Konsens gefunden werden kann und
ein unüberbrückbarer Meinungskonflikt fortbesteht. Der interne Kompromiss bietet
eine salomonische Konfliktlösung, indem der Streit so geschlichtet wird, dass jede
Partei den gleichen Anteil zugeschlagen bekommt. Er spiegelt außerdem die völlige
Entscheidungsneutralität im Blick auf den strittigen Inhalt wider, da keine Parteinah-
me für die eine oder die andere Seite erfolgt. Die Sorge ist allerdings, dass das Er-
gebnis ein inkonsistentes Flickwerk von Gesetzen erzeugen könnte, die Dworkin
„Checkerboard“-Statuten nennt. Checkerboard-Statuten oder -Gesetze sind eine lo-
gisch defekte Art von Regeln, denen es, wie Dworkin sagt, an Integrität fehlt. Ihm
zufolge muss von einem Rechtssystem verlangt werden können, dass die Gesetze
mit einem „scheme of justice“ kongruieren.36
33
Samantha Besson, „Four arguments against compromising justice internally“, Oxford
Journal of Legal Studies 2003, 23, S. 211 – 241; S. 213.
34
Ronald Dworkin, Law’s Empire.
35
David Luban, „Bargaining and Compromise: Recent Work on Negotiation and Informal
Justice“, Philosophy and Public Affairs, 14/4 (1985), S. 397 – 416, S. 415.
36
Ronald Dworkin, Law’s Empire, S. 179.
Verhältnismäßigkeit und Kompromisse 1155

Auf der einen Seite sind interne Kompromisse fair: Indem sie zulassen, dass sich
konkurrierende Vorstellungen in den Regeln widerspiegeln, stehen sie im Einklang
mit unserer Überzeugung, dass die Gesetzgebung in moralischen Fragen nicht nur die
Durchsetzung des Willens der zahlenmäßigen Mehrheit betreiben sollte.37 Auf der
anderen Seite – das ist zumindest Dworkins Vorwurf – scheinen sie ungerecht zu
sein, weil sie zufällig sind.
Was ist aber so verdammenswürdig an internen Kompromissen, und warum zie-
hen wir eine Mehrheitsentscheidung vor, auch wenn wir keine wirkliche Chance
haben, das Recht in die von uns gewünschte Richtung zu beeinflussen?
Stellen wir uns vor, sagt Dworkin, dass, weil die Menschen in Alabama uneins
über Rassendiskriminierung sind, die Regierung ein Gesetz verabschiedet, das Dis-
kriminierung in Restaurants, aber nicht in Bussen erlaubt. Stellen wir uns außerdem
vor, dass die Gesetzgebung die Abtreibung nur für schwangere Frauen verbietet, die
in geraden Jahren geboren wurden, da etwa 50 % der deutschen Bevölkerung für die
Kriminalisierung der Abtreibung sind und die anderen 50 % entschieden dagegen
sind. Frauen, die in ungeraden Jahren geboren wurden, können dagegen legal Abtrei-
bungen vornehmen. Beide Lösungen haben gemein, dass sie jeder Seite um der
Gleichheit willen gleich viel geben. Dabei wird eine moralische Angelegenheit
auf einen rein quantitativen Standard reduziert, wodurch die Ausrichtung auf die
Substanz verloren geht.
Warum würden wir ein solches Gesetz in beiden Fällen intuitiv als lausig ableh-
nen, obwohl es die extreme Spaltung der öffentlichen Meinung widerspiegelt und
damit berücksichtigt? Wie im Fall einer Verkehrsregulierung bei zu hoher Umwelt-
belastung in einer Stadt, bei der an bestimmten Tagen nur Autos mit geraden Zahlen
an den Nummernschildern fahren dürfen, schlägt der Kompromiss ein faires Vertei-
lungsprinzip für einen bestimmten Gegenstand vor, als ob es sich um eine quantifi-
zierbare Ware handelte, die gleichmäßig verteilt werden müsse. Menschen sind je-
doch keine Objekte, und sie erwarten zu Recht eine Rechtfertigung, wenn das Gesetz
ihnen verbietet, etwas zu tun, was sie tun wollen. Checkboard-Gesetze bieten nicht
die erforderliche rationale Rechtfertigung, gerade weil sie neutral sind und nicht auf
einem Prinzip beruhen.
Sich auf keine Seite zu schlagen, muss allerdings nicht automatisch als Ableh-
nung von Prinzipien verstanden werden. Das Verfahren kann dem Wunsch nach Neu-
tralität oder einem allgemeinen Unparteilichkeitsgebot entsprechen, das uns zum Re-
spekt vor Unterschieden oder zur Toleranz anhält, nach der Regel: „Wenn Konflikte
grundsätzlich unlösbar sind, muss eine Teillösung gefunden werden.“ Ein solches
Verfahren, könnte man sagen, nimmt die Meinungsverschiedenheiten zwischen
den Positionen ernst, indem es sich der Parteinahme in der Debatte enthält.
Verfahrensgerechtigkeit ist jedoch keine hinreichende Voraussetzung für ein ge-
rechtes Ergebnis. Um akzeptabel zu sein, so Dworkin, sollte ein Kompromiss auf
37
Ronald Dworkin, Law’s Empire, S. 178.
1156 Véronique Zanetti

einer gemeinsamen Gerechtigkeitskonzeption beruhen. „If there must be a compro-


mise because people are divided about justice, then the compromise must be external,
not internal; it must be a compromise about which scheme of justice to adopt rather
than a compromised scheme of justice.“38 Ungeachtet der Frage, ob ein derartiger
Kompromiss noch als solcher bezeichnet werden darf,39 kann jedoch nicht ausge-
schlossen werden, dass es auch unter Experten keine gemeinsame Meinung darüber
gibt, welches Gerechtigkeitsschema in Anwendung kommen soll.
Dworkin vertritt klarerweise eine monistische Ansicht der Moral, obwohl er sieht,
dass die normativen Vorstellungen der Menschen pluralistisch sind, und obwohl er
wiederholt betont, diese Vielstimmigkeit müsse ernst genommen werden. Werteplu-
ralisten streiten aber gerade ab, dass es eine Hierarchie von Werten gibt, mit der man
moralische Konflikte auf eine Art lösen kann, die alle rationalen Personen akzeptie-
ren können. Nach Ansicht des Pluralisten gibt es kein summum bonum, und die Idee
einer Höherbewertung einiger Güter über andere hilft, wenn überhaupt, nur innerhalb
einer einzelnen Theorie. Das hat zur Folge, dass in einigen Fällen Werte, Güter oder
Prinzipien nicht gegeneinander abgewogen werden können. Geraten diese dann in
Konflikt, mag unter Umständen ein unabhängiges Prinzip fehlen, mit dessen Hilfe
der Konflikt auf eine für alle zufriedenstellende Weise gelöst werden kann. Dennoch
bleibt Dworkin bei seiner monistischen Grundüberzeugung, wenn er schreibt: „We
are looking for a reason of justice we all share for rejecting the checkerboard strategy
in advance.“40
Was tun allerdings, wenn Dworkins Ratschlag sich nicht konkretisieren lässt?
Wenn es im Streit darum geht, an welche Gerechtigkeitskonzeption wir uns halten
sollen, gibt es keinen gemeinsamen unstrittigen höheren Wert, der uns zur Orientie-
rung dient. Wie Waldron sagt, können wir keine Trumpfkarten ausspielen, wenn wir
über die Suite verschiedener Meinung sind.41 In diesem Fall heißt der Rückgriff auf
ein Prinzip: eine der konkurrierenden Meinungen zu privilegieren. Eine weitere
Möglichkeit, das Problem zu lösen, wäre, dass sich die Parteien auf ein Verfahren
einigen. Sie könnten sich z. B. zu einer Abstimmung entschließen. Sie könnten
aber auch einen Kompromiss bevorzugen, da er eine gerechtere Lösung bietet als
die „winner-take-all“-Formel. Interne Kompromisse, so kann man argumentieren,
drücken das Bestreben nach Neutralität zwischen den konfligierenden Meinungen
aus.

38
Ronald Dworkin, Law’s Empire, S. 179.
39
In diesem Fall müssen wir uns in der Tat fragen, ob wir es noch mit einem Kompromiss
oder nicht eher einer einvernehmlichen Entscheidung zu tun haben. Ich möchte diese Dis-
kussion in diesem Zusammenhang nicht fortsetzen, da ich mich auf die Gründe konzentriere,
die Dworkin für die Ablehnung von „internen Kompromissen“ anführt.
40
Ronald Dworkin, Law’s Empire, S. 180.
41
Jeremy Waldron, „Moral Truth and Juridicial Review“, The American Journal of Juris-
prudence Vol. 43:1 (1998), S. 77.
Verhältnismäßigkeit und Kompromisse 1157

Es kann dennoch eingewendet werden, dass ein interner Kompromiss einen Hin-
weis darauf liefert, weshalb das Gesetz erlassen wurde; es macht dieses jedoch nicht
dadurch schon rational. Im Gegenteil: Das Checkerboard-Gesetz ist in beiden ge-
nannten Fällen nicht nur nicht rational, sondern es kann sogar für irrational erklärt
werden. Tatsächlich erklärt die gleiche Regel Diskriminierung bzw. Abtreibung als
legal und illegal zugleich, erzeugt also einen Widerspruch. Checkerboard-Gesetze
sind daher inakzeptabel, weil sie gegen den Gleichheitsgrundsatz vor dem Gesetz
verstoßen, indem sie Menschen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, un-
terschiedlich behandeln.
Das Problem ist, dass die gleichen Kategorien von Personen (in den Beispielen
Schwarze bzw. Schwangere) jeweils unterschiedlich behandelt werden, und dies
ohne nachvollziehbaren Grund. Wir erwarten jedoch von einem Rechtssystem,
dass es bestimmte Dinge nach rationalen Prinzipien für unzulässig oder zulässig er-
klärt. Wir wollen sicherstellen, dass das, was heute erlaubt ist, morgen nicht willkür-
lich verboten wird. Gesetze müssen aus verständlichen und nachvollziehbaren Grün-
den vorhersehbar sein. Die Rechtfertigung muss in beide Richtungen funktionieren,
sowohl rückwirkend als auch in Bezug auf das, was wir tun wollen. Dieses Erforder-
nis drückt sich laut Dworkin in der Vorstellung von „Gleichheit vor dem Gesetz“ aus:
„Integrity is flouted […] whenever a community enacts and enforces different laws
each of which is coherent in itself, but which cannot be defended together as expres-
sing a coherent ranking of different principles of justice or fairness or procedural due
process.“42
Angesichts dieser Aussage ist es überraschend, dass Dworkin sich nicht daran
stört, dass die Amerikanische Verfassung den einzelnen Staaten Souveränität über
die Gesetze bezüglich der Todesstrafe zuspricht. Die aus dem Föderalismus resultie-
rende unterschiedliche Behandlung gründet laut Dworkin auf der grundlegenden
Entscheidung, die Macht auf der Bundesebene von der auf der Landesebene zu tren-
nen.43 Demgemäß handele es sich nicht um eine Checkerboard-Lösung. Aus mora-
lischer Sicht allerdings übertrumpft die Souveränität des Landesrechts das Men-
schenrecht, vor dem Gesetz gleich behandelt zu werden. Dworkin meint: „[T]he Su-
preme Court relies on the language of equal protection to strike down state legislation
that recognizes fundamental rights for some and no others.“44 Ein Bürger aus Texas
genießt allerdings nicht das Recht, vom Staat nicht getötet zu werden, wenn er wegen
Mordes verurteilt wurde. In den Augen von denjenigen, die die Todesstrafe für un-
gerechtfertigt halten, gibt die Bezugsnahme auf die Souveränität der Landesebene
keine bessere moralische Rechtfertigung für die Verletzung eines fundamentales
Rechtes als eine Quotenlösung, die die Anzahl von Todesstrafen so begrenzen
würde, dass sie leicht unter den jährlichen Durchschnitt in den USA fallen würde.

42
Ronald Dworkin, Law’s Empire, S. 184. I underline, VZ.
43
Ronald Dworkin, Law’s Empire, S. 186.
44
Ronald Dworkin, Law’s Empire, S. 185.
1158 Véronique Zanetti

Noch einmal: Das Checkerboard-Gesetz gilt als logisch fehlerhaft, weil es etwas
nach einem beliebigen Kriterium zugleich für zulässig und unzulässig erklärt. Es ver-
stößt daher gegen den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz, indem es Personen
aus derselben Gruppe ohne triftigen Grund unterschiedlich behandelt. Genauer ge-
sagt: Die Rechtfertigung für eine unterschiedliche Behandlung ist nicht im Gesetz
begründet. Ob man in einem ungeraden oder geraden Jahr geboren wird, ist mehr
oder weniger zufällig und hat inhaltlich nichts mit dem Gesetz zu tun, das Abtreibung
regelt.45 Im Gegensatz dazu ist ein Gesetz, das Abtreibung für alle Frauen für illegal
erklärt, es sei denn, die Schwangerschaft sei das Ergebnis einer Vergewaltigung,
nicht zufällig, denn die Unterscheidung von freiwilliger Schwangerschaft versus
Schwangerschaft durch Vergewaltigung ist logisch mit dem Gesetz verbunden.
„Splitting the difference“ muss allerdings nicht immer so absurd ausgehen, wie
bei der Idee, Abtreibung nur für diejenigen schwangeren Frauen zu erlauben, die
in einem geraden Jahr geboren wurden. Man könnte sich beispielsweise eine Quo-
tenregelung vorstellen, bei der man eine bestimmte Anzahl an Abtreibungen monat-
lich erlaubt, die statistisch gesehen etwas geringer als der Durschnitt der Jahre davor
ausfällt. Würde solch eine Regelung zu einer geringfügigen Abnahme an Abtreibun-
gen führen, wäre sie aus der Sicht derjenigen, die den intrinsischen Wert menschli-
chen Lebens ab der Nidation vertreten, aus sowohl konsequentialistischer wie auch
deontologischer Perspektive durchaus zu rechtfertigen.
Es mag weiterhin eingewendet werden, dass, was ein solches Gesetz empörend
machen, würde darin besteht, dass es keinen Platz für eine moralisch begründete
Ausnahme im Falle einer Vergewaltigung macht. Vergewaltigung verletzt per Defi-
nition die Entscheidungsfreiheit der Frau, sich für ein so wichtiges Thema wie das
Leben geben zu entscheiden. Es besteht außerdem die Gefahr, dass das Neugeborene
unerwünscht ist. Zwei Subjekte würden entsprechend ungeschützt bleiben.
Ich verstehe allerdings nicht, warum es nicht möglich sein sollte, rational begrün-
dete Ausnahmen von der Anwendung des Gesetzes einzuführen, indem man das neu-
trale Verfahren nur für die Fälle beibehält, wo keine gemeinsame Auffassung gefun-
den werden kann. Da, wo eine überzeugende Begründung vorgelegt werden kann,
soll man auf sie zurückgreifen. Die Pro-Life-Partei muss sich nicht die Entscheidung
zueigen machen. Anhänger können sagen: „We think that rape does not justify an
abortion. Still, we see that this statute has some rational justification for the distinc-
tion it makes.“46

45
„The flaw in this abortion statute is not simply the lack of a justification for treating
women born in even years differently than those born in odd ones, but, more fundamentally,
the lack of a justification for prohibiting abortions to the category of women born in even
years. We may have a justification for forbidding all women to abort, but why forbid it based
on whether they were born in an even or an odd year?“ Ofer Raban, „The Rationalization of
Policy“, Legislation and Public Policy Vol. 18/45 (2015), S. 58.
46
Ebd., S. 57.
Verhältnismäßigkeit und Kompromisse 1159

Wir sollten einen Moment innehalten. Man wird sicherlich einwenden, all dies sei
bloß ein Spiel mit Argumenten, bei dem die Gegenseite ständig den Anwalt des Teu-
fels vertritt. Wir können uns nicht ernsthaft zugunsten einer Regelung entscheiden,
die Frauen aufgrund des Datums ihrer Geburt diskriminiert und ihr einer Fristenlö-
sung oder sogar ein kategorisches Verbot vorziehen.
In der Tat denke ich, dass wir von der Gesetzgebung erwarten, dass sie Prinzipien
unterstützt, die zur Rechtfertigung von Entscheidungen dienen, auch wenn wir sie
nicht billigen. Ein schlechter Grund kann sogar besser sein als keiner. Wir können
mit einer rational gerechtfertigten Lösung, mit der wir nicht einverstanden sind,
leichter umgehen als mit einer zufälligen Lösung, die wir ablehnen. Man kann
dies als eine seltsame psychologische Tatsache betrachten. Es bleibt in der Tat zu er-
klären, warum wir manchmal eine Mehrheitsentscheidung, die wir ablehnen, einem
Kompromiss vorziehen, auch wenn es wenig Hoffnung gibt, dass die Minderheit die
Mehrheit stürzt.
Mein Argument war, dass die Quotenregelung für die ProLife-Anhänger nicht
moralisch schlechter wäre als eine Lösung, die Abtreibung im ersten Trimester
der Schwangerschaft erlaubt. Für diejenigen, die davon überzeugt sind, dass das
Leben mit der Nidation beginnt, ist eine Abtreibung im zweiten Monat genauso
ein Verstoß gegen das Recht auf Leben wie in späteren Monaten. In ihren Augen
ist die Akzeptanz der Trimester-Lösung gleichbedeutend einer Akzeptanz, dass Tö-
tung legalisiert ist. Aus deren moralischen Überzeugungen heraus betrachtet spielt es
keine Rolle, ob das relevante Kriterium eine bestimmte Zeitperiode oder etwas an-
deres ist. Ich habe außerdem argumentiert, dass die deutsche Fristenlösung gesetzlich
inkonsistent ist und dass es fraglich ist, ob sie die Dworkinsche Forderung nach In-
tegrität erfüllt. Embryonen, deren Würde verfassungsrechtlich verankert ist,47 wer-
den nach einem Kriterium (Zeit) behandelt, das keine logische Verankerung im Ge-
setz hat. Betrachtet man schließlich, dass Embryonen keine Kompensation für die
Einschränkung ihres Rechts auf Leben erhalten können, und dass ihnen keine Recht-
fertigung angeboten werden kann, wird man bezweifeln, dass das deutsche Abtrei-
bungsgesetz der Verhältnismäßigkeitsdoktrin gerecht wird. Dennoch kann man
schwer leugnen, dass die Kompromisslösung, auch wenn moralisch und legislativ
fraglich, eine gute, pragmatische Lösung für einen sonst unlösbaren moralischen
Konflikt bietet.
Die Rationalität stützt sich auf die Intuition, dass ein Embryo in einem späteren
Stadium seiner Entwicklung anfälliger für Leiden ist als zu Beginn. Zwölf Wochen
bieten eine überzeugende Einschätzung eines Stadiums der biologischen Entwick-
lung, in dem ein Embryo in der Lage sein könnte, Schmerzen zu spüren. Es markiert
47
Die Rechtfertigung vom Jahre 1975 macht dies explizit: „Das sich im Mutterleib ent-
wickelnde Leben steht als selbstständige Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung (Art. 2
Abs. 2 Satz 1, Art. 1 Abs. 1 GG)“. Dies bestätigt die Entscheidung von 1993: „Das Grund-
gesetz verpflichtet den Staat, menschliches Leben, auch das ungeborene, zu schützen. […]
Menschenwürde kommt schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu.“ BVerfG 39, 1 ff.
(1975); E 88, 203 ff. (1993).
1160 Véronique Zanetti

auch ein Stadium der Schwangerschaft, von dem an eine medizinische Operation ein
erhebliches Risiko für die Gesundheit der Mutter darstellt. Dabei rückt der Schwer-
punkt der Entscheidung vom Prinzip der Würde oder Sakralität des Lebens zu Di-
mensionen, die mit größerer Wahrscheinlichkeit auf eine breite Zustimmung stoßen
können. Das Objekt der moralischen Überzeugung wird allerdings ausgeklammert,
um einen pragmatischen Kompromiss zu ermöglichen. Damit meine ich, dass der
motivierende Grund für ein Zugeständnis an eine moralische Frage extrinsisch ist
und nicht unbedingt auf einem moralischen Prinzip beruht. So können die Menschen
beispielsweise ihren Wunsch zum Ausdruck bringen, der Staat solle in Bezug auf
Fragen des guten Lebens neutral bleiben. Sie können aber auch sicherstellen wollen,
die Gesetzgebung möge die negativen Auswirkungen einer Liberalisierung so weit
wie möglich begrenzen. Die Entscheidung für eine Befristung in beiden Fällen ist
strategisch und instrumentell.
Die Argumentationsrichtung steht im Einklang mit Rawls’ Trennung zwischen
Öffentlichkeit und Privatsphäre. Auf der ersten Ebene, auf der Ebene der privaten
Überzeugung, äußern die Menschen ihre moralische Meinung zu einem wichtigen
Thema des gesellschaftlichen Lebens. Auf der zweiten Ebene bieten sie Gründe
für Zugeständnisse an, in denen abgewogen wird, wie sehr sie an ihrer moralischen
Überzeugung festhalten wollen, wenn sie sich nicht einigen können. In diesem Sinne
wird von den kompromissbereiten Parteien politischer Pragmatismus abverlangt.
Auf die Frage, warum Kompromisse Vorrang vor moralischen Imperativen haben
sollten, kann die Antwort lauten: Weil es manchmal ratsam ist, nachzugeben, tolerant
zu sein, auf andere einzugehen. Mit dieser Empfehlung befinden wir uns jedoch im
Bereich der Politik – wobei ,Politik‘ im allgemeinen Sinne verstanden wird, wie Ari-
stoteles sie versteht: als der Bereich, in dem die Beziehung zwischen den Menschen
geregelt ist.

VI. Konklusion
Ich habe argumentiert, dass das Verfahren des Verhältnismäßigkeitsprinzips in
manchen Fällen zu einem Kompromiss nötigt. Das sind Fälle, in denen nicht feststell-
bar ist, ob das zu wahrende Interesse, Recht oder Rechtsprinzip schwerer wiegt als
das ihm aufgeopferte. Hier kann weder eine Kompensation angeboten noch kann das
Erfordernis der Zumutbarkeit erfüllt werden.
Ich habe zweitens gezeigt, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip selbst als Kom-
promiss zwischen zwei konkurrierenden ethischen Theorien angesehen werden
kann: der deontologischen und der konsequentialistischen. Ich habe drittens dafür
plädiert, Kompromisslösungen dann als erforderlich anzusehen, wenn Richter und
Politiker sich darüber uneinig sind, wie individuelle Rechte gegen öffentliche Inter-
essen abgewogen werden sollen. Im Verfassungsgericht werden Mehrheitsbeschlüs-
se erst am Ende eines langen Beratungsprozesses getroffen. In Wirklichkeit kann
aber auch dann noch, wenn sich ein Dissens nach Argumentaustausch nicht auflösen
Verhältnismäßigkeit und Kompromisse 1161

lässt, hinter verschlossenen Türen durch Mehrheitsbeschluss bestimmt werden, wel-


che Position offiziell als Konsensposition verkauft wird – der Öffentlichkeit wird das
Ergebnis jedoch nicht als Ergebnis einer Abstimmung mitgeteilt. Hinter verschlos-
senen Türen könnten die Richter glauben, dass eine mittlere Position am besten ist,
und versuchen, das Wertvollste in den konkurrierenden Ansichten zu erhalten. Cass
Sunstein nennt diese Richter „Trimmer“. Sie können aus strategischen oder episte-
mischen Gründen trimmen. Wenn allerdings selbst hierbei keine Einigkeit herrscht,
muss eine Methode gefunden werden, den Konflikt aufzulösen. Richter stimmen ab,
wenn sie uneinig sind. Ich habe dafür argumentiert, in solchen Fällen eine Kompro-
misslösung in Betracht zu ziehen.
„Splitting the difference“ wird von der Rechtsprechung abgelehnt, wenn es nicht
in ein Prinzip verankert ist. Ich habe argumentiert, dass damit noch kein hinreichen-
der Grund gegeben ist, den Kompromiss abzulehnen. Die Fristenlösung einigt sich
auf eine Maximalzeitspanne, und das ist mindestens für eine der Konfliktparteien
moralisch fraglich und in Bezug auf Artikel 1 der Verfassung inkohärent. Doch
die Mehrheit der Menschen steht hinter dem Gesetz. Dafür kann es verschiedene
Gründe geben. Einer ist, dass die Zeitlösung eine plausible Begründung bietet,
auch wenn sie moralisch und rechtlich problematisch ist. Wie eine Kompromisslö-
sung ist sie aus Streit und Verhandlung hervorgegangen und basiert nicht auf einem
gemeinsam anerkannten oder prästabilisierten Prinzip.
Zur Täterschaft der Schwangeren
beim Schwangerschaftsabbruch
Von Thomas Rotsch

I. Einführung
§ 218 StGB1 stellt mit der Bestrafung des Schwangerschaftsabbruchs – einem kul-
tur- und kriminalgeschichtlichen „Ewigkeitsthema der Menschheit“2 – eine der um-
strittensten Strafnormen des StGB dar.3 Das geltende Recht des deutschen StGB un-
terscheidet im Hinblick auf den Schutz des Ungeborenen nunmehr in zeitlicher Hin-
sicht bekanntlich drei Phasen der Schwangerschaft: bis zur Nidation bleibt das un-
geborene Leben gänzlich schutzlos; von der Nidation bis zum Abschluss der 12.
Schwangerschaftswoche sind Abbrüche ohne jegliche (d. h. medizinisch-soziale
oder kriminologische) Indikation allein unter den Voraussetzungen des § 218a
Abs. 1 straffrei, liegt eine kriminologische Indikation vor, ist die Tat nach § 218a
Abs. 3 bis zu diesem Zeitpunkt (lediglich) gerechtfertigt; in dem Zeitraum nach
der 12. Schwangerschaftswoche bis kurz vor der natürlichen Geburt schließlich
setzt die Rechtmäßigkeit des Abbruchs gem. § 218a Abs. 2 voraus, dass er medizi-
nisch-sozial indiziert ist.4
Während nun etwa schwierige Fragen des Rechtsgüterschutzes, zum Beginn des
pränatalen Lebens oder der Reichweite der Garantenpflicht der schwangeren Mut-
ter die ihnen gebührende Aufmerksamkeit bei der Diskussion des § 218 zuteilwird,
erfahren beteiligungsdogmatische Probleme im Rahmen des Schwangerschaftsab-
bruchs eher stiefmütterliche Behandlung. So liest man selbst bei Reinhard Merkel,
der die profundeste Kommentierung des § 218 vorgelegt hat5 und dem dieser Bei-
trag mit den herzlichsten Glückwünschen zum 70. Geburtstag gewidmet ist, in prä-
gnanter Kürze: „Auch die Behandlung von Täterschaft und Teilnahme richtet sich
nach den allgemeinen Regeln. Selbst- wie Fremdabbruch können eigenhändig,

1
§§ ohne Gesetzesangabe sind im Folgenden solche des StGB.
2
NK/StGB-Merkel, Vor §§ 218 ff. Rn. 1.
3
Zur rechtsgeschichtlichen Entwicklung ausführlich und instruktiv NK/StGB-Merkel, Vor
§§ 218 ff. Rn. 1 ff.
4
Vgl. zum Ganzen NK/StGB-Merkel, Vor §§ 218 ff. Rn. 23 f.
5
Die Kommentierung im Nomos Kommentar zum StGB umfasst in der aktuellen 5. Aufl.
dabei mehr als 200 Seiten: Vor §§ 218 ff. – 219b (S. 1902 – 2107).
1164 Thomas Rotsch

mittäterschaftlich, mittelbar täterschaftlich sowie durch Unterlassen begangen


werden.“6
Studiert und vergleicht man die einschlägigen Kommentierungen des § 218 im
Hinblick auf die regelmäßig knappe Diskussion der Beteiligungsdogmatik, so ergibt
sich freilich ein durchaus uneinheitliches Bild. So wird z. B. in dem (Regel-)Fall, in
dem die Schwangere den Abbruch durch einen Dritten (Arzt) zulässt, zum Teil un-
mittelbare Täterschaft der Schwangeren i.S.d. § 25 Abs. 1 Var. 17, zum Teil Mittäter-
schaft von Arzt und Schwangerer gem. § 25 Abs. 28 angenommen; von manchen
wird § 25 Abs. 2 recht undifferenziert „meist“ der Vorrang eingeräumt9. Mittelbare
Täterschaft soll etwa möglich sein beim Vorspiegeln medizinischer Indikation durch
die Schwangere.10 Auch eine eigenhändige Tatverwirklichung (d. h.: in unmittelbarer
Täterschaft) wird für möglich gehalten.11 Andere wollen schon für das Zulassen des
Abbruchs auf Teilnahme ausweichen,12 während bei garantenpflichtwidriger Nicht-
hinderung der Tat durch die Schwangere der Streit aus dem Allgemeinen Teil des
StGB um die Möglichkeit bloßer Teilnahme des Garanten seine Fortsetzung findet.13
Dabei fällt auf, dass eine genauere Darstellung der denkbaren unterschiedlichen
Sachverhaltskonstellationen in diesem Zusammenhang kaum erfolgt.14 Das verwun-
dert deshalb, weil zum einen die von der h.A. für die Begründung von Täterschaft
vorausgesetzte Tatherrschaft ohne einen genaueren Blick auf die konkrete Sachver-
haltsgestaltung kaum zu entscheiden ist und zum anderen in Deutschland mindestens
drei grundsätzlich unterschiedliche Arten und Weisen des Schwangerschaftsab-
bruchs praktiziert werden.
Der folgende Beitrag hat es sich daher zum Ziel gesetzt, der Frage nach der täter-
schaftlichen Strafbarkeit der Schwangeren vor dem Hintergrund der drei wesentli-
chen, in Deutschland praktizierten Methoden des Schwangerschaftsabbruchs nach-
zugehen. Hierzu ist zunächst (unter II.) die Struktur des § 218 genauer zu beleuchten.
Sodann (unter III.) sind einige Klarstellungen (unter 1. – 3.) vonnöten, die den Zu-
gang zur Beurteilung der Täterschaft der Schwangeren erst ermöglichen. Erst im An-
schluss können die Möglichkeiten täterschaftlicher Verwirklichung des § 218 durch
6
NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 147.
7
Z. B. MüKo/StGB-Gropp, § 218 Rn. 40.
8
NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 148 („Regelfall“).
9
BeckOK/StGB-Eschelbach, § 218 Rn. 13 mit bemerkenswerter Begründung.
10
Schönke/Schröder-Eser, § 218 Rn. 30; MüKo/StGB-Gropp, § 218 Rn. 38.
11
Schönke/Schröder-Eser, § 218 Rn. 30; MüKo/StGB-Gropp, § 218 Rn. 40; LK-Kröger,
§ 218 Rn. 30.
12
SSW/StGB-Momsen/Momsen-Pflanz, § 218 Rn. 19.
13
Vgl. z. B. AnwK/StGB-Mitsch, § 218 Rn. 14 einerseits; MüKo/StGB-Gropp, § 218
Rn. 51 andererseits.
14
So findet sich zwar eine Darstellung der Methoden des Schwangerschaftsabbruchs bei
MüKo/StGB-Gropp, Vor § 218 Rn. 78 ff.; LK/StGB-Kröger, Vor § 218 Rn 46; SK/StGB-Ro-
gall, Vor § 218 Rn. 67. Im Rahmen der Erörterungen von Täterschaft und Teilnahme finden
diese Ausführungen dann aber meist keine Berücksichtigung mehr.
Zur Täterschaft der Schwangeren beim Schwangerschaftsabbruch 1165

die Schwangere untersucht werden (IV.). Dabei erfolgt eine bewusste Beschränkung
auf die Untersuchung des § 218; es wird dabei zugrunde gelegt, dass die Vorausset-
zungen des § 218a nicht vorliegen, §§ 218b bis 219b bleiben außer Betracht.

II. Die Struktur des § 218 StGB


Rechtsgut des § 218 ist jedenfalls15 das pränatale menschliche Leben.16 Es besteht
Einigkeit darüber, dass Angriffsobjekt der Abbruchshandlung das Ungeborene17,
also die lebende Leibesfrucht18 ist. Zur Zeit der Tathandlung muss eine intakte
Schwangerschaft bestehen.19 Entscheidend ist also insoweit der Zeitpunkt der Ein-
wirkungshandlung, nicht derjenige des Erfolgseintritts.20 Tathandlung ist im Wider-
spruch zu dem mindestens euphemistischen Gesetzeswortlaut21 jede (täterschaftlich
bewirkte22) Handlung, die den Tod des Embryos herbeiführt.23 Die Tat ist also gleich-
wohl Erfolgsdelikt,24 und zwar in der Form des reinen Verursachungsdelikts. Damit
handelt es sich im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut der Vorschrift um ein Ver-
letzungsdelikt.25
Der Abbruch in dem geschilderten Sinne kann entweder durch die Schwangere
selbst oder einen Dritten erfolgen.26 Auch darüber besteht Einigkeit.27 Der Tatbestand
des § 218 umfasst damit nach ganz einhelliger Ansicht gleichermaßen den sog.
Selbstabbruch wie den sog. Fremdabbruch.28 Erstaunlich ist dabei freilich, dass of-
fenbar niemand hieraus die Konsequenz zieht, dass in der Variante des Selbstab-
bruchs ein Sonderdelikt vorliegt, das die Schwangereneigenschaft als täterbegrün-
denden Umstand voraussetzt. Für die Frage der täterschaftlichen Verwirklichung
des § 218 durch die Schwangere ist das freilich von einiger Bedeutung. Auch ein
Schwangerschaftsabbruch durch Unterlassen wird zum Teil für möglich gehalten,
15
Ob daneben auch Gesundheit und Leben der Schwangeren geschützt sind, ist umstritten
(vgl. NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 7), kann hier aber dahinstehen.
16
NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 7.
17
NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 7.
18
NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 7.
19
SSW/StGB-Momsen/Momsen-Pflanz, § 218 Rn. 5.
20
SSW/StGB-Momsen/Momsen-Pflanz, § 218 Rn. 5.
21
Vgl. NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 9, 44; Tröndle, Jura 1987, 69.
22
Siehe dazu noch unten IV. 4.
23
NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 46.
24
SSW/StGB-Momsen/Momsen-Pflanz, § 218 Rn. 5.
25
Vgl. dazu grds. Roxin, AT I, Rengier, AT, § 10 Rn. 9; Kindhäuser, AT, § 8 Rn. 20.
26
Vgl. zunächst nur NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 45.
27
Siehe etwa Schönke/Schröder-Eser/Weißer, § 218 Rn. 28 ff.; MüKo/StGB-Gropp, § 218
Rn. 37 ff. Lackner/Kühl, § 218 Rn. 2; BeckOK/StGB-Eschelbach, § 218 Rn. 7.
28
MüKo/StGB-Gropp, § 218 Rn. 37 ff.; Schönke/Schröder-Eser/Weißer, § 218 Rn. 28 ff.;
NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 45; BeckOK/StGB-Eschelbach, § 218 Rn. 7. Zurückhaltend
Lackner/Kühl, § 218 Rn. 2.
1166 Thomas Rotsch

wenngleich hier durchaus Uneinigkeit über die Reichweite der Unterlassungsstraf-


barkeit herrscht.29 Gemeinhin werden auch hier die allgemeinen Regeln für anwend-
bar erklärt.30
Bevor die einzelnen Sachverhaltskonstellationen darauf hin untersucht werden
können, ob und wann die Schwangere § 218 hierbei täterschaftlich verwirklicht,
sind daher zunächst einige Klarstellungen erforderlich. So ist zunächst die Differen-
zierung zwischen Fremd- und Selbstabbruch kritisch zu hinterfragen (unter III. 1.).
Anschließend ist der Frage nachzugehen, welche Bedeutung die Schwangerschaft
für die Frage der Täterschaft der Schwangeren hat (III. 2.). Und schließlich ist
vorab noch auf die Auseinandersetzung um die Methodik der Prüfung im Rahmen
einer möglichen Unterlassungsstrafbarkeit der Schwangeren einzugehen (III. 3.).

III. Klarstellungen
1. Die Unterscheidung zwischen Fremd- und Selbstabbruch

Es herrscht Einigkeit darüber, dass § 218 Abs. 1 durch Fremd- wie durch Selbst-
abbruch verwirklicht werden kann.31 Dabei soll ein Fremdabbruch dann vorliegen,
wenn der Abbruch der Schwangerschaft durch einen anderen als die Schwangere
selbst erfolgt;32 dieser andere soll jedermann – außer die Schwangere selbst33 –
sein können.34 Meist wird dabei an den Arzt gedacht.35 Ein Selbstabbruch hingegen
soll nur dann gegeben sein, wenn die Schwangere selbst den Abbruch der Schwan-
gerschaft vornimmt.36
Es fragt sich, was mit dieser Differenzierung, die der Gesetzeswortlaut nicht
(mehr) ausdrücklich vorgibt,37 erreicht werden soll. Offensichtlich handelt es sich
dabei um ein Relikt der noch bis 1975 geltenden Gesetzesfassung, die ausdrücklich
zwischen Selbst- und Fremdabbruch unterschied. In den Kommentierungen des
§ 218 findet die Unterscheidung zwischen Fremdabbruch und Selbstabbruch sich

29
MüKo/StGB-Gropp, § 218 Rn. 37 ff. (40); Bernsmann, JuS 1994, 12.
30
NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 45.
31
Laufhütte/Wilkitzki, JZ 1976, 329; Schönke/Schröder-Eser/Weißer, § 218 Rn. 29 ff.;
MüKo/StGB-Gropp, § 218 Rn. 37 ff.; NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 45; Rengier, BT II, Rn. 10;
SK-StGB/Rogall, § 218 Rn. 2, 20 ff.; BeckOK-StGB/Eschelbach, § 218 Rn. 13. Zurückhal-
tender Lackner/Kühl, § 218 Rn. 2.
32
Schönke/Schröder-Eser/Weißer, § 218 Rn. 29.
33
Schönke/Schröder-Eser/Weißer, § 218 Rn. 29.
34
Schönke/Schröder-Eser/Weißer, § 218 Rn. 29.
35
Vgl. Schönke/Schröder-Eser/Weißer, § 218 Rn. 29.
36
Schönke/Schröder-Eser/Weißer, § 218 Rn. 28, 30; HK/GS-Wenkel, § 218a Rn. 1.
37
NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 45, formuliert denn auch durchaus salomonisch: „Selbst-
abbruch durch die Schwangere und Fremdabbruch durch einen Dritten unterscheidet der Tb
nicht, erfasst sie also beide.“
Zur Täterschaft der Schwangeren beim Schwangerschaftsabbruch 1167

auch heute noch regelmäßig im Rahmen der Behandlung des täterschaftlich verwirk-
lichten Schwangerschaftsabbruchs.38 Das bedeutet, dass mit der Bezeichnung des
Fremdabbruchs offensichtlich diejenigen Konstellationen benannt werden, in
denen ein anderer als die Schwangere Täter des § 218 Abs. 1 ist. Dabei soll dann frei-
lich – wie beim Selbstabbruch – jede Form der Täterschaft möglich sein.39 Der
Selbstabbruch zeichnet sich nach dieser differenzierenden Terminologie mithin da-
durch aus, dass die Schwangere den Tatbestand des § 218 Abs. 1 täterschaftlich – in
welcher der drei gesetzlich vorgegebenen Täterschaftsformen auch immer – verwirk-
licht. Dass sowohl die Schwangere für den Abbruch an sich selbst, wie auch jeder
Dritte für den Abbruch an der Schwangeren vom Tatbestand erfasst ist, stützt
diese ganz herrschende Auffassung auch auf Abs. 3 und 4 des § 218, wonach
(gem. Abs. 3) bei Begehung der Tat durch die Schwangere der Strafrahmen reduziert
und (gem. Abs. 4 S. 2) der Versuch der Tat für die Schwangere nicht unter Strafe ge-
stellt ist. Damit macht das Gesetz einen Unterschied zwischen dem Schwanger-
schaftsabbruch durch die Schwangere einerseits und durch einen Dritten andererseits
nur auf der Rechtsfolgen-, nicht aber auf der Tatbestandsseite.40
Diese Differenzierung zwischen Fremdabbruch und Selbstabbruch stößt freilich
in mehrfacher Hinsicht auf Bedenken. Zunächst ist sie nicht unproblematisch, weil
sie im Hinblick auf die Beteiligungsform von Schwangerer und Drittem die Gefahr
eines Zirkelschlusses birgt. Denn wenn mit der terminologischen Einordnung als
Fremdabbruch einerseits oder Selbstabbruch andererseits bereits die täterschaftliche
Verwirklichung durch die Schwangere bzw. den Dritten impliziert ist, läuft man Ge-
fahr, den Sachverhalt nicht mehr zum Ausgangspunkt einer Subsumtion mit offenem
Ergebnis zu machen; vielmehr droht die Einordnung in eine bestimmte tatsächliche
Konstellation zugleich die rechtliche Behandlung vorzugeben.
Darüber hinaus insinuiert die Differenzierung zwischen Fremd- und Selbstab-
bruch, dass der Dritte als Täter immer einen Fremdabbruch, die Schwangere als Tä-
terin stets einen Selbstabbruch verwirklicht.41 Umgekehrt legt das aber den Schluss
nahe, dass die Schwangere nicht Täterin eines Fremdabbruchs, der Dritte nicht Täter
eines Selbstabbruchs sein kann. Das ist aber durchaus möglich:
Bsp. 1: Der Arzt A veranlasst die schwangere S zur Einnahme eines angeblich harmlosen,
in Wahrheit aber abortiven Mittels.

In diesem Fall ist S nach der herrschenden Differenzierung (vorsatzlose) Täterin


eines Selbstabbruchs, A aber mittelbarer Täter eines (durch S unmittelbar verwirk-
lichten) Selbstabbruchs.
38
Vgl. etwa MüKo/StGB-Gropp, § 218 Rn. 37 ff.; Schönke/Schröder-Eser/Weißer, § 218
Rn. 28 ff.; Fischer, StGB, § 218 Rn. 9; BeckOK/StGB-Eschelbach, § 218 Rn. 13; AnwK/
StGB-Mitsch, § 218 Rn. 4; SSW/StGB-Momsen/Momsen-Pflanz, § 218 Rn. 19; SK/StGB-
Rogall, § 218 Rn. 21 ff.
39
NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 45.
40
NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 45.
41
So denn auch in der Tat SK/StGB-Rogall, § 218 Rn. 21.
1168 Thomas Rotsch

Bsp. 2: Die schwangere S täuscht den Arzt A über das Vorliegen einer Indikation, woraufhin
A den Abbruch gutgläubig vornimmt.

Hier liegt der Fall umgekehrt so, dass A Täter eines Fremdabbruchs ist, S freilich
nicht etwa einen Selbstabbruch verwirklicht, sondern mittelbare Täterin (des von A
unmittelbar verwirklichten) Fremdabbruchs ist.42
In Wahrheit kann also die Schwangere nicht nur Täterin eines Selbstabbruchs,
sondern ebenso (mittelbare) Täterin eines Fremdabbruchs sein. Der Arzt ist tatsäch-
lich nicht notwendig Täter eines Fremdabbruchs, vielmehr kann auch er (mittelbarer)
Täter eines Selbstabbruchs sein. Eine Festlegung in beteiligungsdogmatischer Hin-
sicht hat die von der herrschenden Meinung vorgenommene terminologische Unter-
scheidung in Fremdabbruch und Selbstabbruch damit aber in Wahrheit nicht. Rich-
tigerweise stellt sie nicht mehr dar, als die – zutreffende – Beschreibung zweier
grundsätzlich unterschiedlicher tatsächlicher Sachverhalte: scil. einerseits des Ab-
bruchs der Schwangerschaft durch die Schwangere selbst, andererseits des Abbruchs
durch einen Dritten.
Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis relativiert sich dann auch die oben43 wie-
dergegebene Aussage, Fremd- und Selbstabbrüche seien in jeder Form der Täter-
schaft begehbar. Für den Selbstabbruch durch die Schwangere trifft das ganz offen-
sichtlich nicht zu. Eine mittelbare Täterschaft der Schwangeren gem. § 25 Abs. 1
Var. 2 ist hier nämlich nicht möglich. Denn sofern die Schwangere einen Tatmittler
zum Abbruch ihrer Schwangerschaft einsetzt, verwirklicht dieser täterschaftlich
einen Fremdabbruch; insoweit ist sie mittelbare Täterin (vgl. Bsp. 2). Einen Selbst-
abbruch hingegen kann sie nur in unmittelbarer Allein- oder allenfalls Mittäterschaft
verwirklichen.

2. Die Bedeutung der Schwangerschaft für die Täterschaft der S

Eine weitere Unklarheit gilt es aufzuklären hinsichtlich der Bedeutung der


Schwangerschaft für die Frage nach der täterschaftlichen Verwirklichung des
§ 218 Abs. 1 durch die Schwangere. Hätte die oben dargestellte herrschende Unter-
scheidung zwischen Fremdabbruch und Selbstabbruch tatsächlich die implizierte be-
teiligungsdogmatische Bedeutung – der Dritte begeht immer einen Fremdabbruch,
die Schwangere verwirklicht stets und ausnahmslos einen Selbstabbruch –, so drängt
sich eine dogmatische Zwitterstellung des § 218 Abs. 1 auf, die, soweit ersichtlich,
aber tatsächlich von niemandem angenommen wird. Wäre es nämlich richtig, dass
ein täterschaftlicher Selbstabbruch nur durch die Schwangere begangen werden
kann, würde man – nur, aber eben auch immer – beim Selbstabbruch die Schwanger-
schaft zur täterschaftsbegründenden Sonderdeliktseigenschaft machen. § 218 Abs. 1

42
A.A. z. B. Schönke/Schröder-Eser/Weißer, § 218 Rn. 30; Fischer, StGB, § 218 Rn. 9.
Wie hier offenbar MüKo/StGB-Gropp, § 218 Rn. 38.
43
Fn. 39.
Zur Täterschaft der Schwangeren beim Schwangerschaftsabbruch 1169

in der Verwirklichungsvariante des Selbstabbruchs wäre daher Sonderdelikt. Die


Frage nach den Voraussetzungen der Täterschaft wäre dann mit einer Stellungnahme
zwischen den drei Möglichkeiten a) alleiniger Pflichtverletzung, b) alleiniger Tat-
herrschaft, oder c) Pflichtverletzung plus Tatherrschaft zu entscheiden.44 Es ist er-
staunlich, dass diese sich auf dem Boden der zwischen Fremdabbruch und Selbstab-
bruch differenzierenden herrschenden Meinung eigentlich ergebende Konsequenz
nicht gezogen wird.45
Dagegen hat sich gezeigt, dass mit der Unterscheidung in Fremd- und Selbstab-
bruch eine rechtliche Festlegung im Sinne einer beteiligungsdogmatischen Einord-
nung noch nicht verbunden sein kann. Wenn aber die Bezeichnungen als Fremdab-
bruch einerseits und Selbstabbruch andererseits zum einen lediglich tatsächliche
Sachverhaltskonstellationen beschreiben, zum anderen ein täterschaftlicher Selbst-
abbruch auch durch einen Dritten und ein täterschaftlicher Fremdabbruch auch
durch die Schwangere selbst begangen werden kann, dann handelt es sich bei
§ 218 in jeder Begehungsvariante um ein Jedermanndelikt. Das bedeutet, dass die
Frage der Täterschaft sich auch in jeder Begehungsvariante auf dem Boden der herr-
schenden Literaturansicht im Rahmen der Beteiligungsdogmatik allein nach der Tat-
herrschaft richtet.

3. Die Methodik der „Abgrenzung“ von Tun und Unterlassen

Einen weiteren Schwerpunkt der Auseinandersetzung über die Strafbarkeit der


Schwangeren gem. § 218 Abs. 1 bildet der Streit um die Frage, ob in denjenigen Fäl-
44
Dazu jüngst (mit differenzierender Stellungnahme) Rotsch, GS Joecks, 2018, 149.
45
Von der älteren Rechtsprechung und Literatur ist sie auf dem Boden der damals noch
ausdrücklich normierten Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdabbruch freilich gesehen
– und verworfen – worden; siehe BGH NJW 1951, 668: „Es ist auch unzutreffend, daß die
Abtreibungshandlung der Schwangeren als Eigenabtreibung ein selbständiges, und zwar ei-
genhändiges Verbrechen sei (a.M. RGSt. 74, 21). Unter eigenhändigem Verbrechen versteht
man in der Rechtslehre einheitlich nur solche Straftaten, die nicht durch mittelbare Täterschaft
begangen werden können. Daß dieses Merkmal auf die sog. Eigenabtreibung nicht zutrifft, ist
allgemein anerkannt. Die Auffassung, es handle sich bei der Abtreibung um ein Sonderver-
brechen, ist schließlich von der Rspr. und von der Rechtslehre mit der zutreffenden Begrün-
dung abgelehnt worden, daß ihre Strafbarkeit nicht durch die Zugehörigkeit des Täters zu
einem besonderen Pflichtenkreis begründet oder erhöht wird (RGSt. 47, 65; Mezger, DR 40,
495). Der äußerlich getrennten Behandlung der Tat der Schwangeren und derjenigen des sog.
Fremdabtreibers in § 218 Abs. 1 und Abs. 3 StGB liegt jedoch eine verschiedene soziale und
sittliche Bewertung nicht nur der Taten, sondern allein der handelnden Personen zugrunde
(Lange, a.a.O. S. 76). Dieselbe Tat soll nach dem im Gesetz zum Ausdruck gekommenen
Willen des Gesetzgebers bei der Schwangeren milder, bei dem Dritten aber, der sich nicht in
der seelischen Notlage der Schwangeren befindet, strenger bestraft werden. Dieses Ziel würde
aber unmöglich gemacht, wenn die Abs. 1 und 3 des § 218 StGB jeweils als selbständige
gesetzliche Tatbestände aufzufassen wären. Denn dann müßte folgerichtig fast immer die
Schwangere – die nach den Erfahrungen des Lebens in den meisten Fällen den Abtreiber
selbst auffordert – nicht nur nach § 218 Abs. 1, sondern außerdem auch wegen Teilnahme zur
Fremdabtreibung gem. § 218 Abs. 3 bestraft werden.“
1170 Thomas Rotsch

len, in denen die Schwangere den Schwangerschaftsabbruch durch einen Dritten –


insbes. den Arzt – zulässt, für die Schwangere (täterschaftliches) Begehen oder Un-
terlassen vorliegt.46 Auch dieser Diskussion liegt ein Missverständnis zugrunde.
Bsp. 3: Die schwangere S begibt sich zum Arzt A, bei dem sie den Abbruch vornehmen lässt.

Bei mehrdeutigen Verhaltensweisen wollen weite Teile des Schrifttums47 und


auch der BGH in ständiger Rechtsprechung48 die „Wertungsfrage“ der angeblich
apriorisch erforderlichen Abgrenzung von Tun und Unterlassen nach dem „Schwer-
punkt des strafrechtlich relevanten Verhaltens“49 entscheiden. Eine solche „Abgren-
zungsfrage“ gibt es aber in Wahrheit nicht; tatsächlich geht es um die Beantwortung
des Verhältnisses von Tun und Unterlassen für den Fall, dass sowohl die Anknüpfung
an ein Tun wie auch diejenige an ein Unterlassen zu einer Strafbarkeit führt.50 Diese
Frage ist nach Konkurrenzregeln zu beantworten.51 Die Auseinandersetzung darüber,
ob vor der eigentlichen Tatbestandsprüfung festgestellt werden muss, ob ein Tun oder
Unterlassen vorliegt, hat aber eine ganz andere Frage zum Gegenstand. Sie ist rich-
tigerweise – entgegen der h.M.52 – zu verneinen.53 In Wahrheit ist es regelmäßig nicht
schwierig, ein konkretes Verhalten als Tun oder Unterlassen zu klassifizieren. Das
lässt sich schön an einem Beispiel exemplifizieren, das von Merkel selbst stammt:54
Bsp. 4: Der Geschäftsmann A stellt in einer kalten Winternacht die Heizung seiner Ge-
schäftsräume ab, was zum Tod eines betrunkenen Obdachlosen führt, der es sich vor dem
Geschäft auf dem Lüftungsgitter des Heizungskellers gemütlich gemacht hat.

Stellt man in diesem Fall auf das Unterlassen (des Heizens) ab, hat A sich mangels
Garantenstellung lediglich allenfalls55 gem. § 323c Abs. 1 strafbar gemacht. Knüpft
man hingegen an das aktive Tun (des Abstellens der Heizung) an, liegt eine Strafbar-
keit gem. § 222 vor. Wer hier seiner strafrechtlichen Subsumtion die apriorische Fest-
legung auf das Tun oder das Unterlassen voranstellt, unterliegt einem Zirkelschluss,
46
MüKo/StGB-Gropp, § 218 Rn. 40.
47
HK/GS-Tag, § 13 Rn. 4; Schönke/Schröder-Bosch, Vor §§ 13 ff. Rn. 158a; Fischer, Vor
§ 13 Rn. 12; Ranft, JZ 1987, 859 (862); Laubenthal, 1989, 827 (828); Schwab, Täterschaft und
Teilnahme bei Unterlassungen, 1995, S. 30; Stoffers, Die Formel „Schwerpunkt der Vor-
werfbarkeit“ bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen?, 1992, S. 53 f.
48
BGHSt 6, 46 (59); 49, 147 (164); 51, 165 (173); 52, 159 (163).
49
Wessels/Beulke/Satzger, AT, Rn. 987.
50
Rotsch, ZIS 2018, 1 (2).
51
Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, AT, § 21 Rn. 27.
52
Vgl. z. B. Heinrich, AT, Rn. 866 f.; Jescheck/Weigend, AT, § 58 II. 1.; Kühl, AT, § 18
Rn. 11; Roxin, AT II, § 31 Rn. 72.
53
Rotsch, ZIS 2018, 1 (2).
54
Der – hier verkürzt wiedergegebene – Sachverhalt und seine ausführliche Diskussion
finden sich bei: Merkel, FS Herzberg, 2008, S. 193.
55
§ 323c Abs. 1 setzt einen Unglücksfall oder gemeine Gefahr bzw. gemeine Not voraus.
Nach dem von Merkel geschilderten Sachverhalt fehlt es hieran aber. Daher steht hier tat-
sächlich sogar die Wahl zwischen einer Strafbarkeit nach § 222 wegen aktiven Tuns und
Straflosigkeit wegen Unterlassens in Rede.
Zur Täterschaft der Schwangeren beim Schwangerschaftsabbruch 1171

erhebt eine unerhebliche Abgrenzungsfrage zum streiterheblichen Gegenstand und


begibt sich in eine Diskussion „konturlose[r] Beliebigkeit“56.57 Tatsächlich liegt ein
Tun – das Abstellen der Heizung – und ein Unterlassen – das weitere Beheizen der
Räume – vor, die beide darauf zu untersuchen sind, ob sie jeweils die Voraussetzun-
gen der Strafbarkeit erfüllen.58 (Nur) Sofern dies der Fall ist, hat eine (konkurrenz-
rechtliche) Entscheidung zwischen den beiden Verhaltensweisen zu erfolgen.

IV. Die täterschaftliche Verantwortlichkeit


der Schwangeren
Kommen wir zurück auf unseren obigen Fall in Bsp. 3, den wir zur Beurteilung der
Strafbarkeit nun im Folgenden in unterschiedlicher Weise konkretisieren müssen
(unter 1. – 3.). Denn der Schwangerschaftsabbruch selbst wird in Deutschland im We-
sentlichen auf drei unterschiedliche Arten und Weisen durchgeführt und es liegt auf
der Hand, dass die konkrete Sachverhaltsausgestaltung – für die Beantwortung der
Frage nach der Tatherrschaft – entscheidend sein kann.

1. Erste Fallkonstellation

Bsp. 3a: Die schwangere S begibt sich zum Arzt A, bei dem sie den Abbruch mittels Vaku-
umaspiration unter örtlicher Betäubung vornehmen lässt.

Es stellt an sich eine Selbstverständlichkeit dar, dass die rechtliche Beurteilung


dieses Sachverhalts – wie immer – die Subsumtion unter die einschlägigen Strafvor-
schriften, in keiner Weise aber die apriorische und mehr oder weniger freihändige
Einordnung in irgendwelche vagen, nicht originär strafrechtlichen Kategorien vor-
aussetzt. Vor diesem Hintergrund lässt sich für die Schwangere eine Strafbarkeit
wegen Schwangerschaftsabbruchs gem. § 218 Abs. 1, Abs. 3 als unmittelbare Täte-
rin [dazu unter b)], mittelbare Täterin [dazu unter c)], Mittäterin [dazu unter d)] oder
als Unterlassungsverantwortliche [dazu unter e)] diskutieren. Zuvor ist freilich die
beteiligungsdogmatische Rolle des A zu klären [dazu unter a)].

a) Die Strafbarkeit des A gem. § 218 Abs. 1

Bei der Vakuumaspiration (als Form der sog. Absaugmethode) wird – regelmäßig
unter örtlicher Betäubung wie in Bsp. 3a – der Gebärmutterhals der Schwangeren
von der Scheide aus mit Metallstäbchen so weit aufgedehnt, dass ein sechs bis
zehn Millimeter dünner Schlauch in die Gebärmutter eingeführt werden kann.
56
Merkel, Herzberg FS, 2008, S. 193 (196).
57
Vgl. bereits Rotsch, ZIS 2018, 1 (3). Siehe auch die Nachw. bei Merkel, Herzberg FS,
2008, S. 196 in Fn. 7. Vgl. auch noch Kuhlen, Puppe FS, 2011, S. 669 (673).
58
Rotsch, ZIS 2018, 1 (3). Siehe auch noch Fn. 55.
1172 Thomas Rotsch

Über diesen Schlauch wird sodann das Schwangerschaftsgewebe abgesaugt. Der


Eingriff dauert nur wenige Minuten.59
Wird diese Methode vom Arzt angewandt, so verwirklicht zunächst er den Tatbe-
stand des § 218 Abs. 1 als unmittelbarer Täter gem. § 25 Abs. 1 Var. 1. Denn er führt
kausal und objektiv zurechenbar den Tod des Fötus herbei. Da er sämtliche Merkma-
le des Deliktstatbestandes unmittelbar eigenhändig verwirklicht, hat er auf dem
Boden der Tatherrschaft die Handlungsherrschaft inne60 und ist mithin als unmittel-
barer Täter des Schwangerschaftsabbruchs verantwortlich. Von der Frage nach einer
möglicherweise daneben bestehenden Tatherrschaft der S ist diese Feststellung zu-
nächst einmal vollständig unabhängig.

b) Die Strafbarkeit der S als unmittelbare Täterin,


§ 25 Abs. 1 Var. 1

Will man die Frage beantworten, ob S in diesem Sachverhalt – ebenfalls – un-


mittelbar täterschaftlich gem. § 25 Abs. 1 Var. 1 verantwortlich ist, ist bereits an
dieser Stelle der im Schrifttum geführte Streit um die Einordnung der Konstella-
tion, in der die Schwangere den Schwangerschaftsabbruch durch einen Dritten zu-
lässt,61 für irrelevant zu erklären. Denn durch das Unterbleiben des – aufgrund der
lediglich örtlichen Betäubung ihr weiterhin möglichen – Einschreitens gegen die
unmittelbar eigenhändige Abbruchshandlung durch den Arzt, lässt die Schwangere
natürlich den Abbruch durch den Arzt zu, sodass man auf die Idee verfallen könnte,
sogleich in die Diskussion um die Einordnung des Zulassens als aktives Tun oder
Unterlassen einzusteigen.62 Tatsächlich stehen hier aber zwei unterschiedliche Ver-
haltensweisen in Frage, die – s. o. III. 3. – getrennt voneinander zu untersuchen
sind: Zum einen geht es mit dem bloßen Zulassen des Abbruchs durch den Arzt
ganz offensichtlich um ein Unterlassen („Zulassen“). Hier steht aber zunächst
die – andere – Frage nach der Qualität der Beteiligung durch das Ermöglichen
des Abbruchs63 an. Dabei geht es auf dem Boden eines extensiven Tatherrschafts-
verständnisses aber ebenso eindeutig um aktives Tun wie es sich beim Zulassen des
Abbruchs um ein Unterlassen handelt, weil insoweit die dem eigentlichen Abbruch
vorangehenden Aktivitäten der Schwangeren – Aufsuchen des Arztes, Initiieren
des Abbruchs etc. – in die Betrachtung miteinbezogen werden. Schon dieses exten-

59
Hoffmann, Schwangerschaftsabbruch, Statistische, medizinische, soziologische und
psychologische Aspekte, 2013, S. 28; Salaschek, Die „Kind als Schaden“-Rechtsprechung im
Verhältnis zu den §§ 218 ff. StGB, 2018, S. 12.
60
Roxin, AT II, § 25 Rn. 38; ders., Täterschaft und Tatherrschaft, S. 546; LK-Schünemann,
§ 25 Rn. 53 ff.
61
Missverst. MüKo/StGB-Gropp, § 218 Rn. 40.
62
Die h.A. tut dies denn auch, vgl. z. B. MüKo/StGB-Gropp, § 128 Rn. 40; NK/StGB-
Merkel, § 218 Rn. 93; LK/StGB-Kröger, § 218 Rn. 17 ff.; BeckOK/StGB-Eschelbach, § 218
Rn. 8; Schönke/Schröder-Eser/Weißer, § 218 Rn. 31; Lackner/Kühl, § 218 Rn, 15.
63
Deutlich idS MüKo/StGB-Gropp, § 218 Rn. 40.
Zur Täterschaft der Schwangeren beim Schwangerschaftsabbruch 1173

sive Tatherrschaftsverständnis muss man nicht für richtig halten und es wird hier
auch nicht für richtig gehalten; aber selbst wenn man diese überwiegende Ansicht
teilt, spricht nichts dafür, die Begehungs- und Unterlassungselemente des naturge-
mäß vielfältigen, mehraktigen und zeitlich gestreckten Verhaltens der Schwange-
ren – wie die h.M. dies tut – unterschiedslos zu vermengen.
Zunächst ist also allein dasjenige Verhalten der Schwangeren zu beurteilen, das in
einem aktiven Tun besteht. Liegt der Fall so, dass die Schwangere den Arzt aufsucht
und den Abbruch der Schwangerschaft initiiert, der Abbruch wie in unserem Beispiel
aber unmittelbar eigenhändig durch den Arzt vorgenommen wird, lässt sich richti-
gerweise nicht davon sprechen, (auch) die Schwangere habe Handlungsherrschaft.
Die Handlungsherrschaft setzt, wie gesehen64, die unmittelbar eigenhändige Ver-
wirklichung sämtlicher Deliktsmerkmale voraus. Diese erfolgt aber alleine durch
den Arzt. Dass S ihren Körper für den Eingriff kooperativ zur Verfügung stellt, ändert
hieran ebenso wenig etwas wie der Umstand, dass die nur örtlich betäubte S den Ab-
bruch durch den Arzt noch hätte verhindern können. Denn die bloße Hinderungsmög-
lichkeit der Erfolgsverwirklichung begründet keine Tatherrschaft.65

c) Die Strafbarkeit der S als mittelbare Täterin,


§ 25 Abs. 1 Var. 2

Auch eine mittelbare Täterschaft lässt sich für S nicht annehmen. Denn die hierfür
erforderliche Willensherrschaft liegt bei S nicht vor. Sie lässt sich nach der Tatherr-
schaftslehre in den Fällen der Irrtumsherrschaft66, der Nötigungsherrschaft67 und,
nach überwiegend vertretener Auffassung innerhalb dieser Lehre, auch als Organi-
sationsherrschaft68 begründen. Die beiden ersten Konstellationen sind ersichtlich
nicht gegeben, denn die dafür erforderlichen Strafbarkeitsdefizite des Vordermanns
liegen bei A nicht vor. Aber auch die modernere Form der mittelbaren Täterschaft
kraft Organisationsherrschaft ist nicht einschlägig. Nach dem insoweit überwiegen-
den Tatherrschaftsverständnis setzt sie die Benutzung eines Tatmittlers im Rahmen
eines organisierten Unrechtsapparats voraus,69 woran es erkennbar fehlt.

64
Oben bei und in Fn. 60.
65
Roxin, AT II, § 31 Rn. 133.
66
Roxin, AT II, § 25 Rn. 61 ff.
67
Roxin, AT II, § 25 Rn. 47 ff.; ders., Täterschaft und Tatherrschaft, S. 131.
68
Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 250 f.; Wessels/Beulke/Satzger, AT Rn. 807;
ablehnend Rotsch, ZStW 112 (2000), 518 (561); ders., „Einheitstäterschaft“ statt Tatherr-
schaft, 2009, S. 372 ff.; Kindhäuser, AT, § 39 Rn. 40.
69
Roxin, GA 1963, 193; ders., Täterschaft und Tatherrschaft, S. 249 ff.; Ambos, GA 1998,
226 (235 ff.); MüKo/StGB-Joecks, § 25 Rn. 154; NK/StGB-Schild, § 25 Rn. 120 ff. mwN.
1174 Thomas Rotsch

d) Die Strafbarkeit der S als Mittäterin, § 25 Abs. 2

Dementsprechend wird von einigen – auch von Merkel70 – eine Strafbarkeit der S
als Mittäterin gem. § 25 Abs. 2 befürwortet.71 Auch hier wird man freilich zu unter-
scheiden haben: Das Zulassen des vom Arzt vorgenommenen Abbruchs durch die
Schwangere stellt ein Unterlassen dar (s. o.) und kann jedenfalls keine mittäterschaft-
liche Verantwortlichkeit wegen aktiven Tuns begründen. In Frage steht hier vielmehr,
ob das Aufsuchen des Arztes, das Initiieren des Abbruchs und ggfs. eine aktive Ko-
operation der S mit A eine Verantwortlichkeit der S als Mittäterin zu begründen im-
stande ist.
Auf dem Boden eines weiten Mittäterschaftsverständnisses, für das auch der ei-
gentlichen Tathandlung vorgelagerte Handlungen mittäterschaftsbegründend sein
können,72 ist die Frage ohne Weiteres zu bejahen. Ein restriktives Mittäterschaftsver-
ständnis hingegen wird sich damit freilich schwertun. Denn dazu bedürfte es der
funktionellen Tatherrschaft73 der S gerade im Tatausführungsstadium.
Wie stets bei der Anwendung des Tatherrschaftskriteriums hängt die Beantwor-
tung der Frage nach der Täterschaft insbesondere auch davon ab, welches Tatver-
ständnis man der eigenen Beurteilung zugrunde legt.74 Denn Täter soll hiernach ja
derjenige sein, der die Herrschaft über die Tat innehat. Je enger das Begriffsverständ-
nis im Hinblick auf die den betreffenden Tatbestand ausmachende Tat ist, desto klei-
ner wird der Kreis potentieller Täterstrafbarkeit. Die besondere Schwierigkeit bei
§ 218 besteht dabei darin, dass es sich bei diesem Straftatbestand um ein reines Ver-
ursachungsdelikt handelt. Wenn hier aber im objektiven Unrechtstatbestand lediglich
die kausale und objektiv zurechenbare Verursachung des tatbestandsmäßigen Erfolgs
vorausgesetzt wird (s. o.), so lässt sich naturgemäß trefflich darüber streiten, wo der
Beginn dieses – nicht über weitere Tatbestandsmerkmale konkretisierten – Kausal-
verlaufs zu lozieren ist, den der Beteiligte bzw. die Schwangere gerade täterschaftlich
verwirklicht haben muss.
Tatbestandsvoraussetzung des § 218 Abs. 1 ist, dass der Täter oder die Täterin die
Schwangerschaft abbricht. Oben wurde diese euphemistische Beschreibung in einer
ersten Konkretisierung übersetzt in die Aussage, Tathandlung sei jede „täterschaft-
lich bewirkte“ Handlung, die den Tod des Embryos herbeiführt.75 Geht man unter
70
NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 93.
71
RGSt 61, 360; LK-Kröger, § 218 Rn. 30; Lackner/Kühl, § 218 Rn. 16; AWHH-Hilgen-
dorf, BT, § 5 Rn. 33; Roxin, JA 1981, 542.
72
MüKo/StGB-Joecks, § 25 Rn. 195 ff.; Baumann, JuS 1963, 85 (86 f.); einschränkend
Kühl, JA 2014, 668 (671 f.).
73
Zur funktionellen Tatherrschaft grds. Roxin, AT II, § 25 Rn. 188 ff.; ders., Täterschaft
und Tatherrschaft, S. 275 ff. Zum Streit um die Voraussetzungen der Mittäterschaft im Ein-
zelnen Rotsch, Puppe FS, 2011, S. 887 (889 ff.); ders., ZJS 2012, 680 (682 ff.); ders., ZIS
2018, 1 (9 f.).
74
Vgl. Rotsch, „Einheitstäterschaft“ statt Tatherrschaft, 2009, S. 290 ff.
75
Siehe dazu oben II.
Zur Täterschaft der Schwangeren beim Schwangerschaftsabbruch 1175

Zugrundelegung des restriktiven Täterbegriffs76 davon aus, dass die Deliktstatbestän-


de des Besonderen Teils gerade die täterschaftliche Verwirklichung des Tatbestandes
beschreiben,77 folgt daraus für ein reines Verursachungsdelikt, dass die Bestrafung
als Täter die kausale und objektiv zurechenbare, täterschaftliche Verursachung
des tatbestandsmäßigen Erfolgs voraussetzt.78
Das alles ändert aber nicht das Geringste daran, dass der Beginn dieses täterschaft-
lich verwirklichten Geschehensablaufs streng tatbestandsbezogen festzulegen ist.
Und insoweit spricht der Gesetzgeber in § 218 durchaus hilfreich vom „Abbrechen“
der Schwangerschaft. Nur im Beginn der Abbruchshandlung kann daher der Beginn
des für die Feststellung der Tatherrschaft maßgeblichen Kausalverlaufs erblickt wer-
den. Die h.M. verlangt eine unmittelbare oder mittelbare Einwirkungshandlung auf
das Ungeborene.79 Damit verlagert das Problem sich freilich zunächst nur, weil
immer noch entschieden werden muss, wann die unmittelbare oder mittelbare Ein-
wirkung in diesem Sinne beginnt. Wann dies der Fall ist, konkretisiert mit § 22 dann
freilich eine Vorschrift aus dem Allgemeinen Teil des StGB. Danach ist insoweit
maßgeblich derjenige Zeitpunkt, in dem der Täter zur Verwirklichung des Tatbestan-
des unmittelbar ansetzt. Im Rahmen des § 218 Abs. 1 muss also zur Einwirkung auf
das Ungeborene unmittelbar angesetzt werden. Dabei stellt es keinen Widerspruch
dar, dass diese Einwirkung mittelbarer Natur sein kann, der Täter insoweit also un-
mittelbar zur mittelbaren Einwirkung angesetzt haben muss. Nimmt man als ein Pa-
radebeispiel mittelbarer Einwirkung die Einnahme sog. Prostaglandine durch die
Schwangere im Rahmen eines medikamentösen Schwangerschaftsabbruchs,80 so
liegt der Beginn der Abbruchshandlung im unmittelbaren Ansetzen zur Tablettenein-
nahme.
Nimmt, wie in unserem Bsp. 3a, der Arzt unmittelbar eigenhändig den Abbruch
vor, beginnt mithin in diesem Zeitpunkt die maßgebliche Zeitspanne, auf die die Tat-
herrschaft der Schwangeren sich beziehen muss. Damit sind insbesondere vor diesem
Zeitpunkt liegende Aktivitäten der Schwangeren – Aufsuchen des Arztes, Initiieren
des Schwangerschaftsabbruchs etc. – von der Betrachtung ausgenommen. Eine Mit-
täterschaft gem. § 25 Abs. 2 aufgrund dieser Vorbereitungshandlungen kommt daher
richtigerweise nicht in Betracht.81

76
Vgl. dazu den Überblick bei Schönke/Schröder-Heine/Weißer, Vor §§ 25 ff. Rn. 4 ff.
m.w.N.
77
Roxin, AT II, § 25 Rn. 5.
78
Daher überzeugt auch die Aussage von Roxin, AT II, § 25 Rn. 5, nicht, wonach der
richtige Ansatz zur Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme nicht in der Verursachung,
sondern der Tatbestandsverwirklichung liege. Denn bei den Verursachungsdelikten besteht die
Tatbestandsverwirklichung gerade in der Verursachung.
79
Vgl. ausführlich und instruktiv NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 51 ff.
80
Vgl. dazu noch unten Bsp. 3c unter 3.
81
Eine Mittäterschaft kraft Mitwirkung im Vorbereitungsstadium ist damit grundsätzlich
ausgeschlossen, vgl. bereits Rotsch, ZJS 2012, 680 (684). Ebenso seit jeher Roxin, AT II, § 25
Rn. 198 ff.; Herzberg, Täterschaft und Teilnahme, 1977, S. 64 ff.; Puppe, ZIS 2007, 234 (245).
1176 Thomas Rotsch

Auf dem Boden dieser restriktiven Sichtweise scheidet freilich eine Mittäterschaft
der Schwangeren auch für den hier für maßgeblich gehaltenen Zeitraum des Ab-
bruchs aus. Denn der Abbruch wird unmittelbar eigenhändig und vollständig allein
gem. § 25 Abs. 1 Var. 1 von dem Arzt durchgeführt. Genauer: Allein der Arzt ver-
ursacht den Tod des Fötus der S kausal und objektiv zurechenbar täterschaftlich.82

e) Die Strafbarkeit der S als Unterlassungsverantwortliche,


§ 218 Abs. 1, Abs. 3, 13

Damit kommt eine täterschaftliche Verantwortlichkeit der Schwangeren in


Bsp. 3a nur noch als Unterlassungstäterin in Betracht. Vor dem Hintergrund des
oben zur Kollision von aktivem Tun und Unterlassen Gesagten83 rückt damit (nur)
dasjenige Verhalten in den Fokus, das in der objektiv möglichen und rechtlich zumut-
baren Nichtverhinderung des tatbestandsmäßigen Erfolgs besteht84. Da S in dieser
Konstellation nur örtlich betäubt ist, hat sie jederzeit die Möglichkeit, den Abbruch
der Schwangerschaft durch A zu verhindern.
Bekanntlich ist nun umstritten, ob die Täterschaft beim unechten Unterlassungs-
delikt sich ebenfalls nach der Tatherrschaft bestimmen lässt.85 Richtigerweise wird
man davon ausgehen müssen, dass dies nicht möglich ist,86 Täter hier vielmehr – wie
bei den übrigen Pflichtdelikten87 – grundsätzlich derjenige ist, der die im Tatbestand
vorausgesetzte außerstrafrechtliche (Sonder-)Pflicht verletzt.88 Bei den unechten
Unterlassungsdelikten stellt die Garantenpflicht diese Sonderpflicht dar.89 Auch
wenn hier im Einzelnen noch Klärungsbedarf besteht, herrscht doch weitgehend Ei-
nigkeit zumindest darin, dass jedenfalls die Schwangere Garantin für das Leben des

Anders z. B. Arzt, JZ 1984, 428 (429); Baumann, JuS 1963, 85 (86); sowie insbes. die
Rechtsprechung des BGH, vgl. nur BGHSt 11, 268 (271). Zum Streitstand Kühl, AT, § 20
Rn. 110 ff., 126 ff.
82
Für die Schwangere kommt dann nach hier vertretener Auffassung allenfalls eine Teil-
nahmestrafbarkeit in Betracht, je nach Fallgestaltung als Anstifterin gem. § 26 oder als Ge-
hilfin i.S.d. § 27. Anders auf dem Boden eines extensiveren Mittäterschaftsverständnisses NK/
StGB-Merkel, § 218 Rn. 93; LK-Kröger, § 218 Rn. 19; AnwK/StGB-Mitsch, § 218 Rn. 6.
83
III. 3.
84
Zu den Voraussetzungen des unechten Unterlassungsdelikts vgl. Heinrich, AT, § 26
Rn. 881 ff.; Krey/Esser, AT, § 34 Rn. 1099 ff.; Rengier, AT, § 49; Kühl, AT, § 18 Rn. 1 ff.
m.w.N.
85
Dazu nur Roxin, AT II, § 31 Rn. 140 ff.; Heinrich, AT, Rn. 1212 ff.; jeweils m.w.N. Vgl.
aus jüngerer Zeit Haas, ZIS 2011, 392.
86
Kühl, AT, § 20 Rn. 270, 230 f.; Wessels/Beulke/Satzger, AT, Rn. 1211; LK-Schünemann,
§ 25 Rn. 205 ff.; NK/StGB-Gaede, § 13 Rn. 26.
87
Zur Pflichtdeliktslehre grundsätzlich Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 354 f.,
384 ff.
88
Rotsch, GS Joecks, 2018, S. 149 (161 f.).
89
Roxin, AT II, § 31 Rn. 140 ff.
Zur Täterschaft der Schwangeren beim Schwangerschaftsabbruch 1177

Ungeborenen ist.90 Trennt man also – wie hier – das aktive Tun strikt vom Unterlas-
sen, so ist die Schwangere im Fall des bloßen Zulassens des Abbruchs durch den Arzt
strafbar als Täterin des unechten Unterlassungsdelikts gem. §§ 218 Abs. 1, Abs. 3,
13 Abs. 1.91

2. Zweite Fallkonstellation

Noch immer weit verbreitet in Deutschland ist die Methode der Ausschabung (Cu-
rettage).92 Hierbei wird zunächst ebenfalls der Gebärmutterhals geweitet. Sodann
schiebt der Arzt über die Vagina einen Löffel in die Gebärmutter und entfernt die
oberste innere Schicht und damit auch das Embryonalgewebe. Auch dieser Eingriff
gilt als komplikationsarm, aber etwas risikoreicher als die Absaugmethode; er wird
daher regelmäßig in Vollnarkose durchgeführt und dauert etwa 15 Minuten.
Bsp. 3b: Die schwangere S begibt sich zum Arzt A, bei dem sie den Abbruch mittels Curet-
tage in Vollnarkose vornehmen lässt.

Es lässt sich leicht sehen, dass in dieser Konstellation sich zunächst an der Straf-
barkeit des Arztes gem. § 218 Abs. 1, 25 Abs. 1 Var. 1 nichts ändert. Denn auch hier
nimmt er den Abbruch unmittelbar eigenhändig vor.93 Da in dieser Variante die
Schwangere aufgrund ihrer Bewusstlosigkeit während des Abbruchs auch nicht in-
tervenieren kann, können Zweifel an der Handlungsherrschaft des Arztes hier von
vornherein nicht aufkommen. Für S bedeutet dies, dass hier ebenso wie in Bsp. 3a
eine eigene Handlungsherrschaft und damit unmittelbare Täterschaft gem. § 25
Abs. 1 Var. 1 ausscheidet. Wie oben kommt sodann auch hier eine mittelbare Täter-
schaft der S gem. § 25 Abs. 1 Var. 2 nicht in Betracht. Aber auch Mittäterschaft gem.
§ 25 Abs. 2 kann nicht vorliegen. Teilt man den hier vertretenen Ausgangspunkt, dass
die Tatherrschaft der S sich auf den unmittelbaren Tatausführungszeitraum beziehen
muss, können auch hier vor diesem Zeitpunkt liegende Aktivitäten der Schwangeren
– Aufsuchen des Arztes, Initiieren des Schwangerschaftsabbruchs etc. – eine (mit-)
täterschaftliche Verantwortlichkeit der S nicht begründen. Und für den hier für maß-
geblich gehaltenen Zeitraum des Abbruchs kommt eine Mittäterschaft der S erst
recht nicht in Betracht. Denn in diesem maßgeblichen Tatausführungszeitraum ist
es ihr aufgrund ihrer Bewusstlosigkeit unmöglich, irgendeine Form der Tatherrschaft
90
Vgl. ausführlich NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 94 ff. (95).
91
Für die Vertreter eines extensiveren Mittäterschaftsverständnisses – die entscheidend auf
die Aktivitäten der Schwangeren im Vorfeld abstellen und daher in diesen Fällen nicht zu
einem Unterlassen kommen – bleibt dennoch ein Anwendungsbereich des unechten Unter-
lassens, und zwar in Fällen, in denen es an einer tatvorbereitenden Aktivität der Schwangeren
fehlt, so z. B. wenn die Schwangere während einer routinemäßigen gynäkologischen Unter-
suchung plötzlich vom Arzt vorgenommene Abbruchshandlungen bemerkt und nicht verhin-
dert, siehe NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 93.
92
Vgl. Hoffmann, Schwangerschaftsabbruch, Statistische, medizinische, soziologische und
psychologische Aspekte, 2013, S. 30.
93
Vgl. oben 1. a).
1178 Thomas Rotsch

auszuüben. Auch hier wird der Abbruch unmittelbar eigenhändig und vollständig al-
lein gem. § 25 Abs. 1 Var. 1 von dem Arzt durchgeführt.
Zu einem anderen Ergebnis als in Bsp. 3a führen aber die Überlegungen zur Un-
terlassungsstrafbarkeit der S in Bsp. 3b. Während im Ausgangsfall zumindest noch
eine Strafbarkeit der S gem. §§ 218 Abs. 1, Abs. 3, 13 begründet werden kann,94 ist
auch diese Möglichkeit hier versperrt. Zwar ändert sich selbstverständlich nichts an
der Garantenpflicht der S. Auf der Grundlage der hier vorgenommenen strikten Tren-
nung von Tun und Unterlassen und des daraus folgenden Umstandes, dass für die
Strafbarkeit der S wegen unechten Unterlassens nur das reine (passive) Zulassen
des vom Arzt durchgeführten Abbruchs in Betracht kommt,95 scheidet eine Strafbar-
keit der S als Unterlassungstäterin hier jedoch aus. Denn die Strafbarkeit des Unter-
lassens setzt die individuelle Handlungsfähigkeit voraus.96 An ihr fehlt es, wenn dem
Normadressaten die erwartete Handlung körperlich unmöglich ist.97 Das ist auch
dann der Fall, wenn – wie hier – die Handlungsunfähigkeit auf Bewusstlosigkeit be-
ruht.98 Zweifel an diesem Ergebnis kann nur derjenige haben, der auf einen solchen
Fall die Grundsätze der omissio libera in causa anwenden will.99 Dagegen spricht –
neben ganz grundsätzlichen Einwänden100 – jedenfalls in unserer Fallkonstellation,
dass man auf diesem Weg eine Aktivität der Schwangeren im Vorbereitungsstadium,
die dogmatisch allenfalls eine Teilnahmestrafbarkeit begründen kann, zur (Unterlas-
sungs-)Täterschaft aufwertete.
In Bsp. 3b scheidet eine Strafbarkeit der Schwangeren als Täterin daher aus.

3. Dritte Fallkonstellation

Die dritte in Deutschland verbreitete Methode des Schwangerschaftsabbruchs


stellt die medikamentöse Behandlung dar.101 Dabei wird in der Regel das künstliche
Hormon Mifepriston eingesetzt. Im Ergebnis wird dadurch die Schleimhaut der Ge-
bärmutter abgelöst. Es kommt zu einer Blutung, die Plazenta löst sich ab, der Embryo
und seine Höhle werden ausgestoßen. Die Schwangerschaft endet dann ähnlich wie
bei einem spontanen Abgang bei einer Fehlgeburt.102

94
Siehe oben 1. e).
95
1. e).
96
Roxin, AT II, § 31 Rn. 8; Wessels/Hettinger/Engländer, BT I, Rn. 164 f.
97
Vgl. nur Roxin, AT II, § 31 Rn. 8.
98
Kühl, AT, § 18 Rn. 12, 32.
99
Vgl. grds. Kühl, AT, § 18 Rn. 22; schon grds. kritisch NK/StGB-Wohlers/Gaede, § 13
Rn. 13.
100
Vgl. NK/StGB-Wohlers/Gaede, § 13 Rn. 13.
101
Zur Verteilung der Methoden siehe Hoffmann, Schwangerschaftsabbruch, Statistische,
medizinische, soziologische und psychologische Aspekte, 2013, S. 30.
102
Vgl. hierzu ausf. Holzgreve/Danzer, Frauenheilkunde und Geburtshilfe, 2. Aufl. 2003,
S. 128 (131).
Zur Täterschaft der Schwangeren beim Schwangerschaftsabbruch 1179

Bsp. 3c: Die schwangere S begibt sich zum Arzt A, um ihre Schwangerschaft abbrechen zu
lassen. Da S sich noch in der Frühschwangerschaft befindet, verständigen A und S sich auf
einen medikamentösen Abbruch mittels Mifepriston. Unter Aufsicht des A nimmt S die Ta-
blette ein und kann anschließend die Praxis verlassen. Wie mit A abgesprochen, nimmt S
zwei Tage später zu Hause zusätzliche Hormone, sog. Prostaglandine, in Tablettenform
ein. Die Prostaglandine führen dazu, dass die Gebärmutter der S sich zusammenzieht
und das Schwangerschaftsgewebe innerhalb von drei Stunden durch eine Blutung ausgesto-
ßen wird. Bei der obligatorischen Nachuntersuchung zehn Tage später stellt A per Ultra-
schalluntersuchung fest, dass der Abbruch erfolgreich war.

In dieser vollständig anders gelagerten Konstellation liegt die Handlungsherr-


schaft nun nicht mehr bei A, sondern bei S. Denn nun ist es S, die den Abbruch un-
mittelbar eigenhändig und vollständig allein vornimmt. Dass sie dies zumindest im
Hinblick auf die Einnahme der ersten Tablette unter Aufsicht des A tut, ändert hieran
ebenso wenig etwas, wie der Umstand, dass sie – anders als A in Bsp. 3a und 3b –
nicht unmittelbar auf den Fötus, sondern auf diesen durch die Tabletteneinnahme
nur mittelbar einwirkt.103 Für die Konstellation in Bsp. 3c wird man daher zu dem
Ergebnis kommen müssen, dass S unmittelbare Alleintäterin eines Schwanger-
schaftsabbruchs durch aktives Tun gem. §§ 218 Abs. 1, Abs. 3, 25 Abs. 1 Var. 1
ist. A kann hier allenfalls als Teilnehmer strafbar sein.

V. Ergebnis
Die Beteiligungsdogmatik fristet im Rahmen der Diskussion des Schwanger-
schaftsabbruchs gem. § 218 – erstaunlicherweise und zu Unrecht – ein Schattenda-
sein. Schon die verbreitete Unterscheidung in Selbst- und Fremdabbruch hilft in der
Sache nicht weiter. Sie beschränkt sich auf eine phänomenologische Beschreibung
der zwei grundsätzlich denkbaren unterschiedlichen Sachverhaltskonstellationen,
impliziert aber eine – unzutreffende – Zuschreibung täterschaftlicher Verantwort-
lichkeit. Die nach der weithin praktizierten Differenzierung zwischen Selbst- und
Fremdabbruch eigentlich konsequente Einordnung des Selbstabbruchs als Sonderde-
likt erfolgt dabei erstaunlicherweise – im Ergebnis freilich zu Recht – nicht. Ent-
scheidend für die Beantwortung der Frage nach der Täterschaft der Schwangeren
kann auf dem Boden der Tatherrschaftslehre auch i.R.d. § 218 nur die Tatherrschaft
sein. Diese ist dann aber auch für jeden Einzelfall zu begründen. Dabei hat eine aprio-
rische, mehr oder weniger freihändige Festlegung zugunsten eines Tuns oder eines
Unterlassens nach dem „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“ zu unterbleiben. Gegebe-
nenfalls sind sämtliche in Betracht kommenden Verhaltensweisen getrennt und voll-
ständig auf ihre Strafbarkeit hin zu untersuchen. Aufgrund der ganz unterschiedli-
chen in Deutschland praktizierten Methoden des Schwangerschaftsabbruchs verbie-
ten sich hierbei pauschale Aussagen zur Täterschaft der Schwangeren. Es lässt sich
wie folgt differenzieren: Wird der Abbruch vom Arzt mittels Absaugung unter ört-
103
Siehe bereits oben 1. d).
1180 Thomas Rotsch

licher Betäubung der Schwangeren vorgenommen, ist der Arzt unmittelbarer Täter
eines Schwangerschaftsabbruchs gem. §§ 218 Abs. 1, 25 Abs. 1 Var. 1, die Schwan-
gere Unterlassungstäterin gem. §§ 218 Abs. 1, Abs. 3, 13. Nimmt der Arzt den Ab-
bruch im Wege der Ausschabung und unter Vollnarkose der Schwangeren vor, so ist
der Arzt erneut strafbar als unmittelbarer Alleintäter gem. §§ 218 Abs. 1, 25 Abs. 1
Var. 1; die Schwangere hat sich in diesem Fall nicht täterschaftlich, auch nicht als
Unterlassungstäterin, strafbar gemacht. Liegt ein medikamentöser Abbruch vor,
bei dem die Schwangere die erforderliche Tabletteneinnahme selbst vornimmt, ist
sie hingegen unmittelbare Täterin gem. §§ 218 Abs. 1, Abs. 3, 25 Abs. 1 Var. 1.
Der Arzt kann sich in dieser Konstellation allenfalls als Teilnehmer gem. §§ 26,
27 strafbar machen. Die Schwangere ist also zwar die „Zentralgestalt“ der Schwan-
gerschaft, die Zentralgestalt des Schwangerschaftsabbruchs ist sie deshalb aber nicht
zwingend.
§ 219a StGB in neuer Gestalt
Anmerkungen zu einem Lehrstück zeitgenössischer Rechtspolitik

Von Klaus Rogall

I. Einführung
Mit Reinhard Merkel, dem verehrten Jubilar, verbindet mich die Arbeit an straf-
rechtlichen Themen, die Gegenstand gemeinsamen wissenschaftlichen Interesses
sind. Das gilt z. B. für die Problematik der Willensfreiheit, mit der sich Reinhard Mer-
kel eingehend beschäftigt hat1 und der auch ich Betrachtungen gewidmet habe.2 Auch
das Strafrecht des Schwangerschaftsabbruchs (§§ 218 ff. StGB) gehört zu einem
Werkbereich, den sowohl Reinhard Merkel3 als auch ich4 intensiv bearbeitet
haben. Unsere Kommentierungen erstrecken sich dabei natürlich auch auf § 219a
StGB, der bekanntlich aus Anlass eines Einzelfalles5 in den Fokus des öffentlichen
Interesses getreten und schließlich – nach Verbreitung zahlreicher „Fake News“6 –
den Gesetzgeber zum Eingreifen veranlasst hat.7 In diesem Fall ging es um eine All-
gemeinmedizinerin (!),8 die den Internetauftritt ihrer Praxis dazu genutzt hatte, Pa-
tienten über ihre Bereitschaft zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen und
über die dabei anzuwendenden Methoden zu informieren. Neben weiteren Hinwei-
sen wurde auch darauf aufmerksam gemacht, dass die Patientin neben der Beratungs-
1
Merkel Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2. Aufl. 2014; ders., FS Roxin 2011,
S. 737.
2
SK-StGB/Rogall, 9. Aufl. 2017, Vor § 19 Rn. 5 – 40.
3
NK-StGB/Merkel, 5. Aufl. 2017, Vor § 218-§ 219b.
4
SK-StGB/Rogall, 9. Aufl. 2017, Vor § 218-§ 219b.
5
Fall Kristina Hänel, AG Gießen (Urt. v. 24. 11. 2017 – 507 Ds 501 Js 15031/15) NStZ
2018, 416 m. Anm. Wörner = NJ 2018, 433 m. Anm. Sasse = MedR 2019, 77 m. Anm.
Fischer/Scheliha; vgl. ferner Duttge medstra 2018, 129; Preuß, medstra 2018, 131; Kaiser/
Eibach, medstra 2018, 273; Berghäuser, JZ 2018, 497; Kraatz, NStZ-RR 2019, 101; Jansen,
jurisPR-StrafR 7/2018 Anm. 2.
6
Zutr. Duttge, medstra 2018, 129.
7
Gesetz zur Verbesserung der Information über einen Schwangerschaftsabbruch v. 22. 03.
2019, BGBl. I S. 350.
8
Zu der Frage, was davon zu halten ist, vgl. Kiworr Stellungnahme für die parlamentari-
sche Anhörung zur Frage einer Reform des § 219a StGB im Deutschen Bundestag am 27. 06.
2018, S. 4 f. (https://www.bundestag.de/resource/blob/562018/7b05511252592328184e8a2d5 f
89 f73f/kiworr-data.pdf).
1182 Klaus Rogall

bescheinigung u. a. eine Kostenübernahmeerklärung oder aber Bargeld zum Termin


mitzubringen habe.9 Das AG Gießen hat die Ärztin wegen Werbung für den Schwan-
gerschaftsabbruch nach § 219a StGB verurteilt und ist dabei davon ausgegangen,
dass schon die bloße Erklärung der Bereitschaft, Schwangerschaftsabbrüche durch-
zuführen, vom Tatbestand erfasst wird.10 Der Ärztin war aus einem früher gegen sie
geführten Ermittlungsverfahren, das im Ergebnis eingestellt wurde, bekannt, dass die
Rechtslage vom LG Bayreuth11 und der StA Gießen ebenso beurteilt worden war.12
Ein Verbotsirrtum konnte ihr damit nicht zugute gehalten werden;13 der Sache nach
handelt es sich – wie auch bei Folgeverfahren, die andere Ärztinnen betreffen –, of-
fensichtlich um Fälle von Überzeugungstäterschaft.14 Auf die Berufung der Ange-
klagten hat das LG Gießen15 die Entscheidung des AG Gießen bestätigt. Das Beru-
fungsurteil hält dabei fest,16 dass es der angeklagten Ärztin darum zu tun war, die
Anwendung des § 219a StGB aus politischen Gründen zu erzwingen.17
Die Verurteilung der Ärztin hat empörte Reaktionen im politischen Raum hervor-
gerufen.18 Teilweise wurde sogar die völlige Freigabe des Schwangerschaftsab-
bruchs gefordert,19 eine Lösung, die mit den vom BVerfG aufgestellten und bislang
nicht revozierten verfassungsrechtlichen Anforderungen20 ersichtlich unvereinbar
ist. Im Deutschen Bundestag verlangten die Fraktion Die Linke,21 die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen22 sowie zunächst auch die Fraktion der SPD23 eine Aufhebung des

9
Zum Sachverhalt AG Gießen NStZ 2018, 416.
10
AG Gießen NStZ 2018, 416 f.
11
ZfL 2007, 16.
12
AG Gießen NStZ 2018, 417.
13
AG Gießen NStZ 2018, 417; Sasse, NJ 2018, 434 f.
14
Zutr. wiederum Duttge, medstra 2018, 129, der mit Recht auf die rechtsfeindliche
Grundhaltung der Angeklagten und den offensichtlichen Rechtsungehorsam der interessierten
Kreise hinweist; nach einigem Hin und Her im Ergebnis ebenso Berghäuser, medstra 2019,
123 (128); zum Überzeugungstäter und zur strafrechtlichen Beurteilung seiner Aktivitäten vgl.
SK-StGB/Rogall, Vor § 19 Rn. 50 ff., 56, 64 f.
15
GesR 2019, 115 = medstra 2019, 119 m. Anm. Berghäuser.
16
GesR 2019, 118 = medstra 2019, 122.
17
Auf den weiteren Fortgang des Verfahrens wird zurückzukommen sein.
18
Näher dazu Dorneck, medstra 2019, 137 f.; zur Unsäglichkeit mancher Äußerungen vgl.
nochmals Duttge, medstra 2018, 129 f.; s. auch Duttge/Steuer, ZRP 2019, 119 (120).
19
So etwa von den Jusos in der SPD (https://www.jusos.de/content/uploads/2018/12/g1_
fuer-ein-recht-auf-reproduktive-selbstbestimmung-legalisierung-von-schwangerschaftsabbrue
chen.pdf) und von Seiten der Bundestagsfraktion Die Linke (https://www.linksfraktion.de/the
men/a-z/detailansicht/schwangerschaftsabbruch); vgl. ferner den dringlichen Antrag der Frak-
tion Die Linke im Hessischen Landtag, LT-Drucks. 19/5455 sowie der Fraktion Die Linke in
der Hamburger Bürgerschaft, Drucks. 21/11248.
20
Vgl. BVerfGE 88, 203 ff.
21
BT-Drucks. 19/93 v. 22. 11. 2017.
22
BT-Drucks. 19/630 v. 02. 02. 2018.
§ 219a StGB in neuer Gestalt 1183

§ 219a StGB. Die Fraktion der FDP24 schlug dagegen eine Einschränkung des Wer-
beverbots vor, die darin bestand, dass künftig nur die Werbung in anstößiger Weise
und die Werbung für strafbare Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe stehen soll-
ten.25 Auch im Bundesrat wurde eine Aufhebung von § 219a StGB gefordert.26
Die letztlich unvereinbaren Positionen innerhalb der Regierungskoalition führten
schließlich zu einem politischen Kompromiss in Gestalt eines Entwurfs,27 der
dann später Gesetz geworden ist.
Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages hat
am 27. Juni 201828 und am 18. Februar 201929 Anhörungen zu den jeweils vorliegen-
den Gesetzentwürfen durchgeführt.30 Der verehrte Jubilar hat an beiden Anhörungen
als Sachverständiger teilgenommen und ist dabei im Ergebnis für eine Aufhebung
des § 219a StGB unter gleichzeitiger Schaffung eines Bußgeldtatbestandes gegen an-
stößige Werbung31 eingetreten.32 Ich selbst habe – und darin ist der Beobachtung von
Gereon Wolters33 recht zu geben – in meiner Kommentierung des § 219a StGB kei-
nen Änderungsbedarf gesehen.34 Insoweit besteht also zwischen Reinhard Merkel
und mir ein Dissens, der den Anlass für das Aufgreifen des Themas in diesem Beitrag

23
BT-Drucks. 19/1046 v. 02. 03. 2018. Der Gesetzentwurf wurde später zugunsten eines
gemeinsamen Koalitionsentwurfs zurückgezogen.
24
BT-Drucks. 19/820 v. 20. 02. 2018.
25
Hiervon wollte die FDP-Fraktion später nichts mehr wissen, vgl. dazu ihren Antrag v.
12. 12. 2018, § 219a StGB unverzüglich streichen – Informationen über Schwangerschaftsab-
brüche zulassen, BT-Drucks. 19/6425.
26
Antrag der Länder Berlin, Brandenburg, Hamburg und Thüringen, BR-Drucks. 761/17
(neu) v. 12. 12. 2017.
27
BT-Drucks. 19/7693 v. 12. 02. 2019.
28
https://www.bundestag.de/ausschuesse/a06_Recht/anhoerungen#url=L2F1c3NjaHVlc3
NlL2EwNl9SZWNodC9hbmhvZXJ1bmdlbl9hcmNoaXYvLTIxOWEtc3RnYi01NTYxMzQ=
&mod=mod559522.
29
https://www.bundestag.de/ausschuesse/a06_Recht/anhoerungen#url=L2F1c3NjaHVlc
3NlL2EwNl9SZWNodC9hbmhvZXJ1bmdlbl9hcmNoaXYvLTIxOWEtc3RnYi01OTMyMDQ
=&mod=mod559522.
30
Zur Kritik an und zur Skepsis gegenüber derartigen Anhörungen und ihren Erträgen
treffend Eisenberg, FS Rogall 2018, S. 43 ff.
31
Genauer gesagt befürwortet der Jubilar eine Streichung des Merkmals „seines Vermö-
gensvorteils wegen“ in § 219a StGB. Alle Fälle grob anstößigen Verhaltens sollen weiter
verboten bleiben. Dieses Verbot sei aber besser in einem Tatbestand des OWiG aufgehoben,
vgl. Merkel (Fn. 29), S. 4.
32
Vgl. https://www.bundestag.de/resource/blob/561798/6 f95 f886b06018ab273eeef86c6d
7400/merkel-data.pdf; https://www.bundestag.de/resource/blob/593848/4939049a0 f9a7239bd1
ccf3ce73299c9/merkel-data.pdf.
33
FS Rogall 2018, S. 417 (418 m. Fn. 14): „Während Merkel bei § 219a StGB ein Über-
maß der Kriminalisierung erkennt (NK-StGB, § 219a Rn. 4), sieht der Jubilar (gemeint ist der
Verf.) in seiner Kommentierung keinen Handlungsbedarf.“
34
Daher fehlen auch Ausführungen zur kriminalpolitischen Beurteilung des § 219a StGB.
Das soll aber hier nachgeholt werden.
1184 Klaus Rogall

bildet, ein Beitrag, der dem Jubilar mit herzlichen Glückwünschen zum Geburtstag
gewidmet ist.

II. Die Haltung des Jubilars zu § 219a StGB


Schon in seiner Kommentierung zu § 219a StGB äußert der Jubilar verfassungs-
rechtliche Bedenken gegen die Vorschrift, die nicht zwischen tatbestandslosen
(§ 218a Abs. 1 StGB) bzw. rechtmäßigen (§ 218a Abs. 2, 3 StGB) Abbrüchen einer-
seits und rechtswidrigen Abbrüchen andererseits unterscheide, so dass er auch Ver-
haltensweisen im Vorfeld rechtlich erlaubten Handelns erfasse.35 Daraus folge im Er-
gebnis, dass die Norm nicht als Delikt gegen das Leben, sondern nur als „Klima-
schutz“-Delikt verstanden werden könne.36 Der Jubilar betont die „normative Inkon-
sistenz der Strafbarkeit einer Werbung für gesetzmäßiges Handeln“ und verlangt de
lege ferenda eine Herausnahme der Werbung für straflose Abbrüche aus dem StGB.37
Bei der 1. Anhörung im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Deut-
schen Bundestages am 27. Juni 201838 hat der Jubilar seine Beurteilung der Straf-
norm des § 219a StGB in akzentuierter Weise fortgeführt. Er betont ausdrücklich,
dass sachliche Hinweise auf das ärztliche Angebot rechtmäßiger oder tatbestandslo-
ser Abbrüche von Verfassungs wegen nicht unter Strafe stehen dürften.39 Soweit
§ 219a StGB dies anordne, sei die Norm insbesondere wegen Verstoßes gegen die
ärztliche Berufsfreiheit (Art. 12 GG) und das Informationsrecht der Schwangeren
(Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) verfassungswidrig.40 Sachlich gehaltene Informationen
über das Angebot nicht strafbarer Abbrüche könnten weder das ungeborene Leben
beeinträchtigen41 noch zur Entwicklung einer „allgemeinen moralischen Indolenz“
führen.42 Die Unzulässigkeit einer Strafbewehrung zeige sich auch daran, dass
§ 219a StGB der Sache nach ein „Sich-Erbieten“ zum Abbruch pönalisiere. I.S.d.
§ 30 Abs. 2 StGB sei ein solches Erbieten aber nur strafbar, wenn es sich bei der an-
gebotenen Tat um ein Verbrechen handele. Daran fehle es aber bei den §§ 218 ff.
StGB.43 Verboten bleiben solle aber das Anbieten und Ankündigen tatbestandsmäßi-
ger und rechtswidriger Abbrüche, das Anpreisen auch nicht strafbarer Abbrüche
35
NK-StGB/Merkel, § 219a Rn. 2. Merkel stimmt darin mit anderen Autoren überein,
deren Einschätzung dieselbe ist, vgl. AnwK/Mitsch, 2. Aufl. 2015, § 219a Rn. 1; Arzt/Weber/
Heinrich/Hilgendorf, StrafR Bes. Teil, 3. Aufl. 2015, Rn. 5/40; Schroeder, ZRP 1992, 409
(410).
36
Näher dazu NK-StGB/Merkel, § 219a Rn. 2 f.
37
NK-StGB/Merkel, § 219a Rn. 3a.
38
Vgl. dazu Fn. 28.
39
Stellungnahme S. 3 f.
40
Stellungnahme S. 3, 4.
41
Stellungnahme S. 2, 3 ff.
42
Stellungnahme S. 2.
43
Stellungnahme S. 3.
§ 219a StGB in neuer Gestalt 1185

sowie grob anstößige Formen des Anbietens oder Ankündigens. Der Platz für eine
entsprechende Verbotsnorm sei aber nicht das StGB, sondern das OWiG.44 Bedenken
gegen eine Aushebelung der Gesamtarchitektur des zu den §§ 218 ff. StGB gefunde-
nen gesetzgeberischen Kompromisses sieht der Jubilar nicht.45 Eine Bestätigung für
seine Ansicht findet der Jubilar in einem im Rahmen eines Zivilrechtsstreites ergan-
genen Beschluss der 1. Kammer des 1. Senats des BVerfG,46 wonach es einem Arzt
dann, wenn die Rechtsordnung Wege zur Durchführung von Schwangerschaftsab-
brüchen durch Ärzte eröffnet, ohne negative Folgen für ihn möglich sein müsse, dar-
auf hinzuweisen, dass Patientinnen seine Dienst in Anspruch nehmen können.
Bei der 2. Anhörung im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Deut-
schen Bundestages am 18. Februar 201947 hat der Jubilar seine Bedenken auch ge-
genüber § 219a StGB i. d. F. des Koalitionsentwurfs aufrechterhalten, aber doch in
gewisser Weise modifiziert. Nach wie vor seien alle sachlichen, unanstößigen und
rechtlich zutreffenden Hinweise keine legitime Verbotsmaterie, und zwar weder
unter dem Aspekt einer Gefährdung des Schutzguts des ungeborenen Lebens noch
im Hinblick auf die zweite Schutzaufgabe der Norm, dem Schutz vor einer Verwahr-
losung des gesellschaftlichen Klimas.48 Die „rechtsstaatlich gebotene Bereinigung
des § 219a Abs. 1 StGB“ könne unschwer durch Streichung des Merkmals „seines
Vermögensvorteils wegen“ herbeigeführt werden.49 Strafbedroht blieben dann allein
„grob anstößige“ Tatbestandsverwirklichungen, wobei dieses Verbot allerdings bes-
ser im Ordnungswidrigkeitenrecht aufgehoben wäre.50

III. Zum gebotenen Verständnis des § 219a StGB (a.F.)


Bevor auf das Pro und Contra innerhalb der rechtspolitischen Diskussion, an der
sich der Jubilar wie gezeigt scharfsinnig beteiligt hat, einzugehen ist, empfiehlt es
sich, Inhalt und Reichweite der Verbotsmaterie des § 219a StGB genauer zu analy-
sieren.51 Es besteht nämlich Grund zu der Annahme, dass die Vorschrift vielfach –
möglicherweise sogar absichtlich – missverstanden worden ist.

44
Stellungnahme S. 7 ff.
45
Stellungnahme S. 5 ff.
46
BVerfG NJOZ 2008, 151 (156).
47
Vgl. dazu Fn. 29.
48
Stellungnahme S. 2 f.
49
Stellungnahme S. 4.
50
Stellungnahme S. 4 Fn. 5.
51
Zur rechtstatsächlichen Seite vgl. die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine An-
frage der Abg. Gyde Jensen et al. und der Fraktion der FDP – Evaluation des § 219a des
Strafgesetzbuchs, BT-Drucks. 19/6934, S. 4 ff.; Antwort der Bundesregierung auf die Kleine
Anfrage der Abg. Ulle Schauws et al. und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – Information
über das Angebot von Einrichtungen zur Vornahme des Schwangerschaftsabbruches, BT-
Drucks. 19/6519, S. 4 ff.
1186 Klaus Rogall

1. Zur Entstehung des § 219a StGB

Vorab ist zu bemerken, dass die in der rechtspolitischen Debatte vielfach ge-
schwungene „Nazikeule“52 nicht zieht.53 Die Einführung der Vorschrift durch
Art. I Nr. 14 des Gesetzes vom 26. Mai 193354 beruht auf Vorarbeiten zu Zeiten
des Kaiserreichs und der Weimarer Republik55 und wäre höchstwahrscheinlich
auch ohne die Machtergreifung der Nationalsozialisten zustande gekommen. So
wurde 1922 im Reichstag über einen Gesetzentwurf diskutiert, der sich auch
gegen das offene oder verschleierte Anbieten eigener oder fremder Dienste zur Vor-
nahme oder Förderung von Abtreibungen richtete.56 Die Wiederherstellung der
Norm durch Art. 2 Nr. 35 des 3. StrÄndG vom 04. August 195357 und ihre späteren
Änderungen bzw. Ergänzungen durch (u. a.) das 15. StrÄndG vom 18. Mai 197658
und das SFHÄndG vom 21. August 199559 zeigen deutlich, dass es sich bei
§ 219a StGB um ein rechtsstaatlich legitimes Gesetzesprodukt handelt. Im Rahmen
der Strafrechtsreform gelangten die Verfasser des E 1962 zu der Einschätzung, dass
sich die Vorschriften über das verbotene Werben für den Abbruch der Schwanger-
schaft und das Anbieten zur Abtreibung (§§ 143, 144 E 1962) bewährt hätten.60
Die Verfasser des AE wollten von einem Werbeverbot für eigene oder fremde Dienste
dagegen absehen, weil es sich der Sache nach um eine Erweiterung des § 49a StGB
(jetzt: § 30 StGB) handele und eine derartige Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes
bei der vom AE vorgeschlagenen Neuregelung der Abtreibungsdelikte entbehrlich
sei.61 Die Mittelpropagierung (§ 219a Abs. 1 Nr. 2 StGB) wollte der AE streichen,
weil es sich um eine gewerbepolizeiliche Materie handele, die nicht ins StGB gehö-

52
In diesem Sinne etwa Frommel, NK 2018, 300 (304, 312 ff.); dies., FS Fischer 2018,
1049 (1058 ff.); dies., JR 2018, 239 f.; dies., jM 2019, 165 (168 f.); Deutscher Juristinnenbund,
Stellungnahme (Fn. 28), S. 2 ff.
53
Zutr. Hillenkamp, HessÄBl. 2018, 92; Kubiciel, ZRP 2018, 13 (14); Sasse, NJ 2018, 434;
Schweiger, ZRP 2018, 98 (99).
54
RGBl. S. 295.
55
Vgl. KE 1913 § 284; E 1919 § 287 Abs. 2, E 1925 § 229 Abs. 2, E 1927 und E 1930
§§ 255, 256; zur rechtshistorischen Seite des Problems näher Koch Schwangerschaftsabbruch
(§§ 218 ff. StGB), S. 117 f., 132, 145 ff.; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundes-
tages, Sachstand: Entstehungsgeschichte des § 219a StGB v. 08. 12. 2017 – WD 7 – 3000 – 159/
17; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Dokumentation, Strafbarkeit des
Schwangerschaftsabbruchs. Entstehung und Entwicklung der Tatbestände in der Bundesre-
publik Deutschland und in der DDR v. 15. 03. 2019 – WD 7 – 3000 – 048/19; s. auch Sasse NJ
2018, 434.
56
Vgl. dazu näher Koch Schwangerschaftsabbruch (Fn. 55), S. 137.
57
BGBl. I S. 735.
58
BGBl. I S. 1213.
59
BGBl. I S. 1050.
60
E 1962, Begr. S. 281. Belegt ist diese Einschätzung allerdings nicht.
61
AE.Begr. S. 35.
§ 219a StGB in neuer Gestalt 1187

re.62 Den Jubilar wird diese Beurteilung freuen; allerdings hat sie der Gesetzgeber im
Ergebnis nicht akzeptiert.
Wenn man Grund und ratio des § 219a StGB erfassen will, muss man beim Re-
gierungsentwurf eines 5. StrRG63 aus der 6. Wahlperiode des Deutschen Bundestages
ansetzen. Es heißt dort, dass die Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft (E
§ 218a) im Hinblick auf den Rang des geschützten Rechtsguts weiterhin als strafwür-
diges Unrecht betrachtet werde.64 Eine Umwandlung in einen Bußgeldtatbestand er-
scheine nicht vertretbar, zumal im Arzneimittelrecht bereits das Inverkehrbringen
von Arzneimitteln, die bloße Gesundheitsschäden hervorrufen könnten, als Straftat
bewertet würden.65 Die Frage der sanktionsrechtlichen Einordnung ist also nicht neu,
sondern vom Gesetzgeber durchaus gesehen worden. So ist in den Berichten zu den
Entwürfen eines 5. StrRG aus der 7. Wahlperiode66 immer wieder betont worden,
dass bei dem Rang des durch § 218 StGB geschützten Rechtsguts und im Hinblick
auf die vielfältigen Möglichkeiten zur Übertretung der Vorschrift auf diesen zusätz-
lichen Schutz im Vorfeld der eigentlichen illegalen Abtreibungshandlung auch in Zu-
kunft nicht verzichtet werden könne. Allerdings war die beworbene Dienstleistung
auf die Vornahme oder Förderung von rechtswidrigen Taten nach § 218 StGB be-
schränkt. Das Anbieten von Handlungen, die einen indizierten Schwangerschaftsab-
bruch fördern sollten, war nach dem Entwurf also nicht tatbestandsmäßig.67
In der 7. Wahlperiode des Deutschen Bundestages standen verschiedene Entwürfe
zur Reform der §§ 218 ff. StGB68 zur Diskussion, die ebenfalls nur eine Werbung mit
rechtswidrigen Schwangerschaftsabbrüchen pönalisieren wollten.69 Dagegen wur-
den in der 27. Sitzung des Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die
Strafrechtsreform Bedenken erhoben:70 Auch eine Werbung mit legalen Schwanger-
schaftsabbrüchen zu Profitzwecken müsse verboten werden, zumal das Vorliegen der
Voraussetzungen eines legalen Schwangerschaftsabbruchs nicht durch Werbung,
sondern nur im konkreten Falle festgestellt werden könnten. Freilich solle im
Falle einer Ausdehnung des Werbeverbots auf legale Schwangerschaftsabbrüche
die Tätigkeit der Beratungsstellen nicht beeinträchtigt werden. Der Regierungsver-

62
AE, Begr. S. 35.
63
BT-Drucks. VI/3434 v. 15. 05. 1972.
64
E 5. StrRG, BT-Drucks. VI/3434, S. 16.
65
E 5. StrRG, BT-Drucks. VI/3434, S. 16.
66
Vgl. die 1. Berichte zu den Entwürfen eines 5. StrRG, BT-Drucks. 7/1982, S. 14, 7/1983,
S. 19, 7/1984 (neu), S. 16.
67
Vgl. dazu E 5. StrRG, BT-Drucks. VI/3434, S. 16.
68
Vgl. BT-Drucks. 7/375 (Entwurf der Fraktionen der SPD/FDP), BT-Drucks. 7/554
(Entwurf der Fraktion der CDU/CSU), BT-Drucks. 7/443 (Entwurf des Abg. Dr. Müller-Em-
mert sowie weiterer Abg.), BT-Drucks. 7/561 (Entwurf des Abg. Dr. Heck und weiterer Abg.).
69
So der Entwurf der CDU/CSU (BT-Drucks. 7/554) und der Entwurf Dr. Müller-Emmert
(BT-Drucks. 7/443).
70
Zum Folgenden vgl. die Ausführungen des Abg. Köster (CDU/CSU), Prot. SA 27/1553.
1188 Klaus Rogall

treter (MinRat Horstkotte) trat diesen Bedenken entgegen:71 Ein Bedürfnis, auch eine
Aufklärung über den legalen Schwangerschaftsabbruch unter Strafe zu stellen, sei
unter dem Gesichtspunkt des Rechtsgüterschutzes nicht erkennbar. Es sei allerdings
eine politische Entscheidung, ob man durch die Schaffung eines abstrakten Gefähr-
dungsdelikts auch die sachgemäße Aufklärung über die Möglichkeiten legaler
Schwangerschaftsabbrüche pönalisieren wolle. Dies scheine ihm (Horstkotte) aber
zu weit zu gehen. Dieser Einschätzung pflichtete der Ausschussvorsitzende Dr. Mül-
ler-Emmert bei: Nur die Förderung rechtswidriger Taten könne strafbar sein; das
dem Recht Gemäße sei nicht verboten.72
Diese Beurteilung entspricht ganz den Vorstellungen des Jubilars. Sie hat sich
aber, wie wir wissen, im Gesetzgebungsverfahren am Ende nicht durchgesetzt.
Das BMJ legte nämlich am 26. März 1974 für die 30. Sitzung des Sonderausschusses
des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform Formulierungsalternativen vor,
die bei der Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft auf eine Beschränkung
auf die Vornahme oder Förderung von rechtswidrigen Taten verzichtete.73 Der Grund
dafür scheint folgender gewesen zu sein:74 Man war der Meinung, dass gerade inner-
halb des Systems der Fristenlösung ein Verbot der Werbung für den Abbruch der
Schwangerschaft unerlässlich sei; das ärztliche Standesrecht reiche nicht aus. Zu-
stände, die nach dem Urteil des Supreme Court über den Schwangerschaftsabbruch
in den USA eingetreten seien, müssten verhindert werden.75 In der Tat müsste man
unter der Prämisse, dass man das Tötungstabu durch die Tötung einer Leibesfrucht
als verletzt ansieht, erst recht zu einem Werbeverbot kommen. Das scheinen viele
Kritiker des § 219a StGB zu verkennen, und zwar insbesondere diejenigen, die
für eine komplette Streichung der §§ 218 ff. StGB eintreten.76 Wenn man allerdings
statt von werdendem Leben von einem „Schwangerschaftsgewebe“ spricht77 und
auch so denkt, fallen diese Argumente natürlich in sich zusammen.
Die SPD-Vertreter im Sonderausschuss akzeptierten die grundsätzliche Aufgabe
der „Rechtswidrigkeitslösung“, wollten den Tatbestand aber zunächst auf eine Wer-
bung in „anreißerischer oder sonst anstößiger Weise“ beschränken.78 Der Regie-
rungsvertreter wandte ein,79 dass es darum gehe, kommerzielle Werbung für Abtrei-
bungskliniken durch große Annoncen in Zeitungen zu verhindern. Derartige Anzei-

71
Prot. SA 27/1553.
72
Prot. SA 27/1553.
73
Prot. SA 27/1658 ff., 1660.
74
Vgl. dazu die Ausführungen des Regierungsvertreters (MinRat Horstkotte), Prot. SA 27/
1645 f.
75
Zu dieser Einschätzung muss wohl auch MinRat Horstkotte gekommen sein.
76
Vgl. dazu die Nachweise in Fn. 19.
77
So offenbar die Ärztin Kristina Hänel, zitiert nach LG Gießen GesR 2019, 115.
78
Abg. Dr. de With (SPD), Prot. SA 30/1646. Auch diese heute aktuelle Frage ist also
bereits diskutiert worden.
79
Zum Folgenden MinRat Horstkotte, Prot. SA 30/1646 ff.
§ 219a StGB in neuer Gestalt 1189

gen seien nicht zwingend anstößig. Werde der Tatbestand auf anstößige Werbung be-
schränkt, könne das Rechtsgut nicht mehr das durch die Werbung gefährdete unge-
borene Leben sein; Schutzzweck sei dann nur noch das ästhetische Empfinden der
Öffentlichkeit oder das Schamgefühl in dem Sinne, dass man die Öffentlichkeit
von einer sie schockierenden Belästigung freihalten wolle. Wenn man jedoch den
Vorgang der Werbung als solchen verbieten wolle, dürfe der Tatbestand nicht einge-
schränkt werden. Davon seien die Verfasser der Formulierungsalternativen ausge-
gangen: Sie hätten sich vorgestellt, dass „die Vermittlung zum Schwangerschaftsab-
bruch ausschließlich der sogenannten Intimität des Arzt-Patienten-Gesprächs bzw.
der Tätigkeit der Beratungsstellen vorbehalten bleiben solle.“80
Die weitere Diskussion im Sonderausschuss drehte sich um die Frage, wie mit
konkreten Hinweisen auf die Möglichkeit, die Schwangerschaft abbrechen zu lassen,
umzugehen sei. Diese fielen an sich unter die Vorschrift,81 doch wurde bezweifelt, ob
hier die Notwendigkeit einer Strafbarkeit gegeben sei.82 Seitens des Regierungsver-
treters wurde kompromissweise vorgeschlagen, den Tatbestand der Werbung auf
kommerzielles Handeln zu beschränken; das könne durch eine Beschränkung auf ge-
werbsmäßiges Handeln geschehen.83 Der Sonderausschuss verständigte sich aber am
Ende auf den weiteren Vorschlag von MinRat Horstkotte, die Formulierung „seines
Vermögensvorteils wegen“ zu wählen.84 Der Abg. Dr. de With (SPD) bestand aber
darauf, auch das Merkmal „grob anstößig“ einzufügen, weil damit etwas Weiteres
abgedeckt wäre.85 In dieser doppelten Form einer Beschränkung (gegenüber den For-
mulierungsalternativen) kam § 219a StGB schließlich zustande.
Im Ergebnis lässt sich also feststellen: Der Gesetzgeber hat sich bewusst dazu ent-
schieden, echte oder als Information getarnte Werbung zur Vornahme von rechtswid-
rigen und (!) rechtmäßigen Schwangerschaftsabbrüchen unter Strafe zu stellen.86 Er
wollte verhindern, dass „der Schwangerschaftsabbruch in der Öffentlichkeit als
etwas Normales dargestellt und kommerzialisiert wird.“87 Die Gefahr einer solchen
Wirkung hielt er auch bei Hinweisen auf legale Schwangerschaftsabbrüche für mög-
lich, wenn sie in unseriöser Form gegeben würden. Die Gefahr unseriöser Werbung

80
MinRat Horstkotte Prot. SA 30/1646.
81
MinRat Horstkotte Prot. SA 30/1647.
82
Abg. Coppik (SPD) Prot. SA 30/1647.
83
MinRat Horstkotte Prot. SA 30/1647.
84
Prot. SA 30/1648.
85
Prot. SA 30/1648.
86
1. Bericht des SA/BT, BT-Drucks. 7/1981 (neu), S. 17.
87
1. Bericht des SA/BT, BT-Drucks. 7/1981 (neu), S. 17; vgl. dazu auch 1. Bericht des SA/
BT, BT-Drucks. 7/1983, S. 19 f., BT-Drucks. 7/1984 (neu), S. 16: „Denn auch die Werbung für
den rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruch könnte von interessierten Kreisen unangreifbar
so gestaltet werden, daß sie in der Öffentlichkeit unzutreffende Vorstellungen über die Zu-
lässigkeit weckt und den Eindruck vermittelt, es handele sich beim Schwangerschaftsabbruch
um etwas Normales.“
1190 Klaus Rogall

sei insbesondere dort gegeben, wo kommerzielle Interessen dahintersteckten.88


Damit erklärt sich auch, warum eine Werbung für kostenlose Schwangerschaftsab-
brüche nicht verboten ist,89 ganz abgesehen davon, dass ein derart altruistisches Ver-
halten kaum vorkommen dürfte und den Gesetzgeber infolgedessen auch nicht be-
schäftigen muss. Dem Gesetzgeber war bewusst, dass es damit Ärzten, die Schwan-
gerschaftsabbrüche gegen Entgelt durchführen, untersagt ist, ihre Dienste öffentlich
bekanntzugeben.90 Die erforderliche Information der Schwangeren sollte dabei nicht
über die Öffentlichkeit erfolgen, sondern allein den Ärzten (im persönlichen Ge-
spräch) und den Beratungsstellen vorbehalten bleiben. Das ergibt sich auch aus
der Ausnahmeregelung in § 219a Abs. 2 StGB (a.F.), welche die erforderlichen In-
formationen über abbruchwillige Stellen entsprechend kanalisiert. Das Informati-
onsrecht und der Informationsbedarf der Schwangeren wurde also durchaus gesehen;
ein persönliches Diensteangebot wurde aber untersagt, soweit die Dienste gegen Ent-
gelt erbracht werden. Nachvollziehbar ist das wiederum unter der Prämisse, dass man
von der grundsätzlichen Schutzwürdigkeit auch des vorgeburtlichen Lebens ausgeht
und von einer Tötung auch dann spricht, wenn es für den Schwangerschaftsabbruch
im Einzelfall Gründe gibt, die vor dem Recht Bestand haben.

2. Der Umfang der Strafbarkeit in § 219a StGB (a.F.)

Betrachtet man den Umfang der Strafbarkeit nach § 219a StGB genauer, so fällt es
schwer, eine Überkriminalisierung auszumachen. Bereits die Notwendigkeit einer
öffentlichen etc. Begehungsweise stellt ja eine Beschränkung der Strafbarkeit dar.
Aus ihr folgt, dass jede Art der Individualkommunikation, bei der die entsprechenden
Hinweise gegeben werden, straflos ist, und zwar selbst dann, wenn mit ihr finanzielle
Interessen verbunden sind oder die Grenze zur Anstößigkeit überschritten wird. Ob
man mindestens die anstößige Individualkommunikation hätte unter Strafe stellen
können oder gar sollen, ist eine Frage, die hier außer Betracht bleiben kann.
Selbst öffentliche etc. Erklärungen sind nach dem Gesetz nur bei Verfolgung ei-
gener finanzieller Interessen bzw. bei grob anstößiger Darstellung91 mit Strafe be-
droht. Der Täter muss ja gerade seines Vermögensvorteils wegen handeln. Wer
also z. B. eine Liste abtreibungswilliger Ärzte veröffentlicht, ist straflos, wenn er
für die Veröffentlichung keinen Vermögensvorteil einfordert bzw. erhält. Gegen ent-

88
1. Bericht des SA/BT, BT-Drucks. 7/1982, S. 14.
89
Das bezeichnet Gärditz (ZfL 2018, 22) als nicht nachvollziehbar. Es geht aber um die
Sonderung von Fällen, bei denen finanzielle Interessen nicht von der Hand zu weisen sind und
solchen Fällen, bei denen finanzielle Interessen nicht ersichtlich sind.
90
1. Bericht des SA/BT, BT-Drucks. 7/1981 (neu), S. 18; ebenso 1. Bericht des SA/BT, BT-
Drucks. 7/1982, S. 14; 1. Bericht des SA/BT, BT-Drucks. 7/1983, S. 20; 1. Bericht des SA/BT,
BT-Drucks. 7/1984 (neu), S. 16.
91
Diese soll nachfolgend außer Betracht bleiben.
§ 219a StGB in neuer Gestalt 1191

sprechende Publikationen im Internet92 bestehen daher keinerlei Bedenken. Andere


straffreie Wege der Informationsübermittlung werden in § 219a Abs. 2, 3 StGB auf-
gezeigt.
Klar ist umgekehrt aber auch, dass nach dem hier nachgewiesenen Verständnis
und dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche
gegen Entgelt durchführen, tatbestandsmäßig handeln, wenn sie ihre Dienste öffent-
lich pp. anbieten.93 Ebenso eindeutig ist damit, dass die Gerichte, die in derartigen
Fällen auf Strafe erkannt haben,94 im Einklang mit diesem Willen, dem Wortlaut
und dem Zweck der Norm entschieden haben.95 Nun ist ja gerade in einzelnen Stel-
lungnahmen zu den vorbezeichneten Urteilen und in weiteren Publikationen auf die
Möglichkeit (und Notwendigkeit) einer einschränkenden bzw. verfassungskonfor-
men Auslegung hingewiesen worden.96 So soll der Tathandlung des Ankündigens
oder der Bekanntgabe von Erklärungen dieses Inhalts eine anpreisende Komponente
beigefügt werden.97 Dafür lässt sich aber die amtliche Überschrift sicher nicht ver-
werten,98 weil es auf den Wortsinn des Tathandlungsbegriffs ankommt99 und weil die
Varianten des Anbietens oder Ankündigens überflüssig würden, wenn sie ebenfalls
anpreisenden Charakter haben müssten.100 Auch beim Handeln um eines Vermögens-
vorteils willen bestehen keine Restriktionsmöglichkeiten,101 denn derjenige, der eine

92
Für Berlin vgl. https://www.berlin.de/sen/gesundheit/themen/schwangerschaft-und-kinder
gesundheit/schwangeschaft-und-familienplanung/schwangerschaftskonfliktberatung/arztpra
xen-fuer-schwangerschaftsabbrueche/index.php/index.pdf?q=&q_geo=&q_radius=20000&or
der=&page=3.
93
Wer öffentlich bekanntmacht, dass er keine Schwangerschaftsabbrüche vornimmt und
seine Dienste damit gerade nicht anbietet, ist natürlich nicht strafbar, und das nach dem
Gesetzeszweck sicher aus guten Gründen. Wie man aus der Straflosigkeit dieses Verhaltens
aber e contrario auf die Zulässigkeit der Verlautbarung der Bereitschaft zum Schwanger-
schaftsabbruch soll schließen können (so Gärditz ZfL 2018, 20), ist unerfindlich.
94
LG Bayreuth ZfL 2007, 16; AG Gießen NStZ 2018, 416; LG Gießen GesR 2019, 115.
95
Ich folge damit ausdrücklich nicht der Einschätzung von Hillenkamp, HessÄBl. 2018, 92
(94), wonach die Urteile gegen Kristina Hänel Fehlurteile und die sie stützende Literatur
falsch seien.
96
Vgl. etwa Hillenkamp, HessÄBl. 2018, 94; Kubiciel, ZRP 2018, 15; Gärditz, ZfL 2018,
21; Satzger, ZfL 2018, 22 (23); Sowada, ZfL 2018, 24 (26); Frommel, NK 2018, 307 f., 314 f.;
Schweiger, ZRP 2018, 99 f.; Kaiser/Eibach, medstra 2018, 277, aber mit dem Hinweis, dass
dieser Weg das Eingreifen des Gesetzgebers nicht ersetzen könne.
97
In diesem Sinne etwa Gärditz, ZfL 2018, 21; Rahe, JR 2018, 232 (238); Hillenkamp,
HessÄBl. 2018, 94.
98
Zutr. T. Walter, ZfL 2018, 26 (28 f.); Hoven, ZfL 2018, 30; Fischer/v. Scheliha, MedR
2019, 37; a.A. Wörner, NStZ 2018, 416 (418).
99
Hoven, ZfL 2018, 30.
100
T. Walter, ZfL 2018, 28; s. auch Hoven, ZfL 2018, 30; Jansen, jurisPR-StrafR 7/2018
Anm. 2.
101
Anders etwa Satzger, ZfL 2018, 23; im Ergebnis wie hier T. Walter, ZfL 2018, 29;
Fischer/v. Scheliha, MedR 2019, 79.
1192 Klaus Rogall

entgeltliche Dienstleistung anbietet, handelt immer auch seines Vermögensvorteils


wegen.102
Eine verfassungskonforme – im vorbezeichneten Sinne restriktive – Auslegung
verbietet sich aber letztlich schon deshalb, weil sie den gesetzgeberischen Willen
in einem wesentlichen Punkt verfehlen oder verfälschen würde,103 so dass sich der
Interpret hier unzulässigerweise an die Stelle des Gesetzgebers setzte.104 Das trifft
insbesondere für den abwegigen Vorschlag Schweigers105 zu, die Tatbestandsmäßig-
keit davon abhängig zu machen, dass der Täter sowohl seines Vermögensvorteils
wegen als auch in grob anstößiger Weise handeln muss, so dass das „oder“ im Ge-
setzeswortlaut i.S.e. „und“ auszulegen wäre.

3. Zur Frage der Verfassungswidrigkeit des § 219a StGB (a.F.)

Damit bleibt die Frage zu klären, ob § 219a StGB (a.F.) als verfassungswidrig an-
zusehen war und ggf. noch ist.106 Richtigerweise muss diese Frage auf den Fall kon-
zentriert werden, dass die als Täter in Betracht kommende Person107 sich auf den Hin-
weis beschränkt, dass sie (oder ein Dritter) Schwangerschaftsabbrüche unter den
Voraussetzungen des § 218a Abs. 1 – 3 StGB – also in letztlich strafloser Weise – vor-
nimmt.108 Es geht also nur um die verfassungsrechtliche Bewertung objektiv „neu-
traler“ Erklärungen der Tatbereitschaft. Verfasser ernst zu nehmender Stellungnah-
men behaupten auch nur eine Teil-Verfassungswidrigkeit des § 219a StGB (a.F.),109
und zu ihnen gehört auch der Jubilar.110

102
LK/Kröger, 12. Aufl. 2017, § 219a Rn. 7; T. Walter, ZfL 2018, 29; Jansen, jurisPR-
StrafR 7/2018 Anm. 2; näher Berghäuser, medstra 2019, 123 (124 f.); anders Wörner, NStZ
2018, 418 f.
103
Zur Unzulässigkeit einer verfassungskonformen Auslegung in diesen Fällen BVerfGE
8, 28 (34); 67, 299 (329).
104
Ebenso Berghäuser, medstra 2019, 126.
105
ZRP 2018, 100.
106
Zur Vereinbarkeit mit dem Europarecht vgl. zutr. Satzger, ZfL 2018, 24 Fn. 8; Kubiciel,
Stellungnahme (Fn. 28), S. 7 f.
107
I.d.R. wird es sich um Ärzte handeln, doch können auch Dritte, z. B. Medienmitarbeiter,
Täter sein, vgl. dazu SK-StGB/Rogall, § 219a Rn. 8 m.w.N. Nach Frommel (ZfL 2018, 17
[18]) ist das Verbot des öffentlichen Anbietens in § 219a Abs. 1 StGB „jedenfalls dann ver-
fassungswidrig, wenn sie auch Ärzte betrifft und wenn diese sachlich informieren.“
108
Vgl. jetzt § 219a Abs. 4 Nr. 1 StGB n.F.
109
Vgl. etwa Preuß, medstra 2018, 131 ff.; Fischer/v. Scheliha, MedR 2019, 80; Rahe, JR
2018, 232 (236 ff.); T. Walter, ZfL 2018, 28; Frommel, ZfL 2018, 18.
110
Näher Merkel, Stellungnahme zur 1. Anhörung (Fn. 28), S. 3 ff.; NK-StGB/Merkel,
§ 219a Rn. 3, 3a.
§ 219a StGB in neuer Gestalt 1193

Es ist an dieser Stelle natürlich weder möglich noch angezeigt, ein ausführliches
Gutachten zur Verfassungsmäßigkeit des § 219a StGB (a.F.) zu erstatten.111 Wohl
aber ist es möglich, auf Argumente einzugehen, mit denen versucht worden ist,
eine Verfassungswidrigkeit der Vorschrift darzutun und (Rechts-)Tatsachen vorzu-
tragen, die im Zusammenhang mit einer verfassungsrechtlichen Beurteilung Bedeu-
tung erlangen können.
Beginnen wir mit den Letzteren. § 219a StGB ist ein Allgemeindelikt. Das Wer-
beverbot richtet sich nicht nur an Ärzte, sondern an jedermann. Es handelt sich also
nicht um ein Spezialgesetz, das sich einseitig gegen Ärzte richtet. In der hier allein
interessierenden Tathandlungsalternative verbietet die Vorschrift jedermann, öffent-
lich etc. eigene oder fremde Dienste zur Vornahme oder Förderung von Schwanger-
schaftsabbrüchen anzubieten usw., wenn der Handelnde damit wirtschaftliche Inter-
essen verbindet. Die Information darüber, wer solche Dienste anbietet, sollte – wie
hier bereits dargestellt wurde – der Intimität des Arzt-Patienten-Verhältnisses und
den Beratungsstellen vorbehalten bleiben. Um es mit Satzger112 zu sagen: „Dass
ein Arzt … von sich aus ,Werbung‘ betreibt, in den Worten des § 219a StGB: ,eigene
oder fremde Dienste anbietet, ankündigt, anpreist oder Erklärungen solchen Inhalts
bekanntgibt‘ und somit direkt auf Schwangere zugeht, um darüber zu informieren,
dass und wo sie einen solchen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen können,
ist für das Beratungskonzept weder erforderlich noch vorgesehen.“ Es ist nicht nur
nicht vorgesehen, sondern hat generell zu unterbleiben.113
Der Gesetzgeber wollte zum einen für „neutrale, medizinisch und rechtlich qua-
litätsgesicherte Informationen“114 sorgen und zum anderen verhindern, dass die Vor-
nahme von Schwangerschaftsabbrüchen als „normale“ medizinische Dienstleistung
dargestellt wird, die wie andere medizinische Dienstleistungen – wie z. B. Schön-
heitsoperationen oder Gesundheitsvorsorgechecks – beworben werden darf. Es
ging dem Gesetzgeber um den Schutz des Lebensrechts des Ungeborenen, und
zwar vor ganz bestimmten Gefahren, nämlich solchen, die dazu führen, dass der
rechtliche Schutzanspruch des ungeborenen Lebens im allgemeinen Bewusstsein
verblasst.115 Der Täter, der seine Dienste seines Vorteils wegen anbietet, widerspricht
diesem rechtlichen Schutzanspruch und dem in jedem Schwangerschaftsabbruch lie-
genden Unwert und „trivialisiert ihn damit als Gegenstand des Dienstleistungsver-

111
Ein solches Gutachten haben die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundes-
tages am 06. 12. 2017 (Az. WD 3 – 3000 – 252/17) zu erstellen versucht. Leider ist es bei
einem Versuch geblieben, denn es wird nur der Meinungsstand zur Verfassungsmäßigkeit des
§ 219 a StGB (a.F.) in dazu noch sehr kursorischer Form referiert.
112
ZfL 2018, 23.
113
So auch Duttge, medstra 2018, 129.
114
Zutr. Kubiciel, ZRP 2018, 13 (14); ders., jurisPR-StrafR 4/2019 Anm. 1; Kaiser/Ei-
bach, medstra 2018, 275; Fischer/v. Scheliha, MedR 2019, 80; Sasse, NJ 2018, 434 f.; Jansen,
jurisPR-StrafR 7/2018 Anm. 2; s. auch Dorneck, medstra 2019, 142.
115
Vgl. auch Duttge, medstra 2018, 129: Schutz vor grob verfälschenden Darstellungen
durch Profiteure, also durch Personen, die Dienste oder Mittel selbst anbieten.
1194 Klaus Rogall

kehrs.“116 Es ist gerade die Aufgabe des § 219a StGB, die Geltungsbedingungen der
Hauptnormen, also der §§ 218 ff. StGB, zu garantieren.117
Dieses vom Gesetzgeber verfolgte Schutzziel, das er in Gestalt eines abstrakten
Gefährdungsdeliktes verwirklicht hat,118 ist angesichts der Tatsache, dass es um den
Schutz menschlichen Lebens geht, von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Das
ergibt sich aus der Rechtsprechung des BVerfG zum Schwangerschaftsabbruch, die
namentlich in BVerfGE 88, 203 ihren Ausdruck gefunden hat. Das Gericht hat hier
noch einmal festgehalten, dass der Schwangerschaftsabbruch für die ganze Dauer der
Schwangerschaft grundsätzlich als Unrecht angesehen wird und demgemäß rechtlich
verboten ist,119 weil Schwangerschaftsabbruch immer Tötung ungeborenen Lebens
ist.120 Der Gesetzgeber muss deshalb der Mutter einen Schwangerschaftsabbruch
grundsätzlich verbieten und ihr damit die grundsätzliche Rechtspflicht zum Austra-
gen des Kindes auferlegen.121 Die insoweit erforderlichen rechtlichen Verhaltensge-
bote sind aber nicht auf den Schutz des ungeborenen Lebens beschränkt, sondern sol-
len „im Volke lebendige Wertvorstellungen und Anschauungen über Recht und Un-
recht stärken und unterstützen und ihrerseits Rechtsbewusstsein bilden …, damit auf
der Grundlage einer solchen normativen Orientierung des Verhaltens eine Rechts-
gutsverletzung schon von vornherein nicht in Betracht gezogen wird.“122 Der Staat
ist deshalb verpflichtet, den rechtlichen Schutzanspruch des ungeborenen Lebens
im allgemeinen Bewusstsein zu erhalten und zu beleben.“123 Insgesamt muss das
Schutzkonzept, bei dem auf den Einsatz des Strafrechts nicht beliebig verzichtet wer-
den darf,124 so ausgestaltet sein, dass es nicht … „in eine rechtliche Freigabe des
Schwangerschaftsabbruchs übergeht oder als solche wirkt.“125 Bei alledem kommt
dem Gesetzgeber ein „Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum“ zu.126
Es liegt m. E. auf der Hand, dass das Werbeverbot des § 219a StGB als Teil des
verfassungsrechtlich geforderten Schutzkonzepts (mindestens) aufgefasst werden
kann, wenn nicht sogar aufgefasst werden muss.127 Das hat zweifellos Konsequenzen

116
Zutr. Berghäuser, KriPoZ 2019, 85; dies., medstra 2019, 125.
117
Kaiser/Eibach, medstra 2018, 275 (unter Hinweis auf Jakobs).
118
SK-StGB/Rogall, § 219a Rn. 1. Der Jubilar vermisst dagegen in den Fällen einer Wer-
bung für legale Abbrüche ein greifbares Schutzgut und reduziert den § 219a StGB im Übrigen
auf bloßen „Klimaschutz“, vgl. dazu NK-StGB/Merkel, § 219a Rn. 2; richtig aber Hillen-
kamp, HessÄBl. 2018, 92 f.
119
BVerfGE 88, 203 (Ls. 4), BVerfGE 88, 255; BVerfGE 39, 1 (44).
120
BVerfGE 88, 256.
121
BVerfGE 88, 203 (Ls. 3), BVerfGE 88, 253.
122
BVerfGE 88, 253.
123
BVerfGE 88, 203 (Ls. 10), BVerfGE 88, 261.
124
BVerfGE 88, 203 (Ls. 8), BVerfGE 88, 257 (Untermaßverbot).
125
BVerfGE 88, 262.
126
BVerfGE 88, 262.
127
Vgl. dazu die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abg. Gyde
Jensen et al. und der Fraktion der FDP (Fn. 51), S. 2: 㤠219a des Strafgesetzbuches (StGB) ist
§ 219a StGB in neuer Gestalt 1195

für die verfassungsrechtliche Beurteilung. Soweit Frommel128 immer wieder betont,


dass auch die Tätigkeit des Arztes, die durch seine Berufsfreiheit geschützt wird,129
Teil des Schutzkonzeptes ist,130 so ist das zwar richtig,131 doch folgt daraus mitnich-
ten, dass ihm auch ein Recht auf öffentliche Kommunikation seiner Abbruchswillig-
keit eingeräumt werden müsste.132 Das sollte nach den vorstehenden Ausführungen
insbesondere im Hinblick auf den Schutzzweck der Norm einsichtig geworden sein.
Ganz falsch ist es in diesem Zusammenhang, wenn Frommel annimmt,133 dass die
Formel „rechtswidrig, aber straflos“ nicht für Ärzte gelte. Denn das BVerfG hat in
seiner von Frommel immer wieder referierten Entscheidung aus dem Jahre 1998 ge-
rade betont, dass „der ärztlichen Vornahme von rechtswidrigen134 Schwangerschafts-
abbrüchen der Schutz des Art. 12 Abs. 1 GG nicht versagt werden (kann).“135
Jedenfalls ist nicht erkennbar, dass das Verbot eines entgeltlichen Dienstangebots
für Schwangerschaftsabbrüche den Werbenden Unverhältnismäßiges oder Unzumut-
bares auferlegt. Werbenden, die nicht Ärzte sind, darf man abverlangen, nicht zu ver-
suchen, mit der Bekanntgabe von abbruchwilligen Personen und Einrichtungen Geld
zu verdienen. Soweit Ärzte betroffen sind, ist festzuhalten, dass sie nicht gehindert
sind, ihre Bereitschaft sowohl individuell zu kommunizieren als diese auch den Be-
ratungsstellen mitzuteilen. Man muss in dieser Beziehung auch berücksichtigen, dass
es zwischen einer Schwangeren und einem Arzt immer einen Erstkontakt geben wird,
bei dem eine abbruchswillige Schwangere stets auch über die Möglichkeiten und
Modalitäten eines Abbruchs unterrichtet werden wird. Berücksichtigt man zusätzlich
noch die zumindest in einzelnen Bundesländern vorgehaltenen Listen abbruchwilli-
ger Ärzte, so ist erkennbar, dass weder Grundrechte des Arztes (insbesondere dessen
Berufsfreiheit nach Art. 12 GG) noch Grundrechte der Schwangeren (Informations-
freiheit, allgemeines Persönlichkeitsrecht) durch das Werbeverbot tangiert worden

Teil eines gesetzgeberischen Schutzkonzeptes für das ungeborene Leben.“ Kaiser/Eibach,


medstra 2018, 273 (275). Zum Ganzen auch Berghäuser, Das Ungeborene im Widerspruch
2015, S. 611 f.
128
Vgl. etwa Frommel, medstra 2019, 129; dies., jM 2019, 162 (167); dies., ZRP 2019, 1;
dies., JR 2018, 239; dies., NK 2018, 304 f.
129
BVerfGE 98, 265 (297).
130
Vgl. BVerfGE 98, 297: „Tätigkeit des Arztes notwendiger Bestandteil des gesetzlichen
Schutzkonzepts.“ Zur Rechtswirksamkeit entsprechender Behandlungsverträge s. BVerfGE
88, 295.
131
Zust. Berghäuser, medstra 2019, 127; dies., KriPoZ 2019, 82 (85 f.); dies., JZ 2018, 497
(500 f.); s. auch Berghäuser, Das Ungeborene im Widerspruch (Fn. 127), S. 595 ff.; vgl. auch
Weigend, Stellungnahme (Fn. 28), S. 2.
132
Es handelt sich dabei um Hilfskonstruktionen, deren es bedarf, um die Beratungslösung
nach § 218a Abs. 1, 219 StGB praktikabel zu machen.
133
Frommel, medstra 2019, 129.
134
Hervorhebung vom Verf.
135
BVerfGE 98, 265 (297).
1196 Klaus Rogall

sind.136 Es besteht kein Anlass zu der Annahme, dass abbruchswillige Ärzte durch
das Werbeverbot an einer Patientenakquise gehindert worden wären und Schwangere
keinen Zugang zu eben diesen Ärzten hätten finden können. Mit Hillenkamp137 stim-
me ich darin überein, dass nicht das Werbeverbot, sondern seine vollständige Besei-
tigung verfassungswidrig gewesen wäre.
Nun ist ja in der Literatur138 und auch vom Jubilar selbst139 auf eine mögliche Sys-
temwidrigkeit des § 219a StGB (a.F.) hingewiesen worden. Das erste Argument ist
ein Teilnahmeargument dergestalt, dass die Werbung für rechtmäßiges Verhalten
nicht unter Strafe stehen dürfe.140 Dabei werden z. T. auch die Fälle des § 218a
Abs. 1 StGB als rechtmäßig (bzw. „legal“) eingestuft.141 Das zweite Argument stützt
sich darauf, dass das ärztliche Angebot der Sache nach ein Sich-Erbieten i.S.d. § 30
Abs. 2 StGB darstellt. Dies setze aber nach der gen. Vorschrift voraus, dass Gegen-
stand des Sich-Erbietens ein Verbrechen sei. Im Bereich des Abtreibungsstrafrechts
gebe es aber keine Tat, die als Verbrechen eingestuft ist.142
Es kann hier dahinstehen, wie diese Einwände verfassungsrechtlich – etwa als
Verstoß gegen den Gleichheitssatz oder gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
– zu verorten wären. Sie überzeugen jedenfalls nicht. Zu Recht ist bereits darauf auf-
merksam gemacht worden, dass es sich bei dem Werbeverbot nicht um eine Form der
Teilnahme143 handelt;144 sie ist gerade nicht-akzessorisch. Zum anderen dürfte der
Gesetzgeber nicht gehindert sein, aus Gründen, die auch das Werbeverbot des
§ 219a tragen, die Werbung für rechtlich nicht verbotene Tätigkeiten zu untersagen.
Er hat dies auch bereits getan, wie z. B. beim Tabakwerbeverbot.145 Es ist auch nicht
anzunehmen, dass Produzenten von Cannabis für ihr Produkt werben dürften, auch
wenn der Konsum von Cannabis palliativen Zwecken dient und ärztlich verordnet ist.

136
Zutr. LG Bayreuth ZfL 2007, 16; LG Gießen medstra 2019, 121; Kaiser/Eibach, med-
stra 2018, 275; Jansen, jurisPR-StrafR 7/2018 Anm. 2; s. auch Dorneck, medstra 2019, 142 f.
137
HessÄBl. 2018, 93; ebenso Kubiciel, ZRP 2018, 14; Kaiser/Eibach, medstra 2018,
275 f.; Wörner, NStZ 2018, 417; Enzensperger, RuP 2018, 72 (73).
138
Sowada, ZfL 2018, 24 (25); Schroeder, ZRP 1992, 410; Hoven, Stellungnahme
(Fn. 29), S. 1; krit. aber Preuß, medstra 2018, 133.
139
Merkel, Stellungnahme (Fn. 28), S. 3; ders., Stellungnahme (Fn. 29), S. 2.
140
Merkel, Stellungnahme (Fn. 28), S. 3; Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, StrafR BT,
Rn. 5/40.
141
So z. B. Merkel, Stellungnahme (Fn. 28), S. 4; Gaede, ZfL 2018, 20; Höffler, RuP 2018,
70; Frommel, ZfL 2018, 17 f.; a.A. T. Walter, ZfL 2018, 28.
142
Zum Ganzen Merkel, Stellungnahme (Fn. 28), S. 3; Sowada, ZfL 2018, 25.
143
Allenfalls handelt es sich um eine Vorstufe der Teilnahme, s. SK-StGB/Rogall, § 219a
Rn. 1.
144
Kubiciel, Stellungnahme (Fn. 28), S. 6; unentschieden Preuß, medstra 2018, 133.
145
Kubiciel, ZRP 2018, 15; T. Walter, ZfL 2018, 28. Der Jubilar versucht dieses Argument
allerdings mit der Bemerkung zu entkräften, einem Kioskbesitzer dürfe auch bei einem
grundsätzlichen Werbeverbot nicht untersagt werden, bekannt zu machen, dass er Zigaretten
verkauft, vgl. Stellungnahme (Fn. 28), S. 2.
§ 219a StGB in neuer Gestalt 1197

Hinzuweisen ist auch auf den – freilich problematischen – Fall des § 217 StGB.146 Bei
alledem ist im Übrigen zu bedenken, dass es in den Fällen eines Schwangerschafts-
abbruchs nicht um eine Selbstgefährdung – wie beim Alkohol-, Drogen- oder Tabak-
konsum –, sondern um die Tötung menschlichen Lebens geht, mag diese Tötung
auch aus situativ anerkennenswerten Gründen gerechtfertigt oder wenigstens straf-
frei sein.147
Schließlich überzeugt auch die Argumentation mit § 30 StGB nicht. Die gesetz-
mäßige Voraussetzung, dass es sich um ein Verbrechen handeln muss, lässt sich dog-
matisch und kriminalpolitisch natürlich gut hören. Diese Festlegung ist jedoch nicht
in Stein gemeißelt, und der Gesetzgeber könnte von ihr vielleicht nicht generell, aber
doch in begründeten Einzelfällen abweichen. Er hat dies ja z. B. auch in § 159 StGB
getan. Im Hinblick auf die Gewichtigkeit des geschützten Rechtsguts sind keine Be-
denken ersichtlich, die vom Gesetzgeber gewählte Konstruktion für system- und ver-
fassungswidrig zu halten.
Der Nachweis der Verfassungswidrigkeit des § 219a StGB lässt sich auch nicht
mit dem Hinweis auf die bekannte Entscheidung der 1. Kammer des 1. Senats des
BVerfG148 begründen, wie das ja vielfach versucht worden ist.149 Der Jubilar ist
dem gefolgt, hat sich aber unter Hinweis darauf, dass es sich bei dem zugrunde lie-
genden Fall um einen Zivilrechtsstreit handelte, doch eher vorsichtig geäußert.150 Der
zivilrechtliche Hintergrund dürfte allerdings kein Hindernis für eine Übertragung auf
das Strafrecht darstellen. Denn der vielzitierte Satz „Wenn die Rechtsordnung Wege
zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen durch Ärzte eröffnet, muss es
dem Arzt auch ohne negative Folgen151 für ihn möglich sein, darauf hinzuweisen,
dass Patientinnen seine Dienste in Anspruch nehmen können“,152 ist allgemeiner
und grundsätzlicher Natur. Aber: Der Arzt ist doch gar nicht gehindert, einen solchen
Hinweis zu geben. Er darf etwa andere Ärzte und Beratungsstellen auf seine Bereit-
schaft hinweisen und soll das sogar tun. Er darf nur nicht in der in § 219a StGB be-
zeichneten Art vorgehen und seine Dienste zur Patientenakquise anbieten. Im Falle
des BVerfG hatte der Arzt – wie es in dem Beschluss heißt – „seine Bereitschaft zur

146
Satzger, ZfL 2018, 23; Kubiciel, ZRP 2018, 15.
147
Zutr. Duttge, medstra 2018, 129.
148
NJOZ 2008, 151 (156).
149
Gesetzentwurf der FDP (Fn. 24), S. 4; Gesetzentwurf Bündnis 90/Die Grünen (Fn. 22),
S. 1; Tennhardt, Stellungnahme (Fn. 28), S. 2; Gesetzesantrag der Länder Berlin, Branden-
burg, Hamburg, Thüringen (Fn. 26), S. 3.
150
Vgl. NK-StGB/Merkel, § 219a Rn. 3; Merkel, Stellungnahme (Fn. 28), S. 4; ders.,
Stellungnahme (Fn. 29), S. 2; s. auch Jansen, jurisPR-StrafR 7/2018 Anm. 2; Fischer/
v. Scheliha, MedR 2019, 79; Goldbeck, ZfL 2007, 14; Höffler, RuP 2018, 71; Stellungnahme
des Kommissariats der Deutschen Bischöfe (Fn. 28), S. 7 f.
151
Mit „negativen Folgen“ gemeint ist die Prangerwirkung, die durch die Verteilung von
Flugblättern seitens der Abtreibungsgegner erzeugt wird, vgl. Goldbeck, ZfL 2007, 15.
152
BVerfG NJOZ 2008, 156.
1198 Klaus Rogall

Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen öffentlich erkennen lassen.“153 Wie


genau das geschehen ist und ob der Arzt dadurch gegen § 219a StGB verstoßen hat,
wissen wir nicht. Man darf sogar noch weiter gehen und die These aufstellen, dass
§ 219a StGB womöglich gar nicht auf dem Radarschirm der Verfasser des BVerfG-
Beschlusses und ihrer Zuarbeiter aufgetaucht ist. Deshalb steht für mich im Ergebnis
fest, dass der Beschluss der 1. Kammer des 1. Senats des BVerfG für die verfassungs-
rechtliche Beurteilung des § 219a StGB in keiner Weise präjudiziell ist.

IV. Zur Neufassung des § 219a StGB


durch das Gesetz vom 22. März 2019154
Der Gesetzgeber hat nunmehr mit dem gen. Gesetz im Wege eines (durchaus
zweifelhaften) Kompromisses155 einen neuen Absatz 4 in § 219a StGB eingefügt,
der dem Anliegen Rechnung tragen soll, die Informationsmöglichkeiten von ab-
bruchwilligen Frauen zu verbessern und Rechtssicherheit für Ärzte, Krankenhäuser
und Einrichtungen zu schaffen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen.156 Straf-
freiheit für an sich tatbestandsmäßiges Verhalten („Absatz 1 gilt nicht“) besteht da-
nach für zwei an sich unter § 219a Abs. 1 StGB fallende Verhaltensweisen, nämlich
zum einen für das Dienstangebot, Schwangerschaftsbrüche vorzunehmen oder zu
fördern (§ 219a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 Nr. 1 StGB) und zweitens für die Verlautbarung
von Mitteln, Gegenständen und Verfahren mit Eignung zum Schwangerschaftsab-
bruch (§ 219a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 Nr. 2 StGB).157 Im Einzelnen gilt:
§ 219 Abs. 4 Nr. 1 StGB (neu) begründet einen Tatbestandsausschluss nach dem
Muster der §§ 86 Abs. 3, 86a Abs. 3, 130 Abs. 6, 130a Abs. 3, 131 Abs. 3, 4 StGB,
indem die Verhaltensnorm für die näher bezeichneten Fälle und Personen (aber nur
für diese) zurückgenommen wird. Richtigerweise besteht dieser Tatbestandsaus-
schluss nur für die Fälle eines sachlich gehaltenen Anbietens und Ankündigens,
nicht jedoch in Fällen des Anpreisens und bei einer grob anstößigen Vorgehenswei-
se.158 Das lässt sich mit dem Wortlaut der Norm („auf die Tatsache hinweisen“; „auf
Informationen [einer … Behörde, Beratungsstelle .. oder einer Ärztekammer] hin-
weisen“) begründen, folgt aber nach der Gesetzesgenese auch daraus, dass nur sach-

153
BVerfG NJOZ 2008, 156.
154
BGBl. I S. 350.
155
Vgl. dazu etwa Berghäuser, KriPoZ 2019, 82 ff.; Frommel, jM 2019, 165 ff.; dies.,
medstra 2019, 129 ff.; Dorneck, medstra 2019, 137 ff.; Berghäuser, KriPoZ 2019, 82 ff.
156
Vgl. dazu den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen, BT-Drucks 19/7693, S. 1.
157
Es geht also zum einen um das „Ob“ eines Abbruchs und zum anderen um das „Wie“
des Abbruchs, vgl. Dorneck, medstra 2019, 139.
158
Zutr. Kubiciel, jurisPR-StrafR 4/2019 Anm. 1. Insoweit kommt es sehr wohl auf den
Sprachgebrauch an, anders Berghäuser, KriPoZ 2019, 89 f.
§ 219a StGB in neuer Gestalt 1199

liche Informationen straffrei gestellt werden sollten.159 Dass § 219a Abs. 4 Nr. 1
StGB nicht mit Absatz 1 der Vorschrift abgestimmt sei und rätselhaft erscheine,
ist entgegen Frommel160 nicht anzunehmen.
Merkwürdig ist die Bezeichnung des privilegierten Personenkreises insoweit, als
neben Ärzten auch Krankenhäuser und Einrichtungen erwähnt werden. Letztere sind
nach deutschem Strafrecht aber gar nicht deliktsfähig. Man wird die Gesetzesfassung
deshalb so zu interpretieren haben, dass die innerhalb der gen. Stellen an dem Hin-
weisgeschehen beteiligten natürlichen Personen in den Genuss der Straffreiheit kom-
men sollen. Dritte wie z. B. Medienmitarbeiter sind nicht privilegiert; sie bleiben
auch bei sachlicher Information strafbar, vorausgesetzt natürlich, dass sich die Ver-
lautbarung in den von § 219a StGB verlangten Formen (Öffentlichkeit, Vermögens-
vorteil, grobe Anstößigkeit) vollzieht. Ein Fall des § 28 Abs. 2 StGB steht im Übri-
gen nicht in Rede,161 so dass bei tatbestandslosem Handeln Teilnahme entfällt.
Der in § 219a Abs. 4 Nr. 1 StGB (neu) vorgesehene Tatbestandsausschluss gilt nur
für den (schlichten) Hinweis auf die Tatsache, dass der Hinweisgeber – und nicht ein
Dritter (!)162 – überhaupt Schwangerschaftsabbrüche durchführt.163 Straffreiheit be-
steht aber nur für den Fall, dass er dabei deutlich macht (Klarstellungsobliegen-
heit),164 dass er Schwangerschaftsabbrüche ausschließlich unter den Voraussetzun-
gen des § 218a Abs. 1 – 3 StGB vornimmt.165 Der Gesetzgeber hat diese zusätzliche
Information für erforderlich erachtet, um den Gesetzeszweck, der sich mit § 219a
StGB verbindet, wenigstens in einem eingeschränkten Umfang aufrechtzuerhal-
ten.166 Die Voraussetzungen des § 219a Abs. 4 Nr. 1 StGB liegen auch vor, wenn
der Täter innerhalb der legalen Abbruchsmöglichkeiten differenziert, also z. B. mit-
teilt, dass er Abbrüche nur unter den Voraussetzungen des § 218a Abs. 2 und 3 StGB,

159
Allerdings nur, wenn die entsprechenden Äußerungen sachlich gehalten sind; vgl. dazu
den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen, BT-Drucks 19/7693, S. 11: „Werbende Hand-
lungen bleiben weiterhin verboten.“
160
JM 2019, 165 ff.
161
Erwogen von Mitsch, Ein Gedanke zu „Abschaffung des § 219a StGB – Werbung für
den Abbruch der Schwangerschaft“, in: KriPoZ 2019, abrufbar im Internet (https://kripoz.de/
2017/11/24/abschaffung-des-%c2 %a7 – 219a-stgb-werbung-fuer-den-abbruch-der-schwanger-
schaft/#comment-54).
162
Der von Profitinteresse geleitete Hinweis auf die Abbruchswilligkeit eines Dritten
bleibt strafbar. Straflos ist nach dem Gesetz nur der Hinweis auf die eigene Tätigkeit (§ 219a
Abs. 4 Nr. 1 StGB): „auf die Tatsache hinweisen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche …
vornehmen.“ Das verkennt Frommel, medstra 2019, 130.
163
Die Rüge mangelnder Differenzierung zwischen eigenen und fremden Leistungen, die
Frommel (medstra 2019, 130) erhebt, geht wiederum ins Leere.
164
Vgl. dazu Berghäuser, JZ 2018, 503; dies., KriPoZ 2018, 210 (217); dies., KriPoZ
2019, 86 f.
165
Ob diese Klarstellung einer Verlinkung – etwa auf eine pdf-Datei – vorbehalten bleiben
darf, ist zweifelhaft, dürfte aber eine Frage des Einzelfalles sein; zum Problem Berghäuser,
KriPoZ 2019, 88.
166
Näher Berghäuser, KriPoZ 2019, 85 ff.
1200 Klaus Rogall

nicht aber unter den Voraussetzungen des § 218a Abs. 1 StGB durchführe; nähere
Erläuterungen wird er aber dem Patientengespräch überlassen müssen.167
Der Tatbestandsausschluss des § 219a Abs. 4 Nr. 2 StGB (neu) betrifft sachliche
Hinweise über die von den Ärzten, Krankenhäusern oder Einrichtungen jeweils an-
gewendeten Methoden zur Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs.168 Der
Hinweisgeber darf diese Informationen nach dem Gesetz gewordenen Willen des Ge-
setzgebers aber nicht originär selbst geben, sondern nur auf Informationen einer fach-
lich zuständigen Bundes- oder Landesbehörde, einer Beratungsstelle oder einer Ärz-
tekammer hinweisen. Aus dem Begriff „hinweisen“ soll hier folgen, dass allein die
Setzung eines Links auf diese Informationen im Internetauftritt eines Arztes oder
eines Krankenhauses etc. oder das Kopieren der Information unter Angabe der Quel-
le straffrei bleibt;169 strafbar soll es dagegen bleiben, wenn sich der Hinweisende
diese Information auf der eigenen Homepage unter Angabe der Quelle zu eigen
macht.170 Der Gesetzgeber hat anscheinend angenommen, dass die Stellen, auf
deren Informationsbestand verwiesen werden darf, gewährleisten, dass „neutrale,
medizinisch und rechtlich qualitätsgesicherte Informationen“ zur Verfügung stehen.
Dass dies aber zumindest bei gewissen Beratungsstellen einen Trugschluss darstellt,
hat Berghäuser171 zutreffend dargelegt.
Für unklar wird das Verhältnis der Strafnormen in § 219a Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB
zu den Tatbestandsausschlüssen in § 219a Abs. 4 Nr. 1 und Nr. 2 StGB gehalten.172
Berghäuser nimmt – allerdings ohne nähere Begründung – an, dass der Täter § 219a
Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht verwirklicht, wenn er Gegenstände, Mittel oder Verfahren
ausschließlich in Konkretisierung seines bereits von § 219a Abs. 1 Nr. 1 StGB erfass-
ten Angebots näher erläutert.173 Das ist jedoch nicht zutreffend. Ein Täter, der gleich-
zeitig sowohl eigene Dienste als auch zum Abbruch geeignete Mittel usw. anbietet,
verstößt zugleich gegen die Nr. 1 und die Nr. 2 des § 219a Abs. 1 StGB.174 Er hat je-
weils unterschiedliche Gefahren für das Rechtsgut des vorgeburtlichen Lebens be-
gründet; inwieweit dies (Gegenbeweis der Ungefährlichkeit) hingenommen werden
kann, richtet sich nicht nach einheitlichen, sondern nach jeweils speziellen Grund-
sätzen (§ 219a Abs. 4 Nr. 1, 2 StGB). Damit handelt es sich lediglich um eine
167
Dorneck, medstra 2019, 139.
168
Zum Gegenstand der Mitteilung vgl. § 13 Abs. 3 Satz 2 SchwKG (neu).
169
Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen, BT-Drucks 19/7693, S. 11; Beschlussempfeh-
lung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss), BT-
Drucks. 19/7965, S. 9.
170
Beschlussempfehlung und Bericht, BT-Drucks. 7965, S. 9; zust. wohl Dorneck, medstra
2019, 140; a.A. Kubiciel, juris PR-StrafR 4/2019 Anm. 1; Hoven, Stellungnahme (Fn. 29),
S. 4.
171
KriPoZ 2019, 90.
172
Berghäuser, KriPoZ 2019, 87 ff.; Frommel, jM 2019, 165; dies., medstra 2019, 130.
173
Vgl. medstra 2019, 124.
174
Beide Fälle waren übrigens früher in verschieden Vorschriften normiert, vgl. §§ 219,
220 StGB a.F.
§ 219a StGB in neuer Gestalt 1201

Frage der Konkurrenzen, wie mit einem solchen Sachverhalt umzugehen ist.175 Na-
heliegend dürfte es sein, von gleichartiger Idealkonkurrenz auszugehen, wobei in die
Urteilsformel nur die rechtliche Bezeichnung „wegen Werbung für den Abbruch der
Schwangerschaft“ aufgenommen wird.176
Ob die erhebliche Kritik an der Neuregelung den Gesetzgeber zu weiteren Kurs-
korrekturen veranlassen wird, ist zweifelhaft. Die Wissenschaftlichen Dienste des
Deutschen Bundestages haben der Neufassung des § 219a StGB jedenfalls das Siegel
der Verfassungsmäßigkeit verliehen.177 Eine vollständige Streichung des § 219a
StGB oder die vielfach – auch vom Jubilar178 – geforderte Umwandlung in eine Ord-
nungswidrigkeit179 ist damit erst einmal vom Tisch.

V. Schlussbemerkung
Die Neufassung des § 219a StGB im Zuge eines politisch erbittert geführten und
fast schon eskalierten Streits180 ist ein Musterbeispiel für den von Hillenkamp181 nur
zu treffend beschriebenen und zu Recht getadelten „Einzelfall als Strafgesetzge-
bungsmotiv.“182 § 219a StGB a.F. war mit dem GG vereinbar; verfassungsrechtlich
problematisch wäre im Gegenteil seine vollständige Streichung aus dem StGB gewe-
sen. Ein Informationsdefizit bei abbruchswilligen Frauen war beim besten Willen
nicht zu erkennen. Die Verurteilungen, die Anlass zu dem parlamentarischen Aktio-
nismus gegeben haben, waren nach der seinerzeitigen lex lata rechtsfehlerfrei. Es be-
stand daher auch keine Rechtsunsicherheit.183 Angesichts dessen hätte genug Zeit zur
Verfügung gestanden, zu „von Sachverstand geleitetem Handeln“ überzugehen und

175
Leider wird die Frage in den vorliegenden Kommentierungen – auch in der eigenen –
nicht erläutert. Das wird nachzuholen sein.
176
Vgl. BGH NStZ 1994, 285 (zum schweren Raub).
177
Ausarbeitung vom 27. 02. 2019, WD 3 – 3000 – 043/19; ebenso Dorneck, medstra 2019,
142; ferner Kubiciel, jurisPR-StrafR 4/2019 Anm. 1.
178
Stellungnahme (Fn. 28), S. 7 ff.; Stellungnahme (Fn. 29), S. 4.
179
Dafür etwa der Kriminalpolitische Kreis, ZfL 2018, 31 (32); Deutscher Juristinnen-
bund, Stellungnahme (Fn. 28), S. 18; Stellungnahme (Fn. 29), S. 3; Höffler RuP 2018,71;
dagegen mit Recht Gärditz, ZfL 2018, 19; Weigend, Stellungnahme (Fn. 29), S. 5; Hillen-
kamp, HessÄBl. 2018, 93; Duttge, medstra 2018, 130; Kaiser/Eibach, medstra 2018, 277;
Dorneck, medstra 2019, 141; Kubiciel (ZRP 2018, 15) hält die Schaffung eines Bußgeldtat-
bestandes für „verfassungsrechtlich möglich, aber rechtspolitisch unklug.“
180
Vgl. zum Ganzen auch Sasse, NJ 2018, 434: „Erstaunlicherweise wird die stark kon-
trovers geführte Diskussion um den Fortbestand oder die Beseitigung dieser Strafrechtsvor-
schrift zwar erbittert, aber nicht immer rechtlich fundiert, sondern eher rechtspolitisch auf-
geheizt und polemisch ausgetragen.“
181
FS Eisenberg II (2019), S. 655 (668 f.).
182
Vgl. auch Kubiciel, ZRP 2018, 13: „Bad cases shouldn’t make bad law.“
183
Unzutr. Gärditz, ZfL 2018, 20, wonach § 219a StGB (a.F.) mit „Interpretationsunsi-
cherheiten“ belastet gewesen sein soll.
1202 Klaus Rogall

auf reflexhafte Reaktionen zu verzichten.184 So aber ist eine Lösung gefunden wor-
den, deren Befriedungsfunktion und Nachhaltigkeit Zweifeln unterliegt.185 Aber man
wollte wohl auch den betroffenen Angeklagten die Wohltat des § 2 Abs. 3 StGB er-
weisen.186 Im Falle der Ärztin Kristina Hänel ist das auch gelungen,187 wenngleich
hier und in anderen Fällen188 noch zu prüfen ist, ob auch nach der Neufassung des
§ 219a StGB eine Strafbarkeit besteht. Das Konfliktpotenzial ist also im Ergebnis
keineswegs ausgeräumt. Inwieweit dieses Gesetz Bestand haben wird – der Sache
nach handelt es sich ja um einen Waffenstillstand in einem „Stellvertreterkrieg“189
– bleibt abzuwarten.190

184
Zu diesem Desiderat nochmals Hillenkamp, FS Eisenberg II (2019), S. 669.
185
Berghäuser (KriPoZ 2019, 82) wirft die Frage auf, ob es sich bei der gefundenen Lö-
sung nur um einen „faulen Parteienkompromiss“ handelt.
186
Vgl. dazu auch Hillenkamp, FS Eisenberg II 2019, S. 668.
187
OLG Frankfurt, Beschluss v. 26. 06. 2019 – 1 Ss 15/19 –, juris.
188
Vgl. etwa AG Tiergarten, Urt. v. 14. 06. 2019 – 253 Ds 143/18; s. auch AG Kassel – 284
Ds-2660 Js 28990/17, Pressemitteilung Nr. 3/2019 v. 08. 07. 2019: Einstellung des Verfahrens
gemäß § 206b Satz 2 StPO gegen die Ärztinnen Natascha Nicklaus und Nora Szász mangels
Strafbarkeit nach neuem Recht.
189
Vgl. Duttge, medstra 2018, 129.
190
Nach Pressemitteilungen hat die FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag erklärt, sich an
einem Normenkontrollantrag der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen nicht
(mehr) beteiligen zu wollen, vgl. etwa https://rsw.beck.de/aktuell/meldung/fdp-verzichtet-
wohl-auf-normenkontrollklage-gegen-219a-stgb. Zu dem angekündigten Verfahren auch Dor-
neck, medstra 2019, 137, 143.
Intersexualität und Strafrecht
Von Anette Grünewald

I. Einführung
Intersexualität und der gesellschaftliche Umgang mit diesem Phänomen sind erst
vor wenigen Jahren in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. Hierzu hat nicht zuletzt
eine 200 Seiten starke Stellungnahme des Deutschen Ethikrates beigetragen.1 Diese
markiert den Beginn einer breiteren gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit die-
ser komplexen Materie,2 die in diversen Aspekten umstrittenen ist. Bereits der Ter-
minus „Intersexualität“ stößt auf Bedenken.3 Viele Betroffene lehnen ihn ab, weil er
sprachlich eine zu große Nähe zu anders gelagerten Phänomenen wie Bi-, Hetero-,
Homosexualität oder Transsexualität aufweise.4 Um zu verdeutlichen, dass es bei der
Intersexualität um geschlechtliche Merkmale und nicht um sexuelles Begehren geht,
wird der Terminus „Intergeschlechtlichkeit“ bevorzugt.5 Der Begriff „Intersexuali-
tät“ ist jedoch weit verbreitet, insbesondere werden im englischen Sprachraum die
Bezeichnungen „intersex“ und „intersexuality“ verwendet. Im medizinischen Dis-
kurs hingegen tauchen beide Begriffe nicht (mehr) auf. Intergeschlechtlichkeit
wird dort in die Kategorie DSD eingeordnet (dazu III.3.). Das Akronym steht für
„disorders/differences of sex development“ und bietet ebenfalls Anlass zur Kritik,
sofern Intergeschlechtlichkeit als „disorder“ (Störung) angesehen wird. Die schwie-
rige Suche nach einer angemessenen Begrifflichkeit weist auf Unsicherheiten und
Unklarheiten hin. Diese durchziehen die gesamte Debatte über Intersexualität wie
ein roter Faden und wirken sich auf Einzelaspekte aus. Es ist nicht leicht, sich
einen Überblick über das Thema zu verschaffen. Das liegt zunächst schon an der In-
homogenität und Vielgestaltigkeit intersexueller Erscheinungsformen (dazu II.1.

1
Deutscher Ethikrat, Intersexualität. Stellungnahme, 2012. Zum Hintergrund der Stel-
lungnahme siehe ebd., S. 9 f.
2
Der Stellungnahme sind eine öffentliche Anhörung, ein Online-Diskurs und weitere
Aktivitäten des Deutschen Ethikrats vorausgegangen; vgl. Deutscher Ethikrat, Dokumentati-
on. Intersexualität im Diskurs, 2012; ein Überblick über die einzelnen Tätigkeiten findet sich
ebd., S. 13, sowie Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 13 ff.
3
Zur historischen Entwicklung dieses Begriffs Voß, Intersexualität – Intersex, 2012, S. 10.
4
Voß, in: Baier/Hochreiter (Hrsg.), Intergeschlechtliche Körperlichkeiten, 2014, S. 69
(73 f.).
5
Voß (Fn. 3), S. 11. Zur Abgrenzung von Inter- und Transsexualität siehe im Haupttext
unter II.3.
1204 Anette Grünewald

und 2.). Hinzu kommt, dass die Forschungslage nach wie vor dürftig ist; wobei teil-
weise sogar deutlich divergierende Studienergebnisse existieren. Von einigen Dis-
kussionsteilnehmern wird die Debatte um Intersexualität zudem sehr emotional ge-
führt. Intergeschlechtliche Aktivisten und deren Verbündete begeben sich bisweilen
in einen erbitterten Kampf mit Vertretern der medizinischen Fachwelt, in dem sich
Wut, Verzweiflung, mitunter blanker Hass entladen.6 Das ist angesichts der zweifel-
haften und tief einschneidenden medizinischen Eingriffe, die jahrzehntelang an in-
tersexuellen Personen durchgeführt wurden (dazu III. und IV.), wenig verwunder-
lich.7 Schließlich betrifft das Thema grundlegende, die Gesellschaft prägende Fra-
gen. Es geht um „sex“ und „gender“ und damit um Geschlechtertheorie.8 Man bewegt
sich also gesellschafts- wie rechtspolitisch auf heiklem und vermintem Terrain.
Reinhard Merkel wurde im selben Jahr in den Deutschen Ethikrat berufen, in dem
dieser seine Stellungnahme zur Intersexualität veröffentlicht hat, also im Jahr 2012.
Bis 2020 gehörte er diesem Gremium an. An der Stellungnahme zur Intersexualität
hat er nicht mitgewirkt. Gesellschaftspolitisch brisante Themen und die „großen Fra-
gen des Lebens“9 sind das Feld, auf dem Reinhard Merkel sich mit Vorliebe und be-
wundernswertem Elan bewegt. Zahlreiche Debatten hat er mit seinen brillanten Ana-
lysen und streitbaren Thesen bereichert. Meinen Beitrag verbinde ich mit den aller-
besten Wünschen für die Zukunft und der Hoffnung auf weitere spannende und lehr-
reiche Beiträge aus der Feder des Jubilars.

II. Das Phänomen der Intersexualität


1. Bedeutung

Bei der Intergeschlechtlichkeit handelt es sich nicht um eine einheitliche oder klar
abgrenzbare Erscheinung. Vielmehr gibt es „eine Vielzahl [von] Formen mit unter-
schiedlichen Ursachen, Erscheinungsbildern und Entwicklungsverläufen“.10 Diese

6
Vgl. die Nachweise bei Zehnder, Zwitter beim Namen nennen, 2010, S. 201 ff.
7
Siehe auch die zum Teil selbstkritische Stellungnahme der Bundesärztekammer, „Ver-
sorgung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Varianten/Störungen der Ge-
schlechtsentwicklung (Disorders of Sex Development, DSD)“, Deutsches Ärzteblatt 2015,
S. 1 ff.
8
Plett, in: Lohrenscheit (Hrsg.), Sexuelle Selbstbestimmung als Menschenrecht, 2009,
S. 151 (163): „Geschlecht [als] eine der grundlegenden gesellschaftlichen Strukturkategori-
en“; ähnlich Quindeau, Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 63 (2014), S. 437 (444).
9
Die Formulierung ist einer Selbstbeschreibung des Deutschen Ethikrates entnommen
(https://www.ethikrat.org [zuletzt abgerufen am 17. 09. 2019]).
10
Richter-Appelt, Bundesgesundheitsblatt 2013, S. 240 (241); dies., in: Groneberg/Zehn-
der (Hrsg.), „Intersex“. Geschlechtsanpassung zum Wohl des Kindes?, 2008, S. 53 (55);
Netzwerk Intersexualität, Klinische Evaluationsstudie: Medizinische und chirurgische Be-
handlungsergebnisse, psychosexuelle Entwicklung und gesundheitsbezogene Lebensqualität
bei Störungen der somatosexuellen Differenzierung, 2006, S. 8, https://www.orpha.net/data/
Intersexualität und Strafrecht 1205

Komplexität erschwert eine präzise und angemessene Auseinandersetzung mit dem


Phänomen „Intersex“ erheblich. Das betrifft die juristische wie die medizinische und
psychologische Perspektive11 gleichermaßen und gilt nicht minder für die soziologi-
sche und gesellschaftspolitische. Grundsätzlich kann man festhalten, dass Personen
als intergeschlechtlich gelten, wenn sie sich aufgrund angeborener körperlicher Be-
sonderheiten nicht eindeutig dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuordnen
lassen.12 Intersexualität entsteht dadurch, dass „es während der pränatalen Differen-
zierung des Körpergeschlechts zu einer untypischen Entwicklung bzw. Veranlagung“
kommt, die zu einer somatischen Zwischengeschlechtlichkeit führt.13 Diese kann un-
terschiedlich (stark) ausgeprägt sein. Zwischengeschlechtlichkeit liegt vor, wenn die
das Geschlecht einer Person determinierenden und differenzierenden Merkmale
nicht alle demselben Geschlecht angehören. Zu diesen Merkmalen zählen Chromo-
somen, Gene, Hormone, Keimdrüsen, äußere und innere Geschlechtsorgane.14 Die
Vielfalt und Heterogenität intergeschlechtlicher Erscheinungsformen liegt darin be-
gründet, dass Abweichungen von jedem einzelnen oder von mehreren dieser Merk-
male ausgehen können und in unterschiedlichen Kombinationen und Ausprägungen
auch vorkommen.15 Die Uneindeutigkeit des Geschlechts kann unmittelbar nach der
Geburt auffallen, wenn nämlich die äußeren Geschlechtsorgane ein untypisches Aus-
sehen aufweisen. Möglich ist es aber ebenso, dass die Intergeschlechtlichkeit erst
später erkennbar wird. Das kann zufällig geschehen (z. B. anlässlich einer Leisten-
bruchoperation). Oder die Intersexualität wird in der Pubertät sichtbar, weil sekun-
däre Geschlechtsmerkmale sich nicht so entwickeln, wie es zu erwarten gewesen
wäre (z. B. Brustentwicklung bei männlichem Phänotyp oder Ausbleiben derglei-
chen bei weiblichem Phänotyp).16

eth/DE/Id25459DE.pdf (zuletzt abgerufen am 17. 09. 2019); Brinkmann et al., Gynäkologische


Endokrinologie 2007, S. 235; Holterhus, in: Hiort et al. (Hrsg.), Pädiatrische Endokrinologie
und Diabetologie, 2010, S. 392 (407).
11
Vgl. Stellungnahme der Bundesärztekammer (Fn. 7), S. 1 (2).
12
So Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 11; Interministerielle Arbeitsgruppe Inter- &Transse-
xualität (IMAG), „Situation von trans- und intersexuellen Menschen im Fokus“, Bundesmi-
nisterium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend, 2016, S. 32.
13
Richter-Appelt, Zeitschrift für Sexualforschung 2004, S. 239 (240); dies./Schweizer,
Psychotherapeut 2010, S. 36; eingehender Stern, Intersexualität, 2010, S. 46 ff., und vor allem
Holterhus (Fn. 10), S. 392 ff.
14
Brinkmann et al., Gynäkologische Endokrinologie 2007, S. 235; Richter-Appelt
(Fn. 10), S. 53 (54); dies., Bundesgesundheitsblatt 56 (2013), S. 240; Remus, in: Schmidt et al.
(Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, 2015,
S. 63 (64); Plett (Fn. 8), S. 151 (153).
15
Ausführlich etwa Zehnder (Fn. 6), S. 75 ff.
16
Richter-Appelt (Fn. 10), S. 53 (55); Stern (Fn. 13), S. 46.
1206 Anette Grünewald

2. Zahlen und Formen

Belastbare Daten zur Häufigkeit von Intersexualität gibt es nicht; die Angaben
hierzu variieren. So sollen leichtere Formen von Intergeschlechtlichkeit bei einer
von 2000 Personen und schwerere Formen bei einer von 10.000 Personen vorkom-
men.17 Schätzungen gehen davon aus, dass in Deutschland zwischen 8.000 und
120.000 intergeschlechtliche Personen leben18 und jährlich etwa 150 intersexuelle
Kinder geboren werden.19 Die teils signifikant voneinander abweichenden Zahlen re-
sultieren auch aus Unklarheiten und Uneinigkeiten bei der Einordnung bestimmter
Phänomene.20 Denn eine allseits anerkannte, trennscharfe Definition gibt es nicht.
Man ist sich daher in manchen Fällen uneins, ob eine Abweichung der Kategorie „In-
tersexualität“ zuzurechnen ist oder nicht. Als die am häufigsten vorkommenden For-
men von Intergeschlechtlichkeit gelten das adrenogenitale Syndrom (AGS), die Go-
nadendysgenesie sowie die Androgenresistenz bzw. das Androgeninsensitivitätssyn-
drom (AIS).21 Ein einheitliches Erscheinungsbild haben diese Formen aber ebenfalls
nicht; Schweregrad und Ausprägung können also erheblich differieren. Zum besse-
ren Verständnis seien wesentliche Merkmale dieser drei Intersex-Varianten grob und
auch nur ausschnittshaft skizziert:
a) Das adrenogenitale Syndrom gilt als „das häufigste und am besten untersuchte
Intersex-Syndrom“.22 Es kann bei männlichen wie weiblichen Kindern auftreten.
Unmittelbar nach der Geburt wird es vornehmlich bei weiblichen Kinder erkannt;
man spricht in diesem Fall auch von XX-AGS oder nennt die Betroffenen AGS-
Mädchen.23 Die Neugeborenen fallen durch vergrößerte äußere Geschlechts-

17
So Netzwerk Intersexualität (Fn. 10), S. 8; Zumbusch-Weyerstahl/Teschner, in: Weyer-
stahl/Stauber, Gynäkologie und Geburtshilfe, 4. Aufl., 2013, S. 44, gehen von einer Häufigkeit
von 1 : 4.500 aus; siehe ferner Klöppel, Zur Aktualität kosmetischer Operationen „unein-
deutiger“ Genitalien im Kindesalter, 2016, S. 18 f.; Calvi, Eine Überschreitung der Ge-
schlechtergrenzen?, 2012, S. 84 f.
18
So IMAG (Fn. 12), S. 8; nach Zumbusch-Weyerstahl/Teschner (Fn. 17), S. 44, leben
10.000 Betroffene in Deutschland; in der Stellungnahme der Bundesärztekammer (Fn. 7), S. 1
(4), geht man davon aus, dass in Deutschland 8.000 bis 10.000 Personen ausgeprägte Ab-
weichungen von der typisch männlichen oder weiblichen Geschlechtsentwicklung aufweisen.
19
Zumbusch-Weyerstahl/Teschner (Fn. 17), S. 44; Stellungnahme der Bundesärztekammer
(Fn. 7), S. 1 (4).
20
Hauck et al., Zeitschrift für Sexualforschung 2019, S. 80 (85, 87); Richter-Appelt
(Fn. 10), S. 53 (55 f.); Zehnder (Fn. 6), S. 139 f.
21
Ein guter Überblick über die genannten Formen findet sich aus medizinischer Sicht bei
Grüters, in: Finke/Höhne, Intersexualität bei Kindern, 2008, S. 31 ff., und aus psychologischer
Sicht bei Brinkmann et al., Gynäkologische Endokrinologie 2007, S. 235 (236), sowie Rich-
ter-Appelt (Fn. 10), S. 53 (60 ff.). Zur Entstehung dieser Varianten der Geschlechtsentwick-
lung Holterhus (Fn. 10), S. 392 ff.
22
Zehnder (Fn. 6), S. 82.
23
Hierzu sowie dem Folgenden Grüters (Fn. 21), S. 31 (32 ff.); Schweizer et al., Zeitschrift
für Sexualforschung 2007, S. 145 ff.; Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 43 ff.; zur Entstehung
wiederum Holterhus (Fn. 10), S. 392 (394 f.).
Intersexualität und Strafrecht 1207

merkmale auf (Klitoris und/oder Schamlippen). Fällt diese Vergrößerung beson-


ders stark aus (Prader V24), erinnern die Geschlechtsmerkmale an einen Penis
und/oder Hodensack. Weibliche Kinder mit AGS haben in der Regel normale in-
nere Geschlechtsorgane (Eierstöcke, Eileiter, Gebärmutter) und sind fortpflan-
zungsfähig. Das gilt manchmal sogar für das sog. AGS mit Salzverlust – eine le-
bensgefährliche Form von AGS, die dringend behandlungsbedürftig ist und eine
lebenslange Hormontherapie erfordert.25 Zweifeln lässt sich nun zumindest
daran, inwieweit bestimmte Erscheinungsformen von XX-AGS als eine Inter-
sex-Variante anzusehen sind.26 Zumal viele XX-AGS-Betroffene sich selbst
nicht als zwischengeschlechtlich, sondern als eine eindeutig weibliche Person
mit einer Stoffwechselerkrankung sehen.27 Soweit in solchen Fällen Feminisie-
rungsoperationen durchgeführt wurden und heute noch durchgeführt werden
(mithin Reduktion der Klitoris und/oder der Schamlippen),28 lässt sich die
Frage aufwerfen, ob derartige Eingriffe als geschlechtszuweisend treffend cha-
rakterisiert sind oder ob es sich nicht lediglich um geschlechtsvereindeutigende
oder auch genitalkorrigierende Maßnahmen handelt.29 Damit ist freilich noch
nichts über die rechtliche Zulässigkeit solcher Maßnahmen gesagt (dazu unter
IV.2.b).
b) Die Gonadendysgenesie kommt ebenfalls in verschiedenen Formen und Abstu-
fungen vor.30 Sie kann bei einem 46,XX- oder 46,XY-Karyotyp auftreten.31 Bei
der wohl am häufigsten vorkommenden reinen Gonadendysgenesie (auch
Swyer-Syndrom) handelt es sich um eine Entwicklungsstörung der Hoden.
Das Kerngeschlecht ist männlich (XY-Chromosomensatz), der Phänotyp auf-
grund mangelnder Virilisierung weiblich. Auch hier sind wiederum unterschied-
24
Den Virilisierungsgrad des äußeren Genitales bestimmt man nach den Kategorien Prader
I bis V; Prader V ist also die stärkste Form.
25
Vgl. Birnbaum et al., Monatsschrift Kinderheilkunde 2/2013, S. 145 (151).
26
Eingehend Lang, Intersexualität, 2006, S. 97 ff.
27
Werlen, Schweizerische Ärztezeitung 2016, S. 1089; Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 11,
44; Stellungnahme der Bundesärztekammer (Fn. 7), S. 1 (2); Woweries, in: Schneider/Baltes-
Löhr (Hrsg.), Normierte Kinder, 2014, S. 249. Es gibt aber ebenfalls Untersuchungen, die zu
dem Ergebnis kommen, dass eine beachtliche Zahl von Patientinnen ihre weibliche Identität
später (also in oder nach der Pubertät) in Frage stellt. Das soll besonders für das AGS mit
Salzverlust gelten, welches in der Regel mit der stärksten Virilisierung einhergeht; siehe
Krege, Zeitschrift für Sexualforschung 2007, S. 113 (114); Richter-Appelt (Fn. 10), S. 53
(60 f.).
28
Vgl. etwa Rohrer et al., in: Gortner/Meyer (Hrsg.), Pädiatrie, 5. Aufl., 2018, S. 242
(246); Radmayr, in: Michel et al. (Hrsg.), Die Urologie, 2016, S. 181 f.; Conrad, in: Haut-
mann/Gschwend (Hrsg.), Urologie, 5. Aufl., 2014, S. 403 f.; ferner Klöppel (Fn. 17), S. 6 ff.,
56 ff.
29
Zu dieser Differenzierung Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 108 f.
30
Eingehender Grüters (Fn. 21), S. 35 ff.; zur Entstehung Holterhus (Fn. 10), S. 392
(bes. 395 ff.); ferner Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 37 ff.
31
Conrad (Fn. 28), S. 403 (405). Zum Turner- und Klinefelter-Syndrom siehe später im
Haupttext unter III.3.
1208 Anette Grünewald

liche Ausprägungen möglich. Es kann ein komplett weiblicher Phänotyp vorlie-


gen. Möglich sind aber ebenso verschiedene Formen der Hypospadie (Fehlbil-
dung der Harnröhre) mit oder ohne Hodenhochstand. Ungeachtet des XY-Chro-
mosomensatzes wurden/werden diese Personen vielfach dem weiblichen Ge-
schlecht zugewiesen, weil sich die inneren und äußeren Geschlechtsorgane
eher weiblich entwickeln.32
c) Ein überaus großes Spektrum möglicher Erscheinungsformen gibt es schließlich
beim Androgeninsensitivitätssyndrom (AIS).33 Chromosomal handelt es sich bei
diesem Syndrom um männliche Neugeborene. Diese können äußerlich ein voll-
ständig weibliches Erscheinungsbild aufweisen, wobei die inneren weiblichen
Geschlechtsorgane fehlen (so bei der kompletten Androgenresistenz [CAIS]).
In diesem Fall fand (und findet wohl noch) eine Zuordnung zum weiblichen Ge-
schlecht statt (sog. XY-Mädchen). Jedoch kommen auch nahezu männliche, zwi-
schengeschlechtliche oder überwiegend weibliche äußere Erscheinungsbilder
vor (so bei der partiellen Androgenresistenz [PAIS]).

3. Inter- und Transsexualität

Intersexualität ist von Transsexualität abzugrenzen. Während bei der Intersexua-


lität die pränatale somatosexuelle Differenzierung einen untypischen Verlauf nimmt
und ein ambivalenter Genitalbefund vielfach schon unmittelbar nach der Geburt er-
kennbar ist (siehe II.1.), lassen sich transsexuelle Personen biologisch einem Ge-
schlecht innerhalb des binären Geschlechtersystems zuordnen.34 Sämtliche ge-
schlechtsbestimmenden und -determinierenden Merkmale sind bei ihnen also weib-
lich oder männlich. Transsexualität zeichnet sich durch Geschlechtsinkongruenz aus.
Das heißt: transsexuelle Personen erleben sich in einem anderen als dem angebore-
nen Geschlecht. Da es hierfür (bislang) keinen somatisch nachweisbaren Befund
gibt, gilt Transsexualität als psychisches, Intersexualität hingegen als körperliches
Phänomen. Insofern kann man wohl (noch) sagen, dass Trans- und Intersexualität
sich wechselseitig ausschließen.35 Geschlechtsinkongruenz kann freilich auch bei in-
tersexuellen Personen auftreten. Das ist der Fall, wenn sich bei ihnen eine Ge-
schlechtsidentität herausbildet (männlich, weiblich oder dazwischen), die dem
nach der Geburt durch medizinische Maßnahmen und Erziehung zugewiesenen Ge-
schlecht nicht entspricht.

32
Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 39.
33
Hierzu Grüters (Fn. 21), S. 31 (36 f.); Holterhus (Fn. 10), S. 392 (402 ff.); Krege, in:
Michel et al. (Hrsg.), Die Urologie, 2016, S. 1847 (1850 f.); Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 42.
34
Bosinsk/Sohn, in: Michel et al. (Hrsg.), Die Urologie, 2016, S. 1685; Richter-Appelt,
Bundesgesundheitsblatt 2013, S. 240 f.
35
Vgl. Richter-Appelt, Bundesgesundheitsblatt 2013, S. 240, 243; dies., in: Wimmer-Pu-
chinger et al. (Hrsg.), Irrsinnig weiblich – Psychische Krisen im Frauenleben, 2016, S. 107
(111).
Intersexualität und Strafrecht 1209

Nach herkömmlicher Anschauung gelten beide Phänomene als Störungen, die


einer medizinischen Behandlung bedürfen. In den letzten Jahren hat allerdings ein
beachtlicher Wandel eingesetzt, der vor allem von Betroffenen und Interessenvertre-
tern vorangetrieben wurde und wird. Transsexualität ist nach der noch geltenden In-
ternationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesund-
heitsprobleme, ICD-10-GM, ein Unterfall der Störungen der Geschlechtsidentität
und gehört damit zum Bereich der Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen.36
Der Terminus wird voraussichtlich in der neuen Fassung (ICD-11), die 2022 in
Kraft treten soll, durch den Begriff „gender incongruence“ (Geschlechtsinkongru-
enz) ersetzt, der keine Psychopathologisierung mehr impliziert (bzw. implizieren
soll).37 Die „Psychiatrisierung“ der Transsexualität ist übrigens ein wesentlicher
Grund, weshalb Intersexuelle nicht mit Transsexuellen in Verbindung gebracht wer-
den wollen und um größtmöglichen Abstand zu dieser Personengruppe bemüht sind.
Seit der 2013 geltenden 5. Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental
Disorders (DSM-5) wird Transsexualität den Geschlechtsdysphorien zugeordnet.
Wobei der Begriff „Transsexualität“ im DSM nicht mehr vorkommt.38 Geschlechts-
dysphorie bezeichnet „die als belastend erlebte Unvereinbarkeit von Identitätserle-
ben und geschlechtstypischer Erscheinung“.39 Eine solche kann vergleichbar der Ge-
schlechtsinkongruenz auch bei intersexuellen Personen auftreten.40 Der Begriff hat
den im DSM-IV-TR aus dem Jahr 2000 verwendeten Terminus der Geschlechtsiden-
titätsstörung ersetzt und steht ebenfalls für eine Entpathologisierung.41 Die Suche
nach einer adäquaten Begrifflichkeit und Einordnung erweist sich also nicht nur
bei der Intersexualität als schwieriges Unterfangen (siehe schon I.), sondern ebenso
bei der Transsexualität. Die Gründe dafür sind zum Teil vergleichbar. So hängt die
Bewertung beider Phänomene erheblich von soziokulturell geprägten Vorstellungen
ab und ist zugleich in hohem Maße dem Einfluss gegenwärtiger gesellschaftspoliti-
scher Strömungen ausgesetzt.42 Für die Transsexualität wurde der Wandel der gesell-
schaftlichen Anschauung, der auch – wie vor Jahrzehnten schon im (wenngleich
nochmals anders gelagerten) Fall der Homosexualität – in die medizinischen Klas-
sifikationssysteme hinwirkt, nur knapp angerissen. Für die Intersexualität ist die Ent-
wicklung nun etwas eingehender nachzuzeichnen.
36
Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (Hrsg.), ICD-10-
GM, Version 2019, S. 203 ff. (F.60) und S. 208 (F.64).
37
Siehe Nieder/Strauß, Zeitschrift für Sexualforschung 2019, S. 70 (72).
38
Und zwar schon seit der 4. Aufl. im Jahr 1994; zu den Gründen Bosinski/Sohn (Fn. 34),
S. 1685 f.
39
So kurz Nieder/Richter-Appelt, Gynakol Geburtsmed Gynakol Endokrinol 2012, S. 60
(61).
40
Siehe Falkai/Wittchen (Hrsg.), Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer
Störungen. DSM-5, 2. Aufl., 2018, S. 219 ff.
41
Nieder et al., Psychother Psych Med 64 (2014), S. 232 (234); siehe auch Bosinski/Sohn
(Fn. 34), S. 1685 f.
42
So zutreffend die Stellungnahme der Bundesärztekammer (Fn. 7), S. 1 (bezogen auf die
Intersexualität).
1210 Anette Grünewald

III. Der Umgang mit Intersexualität in der Medizin


1. Behandlungsmodell: „optimal gender policy“

Seit Mitte bis Ende des 20. Jahrhunderts beherrschte ein Behandlungsansatz den
Umgang mit intersexuellen Kindern, der auf den an der Johns-Hopkins-University in
Baltimore tätigen klinischen Psychologen und Sexualwissenschaftler John Money
zurückgeht. Man spricht daher auch vom Baltimorer Behandlungsmodell;43 aussage-
kräftiger ist die Bezeichnung „optimal gender policy“.44 Nach diesem Konzept45 soll-
te das intersexuelle Erscheinungsbild des Kindes durch medizinische Maßnahmen,
namentlich Operationen und Hormontherapien, korrigiert und der Körper einem
weiblichen oder männlichen angepasst werden. Die Eingriffe sollten frühestmöglich
stattfinden und wurden in aller Regel vor dem Erreichen des zweiten Lebensjahres
durchgeführt. Money ging nämlich davon aus, dass innerhalb der ersten beiden Le-
bensjahre ein Geschlecht unabhängig von der angeborenen körperlichen Beschaffen-
heit problemlos zugewiesen werden könne. Um eine stabile Geschlechtsidentität zu
entwickeln, sei es aber erforderlich, den Körper so optimal wie möglich einem ty-
pisch männlichen oder typisch weiblichen Körper anzupassen.46 Ausschlaggebend
für die Geschlechtszuweisung waren die vorhandenen Genitalien und die operativen
Möglichkeiten.47 Letzteres führte dazu, dass in der überwiegenden Zahl der Fälle
eine Zuordnung zum weiblichen Geschlecht stattfand.48 Denn bis heute ist der Auf-
bau eines Penis schwieriger als die Herstellung einer künstlichen Vagina.49 Zur Er-
reichung einer stabilen Geschlechtsidentität musste das Kind außerdem konsequent
in seinem Zuweisungsgeschlecht erzogen werden und die Eingriffe bzw. deren Be-
deutung mussten ihm, auch wenn es erwachsen war, verschwiegen werden.50 Diese
Verheimlichungsstrategie führte dazu, dass viele Intersexuelle ihre „wahre Ge-
schichte“ nur per Zufall erfahren haben.51 Hieraus, so wird geltend gemacht, resul-
tiere ein „Wahrnehmungsdefizit von mindestens drei Jahrzehnten“.52
43
Voß (Fn. 3), S. 14.
44
Richter-Appelt (Fn. 10), S. 53 (56 f.); Voß (Fn. 3), S. 14; Kolbe, Intersexualität, Zwei-
geschlechtlichkeit und Verfassungsrecht, 2010, S. 136; Gregor, Constructing Intersex. Inter-
geschlechtlichkeit als soziale Kategorie, 2015, S. 56 f.; Davis, Contesting Intersex, 2015,
S. 58 ff.
45
Siehe zum Folgenden Gregor (Fn. 44) S. 57 ff.; Kolbe (Fn. 44), S. 136 f.; Richter-Appelt
(Fn. 10), S. 53 (57); Voß (Fn. 4), S. 69 (77 ff.).
46
Kolbe (Fn. 44), S. 209.
47
Gregor (Fn. 44), S. 58; Richter-Appelt (Fn. 10), S. 53 (56). Zur Fertilität als einem
weiteren Faktor für die Wahl des Zuweisungsgeschlechts Zehnder (Fn. 6), S. 85.
48
Zehnder (Fn. 6), S. 89 f.; Voß (Fn. 3), S. 15.
49
Siehe nur Krege, Zeitschrift für Sexualforschung 2007, S. 113 (114).
50
Wiesemann/Ude-Koeller, in: Groß et al. (Hrsg.), Transsexualität und Intersexualität,
2008, S. 13; Plett (Fn. 8), S. 151 (158); Voß (Fn. 4), S. 69 (72); ders. (Fn. 3), S. 14; Gregor
(Fn. 44), S. 58, 61.
51
Plett (Fn. 8), S. 151 (158).
52
So Adamietz, Geschlecht als Erwartung, 2010, S. 45.
Intersexualität und Strafrecht 1211

John Moneys Behandlungsmodell war in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhun-
derts nahezu allseits konsentiert53 und bestimmte den Umgang mit intersexuell Ge-
borenen auch in Deutschland.54 Der Ansatz konnte vermutlich auch deshalb eine sol-
che Wirkkraft entfalten, weil seine Grundannahmen anderenorts geteilt wurden. So
vertraten etwa Feministinnen die Ansicht, dass nicht das angeborene, biologische
Geschlecht (sex), sondern das anerzogene, erworbene oder soziale Geschlecht (gen-
der) das Geschlechtsrollenverhalten und die Geschlechtsrollenidentität entscheidend
prägten.55 Das entsprach antibiologistischen Strömungen und stützte die These, dass
die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen weniger auf biologisch-körperli-
chen Differenzen beruhe als vielmehr soziokulturell geschaffen sei.56 Geschlechts-
zuordnende Operationen und andere Behandlungsmaßnahmen an intersexuellen
Kindern unter zwei Jahren galten bis vor wenigen Jahren als Standardbehandlung.
Man wird davon ausgehen können, dass solche Operationen bis heute in Deutschland
durchgeführt werden.57 Dem Behandlungskonzept liegt erkennbar ein dichotomes
Geschlechtermodell zugrunde; eine dritte Option scheint also ausgeschlossen. Bei-
läufig sei darauf hingewiesen, dass der bekannteste Fall von John Money kein inter-
sexuelles Kind betraf. Sondern es handelte sich um den Jungen David Reimer.58 Das
Kind verlor im Alter von acht Monaten seinen Penis bei einer Vorhautbeschnei-
dung.59 Da es nach dem dargestellten Konzept nicht möglich gewesen wäre, ohne
(ein ausreichendes) männliches Genitale eine männliche Geschlechtsidentität zu ent-
wickeln, kam Money mit seinem Team auf die Idee, aus dem Jungen David Reimer
durch medizinische Behandlungsmaßnahmen und strikt geschlechtsspezifische Er-
ziehung ein Mädchen zu machen. Der Fall kursiert in der Literatur als Bruce/Brenda-
bzw. John/Joan-Fall. Reimer entschied sich als erwachsene Person, als Mann zu
leben. Im Alter von 38 Jahren nahm er sich das Leben.60
53
Zu den wenigen Kritikern an diesem Konzept siehe Zehnder (Fn. 6), S. 137 ff.
54
Vgl. nur die Beiträge in Finke/Höhne, Intersexualität bei Kindern, 2008, von Wald-
schmidt et al., S. 85 ff., Eckoldt, S. 96 ff., Engert/Dettmer, S. 102 ff., Limbach et al., S. 117 ff.
55
Eingehend Calvi (Fn. 17), S. 13 ff., 60 ff.; aus Sicht der ethnologischen Geschlechter-
forschung Lang (Fn. 26), S. 26 ff.
56
Paradigmatisch de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, 1968, 2.
Buch, 1. Teil, I Kindheit: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“
57
Eingehend Klöppel (Fn. 17), S. 6 ff., 56 ff. sowie schon Fn. 28.
58
Zu diesem Fall Gregor (Fn. 44), S. 58 ff.; Davis (Fn. 44), S. 61 ff.; Zehnder (Fn. 6),
S. 136 f.; Adamietz (Fn. 52), S. 44 f.; Calvi (Fn. 17), S. 92 f.; Richter-Appelt (Fn. 10), S. 53
(57). Zu Rezeption des Falls im Feminismus Gregor (aaO), S. 58 Fn. 51.
59
Den Fall hebe ich auch deshalb hervor, weil es um ein Thema geht, mit dem Reinhard
Merkel sich intensiv befasst und zu dem er – wie so oft – eine klare und streitbare Position
eingenommen hat; siehe Merkel, Stellungnahme vor dem Rechtsausschuss des Deutschen
Bundestags am 26. November 2012, http://webarchiv.bundestag.de/cgi/show.php?fileToLoad=
2930&id=1223 (zuletzt abgerufen am 17. 09. 2019); ders., Süddeutsche Zeitung, 25. August
2012, S. 12, und Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. November 2012, S. 8; Merkel/Putzke,
Med Ethics 39 (2013), S. 444 ff.
60
Es ist unklar, welche Bedeutung der Geschlechtswechsel für den Suizid hatte (siehe
Richter-Appelt [Fn. 10)], S. 53 [57]).
1212 Anette Grünewald

2. Kritik

Spätestens seit der Jahrtausendwende ist das Behandlungsmodell Moneys zuneh-


menden Einwänden ausgesetzt; heute dürfte es kaum noch vertretbar sein.61 Zu einer
veränderten Sichtweise hat maßgeblich die seit den 1990er Jahren verstärkt einset-
zende Kritik erwachsener intersexueller Personen und einiger kritischer Mediziner
beigetragen.62 In der Folge kam es sodann zu einigen Studien. Die Forschungslage
ist allerdings bis heute ausgesprochen unbefriedigend. Es gibt zu wenige aussage-
kräftige Untersuchungen, vor allem fehlen Langzeitstudien.63 Die vorhandenen For-
schungsarbeiten zeigen aber zumindest, dass die Ziele, die mit den geschlechtszu-
weisenden Maßnahmen verfolgt wurden, zu einem großem Teil nicht erreicht werden
konnten.64 Intersexuelle Personen, denen im Kindesalter durch Operationen am Ge-
nitalbereich und Verabreichung von Hormonpräparaten ein Geschlecht zugewiesen
wurde, entwickeln häufig keine stabile Geschlechtsidentität und weisen auch keine
komplikationslose psychosexuelle Entwicklung auf.65 Manche Intersexuelle fühlen
sich im Erwachsenenalter dem anderen Geschlecht zugehörig oder sie haben trotz
klarer Geschlechtszuweisung eine intersexuelle Identität; sie fühlen sich also als zwi-
schen- oder zweigeschlechtlich.66
Hinzu kommt, dass die medizinischen Eingriffe und die zahlreichen (Nach-)Un-
tersuchungen, die intersexuelle Personen vom frühen Kindes- bis in das Erwachse-
nenalter hinein oft vor einem ganzen Ärztestab über sich ergehen lassen mussten, als
traumatisierend erlebt wurden.67 Genitaloperationen werden von Betroffenen als
„Verstümmelung“ des eigenen Körpers68, als „Folter“69 oder „Zwangstranssexuali-

61
Eingehend Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 108 ff., 145 ff.
62
Voß (Fn. 4), S. 69 (72 ff.); ders. (Fn. 3), S. 15 ff., dort auch zu den Gründen für dieses
relativ späte Aufbegehren; Gregor (Fn. 44), S. 63 f.; Richter-Appelt (Fn. 10), S. 53 (58). Die
Bundesregierung hat, wie Antworten auf Kleine Anfragen zeigen, lange keinen Handlungs-
bedarf gesehen; siehe BT-Drucks. 16/4322 sowie 16/4786.
63
Radmayr (Fn. 28), S. 1865 (1867 f.); Richter-Appelt (Fn. 10), S. 53; Deutscher Ethikrat
(Fn. 1), S. 81 sowie S. 61 ff. mit einer Auswertung der vorhandenen Studien; Tönsmeyer, Die
Grenzen der elterlichen Sorge bei intersexuell geborenen Kindern, 2012, S. 55; Amnesty In-
ternational, Zum Wohl des Kindes? Für die Rechte, von Kindern mit Variationen der Ge-
schlechtsmerkmale in Dänemark und Deutschland, 2017, S. 54, https://www.amnesty.de/sites/
default/files/2018-06/Amnesty-Bericht-Intergeschlechtlichkeit-Deutschland-Daenemark-
Mai2017.pdf (zuletzt abgerufen am 17. 09. 2019).
64
Kolbe (Fn. 44), S. 205; Woweries (Fn. 27), S. 249 (251 ff.).
65
Birnbaum et al., Monatsschrift Kinderheilkunde 2/2013, S. 145 (151); Brachthäuser/
Richarz, KritV 2014, S. 292 (299); Tönsmeyer (Fn. 63), S. 59; Kolbe (Fn. 44), S. 147;Wowe-
ries (Fn. 27), S. 249 (252).
66
Kolbe (Fn. 44), S. 144.
67
Richter-Appelt (Fn. 10), S. 53 (77); Woweries, (Fn. 27), S. 249 (252).
68
Guillot, in: Schneider/Baltes-Löhe (Hrsg.), Normierte Kinder, 2014, S. 265 (266);
Zehnder (Fn. 6), S. 196; Tönsmeyer (Fn. 63), S. 56 („Umbau und Zerstörung des Körpers“).
69
Vgl. den Vortrag „Medizinische Intervention als Folter“ von Michael Reiter aus dem
Jahr 2000; hier zitiert nach Voß (Fn. 4), S. 69 (70).
Intersexualität und Strafrecht 1213

sierung“70 beschrieben, und die regelmäßig durchzuführenden Untersuchungen am


Genitalbereich als Vergewaltigung oder sexueller Missbrauch erlebt.71 Das mag
etwas drastisch klingen. Vergegenwärtigt man sich jedoch, welche Maßnahmen an
intersexuellen Kindern im Einzelnen durchgeführt wurden, liegen derartige Assozia-
tionen nicht fern. So musste, wenn bei Säuglingen oder im frühen Kindesalter eine
Neo-Vagina angefertigt wurde, diese immer wieder gedehnt werden, damit sie flexi-
bel blieb und nicht zusammenfiel. Hierzu wurde ein Bougierstab in die künstliche
Vagina eingeführt. Diese Maßnahme wurde von Ärzten und/oder Eltern regelmäßig
durchgeführt.72 Da die Herstellung einer künstlichen Vagina einzig dem Zweck dient,
dem Kind in der Adoleszenz oder im Erwachsenenalter einen „normalen“ heterose-
xuellen Geschlechtsakt zu ermöglichen – denn Fortpflanzungsfähigkeit besteht
(mangels innerer Geschlechtsorgane) in solchen Fällen nicht –,73 lässt sich fragen,
„was für die Mädchen traumatischer ist, das Dehnen der Scheide durch Eltern
bzw. Arzt oder das – unauffällige und unbemerkte – Nichtvorhandensein der distalen
Scheide“.74 Studien zeigen zudem, dass intersexuelle Personen, denen eine Neo-Va-
gina konstruiert wurde, Geschlechtsverkehr oder sexuelle Kontakte auffällig oft mei-
den.75

3. Klassifikationssystem DSD
(disorders/differences of sex development)

Die Einstellung zu den an intersexuellen Kleinkindern vorgenommenen Eingrif-


fen änderte sich in der Medizin erkennbar ab dem Jahr 2005. Auf der im selben Jahr
stattfindenden Konsensuskonferenz in Chicago wurden geschlechtszuordnende Ope-
rationen bei Kindern nicht mehr grundsätzlich, sondern nur noch unter Einschrän-
kungen befürwortet.76 In den Vordergrund stellte man Fürsorge, Unterstützung, of-
fene Kommunikation, Aufklärung. Die Behandlungsmaßnahmen sollten in speziel-
len Zentren durch ein erfahrenes, multidisziplinäres Team durchgeführt werden. Der
Begriff „Intersexualität“ wurde aufgegeben, weil er mit negativen Konnotationen
verbunden sei. Stattdessen ist seither von „disorders of sex development” bzw.
DSD die Rede. Darunter versteht man angeborene untypische Ausprägungen des

70
Tönsmeyer (Fn. 63), S. 57; Richter-Appelt (Fn. 10), S. 53 (77).
71
Zehnder (Fn. 6), S. 201; Woweries (Fn. 27), S. 249 (252, 259); Brachthäuser/Richarz,
KritV 2014, S. 292 (298).
72
Siehe Kolbe (Fn. 44), S. 141; Woweries (Fn. 27), S. 249 (259).
73
Zehnder (Fn. 6), S. 91.
74
So zutreffend Krege, Zeitschrift für Sexualforschung 2007, S. 113 (116).
75
Vgl. Krege, Zeitschrift für Sexualforschung 2007, S. 113 (118).
76
Siehe hierzu sowie dem Folgenden Lee et al., „Consensus Statement on Management of
Intersex Disorders“, Pediatrics 2006 (118/2), S. 488 ff.; ferner Lee et al., „Consensus State-
ment: Global Disorders of Sex Development. Update since 2006: Perceptions, Approach and
Care“, Horm Res Paediatr 85 (2016), S. 158 ff. Der Deutsche Ethikrat (Fn. 1), S. 107, be-
zeichnet das Consensus Statement aus dem Jahr 2006 als „Meilenstein“.
1214 Anette Grünewald

chromosomalen, gonadalen oder anatomischen Geschlechts.77 Das DSD-Klassifika-


tionssystem orientiert sich am Chromosomensatz und unterscheidet drei Grundfor-
men: Störungen der Geschlechtsentwicklung durch numerische oder strukturelle Ab-
erration der Geschlechtschromosomen, Störungen der Geschlechtsentwicklung mit
46,XY-Karyotyp und solche mit 46,XX-Karyotyp. In diese drei Rubriken werden so-
dann die möglichen Varianten eingeordnet.78 Die DSD-Nomenklatur reicht weiter,
als es dem herkömmlichen Verständnis von Intersexualität entspricht; sie umfasst
also Erscheinungsformen, die dem Intersex-Begriff bis dahin nicht zugeordnet wur-
den.79 Beispielhaft: In die erstgenannte DSD-Kategorie („chromosomale DSD“) fal-
len das Turner- und das Klinefelter-Syndrom.80 Diese gelten üblicherweise nicht als
intersexuelle Erscheinungsformen, weil die geschlechtliche Zuordnung typischer-
weise eindeutig ist.81 Das Klinefelter-Syndrom tritt bei männlichen (47,XXY), das
Turner-Syndrom bei weiblichen Personen (45,X) auf. Im Weiteren werden der Ka-
tegorie XY-DSD schwere Formen der Hypospadie zugeordnet (proximale Hypospa-
dien).82 Hierbei handelt es sich um eine Fehlbildung des urogenitalen Systems.83 Sol-
che Hypospadien treten bei männlichen Kindern auf.84 In diesem Kontext kann
zudem auf die obigen Ausführungen zum XX-AGS verwiesen werden (II.2.a)). Frei-
lich, nach der Definition fallen beide Varianten unproblematisch unter die Kategorie
DSD.85 DSD fungiert nämlich als Oberbegriff für sämtliche Abweichungen der kör-
pergeschlechtlichen Entwicklung.86
Die Bezeichnung „disorders of sex development“ wird von Betroffenen und In-
teressenvertretern kritisch gesehen, weil „disorder“ (Störung) auf eine krankhafte Er-

77
Lee et al., Pediatrics 2006 (118/2), S. 488 („[…], as defined by congenital conditions in
which development of chromosomal, gonadal, or anatomic sex is atypical“); ferner Radmayr
(Fn. 28), S. 1865; Hiort, Zeitschrift für Sexualforschung 2007, S. 99 (100).
78
Holterhus (Fn. 10), S. 392 (396); Krege (Fn. 22), S. 1847 (1848).
79
Birnbaum et al., Monatsschrift Kinderheilkunde 2/2013, S. 145 (147); Stellungnahme
Bundesärztekammer (Fn. 7), S. 1 (4); Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 106 f. („Intersexualität
[…] als Unterkategorie von DSD“).
80
Zu diesen beiden Syndromen Holterhus (Fn. 10), S. 392 (395).
81
So Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 12; Stellungnahme der Bundesärztekammer (Fn. 7),
S. 1 (4); ferner Zehnder (Fn. 6), S. 76 ff.; Netzwerk Intersexualität (Fn. 10), S. 14; Calvi
(Fn. 17), S. 84 f.
82
Lee et al., Horm Res Paediatr 85 (2016), S. 158 (159); ferner Conrad et al., in: Haut-
mann/Gschwend (Hrsg.), Urologie, 5. Aufl., 2014, S. 363 (402): „Ausgeprägte Hypospadien
können als gradueller Übergang zur weiblichen Ausbildung des Genitales angesehen werden.“
83
Stein, in: Michel et al. (Hrsg.), Die Urologie, 2016, S. 1883 ff.; zum Problem einer
Zuordnung zur Intersex-Kategorie Lang (Fn. 26), S. 96 f.; Zehnder (Fn. 6), S. 88.
84
Westenfelder, URO-News 2014 (18/6), S. 20 (22); ferner Deutscher Ethikrat (Fn. 1),
S. 46, mit weiteren Beispielen von Fehlbildungen im Urogenitalsystem, „bei denen die ge-
gengeschlechtlichen Merkmale der Genitalien eher in den Hintergrund treten“, sowie Conrad
(Fn. 28), S. 403 (408).
85
Lee et al., Horm Res Paediatr 85 (2016), S. 158 (159).
86
So Hauck et al., Zeitschrift für Sexualforschung 2019, S. 80 (87).
Intersexualität und Strafrecht 1215

scheinung hindeute.87 Eine Gleichsetzung von Intersexualität und Krankheit ist in der
Tat problematisch.88 Denn nicht jede Form von Intersexualität ist behandlungsbe-
dürftig, eine vitale oder auch echte medizinische Indikation ist nicht oft gegeben
(siehe noch IV.2.). Die genannte Bezeichnung hat sich in der Medizin gleichwohl
durchgesetzt.89 Daneben gibt es aber eine Vielzahl anderer Formulierungen, wie „dif-
ferences of sex development“ oder „diverse of sex development“, die keine Patholo-
gisierung zum Ausdruck bringen (sollen).90 In Deutschland dürfte „Varianten der Ge-
schlechtsentwicklung“ mittlerweile am gebräuchlichsten sein.91

IV. Körperverletzungsunrecht
Aus strafrechtlicher Perspektive stellt sich die Frage, ob und ggf. unter welchen
Voraussetzungen medizinische Eingriffe, die der Geschlechtszuweisung, -verein-
deutigung oder Genitalkorrektur dienen, bei nicht einwilligungsfähigen Kindern er-
laubt sind bzw. sein sollten. Dieser Frage ist sogleich nachzugehen. Demgegenüber
wird die rechtliche Zulässigkeit entsprechender Eingriffe bei einwilligungsfähigen
Personen nicht weiter erörtert.92

1. Einschlägige Körperverletzungstatbestände

a) Es entspricht mittlerweile überwiegender Ansicht, dass ärztliche Behandlungs-


maßnahmen den Tatbestand einer Körperverletzung erfüllen – vorausgesetzt es han-
delt sich nicht bloß um unerhebliche Beeinträchtigungen, die im Rahmen des § 223
StGB prinzipiell unbeachtlich sind. Auf der Grundlage dieser sog. Rechtfertigungs-
lösung, von der im Folgenden ausgegangen wird,93 stellen operative Eingriffe und

87
Plett (Fn. 8), S. 151 (152); Woweries (Fn. 27), S. 104 (106); Voß (Fn. 3), S. 11; Adamietz
(Fn. 52), S. 42.
88
Zutreffend bereits Wiesemann/Ude-Koeller (Fn. 50), S. 13 (14); ebenso Stellungnahme
der Bundesärztekammer (Fn. 7), S. 1 (2).
89
Werlen, Schweizerische Ärztezeitung 2016, S: 1089; Birnbaum et al., Monatsschrift
Kinderheilkunde 2/2013, S. 145 (146); siehe auch Zumbusch-Weyerstahl/Teschner (Fn. 17),
S. 44 ff.; Rohrer et al. (Fn. 28), S. 242 ff.
90
Zu weiteren möglichen Bezeichnungen Hauck et al., Zeitschrift für Sexualforschung
2019, S. 80 (81).
91
Birnbaum et al., Monatsschrift Kinderheilkunde 2/2013, S. 145 (147); ferner Deutsche
Gesellschaft für Urologie/Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie/Deutsche Gesellschaft
für Kinderendokrinologie und -diabetologie, S2k-Leitlinie. Varianten der Geschlechtsent-
wicklung, Stand: 07/2016 (AWMF-Register Nr. 174/001 Klasse S2k), http://www.awmf.org/
uploads/tx_szleitlinien/174 - 001 l_S2k_Geschlechtsentwicklung-Varianten_2016-08_01.pdf
(zuletzt abgerufen am 17. 09. 2019).
92
Dazu etwa Grünewald, LK-StGB, Band 7/1, 12. Aufl., 2019, § 223 Rdn. 63 ff. sowie
§ 228 Rdn. 26 ff.
93
Eingehendere Begründung bei Grünewald (Fn. 92), § 223 Rdn. 63 ff.
1216 Anette Grünewald

Hormontherapien eine tatbestandliche Körperverletzung nach § 223 StGB dar. An-


ders als von den sog. Tatbestandslösungen dargetan, steht dem nicht entgegen, dass
eine medizinische Indikation vorliegt, die Behandlung lege artis durchgeführt wird
und insgesamt gelungen ist. Darüber hinaus könnte der Tatbestand einer gefährlichen
Körperverletzung verwirklicht sein, wenn man das bei einer Operation eingesetzte
Instrumentarium als gefährliches Werkzeug einstuft (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB).
Diese Einschätzung wird jedoch mehrheitlich nicht geteilt. Weil Ärzte ihr Operati-
onsbesteck nicht zu Angriffs- oder Verteidigungszwecken verwenden, soll § 224
Abs. 1 Nr. 2 StGB ausscheiden.94 Sofern bei der Geburt eine potentielle Fortpflan-
zungsfähigkeit des Kindes vorhanden ist, die durch die Behandlungsmaßnahmen be-
seitigt wird,95 ist zudem der Tatbestand des § 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB gegeben. Ärzte
werden insofern in aller Regel mit Wissentlichkeit handeln, weshalb sogar § 226
Abs. 2 StGB anzuwenden ist.
b) Im Weiteren ist § 226a StGB in Betracht zu ziehen. Dieser Qualifikationstat-
bestand wurde zwar eingeführt, um das Bewusstsein für das Unrecht von Genitalver-
stümmelungen zu schärfen, die aus religiösen und traditionellen Gründen in anderen
Kulturkreisen bei Mädchen und Frauen vorgenommen werden.96 Eingriffe bei inter-
sexuellen Kindern hatte der Gesetzgeber nicht im Blick.97 Bemerkenswerterweise
wollte der Gesetzgeber mit § 226a StGB also ein Geschehen regeln, das die auslän-
dische Bevölkerung betrifft,98 und blendet Sachverhalte vollkommen aus, die die ein-
heimische Bevölkerung betreffen könnten.99 Allerdings kommt es nach dem Wort-
laut des § 226a StGB auf ein religiöses oder rituelles Motiv nicht an.100 Der Schutz
erstreckt sich vielmehr auf alle verstümmelnden Eingriffe, die an den äußeren Geni-
talien weiblicher Personen vorgenommen werden. Indes sind intergeschlechtliche
keine weiblichen Personen. Seit dem Jahr 2013 war es möglich, im Geburtenregister
von einer Zuordnung Neugeborener zum männlichen oder zum weiblichen Ge-
schlecht abzusehen und den Geschlechtseintrag offenzulassen.101 Ende 2018 ist
nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts102 eine weitere Option hin-
94
Wessels/Hettinger/Engländer, Strafrecht BT I, 42. Aufl., 2018, Rdn. 300; Rengier,
Strafrecht BT II, 20. Aufl., 2019, § 14 Rdn. 35; kritisch Eschelbach, von Heintschel-Heinegg
StGB, 3. Aufl., 2018, § 224 Rdn. 28.1 ff.; Grünewald (Fn. 92), § 224 Rdn. 22.
95
Was durchaus nicht selten vorkam und ggf. noch vorkommt, siehe Kolbe (Fn. 44),
S. 135; Wiesemann/Ude-Koeller (Fn. 50), S. 13.
96
Siehe BT-Drucks. 17/13707, S. 4, sowie BT-Drucks. 17/14218, S. 2.
97
Grünewald (Fn. 92), § 226a Rdn. 29; wohl auch Böse, NK-StGB, Band 2, 5. Aufl., 2017,
§ 226a Rdn. 7. Eine Anwendung der Vorschrift auf intersexuelle Personen ablehnend Richter,
Indikation und nicht-indizierte Eingriffe als Gegenstand des Medizinrechts, 2018, S. 452.
98
Zutreffend weist Böse (Fn. 97), § 226a Rdn. 3, darauf hin, dass hierdurch der Eindruck
entstehen könne, man habe ein „Sonderstrafrecht“ für Migranten geschaffen.
99
Kritisch zu dieser „Diskriminierung“ schon Werlen, in: Groneberg/Zehnder (Hrsg.),
„Intersex“. Geschlechtsanpassung zum Wohl des Kindes?, 2008, S. 178 (185 f.).
100
Grünewald (Fn. 92), § 226a Rdn. 16.
101
Gesetz vom 7. Mai 2013, BGBl. I, S. 1122 f.
102
BVerfGE 147, 1 ff.
Intersexualität und Strafrecht 1217

zugekommen: „divers“ (§§ 21 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. 22 Abs. 3 PStG).103 Nun dürfte die
Beurteilung, ob ein Eingriff an den äußeren Genitalien einer weiblichen Person vor-
liegt, nicht vom Geschlechtseintrag im Personenstandsregister abhängen. Maßge-
bend für die Anwendung des § 226a StGB sollte sein, ob ein weibliches Genitale vor-
liegt.104 Aus dieser Beschränkung des Tatbestands auf weibliche Genitalien ergeben
sich jedoch gravierende und im Ergebnis durchgreifende verfassungsrechtliche Be-
denken.105 Denn es ist normativ kein nachvollziehbarer Grund ersichtlich, weshalb
männliche oder uneindeutige Genitalien, wie sie bei intersexuellen Personen vor-
kommen, vom Tatbestand nicht erfasst werden.
Die operativen Eingriffe, die am äußeren („weiblichen“) Genitale eines interse-
xuellen Kindes vorgenommen wurden bzw. werden, müssten ferner eine Verstümme-
lung im Sinne der Vorschrift darstellen. Die Bestimmung dieses Merkmals ist zwei-
felhaft.106 Entscheidend sollte die Eingriffstiefe sein,107 nicht hingegen ästhetische
Erwägungen.108 Insofern kommt es auch nicht darauf an, dass es neuere Operations-
techniken gibt, die heute bei unter zweijährigen Kindern operative Geschlechtszu-
weisungen oder -vereindeutigungen ermöglichen, die ästhetisch wesentlich anspre-
chendere Resultate hervorbringen als noch vor Jahren.109 Aus Gründen normativer
wie systematischer Konsistenz ist aber zu fordern, dass das Erfolgsunrecht mit
dem des § 226 Abs. 1 StGB vergleichbar ist.110 Danach werden vom Tatbestand
des § 226a StGB jedenfalls erhebliche bzw. weitgehende Reduktionen des Genitales
sowie dessen vollständige Entfernung erfasst. Zumal mit diesen Eingriffen in aller
Regel eine deutliche Beeinträchtigung, teils sogar der Verlust der Empfindungsfähig-
keit einhergeht.111 Soweit mit einer verbreiteten Ansicht der Schutz des § 226a StGB
auf die sexuelle Selbstbestimmung und/oder die psychische Integrität ausgedehnt
wird,112 sind folglich auch diese Rechtsgüter betroffen. Speziell im Falle geschlechts-
zuweisender Operationen bei (Klein-)Kindern gehen die Eingriffe zudem erheblich
über die rituellen Formen der Genitalverstümmelung hinaus, weil mit ihnen eine Än-

103
Gesetz vom 18. Dezember 2018, BGBl. I, S. 2635.
104
Ladiges, Recht und Politik 2014, S. 15 (17).
105
Hardtung, MK-StGB, Band 4, 3. Aufl., 2017, § 226a Rdn. 24 ff.; Grünewald (Fn. 92),
§ 226a Rdn. 14 f.; Böse (Fn. 97), § 226a Rdn. 3; Eschelbach (Fn. 94), § 226a Rdn. 1.
106
Eingehend Hardtung (Fn. 105), § 226a Rdn. 33 ff.
107
Böse (Fn. 97), § 226a Rdn. 11; Grünewald (Fn. 92), § 226a Rdn. 27. Andere Ansicht
Eschelbach (Fn. 94), § 226a Rdn. 9; Lackner/Kühl/Heger, StGB, 29. Aufl., 2018, § 226a
Rdn. 3; Richter (Fn. 97), S. 454 ff.
108
Grünewald (Fn. 92), § 226a Rdn. 28; Böse (Fn. 97), § 226a Rdn. 10.
109
So argumentierend aber Westenfelder, URO-News 2014 (18/6), S. 20 (22 ff.).
110
Grünewald (Fn. 92), § 226a Rdn. 27; Wolters, SK-StGB, Band IV, 9. Aufl., 2017,
§ 226a Rdn. 13.
111
Werlen (Fn. 99), S. 178 (186 f.); Wiesemann/Ude-Koeller (Fn. 50), S. 13; Woweries
(Fn. 27), S. 249 (258 f.); Voß (Fn. 3), S. 14; Kolbe (Fn. 44), S. 159, 171.
112
Hagemeier/Bülte, JZ 2010, S. 406 (409); Sch/Schröder/Sternberg-Lieben, 30. Aufl.,
2019, § 226a Rdn. 1; Zöller, AnwK-StGB, 2. Aufl., 2015, § 226a Rdn. 3.
1218 Anette Grünewald

derung des angeborenen, biologischen Geschlechts einhergeht. Dieses Schutzgut ist


freilich kein spezifischer Gegenstand des § 226a StGB.

2. Mögliche Rechtfertigung

a) Körperverletzungsunrecht stellen die genannten Eingriffe nur dar, wenn keine


Rechtfertigungsgründe eingreifen. Im Bereich ärztlichen Verhaltens kommt vor-
nehmlich eine Einwilligung in Frage. Eine Einwilligung der intersexuellen Kinder
scheidet aus, weil ihnen Einsichts- und Urteilsfähigkeit fehlen. Zu erörtern ist
daher die Möglichkeit einer stellvertretenden Einwilligung der Eltern (§§ 630d
Abs. 1, 1626 Abs. 1, 1627, 1629 BGB). Die Zulässigkeit einer solchen Einwilligung
kann sich schon angesichts der Eingriffsintensität nicht nach den Interessen der El-
tern richten (z. B. das Interesse, ein „normal“ aussehendes Kind zu haben).113 Aus-
schlaggebend müssen vielmehr die auch prospektiven Interessen des Kindes sein
(§ 1627 BGB). So werden Entscheidungen der Eltern von ihrem Erziehungsrecht
nur gedeckt, solange sie mit dem Kindeswohl noch in Einklang zu bringen sind.114
Hierbei kommt nun der Frage, ob eine medizinische Indikation vorliegt, eine heraus-
ragende Bedeutung zu. Im Falle eines AGS mit Salzverlust etwa befinden sich die
betroffenen Kinder in einem lebensbedrohlichen Zustand (siehe II.2.a)). Es besteht
dringender Handlungsbedarf, weshalb von einer Notlagen- oder vitalen Indikation
auszugehen ist.115 Dass Eingriffe, die vital oder absolut indiziert sind, dem Wohl
des Kindes dienen, dürfte evident sein. Daher ist auch die Zulässigkeit einer stellver-
tretenden Einwilligung unproblematisch. Eltern, die ihre Einwilligung in eine solche
Behandlungsmaßnahme verweigern, verletzen ihre Sorgepflicht gröblich. Ärzte
dürften sich über diese Entscheidung hinwegsetzen (§ 34 StGB). Im Übrigen besteht
die Möglichkeit, das Familiengericht einzuschalten (§ 1666 BGB).116 Beim AGS mit
Salzverlust umfasst die Indikation die Verabreichung von Hormonpräparaten (wie
Cortisol).117 Darüber hinausgehende, operative geschlechtszuweisende bzw. -verein-
deutigende Maßnahmen werden von der Indikation hingegen regelmäßig nicht mehr
erfasst (dazu sogleich b)). Eine absolute Indikation zur Vornahme operativer Eingrif-
fe kommt außerdem in Betracht, wenn elementare körperliche Funktionen (z. B.
Miktion) geschädigt sind.118 Die Fähigkeit, den Vaginalverkehr durchzuführen, ge-
hört nicht hierzu. Daher lässt sich die Herstellung einer künstlichen Vagina nicht

113
Plett, Zeitschrift für Sexualforschung 2007, S. 162 (171).
114
Wagner, MK-BGB, Band 4, 7. Aufl., 2016, § 630d Rdn. 38; Taupitz, Empfehlen sich
zivilrechtliche Regelungen zur Absicherung der Patientenautonomie am Ende des Lebens?
Gutachten zum 63. DJT, 2000, S. 74 f.
115
Birnbaum et al., Monatsschrift Kinderheilkunde 2/2013, S. 145 (151).
116
Sch/Schröder/Sternberg-Lieben (Fn. 112), Vor §§ 32 ff. Rdn. 41e; Rönnau, LK-StGB,
3. Band, 13. Aufl., 2019, Vor § 32 Rdn. 185; Spickhoff, in: ders., Medizinrecht, 3. Aufl., 2018,
§ 630d BGB Rdn. 7; Grünewald (Fn. 92), § 223 Rdn. 82.
117
Grüters (Fn. 21), S. 31 (33 f.); Stellungnahme Bundesärztekammer (Fn. 7), S. 1 (5).
118
Zu solchen Fällen Stellungnahme der Bundesärztekammer (Fn. 7), S. 1 (6).
Intersexualität und Strafrecht 1219

auf solche Erwägungen stützen (siehe III.2.). Im Vordergrund muss vielmehr der Er-
halt der sexuellen Empfindungsfähigkeit stehen. Bei einigen DSD-Formen ist das Ri-
siko einer Entartung der Gonaden erhöht. Um die Bildung eines malignen Tumors
auszuschließen, wurde bzw. wird vielfach eine prophylaktische Gonadektomie im
frühesten Kindesalter durchgeführt.119 Das ist ein massiver Eingriff in die körperliche
Integrität, der im Weiteren eine lebenslange, oft belastende Hormontherapie zur
Folge hat.120 Eine Indikation lässt sich allerdings nicht a limine ausschließen, weil
die Gefahr eines gravierenden und lebensbedrohlichen Gesundheitsschadens be-
steht.121 Da die Gonadektomie eine präventive Maßnahme ist, handelt es sich hierbei
nicht um eine Indikation im engen Sinn.122 Im Kindesalter ist ein solcher Eingriff je-
denfalls dann nicht indiziert, wenn mit einer Entstehung des Tumors erst ab dem 20.
Lebensjahr zu rechnen ist und somit die Einwilligungsfähigkeit des Betroffenen ab-
gewartet werden kann.123 Eine stellvertretende Einwilligung der Eltern wäre unwirk-
sam, zumal solche Eingriffe mit dem Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit verbunden
sein können (§ 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB).124 In Fällen, in denen das Entartungsrisiko
besonders hoch und eine Tumorbildung bereits im Kindesalter zu erwarten ist,
kann eine Gonadektomie angezeigt sein.125 Das gilt freilich nicht, wenn weniger ein-
schneidende Maßnahmen zur Verfügung stehen (insbesondere palpatorische und/
oder sonographische Untersuchungen), mit denen das Risiko beherrscht werden
kann. Als Maßstab lässt sich § 34 StGB heranziehen.126
b) Als weitaus problematischer als die bisher erörterten Fälle stellen sich ge-
schlechtszuweisende oder -vereindeutigende bzw. genitalkorrigierende Maßnahmen
dar, für deren Vornahme aus medizinischer Sicht keine Notwendigkeit besteht.127
Diese Maßnahmen dürften in der Praxis den größten Teil der bei intersexuellen

119
Tröbs et al., in: Finke/Höhne, Intersexualität bei Kindern, 2008, S. 117 ff.; Westenfelder,
URO-News 2014 (18/6), S. 20 (23 f.).
120
Birnbaum et al., Monatsschrift Kinderheilkunde 2/2013, S. 145 (151); Deutscher
Ethikrat (Fn. 1), S. 153.
121
In empirischer Hinsicht erweist es sich freilich als ausgesprochen misslich, dass der
diesbezügliche Forschungsstand so dürftig ist; siehe Holterhus (Fn. 10), S. 392 (409); Deut-
scher Ethikrat (Fn. 1), S. 152; Stellungnahme der Bundesärztekammer (Fn. 7), S. 1 (6).
122
Vgl. Richter (Fn. 97), S. 139, 141, 151 f.
123
Zutreffend Krege (Fn. 33), S. 1847 (1852); Stellungnahme der Bundesärztekammer
(Fn. 7), S. 1 (6).
124
In diesem Kontext wären die Regelungen des Kastrationsgesetzes sowie das Sterili-
sationsverbot (§ 1631c BGB) zu berücksichtigen, dazu eingehend Tönsmeyer (Fn. 63),
S. 131 ff.
125
Krege (Fn. 33), S. 1847 (1851).
126
Grundlegend dazu Merkel, Früheuthanasie (2001), S. 528 ff.
127
Vgl. Holterhus (Fn. 10), S. 392 (408); Stellungnahme der Bundesärztekammer (Fn. 7),
S. 1 (6).
1220 Anette Grünewald

Kleinkindern durchgeführten Eingriffe ausmachen.128 Begründet wurden bzw. wer-


den diese damit, dass Intersexualität ein psychosozialer Notfall sei.129 Das Konstrukt
eines psychosozialen Notfalls vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, dass es eine
„echte“ Indikation nicht gibt. Der Sache nach korreliert dieses Konstrukt mit den
Grundannahmen Moneys (siehe III.1.). Dazu gehört an erster Stelle ein strikt binäres
Geschlechtersystem; und an zweiter Stelle die These, dass es zur Bildung einer sta-
bilen Geschlechtsidentität einen zum jeweiligen (Zuweisungs-)Geschlecht passen-
den Körper und eine entsprechende geschlechtsspezifische Erziehung braucht. Letzt-
genannte These ist mindestens gravierenden Bedenken ausgesetzt (siehe III.2.).
Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber inzwischen das Personenstandsgesetz geändert
hat (siehe zu IV.1.b)). Neugeborene, bei denen eine Zuordnung zum männlichen oder
weiblichen Geschlecht nicht möglich ist, können im Geburtenregister ohne Ge-
schlechtsangabe oder als „divers“ eingetragen werden (§§ 22 Abs. 3, 21 Abs. 1
Nr. 3 PStG). Das dichotome Geschlechtermodell wurde damit erlassen.130 Diese Ent-
wicklung hat Auswirkungen auf die erstgenannte These. Denn sie führt dazu, dass
das Konstrukt eines psychosozialen Notfalls gesellschafts- wie rechtpolitisch nicht
mehr anschlussfähig ist. Nähme man weiterhin an, dass Eltern stellvertretend in me-
dizinisch nicht indizierte, geschlechtszuweisende Behandlungsmaßnahmen bei
ihren Kindern einwilligen könnten, würden damit die gesetzgeberischen Wertungen
unterlaufen, die mit den Änderungen des Personenstandsgesetzes verfolgt wurden.
Abgesehen davon sprechen aber auch andere gewichtige Gründe gegen die Zulässig-
keit einer stellvertretenden Einwilligung.131 Geschlechtszuweisende Maßnahmen
greifen massiv und irreversibel in die körperliche Integrität der Kinder ein.132
Neben diesem Schutzgut ist zudem das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2
Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) betroffen.133 Einer stellvertretenden Einwilligung
können solche Eingriffe schon deshalb nicht zugänglich sein, weil die Geschlechts-

128
Westenfelder, URO-News 2014 (18/6), S. 20 (24): „Ohne Dringlichkeit ist eine Opera-
tion zwischen dem 9. und 13. Monat sinnvoll.“ Siehe ferner Conrad (Fn. 28), S. 403; Rohrer
(Fn. 28), S. 242 (246); Radmayr (Fn. 28), S. 181 f.
129
So noch die mittlerweile nicht mehr aktuelle und auch nicht mehr abrufbare Leitlinie
der Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin (DGKJ), Störungen der Ge-
schlechtsentwicklung, AWMF-Leitlinien-Register Nr. 027/022, 2010, S. 5.
130
Kritisch hierzu Rixen, JZ 2018, S. 317 (324 ff.); für einen weitgehenden Verzicht auf die
Kategorie „Geschlecht“ im Recht demgegenüber Völzmann, JZ 2019, S. 381 ff.
131
Siehe schon Werlen (Fn. 99), S. 178 (193); Plett, Zeitschrift für Sexualforschung 2007,
S. 162 (171 f.); Kolbe (Fn. 44), S. 163 ff., 172; Tönsmeyer (Fn. 63), bes. S. 119 ff. Für die
Zulässigkeit geschlechtszuweisender Behandlungsmaßnahmen mit stellvertretender Einwilli-
gung der Eltern hingegen Schramm, Festschrift Kühl (2014), S. 603 (632); Schmidt am Busch,
AöR 137 (2012) 441, 454 ff.; Krüger, in: Finke/Höhne, Intersexualität bei Kindern, 2008,
S. 55 (57) sowie Westenfelder, URO-News 2014 (18/6), S. 20 (24).
132
Siehe auch Westenfelder, URO-News 2014 (18/6), S. 20 (22): Operationen bei schweren
DSD-Formen gehören „zu den technisch anspruchsvollsten Operationen“.
133
BVerfGE 147, 1 (18 ff.).
Intersexualität und Strafrecht 1221

identität eine höchstpersönliche Angelegenheit ist.134 Das gilt umso mehr, als nie-
mand antizipieren kann, welche Geschlechtsidentität sich bei dem Kind herausbilden
wird.135 Die soeben an zweiter Stelle aufgeführte These von Money zeichnet sich des-
halb auch durch eine bemerkenswerte Hybris aus.136 Dem Kind wird durch ge-
schlechtszuweisende Eingriffe eine offene Zukunft genommen;137 diese greifen
also in seine prospektive Autonomie ein.138
Von geringerer Tragweite sind geschlechtsvereindeutigende bzw. genitalkorrigie-
rende operative Maßnahmen. Denn mit diesen geht keine Geschlechtszuweisung ein-
her.139 Solche Eingriffe wurden bzw. werden bei Kindern durchgeführt, die man bio-
logisch dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuordnen kann. Das Genitale
dieser Kinder ist jedoch nicht eindeutig. Zu verweisen ist auf Fälle eines AGS
oder einer Hypospadie (siehe II.2.a) und III.3.).140 Aus medizinischen Gründen be-
steht für die Vornahme von genitalkorrigierenden Maßnahmen oft kein Anlass. Die
Eingriffe verfolgen dann ästhetische Zwecke; sie werden vorgenommen, um das Ge-
nitale deutlicher an das biologische Geschlecht anzupassen (z. B. Reduktion von Kli-
toris und/oder Schamlippen bei einer Person mit einem XX-AGS).141 In der Literatur
findet sich die durchaus sympathische Ansicht, dass Eltern in medizinisch nicht in-
dizierte Eingriffe niemals stellvertretend einwilligen können, weil diese dem Kindes-
wohl zuwiderliefen.142 Das Gesetz sieht das offenbar nicht so eng. Denn § 1631d
BGB gestattet unter bestimmten Bedingungen die Beschneidung des männlichen
Kindes. Dieser Vorschrift lässt sich daher die, unvoreingenommen betrachtet, hoch-
gradig erstaunliche Aussage entnehmen, dass Eltern rechtfertigend in einen medizi-
134
Werlen (Fn. 99), S. 178 (181 f., 192 ff., 201 f.); zur geschlechtlichen Identität BVerfGE
147, 1 (18 f.); 128, 109 (124); 121, 175 (190 ff.); 116, 243 (259 ff.); 115, 1 (14 ff.).
135
Deutsche Gesellschaft für Urologie/Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie/Deut-
sche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie (Fn. 91), S. 5.
136
Siehe dagegen Deutsche Gesellschaft für Urologie/Deutsche Gesellschaft für Kinder-
chirurgie/Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie (Fn. 91), S. 4,
wo es heißt: „Keine medizinische oder psychologische Intervention wird an dem Zustand der
Uneindeutigkeit per se etwas ändern. Der Umgang mit Menschen mit einer Variante der
Geschlechtsentwicklung ist in der Regel ein gesellschaftspolitisches Problem und muss im
gesamtgesellschaftlichen Rahmen bedacht werden.“
137
Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 112 ff.; Stellungnahme der Bundesärztekammer (Fn. 7),
S. 1 (3).
138
Zutreffend auch Werlen (Fn. 99), S. 178 (202), die auf „das Kindeswohl in einer le-
benslangen Perspektive als Kerngehalt des Kinderrechts [… als] die alleinige Maxime“ ab-
stellt.
139
Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 108 f.
140
Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 108 („das biochemisch-anatomische Geschlecht [wird]
mit dem genetischen Geschlecht in Übereinstimmung [gebracht]“).
141
Vgl. Birnbaum et al., Monatsschrift Kinderheilkunde 2/2013, S. 145 (150 f.).
142
Herzberg, ZIS 2012, S. 486 (487 ff.), sowie JZ 2009, S. 332 (333 ff.); Kern, NJW 1994,
S. 753 (754). Andere Ansicht Valerius, JA 2010, S. 481 (484), mit der Begründung, dass
§ 1631c BGB überflüssig sei, wenn eine stellvertretende Einwilligung von Eltern in medizi-
nisch nicht indizierte Eingriffe bei ihren Kindern ausgeschlossen sei.
1222 Anette Grünewald

nisch nicht indizierten, operativen und keineswegs harmlosen Eingriff am Genitale


ihres Kindes einwilligen können.143 Eine Grenze setzt jedenfalls § 226a StGB: Ver-
stümmelnde Eingriffe im absoluten Intimbereich können durch stellvertretende Ein-
willigung nicht gerechtfertigt werden.144 Die geringfügigsten chirurgischen Eingrif-
fe, die im hiesigen Kontext in Frage kommen, gehen von der Intensität deutlich über
eine Knabenbeschneidung hinaus. Die Maßnahmen erreichen regelmäßig das Niveau
des § 226a StGB (vgl. IV.1.b)). Verallgemeinert man den Aussagegehalt dieser
Norm, muss eine stellvertretende Einwilligung der Eltern ausscheiden.

V. Fazit und Ausblick


Am Ende meines Beitrags bleiben manche Unklarheiten. Diese resultieren auch
daraus, dass der Gesetzgeber ausgesuchte Einzelfälle, die Aufmerksamkeit erregen
und in der Öffentlichkeit erhitzt diskutiert werden (können), zeitgeistkonform regelt
(§ 1631d BGB oder § 226a StGB). In einen übergeordneten Zusammenhang werden
die Fälle leider nicht gestellt. Das gilt im Übrigen auch für die Intersex-Thematik.145
So kommen bei Neugeborenen körperliche Abweichungen im Genitalbereich vor,
die auch bei einem weiten Verständnis nicht mit Intersexualität assoziiert sind.
Ein Blick in einschlägige medizinische Lehrbücher zeigt, dass chirurgische Korrek-
turen mit stellvertretender Einwilligung der Eltern hier durchweg für erlaubt gehalten
werden. Aus rein medizinischer Sicht besteht aber vielfach keine Notwendigkeit für
solche Behandlungsmaßnahmen. Vergleichbares gilt für andere Auffälligkeiten am
Körper des Kindes (z. B. abstehende Ohren).146 Es liegt auf der Hand, auf psychoso-
ziale Faktoren zu verweisen, um solche Eingriffe mit stellvertretender Einwilligung
der Eltern zu rechtfertigen – und damit ebenso zu verfahren, wie es im Falle ge-
schlechtszuweisender Behandlungsmaßnahmen bei intergeschlechtlichen Kindern
jahrzehntelang gehandhabt wurde. Was dort nicht (mehr) geht, mag hier (noch) mög-
lich sein. Diese Fragen sollten grundsätzlich geklärt werden.147

143
Eingehender Grünewald (Fn. 92), § 223 Rdn. 42 ff.
144
Grünewald (Fn. 92), § 226a Rdn. 32 f.
145
Vgl. etwa den Beitrag von Tolmein, medstra 2019, S. 131 (136 f.).
146
Weitere Beispiele bei Wienke, Handchir Mikrochir Plast Chir 47 (2015), S. 348 (349).
147
In diesem Sinne bereits der Beschluss auf dem 52. Deutschen Juristentag, NJW 1978,
S. 2185 (2193 [zum Arztrecht unter V.1.b]).
Verletzungen beim Fußballsport –
strafbare Körperverletzung?
Von Detlev Sternberg-Lieben

Sport stellt nicht nur ein Übungsfeld sozialen Normlernens1 dar: Seine Grundprin-
zipien von individueller und gemeinschaftlicher Leistung und Leistungsvergleich
entsprechen auch wichtigen Ordnungsprinzipien der Gesellschaft. Sportliche Betä-
tigung dient nicht nur dem Ausgleich für anderweitige Belastungen, der Gesund-
heitsförderung und der Geselligkeit.2 Im Leistungssport wandelt sich das Freizeitver-
gnügen zum Beruf, so dass die Rechtsordnung schon im Hinblick auf die finanzielle
Bedeutung dieser Tätigkeiten den Sport nicht als einen der Regulierung nicht bedürf-
tigen Freiraum ansehen kann;3 dies belegt auch die Einführung der §§ 265c ff. StGB
(Sportwettbetrug) im Jahre 2017.4 Darüber hinaus erfährt der prestigeträchtige Spit-
zensport massive öffentliche Förderung, denkt man nur an die ungefähr 1200 Spit-
zenathleten, die im öffentlichen Dienst an- und freigestellt sind; eine jährliche För-
derung des Spitzensports durch das Bundesinnenministerium in Höhe von aktuell
235 Millionen Euro veranlasste im Gegenzug den damaligen Bundesinnenminister
de Maizière zur Forderung, bei den Olympischen Sommerspielen in Tokio 2020
ein Planziel von 56 Medaillen zu erreichen:5 Der Staat identifiziert sich mit den deut-
schen Spitzensportlern und ihren Erfolgen.6 Der Sportbetrieb kann zwar gegenüber
staatlichen Vorgaben verfassungsgeschützt (insb. durch Art. 9 I GG) Besonderheiten

1
So der Titel des Beitrages von Rössner, in: Württ. Fußballverband (Hrsg.), Fairnessgebot,
Sportregeln und Rechtsnormen, 2004, S. 54 ff.
2
Zur sozialen Welt des modernen Sports: Dölling, ZStW 96 (1984), 36 ff.; Schild, Sport-
strafrecht, 2002, S. 13 ff.
3
S. H. P. Westermann, Rittner-FS, 1991, S. 771, 776 ff., 785 ff.
4
S. BT-Drs. 18/8831 (Gesetzesbegründung), S. 10: herausragende gesellschaftliche Be-
deutung des Sports: Träger von positiven Werten, wie Leistungsbereitschaft, Fairness, Tole-
ranz und Teamgeist / Vorbildfunktion für junge Menschen / bedeutender wirtschaftlicher Fak-
tor infolge Professionalisierung, Medialisierung und Kommerzialisierung im Bereich des
Spitzen- und Leistungssports.
5
Stiller, FAZ vom 27. 7. 2019, S. 36; zu den Erscheinungsformen staatlicher Sportförde-
rung Steiner, Röhricht-FS, 2005, S. 1225 ff. – Steiner (SpuRt 2018, 1186, 1187) weist zurecht
darauf hin, dass diese „performance-orientierte“ Sportförderung sich auffällig von der Distanz
unterscheidet, die der Staat zu anderen gesellschaftlichen Bereichen (Kunst, Religion) als Teil
der freien Selbstorganisation der Gesellschaft hält.
6
Steiner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 87 Rn. 8 (Ausdruck
der Leistungsfähigkeit der BRD; ders., ebd. Rn. 3: Sport und Staat als res mixta).
1224 Detlev Sternberg-Lieben

geltend machen, die nicht zuletzt auf der freiwilligen7 Teilnahme der Wettkämpfer
beruhen. Das (Straf-)Recht muss aber auch im Sportgeschehen einen ausreichenden
Schutz der Betroffenen gewährleisten,8 ohne aber den Sportarten den Freiraum zu
nehmen, den sie benötigen, wenn diese Sportarten nicht ihre Eigenart und ihren
Reiz für Teilnehmer (und Zuschauer – man denke nur an die immensen Beträge,
die für mediale Übertragungen von Großereignissen gezahlt werden) verlieren sol-
len. Neben dem Sportwettbetrug ist das Sportstrafrecht lediglich im Bereich des Do-
pings einer ausdrücklichen Regelung zugeführt worden (§ 4 Anti-Doping-Gesetz
20159). Demgegenüber wird der breite Bereich versehentlich beigebrachter, aber
auch willentlich gesetzter Körperverletzungen bei sportlicher Betätigung nur
durch allgemeine Vorschriften der Körperverletzungsdelikte des StGB erfasst, so
dass eine adäquate Problembehandlung durch, ggfs. speziell zuzuschneidende, dog-
matische Instrumente des Allgemeinen Teils erfolgen muss. Aus diesem Lebensbe-
reich sollen hier am Beispiel des Fußballsports die Probleme untersucht werden, die
eine sachgerechte Erfassung von Körperverletzungen, die bei sportlicher Betätigung
beigebracht werden, mitsichbringt.

I.
1. Fremdschädigung: Bei diesen Körperverletzungen liegt regelmäßig kein Fall
strafbarkeitsirrelevanter10 Mitwirkung an einer freiverantwortlichen Selbstschädi-
gung des Opfers vor, da nach der vom Täter vorgenommenen Handlung (etwa
einer Grätsche beim Fußball, um einem Angreifer der Gegenmannschaft den Ball
vom Fuß zu spitzeln) dem Opfer kein Spielraum mehr verbleibt zu entscheiden,
ob es sich dem vom Dritten geschaffenen Verletzungsrisiko entziehen will oder
nicht. Mithin ist infolge Tatherrschaft eine Fremdschädigung gegeben, die allerdings
die Besonderheit aufweist, dass es sich im Falle von Kampfsportarten um eine vom
Täter und Opfer bewusst eingegangene Risikosituation handelt. Es ist also die Frage
zu beantworten, wer die unerwünschte Folge eines vom Opfer erwünschten sozialen
Kontakts strafrechtlich zu tragen hat.11

7
Allerdings hat schon Vieweg (Normsetzung und -anwendung deutscher und internatio-
naler Verbände, 1990, S. 154) auf die monopolartige Stellung der Sportverbände hingewiesen,
die den Sportler vor die Wahl stellt, entweder Zwangsmitglied zu werden oder auf eine Be-
tätigung in diesem Lebensbereich zu verzichten.
8
Zur Diskussion, ob ein spezifisches Sport-Arbeitsrecht vonnöten ist, vgl. Walker, ZfA
106, 567 ff. (abl.).
9
Anwendbar auch im Bereich des nicht mit Wettkampfteilnahme verbundenen Breiten-
und Freizeitsports (BGH NStZ 2018, 475).
10
Eine eigenverantwortlich gewollte und verwirklichte Selbstschädigung unterliegt von
vornherein nicht den Tatbeständen eines Körperverletzungsdelikts, vgl. nur Mitsch, Recht-
fertigung und Opferverhalten, 2004, S. 44 m.w.N.: „Es gibt überhaupt keine Rechtswidrigkeit
gegenüber sich selbst … Jedem steht grundsätzlich die Verletzung seiner Güter frei …“.
11
Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1991, 7/126.
Verletzungen beim Fußballsport – strafbare Körperverletzung? 1225

2. Einwilligung: Eine sinnvolle, also einerseits den Sportbetrieb gewährleistende


und andererseits die legitimen Interessen verletzter Sportler wahrende Lösung kann
über dieses Rechtsinstitut nicht erreicht werden, da die verletzten Sportler (bspw. ein
nach einem fairen Tackling oder auch Foulspiel zu Fall gekommener Fußballspieler)
regelmäßig gerade nicht mit diesem Verletzungserfolg einverstanden waren. Zwar
sind die Betroffenen durch Teilnahme am Kampfsport für eigene Rechtsgüter be-
wusst Risiken eingegangen. Wollte man hieraus aber schließen, eine damit einher-
gehende konkludente Einwilligung würde sich nicht nur auf die pflichtwidrige Tä-
terhandlung, sondern darüber hinaus auf die dann eingetretene Rechtsgutsverletzung
beziehen,12 so liefe dies auf eine das Opfer strafschutzlos stellende Unterstellung hin-
aus,13 die bereits in der zivilrechtlichen Diskussion zutreffend als „methodenunehr-
liche Fiktion“14 dekuvriert wurde, so dass schließlich auch die zivilgerichtliche15
Rechtsprechung16 von der Anwendung der Rechtsfigur der Einwilligung in derarti-
gen Fällen Abstand nahm und diese Fallgestaltungen des sog. „Handelns auf eigene
Gefahr“17 einer eigenständigen, einwilligungsunabhängigen Lösung zuführte. Im
Zusammenhang mit der Haftung bei Sportunfällen hat i. Ü. Grunsky bereits 1975
eine Parallele zu der ja ebenfalls durchaus bekannt risikoträchtigen Teilnahme am
Straßenverkehr gezogen:18 Dort müsse sich ein Geschädigter auch nicht anspruchs-
ausschließend oder -mindernd entgegenhalten lassen, dass er genau gewusst hätte,
dass immer wieder Verstöße gegen Verkehrsregeln vorkämen; genauso wenig
würde das Bestehen eines Ersatzanspruches bei Sportverletzungen dadurch beein-
trächtigt, dass jeder Spieler aus Erfahrung wisse, dass immer wieder Regelverstöße
vorkämen, die zu Verletzungen führten. Außerdem kommt eine Regulierung von
Sportverletzungen im Wege der Einwilligung schon deshalb nicht in Frage, weil
bei Abstellen auf den individuellen (und deshalb möglicherweise gegenüber be-

12
So etwa Beulke, Otto-FS, 2007, S. 207, 215.
13
BGHZE 34, 355, 363 (and. für ausgesprochen gefährliche Sportarten BGHZE 39, 156,
161).
14
Stoll, Handeln auf eigene Gefahr, 1961, S. 94; Nachw. entsprechender Kritik an der
ständigen Zivilrechtsprechung seit RGZE 141, 262 ff.: ebenda, S. 306 ff.
15
Auch die Strafrechtswissenschaft hat sich von der Einwilligungslösung entfernt; aller-
dings wird teilweise für die sog. Risiko-Einwilligung auf die unerlässliche Eliminierung des
Erfolgsunrechts durch eine hierauf bezogene Einwilligung verzichtet (zum Ganzen Sternberg-
Lieben, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, Vorbem § 32 Rn. 34, 102 ff.).
16
Seit der eine Fremdverletzung beim Fußballspiel betreffenden Grundsatzentscheidung
von BGHZE 63, 140, 144 f. (fortgeführt von BGHZE 154, 316, 325 [Motorsport]), in der ein
Anspruch des Geschädigten als Ausdruck eines venire contra factum proprium ausgeschlossen
wurde, da das Verletzungsrisiko beim Kampf um den Ball reziprok sei.
17
Die zur zivilrechtlichen Problematik des „Handelns auf eigene Gefahr“ von Stoll
(Fn. 14, S. 253 ff.) vertretene, weiter differenzierende Lösung berührt sich mit den Grundge-
danken der strafrechtsdogmatischen Verantwortungsbegrenzungstopoi von erlaubtem Risiko
und Sozialadäquanz.
18
JZ 1975, 109, 110.
1226 Detlev Sternberg-Lieben

stimmten Gegenspielern eingeschränkten!19) Willen und auf vom Sportler abgegebe-


ne Erklärungen bei massenhaft betriebenen Mannschaftssportarten ein geordneter
Spielbetrieb nicht möglich wäre.20 Dies hat Zipf21 bereits 1970 deutlich zum Aus-
druck gebracht: „Die Einwilligung ist streng individualisierend, der Sportbetrieb
braucht aber eine generalisierende Lösung.“ Es kann nicht Aufgabe der Rechtsfigur
der Einwilligung sein, eine der objektiven Sachlage entnommene, auf Interessenab-
wägung beruhende Lösung nachträglich zu legitimieren.22
Ein kurzer Seitenblick sei auf die beim Eishockey-Sport nicht selten zu beobach-
tende Massenschlägerei nach einer Spielunterbrechung (namentlich nach einem vor-
angegangenen Foulspiel) geworfen. Sie hat als verbotener „Faustkampf“ („… Kon-
frontation mit gegenseitigen Faustschlägen unter Beteiligung von Spielern und/oder
Teamoffiziellen …“) sogar eine ausdrückliche Spiel-Regelung gefunden und zieht in
jedem Falle als unsportliches Verhalten eine – unterschiedlich zu bemessende – Dis-
ziplinarstrafe nach sich.23 Dennoch können hierbei beigebrachte Verletzungen durch
eine – in der aktiven Beteiligung konkludent zum Ausdruck kommende – Einwilli-
gung gerechtfertigt werden: Zwar hat der Staat das Selbstverständnis des Sports über
das Faire und Regelgerechte zu respektieren (hierzu noch unter II.3.). Wenn sich aber
Täter und Einwilligender durch ihr gemeinsames Rauf-Handeln (weiteres Beispiel:
Einwilligung in einen regelwidrigen Tiefschlag bei einem Boxwettkampf und Han-
deln auf Grund dieser Einwilligung) „eigenmächtig“24 (aber eben nicht rechtsun-
wirksam: ihre Unterwerfung unter die Regeln des Spielbetriebs führt zu keiner an-
dauernden Bindung außerhalb der Verbandsebene) diesem Sonderbereich autonomer
Verbandsregeln entziehen, sie sich mithin nicht mehr in Selbstbindung dem Rege-
lungsbereich des verbandsorganisierten Sports unterwerfen,25 unterliegt ihr Verhal-

19
Auf diese Problematik wies bereits F. C. Schroeder, in: ders./Kauffmann (Hrsg.), Sport
und Recht, 1972, S. 21, 33 hin.
20
Dölling, ZStW 96 (1984), 36, 45, 60 f.; ebenso Looschelders, JR 2000, 265, 268; Röss-
ner, Hirsch-FS, 1999, S. 313, 317.
21
Einwilligung und Risikoübernahme im Strafrecht, 1970, S. 92.
22
So bereits Stoll (Fn. 14), S. 261.
23
Regel 141 (Faustkampf)/I.: Alle Spieler, die sich an einem Faustkampf beteiligen, er-
halten eine doppelte kleine Disziplinarstrafe oder große und automatische Spieldauerdiszi-
plinarstrafe (Offizielles Regelbuch der DEL, Ausgabe 2018/19; aufgerufen unter https://www.
del-2.org/media/regeln/DEL_Regelbuch_2018-2022.pdf am 3. 7. 2019).
24
Bezogen auf das Sportverbandsrecht und insoweit mangels Dispositionsbefugnis auch
ohne dispensierende Folgen hinsichtlich der verbandsinternen Spiel-Regelung.
25
Im nicht verbandsorganisierten Bereich des Freizeitsports (bspw. Fußballspiel auf der
grünen Wiese) ist ein Abweichen von den Spielregeln des organisierten Sports von vornherein
möglich (z. B. „3 [nicht auszuführende] Ecken = 1 Strafstoß“). Insoweit kommen die für den
Verbandssport geltenden Haftungsprivilegien dann zur Anwendung, wenn eine hinreichende
Vergleichbarkeit – namentlich im Hinblick auf Typizität und Reziprozität – mit Wettkämpfen
im Verbandssport besteht (s. OLG Düsseldorf NJW-RR 2000, 116 [Fußballspiel auf ein Tor];
NJW-RR 1993, 292 f. [Art von Schattenboxen]; Dördelmann, Die zivilrechtliche Haftung für
Mitspielerverletzungen bei Sport und Spiel, 2018, S. 66 ff., 299 f.; auch Marburger, Die Re-
geln der Technik im Recht, 1979, S. 306, sowie Pardey, zfs 1995, 281, 282 und Wagner, in:
Verletzungen beim Fußballsport – strafbare Körperverletzung? 1227

ten wieder in vollem Umfang dem Anwendungsbereich der vom Staat für alle Bürger
verbindlich gesetzten Rechtsvorschriften, so dass der Einwilligung des „Opfers“
strafbarkeitsaufhebende Kraft26 zukommt.27
3. Rechtsentlassener Bereich: Der Überlegung eines (straf)rechtsfreien Bereichs
bei Sportverletzungen28 sollte schon aus grundsätzlichen Erwägungen nicht näherge-
treten werden.29 Der Sport-Wettkampf ist sicherlich ein von sonst im gesellschaftli-
chen Leben Üblichen abweichender und von sportartspezifischen Üblichkeiten ge-
prägter Lebensbereich. Im Falle hierbei fahrlässig oder vorsätzlich beigebrachter
Verletzungen lassen sich aber durch hinreichende Berücksichtigung der Spezifika
des jeweiligen Sportbereichs dogmatisch sachgerecht Einschränkungen der Strafbar-
keit gewinnen, ohne das Konstrukt eines durch das Regelwerk des jeweiligen Sport-
verbandes und damit infolge der Verbandsautonomie geschaffenen rechtsentlassenen
Bereichs,30 der ja von vornherein auf den verbandsmäßig organisierten Bereich be-
schränkt bliebe,31 zu bemühen.

MünchKom/BGB, 7. Aufl. 2017, § 823 Rn. 697 wenden sich gegen eine unterschiedliche
haftungsrechtliche Bewertung). Da aber auch hier i. d. R. keine Einwilligung in beigebrachte
Verletzungen vorliegen wird, kann den Besonderheiten dieses Freizeitsports nur dadurch
Rechnung getragen werden, dass das die Sorgfaltswidrigkeit begründende unerlaubte Risiko
unter Zugrundelegung der allgemeinen Wettkampfregeln, aber eben auch ihrer von den Frei-
zeitsportlern verabredeten Modifikationen – etwa Barfußspielen ohne Stollenschuhe beim
Fußball oder „sanfter“ Altherrenfußball ohne Körperkontakt – bestimmt wird (s. Krähe, Die
zivilrechtlichen Schadensersatzansprüche von Amateur- und Berufssportlern für Verletzungen
beim Fußballspiel, 1981, S. 304) und auch hier die strafrechtliche Verantwortlichkeit auf
gravierende Regelverletzungen beschränkt bleibt (so für das Zivilrecht Dördelmann, ebd.,
S. 349).
26
Der Frage, inwieweit bei bestimmten (sogenannten?) Sportarten der Einwilligung keine
strafbarkeitsaufhebende Wirkung zukommt (so für das „Ultimate Fighting“ Derksen, SpuRt
2000, 141 ff.; a.A. angesichts verschärften Regelwerkes Kaiser, SpuRt 2010, 98, 100), kann
hier nicht nachgegangen werden.
27
Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997,
S. 340 f.
28
Hierfür Schild, Jura 1978, 449, 456; abl. Dördelmann (Fn. 25), S, 87 ff.; Eser, JZ 1978,
368; Fritzweiler, in: PHB Sportrecht, 3. Aufl. 2014, 5. Teil Rn. 2; Götz, Die deliktische Haf-
tung im Wettkampfsport, 2009, S. 40; Pfister, Lorenz-FS, 1991, S. 171, 176; Rössner, Hirsch-
FS (Fn. 20), S. 315.
29
Abl. zu einem strafrechtsfreien Bereich Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder (Fn. 15)
Vorbem § 32 Rn. 8 (m.w.N. auch zur Gegenansicht); allerdings kann in entsprechenden Be-
reichen gesetzlich im Wege lediglich prozeduraler Rechtfertigung (Sternberg-Lieben, ebenda,
Rn. 7a) im Ergebnis ein – prozedural abgesicherter – „rechtswertungsfreier“ Raum geschaffen
werden.
30
Schild, Jura 1982, 585, 586, 590; ders., Sportstrafrecht (Fn. 2), S. 114 ff., der präzisie-
rend i.E. einen auf „Sportadäquanz“ beruhenden Tatbestandsausschlussgrund postuliert (so
zuletzt auch in Paeffgen-FS, 2015, S. 153, 154).
31
Auch deshalb kritisch Dördelmann (Fn. 25), S. 92 f., der ebenso wie Götz (Fn. 28),
S. 15 ff., 43 auch auf die wirtschaftliche Bedeutung des Profi-Sports verweist, ein nicht gerade
für einen rechtsfreien Bereich sprechender Umstand: Gravierende Verletzungen können nicht
1228 Detlev Sternberg-Lieben

4. Sozialadäquanz (Sportadäquanz): Ein Abstellen hierauf führt schon deshalb


nicht weiter,32 weil es in aller Regel nicht dieses Rückgriffs bedarf, um Verhaltens-
weisen ausscheiden zu können, die zwar vom Wortlaut eines Tatbestands erfasst sind,
von diesem jedoch sinnvollerweise nicht gemeint sein können. Vielmehr lassen sich
solche Tatbestandsrestriktionen zumeist schon mit Hilfe allgemeiner Auslegungsre-
geln einschließlich einer am Schutzzweck orientierten teleologischen Reduktion
sowie über die Figur der objektiven Zurechnung, die dann mangels unerlaubter Ge-
fahrschaffung zu verneinen wäre, erreichen.33 Somit sollte die verhältnismäßig vage
Sozialadäquanz nicht in den Rang eines selbstständigen und allgemeingültigen Tat-
bestandskorrektivs erhoben werden.34 Im Zusammenhang mit der Frage „sportad-
äquater“ Handlungen ist daran zu erinnern, dass bei den allgemein üblichen und
unter dem Gesichtspunkt ihrer „überindividuellen Zweckhaftigkeit“ per saldo nütz-
lichen Gefährdungshandlungen im Bereich von Verkehr und Technik die Anerken-
nung eines „sozialadäquaten“ Risikos bereits zur Begrenzung der einzuhaltenden
Sorgfaltspflichten führt.35 Hierauf wird als Lösungsweg zurückzukommen sein.
Letztlich vermag soziale Billigung nicht entgegenstehende normative Wertungen
zu überspielen, da faktische Observanz nicht mit normativer Adäquanz gleichzuset-
zen ist.36 Die zum Rechtsgüterschutz strafgesetzlich vorgegebenen Schranken indi-
vidueller Handlungsfreiheit begrenzen mithin die soziale Adäquanz, so dass bspw.
Tötungen im Rahmen von Kriegshandlungen nicht durch ein schlichtes Sich-Berufen
auf „Kriegsadäquanz“37 für straffrei erklärt werden können: es ist vielmehr eine völ-
kerrechtliche Rechtfertigung erforderlich.38
Dies wird auch im Bereich sportlicher Wettkämpfe zu berücksichtigen sein. Si-
cherlich kommt der sozialen Adäquanz ungeachtet ihrer sehr eingeschränkten dog-
matischen Bedeutung eine nicht zu unterschätzende Funktion als Schnittstelle zwi-
schen normativer Rechtswissenschaft und außerrechtlichen Ordnungsvorstellun-
gen39 für Lebensbereiche zu, deren Verrechtlichung – wie es gerade beim Sportbe-
reich der Fall ist – durch den Gesetzgeber faktisch nicht möglich ist sowie angesichts
der Verbandsautonomie der Sportverbände ohnehin nur eingeschränkt zulässig

nur zu Einnahme-Ausfällen eines zum Sport-Invaliden gefoulten Sportlers, sondern im


Mannschaftssport auch zu erheblichen Einnahmeausfällen des beteiligten Vereins führen.
32
Abl. auch Dölling, ZStW 96 (1984), 36, 50; Dördelmann (Fn. 25), S. 103 f.; Eser, JZ
1978, 368, 370; Götz (Fn. 28), S. 156 ff.; Hirsch, Szwarc-FS, 2009, S. 559, 564 f.; Rössner,
Hirsch-FS (Fn. 20, S. 320; and. mit diff. Konzeption: F. Bydlinski, ÖJZ 1955, 159, 160 f.; F. C.
Schroeder (Fn. 19) S. 32 f.
33
Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 15), Vorbem § 32 Rn. 107.
34
Eisele, in: Schönke/Schröder (Fn. 15), Vorbem § 13 Rn. 69 f. m.w.N.; and. Eser, Roxin-
FS, 2001, S. 199, 208 ff.
35
Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 15), Vorbem § 32 Rn. 94.
36
OLG Hamm NJW 1973, 716, 718; Amelung, Grünwald-FS, 1999, S. 9, 11; s.a. Eser,
Roxin-FS (Fn. 34), S. 212: Üblichkeit und Billigungswürdigkeit erforderlich.
37
So noch Welzel, ZStW 58 (1939), 491, 527.
38
Hierzu Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 15), Vorbem § 32 Rn. 91 ff.
39
Zipf, ZStW 82 (1970), 633, 653.
Verletzungen beim Fußballsport – strafbare Körperverletzung? 1229

wäre.40 Die strafrechtliche Einstufung von Sportverletzungen sollte – um das Wesen


sportlicher Betätigung nicht zu verfehlen – zunächst an die möglicherweisen sekto-
ralen sozialen Handlungsnormen der betroffenen Lebensbereiche (hier also primär
an die Sportregeln41) anknüpfen. Die auf diese Weise gewonnene Festlegung fakti-
scher (von den Sportregeln gesteuerter) Üblichkeit muss dann allerdings von der
Feststellung ergänzt werden, dass das in Frage stehende Verhalten normativ ange-
messen und damit gesellschaftlich tolerabel ist.42 Auf diese Weise lassen sich die
Spezifika des jeweiligen Sportbereichs sachgerecht berücksichtigen und in diesem
von sportartspezifischen Üblichkeiten geprägten Lebensbereich sachgerechte Ein-
schränkungen der Strafbarkeit gewinnen. Dogmatisch umgesetzt werden sollte
dies aber nicht durch Anwendung eines dann doch recht konturenlosen43 und im
Grunde dogmatisch überflüssigen44 Rechtsinstituts, sondern durch ein angemessenes
Zuschneiden der Sorgfaltspflichten im Sport.45

II.
1. Sportverbandsrecht: Dem für alle Ausübenden verbindlichen46 Regelwerk der
jeweiligen Sportart kann keine unmittelbare und allein entscheidende Direktions-
kraft für eine etwaige Straffreiheit von Sportverletzungen zukommen. Zwar hat
der Gesetzgeber diesen Lebensbereich in Anerkennung der Verbandsautonomie
(Art. 9 I GG)47 weitgehend der „Eigenregelung“ der Sportverbände zu überlassen,
so dass die dortigen (Spiel-)Regeln sicherlich nicht für unmaßgeblich erklärt werden
dürfen. Im Gegenteil: Eine rechtliche Anerkennung der in den Regelwerken der
40
So allgemein Knauer, ZStW 126 (2014), 844, 856.
41
Sie definieren die Sportart, konzipieren ihre wettkampfmäßige Ausübung, beschreiben
die Spielidee (Typisierungsfunktion) und legen charakteristische, aber auch verbotene Bewe-
gungsabläufe fest (Vieweg, JuS 1983, 825, 829; ders., Röhricht-FS [Fn. 5], S. 1255, 1260 f.).
42
Rössner, Hirsch-FS (Fn. 20), S. 321; ebenso Hassemer, wistra 1995, 81, 85 (Bankenbe-
reich).
43
Rössner, ebd.
44
Hirsch, ZStW 74 (1962), 73, 78, 93.
45
So auch Dördelmann (Fn. 25), S. 106, 351; Hirsch, Szwarc-FS, (Fn. 32), S. 566 f.
46
Diese Bindung der Sportler an das Regelwerk erfolgt mittelbar über ihre Vereinsmit-
gliedschaft, wobei sie über mehrere mitgliedschaftsrechtliche Stufen vermittelt wird (Pfister,
Lorenz-FS [Fn. 28], S. 184; Vieweg, JuS 1983, 825, 335 f.). – Fußball-Lizenzspieler sind
weder Mitglied des DFB noch der Vereine, für die sie spielen, da andernfalls bei Zahlung
hoher Vergütungen an Vereinsmitgliedern (s. 55 I Nr. 1 S. 2 AO) der steuerlich höchst rele-
vante Verlust der Gemeinnützigkeit (§ 52 II Nr. 21 AO) droht (H. P. Westermann, Rittner-FS
[Fn. 3], S. 780). Somit ist ein Lizenzvertrag zwischen DFB und Spieler erforderlich, in dem
die Verbandsregelungen als für den Spieler bindend vereinbart werden (Lukes, H. Wester-
mann-FS, 1974, S. 325, 332, 343; H.P. Westermann, JA 1984, 394, 395 f.).
47
Art. 9 I GG schützt angesichts des gemeinschaftsbegründenden Charakters der Vereini-
gungsfreiheit als Doppelgrundrecht nicht nur den Einzelnen, sondern auch die Vereinigung als
solche (BVerfG 80, 244, 253).
1230 Detlev Sternberg-Lieben

Sportverbände gesetzten Standards entspricht dem auch grundgesetzlich geforderten


Respekt vor dem insoweit autonomen Bereich des Sports, wozu auch das Recht des
vereins- und verbandsorganisierten Sports zählt, sich seine eigenen Statuten und Re-
gelwerke zu geben.48 Art. 9 I GG garantiert den Sporttreibenden nicht nur das Recht
zum staatsfreien Zusammenschluss in Sportvereinen und Sportverbänden, sondern
auch das Recht, sich ihre Regelwerke selbst zu geben. Steiner49 hat zu Recht betont,
dass Art. 9 I, IV GG dem vereins- und verbandsorganisierten Sport eine eigene, aus
seiner Gemeinschaft hervorgehende sportbezogene Wert- und Maßstabsbildung er-
möglicht, wobei dies nicht nur die Sport- und Spielregeln umfasst: auch das Ver-
ständnis dessen, was „sportlich“ und „fair“ ist, wird durch das Vereinigungsgrund-
recht des Art. 9 I GG gegenüber unmittelbaren und mittelbaren staatlichen Einwir-
kungen abgeschirmt. Verstärkt wird diese Vorgreiflichkeit des Verbandsrechts durch
die privatautonome Selbstbindung des einzelnen Sportlers, die in seiner freiwilligen
Teilnahme an den Wettkämpfen liegt.
a) Diese „Eigenregie“ des Sports kann aber nur soweit reichen, als das Recht sich
eigener Regelungen enthält und in Erfüllung des Subsidiaritätsprinzips der kleineren
Einheit (Sportverband) die sachnähere und sachgerechte, aber eben auch nur interne,
d. h. jedenfalls zunächst auf diesen gesellschaftlichen Bereich beschränkte, Entschei-
dung überlässt. Insoweit wäre ein Abweichen staatlicher Rechtsentscheidung von
den selbstgesetzten Regeln des sportlichen Lebens nicht vertretbar, da der Staat be-
wusst auf die rechtliche Durchdringung und Gestaltung dieses Lebensbereiches ver-
zichtet hat und sich den Sportbetrieb nach seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten und
selbst gegebenen Regeln verwirklichen lässt.50 Somit ist auch bei der Rechtsanwen-
dung das Selbstverständnis des Sports – entsprechend zu den Bereichen von Kirche
und Kunst – über das Regelgerechte angemessen zu berücksichtigen.51
b) Eine Gleichsetzung von Sport- oder sonstiger Verbandsregelwidrigkeit mit
strafrechtsrelevanter Rechtswidrigkeit verbietet sich bereits auf Grund der unter-
schiedlichen Ordnungsfunktionen dieser Rechtsgebiete (Binnenfunktion des Sport-
verbandsrechts / Allgemeingültigkeit staatlichen Rechts).52 Durch Anwendung kon-
zeptualisierender (normativer) Generalklauseln53 (insbesondere Fahrlässigkeit i.S.v.
§§ 229, 222 StGB/objektive Zurechnung bei § 223 StGB) wird die gebotene Inbe-
zugnahme außerstrafrechtlicher Regelungen realisiert. Es handelt sich hierbei jedoch
48
Pfister Lorenz-FS (Fn. 28), S. 190; Steiner, NJW 1991, 2729, 2730; ders., SpuRt 2018,
186; Sternberg-Lieben (Fn. 27), S. 340; s. a. Looschelders, JR 2000, 265, 270.
49
NJW 1991, 2729, 2730.
50
Mithin liegt es von vornherein fern, ein sportregelgerechtes Verhalten mit zivil- oder gar
strafrechtlicher Reaktion zu belegen (Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder
[Fn. 15], § 15 Rn. 214).
51
Steiner, NJW 1991, 2729, 2730; Zipf (Fn. 21), S. 93.
52
Hierzu und zum Folgenden Sternberg-Lieben (Fn. 27), S. 337 ff.
53
Hierdurch werden Problemlösungen, die in bestimmten Teilbereichen des gesellschaft-
lichen Lebens entwickelt worden sind, in die Rechtsanwendung einbezogen (z. B. die Regeln
der ärztlichen Kunst).
Verletzungen beim Fußballsport – strafbare Körperverletzung? 1231

nicht um eine strikte und vorbehaltslose Anbindung der (straf-)rechtlichen Entschei-


dung an die Maßstäbe, die sich außerhalb des staatlich gesetzten Rechts entwickelt
haben, sondern um eine richterlich kontrollierte Rezeption: Der Rechtsanwender
übernimmt diese Standards nicht unmittelbar, sondern überprüft sie unter dem Blick-
winkel der normativen Schutzzielbestimmung der anzuwendenden Generalklausel.54
Da eine richterliche Anwendung der außerrechtlichen Standards allgemein voraus-
setzt, dass diese mit höherrangigen Schutzvorgaben der Verfassung und der übrigen
Rechtsordnung in Einklang stehen,55 bleibt der Vorrang der staatlich gesetzten
Rechtsordnung vor privater Rechtssetzung gewahrt.56 Für das Sportrecht generell
ist diese Zweispurigkeit von privatautonom gesetztem Verbandsrecht und dem in all-
gemeingültigen Normen gesetzten Recht kennzeichnend.57
c) Allerdings zielen die Verhaltensgebote der Sportregeln auf die Sicherstellung
eines ordnungsgemäßen Wettkampfablaufs.58 Insoweit besteht eine deutliche Paral-
lele zu dem durch Art. 2 I GG geschützten Recht von Vertragsparteien, ihre wechsel-
seitigen Verhaltenspflichten im Rahmen der Privatautonomie festzulegen: Die Betei-
ligten können hier wie dort keine staatlichen Verhaltensnormen schaffen, sie haben
aber das Recht, den Inhalt dieser Verhaltensnormen selbst zu beeinflussen.59 Dies gilt
jedoch nur insoweit, als die Sportregeln als solche eine rein sport-interne Verhaltens-
und Sanktionsordnung konstituieren.60 Hingegen können sie keineswegs festlegen,

54
So auch OLG Hamburg NStZ-RR 2015, 209, 210: Sportverbandsregeln als Regelwerk
ohne Rechtsnormqualität bieten [Ergänzung St-L: nur] wichtige Anhaltspunkte für sorgfalts-
gemäßes Verhalten. In diesem Fall ging es aber um die Verantwortlichkeit eines Übungsleiters
für den Tod eines Siebenjährigen beim Aufstellen des Fußballtores und nicht um die Schädi-
gung eines freiverantwortlich handelnden Spielers.
55
Damit wird einer mit der Schutzpflicht des Staates für grundrechtlich geschützte Güter
des Einzelnen nicht vereinbaren Kompetenzübertragung an Private (Neokorporatismus) ge-
gengesteuert, vor der Schünemann (Lackner-FS, 1987, S. 377, 391) für den Bereich der Re-
geln der Technik zurecht nachdrücklich gewarnt hat; sachentsprechend für das Verhältnis von
staatlich gesetztem zu Standes-Recht: Taupitz, Die Standesordnungen der freien Berufe, 1991,
S. 523 sowie für das Verhältnis von technischen Regeln und strafrechtlichem Fahrlässigkeits-
maßstab Lenckner, Engisch-FS, 1969, S. 490, 502 f.
56
Insoweit sei nur an das Bosman-Urteil des EuGH aus dem Jahre 1995 erinnert, in dem
der EuGH die Transferbestimmungen und die Ausländer-Klauseln in den Regeln der profes-
sionellen Fußballverbände für unvereinbar mit dem Freizügigkeitsgrundrecht in der EU er-
klärte (NJW 1996, 505; hierzu Hilf/Pache, NJW 1996, 1169); zur weiteren Entwicklung Ei-
chel, EuR 2010, 685).
57
Vieweg, JuS 1983, 825; ders., Faszination Sportrecht, 3. Aufl. 2015, S. 22 (aufgerufen
unter http://irut.de/Forschung/Veroeffentlichungen/OnlineVersionFaszinationSportrecht/Faszi
nationSportrecht.pdf am 30. 4. 2019); so auch Bohn, Regel und Recht, 2008, S. 62 ff.; Dördel-
mann (Fn. 25), S. 242; Summerer, in: PHB Sportrecht (Fn. 28), 2. Teil Rn. 13 f.; i.E. auch Götz
(Fn. 28), S. 221.
58
Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder (Fn. 15), § 15 Rn. 214 m.w.N.
59
Looschelders, JR 2000, 265, 270 im Anschluss an Kirchhof, Private Rechtsetzung, 1987,
S. 38 f.
60
Pfister, Lorenz-FS (Fn. 28), S. 190. Sportregeln haben primär den Zweck, einen ord-
nungsgemäßen Ablauf des Wettkampfs sicherzustellen und die Chancengleichheit der Betei-
1232 Detlev Sternberg-Lieben

wann aus ihrer Verletzung haftungsrechtliche Konsequenzen folgen;61 mit den Wor-
ten von Schild:62 Spielregeln werden von Sportverbänden nicht als Kriminalisie-
rungsparameter gebildet. Dies wird auch dadurch deutlich, dass Sportregeln anders
als strafbewehrte Verhaltensvorgaben hypothetische Verhaltensgebote darstellen:63
Der Sportler muss sich um ihre Einhaltung bemühen, um die Verhängung von Spiel-
strafen zu vermeiden. Diese sporteigenen Sanktionen sind planmäßig in das Spielge-
schehen integriert (etwa Frei- oder Strafstoß) und gehören auch zur Attraktivität des
jeweiligen Spiels. Demgegenüber gebieten Verkehrspflichten in staatlichen Rechts-
normen ein bestimmtes, risiko-vermeidendes Verhalten kategorisch. Würde dies
auch für die Sportregeln gelten, so wäre unzulässig (Art. 9 I GG)64 das Wesen der
Kampfsportarten verändert, da die Sportler ihren Einsatz so dosieren müssten,
dass keine Spielregel verletzt würde.65
d) Dies kann aber als solches nicht dazu führen, Sportregeln auch für das (Straf-)
Recht als letztverbindliche Konkretisierung der im Sport geltenden Verhaltensnor-
men einzustufen, die der Rechtsanwender infolge der Verbandsautonomie (Art. 9 I
GG) nicht durch eine eigene Interessenbewertung ergänzen oder sogar ersetzen
dürfe. Ihnen kommt vom Ansatz her keine größere rechtliche Relevanz zu als sons-
tigen außergesetzlichen Verhaltensnormen: sie bilden wesentliche, aber nicht allein
entscheidende Anhaltspunkte für den Rechtsanwender, da es grundsätzlich nicht zu-
lässig ist, bestimmten durch gemeinsame Interessen verbundenen Gruppierungen die
Letzt-Verfügungsgewalt darüber zuzusprechen, welche Eingriffe in Leib (oder gar
Leben) rechtens sind und welche nicht: Die Spielregeln als Teil des Sportverbands-
rechts dienen bei der Bestimmung fahrlässigen Verhaltens der – gerichtlich zu kon-
trollierenden – Einpassung von Problemlösungen, die in Teilbereichen der Gesell-
schaft entwickelt wurden, in die für alle Bürger verbindliche Rechtsordnung.

ligten zu gewährleisten (vgl. Pfister, ebd., S. 189 f.; sowie Burgstaller, Das Fahrlässigkeits-
delikt im Strafrecht, 1974, S. 53; Schild, Jura 1982, 585, 587). Sicherlich schützen manche
Sportregeln auch die Gesundheit der Sportler. Die Sportregeln gehen aber davon aus, dass die
dort vorgesehenen Sanktion (Strafstoß/Platzverweis) ausreichen, um die mit der verletzten
Regel verfolgten Ziele zu schützen.
61
Burgstaller (Fn. 60), S. 53; Hirsch, Szwarc-FS (Fn. 32), S. 559; Rössner, Hirsch-FS
(Fn. 20), S. 342.
62
In Württ. Fußballverband (Fn. 1), S. 19, 46.
63
Looschelders, JR 2000, 265, 271; ebenso Pfister, Lorenz-FS (Fn. 28), S. 189 f. (Spiel-
regeln sollen die Chancengleichheit sichern und mit spieltypischen Sanktionen spieltypische
Regelverletzungen ahnden); zur Unterscheidung zwischen kategorischen und hypothetischen
Imperativen und ihren haftungsrechtlichen Konsequenzen: Looschelders, Die Mitverantwor-
tung des Geschädigten im Privatrecht, 1999, S. 208 ff., 640 ff.
64
Pfister, Lorenz-FS (Fn. 28), S. 190, Schild (Fn. 2), S. 115.
65
S. Pfister, Lorenz-FS (Fn. 28), S. 190: typische Sport-Regelwidrigkeiten müssen kei-
neswegs unterbleiben (ebd. in Fn. 100): Sonst könnte bspw. Basketball als von seinen Regeln
(Art. 32.1.1; Stand 2018) her körperloses Spiel praktisch gar nicht oder nur als völlig anderes
Spiel stattfinden.
Verletzungen beim Fußballsport – strafbare Körperverletzung? 1233

e) Der beim verbandsmäßig organisierten Sportbetrieb schon verfassungsrecht-


lich (Art. 9 I GG) gebotene Respekt vor der Selbstorganisation der Betroffenen
fügt sich i. Ü. in die vom Ansatz her durchaus sinnvolle gesetzgeberische Zurückhal-
tung ein, die unter dem Leitgedanken regulierter Selbstregulierung bekannt ist, also
dem Überlassen von Regel-Bildungen an fachkompetente gesellschaftliche Grup-
pen. Hierbei kann der Staat angesichts seiner Schutzverpflichtung für grundgesetz-
lich geschützte Güter allerdings nicht völlig untätig bleiben; er darf sich aber auf eine
Grenzkontrolle beschränken:66 Die regulierte Selbstregulierung geht im Gegensatz
zur ausschließlich gesellschaftlichen Selbstregulierung von einer staatlichen Rege-
lungsverantwortung aus.67 Hierbei werden im Zuge von Verantwortungsteilung das
Wissen und der Selbstgestaltungswille der durch die Regulierung Betroffenen akti-
viert, wobei bei dieser Selbstregulierung stets die allgemeine Rechtsordnung zu be-
achten ist.68 Die imperative staatliche Steuerung durch Ge- oder Verbote mag sich
zwar auf dem Rückzug befinden. Ihr kommt aber Bedeutung für den Rechtsgüter-
schutz zu, da im Bereich gesellschaftlicher Selbstregulierung keine hinreichende Ga-
rantie einer von vornherein angemessenen Berücksichtigung aller betroffenen Inter-
essen besteht, insbesondere nicht von Interessen derjenigen, die von der Selbstregu-
lierung zwar (hauptsächlich) betroffen sind, bei der Regelerstellung aber nicht (maß-
geblich) mitwirken (hier also: die an der Sportregel-Bildung nicht beteiligten
Sportler selbst).69 Das Sich-Verlassen auf die Problemlösungskapazität privater Ak-
teure ist – nicht nur im Strafrecht als von vornherein „misstrauischem Recht“ – nicht
unbegrenzt: Das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit dieser Aufgabenlösung beruht
auch auf der ergänzenden staatlichen Garantenstellung.70 Die staatliche Schutzver-
antwortung für grundrechtlich geschützte Positionen begrenzt die Reichweite von
Selbstregulierung. Nach dieser grundgesetzlichen Vorgabe gilt dies auch für Berei-
che, in denen dezentralisiertes Wissen in den subgesellschaftlichen Einheiten (hier:
Sportverbände) konzentriert ist und deshalb eine Regulierungsentscheidung grund-
sätzlich besser dort getroffen werden sollte.71 Hierbei darf sich das (Straf-)Recht
nicht völlig aus der Verantwortung stehlen. Sicherlich ist das Strafrecht im Grundsatz
als staatlich-monopolistische Gewaltausübung dadurch gekennzeichnet, dass der
Gesetzgeber diesen Bereich selbst durchnormiert, so dass „Strafrecht im Kern
Fremdregulierung“ ist; dieser Feststellung Rönnaus72 ist ebenso zuzustimmen wie
66
Zum Bereich der Organtransplantation Sternberg-Lieben, ZIS 2018, 130, 141 f.; zur
(Criminal) Compliance in Wirtschaftsunternehmen Rönnau, in: Professorinnen und Profes-
soren der Bucerius Law School (Hrsg.), Begegnungen im Recht, 2011, S. 237 ff.
67
Zum Folgenden s. Hoffmann-Riem, Innovation und Recht – Recht und Innovation, 2016,
S. 371 ff.
68
Hierzu Hoffmann-Riem (ebenda), S. 382 ff.
69
S. Hoffmann-Riem (ebenda), S. 375 f.
70
Hoffmann-Riem, ebd.; Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), S. 160, 204 f.; zu den
staatlichen Schutzpflichten s.a. Grimm, VERW, Beiheft 4, 2001, S. 9, 16; Kirchhof (Fn. 59),
S. 523 ff.
71
S. Steinbach, Rationale Gesetzgebung, 2017, S. 179 f., 324.
72
Rönnau (Fn. 66), S. 239.
1234 Detlev Sternberg-Lieben

dann allerdings auch seiner Ergänzung, dass der Strafgesetzgeber angesichts der
Komplexität der Lebensverhältnisse namentlich im Bereich der Fahrlässigkeitsdelik-
te nicht umhin kommt, sich zur Konturierung des Bereichs des Unerlaubten die von
privaten Verbänden erlassenen Sondernormen nutzbar zu machen, die für besondere
Verkehrskreise besondere Anforderungen an sorgfaltsgemäßes Verhalten stellen.73
2. Sportregelgerechtes Verhalten: Soweit Sportregeln die Vermeidung verlet-
zungsträchtiger Situationen bezwecken (z. B. Verbot des Foulspiels im Fußball,
nicht hingegen dasjenige des unerlaubten Handspiels), können sie als Verhaltens-
standards begriffen werden, deren Einhaltung eine strafrechtliche Haftung des Ver-
letzenden aus Fahrlässigkeits- oder auch Vorsatzdelikt ohne weiteres (d. h. ohne wei-
tere „Filterung“ durch kontrollierte Rezeption seitens des Rechtsanwenders) aus-
schließt.74 Dies fügt sich in den anerkannten Ansatz beim Fahrlässigkeitsdelikt
ein, dass sich die Sorgfaltsanforderungen an Menschen in der konkreten Lage und
sozialen Rolle des Handelnden zu orientieren haben, mithin an dem engen sozialen
Bereich, in dem der Einzelne tätig ist.75 Die (auch für die zivilrechtliche Haftung
maßgeblichen) „Sicherheitserwartungen der Sportler“76 orientieren sich an der
vom Regelwerk angeleiteten Ausübung des Kampfsports. Die Ausgangslage beim
Sport unterscheidet sich i.Ü. deutlich von anderen Lebensbereichen, wie etwa
dem Recht der Technik oder dem ärztlichen Standesrecht: Bei Letztgenannten
kann es nicht Angelegenheit einer Profession sein, selbst die Voraussetzungen fest-
zulegen, unter denen ihre Mitglieder in Rechtsgüter Dritter eingreifen dürfen;77 die
Standesauffassung kann mit dem gebotenen Pflichtenstandard korrelieren, ihn aber
nicht allein determinieren.78 Anders hingegen stellt sich die Situation bei den Verhal-
tensregeln der Sportverbände dar, die die Ausübung des Sportbetriebes anleiten.
Hierbei ist wesentlich, dass sich der Sportler – anders als etwa ein Kranker79 – aus
freien Stücken den Gefährdungen des Sportbetriebes ausgesetzt hat. Er wird – wie-
derum anders als ein Patient – die hierdurch eingegangenen Risiken, deren Realisie-
rung überdies zumindest partiell auch von seinem eigenen Verhalten abhängt, von
vornherein sachgerecht einschätzen können; zumindest ist ihm dies als Teil seines
eigenen Verantwortungsbereiches normativ zuzuschreiben. Die staatliche Schutz-
pflicht für die Rechtsgüter des Sporttreibenden kann mithin infolge der ebenfalls
aus dem Grundgesetz abzuleitenden Respektierung der Freiheitsausübung (Art. 2 I,

73
Hierzu am Beispiel technischer Normen Lenckner, Engisch-FS (Fn. 53), S. 490 (grund-
legend) sowie Kudlich, Otto-FS (Fn. 11), S. 373 ff.
74
S. Dölling, ZStW 96 (1984), 42; aus zivilrechtlicher Sicht Grunsky, Haftungsrechtliche
Probleme der Sportregeln, 1979, S. 14 f.
75
Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder (Fn. 15), § 15 Rn. 135.
76
Spindler, in: BeckOGK/BGB, Stand 20. 5. 2019, § 823 Rn. 535.
77
Taupitz (Fn. 55), S. 1088.
78
S.a. Taupitz, (Fn. 55), S. 1162.
79
Hier müssen die – insoweit den Regeln der Technik vergleichbaren – ärztlichen Ver-
haltenskodizes einschließlich der Behandlungsrichtlinien u. ä. einer stärkeren Kontrolle un-
terzogen sein.
Verletzungen beim Fußballsport – strafbare Körperverletzung? 1235

ggfs. 12 I GG) dieser Person, die hier in der Eingehung einer Selbstbindung durch
Teilnahme am verbandsrechtlich geregelten Sportbetrieb liegt, durchaus zurücktre-
ten mit der Folge,80 dass sich ein Sportler, der einen anderen bei regelgerechtem Ver-
halten verletzt, von vornherein nicht strafbar macht.81 Immerhin bilden die Sportre-
geln eine von den Sportlern akzeptierte klare Vorgabe, an der sie ihr risikoträchtiges
Verhalten orientieren können. Das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot82 (Art. 103 II
GG) verlangt, dass die Verhaltensanforderungen eindeutig feststehen, nach denen
sich die einzuhaltende Sorgfalt bemisst; nur so können strafrechtliche Verbote hin-
reichend präventive Kraft entfalten:83 Der Sportler als Normadressat muss wissen
können, wie er sich zu verhalten hat, um der Strafbarkeit zu entgehen. Auch bei Ein-
halten der Sportregeln kann es beim Mannschaftskampfsport angesichts der Schnel-
ligkeit des Spiels (Spieler/Ball) und des begrenzten Spielfelds zu Körperverletzun-
gen kommen. Dieses Risiko kennt jeder Teilnehmer, er geht es ein und akzeptiert es
damit:84 Jeder Spieler kann selbst verletzen, aber auch selbst verletzt werden. Damit
liegt sicherlich eine gewisse Berührung mit der oben abgelehnten Einwilligungslö-
sung vor, doch liegt die Betonung hier nicht auf einer nur zu unterstellenden Zustim-
mung zu einer Verletzung, sondern darauf, dass beim Verletzten angesichts der inso-
weit bestehenden Reziprozität85 (jeder Spieler kann – jedenfalls abstrakt – Opfer,
aber auch Täter einer trotz Regeleinhaltung bewirkten Verletzung sein) kein norma-
tiv schutzwürdiges Vertrauen auf das Einhalten zusätzlicher, auch diese Verletzungen
unterbindender „Sicherheitsstandards“ besteht.
Fraglich ist aber, ob ein äußerlich regelgerechtes Verhalten auch dann noch straf-
frei bleibt, wenn es mit dem Vorsatz durchgeführt wird, dem Opfer unter dem Deck-
mantel der Regelkonformität eine Körperverletzung beizubringen (bspw. im Fuß-
ballsport: erfolgreiches Wegspitzeln des Balles in der Absicht, dass der Gegenspieler
über das ausgestreckte Bein zu Fall kommt und sich hierbei verletzt, so dass er aus-
gewechselt werden muss). Allerdings stellt sich der Bundesgerichtshof für den Be-
reich des Straßenverkehrs auf den Standpunkt, dass dort auch ein äußerlich verkehrs-
gerechtes Verhalten das Bereiten eines Hindernisses oder einen ähnlichen, ebenso
gefährlichen Eingriff i.S.v. § 315b I Nr. 2, 3 StGB darstellt, wenn es aus verkehrs-
feindlichen Gründen, nämlich in der Absicht erfolgt, einen Verkehrsunfall herbeizu-

80
S. Sternberg-Lieben (Fn. 27), S. 339.
81
Vgl. Burgstaller (Fn. 60), S. 53; Eser, JZ 1978, 368; 372; Sternberg-Lieben/Schuster, in:
Schönke/Schröder (Fn. 15), § 15 Rn. 214 m.w.N.; s.a. Looschelders (Fn. 63), S. 446 ff; Pfister,
Lorenz-FS (Fn. 28), S. 187 f.; ebenso für das Zivilrecht BGH NJW 2010, 537, 538; Wagner,
in: MünchKom/BGB (Fn. 25), § 823 Rn. 694.
82
Die ihm eigene Unbestimmtheit macht es allerdings höchst anwendungsunsicher, ob-
gleich es gerade dies für die Strafgesetze zu verhindern sucht (Duttge, Zur Bestimmtheit des
Handlungsunwerts von Fahrlässigkeitsdelikten, 2001, S. 174).
83
Deutlich Rössner, Hirsch-FS (Fn. 20), S. 322.
84
Pfister, Lorenz-FS (Fn. 28), S. 187.
85
Sie wird insbesondere von Dördelmann (Fn. 25), S. 41 f., 250 f. betont.
1236 Detlev Sternberg-Lieben

führen.86 Auch auf dem Gebiet des Arztstrafrechts, nämlich der sog. indirekten Ster-
behilfe, verfuhr der 3. Strafsenat ähnlich, als er die Straflosigkeit einer lebensverkür-
zenden Schmerzbehandlung auf lediglich mit bedingtem Tötungsvorsatz handelnde
Täter beschränkte.87 Auf dieser Grundlage könnte sich auch der Sportler strafbar ma-
chen, 88 der bei regelgerechtem Verhalten (wie im o.g. Beispiel) mit Verletzungsvor-
satz89 handelt. Dies ist jedoch abzulehnen, da auch ein derart motiviertes regelkon-
formes Verhalten objektiv keine unerlaubte Gefahrschaffung darstellt.90 Auch beim
Vorsatzdelikt verliert ein nach objektiver Wertung unverbotenes Risiko diese Eigen-
schaft nicht deshalb, weil der Täter den Erfolg will.91 Hieran ändert auch der Um-
stand nichts, dass der Verletzende sicherlich gegen den allen Sportarten zugrunde lie-
genden Fairness-Grundsatz92 verstößt:93 Zum einen ist dieser sicherlich beherzigens-
werte94 Topos – sofern er nicht konkrete Ausformung in den Sportregeln gefunden
86
BGH NJW 1999, 3132, 3133; weitere Nw. aus der Rspr. bei Hecker, in: Schönke/
Schröder (Fn. 15), § 315b Rn. 8.
87
BGH 42, 301, 305 (unbeabsichtigte, aber in Kauf genommene unvermeidbare Neben-
folge). Hierzu hat Reinhard Merkel ebenso eindeutig wie überzeugend Stellung bezogen
(Früheuthanasie, 2001, S. 167 ff., 195 ff.; ders., Schroeder-FS, 2006, S. 297, 315 ff.). Geht
man davon aus, dass die indirekte Sterbehilfe durch eine Kombination von § 34 StGB und
(mutmaßlicher) Einwilligung Rechtfertigung erfährt (Eser/Sternberg-Lieben, in: Schönke/
Schröder [Fn. 15], Vorbem § 211 Rn. 26), lässt man für den „Rechtfertigungsvorsatz“ genü-
gen, dass der Täter im Bewusstsein der rechtfertigenden Sachlage das tut, was ihm objektiv
erlaubt ist, und spricht dem Motiv desjenigen, der sich mit seinem Handeln objektiv in den
Grenzen des Rechts hält, für alle Rechtfertigungsgründe rechtliche Bedeutung ab (Sternberg-
Lieben, in: Schönke/Schröder [Fn. 15], Vorbem § 32 Rn. 14), so wird man sich Günter Merkel
anschließen können; w.Nw. zur Literatur bei Eser/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder
(Fn. 15) Vorbem § 211 Rn. 26a.
88
Strafbarkeit bejaht von Eser, JZ 1978, 368, 374; Looschelders, JR 2000, 265, 271 Fn. 90;
Schild, Jura 1982, 585, 588; Schroeder (Fn. 19), S. 26 f.; A. Schall, SpuRt 2011, 226, 229 (in
Parallelisierung zum Verlust des Haftungsprivilegs der business judgement rule des § 93 I 2
AktG bei sachfremden Motiven, s. Spindler, in: MünchKom/AktG, 5. Aufl. 2019, § 93
Rn. 69 f.); abgelehnt von Grunsky (Fn. 74), S. 18; Hirsch, Szwarc-FS (Fn. 32), S. 567 (im
Falle des dolus eventualis).
89
Zu den in anderem Zusammenhang jedenfalls für die Gerichte durchaus relevanten
Nachweisproblemen beim Vorsatz vgl. Lorz, in: Vieweg (Hrsg.), Impulse des Sportrechts,
2015, S. 309, 316 ff.
90
Auch eine versuchte Körperverletzung scheidet aus, da sich hierbei der Tatentschluss auf
die die objektive Zurechnung begründenden Umstände, hier also die infolge Regelverstoßes
unerlaubte Gefahrschaffung, hätte beziehen müssen (s. I./D. Sternberg-Lieben, JuS 2012, 289,
294).
91
Eisele, in: Schönke/Schröder (Fn. 15), Vorbem § 13 Rn. 93 m.w.Nw. pro und contra.
92
Vgl. BGH(Z) NJW 2010, 537, 538 (kein Schadensersatzanspruch, wenn es sich um
„Verletzungen handelt, die sich ein Sportler bei einem regelgerechten und dem – bei jeder
Sportausübung zu beachtenden – Fairnessgebot entsprechenden Einsatz seines Gegners zu-
zieht“); Dördelmann (Fn. 25), S. 252 (elementarer Baustein des Sports).
93
Berr, Sport und Strafrecht, 1973, S. 85 f.; Götz (Fn. 28), S. 224 ff.; Schild, Jura 1982,
585, 589 f.; Thaler, Haftung zwischen Wettkampfsportlern (usw.), 2002, S. 41 f.
94
Skeptisch Krähe (Fn. 25), S. 123 f. (fair play als ständiger Leitstern des Sportlers eine
idyllisch-schwärmerische Vorstellung), 246 f. Auch Reinhard Merkel (in: Hoven/Kubiciel
Verletzungen beim Fußballsport – strafbare Körperverletzung? 1237

hat95 – schon derart unbestimmt,96 dass die Gefahr naheliegt, mit ihm jedes gewollte
Ergebnis zu legitimieren.97 Zum anderen ist beim Mannschaftssport zu berücksich-
tigen, dass der Verletzende Teil einer Mannschaft ist. Wollte man ihm allein wegen
seiner subjektiven Einstellung ein regelkonformes Abwehrverhalten verbieten, so
ginge dies zulasten seiner Mannschaft, die damit gleichsam in „Sippenhaft“ genom-
men würde. Schließlich ist der zur Legitimierung der privilegierten Sportlerverant-
wortlichkeit (im Text unter II.2.) mit heranzuziehende Erwartungshorizont der Ge-
genspieler (zumindest normativ) lediglich auf die Vermeidung grober Regelverstöße
und mutwillig unter Außerachtlassung des Regelwerks zugefügter Verletzungen ge-
richtet.98 Sicherlich darf Sport nicht als Deckmantel für Körperverletzungen miss-
braucht werden,99 doch ist dies nur dann anzunehmen, wenn eine „sportartunspezi-
fische Handlungsform“ vorliegt, was bei regelkonformem Verhalten gerade nicht der
Fall ist. Es genügt nicht darauf abzustellen, dass eine „gewöhnliche (sportfremde)
Verletzung bei bloßer Gelegenheit des Sports vorgenommen wird“,100 da im tägli-
chen Leben etwa das Umrempeln eines Mitbürgers ebenso unzulässig wäre wie des-
sen Umgrätschen. Der böse Wille des Täters ändert nichts daran, dass das nach außen
wahrnehmbare regelgerechte101 Geschehen als „Verwirklichung der konstitutiven

[Hrsg.], Korruption im Sport, 218, S. 109, 115 f.) sieht angesichts vorstellbarer Leistungs-
steigerungen mittels neurotechnischer oder auf das Genom abzielender Interventionen das auf
meritokratischer Verteilung der Medaillen beruhende Fairnessprinzip moderner Olympischer
Spiele im hoffnungslosen Hintertreffen zum kategorischen „Citius, altius, fortius“-Imperativ
dieser Spiele.
95
Vgl. Tettinger, in: Scheffen (Hrsg.), Sport, Recht und Ethik, 1998, S. 33, 51: Fairness-
gebot als programmatisches Optimierungsgebot und Impetus zu jeweils sachgebietsorientier-
ter Ausarbeitung hinreichend präzisierter Fairneß-Regeln.
96
So auch das Fazit der Durchmusterung staatlichen Rechts von H. P. Westermann, in:
Württ. Fußballverband (Fn. 1), S. 79, 91, 96 (in erster Linie sportpädagogisches und sport-
politisches Postulat): Die Verwendung dieser Argumentationsfigur im Sport, aber auch im
rechtlichen Bereich (z. B. im Topos „faires Verfahren“, zuletzt BVerfG NJW 2019, 1510) steht
in deutlichem Kontrast zum Ertrag der Konkretisierungsbemühungen insoweit (s. Vieweg,
Röhricht-FS [Fn. 5), S. 1266 ff. mit dem Fazit, dass im Sport nur Regelverstöße als „unfair“
einzustufen seien [S. 1270]); dies liegt sicherlich auch daran, dass „Fairness“ sowohl als
Verfahrensvorgabe als auch als Verhaltensmaßstab Verwendung findet (Vieweg, ebd., S. 1268,
im Anschluss an H. P. Westermann (ebd., S. 90); die offene Struktur und Offenheit dieses
Rechtsprinzips gegenüber sozialem Wandel betont auch Berkemann, JR 1989, 221 ff.
97
Dördelmann (Fn. 25), S. 254 f.; Vieweg, Röhricht-FS (Fn. 5), S. 1256; krit. auch Pfister,
in: PHB/Sportrecht (Fn. 28), Einf. Rn. 24: Inhalt „kaum konkret zu umschreiben“ (aber den-
noch von staatlichen Gerichten zu beachten).
98
S.a. Wagner, in: MünchKom/BGB (Fn. 25), § 823 Rn. 695 i.V.m. Rn. 426 ff.
99
Eser, JZ 1978, 368, 374; Schild, Jura 1982, 585, 588.
100
So Schild, Sportstrafrecht (Fn. 2), S. 120.
101
Mangels hinreichender Bestimmtheit ihrer Vorgaben kann jedenfalls im Bereich des
Strafrechts die von H. P. Westermann (in: Württ. Fußballverband [Fn. 1], S. 95) – wohl auf
Basis seiner zutreffenden Einstufung des Rechts des Leistungssports als zumindest mit An-
leihen beim Wirtschaftsrecht zu regelndes soziales Subsystem (Rittner-FS, 1991, S. 771 ff.,
790) – zur Diskussion gestellte Erwägung, bestimmte unfaire Verhaltensweisen als Rechts-
missbrauch i.S.v. § 242 BGB einzustufen, nicht weiter verfolgt werden.
1238 Detlev Sternberg-Lieben

Spielart“ wahrgenommen wird.102 Es ist mithin auch insoweit auf einen gravierenden
Regelverstoß („Blutgrätsche“103) oder eine völlig außerhalb sportwettkämpferischer
Bezüge (z. B. Faustschlag bei einem Fußballspiel oder Schlägerei auf der Eisfläche,
nachdem ein Eishockeyspiel unterbrochen worden war104) abzustellen. – Hingegen
kann in Fällen (strafbarer, s. u. II. 2.c)) gravierender Regelwidrigkeit eine Schädi-
gungsabsicht strafschärfend berücksichtigt werden.105
3. Regelverstöße: Hier kommt hingegen eine mehr oder weniger strikte Anbin-
dung an die Vorgaben der Sportregeln nicht in Betracht, da deren Verhaltensgebote
primär die Sicherstellung eines ordnungsgemäßen Wettkampfablaufs bezwecken;
sie zielen, anders als die kategorischen Regeln der einzuhaltenden Sorgfalt, nicht dar-
auf ab, den Bereich des straf- und haftungsrechtlich Relevanten abzustecken oder zu-
mindest entscheidend zu präjudizieren.106 Anderenfalls würden Kampf- und Spiel-
sportarten (zB Fußball oder Eishockey), deren Spielbetrieb auch erhebliche Regel-
verstöße immanent sind, durch rechtliche Vorgaben – angesichts der insoweit beste-
henden Autonomie des Sports in unzulässiger Weise – in ihrem Wesen verändert.
a) Differenzierte Bewertung: Die Frage, ob eine Verletzung von Wettkampfregeln
Sanktionen außerhalb der Binnenordnung des Sportbetriebes nach sich zieht, ist
weder zivilrechtlich107 noch strafrechtlich endgültig geklärt. Hierbei ist vorab zu be-
merken, dass die Grenze des rechtlich zulässigen Risikos im Sport zivil- und straf-
rechtlich durchaus unterschiedlich beurteilt werden kann:108 Da die Rechtsordnung
in einzelne Gebiete mit unterschiedlicher Zwecksetzung ausdifferenziert ist, welche
die auftretenden Interessenkonflikte nach den ihr jeweils zugewiesenen Funktionen
und Aufgaben (etwa Schadensrestitution im Zivilrecht/Hervorhebung gesellschaft-
lich unerträglichen Verhaltens durch sozialethischen Tadel im Strafrecht) zu lösen
haben, kann aus etwaiger Zivilrechtswidrigkeit nicht zwangsläufig das Vorliegen
auch strafrechtlichen Unrechts hergeleitet werden: So wie im Bereich der Tatbestän-
de eine schon vom Verhältnismäßigkeitsprinzip (Strafrecht als ultima ratio für beson-
ders sozialschädliches Verhalten) her gebotene rechtsgebietsspezifische Differenzie-
rung besteht (bspw. bei fahrlässiger Sachbeschädigung oder Untreue), so ist auch bei

102
S. Schild, in: Württ. Fußballverband (Fn. 1), S. 19, 40, 52.
103
OLG(Z) Hamm NJW-RR 2005, 1477.
104
Looschelders, JR 2000, 265, 272.
105
Dies wäre – da der Bereich der Strafbarkeit erreicht ist – noch kein Fall des für den
Bereich zivilrechtlicher Haftung vorgeschlagenen (Götz ([Fn. 28], S. 222 ff., 239 ff.; zust.
Dördelmann [Fn. 25], S. 262, der aber zurecht die richtungsweisende Vorentscheidung seitens
der Regelwerke betont), für eine strafrechtliche Betrachtung aber keineswegs unproblemati-
schen Argumentierens in einem beweglichen System (Wilburg [Die Elemente des Schadens-
rechtes, 1941; AcP 163 [1963], 346 ff.] hatte dies bekanntlich für den Bereich zivilrechtlichen
Schadensersatzes entwickelt), sondern eine schlichte Anwendung von § 46 II 2 StGB.
106
Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder (Fn. 15), § 15 Rn. 214 m.w.N.
107
S. Wagner, in: MünchKomm/BGB (Fn. 25), § 823 Rn. 691 ff. sowie zuletzt Dördelmann
(Fn. 25), S. 51 ff., 210 ff.
108
So auch Grunsky (Fn. 74), S. 8; and. Looschelders, JR 2000, 265, 266.
Verletzungen beim Fußballsport – strafbare Körperverletzung? 1239

der Bestimmung pflichtwidrigen Verhaltens eine entsprechende Differenzierung ge-


boten,109 die zu einer asymmetrischen Akzessorietät der Strafbewehrung führt: Zivil-
oder öffentlich-rechtlich erlaubtes Verhalten unterliegt keinem strafrechtlichen Ver-
dikt, während umgekehrt zivilrechtliche Haftung oder öffentlich-rechtliche Verhal-
tensverbote nicht zwangsläufig Strafbarkeit begründen.110
b) Strafrechtsspezifische Reduzierung der einzuhaltenden Sorgfalt: Die Lösung
sollte über eine entsprechende Reduktion strafbarer Fahrlässigkeit erreicht wer-
den.111 Nicht nur im hochbezahlten Leistungssport bleiben deshalb jedenfalls leichte
Regelverletzungen mit Wettkampfbezug im Rahmen des sportartspezifisch erlaubten
Risikos straffrei,112 wobei es auf das Ausmaß der verursachten Verletzung – die straf-
bewehrte Verhaltensanweisung an den Sportler muss vor Vornahme seiner Handlung
erfolgen – nicht ankommt.113 Entscheidend ist vielmehr die auch strafrechtlich nicht
mehr hinnehmbare Erhöhung des sportartspezifischen Risikos. Hierbei sollte in
einem ersten Schritt dem (zivilrechtlichen) Vorschlag Looschelders114 gefolgt und
Strafbarkeit nur dann in Betracht gezogen werden, wenn die durch regelwidriges Ver-
halten geschaffene Gefahr erheblich über den mit regelgerechtem Spielverhalten ver-
bundenen Gefahren liegt. So scheidet beim Hineingrätschen im Kampf um den Ball
ein Überschreiten des erlaubten Risikos aus, wenn statt des Balles der Fuß des Ge-
genspielers getroffen wird und dieser sich dann durch Sturz verletzt: Es liegt kein
höheres Risiko vor als beim regelkonformen Wegspitzeln des Balles als zulässigem
Alternativverhalten, bei dem ja auch ein Sturz des Gegners möglich wäre. Beim Um-
reißen eines enteilten Gegenspielers, um so noch dessen Torschuss zu verhindern,
würde dieser „Filter“ allerdings noch keine strafausschließende Wirkung entfalten:
Ein Wegspitzeln des Balles als Alternativverhalten wäre zwar zulässig gewesen,

109
Dies gilt insbesondere dann, wenn man die haftungsrechtlichen Verhaltenspflichten im
Sport nach Art eines beweglichen Systems bestimmen will (Fn. 105).
110
Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 15), Vorbem. § 32 Rn. 27a ff.; für ein Foul
durch Grätschen im Fußballspiel als „ein Verhalten im Grenzbereich zwischen der einem
solchen Kampfspiel eigenen und gebotenen Härte und der unzulässigen Unfairneß“ ange-
deutet von BGH(Z) NJW 1976, 957, 958, der letztlich auf fehlendes Verschulden abhebt.
111
So auch Rössner, Hirsch-FS (Fn. 20), S. 323 (Ausrichten des Sorgfaltsmaßstabs an
sportspezifischen Verhaltensstandards); Hirsch, Szwarc-FS (Fn. 32), S. 566 f.
112
Berkl, Der Sportunfall im Lichte des Strafrechts, 2006, S. 174 ff. (bei Realisierung des
sportartspezifischen Grundrisikos); Burgstaller (Fn. 60), S. 54; Eser, JZ 1978, 368, 372 (bei
Offenlassen der dogmatische Einordnung); Grunsky (Fn. 74), S. 8; Fischer, StGB, 65. Aufl.
2018, § 228 Rn. 22; S. Schmitt, Körperverletzungen bei Fußballspielen, 1985, S. 202 (bei
nicht grobem Regelverstoß); Vogel, in: LK/StGB, 12. Aufl. 2007, § 15 Rn. 28; s.a. Donatsch,
ZStR1990, 400, 429 (straffrei sofern innerhalb des sportartspezifischen Grundrisikos); ferner
infolge Sozialadäquanz Dölling, ZStW 96 (1984), 36, 59 ff.; Schild (Fn. 2), S. 116 ff. (Sport-
adäquanz); Zipf (Fn. 21), S. 96; s.a. Paeffgen/Zabel, in: NK/StGB, 5. Aufl. 2017, § 228
Rn. 109 (auf Basis der Einwilligungslösung).
113
Eser, JZ 1978, 368, 373; Grunsky (Fn. 74), S. 32; Looschelders, JR 2000, 265, 272; and.
auf Basis einer Einwilligungslösung Schroeder (Fn. 19), S. 30.
114
JR 2000, 265, 272.
1240 Detlev Sternberg-Lieben

würde aber einen völlig anderen Bewegungsablauf darstellen.115 Strafbarkeit (wegen


vorsätzlicher Körperverletzung) kommt des Weiteren bei einem Faustschlag, einem
Revanche-Foul abseits des Spielbetriebs oder einer Schlägerei in Betracht, da es in-
soweit von vornherein kein regelkonformes Alternativverhalten gibt.
c) Schwere der Regelwidrigkeit: Hierauf sollte als zusätzlicher Filter abgestellt
werden.116 Hierbei kann aber keineswegs das Maß der sportintern angedrohten
oder verhängten Sanktionen für die Regelverletzung maßgeblich sein (auch wenn
die Regeleinhaltung für das körperliche Wohl der Mitspieler relevant ist).117 Sport-
regeln verfolgen infolge ihrer spielinternen Zielsetzung haftungsfremde Zwecke, wie
etwa Wahrung von Chancengleichheit und Fairness im Wettkampf, und treffen keine
Aussage über die zulässige Gefährdung in Bezug auf die Körperintegrität.118 In Er-
mangelung anderer Kriterien sollte darauf abgestellt werden, ob die Regelverletzung
grob rücksichtslos erfolgte. Hiermit würde der allgemeinen – zumindest kriminalpo-
litischen, m. E. aber auch verfassungsrechtlich durch das Erfordernis, den strafrecht-
lichen Rechtsgüterschutz nur als ultima ratio einzusetzen, untersetzten – Erwägung
Rechnung getragen, dass die gesetzgeberische Umschreibung strafwürdigen Verhal-
tens, aber eben auch die strafbarkeitsbegründende richterliche Konkretisierung von
Generalklauseln (hier die der Fahrlässigkeit) durch Hervorheben nur schwerster Ver-
stöße die schutzbedürftigen und schutzwerten Grundwerte der Gesellschaft hervor-
zuheben hat.119 Auf dem Gebiet der Sportverletzungen sollte der Forderung Rech-
nung getragen werden, dass angesichts des in Art. 103 II GG verankerten Bestimmt-
heitsgebots generell die Sanktionierung fahrlässigen Verhaltens auf eine – vorliegend
ja auch nach Auffassung der beteiligten Sportler-Kreise – evidente und rücksichts-
lose Überschreitung des erlaubten Risikos zu beschränken ist.120 Verlangt man dem-

115
Es entspricht allgemeiner Fahrlässigkeitsdogmatik, dass nur der dem Täter vorwerfbare
Tatumstand durch ein korrespondierendes sorgfaltsgemäßes Verhalten zu ersetzen ist, darüber
hinaus aber an der konkreten Tatsituation nichts verändert werden darf (Sternberg-Lieben/
Schuster, in: Schönke/Schröder [o. Fn. 15], § 15 Rn. 176).
116
So auch Eser, JZ 1978, 368, 373.
117
Andere Vorgaben, wie etwa das Verbot des Handspiels im Fußball oder des Fußspiels
beim Handball, bleiben unstreitig von vorneherein außer Betracht.
118
Grunsky (Fn. 74), S. 30 f.; Looschelders, JR 2000, 265, 272, der zurecht hervorhebt,
dass die Strenge der (verhängten) Sanktion von der Bedeutung der Regelwidrigkeit für den
Spielverlauf bestimmt wird (bspw. Vereiteln einer offensichtlichen Torchance des Gegners
durch absichtliches Handspiel innerhalb des Strafraums: Strafstoß sowie Platzverweis/das-
selbe Verhalten außerhalb des Strafraum: direkter Freistoß nebst Platzverweis, vgl. DFB-
Spielregel 12).
119
So bereits Dölling, ZStW 96 (1984), 36, 55.
120
Allgemein bereits 1996 von Ellen Schlüchter (Grenzen fahrlässiger Strafbarkeit, 1996,
S. 89 f.) gefordert; vgl. auch die Kritik von Duttge (Fn. 82), S. 202 ff., passim sowie ders., Th.
Fischer-FS, 2018, S. 202, 204 ff. – Auch der vom BVerfG (E 126, 170, 198 f.) in seiner Ent-
scheidung zu § 266 StGB vorgegebenen Nachjustierung des Untreuestrafrechts kann allge-
mein gesprochen die verfassungsrechtliche Pflicht des Rechtsanwenders entnommen werden,
unbestimmt formulierten Tatbeständen im Wege der Normkonkretisierung schärfere Konturen
zu verleihen. Hierbei sollten keine Fälle erfasst werden, denen es unter Berücksichtigung des
Verletzungen beim Fußballsport – strafbare Körperverletzung? 1241

entsprechend, dass dem Sportler bei seinem Regelverstoß eine schwere Nachlässig-
keit unterlief, bei der er dasjenige unbeachtet ließ, was jedem verständigen Sportler
ohne Weiteres als den Gegenspieler schützende Sorgfaltspflicht eingeleuchtet
hätte,121 so wird man im Fußballsport in erster Linie Fallgestaltungen zu erfassen
haben, in denen die körperbezogene Attacke nach Lage der Dinge nur noch gegen
den Körper des Opfers erfolgen kann, ohne dass eine realistische Chance besteht,
noch den Ball zu spielen.122 Auch eine willentliche, nicht sportimmanente Schädi-
gung (etwa Revanchefoul oder Tätlichkeit während Spielunterbrechung) sieht sich
auf jeden Fall strafrechtlicher Sanktionierung als dann sogar vorsätzliche Körperver-
letzung (ggfs. angesichts der stollenbesetzten Schuhsohle mittels eines gefährlichen
Werkzeugs i.S. v. § 224 I Nr. 2 StGB) ausgesetzt.
d) Profi-Fußballsport: Hier könnte aber eine deutliche Einschränkung möglicher
Strafbarkeit Platz greifen, und zwar infolge der Regelung von §§ 105 I, 106 III Var. 3
SGB VII.123 So hat das OLG Karlsruhe124 einen Schadensersatzanspruch wegen eines
Bandenchecks in einem Eishockey-Spiel der 2. Bundesliga mit der Begründung ab-
gelehnt, dass Schädiger und Geschädigter anlässlich ihres Wettkampfs auf einer „ge-
meinsamen Betriebsstätte“ tätig gewesen seien. Beide Mannschaften hätten nach ge-
meinsamen Spielregeln zusammengewirkt und sich gegenseitig in besonderer Weise
ergänzt, weil der Wettkampf nur im Miteinander möglich wäre, wobei das Verlet-
zungsrisiko reziprok verteilt sei (Gefahrengemeinschaft). Auch könnten Schmer-
zensgeldprozesse zwischen Spielern gegnerischer Mannschaften (bei Arbeitsunfäl-
len gesetzlich unfallversichert gemäß § 2 I Ziff. 1 i.V.m. § 7 SGB VII) das friedliche
Zusammenspiel für die Zukunft erheblich beeinträchtigen. Auch generalpräventive
Gesichtspunkte stünden dem nicht entgegen, da – abgesehen von gem. § 105 I SGB
VII unberührt bleibenden Fällen vorsätzlich beigebrachter Verletzungen – auch grob

subsidiären Charakters des Strafrechts an Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit mangelt (vgl.


auch BVerfGE 126, 170, 211: gravierende Pflichtverletzung des Untreuetäters [i.S.e. eindeutig
nicht mehr vertretbaren Handelns]).
121
Diese Formulierung knüpft an meinen Vorschlag (Beulke-FS, 2015, S. 299, 305 ff.
sowie MedR 2019, 185, 187 ff.) zur Reduzierung übermäßiger ärztlicher Aufklärungspflichten
vor einem Heilangriff an.
122
OLG München NJOZ 2009, 2268, 2270; Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/
Schröder (Fn. 15), § 15 Rn. 214; Paeffgen/Zabel, in: NK/StGB (Fn. 112), § 228 Rn. 109. Auch
das Hineinspringen des Torwarts mit gestrecktem Bein in einen gegnerischen Spieler (s. OLG
München VersR 1977, 844, 845) zählt hierzu.
123
§ 105 Abs. 1 SGB VII: Personen, die durch eine betriebliche Tätigkeit einen Versi-
cherungsfall von Versicherten desselben Betriebs verursachen, sind diesen … nach anderen
gesetzlichen Vorschriften zum Ersatz des Personenschadens nur verpflichtet, wenn sie den
Versicherungsfall vorsätzlich … herbeigeführt haben.
§ 106 Abs. 3 SGB VII: … verrichten Versicherte mehrerer Unternehmen vorübergehend
betriebliche Tätigkeiten auf einer gemeinsamen Betriebsstätte, gelten die §§ 104 und 105 für
die Ersatzpflicht der für die beteiligten Unternehmen Tätigen untereinander.
124
NZS 2013, 106; ebenso LG Berlin BeckRS 2013, 9485; zust. Buchberger, SpuRt 2013,
108 ff.; Slizyk, Imm-DAT Kommentierung, 15. Aufl. 2019, Rn. 84; abl. Laustetter, NZS 2013,
108.
1242 Detlev Sternberg-Lieben

fahrlässige Regelverstöße zu einem Regress des Sozialversicherungsträgers beim


Schädiger nach § 110 Abs. 1 SGB VII125 führten.
Dieser zivilgerichtlichen Einstufung sollte nicht gefolgt werden,126 da § 106 III
Var. 3 SGB VII auf Konstellationen eines auf die gemeinsame Erledigung eines Wer-
kes gerichteten Zusammenwirkens (bspw. Zusammenarbeit von an demselben Bau-
vorhaben tätigen Bauhandwerkern verschiedener Firmen) zielt:127 eine „gemeinsa-
me“ Betriebsstätte verlangt jedenfalls mehr als „dieselbe Betriebsstätte“.128 Sicher-
lich besteht auch beim Mannschaftswettkampfsport die vom BGH(Z) allgemein für
eine gemeinsame Betriebsstätte konstatierte typische Gefahr, dass sich die Beteilig-
ten bei den versicherten Tätigkeiten „ablaufbedingt in die Quere kommen“.129 Dies
ändert aber nichts daran, dass nach höchstrichterlicher Rechtsprechung für eine „ge-
meinsame“ Betriebstätte typisch ist, dass einzelne Aktionen der Arbeitnehmer meh-
rerer Unternehmen „bewusst und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinander grei-
fen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder unterstützen“.130 Dem steht im
Wettkampfsport verschiedener Mannschaften der Wettkampfcharakter im Sinne des
„Gegeneinanders“ beim Spiel entgegen, so dass nicht von einer Ergänzung und Un-
terstützung der gegnerischen Mannschaften gesprochen werden kann.131 Auch stützt
der auf Wahrung des Friedens zwischen Arbeitnehmern verschiedener Betriebe ge-
richtete Normzweck von § 106 III Var. 3 SGB VII die herrschende Auffassung nicht,
da der Wettkampfsport gerade auf dem zwischen den Mannschaften bestehenden
Konkurrenzverhältnis und dem Willen, gegeneinander um das bestmögliche Ergeb-
nis zu agieren, basiert.132 Dementsprechend besteht in Bezug auf die strafrechtliche
Verantwortlichkeit kein Unterschied zwischen dem profimäßig und dem amateurhaft
ausgeübten Mannschaftswettkampfsport.

125
Hierbei handelt es sich aber um einen originären Anspruch eigener Art (Stelljes, in:
BeckOK/SozR, 52. Ed. 1. 3. 2018, SGB VII § 110 Rn. 6, 28).
126
Hierfür spricht auch, dass der Regressanspruch aus § 110 Abs. 1 SGB VII im Umfang
durch den fiktiven Schadensersatzanspruch des Geschädigten begrenzt wird (Stelljes, ebd.)
und damit letztlich doch an verübtes Unrecht anknüpft.
127
Vgl. BGHZE 145, 331, 336: „… bewusstes Miteinander im Arbeitsablauf … betrieb-
liche Aktivitäten von Versicherten mehrerer Unternehmen, die bewusst und gewollt bei ein-
zelnen Maßnahmen ineinander greifen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder un-
terstützen, wobei es ausreicht, dass die gegenseitige Verständigung stillschweigend durch
bloßes Tun erfolgt.“
128
So auch BGHZE 145, 331, 335 (bestätigt in BGH NJW-RR 2001, 741), der ebenda
betont, dass „der Gesetzgeber offensichtlich zugleich (bezweckt), den Kreis der Schadensfälle
nicht ausufern zu lassen, in denen eine Haftungsbefreiung einsetzen soll, wenn das Zusam-
mentreffen der Risikosphären mehrerer Betriebe zum Schadensfall führt.“
129
BGH NJW 2004, 947, 948.
130
BGHZE 145, 331, 336.
131
Laustetter, NZS 2013, 108.
132
Laustetter, ebd.
Verletzungen beim Fußballsport – strafbare Körperverletzung? 1243

III.
Aus Platzgründen kann hier eine Reihe von Einzelfragen nicht mehr angespro-
chen werden, die sämtlich die Reichweite der eingeschränkten Strafbarkeit im
Kampfsport zum Gegenstand haben, namentlich die personelle und temporale Di-
mension dieses Privilegs.133 Gleiches gilt für die (fehlende!) Bindung der Zivil-
aber auch Strafgerichte an Tatsachenfeststellungen seitens eines Schiedsrichters:134
Das den Sportwettkampf prägende Konzept der Tatsachenentscheidung gewichtet
die rasche Endgültigkeit der Entscheidung höher als deren Richtigkeitsgewähr,135
so dass ein schlichtes Übernehmen der einen Regelverstoß bejahenden oder vernei-
nenden Schiedsrichterentscheidung für das (Straf-)Recht nicht in Betracht kommt.136
Auch muss die (straf-)rechtliche Verantwortlichkeit des Sportveranstalters137 hier
ausgeblendet bleiben. Ich hoffe aber, dass mein Beitrag dennoch das Interesse von
Reinhard Merkel findet, der in seinem „früheren Leben“ ein erfolgreicher Leistungs-
sportler war.138

133
Hierzu Dördelmann (Fn. 25), S. 283 ff. sowie 296 ff.
134
Für das Strafrecht: OGer Bern SpuRt 2001, 85; Zivilrecht: BGHZE 63, 140, 148 (hoher
Beweiswert – aber oft kein ausreichendes Gewicht infolge der Schwierigkeit zuverlässiger
Beobachtung der schnell wechselnden Vorgänge); Dördelmann (Fn. 25), S. 276 ff.; Götz
(Fn. 28), S. 266 ff.; Grunsky (Fn. 74), S. 30; Krähe (Fn. 25), S. 272 ff.; Lorz, in: Vieweg
(Fn. 89), S. 315; Thaler (Fn. 93), S. 350 ff.; Vieweg, JuS 1983, 825, 830; Pardey, zfs 1995,
281; and. OLG Celle VersR 1994, 112; Wagner, in: MünchKom/BGB (Fn. 25), § 823 Rn. 694.
135
Vieweg, Röhricht-FS (Fn. 5), S. 1265.
136
Grundsätzlich zur gerichtlichen Überprüfung von Verbandsstrafen bereits H. P. Wes-
termann, Die Verbandsstrafgewalt und das allgemeine Recht, 1972, S. 100 ff.
137
Hierzu zuletzt Winter, Das Recht der Sportveranstalterhaftung, 2016, sowie allgemein,
aber insb. unter dem Aspekt der Legalisierungswirkung von Genehmigungen Weidemann,
Pflicht zur Sicherheit, 2019; speziell zu Extrem-Bergläufen Schuld, Veranstalterhaftung im
Laufsport, 2010, S. 152 ff.; dies., SpuRt 2011, 90 ff., sowie AG Garmisch-Partenkirchen JuS
2011, 844.
138
Der Jubilar wurde bei den Schwimmwettkämpfen der XIX. Olympischen Sommerspie
len 1968 in Mexiko-Stadt Sechster über 400 m Lagen und gewann 1970 die Bronzemedaille
über 400 m Lagen bei der VI. Sommer-Universiade in Turin.
Strafrechtliche Grenzen von Enhancements
im Sport
Von Martin Heger

I. Zum Thema
Vor gut zehn Jahren – bei der Strafrechtslehrertagung in Hamburg – hat Reinhard
Merkel – in der Diktion des im Titel dieses Beitrags anklingenden Sportbetriebs –
sein „Heimspiel“ dazu genutzt, den Blick unserer Zunft in die Zukunft zu richten
und dabei konkret auf die Frage zu lenken, wie das Strafrecht mit mentalen Enhance-
ments verfahren soll.1 Diesen Schlüsselbegriff seines Vortrags definierte er wie folgt:
„,Enhancement‘ nenne ich jedes wirksame oder möglicherweise wirksame Verfahren
zur Herbeiführung eines veränderten physiologischen oder mentalen Zustands, der
(1.) nicht als Resultat einer Heilbehandlung gelten kann, und (2.) in mindestens
einer Hinsicht von dem Betroffenen selbst als Verbesserung beurteilt wird.“2 In sei-
nem Vortrag plädierte er dafür, bestimmten Formen solcher „Verbesserungen“ der
mentalen Fähigkeiten von Menschen (sog. Neuroenhancements) in Form neu zu
schaffender Straftatbestände auch strafrechtlich gewisse Grenzen zu setzen.3
In wahrhaft lebhafter Erinnerung geblieben ist allen Zuhörern, dass der Jubilar
seine Thesen mit bewegten Bildern aus der (Natur-)Wissenschaft anschaulich unter-
legt hat; diese im Hamburger Auditorium eingespielten Filmsequenzen konnten kraft
Natur der Sache nicht der obligaten Druckfassung seines Vortrags in der ZStW bei-
gefügt werden. Sonst wäre die von Merkel in Hamburg angestoßene durchaus kon-
troverse Debatte über eine Kriminalisierung mentaler Enhancements mittels leis-
tungsfördernder Eingriffe in das menschliche Gehirn4 auch in den folgenden Jahren
vielleicht noch intensiver, jedenfalls aber bildhafter geführt worden. In seinen An-

1
Merkel, ZStW 121 (2009), 919 ff. – Für die redaktionelle Überarbeitung meines Manu-
skripts schulde ich meiner wiss. Mitarbeiterin Veronika Widmann großen Dank.
2
Merkel, ZStW 121 (2009), 919, 929.
3
Merkel, ZStW 121 (2009), 919, 950 ff. – Dazu krit. Merget, Sportdoping und Neuro-
Enhancement bei Minderjährigen – eine strafrechtliche Bewertung, in: Spitzer/Franke (Hrsg.),
Sport, Doping und Enhancement – Präventive Perspektiven, 2012, S. 75, 100 ff. – Allg. zu
psychischen Schädigungen als Körperverletzungen Knauer, Der Schutz der Psyche im Straf-
recht, 2013, S. 199 ff. und Steinberg, Strafe für das Versetzen in Todesangst, 2015.
4
Vgl. den Tagungsbericht von Eidam/Gaede, in: ZStW 121 (2009), 985 ff.
1246 Martin Heger

wendungsbeispielen für mentale Enhancements ging es freilich nicht so sehr5 um den


Sportbetrieb,6 sondern um eine Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit etwa mit
Blick auf einen anstehenden Verhandlungsmarathon;7 wer durch Neuroenhance-
ments seine mentale Leistungsfähigkeit gesteigert hat, behält auch bei einer Nacht-
sitzung noch einen klaren Kopf und kann angesichts seiner mentalen Fitness seinen
vorzeitig ermatteten Gegenüber in letzter Sekunde vielleicht doch noch über den
Tisch ziehen, ohne dass es dafür strafbarer Mittel wie einer Täuschung oder Erpres-
sung bedürfte. Nach Ansicht des Jubilars seien solche Enhancements zwar de lege
lata straflos, sollten jedoch de lege ferenda unter bestimmten Voraussetzungen mit
einer Kriminalstrafe belegt werden.8
Die enge, ja unmittelbare Verbindung mentaler und physischer Enhancements –
wie sie im Sport, der ersten professionellen Wirkungsstätte des Jubilars, der ja 1968
als Schwimmer an der Olympiade in Mexico City teilgenommen hat, vor allem in
Form von Doping, aber auch durch missbräuchliche Nutzung nicht verbotener
Schmerzmittel etc. augenfällig zutage treten – hat im gleichen Zeitraum eine inter-
disziplinäre Arbeitsgruppe an der HU unter der Leitung des Sportphilosophen Elk
Franke und des Sporthistorikers Giselher Spitzer im Rahmen des Projekts „Transla-
ting Doping“ dazu gebracht,9 die (straf-)rechtlichen Grenzen von Doping und
Enhancements parallel zu behandeln.10 Auch wurde umgekehrt der Zugriff von Schü-
lern etwa auf leistungssteigernde Pillen vor Prüfungen mit dem strafrechtlichen Um-
gang mit Doping im Sport verglichen.11
Dass solches „Schüler-Doping“ im Unterschied zum Doping im Sport nicht
strafbewehrt war (und nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers auch
nicht sein soll), führte vor einigen Jahren sogar bis zum Verdikt der Gleichheits-
und deshalb Verfassungswidrigkeit der damals neu geschaffenen Strafbestimmung
gegen den Besitz von Dopingmitteln (ausschließlich) im Sport in §§ 6a, 95 AMG.12
Dieser Vorhalt lässt sich allerdings nach der Überführung der Besitzstraftatbestän-
5
Einmal schon: s. Merkel, ZStW 121 (2009), 919, 923 f.
6
Der zeitgleich von Eberbach, in: Wienke/Eberbach/Kramer/Jahnke (Hrsg.), Die Verbes-
serung des Menschen, 2009, S. 1 ff., vorgelegte Beitrag beginnt dagegen mit den „Verbesse-
rungsmöglichkeiten“ im Spitzensport.
7
Vgl. Merkel, ZStW 121 (2009), 919, 921 f.
8
Merkel, ZStW 121 (2009), 919, 951; zust. etwa Putzke, in: AnwK-StGB, Einleitung vor
§§ 223 ff. Rn. 9.
9
Die Untersuchungsergebnisse sind veröffentlicht worden 2010 – 2012 in fünf Bänden je-
weils hrsg. von Spitzer/Franke jeweils unter dem Obertitel „Sport, Doping und Enhancement“;
Bd. 1 (2010) untersucht die transdisziplinäre, Bd. 2 (2011) die sportwissenschaftliche und
Bd. 3 (2012) die präventive Perspektive, während Bd. 5 (2012) Materialien für den Schulun-
terricht enthält, fasst Bd. 6 (2012) die Ergebnisse zusammen und gibt weiterführende Denk-
anstöße (als Ausnahme beinhaltet Bd. 4 einen Beitrag von Götze über Prohormone).
10
Exemplarisch Merget, a.a.O. (Fn. 3), S. 75 ff.
11
Bublitz, ZJS 2010, 306 ff. – Ein solches Szenario beschreibt auch Merkel, ZStW 121
(2009), 919, 921 f.
12
Grotz, ZJS 2008, 243, 255.
Strafrechtliche Grenzen von Enhancements im Sport 1247

de in das 2015 eingeführte Anti-Doping-Gesetz nicht mehr halten. Ausweislich


dessen in § 1 AntiDopG in Gesetzesform gegossener Zweckbestimmung dient die-
ses Gesetz nämlich nur „der Bekämpfung des Einsatzes von Dopingmitteln und
Dopingmethoden im Sport, um die Gesundheit der Sportlerinnen und Sportler
zu schützen, die Fairness und Chancengleichheit bei Sportwettbewerben zu sichern
und damit zur Integrität des Sports beizutragen“. Da das Dopen von Schülern vor
Prüfungen – selbst bei Abiturprüfungen im Fach „Sport“ – beim besten Willen
nicht als von dieser Zielsetzung umfasst angesehen werden kann, ist die Beschrän-
kung der Straftatbestände des AntiDopG auf Doping im Sport unter Ausschluss
vergleichbarer Praktiken in anderen Lebenslagen sicher nicht im Lichte des
Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG als willkürlich zu brandmarken. Es mag
umstritten sein, ob der Bundesgesetzgeber überhaupt eine Kompetenz zum Erlass
eines allein auf den Bereich des Sports begrenzten (Straf-)Gesetzes13 geltend ma-
chen kann;14 allerdings folgt aus der Existenz des AntiDopG sicherlich keine Not-
wendigkeit, darin bzw. zumindest parallel auch Doping von Schülern etc. straf-
rechtlich zu erfassen. Auch würde – da die Regelungen des Schulwesens völlig un-
streitig Ländersache sind – dem Bund hier die Kompetenz fehlen; zwar könnte er
sich vielleicht auch insoweit auf die Regelungen zur Strafbarkeit konzentrieren
(und damit die diesbezügliche Kompetenzregelung des Art. 73 GG zugrunde
legen), doch wäre das Ergebnis wohl absurd: Der gedopt an einer Abiturprüfung
teilnehmende Schüler könnte zwar von der Strafjustiz verfolgt werden, die Abitur-
prüfung wäre aber – zieht der Landesgesetzgeber in seinen Regelungen nicht mit
dem Bund gleich – möglicherweise nicht von Rechts wegen zu beanstanden.

II. Eingriffe zur Steigerung der Leistungsfähigkeit


im Sport als „Human-Enhancement“
Im Folgenden soll es nicht weiter um Doping außerhalb des Sports gehen. Viel-
mehr sollen die strafrechtlichen Grenzen von Doping und anderen leistungssteigern-
den Eingriffen – ob physisch oder psychisch – in den Sportbetrieb dargestellt werden.
Die Grenzen zwischen dem von Merkel behandelten „Hirndoping“ und dem Sport-
doping sind freilich fließend.15 Daher kann – ganz im Sinne des Titels dieses Beitrags

13
Der Charakter des Anti-Doping-Gesetzes vor allem als eines speziellen Strafgesetzes
(vergleichbar dem Embryonenschutzgesetz) gibt m. E. aus Art. 74 Nr. 1 GG dem Bund auch
die Kompetenz zur Mitregelung einzelner in der Diskussion umstrittener Normen außerhalb
der unmittelbaren Strafnormen und der durch andere Kompetenztitel (z. B. Arzneimittelrecht)
gestützten Bestimmungen (vgl. Heger, in: Pfister [Hrsg.], Das Anti-Doping-Gesetz, 2016,
S. 25 ff., und in: medstra 2017, 205 ff.).
14
Dazu krit. Rössner, in: Lehner/Nolte/Putzke (Hrsg.), Anti-Doping-Gesetz, 2017, Vor
§§ 1 ff. Rn. 21 und Nolte, a.a.O., § 1 Rn. 54 ff.
15
Magnus, ZStW 124 (2012), 907, 911, und Grünewald, LK-StGB, 12. Aufl. 2018, Vor
§ 223 Fn. 2798.
1248 Martin Heger

– auch allgemein von Doping und anderen Eingriffen als einem „Human-Enhance-
ment“ gesprochen werden.16
Die Leistungssteigerung soll sich dabei allein auf der Ebene des Sportlers durch
Verbesserungen seiner physischen oder psychischen Verfassung zeigen. Ausgeklam-
mert sind damit das Doping von Tieren17, sonstige Manipulationen am Sportgerät18
sowie Korruption, die den Sportbetrieb ebenso wie Doping in seinen Grundfesten zu
erschüttern vermag und deshalb seit neuestem in §§ 265c ff. StGB unter Strafe ge-
stellt ist.19 Neben dem vom Anti-Doping-Gesetz nunmehr umfänglich erfassten Do-
ping des Sportlers sind hierzu unterhalb der sportverbandsrechtlichen Verbots-
schwelle liegende Medikationen zur Leistungssteigerung20 (etwa durch Ausweitung
des Trainingsspektrums unter Zuhilfenahme medizinisch nicht indizierter Schmerz-
mittel) sowie physische wie psychische medizinische Eingriffe mit Blick auf be-
stimmte Körperteile oder Funktionen zu nennen und zu untersuchen. In einem frü-
heren Beitrag zu dieser Thematik habe ich als Beispiel hierfür die Amputation des
gesunden Beins bei einem Sportler in Vorbereitung auf die Paralympics thematisiert,
deren Ziel es war, mit zwei gleichen Prothesen schneller als nur mit einer und einem
gesunden Bein laufen zu können.21
Denkbar sind natürlich auch operative „Umbaumaßnahmen“ an einem Körper
ohne Bezug zum Behindertensport; als Beispiel mag man an die – freilich historisch
nicht belegbare – griechische Legende denken, Amazonenkämpferinnen hätten sich
eine Brust amputiert, um dadurch beim Bogenschießen besser hantieren zu können.22
In eine nicht unähnliche Richtung zielen Diskussionen Mitte der 1970er Jahre im
Schwimmsport, also der dem Jubilar von Kindesbeinen an besonders vertrauten Ma-
terie. Mehr Auftrieb und damit eine bessere Lage im Wasser durch Luft im Darm
erschien in westlichen Ländern als Wunderwaffe im Kampf gegen gedopte Athleten
aus dem Ostblock;23 während bundesdeutsche Schwimmer bei der Olympiade in
Montreal 1976 sich im Rahmen der „Aktion Luftklistier“ Luft ins Gesäß blasen lie-

16
So Lindner, MedR 2010, 463, 464. – Zu verfassungsrechtlichen Aspekten vgl. nur Ruf,
Enhancements, 2014. Zu Neuro-Enhancement und Doping aus sportwissenschaftlicher Sicht
Spitzer, AUFGANG 16 (2019), 67 ff.
17
Zum Reitsport Ackermann, Strafrechtliche Aspekte des Pferdeleistungssports, 2007;
zum Doping von Brieftauben Schild, in: FS Kühl, 2014, S. 81 ff.
18
Dazu Schattmann, Betrug des Leistungssportlers im Wettkampf: Zur Einführung eines
Straftatbestandes im sportlichen Wettbewerb, 2008.
19
Vgl. insbes. Bösing, Manipulationen im Sport und staatliche Sanktionsmöglichkeiten.
Zur Notwendigkeit eines neuen Straftatbestandes gegen Bestechlichkeit und Bestechung im
Sport, Diss. jur. Marburg 2014; Heger, in: Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl. 2018, § 265d Rn. 1.
20
Zum „Fitspritzen“ durch einen (Sport-)Arzt vgl. Lutz, Die strafrechtliche Verantwortung
des Arztes bei der Betreuung von Spitzensportlern, 2014, und Heger, medstra 2015, 199 ff.
21
Heger, in: Michael Jahn u. a. (Hrsg.), Medizinrecht, 2015, S. 120, 123.
22
Vgl. nur Willmann, DIE ZEIT v. 2. 9. 2010 (online aktualisiert am 23. 5. 2017 – https://
www.zeit.de/2010/36/A-Amazonen).
23
Vgl. Schneider-Grohe, Doping im Hochleistungssport, 1979, S. 103 f.
Strafrechtliche Grenzen von Enhancements im Sport 1249

ßen,24 soll nach dem Bericht von Petry in Frankreich Schwimmerinnen dadurch zu
mehr Auftrieb im Becken verholfen worden sein, dass sie schwanger in den Wett-
kampf gehen und – sollten sie das Kind nicht wollen – danach eine Abtreibung vor-
nehmen.25 Eine derartig motivierte Schwangerschaft wird bis heute nicht vom Anti-
Doping-Reglement erfasst26 – und das sicher zu Recht. Denn anderenfalls würde man
auch im schlichten Umstand des (jedenfalls bewussten) Vorliegens „anderer Umstän-
de“ eine Manipulation der Chancengleichheit im Wettbewerb ausmachen müssen,
welche in der Konsequenz Frauen nicht nur bereits in der Frühphase ihrer Schwan-
gerschaft unabhängig von medizinischen Gründen zum Wettkampfausschluss zwän-
ge, sondern letztlich wohl auch im Frauensport regelmäßig Schwangerschaftstests
notwendig machen müsste. Dies erscheint zumindest überaus fragwürdig – nicht zu-
letzt angesichts der erst kürzlich kontrovers geführten Debatte über die Zulässigkeit
von Geschlechtstests sowie – daran anknüpfend – die Verpflichtung zur medizini-
schen Senkung des Testosteronspiegels (dazu näher unten).

III. Die denkbaren Eingriffe


Es lassen sich grundsätzlich drei Gruppen von Eingriffen unterscheiden, die zu
einer möglicherweise strafwürdigen und strafbedürftigen Verbesserung27 der
menschlichen Natur mit Blick auf zu erzielende sportliche Spitzenleistungen führen:
Solche Meliorationen der conditio humana können verursacht werden
- durch die Zufügung verbotener physisch und/oder psychisch wirkender Substan-
zen und schließlich (das „klassische“ Doping),
- durch mechanische (insbesondere, aber nicht nur operative) Eingriffe,
- durch mentale Einwirkungen, die nicht auf die körperliche Leistungsfähigkeit,
sondern auf die Psyche einwirken (z. B. Psychopharmaka, Hypnose, aber auch
wirkstofflose Placebos).
Diesen drei Fallgruppen möchte ich mich im Folgenden nähern, wobei die Rechts-
lage und auch tatsächliche Unterschiede zu einer Differenzierung drängen. Da Do-
24
Bette/Schimank, Doping im Hochleistungssport, 1995, S. 164; Herrmann, SZ Online v.
28. 9. 2011 (https://www.sueddeutsche.de/sport/doping-im-westdeutschland-der-siebziger-jah
re-frischluft-im-gesaess-1.1150500; zuletzt abgerufen am 20. 8. 2019).
25
Dazu Petry, Die Dopingsanktion, 2004, S. 252.
26
Strafbar wäre ein Abbruch im Lichte der Fristenlösung auch nur, wenn er nicht mehr
binnen der ersten 12 Wochen der Schwangerschaft vorgenommen werden kann und danach
auch kein Rechtfertigungsgrund eingreift – wie etwa die bei Gefahren für Leib und Leben der
Mutter, in der Praxis aber auch eine heute häufig angenommene medizinisch-soziale Indika-
tion angesichts der hohen psychischen Belastung bei einer drohenden Behinderung des Kin-
des; kritisch zu den dem geltenden Recht in §§ 218 ff. StGB zugrunde liegenden Prämissen
Merkel, in: NK-StGB, 5. Aufl. 2017, Vor §§ 218 ff. Rn. 13 ff.
27
Dazu in Hinsicht auf die Legitimierbarkeit einer Strafbewehrung auch von eigenver-
antwortlichem Selbstdoping des Sportlers vgl. nur Heger, SpuRt 2007, 153 ff.
1250 Martin Heger

ping als (zunächst) primär medikamentös durch den Missbrauch von Arzneimitteln
jenseits der Behandlung von Krankheiten hervorgerufene Leistungssteigerung histo-
risch wie auch aufgrund der hierzu schon seit längerem bestehenden Gesetzeslage
und internationalen Vorgaben sicherlich bislang medial wie fachjuristisch die meiste
Aufmerksamkeit erhascht hat, soll die Zufügung verbotener Substanzen als das bis-
lang bestdiskutierte Beispiel an die Spitze der Fallgruppen gesetzt werden.28

1. Die Zufügung leistungsfördernder Substanzen

Eine Leistungsförderung durch die Zufügung von Substanzen ist denkbar


• einerseits durch Stoffe, die im Körper physikalisch derart wirken, dass
- entweder die Körperkräfte wachsen bzw. das Kampfgewicht gesenkt oder
- dem Erfolg entgegenstehende Wirkungen wie das den Trainingsumfang be-
grenzende Schmerzempfinden eingeschränkt werden,
• andererseits indem einer Entfaltung der vollen Leistungsfähigkeit entgegenste-
hende Gefühle etc. unterdrückt werden. So kann in bestimmten Lagen die Aggres-
sion gesteigert, in anderen die vor oder während des Wettkampfs typischerweise
bestehende Aufregung medikamentös unterdrückt werden.
Nicht in diesem Sinne leistungsfördernd sind bloß maskierende Stoffe, deren ein-
ziger Zweck darin liegt zu verschleiern, dass jemand Dopingmittel eingenommen
hat, oder wenigstens eine nach dem Wettkampf genommene Dopingprobe unbrauch-
bar zu machen. Sie selbst bewirken dagegen weder physisch noch psychisch eine
Leistungssteigerung und sollen das auch gar nicht; ihre Einnahme ist damit für
das Leistungspotenzial des Sportlers bestenfalls neutral. Bedenkt man freilich,
dass regelmäßig auch solche Substanzen nicht frei von unerwünschten Nebenwir-
kungen sein werden, dürften sie – für sich betrachtet – häufig sogar eher schädlich
als nützlich für den Sportler sein. Dass sie gleichwohl in die Dopingverbotslisten auf-
genommen und darüber in § 4 AntiDopG inzwischen auch strafbewehrt sind, folgt
einzig aus ihrer Funktion, anderenfalls das Dopingkontrollsystem aus den Angeln
zu heben; es geht also nur um den Schutz der sportrechtlichen Verfahren als solchen
(dies lässt sich mit der Strafbewehrung der Strafvereitelung vergleichen – eine Straf-
barkeit des gedopten Sportlers gemäß § 258 StGB wegen deren Verschleierung durch
maskierende Stoffe oder auch auf anderem Wege ist freilich wegen des Selbstbegüns-
tigungsprivilegs des § 258 Abs. 5 StGB nicht strafbar29). Weil sie für sich keine Me-

28
Zum Verhältnis von Doping und Enhancement im Sport vgl. die Beiträge von Spitzer, in:
ders./Franke (Hrsg.), Sport, Doping und Enhancement, Bd. 1, 2010, S. 135 ff. und 255 ff.
sowie Bd. 2, 2011, S. 113 ff., sowie Pawlenka, in: Ückert/Mues/Joch (Hrsg.), Ethische As-
pekte des Sports, 2015, S. 109 ff.; aus juristischer Perspektive Merget (Fn. 3), S. 75 ff.
29
Merkel, ZStW 121 (2009), 919, 944 f., verneint für den nicht unähnlichen Fall der Ver-
unmöglichung einer wahrheitsgemäßen Zeugenaussage durch medikamentöse Manipulation
des Erinnerungsvermögens ebenfalls eine Strafbarkeit wegen § 258 StGB, freilich unter dem
Strafrechtliche Grenzen von Enhancements im Sport 1251

liorationen der Körperleistung bewirken (sondern durch andere Mittel bewirkte Me-
liorationen allenfalls verdecken) können, sollen sie freilich im hiesigen Kontext aus-
geklammert bleiben.
Da es mir vorliegend um die rechtliche Bewertung bzw. Strafbewehrung der un-
mittelbaren Bewirkung einer Melioration der Körperfunktionen geht, werden auch
die im Zuge des Anti-Doping-Kampfes vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten
massiv ausgebauten Regelungen zum Erwerb und Besitz von Dopingsubstanzen hier
nicht näher beleuchtet, obwohl sie bei Lichte besehen regelmäßig nur eine Vorstufe
der Anwendung der fraglichen Substanzen zur Leistungssteigerung im Sport darstel-
len.

a) Die Einnahme von Dopingsubstanzen

Doping im Sport, insbesondere in Form der Einnahme bzw. Verabreichung von


auf Dopinglisten vermerkten Substanzen durch bzw. an einen Sportler, ist bereits
seit mehr als einem halben Jahrhundert – und mithin auch zu der Zeit, als unser Ju-
bilar seinerseits olympischen Medaillen nachstrebte – sportrechtlich verboten (wobei
der Kreis verbotener Dopingsubstanzen angesichts verbesserter Beweismöglichkei-
ten, aber auch fortlaufender technischer Neuentwicklungen immer weiter gezogen
worden ist). In Deutschland wurde 1998 mit der Einfügung von Anti-Doping-Nor-
men in das AMG (§§ 6a, 95 a.F.) und in Umsetzung einer Europaratskonvention
von 1989 flankierend erstmals eine gesetzliche Regelung geschaffen, welche nicht
bloß dem im Zivilrecht verorteten Verbandsstrafrecht ein öffentlich-rechtliches Do-
ping-Verbot zur Seite stellte, sondern dieses zugleich strafrechtlich sanktionierte; ab
diesem Zeitpunkt war es zumindest theoretisch möglich, dass ein Dopingverstoß
neben einem Verbandsstrafverfahren auch ein Kriminalstrafverfahren initiierte. Frei-
lich war damals nur derjenige, der einem anderen ein Dopingmittel verabreichte, mit
staatlicher Strafe belegt, während das Verbandsstrafrecht typischerweise primär den
Sportler selbst als Adressat der Sanktion ansah. Allerdings war (und ist) es natürlich
auch möglich, verbandsrechtlich einen seinerseits dem Verbandsrecht unterliegen-
den Betreuer, Trainer, Funktionär etc. wegen seiner Mitwirkung am Doping eines
Sportlers zu sanktionieren (z. B. zu sperren); in einem solchen Fall konnte das gleiche
Verhalten zugleich auch Gegenstand eines auf § 95 AMG gestützten Strafverfahrens
vor staatlichen Gerichten sein.
Diese Situation hat sich 2015 grundlegend geändert, denn mit dem Anti-Doping-
Gesetz ist neben den Betreuern des Sportlers auch dieser selbst zum Täter seines Do-
pings erkoren worden. Auch er kann damit sowohl in einem Verbands- als auch in
einem Kriminalstrafverfahren als Täter auf der Anklagebank sitzen und mit der je-
weils zulässigen Sanktion (Sperre, Kriminalstrafe) belegt werden. Die im Februar
2019 von der deutschen und österreichischen Polizei in einer konzertierten Aktion

Gesichtspunkt, dieser Eingriff begründe mit Blick auf die Ermöglichung einer Strafverfolgung
durch eine Aussage nur ein Unterlassen, wobei die Manipulation des eigenen Körpers keine
Garantenstellung entstehen lasse.
1252 Martin Heger

namens „Aderlass“ verhafteten Personen sind daher neben einem Sportarzt und des-
sen Helfer auch einige Skilangläufer selbst, die z. T. in flagranti mit der Spritze in der
Armbeuge angetroffen wurden.30

b) Die Verabreichung von Dopingsubstanzen

Die Verabreichung von Dopingmitteln durch medizinisches Personal, Trainer,


Betreuer und andere Personen aus dem Umfeld des Sportlers, ja auch durch andere
im selben Wettkampf aktive Sportler, war bereits seit Aufnahme des in § 95 AMG
strafbewehrten Verbots von Doping im Sport in § 6a AMG im Jahre 1998 ausdrück-
lich unter Strafe gestellt.31 Soweit damit allerdings ein Eingriff in die körperliche Un-
versehrtheit des Sportlers verbunden war, galt bereits zuvor das in §§ 223 ff. StGB
allgemein pönalisierte Verbot vorsätzlicher und fahrlässiger Körperverletzungen.
Eine solche Strafbarkeit wurde vor allem angenommen, wenn der Sportler – wie
vor allem in der DDR – ohne sein Wissen gedopt wurde oder wenn er zur Tatzeit min-
derjährig war; beides wurde in der DDR seit den 1970er Jahren vielfach kombiniert,32
wobei schwerste gesundheitliche Folgen bei den noch im Wachstumsalter befindli-
chen Athleten in Kauf genommen worden sind, wie die strafrechtliche Aufarbeitung
einiger derartiger Fälle vor dem LG Berlin zutage förderte.
Soweit – wie wohl nicht selten – der Sportler volljährig war und durchaus wusste,
ja sogar wollte, dass ihm der „Doktor“ aus seinem „Schatzkästlein“ voller Medika-
mente „auf die Sprünge helfen“ möge, stellt sich bis heute die Frage, ob eine von
diesem Athleten in vollem Bewusstsein erklärte Einwilligung den dopenden Arzt,
Masseur, Betreuer etc. rechtfertigen kann oder ob § 228 StGB wegen Sittenwidrig-
keit der Tat einer solchen Rechtfertigung entgegensteht.33 Grob gesagt lässt sich über
die letzten drei Jahrzehnte insoweit eine argumentative Achterbahn nachzeichnen:
Bestanden vor allem anfangs durchaus Bedenken gegen das Verdikt der Sittenwid-
rigkeit, weil in einer Leistungsgesellschaft jeder eben alles aus sich herausholen kön-
nen muss (wenn er will), wurde nach Inkrafttreten von § 6a AMG darauf verwiesen,
dass diese Moral durch die legislatorische Absage an Doping im Sport konterkariert
sei.34 Nachdem der BGH dann 2003 in zwei Urteilen die Sittenwidrigkeit weitgehend
30
Dazu Heger, in AUFGANG 16 (2019), 99 ff. – Während der Niederschrift dieser Zeilen
kam es zur Festnahme eines weiteren Arztes.
31
Dazu Heger, SpuRt 2001, 92 ff.
32
Dazu näher Ulmen, Pharmakologische Manipulationen (Doping) im Leistungssport der
DDR, 2000; Spitzer, Doping in der DDR, 2018.
33
Merkel, ZStW 121 (2009), 919, 946 f., problematisiert § 228 StGB ebenfalls mit Blick
auf wenig riskante Eingriffe, welche – wie etwa die Implementierung kognitiver und senso-
rischer Fähigkeit, die weit außerhalb der menschlichen Speziesgrenze liegen – in mentaler
Hinsicht besonders gravierende Auswirkungen haben, verneint einen Einwilligungsausschluss
aber deswegen, weil § 223 StGB nur die Körperintegrität schützt.
34
Ausf. Heger, SpuRt 2001, 92, 93 f. – Zur Rechtslage vor Einfügung eines Doping-Ver-
bots ins AMG Kühl, in: Vieweg (Hrsg.), Doping, 1998, S. 84: „Das Ergebnis würde selbst von
den schärfsten Kritikern und restriktivsten Anwendern der Sittenwidrigkeitsschranke gebilligt,
Strafrechtliche Grenzen von Enhancements im Sport 1253

von ihrer sittlichen Basis gelöst und primär auf die Schwere der Folgen der Verlet-
zung abgestellt hat, wurden vielfach nur noch besonders schwer wiegende bzw. ge-
fährliche Dopingmaßnahme unter § 228 StGB gefasst; in jüngerer Zeit und erst recht
nach Inkrafttreten des AntiDopG ist nun wieder die Ansicht im Vordringen befind-
lich,35 dass für den Bereich von Doping im Sport der Gesetzgeber durch dessen Straf-
bewehrung in § 4 AntiDopG auch eine Wertung dahingehend getroffen hat, dass eine
Einwilligung des Sportlers der Tat nicht ihre Sittenwidrigkeit nehmen kann.36 Dafür
spricht auch die jüngste Judikatur des BGH, wonach die Verabredung von Hooligans
zu einer Schlägerei angesichts der Strafbewehrung der Beteiligung daran durch § 231
StGB zur Bejahung der Sittenwidrigkeit von im Zuge der Schlägerei erfolgten Kör-
perverletzungen im Sinne der §§ 223 ff. StGB führen soll.37

c) Die Mitwirkung im Wettkampf unter dem Einfluss


von Dopingsubstanzen

Vor allem um Auslandsdoping vor inländischen Wettkämpfen nicht zu begünsti-


gen, hat der Gesetzgeber mit § 4 Absatz 1 Nr. 4 AntiDopG auch die bloße Teilnahme
an einem Wettkampf in Deutschland im gedopten Zustand unter Strafe gestellt. Dabei
spielt es grundsätzlich keine Rolle, wie, wann und wo die Dopingsubstanzen in den
Körper des Athleten gelangt sind; insbesondere ist es irrelevant, ob das zugrunde lie-
gende Verhalten am Tatort – der Einnahme, Verabreichung etc. – strafbar oder auch
nur nach staatlichem Recht rechtswidrig ist. Allerdings knüpfen alle deutschen Anti-
Doping-Strafnormen an die weltweit sportrechtlich bindenden Doping-Verbote der
internationalen Sportverbände an, die wiederum für alle nationalen Sportorganisatio-
nen bindend sind. Damit ist ohnehin ausgeschlossen, dass das – zumindest in dubio
pro reo – im Ausland erfolgte Doping dort verbands- und damit sportrechtlich erlaubt
war.
Des Weiteren setzt § 4 Abs. 1 Nr. 5 AntiDopG aufgrund des Verweises auf § 3
Abs. 2 AntiDopG voraus, dass die Anwendung der Dopingsubstanz ohne medizini-
sche Indikation und in der Absicht, sich im sportlichen Wettkampf einen Vorteil zu
verschaffen, erfolgt ist. Ob der Sportler daneben von einem staatlichen und/oder
sportrechtlichen Verbot der betreffenden Substanz Kenntnis hat oder ob er zur
Zeit des Dopings davon ausgegangen ist, in Deutschland einen Wettkampf zu bestrei-
ten, ist für die Strafbarkeit irrelevant.

wenn das Doping von der Rechtsordnung außerhalb des Strafrechts mit einer der Körperver-
letzung vergleichbaren Schutzrichtung zu strafwürdigem Unrecht erklärt würde“. Ebenso
Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 507 f.
35
Vor allem vertreten von Sternberg-Lieben, ZIS 2011, 583, 601 und in: Schönke/Schrö-
der, StGB, 30. Aufl. 2019, § 228 Rn. 30.
36
Näher dazu Heger, in: GedS Tröndle, 2019, 427 f.
37
BGHSt 60, 166.
1254 Martin Heger

Wer mithin nichts von seinem Gedoptsein ahnt, kann allein durch die Wettkampf-
teilnahme in einem solchen Zustand auch nicht mit Kriminalstrafe belegt werden.
Sportrechtliche Sanktionen sind freilich möglich; das gilt vor allem für die Disqua-
lifikation in dem betreffenden Wettkampf selbst, aber auch – angesichts geringerer
Verschuldensmaßstäbe in Verbandsstrafverfahren gegen gedopte Sportler38 – für
Wettkampfsperren.
Eine ganz andere, lange völlig unterbelichtet gebliebene Frage ist dagegen, ob
derjenige, der sich durch Doping „Bärenkräfte“ geschaffen hat, andere Konkurrenten
auf strafrechtlich relevante Weise schädigt: sei es, dass er sie diese Kräfte etwa als
Boxer spüren lässt, gegen die sie – ohne Doping – möglicherweise machtlos sind und
deshalb Treffer um Treffer einstecken müssen, sei es, dass er in einem Wettbewerb –
etwa einer Bergetappe bei der Tour de France – die körperlich nicht ganz so gut aus-
gestatteten Konkurrenten zur völligen Überlastung bis hin zu einer Art Harakiri
treibt.

d) Exkurs: Testosteronsenkung im Frauensport

Ein derzeit – wenn auch nicht primär im Kreis der Strafrechtler – „heißes Eisen“
ist die Frage, ob man für Wettkämpfe im Frauensport nur Frauen zulassen darf, die
einen bestimmten Maximalpegel des Hormons Testosteron in ihrem Körper über
einen bestimmten Zeitraum vor dem Wettkampf nicht überschritten haben. Frauen,
die aufgrund angeborener körperlicher Besonderheiten einen höheren Testosteron-
spiegel haben, müssten diesen dann durch Medikamente für den genannten Zeitraum
auf das von den Sportverbänden für noch zulässig gehaltene Maß drücken. Anderen-
falls könnten sie lediglich noch an den Männerwettbewerben teilnehmen, hätten
damit aber im Regelfall kaum eine Siegchance.
Der Streit entzündet sich aktuell am Umgang mit der Leichtathletin Caster Se-
menya aus Südafrika, die 2009 in Berlin Weltmeisterin über 800 m geworden war
und einen im Sinne der Sportverbände für den Frauensport überhöhten Testosteron-
spiegel aufweist. Das verbandsrechtlich letztinstanzlich zuständige internationale
Sportschiedsgericht Court of Arbitration for Sport (CAS) in Lausanne hatte dem
Leichtathletik-Weltverband IAAF Recht gegeben und damit die Sportlerin zur Sen-
kung ihres Testosteronspiegels durch medikamentöse Eingriffe verpflichtet. Das zur
Überprüfung dieses Schiedsspruchs zuständige Schweizer Bundesgericht hat in einer
einstweiligen Anordnung die sofortige Wirkung des CAS-Urteils ausgeschlossen, so
dass Semenya bis zur endgültigen Entscheidung in der Hauptsache auch ohne Nach-
weis einer Testosteronreduzierung an Frauenwettkämpfen teilnehmen durfte.39 In der
Entscheidung in der Hauptsache ist das Bundesgericht dann freilich der Argumenta-

38
Zum verbandsrechtlichen Beweisrecht vgl. nur Merget, Beweisführung im Sportge-
richtsverfahren am Beispiel des direkten und indirekten Dopingnachweises, 2015.
39
Zeit Online v. 3. 6. 2019 (https://www.zeit.de/news/2019 - 06/03/semenya-darf-vorlaeufig-
wieder-ueber-kuerzere-strecken-laufen-190603 - 99 - 495893; abgerufen am 22. 7. 2019).
Strafrechtliche Grenzen von Enhancements im Sport 1255

tion des IAAF gefolgt und hat das CAS-Urteil doch noch bestätigt.40 Man mag diesen
Zick-Zack-Kurs des Bundesgerichts dahingehend verstehen, dass eine solche letzt-
lich geschlechtsspezifische Sonderbehandlung von Sportlerinnen zumindest proble-
matisch ist. Dafür sprechen auch gute Gründe: Zum einen bestünde ansonsten ein
faktischer Zwang für bestimmte Sportlerinnen, medizinische Eingriffe in ihren Hor-
monhaushalt vorzunehmen. Denn aufgrund der regelmäßig bestehenden Leistungs-
unterschiede im Frauen- bzw. Männersport dürfte die Alternative der Mitwirkung
einer Frau mit hohen Testosteronwerten im Männerbereich faktisch das Ende
ihrer Spitzensportkarriere bedeuten. Der Zwang zur Korrektur des eigenen Körpers
aber könnte die Menschenwürde tangieren.41 Zudem würden der Testosterontest und
die Pflicht, eine medizinische Korrektur vorzunehmen, letztlich eine geschlechtsspe-
zifische Sonderbehandlung allein von Sportlerinnen begründen. Letztlich würde der
Zwang zur Medikation den Gedanken, der hinter dem Doping-Verbot steht, wonach
die Wettkampfteilnahme nur mit einem möglichst unmanipulierten Körper erfolgen
soll, gleichsam konterkarieren, müssten Caster Semenya und Co. doch vor der Wett-
kampfteilnahme medikamentöse Veränderungen ihres Körpers vornehmen.
Dennoch bleibt ein generelles Problem: Denn Testosteron wirkt sich in vielen
Sportarten leistungsfördernd aus, so dass eine Athletin mit einem für Frauen weit
überhöhten Testosteronspiegel wahrscheinlich leistungsfähiger und damit erfolgrei-
cher ist als ihre Konkurrentinnen mit einem geringeren Testosteronwert. Testosteron
war über lange Zeit sogar das beliebteste Dopingmittel überhaupt, so dass man – bös-
artig zugespitzt – als Alternative für eine medizinische Reduktion des Testosteron-
spiegels bei einer Athletin auch schlicht im Interesse von Chancengleichheit ihren
Konkurrentinnen ein Doping mit Testosteron – mindestens bis zum höchsten Wert
der Konkurrentinnen – erlauben könnte.42 Dies aber widerspricht dem Sportver-
bandsrecht und wäre unter Geltung des deutschen AntiDopG auch strafbar, denn al-
lein der Wunsch nach einem künstlich bewirkten Ausgleich körperlicher Vorteile ein-
zelner Wettkämpfer kann das Doping der insoweit weniger gut ausgestatteten Sport-
ler nicht rechtfertigen. Andererseits: Im Sport bringen manchmal körperliche An-
omalien Vorteile, sei es die Körperlänge im Basketball43 oder – für den Jubilar
vielleicht noch nachvollziehbarer – die „bratpfannengroßen Hände“ des Schwimm-
stars Michael Phelps.44
40
SZ online v. 30. 7. 2019 (https://www.sueddeutsche.de/sport/caster-semenya-testosteron-
leichtathletik-1.4547058; abgerufen am 9. 8. 2019).
41
So Schürmann, Die Würde ist unantastbar, FAZ Online v. 5. 6. 2019 (https://www.faz.net/
aktuell/sport/sportpolitik/leichtathletik-weltverband-ueber-den-fall-von-caster-semenya-
16215280-p4.html; abgerufen am 22. 7. 2019).
42
Ein männlicher Sportler konnte bei krankhaft niedrigem Testosteronspiegel für die
Testosterongabe eine medizinische Ausnahmegenehmigung bekommen (vgl. Radalewski, in:
Spitzer/Franke, Sport, Doping und Enhancement, Bd. 2, S. 151 f.).
43
Vgl. Lambertz, lto v. 2. 5. 2019 (https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/cas-urteil-cas
ter-semenya-hormon-testosteron-grenzwert-regelung-rechtmaessig/; abgerufen am 9. 8. 2019).
44
Vgl. nur Boewe, Welt online v. 15. 8. 2008 (https://www.welt.de/sport/olympia/article
2305322/Das-Gold-Geheimnis-des-Michael-Phelps.html; abgerufen am 9. 8. 2019).
1256 Martin Heger

2. Mechanische Eingriffe

Unter mechanischen Eingriffen sind „Umbaumaßnahmen“ am Körper des Athle-


ten selbst gemeint, sei es durch die Wegnahme von Körpersubstanz oder durch die
Hinzufügung von Prothesen oder Implantaten. Da es um Verbesserungen des
menschlichen Körpers mit Blick auf die mit selbigem betriebene Sportart geht,
sind einerseits alle Eingriffe, die bloß der besseren Vermarktbarkeit dienen (z. B.
Zahnersatz für ein lückenloses Lächeln beim Einsatz eines Sportlers als Werbeträ-
ger), ebenso wenig Teil der Betrachtung wie andererseits alle Manipulationen am
Sportgerät.45
Ein mechanischer Eingriff im hier interessierenden Sinne läge dagegen etwa in
der Amputation oder operativen Verkleinerung einer gesunden Brust, um beim Bo-
genschießen eine bessere Position zu erlangen. Operative Verkleinerungen der weib-
lichen Brust können medizinisch indiziert sein – etwa wenn die Brustgröße zu Rü-
ckenproblemen führt –, genauso denkbar ist es aber auch, dass es sich um bloße
Schönheitsoperationen handelt,46 wenn und soweit eine kleinere Brust aus ästheti-
schen Gründen angestrebt wird. In beiden Fällen ist eine Operation – natürlich
nur bei Vorliegen einer wirksamen Einwilligung – rechtmäßig; das Gleiche müsste
im Sportbereich selbst dann gelten, wenn eine Verkleinerung nur einer Brust vorge-
nommen und diese ggf. nach Ende der Sportkarriere durch eine Wiedervergrößerung
rückgängig gemacht werden kann und soll, denn mit einer solchen Veränderung der
Brustgröße sind weder die in § 226 Abs. 1 StGB genannten Folgen typischerweise
verbunden, was für eine Sittenwidrigkeit der Einwilligung nach oben genannter
Rechtsprechung wohl entscheidend wäre, noch handelt es sich um eine als Doping
verbotene Methode.
Mechanische Eingriffe in die Körperintegrität können, müssen aber nicht dauer-
haft sein. So handelt es sich sowohl bei der Amputation gesunder Gliedmaßen im
Interesse höherer Leistungsfähigkeit im Behindertensport als auch bei der – der
Natur der Sache gemäß notwendig zeitlich begrenzten – Schwangerschaft zur Ver-
besserung der Schwimmfähigkeit um solche Eingriffe, obwohl nur ersterer eine dau-
erhafte Veränderung des Körpers darstellt, während die Schwangerschaft – auch
wenn es nicht zu dem oben erwähnten Abbruch kommt – in jedem Fall spätestens
mit der Geburt des Kindes ein Ende finden muss.
Der wohl simpelste Versuch einer – je nach Sportart unterschiedlich einsetzbaren
– mechanischen Einwirkung auf die Körpersubstanz ist die Ernährung. In vielen
Sportarten wirkt sich ein geringes Gewicht positiv aus; die Folge sind dann Essstö-
rungen, wie sie etwa von Skispringern berichtet worden sind. In Kraftsportarten und

45
Dazu Schattmann, Betrug des Leistungssportlers im Wettkampf: Zur Einführung eines
Straftatbestandes im sportlichen Wettbewerb, 2008.
46
Dazu ausf. Wagner, Die Schönheitsoperation im Strafrecht, 2015 und schon dies. (unter
dem Geburtsnamen Joost), in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts,
4. Aufl. 2010, S. 383 ff.
Strafrechtliche Grenzen von Enhancements im Sport 1257

wenn ohnehin bereits die schwerste Gewichtsklasse erreicht ist, kann dagegen auch
ein Zufüttern zur Erhöhung der Standfestigkeit oder von Nehmerqualitäten und
damit zum Erfolg beitragen. Manchmal wird solchen Tendenzen durch Mindestge-
wichte oder – wenn wie beim Bobfahren die Kilos die Beschleunigung erhöhen –
durch Ausgleichsgewichte entgegengewirkt. Kommt es insoweit zu Manipulationen
und darauf aufbauend zu einer finanziellen Bereicherung des zu leichten oder zu
schweren Athleten, ist das zwar nicht nach dem AntiDopG strafbar, kann aber
eine Strafbarkeit wegen Betrugs i. S. von § 263 StGB begründen.
Eine mechanische Melioration eines Athletenkörpers stellt es auch dar, wenn von
Geburt oder später krankheits- bzw. unfallbedingt geschädigte Gliedmaßen durch
Prothesen ersetzt werden. Dass damit am Behindertensport teilgenommen werden
kann, ist völlig unstreitig. Eine andere, immer wieder gestellte Frage ist, ob ein Sport-
ler mit einer Prothese in diesem Zustand an einem Wettbewerb, der eigentlich für
Sportler ohne eine solche technische Hilfe ausgeschrieben ist, teilnehmen kann. Bei-
spiele hierfür gibt es aus jüngerer Zeit. So nahm der beidseitig beinamputierte Süd-
afrikaner Oskar Pistorius nach einem juristischen Tauziehen bei der Olympiade in
London 2012 schließlich an der 4 x 400 m-Staffel der nichtbehinderten Sportler
teil. Davor wurde allerdings gegen einen Start eingewandt, dass in bestimmten Lauf-
phasen – nämlich den Geraden – die Prothesen Vorteile bringen könnten; der CAS
ließ gleichwohl seinen Start zu, weil in den Kurven auch Nachteile bestehen würden.
Hätte es sich um einen 100 m-Sprinter gehandelt, wäre schon dieser Präzedenzfall
vielleicht anders beurteilt worden. Mit solchen Zweifeln hinsichtlich der exakten
Vergleichbarkeit der Kraftentfaltung bzw. der Beschleunigungswirkung begründete
dann schließlich der Deutsche Leichtathletikverband (DLV), dass er 2014 den hin-
sichtlich seiner Sprungweiten qualifizierten Weitspringer Markus Rehm nicht für
die Leichtathletik-EM der nichtbehinderten Sportler nominierte. Dieses Resultat
mag man im Lichte der heute generell angestrebten Inklusion in Frage stellen; allein
für den Sportbetrieb ist die Chancengleichheit in einem engen Sinne maßgeblich, so
dass wohl allenfalls, wenn künstliche Veränderungen des Körperbaus bzw. der Glied-
maßen letztlich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – und sei es wie bei
Pistorius nach einer Saldierung von Vor- und Nachteilen – nicht zu einer Verbesse-
rung der Position des betreffenden Sportlers führen können, ein Sportler mit einer
Prothese an einem Wettkampf außerhalb des paralympischen Bereichs zugelassen
werden kann. Strafrechtlich relevant ist der Einsatz von Prothesen auch dann
nicht, wenn er mutmaßlich zu einer Verschlechterung der Chancen der Konkurrenten
führt; ein Betrug wäre nämlich nur bei einem täuschenden, d. h. auf Verdeckung ge-
richteten, Vorgehen überhaupt denkbar, wie es hier gerade nicht in Rede steht. Und
dass behinderte Sportler häufig verkrüppelte Beinglieder etc. operativ entfernen las-
sen, um einen besseren Ansatzpunkt für die Prothese zu haben, ist angesichts der an-
gestrebten Verbesserung z. B. der Gehfähigkeiten medizinisch indiziert, so dass die
dahin gehende Einwilligung selbst bei Kindern durch ihre Eltern trotz des Verlusts
eines Gliedes des Körpers i. S. von § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht an der Schranke
von § 228 StGB scheitert (selbst wenn der verkrüppelte Unterschenkel o. Ä. vor sei-
1258 Martin Heger

ner Amputation etwa noch stark eingeschränkte Funktionen ermöglichen konnte, so


dass die Wichtigkeit dieses Gliedes47 nicht per se wegen völliger Nutzlosigkeit in
Frage gestellt werden konnte).
Welche auch ethisch durchaus fragwürdige Argumentation vor allem bei dauer-
haften mechanischen Meliorationen denkbar ist, zeigt schließlich ein Fall aus Groß-
britannien, der vor fünf Jahren auch in Deutschland durch die Presse geisterte:48 Ein
damals 15-jähriges Mädchen, dem aus medizinischen Gründen ein verkrüppeltes
Bein amputiert worden war, hatte mit einer Prothese und dem gesunden anderen
Bein große Erfolge in paralympischen Laufwettbewerben erzielt. Schließlich führte
aber die ungleiche Belastung dazu , dass das gesunde Bein bei fortgesetztem Sport-
betrieb überlastet wurde und dadurch Entzündungen entstanden; diese hätten durch
einen Verzicht auf den Leistungssport ausgeheilt werden können, doch das wollte das
Mädchen nicht. Vielmehr strebte es eine Amputation auch des gesunden Beines an,
denn nach beidseitiger Amputation wäre eine Ungleichbelastung ausgeschlossen ge-
wesen, so dass der Leistungssport – nunmehr gestützt auf zwei Prothesen – fortge-
setzt hätte werden können.49
Seit vielen Jahren gibt es eine auch (straf-)rechtliche Debatte über den Umgang
mit Personen, die – losgelöst von sportlicher Motivation und ohne sonstigen körper-
lichen Anlass – allein aus psychischen Gründen die Amputation eines Körperteils
wünschen. Soweit solche Patienten volljährig und im Vollbesitz ihrer geistigen Kräf-
te sind, steht einer Einwilligung grundsätzlich nichts entgegen. Problematisch ist
aber, dass diese Einwilligung nach deutschem Strafrecht den Eingriff dann nicht
rechtfertigen kann, wenn die Tat – die Körperverletzung durch die Amputation –
gegen die guten Sitten verstößt (§ 228 StGB). Maßstab hierfür ist in der Rechtspre-
chung des BGH seit 200350 vor allem die mit der Tathandlung verbundene Folge, d. h.
hier der Verlust eines Körperteils. Erreicht diese das Stadium einer schweren Körper-
verletzung im Sinne von § 226 StGB, was bei der Amputation von Gliedmaßen der
Fall ist, ist die Einwilligung eigentlich unwirksam. Das kann freilich nicht in jedem
Fall gelten, schon weil es Konstellationen gibt, in denen ohne eine Amputation eines
Körpergliedes für den übrigen Körper erhebliche Gefahren bis hin zu einer Lebens-
gefahr drohen. In einem solchen Fall kann die Einwilligung in eine medizinisch in-

47
Dazu nur Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl. 2018, § 226 Rn. 3.
48
Die Ausführungen folgen weitgehend meinem Beitrag in: Michael Jahn et al. (Hrsg.),
Medizinrecht, 2015, S. 120, 149 ff.
49
Vgl. DER SPIEGEL v. 6. 10. 2014: „Schülerin plant Amputation: ,Wenn mein Bein ab
ist, kann ich schneller rennen‘“ (http://www.spiegel.de/schulspiegel/leben/paralympics-teilnah
me-schuelerin-will-bein-amputieren-lassen-a-995571.html; zuletzt abgerufen am 19. 7. 2019).
50
BGHSt 49, 166. Das Urteil ist von den meisten Stimmen in der Lit. begrüßt worden (z. B.
Gropp, ZJS 2012, 602 ff.), während andere – und m. E. auch nicht ohne Grund – durchaus
kritisch angemerkt haben, dass damit der BGH der Sache nach das in § 228 StGB vom Ge-
setzgeber explizit vorgegebene Sittenwidrigkeitsurteil über die Tat der Sache nach preisge-
geben hat (so namentlich Kühl, FS Schroeder, 2006, S. 521 ff.; dagegen begrüßt etwa Gropp
gerade diese Abkehr von der Sittenwidrigkeitsbewertung).
Strafrechtliche Grenzen von Enhancements im Sport 1259

dizierte Amputation natürlich nicht mit Blick auf eine Sittenwidrigkeit des „kleine-
ren Übels“ (etwa des Verlusts eines Beines statt des Lebens) verunmöglicht werden.
Ausreichend ist auch schon, wenn die Amputation eines verkrüppelten Gliedes er-
folgt, um – wie bei dem Mädchen bei seiner ersten Amputation – dadurch den Einsatz
einer Prothese zu erleichtern. Vor diesem Hintergrund wird man dagegen wohl die
Sittenwidrigkeit der Tat trotz Einwilligung bei bloß psychisch motivierten Amputa-
tionen in der Regel bejahen müssen. Eine Ausnahme kommt in Betracht, wenn da-
hinter ein manifestes psychiatrisches oder psycho-somatisches Krankheitsbild
steckt. Ein bloß ästhetisch motiviertes Verstümmelungsverlangen könnte daher
m. E. keinen deutschen Operateur rechtfertigen.
In einem Fall wie dem des Mädchens aus Großbritannien wäre nach Eintritt der
Volljährigkeit mithin eine rechtmäßige Amputation nach deutschem Recht möglich,
sofern sie zur Heilung eines Krankheitsbildes erforderlich wäre. Das kann man hier
nicht per se verneinen, denn angesichts des Trainings- und Sportbetriebs ist ja eben
das vormals gesunde Bein regelmäßig entzündet. Dessen Entzündung wäre durch
Amputation denklogisch zu beheben. Allerdings würde eben auch die Aufgabe
des Leistungssports zum gleichen Ergebnis – Abklingen der Entzündungen im
grundsätzlich gesunden Bein – führen. Kann man diese mögliche, aber von der Sport-
lerin nicht gewollte Alternative in Rechnung stellen und ihr damit eine Amputation
verweigern? Ich meine nein: Denn die grundlegende Freiheit zu tun und zu lassen,
was einem beliebt, sowie die Möglichkeit, durch die Ausübung eines Profisports
Ruhm und Geld zu verdienen, dürfen nicht dadurch in Frage gestellt werden, dass
man dem Sportler eine mögliche ärztliche Behandlung verweigert, obwohl diese –
und sei es wegen des Sports – medizinisch indiziert ist.
Die Rechtslage wird freilich komplizierter, solange die Sportlerin noch minder-
jährig ist. Natürlich können bei Kindern die Eltern in körperliche Heileingriffe ein-
willigen; das erfasst auch die Amputation von kranken oder verkrüppelten Gliedma-
ßen, wenn diese medizinisch angezeigt scheint. Auch wäre es in einem solchen Fall
wohl an den Eltern, für ihr Kind zu entscheiden. Anders als die Geschäftsfähigkeit im
Zivilrecht richtet sich die für eine Einwilligung in einen ärztlichen Eingriff erforder-
liche Einsichtsfähigkeit zwar nicht nach den starren Vorschriften der Volljährigkeit,
so dass es darauf ankommen müsste, ob das Kind angesichts seiner individuellen
Reife bereits die Konsequenzen des gewünschten Eingriffs (unter Einschluss der
Spätfolgen) einschätzen und nach dieser Einsicht entscheiden kann. Das wird man
aber bei einem derart gravierenden, offensichtlichen und irreversiblen Eingriff im
Regelfall wohl erst kurz vor der Volljährigkeit annehmen können. Damit stellt
sich vorliegend die Frage, ob die Eltern – sollten sie den Wunsch ihres Kindes teilen
– aus deutscher Sicht wirksam in den Eingriff einwilligen könnten. Über die Mög-
lichkeit von Eltern, über irreversible, medizinisch nicht indizierte Eingriffe bei ihren
Kindern zu entscheiden, ist vor allem mit Blick auf die Knabenbeschneidung, aber
auch das Ohrlochstechen diskutiert worden. Für die Knabenbeschneidung hat der
Gesetzgeber durch Einfügung von § 1631d BGB im Zivilrecht eine auch für das
1260 Martin Heger

Strafrecht verbindliche Regelung getroffen,51 die sich allerdings angesichts des kon-
kreten und relativ engen Anwendungsbereichs nicht auf andere Fälle übertragen
lässt. Bei Minderjährigendoping wird hingegen angenommen, eine Einwilligung
der Eltern sei angesichts eines Verstoßes gegen das Kindeswohl unbeachtlich;52 al-
lerdings ist Doping im Sport ohne eine medizinische Indikation auch in § 6a AMG
per se verboten.
Aber von solchen Fällen unterscheidet sich der vorliegende wiederum dadurch,
dass es eben doch einen medizinischen Grund für die Amputation gibt, der allerdings
durch eine Änderung des Lebenswandels – sprich: einen Verzicht auf den Leistungs-
sport – aus der Welt geschaffen werden könnte. Sicher ist, dass die Eltern nicht eine
solche Amputation fordern könnten, wenn das Kind selbst lieber den Sport aufgeben
würde (das folgt schon daraus, dass es ja um den unbedingten Wunsch zur Fortset-
zung der Sportkarriere geht); umgekehrt könnte man aber einwenden, dass es sich
bloß um eine zeitliche Verschiebung der Entscheidung bis zur Volljährigkeit (oder
eben Einsichtsfähigkeit) handeln würde. Danach könnte das Kind selbst abwägen,
ob es lieber seinen Sport auf Wettkampfniveau betreiben oder zur Erhaltung des ge-
sunden Beins „kürzer treten“ möchte.
Nun ist es aber ein Spezifikum sportlicher Ausbildung, dass ein zeitweiliger Ver-
zicht insoweit Spätfolgen hat, als der Trainingsrückstand normalerweise nicht wieder
gut gemacht werden kann. Müsste das Kind zwischenzeitlich den Sport aufgeben,
wäre es ihm nach Erreichen der Volljährigkeit kaum möglich, wieder Anschluss
zu gewinnen. Abgesehen davon wären die zwischenzeitlich realistisch erreichbaren
Sportwettkämpfe wie die nächsten Paralympics im rechtlichen Sinne „unmöglich“,
weil ihrer Natur nach nicht wiederholbar. Insofern sind die Eltern in einem echten
Dilemma; die Sportkarriere jetzt und in Zukunft kollidiert mit der Körperintegrität
bis zum späten Alter. In einem solchen Fall würde ich den Eltern, folgten sie dem
klaren und längerfristig untermauerten Wunsch ihres Kindes, nicht absprechen wol-
len, dass sie in die nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführte Amputation
einwilligen können. Erforderlich ist allerdings angesichts der optischen und funktio-
nalen Offensichtlichkeit und Irreversibilität des Eingriffs, dass dieser nicht ad hoc
vorgenommen wird; und zwar auch dann, wenn sich das Problem erst kurz vor
einem wichtigen Wettkampf stellen sollte. Notwendig ist daher sicher eine Art Ka-
renzzeit.

3. Mentale Eingriffe

Besonders nahe an das im Mittelpunkt des Beitrags des Jubilars stehende Neuro-
enhacement heran reichen bloß mentale Eingriffe bei (Spitzen-)Sportlern. Da – so
zumindest ein Gemeinplatz, welchen der Jubilar als ehemaliger Olympionike freilich
51
Dazu krit. Merkel, SZ online v. 30. 8. 2012 (https://www.sueddeutsche.de/wissen/be
schneidungs-debatte-die-haut-eines-anderen-1.1454055; abgerufen am 9. 8. 2019).
52
Fiedler, Das Doping minderjähriger Sportler, 2014, S. 81 ff.
Strafrechtliche Grenzen von Enhancements im Sport 1261

selbst überprüfen kann (was dem Autor dieses Beitrags in Ermangelung dieser be-
sonderen persönlichen Eigenschaft nicht möglich ist) – über den Erfolg im Spitzen-
sport auch im Kopf entschieden wird, erscheinen mentale Eingriffe nicht weniger er-
folgsversprechend als durch Doping gesteigerte Körperkräfte (nicht umsonst wird
gerade bei erfolgreichen Sportlern immer wieder darauf verwiesen, es seien nicht
nur „Kraftpakete“, sondern eben auch wahre „Mentalitätsmonster“). Merkel unter-
scheidet mit Blick auf Neuroenhancement drei mentale Ziele bzw. Zustände:
„(1.) Enhancement kognitiver Fähigkeiten, v. a. Erinnerungsvermögen, Konzentrationsfä-
higkeit, ,exekutive‘ Funktionen;
(2.) Enhancement emotionaler Zustände : Stimmungen, Charakterzüge (z. B. Empathiefä-
higkeit), soziale Neigungen, etc.;
(3.) Enhancement motivationaler Zustände, einschließlich der Möglichkeit eines ,morali-
schen Enhancements‘– etwa durch neuro-pharmakologische Dämpfung aggressiver Antrie-
be.“53

Je nach Sportart und Situation mögen derartige Neuroenhancements auch für


einen Spitzensportler erfolgsversprechend sein, kann es doch in bestimmten Sport-
arten besonders auf Konzentrationsfähigkeit und Ruhe, in anderen vielleicht mehr
auf Aggressivität ankommen. In Ansehung möglicher Techniken unterscheidet Mer-
kel hier weiter genetische, pharmakologische, elektro-magnetische, chirurgische und
opto-genetische Eingriffe.54 Schon vor zehn Jahren konnte er dafür jeweils eingän-
gige, wenngleich doch noch schwer vorstellbare Beispiele benennen. Inzwischen
sind wir – auch wenn ich als Nichtnaturwissenschaftler hierzu nichts Valides vorzu-
tragen vermag und mich deshalb auch auf eine normative Betrachtungsweise be-
schränken möchte – sicher noch weiter gekommen. Einige pharmakologische Ein-
griffe sind im Sport schon länger als Doping verboten (z. B. Methylphenidate [Han-
delsname „Ritalin“]).55
Die von Merkel genannten Eingriffe könnten – soweit nicht schon geschehen –
von den Sportverbänden als Mittel (z. B. bei pharmakologischen Eingriffen) oder
Methoden verboten werden. In der Logik des AntiDopG, welches ja den Einsatz
der verbandsrechtlich verbotenen Mittel und Methoden seinerseits kriminalisiert,
wären bzw. sind diese Formen eines sportzentrierten Neuroenhancements dann
ohne weitere Änderung des Strafrechts pönalisiert.

IV. Fazit
Das AntiDopG verbietet heute bereits eine Vielzahl von Enhancements mit Blick
auf den (wie die aktuellen Fälle zeigen: nicht nur, aber auch Spitzen-)Sport. Da dieses
53
Merkel, ZStW 121 (2009), 919, 932.
54
Merkel, ZStW 121 (2009), 919, 932 f.
55
Vgl. Spitzer, in: ders./Franke (Hrsg.), Sport, Doping und Enhancement, Bd. 2, S. 139,
142 f.
1262 Martin Heger

erste Sportstrafgesetz seiner Struktur nach darauf ausgerichtet ist, die durch die
Sportverbände als Dopingmittel und -methoden klassifizierten und damit sportrecht-
lich verbotenen Eingriffe in die Leistungsfähigkeit der Athleten durch eine Strafbe-
wehrung auch staatlicherseits zu kriminalisieren, lässt es sich unschwer an aktuelle
oder erst in der Zukunft sich abzeichnende Dopingszenarien anpassen. Das gilt auch
für mentale Eingriffe zum Zweck besserer Leistungen oder größerer Erfolge im
Sportbetrieb.
Dass damit auch das Neuroenhancement im Sport punktuell bereits pönalisiert ist,
während solches für die vom Jubilar vor rund zehn Jahren skizzierten Fälle mentaler
Enhancements außerhalb des Sports trotz der entsprechenden Vorschläge noch nicht
der Fall ist, ist auch im Lichte der Verfassung nicht zu beanstanden. Da die körper-
liche Leistungsfähigkeit wie auch deren – mental beeinflussbare – Abrufbarkeit unter
Wettkampfbedingungen elementar ist, ist es nicht willkürlich und damit verfassungs-
widrig, wenn der Gesetzgeber bestimmte Formen körperlicher und/oder mentaler
Enhancements allein für den (m. E. freilich: Spitzen-)Sport mit Strafe bewehrt;
das gilt zumindest dann, wenn die entsprechenden Eingriffe auch einen Bezug
zum sportlichen Wettkampf haben und die Kriminalisierung mithin zur Chancen-
gleichheit innerhalb eines entsprechenden Wettbewerbs beitragen soll.
Dass das AntiDopG zuletzt zur Grundlage für Razzien in Fitnessstudios gemacht
wurde, ist zwar vom Gesetzeswortlaut gedeckt, überschreitet m. E. aber eigentlich
den Sinn eines (Spitzen-)Sportstrafrechts jedenfalls dann, wenn auch Bodybuilder
zu Dopingsündern werden,56 die gar nicht im Hinblick auf einen sportlichen Wett-
kampf trainieren. Körperliche Höchstleistungen allein als Teil optischer oder ideeller
Selbstoptimierung des Athleten ohne denkbaren Bezug zu potenziellen Konkurren-
ten mag man als Ausdruck von deren Autonomie straffrei lassen. Solche Enhance-
ments sollten daher in Zukunft auch im Sportbereich wieder straflos möglich bleiben.

56
Bott/Kohlhof, Das Doping-Strafrecht erreicht Deutschlands Fitnessstudios, lto v. 18. 7.
2019 (https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/razzia-anti-doping-gesetz-freizeitsport-fitness
studios-strafmass-anwaelte/; abgerufen am 22. 7. 2019). Dazu krit. auch Fischer, Spiegel
Online v. 1. 8. 2019 (https://www.spiegel.de/panorama/justiz/doping-profis-menschen-regeln-ko
lumne-a-1279818.html; abgerufen am 9. 8. 2019).
VI. Strafverfahrensrecht
Frankfurter Strafprozessunordnung
Der Kaufhausbrandstifterprozess von 1968
als epochemachender Schauplatz politischer Inszenierung

Von Matthias Jahn und Sascha Ziemann

I. Ein Stück strafjuristischer Zeitgeschichte


Die Hoffnung, mit einem Beitrag an der Grenze zwischen juristischer Zeitge-
schichte und gesellschaftlicher Protestforschung zu der Festschrift für Reinhard Mer-
kel nicht falsch zu liegen, trügt uns hoffentlich nicht, zeigt doch der Destinär seit lan-
gem ein hellwaches Interesse für gesellschaftliche Konfliktlagen und die dahinter
stehenden, meist unausgesprochenen kommunikativen Agenden der beteiligten ge-
sellschaftlichen Akteure.
Im Mittelpunkt soll ein Gerichtsurteil stehen, das nicht nur in Frankfurt Gegen-
stand kollektiver Erinnerung an die bewegten Zeiten von „68“ ist, sondern auch
ein Stück bundesrepublikanischer Geschichte geschrieben hat, da es in seiner direk-
ten Folge zur Entstehung der linksterroristischen Rote-Armee-Fraktion (RAF) kam.
Die Berliner Befreiungsaktion vom 14. Mai 1970, dann schon unter Beteiligung der
Journalistin Ulrike Meinhof, wurde aufgrund des hier analysierten Frankfurter Ur-
teils erforderlich, das Andreas Baader zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt hatte.
Sie jährt sich also in diesen Tagen zum fünfzigsten Male.

II. Von imaginierten und tatsächlichen Brandstiftungen –


Der Frankfurter Kaufhausbrandstifterprozess
und das Jahr 1968
In der Nacht vom 2. auf den 3. April 1968 brach in zwei Kaufhäusern auf der
Einkaufsmeile Zeil in der Frankfurter Innenstadt Feuer aus. Die Brände konnten
schnell gelöscht werden. Sie verursachten, vor allem durch das Löschwasser
und die Sprinkler-Anlagen bedingt, allerdings hohen Sachschaden. Verletzt
wurde niemand, obwohl sich des Nachts sowohl im Kaufhof als auch im Kaufhaus
M. Schneider Menschen (Nachtwächter, Handwerker) befanden. Die Ursache war
zunächst unklar, aber die fast gleichzeitige Entstehung der Brände legte Brandstif-
tung nahe. Schon zwei Tage später konnten aufgrund konkreter Hinweise aus der
1266 Matthias Jahn und Sascha Ziemann

Bevölkerung vier junge Leute unter dringendem Tatverdacht festgenommen wer-


den: der 24-jährige Journalist Andreas Baader, die 27-jährige Germanistikstuden-
tin Gudrun Ensslin, der 26-jährige Student Thorwald Proll und der 25-jährige
Schauspieler Horst Söhnlein.1 In ihrem Besitz wurden Teile von Weckern, Klebe-
band und Zettel gefunden, auf denen Chemikalien für Explosionskörper verzeichnet
waren.
Da man den sich zunächst schweigend verteidigenden Beschuldigten enge Bezie-
hungen zu extremistischen studentischen Gruppen der Außerparlamentarischen Op-
position (APO) zuschrieb, wurde die Tat von Anfang an in einen politischen Kontext
gestellt. Dafür sprach auch, dass zwei Wochen zuvor in Berlin ein Verfahren gegen
die Erzkommunarden Fritz Teufel und Rainer Langhans zu Ende gegangen war, in
dem der Tatvorwurf gewesen war, in Flugblättern zu einer Brandstiftung an Waren-
häusern aufgefordert zu haben. Die inkriminierten Flugblätter hatten trotz „aller
menschlichen Tragik“ mit „Bewunderung“ auf die Brandkatastrophe in einem Brüs-
seler Kaufhaus mit 300 Toten reagiert und bedauert, „jenes knisternde Vietnamge-
fühl (dabei zu sein und mitzubrennen)“ in Berlin bislang „noch missen“ zu müssen.2
Die Kommunarden waren freigesprochen worden, nachdem das Gericht, unterstützt
durch Gutachten von Literaturwissenschaftlern und Schriftstellern, den Äußerungen
der Angeklagten eine „satirische Note“ zuerkannt hatte.3
Nun also hatten tatsächlich Kaufhäuser gebrannt. Der Prozess gegen die mutmaß-
lichen Brandstifter, der am 14. Oktober 1968 vor der 4. Großen Strafkammer des
Landgerichts Frankfurt am Main begann, nahm – für spätere Maßstäbe eher überra-
schend – nur sieben Verhandlungstage in Anspruch.4 Die Anklage lautete auf voll-

1
Über die Hauptangeklagten Andreas Baader (1943 – 1977) und Gudrun Ensslin (1940 –
1977) siehe Karin Wieland, Andreas Baader, in: Wolfgang Kraushaar (Hrsg.), Die RAF und
der linke Terrorismus, Bd. 1, 2006, S. 332 – 349; Susanne Bressan/Martin Jander, Gudrun
Ensslin, in: Kraushaar (Hrsg.), a.a.O., S. 398 – 429.
2
Flugblatt Nr. 7 „Warum brennst du, Konsument?“ v. 24. Mai 1967, in: Rainer Langhans/
Fritz Teufel, Klau mich, 1977 (zuerst 1968), o. S.; als Faksimile abrufbar über https://www.
1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0085_kom&l=de (zuletzt abge-
rufen, wie alle nachfolgenden URLs, am 1. September 2019); s.a. Flugblatt Nr. 8 „Wann
brennen die Berliner Kaufhäuser?“ v. 24. Mai 1967.
3
Zum Berliner Prozess gegen Teufel und Langhans siehe Alexander Sedlmaier, Konsum
und Gewalt. Radikaler Protest in der Bundesrepublik, 2018, S. 64 ff.; Sandra Kraft, Vom
Hörsaal auf die Anklagebank: Die 68er und das Establishment in Deutschland und den USA,
2010, S. 340 ff.
4
LG Frankfurt am Main v. 31. Oktober 1968 – 4 KLs 1/68. Die Strafprozessakte befindet
sich im Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden (abgekürzt HStA, Abt. 461/34679 ff.), wo
wir sie einsehen konnten. Der Urteilstext selbst ist auch abgedruckt bei Reinhard Rauball, Die
Baader-Meinhof-Gruppe, 1973, S. 167 – 210. Die ausführlichste Darstellung des Frankfurter
Kaufhausbrandstifterprozesses findet sich bei Kraft, Vom Hörsaal auf die Anklagebank
(Fn. 3), S. 357 ff.; für weitere Darstellungen und Würdigungen siehe Sara Hakemi/Thomas
Hecken, Die Warenhausbrandstifter, in: Kraushaar (Hrsg.), Die RAF und der linke Terroris-
mus (Fn. 1), S. 316 – 331; Sara Hakemi, Anschlag und Spektakel. Flugblätter der Kommune I,
Erklärungen von Ensslin/Baader und der frühen RAF, 2008, S. 103 ff.; Sedlmaier, Konsum
Frankfurter Strafprozessunordnung 1267

endete schwere („menschengefährdende“) Brandstiftung gemäß § 306 Nr. 3 StGB


a. F., die mit bis zu 15 Jahren Zuchthaus bestraft werden konnte. Die Vorschrift
des Besonderen Teils entsprach in der Beschreibung des Tatobjekts, abgesehen
von kleineren sprachlichen Änderungen, grundsätzlich dem heutigen § 306a
Abs. 1 Nr. 3 StGB; sie lautete:
„Wegen Brandstiftung wird mit Zuchthaus bestraft, wer vorsätzlich in Brand setzt […] eine
Räumlichkeit, welche zeitweise zum Aufenthalt von Menschen dient, und zwar zu einer
Zeit, während welcher Menschen in derselben sich aufzuhalten pflegen“.

Die Verteidigung hatten die in der APO-Szene bekannten Berliner Rechtsanwälte


Otto Schily5 (Ensslin), Horst Mahler6 (Baader) und Klaus Eschen (Proll und Söhn-
lein)7 übernommen. Der zunächst angefragte Frankfurter Anwalt Christian Raabe,
ein bekannter APO-Verteidiger, hatte das Mandat aus persönlichen Gründen abge-
lehnt. Den Angeklagten wurden, wie üblich, zur Verfahrenssicherung zudem ortsan-
sässige Pflichtverteidigerinnen und Pflichtverteidiger beigeordnet.
Der Frankfurter Prozess endete schon am 31. Oktober 1968 mit der Verurteilung
der Angeklagten wegen (nur) versuchter menschengefährdender Brandstiftung zu
drei Jahren Zuchthaus. Das Gericht hielt es für erwiesen, dass die Angeklagten im
Kaufhaus M. Schneider Brandsätze gelegt hatten, um ein „Fanal“ gegen den Viet-
nam-Krieg zu setzen. Diese Motivlage konnte sich in der Beweiswürdigung u. a.
auf eine geständige Einlassung von Gudrun Ensslin stützen.8 Dabei hätten sie, so
die Kammer, die Gefährdung von Menschen in Kauf genommen. Der damaligen –
und für die Tathandlung des Inbrandsetzens auch noch heutigen – Dogmatik des
§ 306 Nr. 3 StGB a. F. entsprechend, ging das Gericht nur von einer Versuchsstraf-

und Gewalt (Fn. 3), 2018, S. 73 ff.; aus Sicht eines Beteiligten siehe zudem retrospektiv
Thorwald Proll/Daniel Dubbe, „Wir kamen vom anderen Stern“. Über 1968, Andreas Baader
und ein Kaufhaus, 2003, S. 7 ff.
5
Otto Schily (geb. 1932) hatte kurz zuvor die Nebenklage im Berliner Kurras-Verfahren
vertreten. In Frankfurt wurde er unterstützt durch den Berliner Strafrechtslehrer Ernst Heinitz
(1902 – 1998), Vertrauensdozent der Studienstiftung des deutschen Volkes von Gudrun Enss-
lin.
6
Horst Mahler (geb. 1936); zu ihm siehe Martin Jander, Horst Mahler, in: Kraushaar
(Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus (Fn. 1), S. 372 – 397.
7
§ 146 S. 1 StPO a. F. sollte seine restriktive Fassung erst zum 1. Januar 1975 erhalten und
erlaubte damals noch die gemeinschaftliche Verteidigung, sofern dies ihrer Aufgabe nicht
widerstritt (vgl. LR/Jahn, 27. Aufl. [im Erscheinen], § 146 StPO Rn. 4 ff.). Klaus Eschen
(geb. 1939) wurde unterstützt durch seinen Referendar Ulrich K. Preuß. Eschen gründete 1969
zusammen mit Horst Mahler und den beiden ehemaligen Referendaren Preuß und Hans-
Christian Ströbele das Sozialistische Anwaltskollektiv Westberlin (zum Selbstverständnis s.
die „Thesen“ in KJ 1971, 414 – 417). In dessen Aktenbestand, der im Hamburger Institut für
Sozialforschung (HIfS) bewahrt wird und uns zugänglich war, befindet sich auch die Vertei-
digungsakte Horst Mahlers aus dem Frankfurter Kaufhausbrandstifterprozess.
8
Ensslin: „Ich kann helfen, die Sache aufzuklären. Wir haben es getan aus Protest gegen
die bewußte Gleichgültigkeit der Bevölkerung gegenüber dem Krieg in Vietnam.“, vgl. LG
Frankfurt am Main, Protokoll der Hauptverhandlung v. 21. Oktober 1968 (3. Prozesstag),
HStA (Fn. 4), Nr. 34679, S. 4.
1268 Matthias Jahn und Sascha Ziemann

barkeit aus, denn die Tat war und ist nur vollendet, wenn ein nach der Verkehrsan-
schauung wesentlicher Gebäudebestandteil so vom Feuer erfasst ist, dass er auch
ohne Zündstoff selbstständig weiterbrennt.9 So konnten die großflächigen Einwir-
kungen durch das Löschwasser und das Anspringen der Sprinkler-Anlagen noch
nicht als Taterfolg der schweren Brandstiftung schon im Tatbestand Berücksichti-
gung finden.
Neben dem Geständnis von Ensslin (und Baader) konnte sich die Strafkammer in
der Beweiswürdigung auch auf Zeugenaussagen von Kaufhausangestellten stützen,
die Baader und Ensslin am Tag des Brandes im Kaufhaus M. Schneider gesehen hat-
ten und bei der Gegenüberstellung wiedererkannten, zudem auf Utensilien zum Bau
von Brandsätzen, die im Besitz der Angeklagten sichergestellt worden waren. Den
bis zum Schluss der Beweisaufnahme schweigenden Mitangeklagten Proll und Söhn-
lein, die nicht am Tatort gesehen worden waren, wurde die Tat qua Mittäterschaft
nach § 47 StGB a. F. zugerechnet, da sie nach Ansicht des Gerichts in enger persön-
licher und ideeller Gemeinschaft mit Ensslin und Baader gehandelt hatten. Der Brand
im Kaufhof konnte allen Angeklagten trotz einiger belastender Indizien indes nicht
mit der nötigen Gewissheit nachgewiesen werden. Eine längere Zuchthausstrafe hielt
das Gericht trotz der Strafrahmenverschiebung beim Versuch (§ 44 StGB a. F.) den-
noch für angezeigt, dies vor allem aus generalpräventiven Gründen. Im Duktus der
Zeit hieß es,
„[e]ine längere Freiheitsstrafe ist erforderlich, um die Angeklagten von weiteren Straftaten
abzuschrecken und die Öffentlichkeit vor den Angeklagten zu sichern. Nicht zuletzt aber
muß als Strafzweck generalpräventiv im Auge behalten werden, daß die Stärkung des
Rechtsbewußtseins des weitaus überwiegenden rechtstreuen Teils der Bevölkerung, insbe-
sondere in ihrem Vertrauen auf die Wahrung des Rechts und der Verfolgung des Unrechts
heute mehr denn je geboten ist.“10

Der Prozess wurde von einer großen Medienöffentlichkeit begleitet. Zu den Pres-
severtretern, die sich eingehender mit der Sache befassten, gehörte unter anderem die
damalige konkret-Journalistin Ulrike Meinhof.11 Sie schwankte in ihrem Artikel

9
BGHSt 7, 37 (38); Pfeiffer/Maul/Schulte, StGB, 1969, § 306 StGB Rn. 4; für das gel-
tende Recht ebenso Fischer, StGB, 66. Aufl., 2019, § 306 StGB Rn. 14. Die weitere Variante
des durch die Brandlegung teilweise zerstörten Gebäudes sollte erst drei Jahrzehnte später
durch das 6. Strafrechtsreformgesetz in § 306a Abs. 1 StGB eingefügt werden, vgl. MüKo/
Radtke, 3. Aufl. 2019, § 306 StGB Rn. 1.
10
LG Frankfurt am Main v. 31. Oktober 1968, in: Rauball (Fn. 4), S. 209 – IV.
11
Ulrike Meinhof, Warenhausbrandstiftung, in: konkret Nr. 14/1968 v. 4. November 1968,
wiederabgedruckt in: Ulrike Marie Meinhof, Die Würde des Menschen ist antastbar. Aufsätze
und Polemiken, 1980, S. 153 – 156. Meinhof hatte zur Vorbereitung des Artikels auch ein
Interview mit der inhaftierten Ensslin geführt, aber später von einer Veröffentlichung abge-
sehen, um die Interviewte nicht zu belasten (vgl. Stefan Aust, Der Baader-Meinhof-Komplex,
2008, S. 112). Über Ulrike Meinhof (1934 – 1976) siehe Jürgen Seifert, Ulrike Meinhof, in:
Kraushaar (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus (Fn. 1), S. 350 – 371; des Weiteren
Uwe Nettelbeck, Der Frankfurter Brandstifter-Prozeß. Viermal drei Jahre Zuchthaus für eine
sinnvolle Demonstration, in: Die Zeit 45/1968 v. 8. November 1968 (wiederabgedruckt in:
Frankfurter Strafprozessunordnung 1269

„Warenhausbrandstiftung“ zwischen Sympathie und Ablehnung. Einerseits erkannte


Meinhof in der „Kriminalität der Tat“ und „im Gesetzesbruch“ ein „progressive[s]
Moment“.12 Andererseits stelle sich aber die Frage, wie dies in „Aufklärung“ umge-
setzt werden könne.13 Dies sei, so Meinhof, insbesondere deshalb schwierig, weil die
Brandstiftung, die dem „Angriff auf die kapitalistische Konsumwelt“ dienen soll, ge-
rade deren Logik der „systematischen Vernichtung gesellschaftlichen Reichtums
durch Mode, Verpackung, Werbung, eingebauten Verschleiß“ folge.14 Den Schaden
zahle ohnehin die Versicherung.15 Die Brandstiftung in einem Kaufhaus sei damit
„keine antikapitalistische Aktion“, sondern – im Gegenteil – „eher systemerhaltend,
konterrevolutionär“.16 Sie könne nicht zur Nachahmung empfohlen werden.17
In ähnlicher Weise äußerte sich der Zeit-Journalist Uwe Nettelbeck, demzufolge
sich „das Entzünden eines Feuers in einem Kaufhaus als Mittel der politischen Aus-
einandersetzung“ schon deshalb nicht empfehle, „weil es sich dabei um eine straf-
bare Handlung handelt, die in jedem Falle den Menschen gefährdet, der sie begeht“.18
Darüber hinaus erhob Nettelbeck gegenüber dem Anklagevertreter den Vorwurf, das
Verfahren zu instrumentalisieren, ja sogar, seinerseits ein geistiger Brandstifter zu
sein: „Überdies erwies sich der Erste Staatsanwalt Walter Griebel als rechter Feuer-
teufel. Wo es wahrscheinlich nur gequalmt hat, schlugen ihm die Flammen hoch, und
wo schon gelöscht war, hörte es für ihn noch lange nicht auf, wesentlich zu bren-
nen.“19 Für Nettelbeck war diese politische Funktionalisierung von Strafrechtsdog-

ders., Gerichtsberichte 1967 – 1969, 2015, S. 143 – 150); Gerhard Mauz, „Mit voller Geistes-
kraft in ernster Sache“, in: Der Spiegel Nr. 43/1968 v. 21. Oktober 1968, S. 74 – 77; wieder-
abgedruckt in: ders., Die großen Prozesse der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Gisela
Friedrichsen, 2005, S. 72 – 76; Rudolf Walter Leonhard, Rebellen als Brandstifter, in: Die Zeit
45/1968 v. 8. November 1968.
12
Meinhof, Warenhausbrandstiftung (Fn. 11), S. 154.
13
Meinhof, Warenhausbrandstiftung (Fn. 11), S. 155.
14
Meinhof, Warenhausbrandstiftung (Fn. 11), S. 154.
15
Meinhof, Warenhausbrandstiftung (Fn. 11), S. 153.
16
Meinhof, Warenhausbrandstiftung (Fn. 11), S. 154.
17
Meinhof, Warenhausbrandstiftung (Fn. 11), S. 156; im letzten Satz relativierte sie aller-
dings ihre Distanzierung wieder: „Es bleibt aber auch, was Fritz Teufel auf der Delegierten-
konferenz des SDS [in Abwandlung des berühmten Brecht-Zitats – die Verf.] gesagt hat: ,Es ist
immer noch besser, ein Warenhaus anzuzünden, als ein Warenhaus zu betreiben.‘ Fritz Teufel
kann manchmal wirklich sehr gut formulieren.“ Über die Legitimität der Aktion herrschte
auch in der APO Uneinigkeit. Während der Bundesvorstand des SDS sich von den „unbe-
gründbare(n) Terroraktionen“ öffentlich distanzierte (Der Spiegel Nr. 15/1968, S. 34), zeigte
die Berliner Kommune I Verständnis und war überzeugt, dass auch eine mögliche Verurteilung
das „Mittel der politischen Brandstiftung“ nicht für die „Zukunft“ disqualifiziere (a.a.O.).
18
Uwe Nettelbeck, Der Frankfurter Brandstifter-Prozeß (Fn. 11), S. 150. Es sei verraten,
dass dieser Text, überreicht als Referentenbuchpräsent auf einem Strafverteidigertag, den
entscheidenden Anstoß für diesen Festschriftenbeitrag gestiftet hat.
19
Nettelbeck, Der Frankfurter Brandstifter-Prozeß (Fn. 11), S. 146. Zur dogmatischen
Frage der Versuchs- bzw. Vollendungsstrafbarkeit schon oben vor und in Fn. 9.
1270 Matthias Jahn und Sascha Ziemann

matik durch die Staatsgewalt nicht überraschend, da jeder, der die „herrschende Ord-
nung“ störe, damit rechnen müsse, „daß sie zuschlägt, wenn sie kann.“20

III. Frankfurter Strafprozessunordnung –


eine Urszene politischer Inszenierung im Strafverfahren
Zur genaueren Analyse des politischen Charakters des Frankfurter Kaufhaus-
brandstifterprozesses soll auf kommunikationstheoretische Ansätze zurückgegriffen
werden. Sie befassen sich im Besonderen mit symbolisch-performativen Kommuni-
kationspraktiken, wie sie vor allem in der studentischen Protestbewegung der 1960er
Jahre bei ihrer Auseinandersetzung mit dem Staat und dessen Institutionen zur An-
wendung kamen.21 Diese Praktiken zeichneten sich insbesondere durch die Verknüp-
fung von Kommunikation und Handeln aus. Sie sollten als „symbolische Politik“
(Thomas Meyer) „von unten“ das enthüllen, was „von oben“ verschleiert werde.22
Das Strafverfahren war ein guter Ort für derartige Kämpfe. Es war, noch weit
mehr als heute, stark geprägt von symbolischer Interaktion und ritualisiertem Verhal-
ten.23 Vieles von dem, was alltägliche Praxis bei der Justiz war, konnte als Ausdruck
staatlicher Macht und der herrschenden, nicht nur durch die jüngere deutsche Vergan-
genheit kontaminierten Ordnung gelten.24 Die Rollenerwartungen, die insbesondere
an den Angeklagten im Strafverfahren gestellt wurden, fasste einmal der Zeit-Jour-

20
Nettelbeck, Der Frankfurter Brandstifter-Prozeß (Fn. 11), S. 149.
21
Hierzu insbesondere, am Beispiel des maßstabsetzenden Berliner Teufel/Langhans-
Prozesses, Joachim Scharloth, 1968: Eine Kommunikationsgeschichte, 2011, S. 142 ff.; ders.,
Ritualkritik und Rituale des Protests. Die Entdeckung des Performativen in der Studentenbe-
wegung der 1960er Jahre, in: Martin Klimke/Joachim Scharloth (Hrsg.), 1968. Handbuch zur
Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, 2007, S. 75 – 87; siehe zudem Alex-
ander Holmig, Die aktionistischen Wurzeln der Studentenbewegung. Subversive Aktion,
Kommune I und die Neudefinition des Politischen, in: Klimke/Scharloth (Hrsg.), a.a.O.,
S. 107 – 118. Aus Sicht der Rechtswissenschaft zum berühmten Teufel-Zitat („Wenn es der
Wahrheitsfindung dient“) siehe Hinrich Rüping, Der Schutz der Gerichtsverhandlung – „Un-
gebühr“ oder „betriebliche Ordnungsgewalt“, in: ZZP 88 (1975), 212 (225 in Fn. 55); Hans-
Dieter Schwind, „Ungebührliches“ Verhalten vor Gericht und Ordnungsstrafe, in: JR 1973,
133 (137) und Egon Schneider, Ungebühr vor Gericht, in: MDR 1975, 622.
22
Thomas Meyer, Die Inszenierung des Scheins: Voraussetzungen und Folgen symboli-
scher Politik. Essay-Montage, 1992, S. 64.
23
Zum Inszenierungscharakter des Strafverfahrens siehe Manfred Stehmeyer, Symbole und
Rituale in der Hauptverhandlung im Strafverfahren. Eine Untersuchung zur Diskussion über
die Bedeutung einer zeremoniell gestalteten Gerichtsverhandlung, 1990, S. 96; Aldo Legnaro/
Astrid Aengenheister, Die Aufführung von Strafrecht. Kleine Ethnographie gerichtlichen
Verhandelns, 1999; Jahn, „Konfliktverteidigung“ und Inquisitionsmaxime, 1998, S. 92 f.; die
Theatralizität des Gerichtsverfahrens betont auch Cornelia Vismann, Medien der Rechtspre-
chung, hrsg. von Alexandra Kemmerer, 2011, insbes. S. 19 ff.: „theatrales Dispositiv“.
24
Vgl. Scharloth, Ritualkritik und Rituale des Protests (Fn. 21), S. 78.
Frankfurter Strafprozessunordnung 1271

nalist Werner Dolph aus Anlass des Berliner Teufel/Langhans-Prozesses wie folgt
(ironisch) zusammen:
„Folgendes muß von einem loyalen Angeklagten erwartet werden: Daß er aufsteht, wenn
Juristen vor Gericht mit ihm reden; daß er antwortet, wenn er gefragt wird; daß er beantwor-
tet, was er gefragt wird; daß er nur redet, wenn er gefragt wird; daß er nicht unverschämt
wird. Daß er nicht Meinungen vertritt, die seine Richter nicht vertreten; […], daß er dem
Gericht mit Ehrfurcht begegnet; daß er dem Staatsanwalt mit Ehrfurcht begegnet; daß er
den Saalwachtmeistern mit Ehrfurcht begegnet. Daß er […] nicht fragt, was in den Vor-
schriften steht, die gegen ihn angewandt werden; daß er erkennt, nicht er habe seine Richter,
sondern diese hätten ihn zu beurteilen […].“25

Vergleichbare Rollenerwartungen gab es gegenüber den Verteidigern (es handelte


sich, soweit ersichtlich, fast durchweg um Männer; bis zum Aufstieg der Verteidige-
rinnen in das Hellfeld der Öffentlichkeit sollte es noch Jahrzehnte dauern). Ihnen
wurde zwar zugestanden, die Rechte des Angeklagten zu vertreten. Die strikte Lesart
des Begriffs vom „Organ der Rechtspflege“ (§ 1 BRAO) ging aber noch von einer
unbedingten Verpflichtung des Strafverteidigers auf die staatlichen Verfahrensziele
Wahrheit und Gerechtigkeit aus; schon die Verteidigung des „schuldigen“ Angeklag-
ten hielt man zum Teil für problematisch.26 Anwälte hatten sich deshalb nach dama-
liger Vorstellung stets kooperativ gegenüber dem Gericht zu verhalten und die pro-
zessualen Förmlichkeiten und habituellen Umgangsformen ausnahmslos zu befol-
gen. So stand es auch noch Jahre später im Lehrbuch: „Ein Prozeß ist nur dann ord-
nungsmäßig durchzuführen, wenn der Verteidiger auf das Gericht und das Gericht
auf den Verteidiger Rücksicht nimmt“.27

1. Die Strategie des begrenzten Regelverstoßes


im Spiegel zeitbedingter Verhaltenserwartungen an Angeklagte
und ihre Verteidiger

Diese Rollenerwartungen und -zuweisungen wurden, wie noch im Einzelnen zu


sehen sein wird, im Frankfurter Prozess sowohl durch die Angeklagten als auch die
Verteidiger in vielerlei Hinsicht enttäuscht und konterkariert. Neben den von der
Strafprozessordnung vorgesehenen Mitteln bediente sich die Verteidigung insbeson-
dere der Mittel des begrenzten Regelverstoßes, um sich gegen die staatliche Ordnung
symbolisch zur Wehr zu setzen. Diese Protestform hatte man aus der US-amerikani-

25
Werner Dolph, Die Verfolgung und Ermordung der Strafjustiz durch die Herren Teufel
und Langhans. Erster Teil, in: Die Zeit v. 29. März 1968, S. 11.
26
Zum damaligen Stand der Prozessrechtsdogmatik der Verteidigung LR/Jahn (Fn. 7), Vor
§ 137 StPO Rn. 67 ff., 88.
27
Karl Peters, Strafprozeß. 4. Aufl., 1985, § 29 IV (S. 221). Gleichsinnig Josef Römer,
Kooperatives Verhalten der Rechtspflegeorgane im Strafverfahren?, in: R. Hamm/Matzke
(Hrsg.), FS Schmidt-Leichner, 1977, S. 133 (138); Gerhard Löchner, Politische Verteidigung
in Verfahren gegen terroristische Gewalttäter, in: Eyrich u. a. (Hrsg.), FS Rebmann, 1989,
S. 303 (318); zahlr. weitere Nachw. bei Jahn, „Konfliktverteidigung“ (Fn. 23), S. 19.
1272 Matthias Jahn und Sascha Ziemann

schen Bürgerrechtsbewegung adaptiert.28 Zum Repertoire begrenzter Regelverstöße


der Angeklagten im Frankfurter Kaufhausbrandstifterprozess gehörten (ohne An-
spruch auf Vollständigkeit):
- das unangepasste Erscheinungsbild der Angeklagten (Baader mit Sonnenbrille,
Proll mit Mao-Bibel),
- das demonstrative Sitzenbleiben aller Angeklagten bei Eintritt des Gerichts und
bei Zeugenvereidigungen entgegen Nr. 124 Abs. 2 S. 2 RiStBV (Proll: „Ich bin
kein Stehaufmännchen“29),
- die Irreführung des Gerichts durch die Angeklagten Baader und Proll, die am ers-
ten Hauptverhandlungstag das Gericht über ihre Identität täuschten (Proll: „Das
kommt doch auf dasselbe heraus, wer hier wer ist“30),
- die Infragestellung/Nichtanerkennung der Autorität des Gerichts durch die Ange-
klagten (Proll: „Ich will nicht aussagen. Ich betrachte die Justiz für eine Justiz der
herrschenden Klasse“31),
- das demonstrative Desinteresse der Angeklagten an der Hauptverhandlung (die –
filmisch dokumentiert – Zigarren rauchen [Proll und Baader], sich unterhalten
oder lesen, Bonbons verteilen oder Zärtlichkeiten austauschen [Baader und Enss-
lin]),
- die Verweigerung einer psychologischen Untersuchung durch einzelne Angeklag-
te mit dem Hinweis, dass sich auch das Gericht einer solchen Untersuchung ver-
weigere,
- die zweckwidrige Nutzung des Fragerechts (etwa durch die Frage Prolls an eine
Zeugin: „Wie geht es Ihnen?“ am 3. Hauptverhandlungstag),32
- der provozierende Aufruf des Angeklagten Proll im letzten Wort (§ 258 Abs. 3
StPO) am 6. Hauptverhandlungstag, das Gerichtsgebäude in Brand zu stecken
und der Justiz den „revolutionären Prozeß“ zu machen,33
- diverse Rangeleien einzelner Angeklagter mit den Wachtmeistern aus Anlass der
Tumulte zum Prozessauftakt (Söhnlein) und bei der Urteilsverkündung (Baader
und Söhnlein) und

28
Siehe Scharloth, 1968: Eine Kommunikationsgeschichte (Fn. 21), S. 71 ff.; ähnlich
Kraft, Vom Hörsaal auf die Anklagebank (Fn. 3): „Mittel des Regelbruchs“ (S. 369) und
„Bereitschaft zur offenen Rebellion“ (S. 375).
29
Frankfurter Rundschau v. 22. Oktober 1968.
30
Frankfurter Rundschau v. 15. Oktober 1968; dazu ausf. unten IV.
31
LG Frankfurt am Main, Protokoll der Hauptverhandlung v. 14. Oktober 1968 (1. Pro-
zesstag), HStA (Fn. 4), Nr. 34679, S. 7.
32
Frankfurter Neue Presse v. 23. Oktober 1968.
33
Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Thorwald Proll, Horst Söhnlein, Vor einer solchen
Justiz verteidigen wir uns nicht. Schlußwort im Kaufhausbrandprozeß, Frankfurt am Main und
Berlin 1968; wiederabgedruckt in Proll/Dubbe (Fn. 4), S. 105 – 116.
Frankfurter Strafprozessunordnung 1273

- der demonstrative Verzicht einzelner Angeklagter auf das letzte Wort (Ensslin:
„Ich will keine Gelegenheit geben, so zu tun, als hörten sie mir zu“34).
Auch Teile der Verteidigung bedienten sich des Mittels des begrenzten Regelver-
stoßes. Dazu gehörte insbesondere
- das verweigerte Anlegen der Robe durch die Rechtsanwälte Mahler und Eschen
(entgegen dem damaligen anwaltlichen Standesrecht)35 und
- das vereinzelte demonstrative Sitzenbleiben durch Mahler und Eschen bei der
Zeugenvereidigung (entgegen Nr. 124 Abs. 2 S. 2 RiStBV).36

2. Kontext und Entwicklung der Verfahrensstrategien:


Von der „Moabiter Seifenoper“ zum Verfahrenskrieg
in Stuttgart-Stammheim

Das Frankfurter Verfahren ähnelte damit in vielerlei Hinsicht der ironischen Anti-
Inszenierung im Berliner Prozess gegen die Kommunarden Fritz Teufel und Rainer
Langhans, das als „Moabiter Seifenoper“ in das kollektive Gedächtnis der 68er-Be-
wegung einging.37 An die Pointiertheit und Medienwirksamkeit der dadaistischen
Wortgefechte der beiden „Politclowns“ vor und mit der Berliner Justiz, reichte der
Frankfurter Prozess allerdings nicht heran. Erinnert sei nur nochmals an Teufels Dik-
tum „Wenn‘s der Wahrheitsfindung dient“38, das als geflügeltes Wort in die deutsche
Alltagssprache eingegangen ist.
Auf der anderen Seite fehlte dem Kaufhausbrandstifterprozess noch die Bedin-
gungslosigkeit des agonalen Kampfes um die Deutungshoheit über die Tat. Sie sollte
erst für spätere Großverfahren kennzeichnend werden.39 Für den dramatischen
Wechsel der Tonart steht die Prozesserklärung von Ulrike Meinhof im Stammheimer
Verfahren vom 30. Juli 1975, wonach es das Ziel von Anklagebehörde und Gericht in
Gestalt des Vorsitzenden gewesen sei, „die Gefangenen zu vernichten, die Verteidi-

34
LG Frankfurt am Main, Protokoll der Hauptverhandlung v. 31. Oktober 1968 (7. Pro-
zesstag), HStA (Fn. 4), Nr. 34679, S. 6.
35
Hierzu Kraft, Vom Hörsaal auf die Anklagebank (Fn. 3), S. 375 f. Im Einzelnen unten V.
36
Auch dazu unten V.
37
Scharloth, Ritualkritik und Rituale des Protests (Fn. 21), S. 78. Zu diesem Verfahren
siehe dens., 1968: Eine Kommunikationsgeschichte (Fn. 21), S. 142 ff.; Kraft, Vom Hörsaal
auf die Anklagebank (Fn. 3), S. 340 ff.
38
Oben vor und in Fn. 21.
39
Zum Folgenden bereits, mit zahlr. weiteren Nachw., Jahn, „Konfliktverteidigung“
(Fn. 23), S. 101 f. Siehe zum Verfahren umfassend Florian Jeßberger/Inga Schuchmann, Der
Stammheim-Prozess, in: Kurt Groenewold/Alexander Ignor/Arnd Koch (Hrsg.), Lexikon der
Politischen Strafprozesse, www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/baader-andre
as-und-ulrike-meinhof-gudrun-ensslin-holger-meins-jan-carl-raspe/.
1274 Matthias Jahn und Sascha Ziemann

gung zu zerschlagen und diesen Prozeß als Schauprozeß durchzuführen“40. Das war
zehn Monate bevor Justizbeamte die Angeklagte mit einem aus Handtuchstreifen ge-
knoteten Strick um den Hals erhängt am Fenstergitter ihrer Zelle auffinden sollten.
Auch die Dimensionen sollten sich nun gänzlich anders darstellen als in dem ver-
gleichsweise übersichtlichen Frankfurter Verfahren, das trotz vier Angeklagter in
weniger als drei Wochen abgewickelt worden war. Das Hauptverfahren in Stutt-
gart-Stammheim gegen die Baader-Meinhof-Gruppe erstreckte sich über einen Zeit-
raum von nahezu zwei Jahren an 192 Hauptverhandlungstagen vom 21. Mai 1975 bis
zum 28. April 1977.41 Es war ein Spezifikum solcher Verfahren, dass ihre justizielle
Bewältigung versuchte, einen Unterschied zu anderen Prozessen mit Tatvorwürfen
im Bereich der Kapitaldelikte zu vermeiden.42 Die Verteidigungsstrategie hatte, in
dem größtmöglichen Gegensatz hierzu, Fragen eines völkerrechtlich verankerten
Widerstandsrechts der Angeklagten zum Gegenstand. So wurde von einem Teil
der Stammheimer Verteidiger versucht, die Zuständigkeit des Gerichts mit Blick
auf den politisch-militärischen Charakter des Verfahrens zu rügen.43 Kernpunkte
des Verfahrens waren aus der Sicht der Verteidigung weiterhin die Frage der Vorver-
urteilung der Angeklagten, der ad hoc-Gesetzesänderung im Strafprozessrecht mit
Blick auf das Verfahren selbst, der Charakter des Gerichts als Ausnahmegericht
sowie die Frage der Verhandlungsfähigkeit der Angeklagten und ihrer Untersu-
chungshaftbedingungen.44
Zur Erreichung dieser erwünschten thematischen Fokussierung sollten auch die
Mittel des begrenzten Regelverstoßes in Dienst gestellt werden, anders als noch in

40
Abgedr. in Ulf G. Stuberger (Hrsg.), „In der Strafsache gegen Andreas Baader, Ulrike
Meinhof, Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin wegen Mordes u. a.“. Dokumente aus dem Prozeß,
1977, S. 195 (196).
41
Löchner, FS Rebmann (Fn. 27), S. 303 (307). Der Drenkmann-Prozess in Berlin sollte
zweieinhalb Jahre mit insgesamt 206 Hauptverhandlungstagen dauern (vgl. Kurt Rebmann,
Strafprozessuale Bewältigung von Großverfahren, in: NStZ 1984, 241 (242)), das Verfahren
um den Fememord Schmücker bis zur Einstellung im vierten Durchgang sogar insgesamt
17 Jahre (u. a. nach 109 Hauptverhandlungstagen im zweiten Durchgang), vgl. Jahn, Die
Änderungen im Recht der Strafverteidigung durch das 2. Opferrechtsreformgesetz, in: NJW-
Festheft für Tepperwien, S. 25.
42
Siehe nur Hans Heinz Heldmann, Plädoyer zum Stammheimer Prozeß, in: KJ 1977, 193
(201).
43
Eine Verteidigungsstrategie, die keinesfalls unumstritten war, wie Heldmann, Stamm-
heim (Buchbesprechung), in: StV 1988, 183 in Auseinandersetzung mit dem sog. Vietnam-
Antrag des Darmstädter Hochschullehrers Axel Azzola belegt. Zu dieser Verteidigungsstra-
tegie auch Klaus Lüderssen, Aus der grauen Zone zwischen staatlichen und individuellen
Interessen. Zur Funktion der Strafverteidigung in einer freien Gesellschaft, in: R. Hamm
(Hrsg.), FS Sarstedt, 1981, S. 145 (160), der aber darauf hinweist, dass objektive Abwegigkeit
noch kein Recht erzeugt, gerichtlicherseits in subjektive Rechte des Verteidigers und des
Angeklagten eingreifen zu dürfen.
44
Zu allen Fragen nimmt das außerhalb der Hauptverhandlung am Vortag der Urteilsver-
kündung gehaltene „Plädoyer“ von Heldmann, in: KJ 1977, 193 (196 ff.) Stellung; dazu auch
Pieter Bakker Schut, Stammheim. Der Prozeß gegen die Rote Armee Fraktion, 1986, S. 452 f.
Frankfurter Strafprozessunordnung 1275

Frankfurt nunmehr aber vollständig bereinigt von spielerisch-ironischen Elementen,


sondern nurmehr als Werkzeug offener Konfrontation im politischen Strafverfahren.
In den Worten Baaders: „die lösung ist – das muss ganz klar sein – diese ganze sch-
eisse, die formen nicht zu beachten […] und die konfrontationen nach deinem begriff
der widersprüche zu entwickeln“45. In einem als „Dramaturgischer Verteidigungs-
rahmen“ bezeichneten Papier, das im Juni 1975 bei dem Mitverteidiger Kurt Groe-
newold beschlagnahmt worden war,46 wurde dementsprechend empfohlen, keine in-
haltliche Stellungnahme zu den Tatvorwürfen abzugeben, sondern vielmehr die po-
litische Dimension des Verfahrens in den Vordergrund zu stellen. Darüber hinaus gab
es in diesem Papier einen „Obstruktionsplan“47. Durch verfahrenshemmende Anträ-
ge zu den Prozessvoraussetzungen, flankiert durch Einstellungs- und Ablehnungsan-
träge, sollten Fortgang und Abschluss der Hauptverhandlung verhindert werden.
Für eine ausführliche Prozessanalyse der Gesamtheit dieser begrenzten Regelver-
stöße fehlt hier schon für das Frankfurter Verfahren der Raum.48 Zur Verdeutlichung
sollen gleichwohl zwei exemplarische Prozesssituationen herausgegriffen werden
und näher beleuchtet werden: der chaotische Prozessauftakt (IV.) und der Roben-
streit (V.).

IV. Die Ordnungsstrafen und Saalverweise überpurzelten sich –


die Strategie des begrenzten Regelverstoßes bei den Angeklagten
Die erste exemplarische Situation ereignete sich schon zum Prozessauftakt am
14. Oktober 1968:
„Gleich am ersten Verhandlungstag erlaubten sich Baader und Proll eine Provokation vor
Gericht, die der Vorsitzende mit wenigen Worten hätte übergehen können: Als er den ersten
Angeklagten aufrief, persönliche Angaben zu machen, stand Baader auf und stellte sich mit
dem Namen Proll vor. Sofort auf die Ungebührlichkeit aufmerksam gemacht, verhängt der
vorsitzende Richter Zoebe eine Ordnungsstrafe von drei Tagen Haft und Baader wurde, ohne
noch weiter befragt oder gehört zu werden, unmittelbar aus dem Sitzungssaal verbannt, ,weil

45
Baader zugeschriebener Kassiber (Rechtschreibung beibehalten) aus dem Info-System
der „RAF“, datiert auf Oktober 1975, in: Bakker Schut (Hrsg.), Dokumente. das info. Briefe
der Gefangenen aus der RAF 1973 – 1977, 1987, S. 237.
46
Bakker Schut, Stammheim (Fn. 44), S. 311 und Hannes Breucker, Verteidigungsfremdes
Verhalten. Anträge und Erklärungen im „Baader-Meinhof-Prozeß“, 1993, S. 113 schreiben
dieses Papier übereinstimmend Gerd Temming zu, der als Referendar am Stuttgarter Verfah-
ren beteiligt war.
47
Begriff von Löchner, FS Rebmann (Fn. 27), S. 303 (314); der Verfasser war als Bun-
desanwalt beim Bundesgerichtshof tätig und leitete viele Jahre die Abteilung Terrorismusbe-
kämpfung, vgl. in: Der Spiegel Nr. 13/1994 v. 28. März 1994, S. 16. Zu Kontext und (ge-
setzgeberischen) Folgen dieses Papieres für die Diskussion um eine allgemeine Missbrauchs-
und Obstruktionsklausel im deutschen Strafverfahren nochmals Jahn, „Konfliktverteidigung“
(Fn. 23), S. 74 ff.; LR/Jahn (Fn. 7), Vor § 137 StPO Rn. 128.
48
Ausf. dazu Kraft, Vom Hörsaal auf die Anklagebank (Fn. 3), S. 357 ff.
1276 Matthias Jahn und Sascha Ziemann

noch weitere Ausfälle zu erwarten waren‘. Proll, im Gegenzug, stellte sich als Baader vor
und antwortete auf die Frage nach seinem Geburtsdatum mit ,1789‘. Die Ordnungshaft folg-
te auf die Füße […]. Horst Söhnlein trieb mit wenig Aufwand […] das Ganze auf die Spitze,
als er rief: ,Aus Solidarität mit den Genossen gehe ich auch!‘. Anstatt den Zwischenruf zu
ignorieren, tat ihm das Gericht den Gefallen. Beim etwas unsanften Abführen machte sich
Söhnlein laut Protokoll noch einer ,Tätlichkeit‘ gegen den Wachtmeister schuldig.“49

Das Prozessgeschehen wird zum Schauplatz vielfältiger Kommunikationsstrate-


gien. Zum einen wird die formal-zeremonielle Funktion der Präsenzfeststellung des
§ 243 Abs. 1 S. 2 StPO unterlaufen. Sie dient der Sicherung der Planung des Vorsit-
zenden;50 die Durchkreuzung ist damit zugleich eine Absage an dessen organisato-
risches Drehbuch. Mit dem Identitätstausch von Baader und Proll unterliefen die An-
geklagten zugleich den erkennbaren Willen des Gerichts, die Grundlage für die in-
dividuelle Verantwortlichkeit zu schaffen und machten deutlich, dass sie sich als eine
Gruppe ansahen, vielleicht sogar noch mehr als Repräsentanten des Protests ihrer Ge-
neration („Das kommt doch auf dasselbe heraus, wer hier wer ist“51). Auch Prolls
Verteidiger Eschen ordnete den Identitätstausch in seiner Beschwerdebegründung
gegen die daraufhin verhängte Ordnungsstrafe wie folgt ein:
„Hierin [dass Proll sich als Baader ausgab – d. Verf.] sollte auch keine Mißachtung des Ge-
richts gesehen werden, da der eigentliche Gehalt dieses Verhaltens war, zu bekunden, daß
die Angeklagten sich in ihrer Rolle vor Gericht miteinander identifizierten.“

Die Pointe ist, dass es am Ende für die materiell-rechtliche Bewertung des M.
Schneider-Anschlags tatsächlich nicht mehr darauf ankam, wer Wer war. Denn
Proll, der sich zur Sache nicht eingelassen und an keinem der Tatorte gesehen worden
war, wurde gleichwohl die Tat von Baader und Ensslin im Wege der Mittäterschaft
auf dem damaligen Stand der Beteiligungsdogmatik zugerechnet, da das Gericht ihn
als Teil der „enge(n) persönliche(n) und ideelle(n) Gemeinschaft“52 um Baader und
Ensslin ansah.
Mit der Angabe des Geburtsdatums „1789“ opponierte Proll gegen die sachlich in
einem Strafverfahren dieses Zuschnitts letztlich überflüssige und zum bloßen Ritual
geronnene Personalienfeststellung und führte durch sein Missverstehen ein neues,
politisches Verständnis des Geburtsdatums ein. Rechtsanwalt Mahler vertiefte diesen
Punkt in seiner Beschwerdebegründung gegen die daraufhin verhängte Ordnungs-
strafe:

49
Kraft, Vom Hörsaal auf die Anklagebank (Fn. 3), S. 370; eine pointierte Beschreibung
der Geschehnisse am 1. Prozesstag bietet auch der Prozessbericht von Mauz im Spiegel
(Fn. 11).
50
MüKo/Arnoldi, 2016, § 243 StPO Rn. 11 unter Hinweis auf Hahn, Die gesamten Mate-
rialien zu den Reichs-Justizgesetzen. Bd. 3: Materialien zur Strafprozessordnung I, Abt. 1,
2. Aufl. 1885, S. 191. Anders SK/Frister, 5. Aufl. 2015, § 243 StPO Rn. 12.
51
Proll, zitiert nach Frankfurter Rundschau v. 15. Oktober 1968.
52
LG Frankfurt am Main v. 31. Oktober 1968, in: Rauball (Fn. 4), S. 190 – III.
Frankfurter Strafprozessunordnung 1277

„Damit [die Angabe des Jahres 1789 als Geburtsdatum – d. Verf.] sollte zum Ausdruck kom-
men, daß der Angeklagte das tatsächliche Geburtsdatum für weniger wichtig für die Frage
der Identität seiner Persönlichkeit hält, als seinen politischen und sozialen Standort. Wenn er
also das Jahr der Französischen Revolution als sein Geburtsdatum angab, so ist das als Aus-
druck dessen zu sehen, daß dieses Ereignis eine entscheidende Bedeutung für sein politi-
sches Bewußtsein hat. Es ist dem Angeklagten nicht anzulasten, daß das Gericht diese Aus-
sage zur Person in ihrem eigentlichen Sinngehalt nicht verstanden hat.“53

Durch diese Provokationen – einschließlich der wenig subtilen Unterstellung der


Beschwerde, die Kammer kenne nicht die historisch herausragende Bedeutung des
Revolutionsjahres 1789 – sollte nicht nur die Autorität des Gerichts in Frage gestellt
werden. Es sollte natürlich auch dazu gebracht werden, seinerseits zurückzuschlagen
und sich gegen die Provokationen mit Ordnungsmaßnahmen zur Wehr zu setzen.
Damit sollte die autoritär-hierarchische Struktur der Justiz aufgedeckt werden.54
In den Worten des Angeklagten Proll:
„[W]ir fühlten uns frei in dem Gerichtssaal und konnten das Ganze nicht so ernst nehmen.
Teilweise mussten wir es natürlich ernst nehmen, dann war es wieder ein Spiel. Das war ja
immer unser Wunsch: das Ganze spielerisch aufzulösen und die autoritären Strukturen zum
Übereinanderfallen zu bringen.“55

Das Gericht stieg auf diese Provokationen ein und reagierte – dies auch entgegen
dem Rat einiger Stimmen in der Öffentlichkeit, die zu „gelassener Bestimmtheit“ rie-
ten56 – mit unmittelbarer Härte und Unbeugsamkeit. Spiegel-Gerichtsreporter Mauz
kommentierte:
„Die Ordnungsstrafen und Saalverweise überpurzelten sich.“57

Die (sofortigen) Beschwerden gegen die verhängten Ordnungsmaßnahmen wur-


den vom OLG Frankfurt sämtlich verworfen.

53
Klaus Eschen, Beschwerdebegründung v. 25. Oktober 1968, Anlage zum Protokoll der
Hauptverhandlung, HStA (Fn. 4), Nr. 34679.
54
Vgl. Kraft, Vom Hörsaal auf die Anklagebank (Fn. 3), S. 382; Jörg Requate, Der Kampf
um die Demokratisierung der Justiz: Richter, Politik und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik,
2008, S. 193: „Die Absicht Teufels und anderer lag weniger darin, Reformen anzuregen, als
die Justiz bloßzustellen und das Verfahren ad absurdum zu führen. Dazu gehörte insbesondere
der Versuch, den Richter nicht mehr als Herrn des Verfahrens erscheinen zu lassen, ihn zu
verunsichern und damit die Verhandlung an sich zu ziehen.“
55
Proll/Dubbe, „Wir kamen vom anderen Stern“ (Fn. 4), S. 34. Das Freiheitspotential
symbolischer Regelverletzungen wurde auch in der Presse mit einer gewissen Faszination zur
Kenntnis genommen. Für den Teufel/Langhans-Prozess siehe z. B. Dolph (Fn. 25): „Ein An-
geklagter, dem seine Verurteilung gleichgültig ist, […] bietet einen merkwürdigen Anblick: Er
ist frei.“
56
Jan-Wolfgang Berlit, Hysterisierung der Justiz? Die Richter müssen sich in APO-Ver-
fahren zwischen unmäßiger Härte und zu große Nachsichtigkeit hindurchfinden, in: Frank-
furter Allgemeine Zeitung v. 27. Mai 1969, S. 19.
57
Mauz, „Mit voller Geisteskraft in ernster Sache“ (Fn. 11), S. 74.
1278 Matthias Jahn und Sascha Ziemann

V. Die Infragestellung des Zeremoniells – Die Strategie


des begrenzten Regelverstoßes bei der Verteidigung
Der exemplarische Konfrontationsschauplatz der Verteidigung war der sogenann-
te Robenstreit.
Schon zum Prozessauftakt provozierten die Rechtsanwälte Eschen und Mahler
das Gericht, indem sie entgegen der damaligen standesrechtlichen Übung und Über-
zeugung ohne Anwaltsrobe im Gerichtssaal erschienen.58 Das Gericht protokollierte
den Vorgang, nahm das Unterlassen aber die nächsten drei Verhandlungstage zu-
nächst ohne Rüge hin. Erst am 4. Prozesstag stellte der Vorsitzende die beiden
Rechtsanwälte zur Rede.59 Mahler erklärte: „Ich halte es überflüssig mich zu erklä-
ren. Ich meine, daß die Robe ein antiquiertes Requisit ist. Die Robe hat mit der Wahr-
heits- und Rechtsfindung nichts zu tun.“60 Eschen ergänzte, dass für ihn die Robe
„nur ein Standessymbol“ sei. Er sehe keine Veranlassung, „eine Berufskleidung
zu tragen.“61
Erster Staatsanwalt Griebel hielt die Weigerung der Rechtsanwälte, eine Robe zu
tragen, für ein „nicht unerhebliches Fehlverhalten vor Gericht“ und eine „Brüskie-
rung des Gerichts“. Er kündigte an, den Sachverhalt der Generalstaatsanwaltschaft
Berlin zur Kenntnis zu bringen, die bereits ein Ehrengerichtsverfahren gegen die An-
wälte betrieb. Mahler ließ sich nicht einschüchtern und wies darauf hin, „daß in den
USA weder die StA noch die Richter Roben tragen“ und es zudem „seit langem eine
Streitfrage“ sei, wie die Roben zu bewerten seien.62 Horst Mahlers Verweigerungs-
58
Zum seinerzeitigen Verständnis des – so auch noch genannten – Standesrechts der
Rechtsanwälte in Sachen Robenpflicht vgl. Rüping (Fn. 21), ZZP 88 (1975), 212 (230 ff.);
Fritz Baur, Die Würde des Gerichts, in: JZ 1970, 247 (248). Zum heutigen Rechtszustand nach
§ 20 S. 1 BORA („Der Rechtsanwalt trägt vor Gericht als Berufstracht die Robe, soweit das
üblich ist“) vgl. im Einzelnen Feuerich/Weyland/Brüggemann, 9. Aufl., 2016, § 20 BORA
Rn. 3 ff.
59
Schily war nicht betroffen: Er war stets korrekt gewandet, entledigte sich der Robe aber
wohl immer sofort nach dem Ende der Prozesshandlung; Heinitz wiederum nahm als vertei-
digender Hochschullehrer mangels Robenpflicht (oder auch nur einschlägiger Üblichkeit) eine
Sonderstellung ein.
60
LG Frankfurt am Main, Protokoll der Hauptverhandlung v. 22. Oktober 1968 (4. Pro-
zesstag), HStA (Fn. 4), Nr. 34679, S. 2.
61
LG Frankfurt am Main, Protokoll der Hauptverhandlung v. 22. Oktober 1968 (4. Pro-
zesstag), HStA (Fn. 4), Nr. 34679, S. 2.
62
LG Frankfurt am Main, Protokoll der Hauptverhandlung v. 22. Oktober 1968 (4. Pro-
zesstag), HStA (Fn. 4), Nr. 34679, S. 3. Die Robenpflicht war tatsächlich schon seinerzeit in
der Tat nicht gänzlich unumstritten, vgl. z. B. Jan-Wolfgang Berlit [Amtsrichter in Hannover],
Die Robe – Symbol, Relikt oder Textilie?, in: Rudolf Wassermann (Hrsg.), Justizreform, 1970,
S. 144 – 150. Störaktionen hielt allerdings auch Berlit für nicht hinnehmbar, da diese kein
anderes Ziel hätten, „als die Rechtsstaatlichkeit zum Popanz werden zu lassen“, vgl. ders.,
Provokationen im Gerichtssaal, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 20. Dezember 1968,
S. 8. Das BVerfG hielt die Robenpflicht gleichwohl mit Beschluss vom 18. Februar 1970 für
gewohnheitsrechtlich legitimiert (BVerfGE 28, 21 [28 ff.]); vgl. aus strafprozessualer Sicht
zum Ganzen auch LR/Jahn (Fn. 7), § 145 StPO Rn. 18.
Frankfurter Strafprozessunordnung 1279

haltung gegenüber der Robe blieb notorisch. Als er sich im zweiten Kurras-Verfahren
als Nebenklage-Vertreter der Witwe Benno Ohnesorgs gegen den Willen seiner Man-
dantin ein Jahr später weigerte, eine Robe anzulegen, entzog diese ihm das Mandat.
Das Verfahren musste ausgesetzt werden. In einer nicht mehr zur Verlesung gelang-
ten Erklärung Mahlers hieß es dazu unter anderem:
„Nur wer sich über die Bedeutung und die Funktion des Zeremoniells in Strafgerichtsver-
handlungen und der von den Gerichtspersonen praktizierten Verkleidung keine Gedanken
gemacht hat, kann der Meinung sein, daß die Weigerung, vor Gericht in einer schwarzen
Robe aufzutreten, nur ein unwichtiges, dem Ernst und der Bedeutung des Strafverfahrens
unangemessenes Problem darstelle […]. Wo bei Richtern die Einsicht in die psychologi-
schen Zusammenhänge vorhanden ist, fühlen sie sich dennoch durch Gesetze und ministe-
rielle Erlasse gezwungen, das repressive Ritual weiter zu zelebrieren. Die Infragestellung
des Zeremoniells kann daher nur von denen geleistet werden, die in dieser Frage einem ge-
setzlichen oder bürokratischen Zwang nicht ausgeliefert sind – den Rechtsanwälten […].“63

Auch kündigte Mahler an, es den Angeklagten gleichzutun und bei weiteren Ver-
eidigungen nicht aufzustehen zu wollen, um gegen die Vorstellung des Gerichts zu
protestieren, den „Gehorsam der Angeklagten gegenüber einem Ritual erzwingen zu
können“64. Ob darin ein Anwendungsfall für die grundsätzliche Anwendung der sit-
zungspolizeilichen Vorschriften zu sehen sein kann, war – auch nach damaligen
Maßstäben – umstritten.65
Insgesamt waren auch für Klaus Eschen die Rechtsanwälte wichtige Akteure für
das Projekt der Demokratisierung der Justiz. In einem Beitrag über „20 Jahre ,linke‘
Anwaltschaft“ schrieb er einmal rückblickend über die damalige Situation der Straf-
verteidigung:
„Etwa 1966, in den Anfängen der ersten außerparlamentarischen Manifestationen gegen das
seiner parlamentarischen Opposition durch die Große Koalition entledigten ,Establish-
ments‘, begannen Rechtsanwälte als Verteidiger in den sich anschließenden Strafverfahren
nicht mehr in den Bahnen des ,Grundkonsenses unter Juristen‘ mitzuspielen. Sie fragten
nach der Legitimation des Strafrechtes als Instrument zur Disziplinierung demokratischer
Aufmüpfigkeit […]. Es entstand ein Bruch zwischen der traditionellen Justiz und einigen,
anfänglich wenigen, ihre Aufgaben neu bestimmenden Rechtsanwälten.“66

63
Zitiert nach Berlit, Die Robe (Fn. 62), S. 144 (145).
64
LG Frankfurt am Main, Protokoll der Hauptverhandlung v. 22. Oktober 1968 (4. Pro-
zesstag), HStA (Fn. 4), Nr. 34679, S. 3.
65
Dafür Günther Willms, Im Namen des Volkes, in: JZ 1974, 139; a. A. bereits
Eb. Schmidt, Formen im Gerichtssaal, ZRP 1969, 254 (257).
66
Klaus Eschen, 20 Jahre „linke“ Anwaltschaft von der APO bis heute, in: Klaus Eschen/
Juliane Huth/Margarete Fabricius-Brand (Hrsg.), „Linke“ Anwaltschaft von der APO bis
heute. Chancen und Versäumnisse, 1988, S. 201.
1280 Matthias Jahn und Sascha Ziemann

VI. Der Ertrag: Politische Inszenierung vor Gericht


im Übergang vom Happening zum Zermübungskrieg
1. Fazit zum Prozessausgang

Die Verteidigungsstrategie brachte, trotz der nicht nachweisbaren Beteiligung am


Brand im Kaufhof und bloßer Versuchsstrafbarkeit wegen des M. Schneider-Brands,
unmittelbar keinen durchschlagenden Erfolg. Eine nicht bewährungsfähige Zucht-
hausstrafe von drei Jahren ist, was das Gericht ausweislich seiner vorzitierten Straf-
zumessungserwägungen auch intendiert hatte, ein schweres Strafübel. Doch auch die
Versuche der Angeklagten und Verteidiger, die politischen Hintergründe gegenüber
der politisch wenig ergiebigen Brandstiftungsdogmatik stärker in den Mittelpunkt zu
rücken, blieben arbiträr. Die ersichtlich auf allfällige Konfliktstrategien gut vorberei-
tete Kammer67 ließ sich nicht von ihrer Linie abbringen, die Sache wie jeden anderen
Kriminalfall zu behandeln:
„Im Laufe der Hauptverhandlung wurde von einem Teil der Angeklagten, der Verteidigung
und der Zuhörer der Versuch gemacht, die Verhandlung in einen politischen Prozeß ,umzu-
funktionieren‘. Es ist letztlich eine Frage der Terminologie, ob hier von einem ,Studenten-
prozeß‘, einem Prozeß gegen die ,Außerparlamentarische Opposition‘ oder einem Prozeß
der ,herrschenden Kreise‘ zu sprechen ist. Entscheidend ist allein die Frage, ob Gewalt
ein legales oder legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung ist.“68

Insbesondere gestand das Gericht den Angeklagten mit gut nachvollziehbarer Ar-
gumentation kein Widerstandsrecht zu, da die „Anwendung von Terror und Gewalt
als Mittel der politischen Auseinandersetzung zur Durchsetzung der Menschenrechte
[…] nur in äußersten Notsituationen […] erlaubt“ ist. Dies sei, so die im Ton viel-
leicht etwas zu feierliche Begründung, in der Bundesrepublik nicht der Fall, da
diese „die freiste Verfassung“ habe, „die Deutschland je besaß“.69 Im Gegenteil:
„Die Vorstellung, vom Boden der Bundesrepublik aus mittels inländischen Terrors
[…] auf die Beendigung des Krieges in Vietnam einwirken zu können“, sei, so
das Gericht, „unrealistisch“ und beschwöre im eigenen Land eine Situation herauf,
„gegen die gerade die Angeklagten protestieren wollten“.70

67
Das Gericht hatte sich insbesondere auf die reibungslose Verhängung vom Ordnungs-
strafbeschlüssen vorbereitet. In einer zu diesem Zweck durchgeführten „informierende(n)
Besprechung“ wurde innerhalb der Kammer „Einigkeit erzielt“, dass eine „gemeinsame
Willensbildung bei Ordnungsmaßnahmen auch […] durch Blickaustausch, Kopfnicken oder in
ähnlicher Weise […] zustandekommen kann“: Dienstliche Erklärung der Mitglieder der
4. Strafkammer des LG Frankfurt am Main in der Strafsache gegen Ensslin u. a. v. 20. April
1969, HIfS (Fn. 7), Sozialistisches Anwaltskollektiv, SAK 250,01.
68
LG Frankfurt am Main, Urteil v. 31. Oktober 1968, in: Rauball (Fn. 4), S. 203 – IV.
69
LG Frankfurt am Main, Urteil v. 31. Oktober 1968, in: Rauball (Fn. 4), S. 204 – IV.
70
LG Frankfurt am Main, Urteil v. 31. Oktober 1968, in: Rauball (Fn. 4), S. 204 f. – IV.
Frankfurter Strafprozessunordnung 1281

2. Fazit zu den Prozesswirkungen

Der Frankfurter Kaufhausbrandstifterprozess ist rückblickend eine wichtige Wen-


demarke in der Geschichte des gesellschaftlichen Protests der zweiten Hälfte der
1960er Jahre.
Der Tatvorwurf markiert exakt den Wendepunkt von der verbalen und gespielten
Gewalt der Kommune I-Flugblätter und des Puddingattentats auf US-Vizepräsident
Hubert H. Humphrey hin zum rücksichtslosen Schusswaffengebrauch gegenüber Po-
lizeibeamten, erpresserischen Menschenraub und Terror gegen Unbeteiligte durch
die „RAF“.71 Mit der Verurteilung aus dem Frankfurter Prozess wurde jene Kette
von Ereignissen in Bewegung gesetzt, die schließlich im Mai 1970 mit der gewalt-
samen Befreiung Andreas Baaders die eigentliche Geburtsstunde der „RAF“ bildete.
Auch im prozessualen Habitus der Verteidigung befindet sich das Verfahren auf der
Grenzmarke zwischen Polithappening und dem jahrelangen Zermürbungskrieg der
Verfahrensbeteiligten in Stuttgart-Stammheim.
Insgesamt ist den „Kulturkämpfen“ der späten 1960er Jahre vor Gericht in Frank-
furt, Berlin und anderswo ein nicht zu unterschätzender Einfluss auf die Reform des
Strafverfahrens in und seit dieser Zeit zuzusprechen. Eine Demokratisierung der stil-
len Gewalt Strafjustiz, auch im Sinne der Enthierarchisierung und Entritualisierung,
ist ein bleibender Gewinn, weil gerade die Ironisierung des zum Ritual Erstarrten
sinnlosen Normbefolgungsgehorsam erfolgreich in Frage gestellt hat. Der Reform-
jurist Rudolf Wassermann spricht der Studentenbewegung deshalb mit Recht zu,
„Katalysator“ von Veränderungen in der Justiz in den 1960er Jahren gewesen zu
sein.72 Sie habe die Diskussion der symbolischen Formen (Robenpflicht, „weißer
Langbinder“, „Stehgymnastik“) befördert und die Frage aufgeworfen, ob dies
noch den liberalen Anschauungen der Zeit entspricht. Für den Rechtshistoriker
Uwe Wesel war es rückblickend gerade auch das befreiende Lachen, dem sogar
noch mehr Erfolg beschieden gewesen sei als den ernsten Justizreformern Wasser-
mann und Rasehorn.73 Ob diese sehr weit gehende Einschätzung zutrifft, mag der Be-
trachter selbst entscheiden. Es liegt in seinem Auge. Die Rechtsgeschichte der „68er“
bildet gleichwohl noch ein ausgesprochenes Forschungsdesiderat. Der Frankfurter
Strafprozessunordnung wird darin eine nicht unwesentliche Rolle zukommen.

71
Siehe auch Hakemi/Hecken, Die Warenhausbrandstifter (Fn. 4), S. 316 (317): „Um-
schlagspunkt von der verbalen zur späteren tödlichen politischen Gewalt“.
72
Vgl. Wassermann, „Offene, freundliche Gerichte und aktive Richter“ — Bilanz der in-
neren Justizreform, in: RuP 1989, 177 (185).
73
Uwe Wesel, Die verspielte Revolution. 1968 und die Folgen, 2002, S. 64; siehe auch
schon Werner Dolph, „Wenn es der Wahrheitsfindung dient“. Die Verfolgung und Ermordung
der Strafjustiz durch die Herren Teufel und Langhans (Schluss), in: Die Zeit v. 5. April 1968,
S. 13: „Die Bundesrepublik lachte, und es war ein befreiendes Lachen, nämlich eine Befrei-
ung vom autoritären Ton in den Sälen unserer Justiz. Seitdem hat er sich geändert“.
§ 81g StPO – Musterbeispiel für die schöne neue Welt
der Strafverfolgungsvorsorge?
Von Karsten Gaede

1981, vor fast 40 Jahren, erschien das Album „Computerwelt“ der Musik-Pioniere
„Kraftwerk“. Die Texte des Albums malen eine hoch technisierte und digitalisierte
Welt, in der offenbar auch die Strafverfolgung von ungeahnten Möglichkeiten der
Datenspeicherung lebt: „Interpol und Deutsche Bank, FBI und Scotland Yard, Flens-
burg und das BKA, haben unsere Daten da.“
Die Visionäre von Kraftwerk, die in Deutschland zur Zeit der RAF-Verfolgung
bereits einen (über-)fleißig Daten sammelnden BKA-Chef zur Anschauung hatten,1
haben Recht behalten. Die Erhebung und Speicherung von Daten, die Ermittlungs-
ansätze und Beweise für zukünftige Strafverfahren liefern sollen, ist ein reales
Thema, das heute weit über den lange nicht treffend eingeordneten Vorläufer der er-
kennungsdienstlichen Maßnahmen nach § 81b Var. 2 StPO hinausgeht.2 Der Staat er-
hebt und speichert zunehmend schon vor dem Tatverdacht in digitaler Form perso-
nenbezogene Informationen, um erklärtermaßen hypothetische Strafprozesse zu be-
wältigen.
Die explizite Regelung als Strafverfolgungsvorsorge („vorbeugende Verbrechens-
bekämpfung“) nahm in Deutschland mit der Erhebung und Speicherung von DNA-
Identifizierungsmustern ihren Anfang.3 Vorratsdatenspeicherung und Fluggastdaten-
speicherung zeigen, dass längst weitere und enorm weite Anwendungsfelder existie-
1
Dazu näher Baumann/Stephan, „Kommissar Computer“: Dr. Horst Herold und die
Geister, die er rief, in: Baumann/Reinke/Stephan/Wagner (Hrsg.), Schatten der Vergangenheit.
Das BKA und seine Gründungsgeneration in der frühen Bundesrepublik (2011), S. 79 – 86;
Hauser, Baader und Herold. Beschreibung eines Kampfes (1998); Schenk, Der Chef. Horst
Herold und das BKA (2000).
2
Hierzu siehe in Deutschland § 81b Var. 2 StPO und zur streitigen, überwiegend noch
präventiv-polizeilichen Einordnung Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81b
Rn. 3 f. und 12 f.; zur Rechtsprechung BVerwG NJW 1983, 772; 2018, 3194; auch BVerwG JZ
2006, 727, 728 f. m. bereits abl. Anm. Eisenberg/Puschke; zur sog. Strafverfolgungsvorsorge
allgemein auch Graulich NVwZ 2014, 685 ff. Siehe für die Forderung, § 81g StPO an § 81b
StPO anzugleichen, zum Beispiel König Kriminalistik 2004, 262, 264 ff. (zu entsprechenden
Forderungen siehe aber etwa Schewe JR 2006, 181, 182 ff. und vermittelnd Rogall, FS
Schroeder, S. 691, 705 ff.); auch das BVerfG nannte § 81g StPO anfangs in Anführungszei-
chen „genetischer Fingerabdruck“. Siehe ferner auch §§ 163b und 484 StPO sowie zur Zoll-
fahndung BT/Drs. 14/8007, S. 28.
3
Verwandt ist allerdings zum Beispiel auch die Tatprovokation, die an einem „Zukunfts-
verdacht“ ansetzt, zu ihr etwa Tyszkiewicz, Tatprovokation als Ermittlungsmaßnahme (2014).
1284 Karsten Gaede

ren oder zu diskutieren sind. Da das medizinisch und technisch Machbare rasant an-
wächst, dürfte die Vorsorge bald weitere Anwendungsfelder ergreifen.4 Die bereits
geschaffenen Regelungen stellen sich dann im tradierten Gang der Rechtsentwick-
lung als Einfallstore und Ankernormen für die nächsten Innovationen der Strafver-
folgung dar.
In meinem Beitrag möchte ich untersuchen, ob unsere Rechtsordnung mit der Re-
gelung des Testfalls der Erhebung und Speicherung von DNA-Identifizierungsmus-
tern bereits eine überzeugende Ankernorm vorfindet. Ich stelle zunächst das Grund-
konzept des § 81g StPO vor (I.). Sodann umreiße ich seine materiellen und formellen
Voraussetzungen (II.). Schließlich beleuchte ich die Legitimität dieser Norm auch im
Gesamtkontext der Verfolgungsvorsorge (III.), um mit abschließenden Thesen zu
enden (IV.). All dies geschieht in der Hoffnung, dass auch diese strafprozessuale Ar-
beit das Interesse des geschätzten und insbesondere im Medizinrecht prägend wir-
kenden Kollegen Reinhard Merkel findet. Sie widmet sich nach meiner Einschätzung
einem Zukunftsthema, das nicht zuletzt im Rückgriff auf genetische Daten besteht
und bestehen wird.

I. Das Konzept des § 81g StPO


Mit der DNA-Analyse kann die Strafverfolgung weltweit auf ein besonders leis-
tungsfähiges Erkenntnisinstrument zurückgreifen. Die DNA-Analyse kann Verurtei-
lungen absichern,5 aber zum Beispiel in Wiederaufnahmeverfahren ebenso zu zen-
tralen Entlastungen führen.6 DNA-Identifizierungsmuster wurden in Deutschland
zunächst nur erhoben und verwertet, um in laufenden Strafverfahren Täter zu ermit-
teln.7 Der große Erkenntniswert, der mit dem Abgleich von DNA-Spuren oft verbun-
den ist, führte aber zu dem Wunsch der Strafverfolgungsbehörden, auch für zukünf-

4
Siehe auch zu den Vorschlägen, die Felder der DNA-Analyse zu erweitern, den Entwurf
eines Gesetzes zur Modernisierung des Strafverfahrens der Bundesregierung vom 23. Oktober
2019, S. 5, 20 f., 29 ff. (die Strafverfolgungsvorsorge bleibt insofern aber noch unbetroffen,
S. 31). Zur vermehrt verlangten forensischen DNA-Phänotypisierung auch vgl. Markert, Fo-
rensische DNA-Phänotypisierung – die erweiterte DNA-Analyse (im Erscheinen, 2019).
5
Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81e Rn. 2 m.w.N.; den besonders
hohen Beweiswert hebt auch hervor BVerfGE 103, 21, 32; BT/Drs. 13/10791, S. 4: „heraus-
ragend“; ferner König Kriminalistik 2004, 262, 265; zur DNA-Analyse-Datei Löwe/Rosen-
berg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 1.
6
Siehe wegweisend das Innocence Project in den USA, online abrufbar unter www.inno
cenceproject.org (zuletzt abgerufen am 13. 01. 2020); siehe auch The National Registry of
Exonerations, ein Projekt der University of California Irvine Newkirk Center for Science &
Society, University of Michigan Law School und Michigan State University College of Law,
abrufbar unter https://bit.ly/1jVLjda (zuletzt abgerufen am 13. 01. 2020). Siehe aber auch zur
Begrenztheit dieses Gesichtspunkts Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 6.
7
Siehe die §§ 81e und 81f StPO und Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g
Rn. 1.
§ 81g StPO – Musterbeispiel für die neue Welt der Strafverfolgungsvorsorge? 1285

tige Strafverfahren Vorsorge zu betreiben. Der Abgleich von DNA-Spuren sollte


etwa bei Sexualdelikten schlagkräftiger werden.
Das Parlament ist diesem Wunsch 1998 mit dem DNA-Identitätsfeststellungsge-
setz (DNA-IFG) gefolgt.8 Es entschied sich, die Identitätsfeststellung per DNA-Ana-
lyse auch für künftige Verfahren zu ermöglichen, um Taten durch eine schnellere
Identifikation des Täters besser aufklären zu können.9 Entsprechend diesem Rege-
lungsziel wird der geschaffene § 81g StPO heute zu Recht als strafprozessuale
und damit nicht als gefahrenabwehrrechtliche Regelung begriffen.10
Der derart repressiv legitimierte § 81g StPO statuiert die Voraussetzungen, unter
denen Körperzellen entnommen, molekulargenetisch untersucht und die so gewon-
nenen Daten gespeichert werden dürfen. 1998 betonte der Gesetzgeber noch, dass er
die Datenerhebung in „sachgerechtem [und damit begrenztem] Umfang“ erweitere.11
Zwischenzeitlich hat er § 81g StPO mehrfach erweitert.12 Er hat ihn zum Beispiel
schon 2004 auf alle Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung erstreckt; ebenso
hat er zugelassen, dass mithilfe der DNA das Geschlecht bestimmt wird.13 Aktuell
existieren Vorschläge, die auf eine weitere Ausdehnung drängen.14
Bevor wir die materiellen und formellen Voraussetzungen der Norm analysieren,
ist aber nochmals zu präzisieren, was sie bisher gestattet und was sie nicht gestattet:
§ 81g Abs. 2 StPO unterstreicht, dass die entnommenen Körperzellen nur zugunsten
der Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters sowie des Geschlechts moleku-
largenetisch untersucht werden dürfen. Bei der Untersuchung dürfen andere Feststel-
lungen, die für die genannten Zwecke nicht erforderlich sind, weder angestrebt noch
getroffen werden. Zum Beispiel darf nicht der Versuch unternommen werden, aus der
DNA ein Persönlichkeitsprofil zu ermitteln.15

8
BGBl. I 1998, S. 2646.
9
BT/Drs. 13/10791; Volk NStZ 1999, 165, 166.
10
So auch zur Kompetenz m.w.N. BVerfGE 103, 21, 30 f.; Löwe/Rosenberg/Krause,
27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 2; Eisenberg/Puschke JZ 2006, 729, 730; Volk NStZ 1999, 165,
166 f. („antizipierte Repression“); a.A. früher etwa LG Berlin NJW 1999, 302; krit. Ohler StV
2000, 326, 327; Paeffgen StV 1999, 625, 626; siehe auch eher präventiv ansetzend EGMR
EuGRZ 2014, 285, 290 f.
11
BT/Drs. 13/10791, S. 1 („Datenerhebung in sachgerechtem Umfang“), S. 2 („keine
Routinemaßnahme“).
12
Dazu ausführlich Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Entstehungsge-
schichte (Vor Rn. 1); zur Novelle 2005 Senge NJW 2005, 3028, 3030 f.
13
Zu ersterem krit., das zweite begrüßend: Duttge/Hörnle/Renzikowski NJW 2004, 1065,
1070 ff.
14
Siehe neben Fn. 2 und 4 etwa die Bundesratsinitiative des Landes Bayern BR/Drs. 231/
17 vom 21. 3. 2017: Angleichung an die Auslegung des § 81b Var. 2 StPO; krit. dazu M.
Schneider NStZ 2018, 692, 696 f., auch zum Verstoß gegen Art. 8 EMRK, dazu ferner MüKo-
StPO/Gaede, 2017, Art. 8 EMRK Rn. 29.
15
Dazu auch BVerfGE 103, 21, 31 f.
1286 Karsten Gaede

Ferner begrenzt § 81g Abs. 5 StPO die Speicherung und Verwendung der erhobe-
nen Daten. Die Speicherung und Verwendung steht grundsätzlich nur dem BKA zu,
das nach Maßgabe des Bundeskriminalamtgesetzes (BKA-G) eine zentrale DNA-
Analyse-Datei führt (§ 81g Abs. 5 Satz 1 StPO).16 Übermitteln darf das BKA die ge-
speicherten Daten „für Zwecke eines Strafverfahrens, der Gefahrenabwehr und der
internationalen Rechtshilfe“ (§ 81g Abs. 5 Satz 3 StPO).
Wurden die zulässig zu erhebenden Daten gewonnen, sind die entnommenen Kör-
perzellen gemäß § 81g Abs. 2 Satz 1 StPO unverzüglich zu vernichten.

II. Materielle und formelle Anordnungsvoraussetzungen


Das Konzept der Regelung ist damit geschildert. Nun kann ich näher umreißen,
unter welchen materiellen und formellen Voraussetzungen die vorsorgliche Datener-
hebung und -speicherung zulässig ist:

1. Materielle Voraussetzungen

Zuerst ist von Interesse, welche materielle Schwelle der Gesetzgeber für die auf
Speicherungen bedachte Entnahme von Körperzellen und ihre molekulargenetische
Untersuchung aufgestellt hat:

a) Taugliche Adressaten

Zunächst sind alle Eingriffe nur gegenüber bestimmten Adressaten und folglich
nicht gegenüber jedermann gestattet. Gemäß § 81g Abs. 1 StPO kommen die Ein-
griffe gegenüber Beschuldigten in Betracht; sie betreffen also Personen, gegen die
tatverdachtsbedingt ein Strafverfahren geführt wird17 und damit auch Angeschuldig-
te und Angeklagte.18
§ 81g Abs. 4 StPO gestattet die Eingriffe zusätzlich gegenüber rechtskräftig Ver-
urteilten und ihnen gleichgestellten Personen. Gleichgestellt sind insbesondere Per-
16
Dieses Gesetz sieht dann für die DNA-Analyse-Datei Datenschutzbestimmungen vor,
dazu Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 66 m.w.N.
17
Ein materieller Beschuldigtenbegriff spielt insoweit nach dem Sinn und Zweck der
Norm keine Rolle. Siehe für den Beschuldigten ferner noch erweiternd die Anwendung gemäß
§ 81g Abs. 5 Satz 2 StPO in sog. Umwidmungsfällen des § 81e StPO, in denen bereits nach
§ 81e StPO erhobene Daten vorliegen, dazu Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019),
§ 81g Rn. 12b.
18
Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 11. Nach einem rechtskräftigen
Freispruch endet aber die Befugnis, Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 11;
Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 5 mit Verweis auf das noch wei-
tergehende OLG Oldenburg NStZ 2008, 711; siehe auch zu § 170 Abs. 2 StPO LG Heidelberg
StraFo 2016, 290 f. und Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 11.
§ 81g StPO – Musterbeispiel für die neue Welt der Strafverfolgungsvorsorge? 1287

sonen, die nicht verurteilt worden sind, weil ihre Schuldunfähigkeit oder ihre auf
Geisteskrankheit beruhende Verhandlungsunfähigkeit erwiesen oder nicht auszu-
schließen war.19 Der Rückgriff auf § 81g Abs. 4 StPO scheidet jedoch aus, wenn
die entsprechende Eintragung zwischenzeitlich im Bundeszentralregister oder Erzie-
hungsregister getilgt wurde.

b) Taugliche Anlasstat

Neben dem tauglichen Eingriffsadressaten muss der Verdacht einer tauglichen


Anlasstat vorliegen. Hierfür genügt dem Gesetz schon ein einfacher Tatverdacht
bzw. der Anfangsverdacht im Sinne des § 152 Abs. 2 StPO.20 Allerdings muss der
Verdacht der tauglichen Anlasstat im Moment der Anordnung der Maßnahmen
noch bestehen. Seine zwischenzeitliche Ausräumung oder Abschwächung unterhalb
die Erheblichkeitsschwelle macht die Datenerhebung unzulässig.21
Konkret eröffnet das Gesetz drei Fallgruppen tauglicher Anlasstaten:

aa) Straftat von erheblicher Bedeutung

Als erste Fallgruppe nennt § 81g Abs. 1 Satz 1 Var. 1 StPO die Straftat von erheb-
licher Bedeutung. Der Gesetzgeber und die Gerichte verstehen darunter wie in ande-
ren Eingriffsnormen22 eine Tat, die mindestens dem Bereich der mittleren Krimina-
lität zuzurechnen ist, die den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das
Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen.23
Reine Bagatelldelikte genügen dem sicher nicht.24 Besonders in Betracht kommen
Verbrechen,25 wenngleich auch hier eine Einzelfallabwägung erfolgen muss, um das
konkrete Tatunrecht anhand belastender und entlastender Umstände zu ermitteln.26

19
Hinzu tritt der Fall der fehlenden oder nicht auszuschließenden fehlenden Verantwort-
lichkeit nach § 3 des Jugendgerichtsgesetzes. Nach dem deutschen Strafrecht muss nach dieser
Norm die Verantwortlichkeit der bereits 14 Jahre, aber noch nicht 18 Jahre alten Jugendlichen
im Einzelfall geprüft werden.
20
Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 25; Senge NJW 1999, 253, 254.
21
Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 12; Löwe/Rosenberg/Krause,
27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 18, 25 (gerade auch zur Anordnung der Untersuchung); siehe
überdies § 484 Abs. 2 Satz 2 StPO.
22
Der Begriff wird etwa auch in den §§ 98a, 100h, 110a, 131, 131a, 131b, 160a, 163e, 163f
StPO und in § 2 Abs. 1 BKAG benutzt.
23
BT/Drs. 13/10719, S. 5; BVerfGE 103, 21, 34; BGH HRRS 2012 Nr. 460; Meyer-Goß-
ner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 7a.
24
Dazu nur Rieß GA 2004, 623, 627.
25
Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 19; a.A. Senge NJW 1999, 253,
254; vermittelnd SK/Rogall, StPO, 4. Aufl. (2017), § 81g Rn. 20 f.
26
Ausführlich Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 17 ff., insbesondere
Rn. 19: Für eine Tat von nicht erheblicher Bedeutung sprechen etwa eine Strafrahmenver-
1288 Karsten Gaede

bb) Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung

Die zweite Fallgruppe der tauglichen Anlasstaten besteht gemäß § 81g Abs. 1
Satz 1 Var. 2 StPO in den Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Dies erfasst
jedenfalls ausnahmslos alle Taten der §§ 174 ff. StGB.27 Insoweit kann es etwa beim
Vorwurf einer Vergewaltigung zu Überschneidungen mit der ersten Fallgruppe der
Straftat von erheblicher Bedeutung kommen.28 Nach der gesetzgeberischen Konzep-
tion kommt es für den Verdacht eines Sexualdelikts aber gerade nicht darauf an, dass
die Erheblichkeitsschwelle im Einzelfall erreicht wird.29

cc) Wiederholte Begehung sonstiger Straftaten

Schließlich sieht § 81g Abs. 1 Satz 2 StPO noch eine dritte Fallgruppe von Anlass-
taten vor. Die Norm erkennt an, dass die wiederholte Begehung von Straftaten, die ein-
zeln betrachtet nicht die Erheblichkeitsschwelle überschreiten, in ihrer Summe der Be-
gehung einer Straftat von erheblicher Bedeutung gleichstehen kann.30 Auch hier ent-
scheidet sodann eine Einzelfallabwägung darüber, ob die Fallgruppe erfüllt ist.31

c) Wiederholungsgefahr

Zum tauglichen Adressaten und zur tauglichen Anlasstat muss noch ein weiteres
Erfordernis hinzutreten: die anzunehmende Gefahr eines wiederholt zu führenden
Strafverfahrens wegen einer Straftat von erheblicher Bedeutung. Konkret verlangt
die StPO, dass infolge der Art oder Ausführung der Tat, der Persönlichkeit des Be-
schuldigten oder sonstiger Erkenntnisse Grund zu der Annahme besteht, dass gegen
ihn künftig Strafverfahren wegen einer Straftat von erheblicher Bedeutung zu führen
sind. Entsprechendes gilt für Verurteilte und gleichgestellte Personen.32

schiebung, das Eingreifen eines gesetzlichen Strafmilderungsgrundes, die Verhängung einer


Geld- oder Bewährungsstrafe bzw. das gänzliche Absehen von Strafe, tatferne Beteiligungs-
und bloße Vorbereitungshandlungen sowie psychische Defizite des Täters; BVerfGE 103, 21,
34, 36, 38: Gerichte zur Einzelfallprüfung gezwungen; gerade auch für Jugendliche BVerfG
NJW 2008, 281, 282 f.; StV 2014, 578 ff. Grundsätzlich a.A. aber Meyer-Goßner/Schmitt,
StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 7a.
27
Siehe aber noch ohne die §§ 184i und § 184j StGB: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO,
62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 7b.
28
Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 23.
29
BT/Drs. 15/350, S. 3, 11, 23. Entsprechend erkennt das Schrifttum darin deshalb einen
Auffangtatbestand, siehe nur Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 23.
30
Zu § 81g Abs. 1 Satz 2 StPO als gesetzlicher Gleichstellungsklausel siehe SK/Rogall,
4. Aufl. (2017), § 81g Rn. 27.
31
M.w.N. BVerfG NStZ-RR 2007, 378; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019),
§ 81g Rn. 7c; krit. Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 24; mit dem Beispiel
des Hausfriedensbruchs/Stalkings BT/Drs. 15/5674, S. 11.
32
Im Folgenden werden die gleichgestellten Personen nicht stets nochmals miterwähnt; sie
sind jeweils mitgemeint.
§ 81g StPO – Musterbeispiel für die neue Welt der Strafverfolgungsvorsorge? 1289

aa) Art und Bezugspunkt der Prognose

Mit dieser Voraussetzung kommt es auf eine Prognose an, die für den konkreten
Einzelfall und damit für den individuellen Beschuldigten bzw. Verurteilten zu erstel-
len ist.33 Der Wortlaut „Grund zu der Annahme“ wird dabei in der Praxis offenbar
großzügig als Erfordernis eines gewissen Tatverdachts interpretiert,34 während das
BVerfG die Wahrscheinlichkeit zukünftig begangener Straftaten auf Grund von
schlüssigen Tatsachen nach einer zureichenden Sachverhaltsaufklärung verlangt.35
Die Verdachtsprognose muss sich gerade auf eine Straftat von erheblicher Bedeutung
nach den Bedingungen des § 81g Abs. 1 Satz 1 Var. 1 StPO richten.36

bb) Tatsächliche Anhaltspunkte für die Prognose

Diese Prognose ist ersichtlich schwierig zu leisten. Der Wortlaut scheint zu um-
reißen, woraus sie abgeleitet werden darf: Die Art oder Ausführung der Tat, die Per-
sönlichkeit des Beschuldigten, aber auch „sonstige Erkenntnisse“ können entschei-
dende tatsächliche Anhaltspunkte ausmachen. Dabei sollen einzelne Umstände der
Anlasstat einander verstärken oder durch andere kompensiert werden können; über

33
BVerfGE 103, 21, 35 f.; Krause, FS Rieß, S. 267, 276 f. Zur Abgrenzung von anderen
Prognoseerfordernissen des deutschen Strafrechts m.w.N. Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl.
(2017), § 81g Rn. 27 und BVerfGE 103, 21, 36; LG Dresden, Beschl. v. 25. 09. 2006 – 3 Qs
108/04 – Rn. 23 f. Zur Verwandtschaft mit der Prognose des § 16 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 lit. a
BKAG BT/Drs. 13/10791, S. 5; OLG Karlsruhe StraFo 2001, 308, 309; SK/Rogall, 4. Aufl.
(2017), § 81g Rn. 37; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 8; Fluck
NJW 2001, 2292, 2293; a.A. Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 27.
34
Dafür etwa Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 7c (am Ende);
eher großzügig etwa auch LG Dresden, Beschl. v. 25. 09. 2006 – 3 Qs 108/04 – Rn. 23 f.
35
BVerfGE 103, 21, 37, 39; Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 27 und
29; siehe auch zum Gebot „zureichender Sachaufklärung“ BVerfGE 103, 21, 35 f.; BVerfG
NJW 2008, 281, 282 f.; NStZ-RR 2014, 48, 49.
36
Siehe hier begrenzend für lediglich zu erwartende Taten des Exhibitionismus m.w.N.
Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 7b. Im Übrigen ist der Bezugspunkt
dieser Prognose umstritten, da das Gesetz von der Gefahr drohender zukünftiger Strafver-
fahren und nicht von der Gefahr zukünftig drohender Straftaten spricht. Unzweifelhaft erfasst
ist die Prognose erheblich bedeutsamer Straftaten, die nach einer Eingriffsanordnung began-
gen werden. Oft lassen Autoren und Gerichte aber zusätzlich die Prognose genügen, dass in
Zukunft ein weiteres Strafverfahren wegen einer Straftat zu führen sein wird, die bereits vor
einer Eingriffsanordnung begangen wurde, dafür u. a. LG Frankfurt a.M. StV 2001, 9 f.; SK/
Rogall, 4. Aufl. (2017), § 81g Rn. 30 ff., 36; Meyer-Goßner/Schmitt, 62. Aufl. (2019), § 81g
Rn. 8; BeckOK/Goers, 34. Ed. (2019), § 81g Rn. 6; West, Der genetische Fingerabdruck als
erkennungsdienstliche Standardmaßnahme usw. (2006), S. 68 f.; Schewe JR 2006, 181, 186;
Fluck NJW 2001, 2292, 2293; Markwardt/Brodersen NJW 2000, 692, 694; a.A. etwa Löwe/
Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 13 f., 29; KK/Hadamitzky, 8. Aufl. (2019),
§ 81a Rn. 9; SSW/Bosch, 3. Aufl. (2018), § 81g Rn. 14.
1290 Karsten Gaede

die Prognose soll eine stets erforderliche umfassende Würdigung aller Umstände des
Einzelfalls entscheiden.37
(a) Die „Art oder Ausführung der Tat“ bezieht sich auf die konkrete Anlasstat.38
Die Art der Begehung verweist insoweit zentral auf den Deliktstypus. In Frage kom-
men insbesondere schwere Gewalt- oder Sexualdelikte, die nach kriminalistischer
Erfahrung wiederholt begangen werden.39 Hinsichtlich der Tatausführung soll zum
Beispiel ein „professionelles“ Vorgehen und eine mehrfache Begehung im anhängi-
gen Verfahren für eine Wiederholungsgefahr sprechen; Gleiches gilt für ein planmä-
ßiges, wiederholtes, gewerbs- oder bandenmäßiges Vorgehen.40 Gegen eine tatbezo-
gene Wiederholungsgefahr können etwa ein spontanes Vorgehen oder ein fehlender
Tatplan sprechen.41 Besondere Sorgfalt bei der Auswertung der Tatumstände soll ge-
boten sein, wenn die Anlasstat in einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung
liegt, der für sich genommen keine erhebliche Bedeutung zukommt.42
(b) Unter dem Stichwort der „Persönlichkeit des Beschuldigten“ werden Umstän-
de relevant, die in der Sphäre des Beschuldigten bzw. Verurteilten liegen und die auf
seine „innere Bereitschaft […; schließen lassen, erhebliche] Straftaten zu bege-
hen“.43 In Betracht kommen zum Beispiel Handlungsmotive, eine vom Täter
(§ 81g Abs. 4 StPO) angekündigte Tatwiederholung, sein Nachtatverhalten, das Be-
stehen von Vorstrafen, der Zeitablauf seit der letzten Tatbegehung/dem letzten Ver-
dacht, das Bewährungsverhalten und die früheren und aktuellen Lebensumstände.44
Auch die Zugehörigkeit zu einer „Szene“ bzw. der Ausstieg daraus soll relevant
sein.45
(c) Indem das Gesetz schließlich „sonstige Erkenntnisse“ genügen lässt, gesteht es
ein, dass es die Tatsachengrundlage letztlich nicht eingeschränkt hat. Nach der Lite-
ratur sollen zum Beispiel Informationen genügen können, die auf private Informan-
ten, V-Leute und Verdeckte Ermittler zurückgehen,46 ebenso kriminalistisch und kri-
minologisch anerkannte Erfahrungssätze.47
37
BVerfG NJW 2016, 2799 f.: auch der Prognose entgegenstehende Tatsachen zu würdi-
gen; Löwe/Rosenberg/Krause, 26. Aufl. (2008), § 81g Rn. 31.
38
Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 32.
39
Zu beidem siehe etwa SK/Rogall, 4. Aufl. (2017), § 81g Rn. 40.
40
Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 32.
41
OLG Karlsruhe StraFo 2001, 308, 309.
42
BT/Drs. 15/350, S. 23; Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 34. Siehe
auch zur Anordnung gegenüber Jugendlichen krit. BVerfG NJW 2008, 281, 282 f.; StV 2014,
578 ff.
43
BT/Drs. 13/7208, S. 40; Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 33.
44
Überblick und weitere Nachweise bei Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g
Rn. 33.
45
Überblick und weitere Nachweise bei Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g
Rn. 33.
46
Dazu für den Fall ihrer Verwertbarkeit im Strafverfahren m.w.N. Löwe/Rosenberg/
Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 36.
§ 81g StPO – Musterbeispiel für die neue Welt der Strafverfolgungsvorsorge? 1291

d) Eignung und Erforderlichkeit der Maßnahmen

Selbst wenn die Prognose der Wiederholungsgefahr gestellt werden kann, darf
eine weitere Voraussetzung nicht übersehen werden: Die molekulargenetische Un-
tersuchung und die für sie notwendige Zellentnahme muss zur Identitätsfeststellung
in künftigen Strafverfahren auch geeignet und erforderlich sein. Von der Durchfüh-
rung der Untersuchung muss in späteren Verfahren ein Aufklärungserfolg zu erwar-
ten sein.48 Aus diesem Grund scheidet der Rückgriff selbst bei einer bestehenden
Wiederholungsgefahr aus, wenn sie Delikte betrifft, bei denen Täter nach allgemei-
ner Erfahrung im Rahmen der Tatausführung keine Körperzellen hinterlassen.49
Damit unterfällt etwa die Gefahr von Aussagedelikten oder Computerdelikten regel-
mäßig nicht dem § 81g StPO.50

e) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne

Über den Wortlaut der Norm hinaus ist aus allgemeinen verfassungsrechtlichen
Gründen schließlich der Vorbehalt zu machen, dass die Eingriffe auch im Einzelfall
nicht unangemessen sein dürfen (sog. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne).51 Die
zu wahrende Angemessenheit klingt im Wortlaut immerhin in den Begründungsan-
forderungen des § 81g Abs. 3 Satz 3 Nr. 3 StPO an, die eine „Abwägung der jeweils
maßgeblichen Umstände“ verlangen.

2. Formelle Voraussetzungen

Nach den materiellen Voraussetzungen sind knapper die formellen Voraussetzun-


gen zu schildern, die in § 81g Abs. 3 StPO geregelt sind:

47
Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 8.
48
BVerfGE 103, 21, 37; LG Würzburg StraFo 2010, 22 f.; KK/Hadamitzky, StPO, 8. Aufl.
(2019), § 81g Rn. 8; siehe schon für eine Zuordnung des Erfordernisses zur Anlasstat Meyer-
Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 7a; anders aber schon BVerfGE 103, 21,
34.
49
So hat etwa das OLG Celle am Beispiel der Hehlerei verdeutlicht, dass nicht entschei-
dend ist, ob gerade bei der Anlasstat im Einzelfall Identifizierungsmaterial hinterlassen wurde,
OLG Celle NStZ-RR 2010, 149, 150: potenzielle Aufklärungsrelevanz am Typus der zu er-
wartenden Straftat festzumachen (weitgehend verneint für die Hehlerei).
50
Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 7a; BT/Drs. 13/10791, S. 5;
zur besonders umstrittenen Gruppe der BtMG-Delikte siehe etwa Löwe/Rosenberg/Krause,
27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 38 Fn 289 m.w.N., zur bejahenden hM Meyer-Goßner/Schmitt,
StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 7a. Zur Kasuistik im Übrigen KK/Hadamitzky, 8. Aufl.
(2019), § 81g Rn. 8; Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 3.
51
Dazu nur überzeugend m.w.N. Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 5
und 8; nur mittelbar und zweifelhaft Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g
Rn. 7a.
1292 Karsten Gaede

a) Anordnungskompetenzen

Sowohl die Entnahme der Körperzellen als auch die molekulargenetischen Unter-
suchungen dürfen grundsätzlich nicht durch die Kriminalpolizei angeordnet werden.
Selbst die Staatsanwaltschaft ist zur Anordnung nur dann befugt, wenn der Beschul-
digte bzw. Verurteile schriftlich in die Entnahme der Körperzellen und/oder die mo-
lekulargenetischen Untersuchungen eingewilligt hat (§ 81g Abs. 3 Satz 1 und 2
StPO).52 Neben der Schriftform53 setzt die wirksame Einwilligung eine vorherige
ordnungsgemäße Aufklärung über die Maßnahmen voraus.54 Der Einwilligende
muss einwilligungsfähig sein und frei von Willensmängeln handeln.55 Von den ma-
teriellen Voraussetzungen der Eingriffe entbindet die Einwilligung in keinem Falle.56
Liegt die Einwilligung nicht vor, darf die Entnahme der Körperzellen grundsätz-
lich nur durch das Gericht angeordnet werden. Besteht Gefahr im Verzug, dürfen aus-
nahmsweise auch die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen die Zellent-
nahme anordnen (zu beiden § 81g Abs. 3 Satz 1 StPO).
Die molekulargenetische Untersuchung entnommener Körperzellen darf ohne die
Einwilligung des Betroffenen allein das Gericht anordnen (§ 81g Abs. 3 Satz 2
StPO). Da die Untersuchung des Zellmaterials Grundrechte intensiver als die eher
geringfügige Zellentnahme beeinträchtigt, steht sie unter einem strikten Richtervor-
behalt.57

b) Formalia der Anordnungen

Über die Anordnungskompetenz hinaus sind weitere Erfordernisse zu bedenken.


Die einwilligende Person ist darüber zu belehren, für welchen Zweck die zu erheben-
den Daten verwendet werden (§ 81g Abs. 3 Satz 3 StPO). Erlässt das Gericht eine
schriftliche Anordnung, muss es die Anordnungsvoraussetzungen einzelfallbezogen
darlegen; es muss damit insbesondere die Erkenntnisse benennen, aus denen die Er-
wartung zukünftig zu führender Strafverfahren resultiert (näher §§ 81g Abs. 3

52
Zur Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017),
§ 81g Rn. 51.
53
Sie soll der Aufklärung sowie der Dokumentation (dem Nachweis) dienen, BT/Drs. 15/
5674, S. 11 und 12.
54
BGH medstra 2015, 381, 382; Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g
Rn. 53 f.; MüKo/Trück, StPO 1. Aufl. (2014), § 81g Rn. 22; Markwardt/Brodersen NJW 2000,
692, 693.
55
Erst recht dürfen die Strafverfolgungsbehörden ihn insbesondere nicht täuschen, siehe
weiterführend Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 52: Freiwilligkeit fehlt
etwa dann, „wenn dem Beschuldigten vermittelt wird, dass sich die Einwilligung in die
Maßnahme vorteilhaft für [ihn] im laufenden Verfahren auswirken bzw. eine Verweigerung
[…] als Indiz für seine Täterschaft […] gewertet werden könne“.
56
Dies hebt zu Recht hervor: Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 51.
57
Meyer-Goßner/Schmitt, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 15, 17; Volk NStZ 1999, 165, 168.
§ 81g StPO – Musterbeispiel für die neue Welt der Strafverfolgungsvorsorge? 1293

Satz 4, 81f Abs. 2 Satz 4 StPO).58 Jedenfalls die zwangsweise Entnahme von Körper-
zellen muss durch einen Arzt durchgeführt werden.59 Mit der Untersuchung sind aus-
gewählte unabhängige Sachverständige zu beauftragen (näher §§ 81g Abs. 3 Satz 4,
81f Abs. 2 Satz 1 StPO). Durch technische und organisatorische Maßnahmen sind
unzulässige molekulargenetische Untersuchungen und unbefugte Kenntnisnahmen
Dritter auszuschließen (§§ 81g Abs. 3 Satz 4, 81f Abs. 2 Satz 2 StPO). Dem Sach-
verständigen ist das Untersuchungsmaterial anonymisiert zu übergeben (näher
§§ 81g Abs. 3 Satz 4, 81f Abs. 2 Satz 3 StPO).

III. Legitime und zukunftsweisende Strafverfolgung?


Die materielle und formelle Schwelle, die der Gesetzgeber für die DNA-Strafver-
folgungsvorsorge aufgestellt hat, ist damit bekannt. Nun ist aber zu bewerten, ob in
§ 81g StPO auch eine legitime und für weitere Fälle der Strafverfolgungsvorsorge
vorbildgebende Regelung liegt.

1. Bewertungsebenen

In die Bewertung des § 81g StPO sollten zunächst zwei notwendige Bewertungs-
ebenen einbezogen sein:

a) Grundsätzliche Erweiterung der Ermittlungseingriffe

Zunächst müssen wir zur Kenntnis nehmen und in Maßstäbe übersetzen, dass wir
Zeuge einer grundsätzlichen Ausweitung der Justizpflicht werden, die wir dem Be-
schuldigten und letztlich allen Bürgern abverlangen: Ohne einen aktuellen Tatver-
dacht werden Bürger zugunsten der Strafverfolgung gezwungen, Rechte preiszuge-
ben. Grundrechte werden jenseits einer konkreten polizeirechtlichen Gefahr zurück-
gesetzt. Es werden private Daten gesammelt, die faktisch für eine Vielzahl von Ver-
wendungen in Betracht kommen und damit missbraucht werden könnten. Darin liegt
eine prinzipielle Ausweitung des Zugriffs, den der Staat mit dem Argument der straf-
rechtlichen Tatverdachtsklärung beansprucht. All dies trifft den Beschuldigten, ob-
schon ihm der zugrunde liegende Tatverdacht nicht notwendigerweise zugerechnet

58
§ 81g Abs. 3 Satz 3 StPO lautet: In der schriftlichen Begründung des Gerichts sind
einzelfallbezogen darzulegen 1. die für die Beurteilung der Erheblichkeit der Straftat be-
stimmenden Tatsachen, 2. die Erkenntnisse, auf Grund derer Grund zu der Annahme besteht,
dass gegen den Beschuldigten künftig Strafverfahren zu führen sein werden, sowie 3. die
Abwägung der jeweils maßgeblichen Umstände.
59
Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 9; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO,
62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 3 („idR“).
1294 Karsten Gaede

bzw. vorgeworfen werden kann.60 Zum Beispiel bei den im Besonderen betroffenen
Sexualstraftaten kann eine schlicht falsche Beschuldigung den Verdacht auslösen.
Die Identifikation dieser Ausweitung ist bedeutsam, weil in ihr eine strukturelle
Neugewichtung im Verhältnis von Freiheit und (strafrechtlich vermittelter) Sicher-
heit angelegt ist. Sie bedeutet aber nicht, dass wir die Strafverfolgungsvorsorge ka-
tegorisch verwerfen sollten: Der Tatverdacht erweist sich in einem freiheitlichen
Rechtsstaat als Ausprägung des Gebots, das Strafrecht durch die Aufklärung von
Sachverhalten nur verhältnismäßig durchzusetzen. Der Verzicht auf einen bereits ak-
tuell zu klärenden Tatverdacht macht sichtbar, dass der Staat die Aufgabe der Straf-
verfolgung nun in einem ausgedehnten Ausmaß beansprucht. Gleichwohl erachten
wir das noch immer verfolgte Ziel der Straftataufklärung aus gutem Grund für prin-
zipiell legitim.61 Es ist daher zu fragen, ob wir die bisher insbesondere über den Tat-
verdacht gesicherte Verhältnismäßigkeit und mit ihr das – mehr oder weniger – bis-
lang erstrittene Verhältnis von Freiheit und Sicherheit nicht trotz der identifizierten
Ausdehnung auf anderem Weg sichern können. Dies kommt in Betracht, wenn an-
dere begrenzende Eingriffsschwellen einen Ausgleich mit den nun früher betroffenen
Grundrechten leisten und spezifische Bedürfnisse der Strafverfolgung dargetan
sind.62
Eine in diesem Sinne anders ansetzende Legitimation der Strafverfolgungsvorsor-
ge ist auch in einer historischen Perspektive durchaus zu durchdenken. Etwa die
Frage nach der Erhebung und Speicherung von DNA-Mustern oder von Vorratsdaten
hat sich früher schlicht nicht gestellt. Erst die medizinischen/genetischen und insbe-
sondere technologischen Innovationen haben Erkenntnismöglichkeiten geschaffen,
deren Wert wir heute nach den Maßstäben der Grundrechte und der Strafrechtspflege
kritisch prüfen können, aber auch kritisch prüfen müssen. Ferner erkennen wir mit
dem Gefahrenabwehrrecht traditionell an, dass Datensammlungen nicht ausschließ-
lich über einen aktuellen Tatverdacht gerechtfertigt werden müssen.

b) Maßnahmenbezogene grundrechtliche Rechtfertigung

Gleichwohl ist zu bekennen, dass dieser Ansatz an einer notwendigen und auf
neue Kriterien abstellenden Verhältnismäßigkeitsbeurteilung noch keine konkreten
Maßstäbe bietet. Dies ist besonders misslich, weil das stetig wachsende medizinisch/
genetisch und technisch Machbare immer weitere Ermittlungsansätze ermöglichen
60
Siehe näher zum Problem der Legitimation der verfahrensrechtlichen Belastungen ge-
genüber dem Beschuldigten m.w.N. Gaede ZStW 129 (2017), 911 ff.
61
Dafür schon näher m.w.N. zur Rechtsprechung, die ein Gebot zur Etablierung einer
funktionstüchtigen Rechtspflege anerkennt, Gaede wistra 2016, 89 ff.; siehe zu den Folge-
rungen für § 81g StPO auch Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 3 und auch
Eisenberg/Puschke JZ 2006, 729, 730 und 731: Anfangsverdacht entsprechende Eingriffs-
schwelle, welche die Verhältnismäßigkeit leistet.
62
Siehe auch weithin gleichsinnig BVerfGE 103, 21, 34: Maßnahme auf besondere Fälle
beschränkt.
§ 81g StPO – Musterbeispiel für die neue Welt der Strafverfolgungsvorsorge? 1295

dürfte; sie dürften immer wieder Druck auf einmal gesetzte Grenzen ausüben.63 Auch
deshalb muss noch eine zweite, immerhin konkretere Bewertungsebene von Bedeu-
tung sein:
Wir dürfen das Problem nicht ausschließlich abstrakt entwickeln. Vielmehr müs-
sen wir gerade auch die vorliegende Maßnahme in den Blick nehmen. Dies heißt zum
einen, die von ihr konkret betroffenen Grundrechte zu analysieren. Hier können be-
sonders stark zu schützende Grundrechte etwa deshalb betroffen sein, weil die Maß-
nahmen besonders sensible Gesundheits-/Gendaten erfassen. Dies kann zum Bei-
spiel in Gestalt der digital manifestierten Erhebung eines Persönlichkeitsprofils ab-
solute und konkretere Grenzen aufdecken.64 Ebenso können besondere Gefahren wie
ein chilling effect für die Grundrechtsausübung oder etwa die massenhafte Datener-
hebung von Bedeutung sein. Dies spielt vor allem bei der Vorratsdatenspeicherung
eine Rolle.65 Auf der anderen Seite ist kritisch aufzunehmen, welche Ermittlungs-
erfolge wirklich von den schönen neuen Möglichkeiten der Strafverfolgungsvorsorge
erwartet werden dürfen und welche Bedeutung diese im Strafprozess hätten.

2. § 81g StPO: legitim und vorbildgebend?

Von diesem allgemeineren Maßstab ausgehend, der sicher der weiteren Vertie-
fung zugänglich ist, lässt sich konkret für § 81g StPO erörtern, ob in ihm eine legi-
time und entsprechend vorbildgebende Strafverfolgungsvorsorge liegt.
Das BVerfG66 jedenfalls hat die Legitimität des § 81g StPO ebenso wie der
EGMR67 bestätigt. Das Gericht hat zunächst klar bekannt, dass in der Erhebung
und Speicherung von DNA-Erkenntnissen für zukünftige Strafverfahren ebenso
wie in der Verwendung für die in § 81g Abs. 5 StPO genannten Zwecke eigenstän-
dige Eingriffe in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung liegen.68 Ins-
gesamt hat das BVerfG die Verfassungskonformität des § 81g StPO aber bejaht; auch
in seiner heutigen, mehrfach erweiterten Form seien die mit der Norm verbundenen

63
Dazu schon Fn. 4 und 14.
64
Siehe zur DNA-Analyse schon die Erwägungen des BVerfG zu einer absoluten Grenze
wegen einer betroffenen Persönlichkeitsanalyse BVerfGE 103, 21, 31 f.; Löwe/Rosenberg/
Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 3: keine Eingriffe in den codierten Bereich der DNA.
Daran arbeitet sich sodann auch ab: Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Straf-
verfahrens der Bundesregierung vom 23. Oktober 2019, S. 30.
65
Dazu nur EuGH, Urt. v. 8. 4. 2014 – C-293-12 und C-594-12 und bestätigend sowie
ausbauend EuGH, Urt. v. 21. 12. 2016 – C-203-15 und C-698-15.
66
BVerfGE 103, 21, 32 ff.; NStZ-RR 2007, 378.
67
So zu Art. 8 EMRK EGMR EuGRZ 2014, 285, 289 ff.
68
BVerfGE 103, 21, 32 f.; dazu bereits Benfer StV 1999, 402 f.; zum demgegenüber eher
untergeordneten, wenngleich nicht zu übersehenden Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Löwe/
Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 5 und 9.
1296 Karsten Gaede

Eingriffe nicht zuletzt infolge der kumulativ aufgestellten Eingriffsvoraussetzungen


verhältnismäßig.69

a) Gesetzesvorbehalt und Grundrechtsschutz durch Verfahren

Dem ist zunächst hinsichtlich der Geltung des Gesetzesvorbehalts zuzustimmen.


Das BVerfG hat nicht etwa versucht, die vorliegenden mehrfachen Grundrechtsein-
griffe zu leugnen. Es hat einmal mehr anerkannt, dass jede Erhebung, Speicherung
und Verwendung personenbezogener Informationen insbesondere bei den hier be-
troffenen Gesundheitsdaten einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedarf.
Entsprechend verlangt das BVerfG, wie der EGMR, gesetzliche Grundlagen, welche
die Eingriffe formell legitimieren und begrenzen.70 Eine solche Grundlage hat der
deutsche Gesetzgeber aber mit § 81g StPO geschaffen. Ihr ist zuzubilligen, dass
sie anstrebt, die Eingriffe im Wege eines Grundrechtsschutzes durch Verfahren zu
begrenzen:71 Ein weitgehend strenger Richtervorbehalt verdeutlicht den Ernst der
Eingriffe. Ferner unterstreichen die Forderung nach der einzelfallkonkreten Anord-
nungsbegründung und das klare Gebot zur anschließenden Vernichtung der DNA-
Probe die materiellen Grenzen.
Gleichwohl sind Abstriche zu machen, weil die Regelung dem Beschuldigen je-
denfalls nach der aktuellen, verfehlt erscheinenden Praxis ohne Not kein rechtliches
Gehör gewährt.72 Vor allem wird man mindestens für die zuletzt eingefügte Fallgrup-
pe der quantitativ begründeten Straftat von erheblicher Bedeutung bezweifeln müs-
sen,73 dass dem Gesetzgeber auch ein hinreichend bestimmtes Eingriffsgesetz gelungen
ist: Es droht eine Praxis, die mehr oder weniger routiniert aus wiederholten Taten
oder Verdachtslagen auf eine jeweils erhebliche Bedeutung drohender Straftaten
schließt. Dies gilt auch deshalb, weil schon der Begriff der Straftat von erheblicher
Bedeutung im Allgemeinen mit seiner Einzelfallbezogenheit keine scharfe Grenze
zieht.74 Ein ausdifferenzierter Straftatenkatalog wäre vorzugswürdig gewesen.75

69
BVerfGE 103, 21, 32 ff. (auch zur behaupteten Bestimmtheit und Normenklarheit); zu
Erweiterungen BVerfG NStZ-RR 2007, 378.
70
BVerfGE 103, 21, 32 ff.
71
Dazu auch BVerfGE 103, 21, 34 und EGMR EuGRZ 2014, 285, 289 f.
72
M.w.N. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 15; dagegen schon
Volk NStZ 1999, 165, 169 f.; Krause, FS Rieß, S. 267, 285 f.; Löwe/Rosenberg/Krause,
27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 55.
73
M.w.N. Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 24; zweifelnd KK/Ha-
damitzky, 8. Aufl. (2019), § 81g Rn. 7; Bergemann/Hornung StV 2007, 164, 166, 168; für die
Bestimmtheit aber BVerfG NStZ-RR 2007, 378; EGMR EuGRZ 2014, 285, 289 f.
74
Zur Kritik Fluck NJW 2001, 2292, 2293; zum Streit um die Erfassung möglicher Fahr-
lässigkeitstaten einerseits Rieß GA 2004, 623, 638 und BGH HRRS 2012 Nr. 460 (bejahend),
andererseits Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 22 (verneinend); anders
aber BVerfGE 103, 21, 33 f. (noch auf der Basis verbleibender Regelbeispiele).
§ 81g StPO – Musterbeispiel für die neue Welt der Strafverfolgungsvorsorge? 1297

b) Materielle Reichweite

Zur materiellen Reichweite fällt das Votum ebenfalls geteilt aus. Es ist anzuerken-
nen, dass sich der Gesetzgeber bemüht, den entfallenden aktuellen Tatverdacht durch
eine andere Begrenzungsstrategie zu ersetzen. Er greift nicht zu einer flächendecken-
den Datensammlung und bemüht sich, einen besonderen Bedarf für die Strafverfol-
gungsvorsorge durch mehrere Merkmale zu typisieren, welche die Eingriffe dem Be-
troffenen zurechenbar erscheinen lassen sollen. Nicht etwa schließt das Parlament
aus der Nützlichkeit einer prinzipiellen Datenerhebung und Datenspeicherung auf
die Befugnis zu einer umfassenden Vorsorge.
Darin liegt ein prinzipieller Fortschritt gegenüber der bisher in Deutschland ins-
besondere für Lichtbilder und Fingerabdrücke geltenden Regelung (§ 81b Var. 2
StPO): Sie verweist einfach inakzeptabel auf die keine Zurechenbarkeit verbürgende
Beschuldigtenstellung und erfährt allenfalls durch die Rechtsprechung noch eine ge-
wisse Beschränkung auf eine kriminalistisch begründete Notwendigkeit.76
Dennoch ist eine wirklich überzeugende Lösung noch nicht gelungen. Zunächst
ist zu kritisieren, dass zwar formal die Zweckbindung existiert, die das Recht auf in-
formationelle Selbstbestimmung verlangt.77 Der Sinn dieser Grenze erscheint aber
ad absurdum geführt, weil die Daten für jedes spätere Strafverfahren und für jede
Gefahrenabwehr einschließlich der internationalen Rechtshilfe verfügbar sind.
Das Gesetz sieht den Verwendungszweck letztlich in einer umfassenden Verwendung
der Daten. Sind die Daten einmal gespeichert, kommt der Rückgriff auf sensible Ge-
sundheitsdaten, die gleichsam den Bauplan des Betroffenen enthalten,78 auch für eine
Bagatelltat in Betracht.79 Man wird die DNA-Daten zwar nicht ohne weiteres mit der
Vorratsdatenspeicherung gleichsetzen können. Auch hier erscheint aber eine Ver-
wendung nur für bedeutsame Katalogtaten angemessener.
Ferner ist nochmals zu unterstreichen, dass die Aufnahme in die DNA-Datei auch
lediglich früher tatverdächtige Personen für eine beträchtliche Zeit80 Sondereingrif-
75
Dafür auch schon Schewe JR 2006, 181, 186, 188; Pfeiffer/Höynck/Görges ZRP 2005,
113 ff. (allerdings mit weiteren, hier abgelehnten Implikationen für die Normgestaltung);
distanziert Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 7.
76
Dazu m.w.N. nur Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81b Rn. 3 f. und 12 f.
und m.w.N. BVerwG JZ 2006, 727, 729: Notwendigkeit nach kriminalistischer Erfahrung;
BVerwG NJW 2018, 3194, 3195 f.; OVG Berlin-Brandenburg StV 2017, 665.
77
Allein die Beschränkung auf zwei Erkenntnisinhalte bei der Erhebung von Daten lässt
sich noch hervorheben, siehe so eher überbetonend: BVerfGE 103, 21, 35; Löwe/Rosenberg/
Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 41.
78
Siehe so plastisch EGMR EuGRZ 2014, 285, 290.
79
Siehe auch Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 12a: Zugriff der
StA im „automatisierten Verfahren“ möglich. Krit. schon Paeffgen StV 1999, 625, 626 f.
80
Zur grundsätzlich mangelnden Datenlöschung aus der DNA-Datei m.w.N. Meyer-Goß-
ner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 12 und 13. Konkret etwa Löwe/Rosenberg/
Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 1: Begründung eines Verdachts nur durch den Abgleich
als Folge.
1298 Karsten Gaede

fen aussetzt, obschon diese den Verdacht nicht notwendigerweise zurechenbar aus-
gelöst haben müssen. Ihre Daten werden auf Grund einer schwer zu treffenden Ne-
gativprognose in eine Datei aufgenommen, die vornehmlich mit Daten verurteilter
Personen gefüllt ist und demzufolge eine gewisse stigmatisierende Wirkung entfalten
kann.81 Lediglich im Fall einer Verfahrensbeendigung, die auf der Ausräumung des
Tatverdachts beruht, ist die Speicherung und Verwendung des DNA-Musters nach
dem BKAG unzulässig.82
Insoweit steht es außer Verhältnis,83 dass für die Eingriffe schon der Verdacht
einer Sexualstraftat genügen soll, der selbst keine erhebliche Bedeutung zukommt.
Hiermit wird letztlich der Weg verlassen, den Verzicht auf einen aktuell zur Hand-
lung zwingenden Tatverdacht durch andere bedeutsame Anforderungen zu kompen-
sieren. Es genügen Delikte, die selbst in ihrer gravierendsten Ausprägung nur mit
maximal einem Jahr Freiheitsstrafe bewehrt sind.84 Schließlich sollen offenbar die
unlängst eingeführten Vorfeld- und Auffangdelikte, wie die sexuelle Belästigung,
(§ 184i StGB) zureichen.85
Es kommt noch hinzu, dass die erforderliche Prognose einer Wiederholungsge-
fahr bisher keine hinreichende Abgrenzung von einer pauschalen Entrechtung
durch den Verweis auf den früheren Tatverdacht leistet. Sie ist bei Lichte besehen
im Übermaß vage und beliebig: Würde die Praxis die Wiederholungsgefahr tatsäch-
lich nur nach einer umfassenden und einzelfallbezogenen Gesamtabwägung bejahen,
wie es § 81g Abs. 3 Satz 5 StPO gebietet, wäre die Norm nach den Bedürfnissen der
Praxis enorm aufwendig. Der bedeutsamste deutsche Praxiskommentar fragt längst,
wie es dem Gericht überhaupt möglich sein soll, zum Beispiel nach einer geringfü-
gigen Tat des Exhibitionismus Anhaltspunkte für oder gegen die Gefahr einer zu-
künftigen Straftat von erheblicher Bedeutung zu gewinnen.86 Näher liegt, dass die
Wiederholungsgefahr in der Praxis letztlich bei jeder nicht ganz unplausiblen Annah-
me des Rechtsanwenders bejaht wird, soweit sich der Betroffene nicht wehrt. Sie
dürfte besonders beim Verdacht von Sexualstraftaten schlicht als abschreckende
Standardmaßnahme angeordnet werden.

81
Dazu auch Rogall, FS Schroeder, S. 691, 707 f.
82
Dazu näher § 8 Abs. 3 und 6 Satz 2 BKAG a.F. und m.w.N. Löwe/Rosenberg/Krause,
27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 25, siehe heute auch § 18 Abs. 5 BKAG und plausibel für eine
erweiternde Löschungspraxis Eisenberg/Puschke JZ 2006, 729, 731. Siehe aber auch zur
Speicherhöchstfrist von zehn Jahren EGMR EuGRZ 2014, 285, 290.
83
So im Ergebnis schon Duttge/Hörnle/Renzikowski NJW 2004, 1065, 1071 f.; Schewe JR
2006, 181, 186 f.; zweifelnd bereits Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 23.
84
Zum Exhibitionismus siehe § 183 StGB.
85
Siehe ferner die Förderung von Sexualstraftaten, die aus Gruppen heraus begangen
werden, § 184j StGB.
86
Siehe bezeichnend Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 7b und
auch 7c: Verdacht schwer zu verifizieren; dazu auch grundlegender Pfeiffer/Höynck/Görges
ZRP 2005, 113, 115 ff.
§ 81g StPO – Musterbeispiel für die neue Welt der Strafverfolgungsvorsorge? 1299

IV. Zusammenfassung in Hauptthesen


Ich bin nun am Ende angelangt. Wie ist die von Kraftwerk vorgeahnte schöne neue
Welt der auch aus genetischen Daten gespeisten vorsorglichen Datenspeicherung nun
zu bewerten? Ich möchte dazu drei Hauptthesen als Ergebnis festhalten:
1. Wir erleben mit der Strafverfolgungsvorsorge zum Beispiel in Gestalt der Erhe-
bung und Speicherung von DNA-Identifizierungsmustern eine prinzipielle Aus-
weitung strafprozessualer Ermittlungsmaßnahmen bzw. Grundrechtseingriffe.
2. Derartige Maßnahmen sind nicht ausnahmslos illegitim; sie müssen aber dem
Vorbehalt des Gesetzes genügen und angesichts des mangelnden Tatverdachts
an besondere Legitimationsschwellen gebunden werden, die auch von den kon-
kret berührten Grundrechten abhängen.
3. Die Regelung des § 81g StPO ist dafür zu loben, dass sie den expliziten Rege-
lungs- und Einschränkungsbedarf erkennt; sie weist aber einen überdehnten An-
wendungsbereich auf und gibt deshalb nur sehr eingeschränkt ein Vorbild für eine
freiheitsrechtlich angemessene Strafverfolgungsvorsorge.
Die Rolle der forensischen Molekulargenetik
im Strafprozess
Von Henning Rosenau und Carina Dorneck

Wie kaum eine andere kriminaltechnische Untersuchungs- und Nachweismetho-


de hat die DNA-Analyse das Strafverfahren nachhaltig beeinflusst. Bereits mithilfe
winzigster Mengen organischer Partikel, die der Täter nahezu zwangsläufig am Tat-
ort hinterlässt – etwa abgeschürfte Hautzellen, Speichel, Urin, Blut,1 Samenflüssig-
keit – ist es heute möglich, den Spurenleger genauso zuverlässig zu identifizieren wie
über seinen Fingerabdruck.2 Nicht von ungefähr wird deshalb auch vom genetischen
Fingerabdruck gesprochen3 – weniger prätentiös wie wenig anschaulich nennt der
Gesetzgeber es nun „DNA-Identifizierungsmuster“. Stimmen bei einem Spurenver-
gleich die am Tatort gefundenen Materialien mit dem DNA-Profil des Untersuchten
überein, steht die Urheberschaft des Untersuchten mit außerordentlich hoher mathe-
matischer Wahrscheinlichkeit fest; denn der genetische Code eines jeden Menschen
ist genauso einzigartig wie sein Fingerabdruck – sehen wir von der Möglichkeit ein-
eiiger Zwillinge einmal ab. Weicht das sichergestellte Material auch nur geringfügig
ab, scheidet der Untersuchte als Täter dagegen zuverlässig aus.4

I. Entwicklung und Bedeutung der DNA-Analyse


für den Strafprozess
Es war allerdings keine Liebe auf den ersten Blick, sondern eine durchaus zaghaf-
te und zögerliche Annäherung zwischen Strafjustiz einerseits und Molekulargenetik
andererseits, bis es zum heutigen Zustand gekommen ist und bis die DNA-Analyse
ihre heutige zentrale Rolle in der Beweisaufnahme gespielt hat. Ganz im Gegenteil.

1
Darunter auch Menstrualblut, siehe Schneider/Forat/Olek, Kriminalistik 2012, 152 ff.
2
Zu Einzelheiten der Durchführung siehe Schneider/Fimmers/Schneider/Brinkmann, NStZ
2007, 447; SK-StPO/Rogall, 5. Aufl. 2018, § 81a Rn. 101 ff.
3
So bereits Sternberg-Lieben, NJW 1987, 1242. Vgl. auch SSW-StPO/Bosch, 3. Aufl.
2018, § 81e Rn. 1; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 29. Aufl. 2017, § 33 Rn. 21;
Krehl/Kolz, StV 2004, 447; Senge, NJW 1997, 2409.
4
Keller, NJW 1989, 2289; Swoboda, StV 2013, 461.
1302 Henning Rosenau und Carina Dorneck

Die 1985 in Großbritannien entwickelte Methode der DNA-Analytik5 wurde für den
deutschen Strafprozess zunächst als unzulässig angesehen.6
Das mag auch mit Struktur und Grundbedingungen der Jurisprudenz zusammen-
hängen, die keine Seinswissenschaft ist und die Sachverhalte vom Normativen aus
beleuchtet. Den naturwissenschaftlich-mathematischen Zugang muss sich diese Dis-
ziplin im interdisziplinären Diskurs – im Prozess erfolgt das über einen selbständigen
Helfer bei der Wahrheitsfindung,7 den Sachverständigen – erst aneignen. Das zeigt
sich immer wieder in frappierenden Fehlleistungen, die sich im geflügelten Wort:
„iudex non calculat“ niedergeschlagen haben. Ein klassischer Fall ist der des „Chi-
nesen-Kalle“, der im Berliner Grunewald erschossen worden war.8 Ein „bebluteter“
1.000 DM-Schein war ein wesentliches Belastungsindiz, welchen der mutmaßliche
Mörder bei seiner Verhaftung mit sich trug. Die DNA-Analyse der Blutspur ergab,
dass deren Merkmale auch im Blut des Opfers enthalten waren. Dazu hatte der Sach-
verständige festgestellt, dass die identische Merkmalskombination in Mitteleuropa
mit einer Häufigkeit von 3 % auftritt. Die Strafkammer führte dazu aus, dass „die
Häufigkeit der Merkmalskombination 1:30.000“ betrage. Das war falsch. Denn
die Umrechnung einer Merkmalshäufigkeit von 3 % hätte eine Häufigkeit der Kom-
bination von 1:33 ergeben müssen, etwa jede 33. Person also trug die entsprechenden
Merkmale. Das LG hatte demzufolge angenommen, dass die Merkmalskombination
beim Blut des Chinesen-Kalle tausendmal seltener vorkam, als es tatsächlich der Fall
war, und hatte folglich die Beweiskraft der Blutspur deutlich überschätzt. Der BGH
hob den Schuldspruch wegen Mordes auf. Dieser Fall ist im Übrigen auch deshalb
bemerkenswert, weil er ein Beispiel für einen nachhaltigen Revisionserfolg darstellt.
Im zweiten Verfahrensdurchgang kam es zu einem Freispruch des vermeintlichen
Täters mit dem 1.000 DM-Schein.9 Bei solchen Fallstricken, in die hier drei gestan-
denen Berufsrichter geraten sind, ist die Reserve der Justiz gegen solche mathema-
tischen Verfahren nicht gänzlich unverständlich.
Allerdings hat die Justiz doch ziemlich bald, bereits vier Jahre nach deren Entde-
ckung, das für sie selbst hilfreiche Potential der DNA-Analyse erkannt. Sie wurde
erstmals in einem Mordfall angewandt und war – darauf kommt es an – für die Tä-
teridentifizierung das maßgebliche Element. So etwas lässt keinen Strafrichter kalt.
1990 erklärte dann der BGH die DNA-Analyse zum Zwecke der Täteridentifizierung
bei schweren Verbrechen grundsätzlich für zulässig10 und präzisierte in einer vielbe-
5
Kühne, Strafprozessrecht, 9. Aufl. 2015, Rn. 485. Einen Rechtsvergleich zu den DNA-
Analysedateien für Strafverfolgungszwecke in England und Deutschland bietet Antonow, JR
2005, 99 ff.
6
Steinke, NJW 1987, 2914 f.
7
Rosenau/Lorenz, in: Bartsch et al. (Hrsg.), FS Kreuzer zum 80. Geburtstag, 2018, S. 401,
404 ff.; Schreiber, in: Broda et al. (Hrsg.), FS Wassermann, 1985, S. 1007, 1008.
8
BGH, Urt. v. 20. 6. 1996 – 5 StR 625/95, StV 1996, 583.
9
Berichtet von Nack, in: Hanack et al. (Hrsg.), FS Rieß, 2002, S. 361.
10
BGH, Urt. v. 21. 8. 1990 – 5 StR 145/90, BGHSt 37, 157. Krit. zu dieser Entscheidung
Rademacher, NJW 1991, 735 ff.
Die Rolle der forensischen Molekulargenetik im Strafprozess 1303

achteten Folgeentscheidung Handhabung und Beweiswert der Analysen.11 Heute


sind DNA-Gutachten im Strafprozess, insbesondere bei Schwurgerichtsfällen,
nicht mehr wegzudenken.12 Während der BGH anfänglich das Ergebnis des Gutach-
tens als lediglich abstrakt statistische Aussage wertete, dessen Bedeutung relativierte
und den begrenzten Beweiswert einer solchen Ziffer hervorhob,13 die eine Würdi-
gung aller Beweisumstände erforderte, erfolgte nach und nach eine Relativierung
dieser Relativierung. Angesichts der inzwischen erreichten Standardisierung der mo-
lekulargenetischen Untersuchungen genügt ihm mittlerweile ein ermittelter Selten-
heitswert im Millionenbereich, um die untersuchte Person als Spurenleger am Tatort
zu identifizieren.14
Durch DNA-Analysen gelingt es den Ermittlern heute nicht nur immer häufiger,
sondern auch immer schneller, Verbrechen aufzudecken. So benötigte die Spurensi-
cherung im Mordfall des Münchener Modeschöpfers Rudolph Moshammer gerade
einmal zwei Tage, bis sie am Telefonkabel, mit dem das Opfer erdrosselt wurde, Spu-
ren des Täters fand, die diesen überführten.15 Außerdem spielen DNA-Gutachten bei
der Aufklärung von Altfällen eine maßgebliche Rolle.16 Mit Hilfe eines DNA-Ab-
gleichs konnte beispielsweise ein Mann, der in den Jahren 1983 bis 1990 fünf An-
halterinnen mitgenommen, vergewaltigt und anschließend in Verdeckungsabsicht er-
mordet hatte, 2009 – also nach fast 20 Jahren – als Täter identifiziert und schließlich
rechtskräftig abgeurteilt werden.17

II. Schwierigkeiten der DNA-Analyse


Bei aller Treffsicherheit: Die DNA-Analyse kann nicht als Allheilmittel zur Iden-
tifizierung der Täter und zur Aufklärung aller Verbrechen dienen.18 Achillesferse der
DNA-Analytik ist insbesondere deren Unmöglichkeit, weder über den Zeitpunkt der
Antragung des Materials am Tatort noch zu den diesbezüglichen Umständen Auf-
schluss zu liefern. So könnte das gefundene Spurenmaterial auch durch sog. Sekun-
därübertragungen an den Tatort gelangt sein: Fasst der eigentliche Spurenleger zu-
nächst den Tatverdächtigen und dann erst Gegenstände am Tatort an, besteht die
Gefahr, dass die am Tatort aufgefundenen organischen Partikel dem unbeteiligten
11
BGH, Urt. v. 12. 8. 1992 – 5 StR 239/92, BGHSt 38, 320.
12
Kühne, Strafprozessrecht, 9. Aufl. 2015, Rn. 485; LR/Krause, 27. Aufl. 2017, § 81e
Rn. 1; HK-GS/Neuhaus, 4. Aufl. 2017, § 81e Rn. 1; Stenger, Kriminalistik 2017, 491;
Magnus, NJW 2015, 2597; Mysegades, CR 2018, 225.
13
BGH, Urt. v. 12. 8. 1992 – 5 StR 239/92, BGHSt 38, 320, 322 f.
14
BGH, Beschl. v. 21. 1. 2009 – 1 StR 722/08, NStZ 2009, 285.
15
Pfeiffer/Höynck/Görgen, ZRP 2005, 113; Schewe, JR 2006, 181; Hinrichs, KJ 2006, 60.
16
de Vries, Kriminalistik 2013, 680.
17
BGH, Beschl. v. 24. 6. 2009 – 2 StR 51/09.
18
Hierzu sowie zum Umgang mit Problemsituationen Baur/Fimmers/Schneider, StV 2010,
175, 176 f.
1304 Henning Rosenau und Carina Dorneck

Tatverdächtigen und nicht dem eigentlichen Täter zugeordnet werden.19 In solchen


Fällen kommt es vermehrt zu Freisprüchen.20
Ebenso stellen Mischspuren ein Problem dar. Mischspuren sind solche, bei denen
bei der untersuchten Anhaftung Zellen von mehr als einer Person gefunden werden.21
Für solche Spuren existiert zwar eine umfangreiche Stellungnahme der Spurenkom-
mission zu diesbezüglichen Rechenoperationen.22 Gleichwohl wird der Tatrichter
mit dem eigentlichen Problem einer tragfähigen Interpretation hinsichtlich des Be-
weiswertes der Spuren ziemlich allein gelassen.23
Daneben kann es zu Verwechslungen der Proben, Fehlern bei deren Übertragung
oder zu Verunreinigungen der Probenentnahmestäbchen bzw. -trägern kommen.24 Zu
erinnern ist an das sog. Heilbronner Phantom: Nach dem Polizistenmord in Heil-
bronn wurde aufgrund von DNA-Spuren am Tatort eine umfangreiche Fahndung
nach einer weiblichen Täterin losgetreten. Es wurde ein Zusammenhang zwischen
diesem Mord und einer Reihe weiterer Straftaten vermutet, weil an 40 weiteren Tat-
orten übereinstimmende DNA-Spuren aufgefunden wurden. Es stellte sich nach in-
tensiven Ermittlungen schließlich heraus, dass hier vergeblich nach einem Serien-
mörder gefahndet wurde. Die zur Spurensicherung benutzten Wattestäbchen
waren vielmehr mit organischem Material einer Verpackungsmitarbeiterin der Her-
stellerfirma kontaminiert.25
Um die soeben beschriebenen Probleme in den Griff zu bekommen und die Feh-
lerquote der DNA-Analysen zu minimieren, haben Wissenschaftler neuerdings Com-
puterprogramme auf der Grundlage statistischer Modelle entwickelt, die bereits in
kommerziellen Big-Data-Zusammenhängen eingesetzt werden. Diese sollen die
Auswertung von DNA-Spuren ermöglichen, die Sachverständige für unauswertbar
erklären würden. Sie finden sich bereits auf dem Programm von Fortbildungsveran-
staltungen für Rechtsmediziner und kriminaltechnische Institute; in der deutschen
Gerichtspraxis sind sie allerdings noch nicht wirklich angekommen.26

19
Schneider, Kriminalistik 2005, 303, 307.
20
Vgl. nur BGH, Beschl. v. 12. 10. 2011 – 2 StR 362/11, NStZ 2012, 403, 404.
21
MAH-Strafverteidigung/Bastisch/Schmitter, 7. Aufl. 2018, § 71 Rn. 65.
22
Schneider/Fimmers/Schneider/Brinkmann, NStZ 2007, 447 ff.
23
de Vries, Kriminalistik 2013, 680.
24
Weitere Fehlerquellen zeigen Artkämper, StV 2017, 553, 556 sowie Kühne, Strafpro-
zessrecht, 9. Aufl. 2015, Rn. 489 auf.
25
de Vries, Kriminalistik 2013, 680; allgemein zu diesem Problem und zum besseren
Umgang mit solchen Grenzfällen mithilfe eines Computerprogramms Mysegades, CR 2018,
225 ff.
26
Zu den biologischen, statistischen und informatischen Rahmenbedingungen dieser
Computerprogramme sowie zu ihrer Nutzbarkeit im Strafverfahren siehe umfassend Myse-
gades, CR 2018, 225 ff.
Die Rolle der forensischen Molekulargenetik im Strafprozess 1305

III. Entwicklung der Rechtsprechung


Wie bereits erwähnt, fand die DNA-Analyse Ende der 1980er/Anfang der 1990er
Jahre Eingang in das kriminalistische Instrumentarium und in die richterliche Be-
weiswürdigung zur Aufklärung schwerer Straftaten.27 Vom BGH wurden die Zuläs-
sigkeit der DNA-Analyse zum Zwecke der Täteridentifizierung bei schweren Ver-
brechen bestätigt28 sowie Handhabung und Beweiswert der Analysen präzisiert.29
Trotz der mittlerweile gegebenen Treffsicherheit besitzt die DNA-Analyse bis
heute lediglich Indizwirkung; sie stellt allerdings ein überragend wichtiges Indiz
dar.30
Während in den Anfängen der DNA-Analyse im Strafprozess in den Gutachten
noch Wahrscheinlichkeiten lediglich im Millionenbereich vermerkt waren, steiger-
ten sich die Berechnungen im Laufe der Jahre bis in den Billiardenbereich. Ange-
sichts dieser Zahlen verzichteten viele DNA-Analytiker vermehrt auf konkrete Wahr-
scheinlichkeitsberechnungen und gaben nur noch Quoten „jenseits“ einer bestimm-
ten Wahrscheinlichkeit an. Dementsprechend sahen auch manche Tatrichter von der
Angabe einer Häufigkeitsverteilung im Urteil ab und führten lediglich an, dass auf-
grund des DNA-Gutachtens von einer Übereinstimmung von Tatortspur und Ver-
gleichsmaterial auszugehen sei.31 Zunächst schien es, als würde der BGH solch
eine Verkürzung akzeptieren. So führte der 1. Strafsenat hinsichtlich des Beweiswer-
tes einer solchen Wahrscheinlichkeitsangabe im Jahr 2009 aus, dass angesichts der
inzwischen erreichten Standardisierung der molekulargenetischen Untersuchung bei
einem Seltenheitswert im Millionenbereich das Ergebnis einer DNA-Analyse für die
Überzeugungsbildung des Tatrichters ausreichen kann, wenn es darum geht, dass die
gesicherte Tatspur vom Angeklagten herrührt. Nur die Berechnungsgrundlage müsse
den von der Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen32 entsprechen.33 Unabhän-
gig davon war aber stets die weitere Frage darzulegen, ob zwischen der DNA-Spur
und der Tat ein Zusammenhang besteht.34
Zwei Jahre später beanstandete der 2. Strafsenat jedoch dieses Vorgehen und ver-
langte, dass in den Entscheidungsgründen der Wahrscheinlichkeitsgrad einer Über-

27
Vgl. die ersten Entscheidungen zum DNA-Beweis: LG Berlin, Beschl. v. 14. 12. 1988 –
529 – 20/88, NJW 1989, 787; LG Darmstadt, Urt. v. 3. 5. 1989 – 10 Js 21 985/87, NJW 1989,
2338; LG Heilbronn, Urt. v. 19. 1. 1990 – 6 KLs 42/89, NJW 1990, 784.
28
BGH, Urt. v. 21. 8. 1990 – 5 StR 145/90, BGHSt 37, 157.
29
BGH, Urt. v. 12. 8. 1992 – 5 StR 239/92, BGHSt 38, 320.
30
SSW-StPO/Bosch, 3. Aufl. 2018, § 81e Rn. 4.
31
de Vries, Kriminalistik 2013, 680 f.
32
BGH, Urt. v. 12. 8. 1992 – 5 StR 239/92, BGHSt 38, 320, 322 ff.
33
BGH, Beschl. v. 21. 1. 2009 – 1 StR 722/08, NJW 2009, 1159; zust. Baur/Fimmers/
Schneider, StV 2010, 175 ff.
34
BGH, Beschl. v. 21. 1. 2009 – 1 StR 722/08, NJW 2009, 1159. Baur/Fimmers/Schneider,
StV 2010, 175, 177; Neuhaus, StraFo 2010, 344 f.
1306 Henning Rosenau und Carina Dorneck

einstimmung weiterhin anzugeben sei.35 Schließlich ist es dem Tatrichter auch ein
Leichtes, die Häufigkeitsangabe aus dem schriftlichen Gutachten in das Urteil auf-
zunehmen, muss er hierfür doch nur das Gutachten in der Hauptverhandlung nach
§ 256 Abs. 1 StPO verlesen.36 Kurze Zeit darauf verschärfte der 3. Strafsenat die Be-
gründungsanforderungen noch einmal:37 Die DNA-Analytik sei zwar inzwischen in
ihren Abläufen so weit standardisiert, dass es im Urteil hierzu keiner Darlegungen
mehr bedürfe. Dies gelte jedoch nicht für die sich im zweiten Schritt anschließende
Wahrscheinlichkeitsberechnung. Dem Tatrichter wurde aufgegeben, die Zahl der
Wiederholungen in den beiden zugehörigen Allelen mitzuteilen, Stellung zur An-
wendbarkeit der Produktregel zu nehmen, die Verbreitungswahrscheinlichkeiten
zu erläutern und die dazu herangezogene Vergleichspopulation zu benennen sowie
am Ende die Wahrscheinlichkeiten zu berechnen. Diese hohen Anforderungen an
den Begründungsaufwand gab der BGH später allerdings teilweise wieder auf.38
Den allgemeinen Darlegungsanforderungen folgend wurde von den Tatgerichten ver-
langt, in den Urteilsgründen mitzuteilen, wie viele Systeme untersucht wurden, ob
und inwieweit sich Übereinstimmungen in den untersuchten Systemen ergaben
und mit welcher Wahrscheinlichkeit die festgestellte Merkmalskombination zu er-
warten ist.39 Unlängst rückte der BGH aber auch von den beiden erstgenannten An-
forderungen ab:40 Nach dem erreichten wissenschaftlichen Stand der forensischen
Molekulargenetik sei die biostatistische Wahrscheinlichkeitsberechnung in Fällen
eindeutiger Einzelspuren soweit vereinheitlicht, dass es einer Darstellung der Anzahl
der untersuchten Merkmalssysteme und der Anzahl der Übereinstimmungen in den
untersuchten Merkmalssystemen nicht mehr bedürfe. Vielmehr genüge die Mittei-
lung des Gutachtenergebnisses in Form der biostatistischen Wahrscheinlichkeitsaus-
sage in numerischer Form, weil diese die beiden übrigen bisherigen Anforderungen
widerspiegele.41 Die Begründungsanforderungen für Einzelspuren wurden damit ge-
35
BGH, Beschl. v. 12. 10. 2011 – 2 StR 362/11, NStZ 2012, 403.
36
de Vries, Kriminalistik 2013, 680, 681.
37
BGH, Beschl. v. 6. 3. 2012 – 3 StR 41/12, NStZ 2012, 464; zust. Neuhaus, StV 2013,
137, 140 f.; bestätigt in BGH, Urt. v. 3. 5. 2012 – 3 StR 46/12, NStZ 2013, 177.
38
BGH, Urt. v. 21. 3. 2013 – 3 StR 247/12, NJW 2013, 2612. Nach Malek enthält das Urteil
allerdings „wenig Neues“, StV 2014, 590. Zu den Grundlagen der DNA-Berechnungen siehe
Willuweit et al., NStZ 2018, 437 ff. sowie Roewer/Willuweit, Rechtsmedizin 2018, 149 ff.
39
BGH, Urt. v. 24. 3. 2016 – 2 StR 112/14, NStZ 2016, 490; BGH, Beschl. v. 22. 2. 2017 – 5
StR 606/16, BeckRS 2017, 103721; BGH, Beschl. v. 18. 1. 2018 – 4 StR 377/17, BeckRS
2018, 5995. Die Wichtigkeit einer kritischen richterlichen Auseinandersetzung mit dem Urteil
betont auch Artkämper, StV 2017, 553, 555 ff.
40
BGH, Beschl. v. 28. 8. 2018 – 5 StR 50/17, BGHSt 63, 187 ff.
41
BGH, Beschl. v. 28. 8. 2018 – 5 StR 50/17, BGHSt 63, 187, 189 ff. Dem stehe auch die
Rspr. des 3. Strafsenats v. 3. 5. 2012 – 3 StR 46/12, NStZ 2013, 177 nicht entgegen, weil der
Senat lediglich eine im Tatsächlichen abweichende Bewertung des fortgeschrittenen wissen-
schaftlichen Stands der biostatistischen Wahrscheinlichkeitsberechnung im Rahmen mole-
kulargenetischer Sachverständigengutachten vorgenommen habe (a.a.O., 191). Eine die
Rechtsfrage betreffende Divergenz nach § 132 Abs. 2 GVG mit der Konsequenz der Anrufung
des Großen Strafsenats für Strafsachen liege damit nicht vor.
Die Rolle der forensischen Molekulargenetik im Strafprozess 1307

lockert; für Mischspuren gelten aber weiterhin erhöhte Begründungsanforderungen.


Dies stellte der BGH mit Urteil vom 6. 2. 2019 ausdrücklich klar:42 Bei Mischspuren
sei von den Tatgerichten weiterhin die Mitteilung in den Urteilsgründen zu verlan-
gen, wie viele Systeme untersucht wurden, ob und inwieweit sich Übereinstimmun-
gen in den untersuchten Systemen ergaben und mit welcher „Wahrscheinlichkeit“ die
festgestellte Merkmalskombination bei einer weiteren Person zu erwarten ist.43 Je
nach den Umständen des konkreten Einzelfalles könnten aber auch noch strengere
Anforderungen gelten. Es empfehle sich daher regelmäßig die Angabe, wie viele
Spurenverursacher in Betracht kommen, um welchen Typ von Mischspur es sich han-
delt und welche Bedeutung einer fremden Ethnie für die Vergleichspopulation zu-
kommt.44
Hinsichtlich der Verwertbarkeit der erlangten DNA-Proben betonte die Recht-
sprechung zwar stets, dass die molekulargenetische Untersuchung entnommener
Körperzellen einer strengen Zweckbindung unterliege, die sich nach der jeweiligen
Eingriffsgrundlage bestimme.45 Gleichwohl wurde die Verwertung verfahrensfehler-
haft erlangter Proben sowie die Verwertung von sog. Beinahetreffern zugelassen. So
durfte eine Speichelprobe, der eine verfahrensfehlerhafte Einwilligung des Ange-
klagten zugrunde lag und die der Angeklagte nur für das laufende Verfahren abge-
geben hatte (§ 81e StPO), für das zukünftige Strafverfahren gem. § 81a Abs. 3 StPO
nicht verwendet werden; ein Verwertungsverbot für das weitere gerichtliche Verfah-
ren folgerte der BGH hieraus jedoch nicht.46 Der Senat unterstrich – ähnlich der Ab-
lehnung der fruit of the poisonous tree-Doktrin47 – den Ausnahmecharakter eines Be-
weisverwertungsverbots sowie die Bedeutung einer funktionstüchtigen Strafverfol-
gung und der Wahrheitsfindung, die im Rahmen der Abwägung den festgestellten
Verfahrensverstoß im konkreten Fall überwiegen würden.48 Auch die Verwertung
von Beinahetreffern ließ der BGH zu.49 Zwar stellte die Verwertung einer durch
eine angeordnete molekulargenetische Reihenuntersuchung zufällig gewonnene Er-
kenntnis, dass zwischen dem Verursacher der bei der Tat gelegten DNA-Spur und
einem Teilnehmer der Untersuchung eine verwandtschaftliche Beziehung wahr-
scheinlich ist (Beinahetreffer), zu diesem Zeitpunkt einen Rechtsverstoß dar. Ein Be-
weisverwertungsverbot verneinte das Gericht gleichwohl, weil die diesbezügliche

42
Urt. v. 6. 2. 2019 – 1 StR 499/18, NStZ 2019, 427.
43
BGH, Urt. v. 6. 2. 2019 – 1 StR 499/18, NStZ 2019, 427, 428.
44
BGH, Urt. v. 6. 2. 2019 – 1 StR 499/18, NStZ 2019, 427, 428.
45
BGH, Urt. v. 20. 12. 2012 – 3 StR 117/12, BGHSt 58, 84; BGH, Beschl. v. 20. 5. 2015 – 4
StR 555/14.
46
BGH, Beschl. v. 20. 5. 2015 – 4 StR 555/14, NJW 2015, 2594; zust. Magnus, NJW 2015,
2597.
47
BGH, Urt. v. 22. 2. 1978 – 2 StR 334/77, BGHSt 27, 355, 357; BGH, Urt. v. 18. 4. 1980 –
2 StR 731/79, BGHSt 29, 244, 249.
48
Magnus, NJW 2015, 2597.
49
BGH, Urt. v. 20. 12. 2012 – 3 StR 117/12, BGHSt 58, 84.
1308 Henning Rosenau und Carina Dorneck

Rechtslage für die Ermittlungsbehörden ungeklärt war.50 Maßgeblich für den Senat
war, dass der Gesetzgeber bis dato keine Regelungen für den Umgang mit solchen
Beinahetreffern getroffen hatte.

IV. Rechtliche Grundlagen der DNA-Analyse


Der Gesetzgeber reagierte auf diese Beanstandung des BGH und reformierte
§ 81h StPO mit Gesetz vom 17. 8. 2017.51 Im Zuge dieser Reform wurde die Zuläs-
sigkeit der Verwertung von Beinahetreffern auf eine gesetzliche Grundlage gestellt.
Eine ausdrückliche Regelung zur DNA-Analyse enthielt die Strafprozessordnung
jedoch seit dem Jahr 1997.52 Schon kurze Zeit später wurde diese um eine Bestim-
mung ergänzt, die die Speicherung des DNA-Identifizierungsmusters zur Verwen-
dung in zukünftigen Verfahren regelt.53 Auf Druck rechtspolitischer Forderungen54
sowie aufgrund spektakulärer Ermittlungserfolge55 wurde 2005 sodann das Gesetz
zur Novellierung der forensischen DNA-Analyse erlassen.56 Hierdurch wurde der
Anwendungsbereich der Ermittlungsmethode ausgeweitet, der Richtervorbehalt ein-
geschränkt, erstmals eine Vorschrift zur DNA-Reihenuntersuchung eingeführt und
die Datenerhebung auf Grundlage einer Einwilligung ausdrücklich zugelassen.57
Jüngste Änderung war die soeben genannte Reform des § 81h StPO.58
Rechtliche Grundlage der forensischen DNA-Analyse sind somit die §§ 81e ff.
StPO. Dabei stellt § 81e StPO die Ausgangsnorm für das laufende Verfahren dar;
§ 81g StPO erlaubt eine Identitätsfeststellung des Beschuldigten für zukünftige
Strafverfahren und § 81h StPO enthält schließlich die Rechtsgrundlage für sog.
DNA-Reihenuntersuchungen.59
50
BGH, Urt. v. 20. 12. 2012 – 3 StR 117/12, BGHSt 58, 84; krit. hierzu Jahn, JuS 2013,
470, 471 f.; Rogall, JZ 2013, 874, 879 f.
51
Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens v.
17. 8. 2017, BGBl. I, S. 3202.
52
Strafverfahrensänderungsgesetz v. 17. 3. 1997, BGBl. I, S. 534. Ausführlich zu diesem
Gesetz siehe Rath/Brinkmann, NJW 1999, 2697 ff. sowie Senge, NJW 1999, 2409 ff.
53
DNA-Identitätsfeststellungsgesetz v. 7. 9. 1998, BGBl. I, S. 2646. Siehe hierzu auch
Senge, NJW 1999, 253 ff.; Volk, NStZ 2002, 561 ff.; Busch, NJW 2002, 1754 ff.; Ohler, StV
2000, 326.
54
Unter anderem von Bergmann, Kriminalistik 2003, 222 f.
55
Insbesondere der Aufklärung des Falles Moshammer, siehe hierzu Pfeiffer/Höynck/
Görgen, ZRP 2005, 113.
56
Zu dieser Neuregelung siehe Hinrichs, KJ 2006, 60, 62 ff.; Bergemann/Hornung, StV
2007, 164 ff.; Senge, NJW 2005, 3028 ff.
57
Bergemann/Hornung, StV 2007, 164 f.
58
Einen ausführlichen Überblick zu der strafprozessualen Gesetzgebung der forensischen
Verwendung der DNA bietet Beck, Die DNA-Analyse im Strafverfahren, 2015, S. 27 ff.
59
Zu den revisionsrechtlichen Fragen bei Verstoß gegen eine dieser Vorschriften siehe
Graalmann-Scheerer, in: Hanack et al. (Hrsg.), FS Rieß, 2002, S. 153, 154 ff.
Die Rolle der forensischen Molekulargenetik im Strafprozess 1309

1. Molekulargenetische Untersuchung nach § 81e StPO

§ 81e Abs. 1 Satz 1 StPO bestimmt, dass an nach § 81a Abs. 1 StPO gewonnenem
Material60 des Beschuldigten61 molekulargenetische Untersuchungen vorgenommen
werden dürfen, soweit dies zur Erforschung des Sachverhalts erforderlich ist. Die
Untersuchung ist dabei auf die Ermittlung des DNA-Identifizierungsmusters, der
Abstammung und auf die Bestimmung des Geschlechts beschränkt. Der Gesetzgeber
hat auf die häufig zu lesende Differenzierung von kodierenden (den unzulässigen)
und nicht-kodierenden (den zulässigen) Bereichen verzichtet. Damit sollte eine wis-
senschaftliche Entwicklung der Untersuchungsmethoden offengehalten werden. Wie
so oft trifft aber auch hier das Diktum Gustav Radbruchs, dass das Gesetz klüger ist
als seine Verfasser – und klüger sein muss als seine Verfasser.62 Denn mittlerweile
weiß man, dass auch die nicht-kodierenden Bereiche Rückschlüsse auf Aussehen,
Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale gestatten.63 Dennoch dürfen Feststel-
lungen, die über die in § 81e Abs. 1 Satz 1 StPO genannten hinausgehen, nicht an-
geordnet werden. Insbesondere ist das sog. Phenotyping nicht zulässig, also eine um-
fassende molekulargenetische Untersuchung zur Feststellung genetisch bedingter
Merkmale, wie etwa Haar- oder Augenfarbe.64 Dies ergibt sich bereits aus dem Ge-
setzeswortlaut des Satzes 1. Insofern kommt dem Beweiserhebungsverbot des Satzes
2 („Andere Feststellungen dürfen nicht erfolgen …“) lediglich eine klarstellende
Funktion zu.65 Mit anderen Worten: dieses Satzes hätte es nicht bedurft. Ein Verstoß
hiergegen führt zu einem Beweisverwertungsverbot.66
Für Maßnahmen nach § 81e StPO genügt der einfache Anfangsverdacht. Nichts-
destotrotz unterliegen Untersuchungen nach § 81e StPO ohne die schriftliche Ein-
willigung der betroffenen Person einem Richtervorbehalt, § 81f Abs. 1 Satz 1
StPO; lediglich bei Gefahr im Verzug kann eine Anordnung auch durch die Staats-
anwaltschaft sowie durch deren Ermittlungspersonen erfolgen, § 81f Abs. 1 Satz 1
StPO. Einer formellen Untersuchungsanordnung bedarf es außerdem nicht bei
einer Einwilligung der betroffenen Person.67 Willigt die Person ein, ist sie darüber
zu belehren, für welchen Zweck die zu erhebenden Daten verwendet werden,
§ 81f Abs. 1 Satz 2 StPO. Mit der Untersuchung der Proben selbst wird ein Sachver-
60
Außerdem kann aufgefundenes, sichergestelltes oder beschlagnahmtes Material ver-
wendet werden, § 81e Abs. 2 StPO.
61
Oder anderer Personen nach § 81c StPO.
62
Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, S. 207.
63
SSW-StPO/Bosch, 3. Aufl. 2018, § 81e Rn. 2.
64
Graf/Ritzert, 2010, § 81e Rn. 4; vgl. auch Becker, in: Czerwenka/Korte/Kübler (Hrsg.),
FS Graf-Schlicker, 2018, S. 429, 430 f. Das wird sich künftig ändern, s. hierzu unter IV. 2.
65
Bosbach, in: Bosbach (Hrsg.), Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 8. Aufl. 2014,
Rn. 511.
66
LR/Krause, 27. Aufl. 2017, § 81e Rn. 46; Meyer/Goßner/Schmitt, 61. Aufl. 2018, § 81e
Rn. 4; Bosbach, in: Bosbach (Hrsg.), Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 8. Aufl. 2014,
Rn. 511; a.A. Senge, NJW 1997, 2409, 2411.
67
Meyer/Goßner/Schmitt, 61. Aufl. 2018, § 81f Rn. 1; a.A. Senge, NJW 2005, 3028, 3029.
1310 Henning Rosenau und Carina Dorneck

ständiger beauftragt, § 81f Abs. 2 StPO. Dies soll eine funktionale Trennung zwi-
schen Strafverfolgung und DNA-Analyse gewährleisten, um die Unvoreingenom-
menheit zu sichern und um Manipulationen auszuschließen. Bei einem Verstoß
gegen dieses „Trennungsgebot“ wird der Einzelfall auf ein Verwertungsverbot zu un-
tersuchen sein.68 Die nach § 81e Abs. 1 Satz 1 StPO zulässig erhobenen Proben und
die diesbezüglich erlangten Erkenntnisse sind nur so lange aufzubewahren, wie sie
benötigt werden. Anschließend sind sie zu vernichten.69

2. DNA-Identitätsfeststellungen aufgrund § 81g StPO

§ 81g StPO ermöglicht die Erstellung von DNA-Identifizierungsmustern durch


Körperzellenentnahmen und molekulargenetische Untersuchungen zum Zwecke
der Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren.70 Dies gilt auch für bereits
rechtskräftig Verurteilte, sog. Altfälle.71 § 81g StPO ist an sich ein Fremdkörper in
der Strafprozessordnung, weil es sich um eine Vorschrift für erkennungsdienstliche
Zwecke handelt.72 Da diese jedoch auf eine (künftige) Strafverfolgung abzielt und
nicht auf eine Gefahrenabwehr, sehen das BVerfG73 und die hL74 darin zu Recht ge-
nuines Strafprozessrecht.75
Die DNA-Identitätsfeststellung nach § 81g StPO setzt zunächst voraus, dass der
Betroffene Beschuldigter einer im Gesetz genannten Anlasstat ist.76 Anlasstaten sind
Straftaten von erheblicher Bedeutung oder Straftaten gegen die sexuelle Selbstbe-
stimmung.77 Ferner muss eine Negativprognose gegeben sein, d. h. wegen der Aus-
führung der Tat, der Persönlichkeit des Beschuldigten oder sonstiger Erkenntnisse
muss Grund zu der Annahme bestehen, dass gegen den Betroffenen künftig erneut
68
Bosbach, in: Bosbach (Hrsg.), Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 8. Aufl. 2014,
Rn. 513.
69
Graf/Ritzert, 2010, § 81e Rn. 7; Meyer/Goßner/Schmitt, 61. Aufl. 2018, § 81e Rn. 8;
Bosbach, in: Bosbach (Hrsg.), Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 8. Aufl. 2014, Rn. 511.
70
KK/Hadamitzky, 8. Aufl. 2019, § 81g Rn. 1. Umfassend zu § 81g StPO siehe Eisenberg/
Singelnstein, GA 2006, 168 ff.
71
Zum damaligen § 2 DNA-IfG Markwardt/Brodersen, NJW 2000, 692 ff. Die Erstellung
von DNA-Identifizierungsmustern bei Altfällen ist verfassungsgerichtlich bestätigt, vgl. nur
BVerfG, Beschl. v. 14. 12. 2000 – 2 BvR 174, 99, BVerfGE 103, 21 sowie Neubacher/Walther,
StV 2001, 584, 585 m.w.N.
72
Str. Meyer/Goßner/Schmitt, 61. Aufl. 2018, § 81g Rn. 2 m.w.N. Zust. Pommer, JA 2007,
621, 624.
73
BVerfG, Beschl. v. 14. 12. 2000 – 2 BvR 1741/99, BVerfGE 103, 21, 30.
74
Vgl. nur SK-StPO/Rogall, 5. Aufl. 2018, § 81g Rn. 1; Bosch, StV 2008, 573, 574; a.A.
Schewe, JR 2006, 181, 187.
75
HK/Brauer, 6. Aufl. 2019, § 81g Rn. 2; HK-GS/Neuhaus, 4. Aufl. 2017, § 81g Rn. 1;
Eisenberg/Singelnstein, GA 2006, 168, 169 f.
76
Schewe, JR 2006, 181, 183.
77
Zur Frage, ob ein Betäubungsmitteldelikt eine solche Anlasstat darstellen kann Endriß/
Kinzig, NStZ 2001, 299 ff.; zu Straßenverkehrsdelikten Lengler, SVR 2008, 246 ff.
Die Rolle der forensischen Molekulargenetik im Strafprozess 1311

Strafverfahren wegen einer in § 81g Abs. 1 StPO genannten Straftat geführt wer-
den.78 Diese Negativprognose darf zum einen nicht mit der Sozialprognose aus
§ 56 StGB verwechselt werden, so dass sie auch dann bejaht werden kann, wenn
die Strafe zur Bewährung ausgesetzt ist.79 Zum anderen wird man, weil das Gesetz
von künftigen Strafverfahren und nicht von Straftaten spricht, davon ausgehen müs-
sen, dass die Maßnahmen auch dann zulässig sind, wenn es um den Nachweis einer
zwar noch nicht aufgeklärten, aber bereits begangenen Tat geht.80 Die gewonnenen
DNA-Identifizierungsmuster werden in der DNA-Datenbank beim BAK81 gespei-
chert (§ 81g Abs. 5 StPO).82 Ein Richtervorbehalt besteht nicht.83

3. DNA-Reihenuntersuchungen gemäß § 81h StPO

Bereits durch das Gesetz zur Novellierung der DNA-Analyse aus dem Jahr 2005
wurden Zulässigkeit und Voraussetzungen der DNA-Reihenuntersuchung auf eine
klare gesetzliche Grundlage gestellt.84 Gemäß § 81h Abs. 1 StPO kann eine DNA-
Probe zur Durchführung einer DNA-Reihenuntersuchung nur auf Grundlage einer
schriftlichen und freiwilligen Einwilligung des Betroffenen erfolgen.85 Die Anord-
nung einer Maßnahme nach § 81h StPO ist nur bei Verdacht bestimmter Verbre-
chenstatbestände zulässig und unterliegt einem Richtervorbehalt (Abs. 2 Satz 1).86

78
Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 29. Aufl. 2017, § 33 Rn. 23. Kritisch zu der
üblichen Praxis, die Anträge der Staatsanwaltschaft sowie die darauf ergehenden Gerichts-
beschlüsse nach § 81g StPO formularmäßig abzufassen, Endriß/Kinzig, NStZ 2001, 299 f.
79
BVerfG, Beschl. v. 14. 12. 2000 – 2 BvR 1741/99, BVerfGE 103, 21, 37; BVerfG, Beschl.
v. 1. 9. 2008 – 2 BvR 939/08, StV 2009, 1; ThürOLG, Beschl. v. 10. 2. 2000 – 1Ws 39/00, StV
2001, 5; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 27. 3. 2001 – 3 Ws 17/01, StraFo 2001, 308; SK-StPO/
Rogall, 5. Aufl. 2018, § 81 g Rn. 45; Meyer/Goßner/Schmitt, 61. Aufl. 2018, § 81g Rn. 8; krit.
Bosch, StV 2008, 573, 574.
80
Meyer/Goßner/Schmitt, 61. Aufl. 2018, § 81g Rn. 8; SK-StPO/Rogall, 5. Aufl. 2018,
§ 81g Rn. 29 ff. Krit. Rackow, JR 2002, 365 ff. A.A. KK/Hadamitzky, 8. Aufl. 2019, § 81g
Rn. 9; HK/Brauer, 6. Aufl. 2019, § 81g Rn. 15.
81
Einen Bericht zur Schweizerischen DNA-Datenbank bieten Haas/Voegeli/Kratzer/Bär,
Kriminalistik-Schweiz 2006, 558 ff.
82
Zum damaligen DNA-Identitätsfeststellungsgesetz, welches heute in den §§ 81e ff. StPO
integriert ist, siehe Senge, NJW 1999, 253 ff. und Volk, NStZ 1999, 165 ff. Der Frage, wie mit
DNA-Identifizierungsmustern umzugehen ist, die nicht mehr dem heutigen kriminaltechni-
schen Standard entsprechen, geht Lellmann, Kriminalistik 2013, 112 ff., nach. Zur Frage der
Benachrichtigungs- und Hinweispflicht bei Umwidmung siehe Störzer, Kriminalistik 2006,
184 ff.
83
HK/Brauer, 6. Aufl. 2019, § 81g Rn. 35; Meyer/Goßner/Schmitt, 61. Aufl. 2018, § 81g
Rn. 12; Sprenger/Fischer, NJW 1999, 1830, 1834.
84
Brocke, StraFo 2011, 298; Saliger/Ademi, JuS 2008, 193, 194.
85
Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, 14. Aufl. 2018, Rn. 242b; Saliger/Ademi, JuS 2008,
193, 194.
86
Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, 14. Aufl. 2018, Rn. 242b; Saliger/Ademi, JuS 2008,
193, 195 ff.
1312 Henning Rosenau und Carina Dorneck

Im Laufe der Zeit trat bei der Durchführung von DNA-Reihenuntersuchungen


vermehrt das Problem auf, dass der Vergleich der aufgefundenen DNA mit der frei-
willig abgegebenen Probe keine vollständige Übereinstimmung ergab, die Materia-
lien aber derart ähnlich waren, dass es sich um eine genetisch verwandte Person han-
deln musste.87 In der Rechtswissenschaft wurde lange schon vertreten, dass ein sol-
cher Beinahetreffer für weitere Ermittlungen verwertet werden dürfte. Bei der Fest-
stellung des möglichen Verwandtschaftsverhältnisses sollte es sich lediglich um eine
zufällige Erkenntnis einer gesetzlich vorgesehenen Untersuchungsmethode handeln,
so dass eine Beweiserhebung zulässig war.88 Dem widersprach völlig zu Recht der
BGH mit Urteil vom 20. 12. 2012, indem er entschied, dass Beinahetreffer entspre-
chend des eindeutigen Wortlauts des § 81h StGB a.F. weder gewonnen noch für ent-
sprechende Ermittlungen im verwandtschaftlichen Umfeld des Teilnehmers verwen-
det werden dürfen.89 Angesichts der engen Zweckbindung des § 81h StGB a.F. durfte
das Spurenmaterial folglich nur daraufhin überprüft werden, ob es vom Untersuchten
direkt stammt. Rückschlüsse auf Verwandte wurden dagegen als bedenklich angese-
hen:90 Ergab der Abgleich, dass der Teilnehmer möglicherweise mit dem mutmaß-
lichen Täter verwandt ist, durfte diese Erkenntnis nicht als verdachtsbegründend her-
angezogen werden. Eine Anordnung nach § 81a StPO gegen den nunmehr Verdäch-
tigen sollte rechtswidrig sein.91
Das Urteil erleichterte nicht gerade strafrechtliche Ermittlungen, wie regelmäßig
rechtsstaatliche Grenzziehungen von Polizei- und Strafverfolgungsbehörden als
Hemmschuh verstanden werden. Insbesondere bei schweren Straftaten wird dann
der Topos der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege betont,92 der gegenteilige
rechtspolitische Forderungen93 verfassungsrechtlich stützen soll. Diesen Forderun-
gen kam der Gesetzgeber nach und ließ zuletzt die Verwendung von Beinahetreffern
als Anknüpfungspunkt für weitere Ermittlungen im Verwandtschaftsumfeld der an
einem Reihengentest teilnehmenden Person zu. Im Zuge der StPO-Reform 2017
wurde § 81h Abs. 1 StPO um die Passage „oder von ihren Verwandten in gerader

87
Brocke, StraFo 2011, 298.
88
Brocke, StraFo 2011, 298, 299; ähnlich SK-StPO/Rogall, 5. Aufl. 2018, § 81h Rn. 7;
krit. dagegen Graalmann-Scheerer, ZRP 2002, 72, 75 f.; dies., NStZ 2004, 297 ff.
89
BGH, Urt. v. 20. 12. 2012 – 3 StR 117/12, NJW 2013, 1827. Zu diesem Urteil des BGH
siehe Magnus, ZStW 126 (2014), 695, 696 ff.; dies., ZRP 2015, 13 ff.; Busch NJW 2013,
1771 ff.; Jahn, JuS 2013, 470 ff.; Kanz, ZJS 2013, 518 ff.; Rogall, JZ 2013, 874 ff.; Swoboda,
StV 2013, 461 ff.; Löffelmann, JR 2013, 270 ff.
90
Swoboda, StV 2013, 461, 469.
91
BGH, Urt. v. 20. 12. 2012 – 3 StR 117/12, NJW 2013, 1827; bestätigt durch BVerfG,
Beschl. v. 13. 5. 2015 – 2 BvR 616/13, medstra 2015, 363 ff.; a.A. MüKo-StPO/Trück, 2014,
§ 81h Rn. 17; Brocke, StraFo 2011, 298, 299 ff.; Löffelmann, JR 2013, 277 ff. Zu den Beina-
hetreffern siehe auch BeckOK-StPO/Goers, 34. Edition Stand 1. 7. 2019, § 81h Rn. 3, 13.
92
Zum Topos der funktionstüchtigen Strafrechtspflege grundlegend Landau, NStZ 2007,
121 ff.
93
Busch, NJW 2013, 1771, 1774.
Die Rolle der forensischen Molekulargenetik im Strafprozess 1313

Linie oder in der Seitenlinie bis zum dritten Grad stammt“ erweitert.94 Die bislang
bestehenden Zweifel an der Verwertbarkeit von Beinahetreffern wurden damit
vom Gesetz ausgeräumt,95 wenngleich die grundsätzlichen Bedenken keineswegs be-
hoben sind. Denn immerhin wird dadurch in den besonders schützenswerten Fami-
lienkreis eingegriffen, und etwa der Sohn durch seine Teilnehme an der Reihenun-
tersuchung zu demjenigen, der den eigenen Vater überführt oder vice versa. Die In-
teressenlage ist nicht viel anders als beim Auskunftsverweigerungsrecht nach § 52
Abs. 1 StPO. Der Angehörigenschutz, wie er dort und in §§ 81c Abs. 3, 97
Abs. 1, 100c Abs. 6 StPO zum Ausdruck kommt, wird in Teilen unterlaufen.
Nun ließe sich einwenden, dass auch der strafprozessuale Angehörigenschutz
nicht absolut ist96 und in die Gesamtbewertung des Verfahrens auch das Erfordernis
einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege einzustellen ist.97 Daher sind beispiels-
weise verfahrensrelevante Erkenntnisse aus einer Telekommunikationsüberwachung
nach § 100a StPO auch dann verwertbar, wenn es sich um Gespräche des Beschul-
digten mit einem gem. § 52 Abs. 1 StPO zeugnisverweigerungsberechtigten Ange-
hörigen handelt.98
Auch nimmt der Angehörige freiwillig an der Reihenuntersuchung teil. Eine ana-
loge Anwendung des § 81c Abs. 3 StPO, der auf die Zeugnisverweigerungsrechte
verweist, ist folglich nicht geboten, weil es an einer vergleichbaren Interessenlage
fehlt. § 81c Abs. 3 StPO gewährt aufgrund einer konkreten Konfliktsituation dem
Angehörigen ein Untersuchungsverweigerungsrecht. An einer solchen fehlt es im
Rahmen des § 81h StPO jedoch, soweit der Angehörige an der Reihenuntersuchung
freiwillig teilnimmt und die DNA-Probe freiwillig abgibt.99 Derjenige, der infolge
einer DNA-Reihenuntersuchung in Verdacht gerät, steht folglich nicht anders, als
hätte ihn ein Verwandter gegenüber der Polizei bezichtigt.100
Das ist alles zutreffend. Es wird sich allerdings zeigen müssen, inwiefern sich die
Ausweitung der Reihenuntersuchung auf die freiwillige Bereitschaft zur Teilnahme
auswirkt. Die Annahme des Tatverdachts bei Verweigerung einer Mitwirkung101 ist
94
Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens v.
17. 8. 2017, BGBl. I, S. 3202. Zur Normgeschichte des § 81h StPO siehe auch Becker, in:
Czerwenka/Korte/Kübler (Hrsg.), FS Graf-Schlicker, 2018, S. 429, 436 ff.
95
So auch BT-Drs. 18/11277, S. 20. Eine solche gesetzliche Klarstellung gefordert hatte
etwa Rogall, JZ 2013, 874, 880.
96
Brocke, StraFo 2011, 298, 302.
97
BVerfG, Beschl. v. 15. 1. 2009 – 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248, 272 f.
98
BVerfG, Beschl. v. 15. 10. 2009 – 2 BvR 2438/08, NJW 2010, 287, 288; Brocke, StraFo
2011, 298, 302; Magnus, ZStW 126 (2014), 695, 708 f.; dies., ZRP 2015, 13, 14.
99
Brocke, StraFo 2011, 298, 302; Magnus, ZStW 126 (2014), 695, 709 f.
100
BT-Drs. 18/11277, S. 22.
101
BVerfG, Beschl. v. 27. 2. 1996 – 2 BvR 200/91, NJW 1996, 1587, 1588; BVerfG, Be-
schl. v. 2. 8. 1996 – 2 BvR 1511/96, NStZ 1996, 606 f.; BGH, Urt. v. 21. 1. 2004 – 1 StR 364/
03, BGHSt 49, 56, 60; LG Regensburg, Beschl. v. 6. 2. 2003 – Qs 4/2003 jug, StraFo 2003,
127; krit. SSW-StPO/Bosch, 3. Aufl. 2018, § 81h Rn. 16.
1314 Henning Rosenau und Carina Dorneck

künftig jedenfalls noch weniger denkbar als derzeit schon, weil die Verweigerung
unter Berufung auf die potentielle Überführung eigener Verwandter einen nachvoll-
ziehbaren und wegen Art. 6 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich zu respektierenden und
vernünftigen Grund darstellt. Insofern könnte sich die Neufassung als Danaerge-
schenk an die Forensiker erweisen.

V. Grenzen molekulargenetischer Untersuchungen


im Strafverfahren
Wir haben gesehen, dass sich die Justiz immer stetiger und intensiver der DNA-
Analyse genähert hat und heute mit ihr sozusagen eine glückliche Ehe führt. Recht-
sprechung und Gesetzgeber haben Zulässigkeit und Befugnisse im Rahmen der
DNA-Analyse zunehmend ausgeweitet.102 Aber es bleiben Bedenken, die auch
schon anklangen. Sind verfassungsrechtliche Grenzen der DNA-Analyse angesichts
der Erfolge aus dem Blick geraten?

1. DNA-Reihenuntersuchung und Recht


auf informationelle Selbstbestimmung

Die Feststellung, Speicherung und (künftige) Verwendung eines DNA-Identifi-


zierungsmusters greift grundsätzlich in das Recht auf informationelle Selbstbestim-
mung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ein. Eine DNA-Analyse darf daher
nicht schematisch angeordnet werden, sondern erfordert stets eine einzelfallbezoge-
ne Abwägung der widerstreitenden Interessen.103 Das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung gewährleistet außerdem einen unantastbaren Bereich privater Le-
bensgestaltung, der der öffentlichen Gewalt schlechthin entzogen ist.104 Eingriffe in
diesen Bereich können selbst schwerwiegende Interessen der Allgemeinheit nicht
rechtfertigen, so dass auch eine Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeits-
grundsatzes nicht möglich ist und die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege
nicht in Ansatz gebracht werden kann. Im Rahmen eines Strafverfahrens hängt
der Umstand, ob ein Sachverhalt dem Kernbereich zugeordnet werden kann,
neben dem subjektiven Willen des Betroffenen zur Geheimhaltung davon ab, ob
er nach seinem Inhalt höchstpersönlichen Charakter hat und in welcher Art und In-
tensität er aus sich heraus die Sphäre anderer oder die Belange der Gemeinschaft be-

102
Zur DNA-Analyse und zum Strafverfahren de lege ferenda siehe Schneider, NStZ 2018,
692 ff.
103
BVerfG, Beschl. v. 29. 9. 2013 – 2 BvR 939/13, StV 2014, 577; Vahle, DVP 2015, 35;
Schmidt-Jortzig, DÖV 2005, 732, 734; Swoboda, StV 2013, 461, 466.
104
BVerfG, Beschl. v. 14. 9. 1989 – 2 BvR 1062/87, BVerfGE 80, 367 (Tagebuch); BVerfG,
Beschl. v. 26. 6. 2008 – 2 BvR 219/08, StraFo 2008, 421.
Die Rolle der forensischen Molekulargenetik im Strafprozess 1315

rührt.105 Gemessen an diesen Maßstäben fällt die Verwertung der Erkenntnisse eines
Beinahetreffers nicht in diesen unantastbaren Bereich.106
Es erscheint bereits fraglich, ob sich die untersuchte Person zugunsten des nun-
mehr Tatverdächtigen auf einen Schutz aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG be-
rufen kann. Die Teilnahme an der DNA-Reihenuntersuchung und die Abgabe der
DNA-Probe sind für sie stets freiwillig.107 Dem Recht der untersuchten Person auf
informationelle Selbstbestimmung wird hinreichend Rechnung getragen, wenn
sie, so wie es § 81h Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 StPO vorsieht, darüber belehrt wird, dass
bei einem Ähnlichkeitstreffer auch Verwandte in Verdacht geraten. Der Teilnehmer
an einer Reihenuntersuchung kann folglich durch die freiwillige Mitwirkung darüber
disponieren, ob er durch sein Verhalten dazu beitragen möchte, dass ein naher Ver-
wandter einer potentiellen Strafverfolgung ausgesetzt wird.108 Allerdings darf diese
Freiwilligkeit dann nicht damit umgangen werden, dass die Verweigerung in einen
Anfangsverdacht umgemünzt wird und der Betreffende dann schlicht als Beschul-
digter nach § 81a Abs. 1 i.V.m. § 81e StPO molekulargenetisch behandelt wird.109
Allenfalls durch weitere Ermittlungen kann sich ein Tatverdacht ergeben, so dass
eine Blutentnahme zur DNA-Analyse denkbar wäre.
Auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des nunmehr Tatverdäch-
tigen, also der verwandten Person des Untersuchten, wird durch die Verwertung von
Beinahetreffern nicht berührt.110 Untersuchungsgegenstand ist allein die freiwillig
abgegebene DNA-Probe der untersuchten Person. Sie lässt lediglich eine statistische
Aussage hinsichtlich der Ähnlichkeit mit dem Spurenmaterial zu, nicht aber ein per-
sonenbezogenes Datum auf eine bestimmte andere Person. Erst durch weitere Er-
mittlungen – freilich auf Basis der Ergebnisse der DNA-Reihenuntersuchung –
kann sich ein Tatverdacht gegen einen Verwandten eines Teilnehmers ergeben.111
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützt vor staatlichen Eingriffen.
Es schützt jedoch nicht vor freiwilligen Entscheidungen eines engen Verwandten.112
Würde man dennoch einen Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung anneh-

105
BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 2008 – 2 BvR 219/08, StraFo 2008, 421.
106
So auch schon Brocke, StraFo 2011, 298, 303; Swoboda, StV 2013, 461, 466.
107
Brocke, StraFo 2011, 298, 303, der darauf verweist, dass der Untersuchte bereits durch
die freiwillige Mitwirkung an der DNA-Reihenuntersuchung einen Bezug zur Öffentlichkeit
herstellt.
108
So auch BT-Drs. 18/11277, S. 21.
109
Siehe Fn. 101. Lütkes/Bäumler, ZRP 2004, 87, 89; Becker, in: Czerwenka/Korte/Kübler
(Hrsg.), FS Graf-Schlicker, 2018, S. 429, 435. Dies scheint in der Praxis allerdings durchaus
üblich zu sein, vgl. Beck, Die DNA-Analyse im Strafverfahren, 2015, S. 266 f.; Beulke/
Swoboda, Strafprozessrecht, 14. Aufl. 2018, Rn. 242c.
110
So auch LR/Krause, 27. Aufl. 2017, § 81h Rn. 5.
111
BT-Drs. 18/11277, S. 21.
112
A.A. Swoboda, StV 2013, 461, 467 f., die im Hinblick auf Art. 8 EMRK und unter
Verweis auf das Urteil des EuGH in S. and Marper vs. United Kingdom, Urt. v. 4. 12. 2008 –
30562/04 und 30566/04, NJOZ 2010, 696, das „familial searching“ kritisch sieht.
1316 Henning Rosenau und Carina Dorneck

men wollen, wäre dieser gegen das staatliche Interesse an der Aufklärung und Ver-
folgung schwerer Straftaten abzuwägen.113

2. Untersuchungen des „kodierenden“ Bereichs

§ 81e Abs. 1 Satz 1 StPO bestimmt, dass mittels molekulargenetischer Untersu-


chung das DNA-Identifizierungsmuster, die Abstammung und das Geschlecht einer
Person festgestellt und mit dem Vergleichsmaterial abgeglichen werden dürfen, so-
weit dies zur Erforschung des Sachverhalts erforderlich ist. Sofern sich die Untersu-
chungen auf den eher persönlichkeitsneutralen Bereich der DNA beschränkten, hat-
ten Rechtsprechung und Literatur schon vor Schaffung des § 81e StPO molekularge-
netische Untersuchungen an entnommenem Proben sowie die Verwertung des Unter-
suchungsergebnisses zu Beweiszwecken nach § 81a StPO für zulässig gehalten.114
Mit Einführung des § 81e StPO beabsichtigte der Gesetzgeber deshalb zuvorderst,
die sachgerechte Verwendung des Untersuchungsmaterials sicherzustellen;115 eine
Subsidiaritätsklausel enthielt die ursprüngliche Regelung nicht. Erst durch die
StPO-Reform 2017 wurde aus Klarstellungsgründen die Vorschrift um den letzten
Halbsatz erweitert.116
Darf man hierüber hinausgehen, wie es das im Verfassungsstreit stehende neue
bayerische Polizeiaufgabengesetz (PAG)117 bereits tut? Art. 14 Abs. 3 PAG legt mo-
lekulargenetische Untersuchungen zum einen als erkennungsdienstliche Standard-
maßnahme fest. Zum anderen darf nach Art. 32 Abs. 1 Satz 2 PAG aufgefundenes
Spurenmaterial neben dem DNA-Identifizierungsmuster und dem Geschlecht auf
Augen-, Haar- und Hautfarbe, auf das biologische Alter und auf die biogeographi-
sche Herkunft untersucht werden. Eine solche „erweitere DNA-Analyse“ – mit Aus-
nahme der Untersuchung auf die biogeographische Herkunft – sieht nunmehr ein
Gestzentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz zur Mo-
dernisierung des Strafverfahrens vor.118 In Bayern wurden die zulässigen Untersu-
chungen auf die „kodierenden“ Sequenzen der DNA damit bereits ausgeweitet,
was auf massive Kritik gestoßen ist.119 Und auch gegen die geplante Einführung

113
Ein Überwiegen dieses Interesses nimmt der Gesetzgeber an, vgl. BT-Drs. 18/11277,
S. 21.
114
BVerfG, Beschl. v. 18. 9. 1995 – 2 BvR 103/92, NJW 1996, 771; BGH, Urt. v. 21. 8.
1990 – 5 StR 145/90, BGHSt 37, 157.
115
BT-Drs. 13/667, S. 1.
116
BT-Drs. 18/11277, S. 22.
117
Gesetz zur Neuordnung des bayerischen Polizeirechts (PAG-Neuordnungsgesetz) v.
18. 5. 2018, GVBl. S. 301. Siehe hierzu auch den Artikel in der Mitteldeutschen Zeitung (MZ)
v. 15. 5. 2018, S. 4. Zu diesem Gesetz siehe Löffelmann, KJ 2018, 355 ff.
118
BT-Drs. 19/14747, S. 6, 26 ff. Dieser Entwurf wurde am 15. 11. 2019 vom Deutschen
Bundestag beschlossen, siehe Plenarprotokoll der 128. Sitzung, 19/128, S. 16081.
119
So kündigte unter anderem der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum gegen
das neue Gesetz Verfassungsklage an, MZ v. 15. 5. 2018, S. 4. Mittlerweile hat eine Allianz aus
Die Rolle der forensischen Molekulargenetik im Strafprozess 1317

der erweiterten DNA-Analyse als Instrument polizeilicher Fahndung in die StPO regt
sich zu Recht Widerstand.120 In der Tat ergeben sich verfassungsrechtliche Beden-
ken:121

a) Genetischer Exzeptionalismus

Ein Grund für solche Kritik ist in der Besonderheit genetischer Daten zu sehen.
Jedenfalls sieht der deutsche Gesetzgeber in ihnen ein besonderes Diskriminierungs-
potential, welches die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen bedrohen könnte. Das
lässt sich durchaus kritisieren; auch Reinhard Merkel hat sich in ganz anderen Zu-
sammenhängen skeptisch gezeigt, allein an die DNA „als ein bloßes Stücke Biolo-
gie“ rechtliche Folgerungen zu knüpfen.122 Es ist immerhin einzuräumen, dass die
Ergebnisse über einen langen Zeitraum ihre Gültigkeit behalten und besonders iden-
titätsrelevante Daten enthalten, die eine hohen prädiktiven Wert aufweisen.123 Hinzu
tritt der Umstand, dass die genetischen Daten auch Informationen über die Blutsver-
wandten des Untersuchten offenbaren können.124 Dieser sog. genetische Exzeptiona-
lismus ist Grundlage des GenDG – und jedenfalls dann auch hier relevant, wenn idea-
liter von der Einheit der Rechtsordnung ausgegangen wird. Es ist nicht konsistent, die
genetischen Daten einerseits besonders zu schützen, andererseits im strafprozessua-
len Kontext beliebig zu staatlichen Zwecken heranzuziehen. Die Ermittlung und Nut-
zung gerade solcher biologischer Merkmale ist entsprechend besonders begrün-
dungsbedürftig. Die Gründe müssen schwerer wiegen als bei anderen strafprozessua-
len Maßnahmen. Solche übergewichtigen Gründe sind nicht ersichtlich.125

Bundestagsabgeordneten der FDP, Bündnis90/Die Grünen und Die Linken eine Normenkon-
trollklage gegen das Bayerische Polizeiaufgabengesetz beim BVerfG eingereicht, Zeitonline v.
10. 9. 2018, abrufbar unter https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-09/normenkontrollkla
ge-polizeiaufgabengesetz-fdp-linke-gruene, zuletzt abgerufen am 1. 8. 2019.
120
Siehe insbesondere die Stellungnahme der Strafverteidigervereinigungen (StVV),
S. 10 ff., abrufbar über juris, https://www.strafverteidigervereinigungen.org/Material/Stellung
nahmen/SN_StVV_Eckpunkte2019.pdf, zuletzt abgerufen am 6. 8. 2019.
121
Solche Kritik äußerte Keller, NJW 1989, 2289, 2292 ff., bereits Jahre vor Inkrafttreten
der gesetzlichen Bestimmungen zur DNA-Analyse im Strafverfahren. Entsprechend Krehl/
Kolz, StV 2004, 447 ff. im Zuge der Reform 2005. Die Stellungnahme StVV (Fn. 120),
S. 10 f., weist auf praktische Bedenken hin.
122
Merkel, Forschungsobjekt Embryo, 2002, S. 179.
123
BR-Drs. 633/08, S. 25; Rosenau, in: Duttge et al. (Hrsg.), Das Gendiagnostikgesetz im
Spannungsfeld von Humangenetik und Recht, 2011, S. 69, 83; Cremer, Berücksichtigung
prädiktiver Gesundheitsinformationen bei Abschluss privater Versicherungsverträge, 2010,
S. 42 ff.
124
Gleichwohl einen Eingriff in den unantastbaren Kernbereich der Persönlichkeit ableh-
nend Schneider, NStZ 2018, 692, 694.
125
Ähnlich die Stellungnahme der StVV (Fn. 120), S. 11 f.
1318 Henning Rosenau und Carina Dorneck

b) Erforschung der Wahrheit

Jede Ausweitung molekulargenetischer Untersuchungen für die Strafverfolgung


wird mit dem zentralen Anliegen begründet, dass die Wahrheit ermittelt werden
soll.126 Ohne die Ermittlung des wirklichen Sachverhalts lasse sich zudem das ma-
terielle Schuldprinzip nicht verwirklichen, eine Position, die in gewisser Überhö-
hung des Würdepostulats auch das BVerfG einnimmt.127 Es ließe sich schlichter
auch mit der StPO argumentieren. Mit der Einfügung des § 244 Abs. 2 StPO im
Jahr 1935 heißt es nun ausdrücklich, dass das Gericht von Amts wegen alles zu
tun habe, „was zur Erforschung der Wahrheit erforderlich ist.“ Allerdings stehen die-
sem Postulat selbst andere Überlegungen entgegen: Es muss in Einklang gebracht
werden mit rechtsstaatlichen Geboten, mit der Justizförmigkeit, aber insbesondere
mit den Grundrechten, auch den Prozessgrundrechten, des Beschuldigten. Und
diese Grundrechte stehen dem prozessualen Interesse an Wahrheitsermittlung entge-
gen.128 Dass die Protagonisten der Strafjustiz, welche sich dem Ziel der Wahrheits-
ermittlung unmittelbar verpflichtet sehen, allzu leicht der Gefahr unterliegen, die
Rechte und Interessen des Beschuldigten als unliebsame Störung und Beeinträchti-
gung der Effizienz der Strafrechtspflege zu verstehen – was sich nicht zuletzt in der
durch die Verfassungsgerichtsrechtsprechung entwickelte Figur der „Funktionstüch-
tigkeit der Strafrechtspflege“129 deutlich zeigt, ist nicht von der Hand zu weisen. Aber
Strafrechtspflege muss insgesamt als rechtsstaatliche Kategorie verstanden wer-
den.130 Sie darf nicht reduziert werden auf den Gesichtspunkt der Funktionstüchtig-
keit der Strafrechtspflege, also auf die kriminalistische Funktion der Verfolgung von
Strafrechtsverstößen und der Aufdeckung der Wahrheit. Die Grundrechte der Betrof-
fenen und die daraus abgeleiteten strafprozessualen schützenden Regeln sind in glei-
cher Weise Elemente der Strafrechtspflege. Die Verwirklichung des materiellen
Strafrechts, die Suche nach Wahrheit und den Schutz der Betroffenenrechte muss
man als Einheit verstehen.131 Daraus ergeben sich auch die Erkenntnis und der
Grundsatz der StPO, dass es keine Wahrheitsermittlung um jeden Preis geben
dürfe.132 Dieses geflügelte Wort aus BGHSt 14, 358133 wird noch häufiger in den

126
BT-Drs. 18/11277, S. 1.
127
BVerfG, Beschl. v. 26. 5. 1981 – 2 BvR 215/81, BVerfGE 57, 250, 275; BVerfG, Urt. v.
19. 3. 2012 – 2 BvR 2628/10, BVerfGE 133, 168, 197.
128
Lütkes/Bäumler, ZRP 2004, 87, 88.
129
BVerfG, Urt. v. 19. 3. 2012 – 2 BvR 2628/10, BVerfGE 133, 168, 199 f. Dieser Grund-
satz wird auch in der Gesetzesbegründung zur erweiterten DNA-Analyse herangezogen, BT-
DRs. 19/14747, S. 26 f.
130
Neumann, ZStW 101 (1989), 52, 62.
131
H. A. Zachariae, Handbuch des deutschen Strafprozesses, Band 1, 1860, S. 144 ff.
132
BGH, Urt. v. 14. 6. 1960 – 1 StR 683/59, BGHSt 14, 358, 365; BGH, Urt. v. 17. 3. 1983 –
4 StR 640/82, BGHSt 31, 304, 309.
133
BGH, Urt. v. 14. 6. 1960 – 1 StR 683/59, BGHSt 14, 358, 365: „die Strafprozeßordnung
kennt keinen Grundsatz, daß die Wahrheit um jeden Preis erforscht werden müßte“; seitdem
ständige Rechtsprechung, z. B. BGH, Urt. v. 17. 3. 1983 – 4 StR 640/82, BGHSt 31, 304, 309.
Die Rolle der forensischen Molekulargenetik im Strafprozess 1319

Lehrbüchern und allen möglichen Abhandlungen zum Strafprozess zitiert, als dass es
in den Textbausteinen der BGH-Urteile auftaucht. Vielleicht kann man nicht oft
genug wiederholen, auch wenn getretner Quark bekanntlich breit und nicht stark
wird,134 dass die Wahrheitsermittlung um jeden Preis gerade kein Grundsatz der
Strafprozessordnung ist.

c) Recht auf informationelle Selbstbestimmung

Der Grundsatz, dass es keine Wahrheitsermittlung um jeden Preis geben darf, gilt
umso mehr, wenn beachtet wird, welches Grundrecht auf der anderen Seite der
Waagschale liegt: Eine molekulargenetische Untersuchung nach § 81e Abs. 1
Satz 1 StPO, d. h. eine staatlicherseits angeordnete, nicht freiwillige molekulargene-
tische Untersuchung, stellt stets einen Eingriff in das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) des Untersuchten
dar.135 Eine Erweiterung der Zweckbindung des § 81e Abs. 1 Satz 1 StPO auf persön-
lichkeitsrelevante Merkmale würde diesen Eingriff in erheblicher und unzulässiger
Weise vertiefen; denn diese Informationen gehen weit über das hinaus, was zur Iden-
titätsfeststellung bzw. zum Abgleich mit den am Tatort gefundenen Spuren notwen-
dig ist.136 Wie bereits ausgeführt, zählen äußere Merkmale wie Größe, Haar- und Au-
genfarbe ebenso wie Erbanlagen, Charaktereigenschaften, Krankheiten und Krank-
heitsanlagen zu den besonders schutzbedürftigen Persönlichkeitsmerkmalen.137 Die
Kenntnis dieser Eigenschaften ist für die Ermittlung des Täters aber nicht zwingend
notwendig.138 Um das am Tatort aufgefundene Material abgleichen zu können, genü-
gen bereits weniger einschneidende Untersuchungen am Erbgut des Verdächtigen.
Insofern kann auch das berechtigte Interesse an einer funktionstüchtigen Strafrechts-
pflege und an der Wahrheitsermittlung einen solch weitgehenden Eingriff in die
Rechte des Betroffenen nicht rechtfertigen.

134
Vgl. v. Goethe, Westöstlicher Divan, Buch der Sprüche, in: Trunz (Hrsg.), Goethes
Werke, Hamburger Ausgabe, Band II, 4. Aufl. 1958, S. 58.
135
Becker, in: Czerwenka/Korte/Kübler (Hrsg.), FS Graf-Schlicker, 2018, S. 429, 433;
Schmidt-Jorzig, DÖV 2005, 732, 734 f.; a.A. Schneider, NStZ 2018, 692, 694 f.
136
Rackow, ZRP 2002, 236; Stellungnahme der StVV (Fn. 120), S. 11. Allgemein zur
Vorsicht gegenüber Erweiterungen der DNA-Analysen aufgrund des Eingriffs in das Allge-
meine Persönlichkeitsrecht mahnend Schmidt-Jorzig, DÖV 2005, 732, 735.
137
Siehe bereits unter V. 2. a). Ebenso MüKo-StPO/Trück, 2014, § 81e Rn. 16; a.A. BT-
Drs. 19/14747, S. 27.
138
A.A. Stenger, Kriminalistik 2017, 491, 495 f., der die äußerlich erkennbaren Indizien
nutzen will, den Kreis der Tatverdächtigen noch weiter einzugrenzen. Nach Ansicht der StVV
hingegen sind die erzielten Wahrscheinlichkeiten sogar geringer als beim bisher geltenden
DNA-Beweis, vgl. Stellungnahme StVV (Fn. 120), S. 11. Zudem könnten die äußerlichen
Merkmale problemlos und nach Belieben verändert werden.
1320 Henning Rosenau und Carina Dorneck

VI. Fazit
Die Beziehung von Strafjustiz und Molekulargenetik bleibt damit eine span-
nungsreiche – wie es ja auch bei jeder guten Beziehung sein sollte. Eine weitere Aus-
dehnung der DNA-Analyse lässt diese Spannung eher nicht zu. Dabei sind es nicht
primär die eingangs erwähnten mathematischen Defizite eines Juristen, die ihn zur
Zurückhaltung bringen. Es sind normative Überlegungen der rechtlichen Disziplin,
die gerade nicht allein das medizinisch und technisch Machbare, sondern das verfas-
sungsrechtlich Gebotene in den Vordergrund holt und die normativen Grenzen der
forensischen Molekulargenetik im Blick haben muss und in den Blick nimmt.
Die „formlose Einziehung“:
Kritische Anmerkungen zu einem Phänomen
Von Guido Britz

I. Eine persönliche Vorbemerkung


Um ein Geheimnis zu lüften: Reinhard Merkel ist trotz seiner bayrischen Her-
kunft, seinem schließlich norddeutschen Lebensschwerpunkt und seiner internatio-
nalen Tätigkeit sowie Vernetzung eben auch ein bisschen Saarländer. Denn in den
Jahren 1997 und 19981 hat er auf dem damals vakanten Lehrstuhl von Müller-
Dietz zunächst rechtlich betrachtet, wegen des kostengünstigen Belassens der Büro-
einrichtung sodann nicht nur sprichwörtlich, sondern eben auch tatsächlich gesessen.
Er lehrte Straf- sowie Strafverfahrensrecht einschließlich Kriminologie und Krimi-
nalpolitik an der (damaligen) Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät in
Saarbrücken. Dazu kam das Veranstalten von Übungen; wie es jeder Lehrstuhlver-
tretung gerne überlassen wird. Als wissenschaftlichem Assistenten und ehemaligem
Mitarbeiter von Müller-Dietz oblag es mir, Reinhard Merkel zu unterstützen sowie
ihn schonend zu initialisieren, also ihn überlebenswichtig mit den saarländischen Ge-
gebenheiten und Gebräuchen hinreichend vertraut zu machen, ohne dass er Schaden
nähme. Bekanntermaßen ist dies weitgehend gelungen, so dass Reinhard Merkel si-
cherlich nicht ungerne an seine Zeit in Saarbrücken zurückdenkt. Seine Denkungsart
hat mich nachhaltig beeindruckt. Über diverse, nicht nur rechtliche, sondern auch ge-
sellschaftliche und politische Themen haben wir diskutiert. Es waren fruchtbare, oft
intensive, aber in jedem Fall inspirierende Gespräche. Reinhard Merkel persönlich
kennen gelernt und mit ihm eine Zeit lang zusammen gearbeitet zu haben, erfüllt
mich heute noch mit Freude.

1
Die Lehrstuhlvertretung durch den damaligen „Frankfurter“ bezieht sich auf das Win-
tersemester 1997/1998 sowie das Sommersemester 1998.
1322 Guido Britz

II. Zum Thema


1. Einleitung

Unter zusammenfassender Berücksichtigung aller seiner rechtlichen Grundlagen2


lässt sich der Strafprozess als grundsätzlich legislativ durchdekliniertes Verfahrens-
modell begreifen und beschreiben. Ebenso banal wie interessant ist indessen die Fest-
stellung, dass auch ein noch so fein gewobenes Netz naturgemäß Maschen, aber zu-
weilen eben auch Löcher einschließlich Reparaturspuren aufweist. Hinzu kommt die
häufig auszumachende, zum Teil eklatante Diskrepanz zwischen „law in books“ und
Verfahrenswirklichkeit im Bereich des Strafprozesses, die in der (Fach-)Diskussion
naturgemäß zwischen anodischen und kathodischen Polen oszilliert. Die – manch-
mal auch nur vermeintliche3 – Lückenhaftigkeit des geschriebenen und somit vorge-
gebenen Normenprogramms bedingt die Entstehung in diesem Sinne außergesetzli-
cher Phänomene4. Diese bedürfen aber stets vor allem aus verfassungsrechtlichen
Gründen einer besonderen Legitimation und Begründung.
Das partielle Auseinanderfallen von gesetzgeberischem Prozessmodell einerseits
und Verfahrensrealität andererseits eröffnet zugleich ein stimulierendes Spannungs-
feld. Pointiert lässt sich formulieren, dass die Dynamik des Strafprozesses neben
weiteren Faktoren gerade aus der Verfahrenspraxis resultiert. Die Fortentwicklung
des Strafverfahrensrechts erhält mithin wesentliche Impulse durch die Anwendung
des Normenprogramms in der täglichen Praxis einschließlich der sich hierbei erge-
benden Modifikationen oder Abweichungen. Ein prominentes Beispiel ist sicherlich
die Verständigung im Strafprozess5. Denn der „Deal“ hat bekanntermaßen Karriere
gemacht6: Aus der gruseligen Schmuddelecke oder zumindest aus dem finsteren Hin-
terzimmer ans Licht gezerrt7, erteilte zunächst der BGH dem „Fremdkörper“ die Ab-
solution8. Auf dieser Basis konnte schließlich der Gesetzgeber ebenfalls sein Plazet

2
Zu den Rechtsquellen des Strafprozessrechts: Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 1
Rn. 1.
3
Zur Problematik der bloßen Behauptung einer Regelungslücke: Eschelbach, in: FS Fi-
scher, S. 81 ff. (85 f.).
4
Als Beispiel kann die Genese der Absprachen und der Verständigung im Strafverfahren
verwiesen werden. Insbesondere die Anerkennung der Absprachen durch die höchstrichterli-
che Rechtsprechung lässt sich als unzulässige richterliche Rechtsschöpfung begreifen; vgl.
zusammenfassend: Eschelbach, in: FS Fischer, S. 81 ff. (89 f.).
5
Zur partiellen thematischen Nähe von sog. formloser Einziehung zur Verständigung:
Thode, NStZ 2000, 62 (65); dies., Die außergerichtliche Einziehung von Gegenständen im
Strafprozeß, S. 66, 89 f.; Brauch, NStZ 2013, 503 (507).
6
Zu den Entwicklungsstufen: Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, Einl Rn. 119b ff.
Instruktiv auch: Radtke/Hohmann/Ambos/Ziehn, § 257c StPO Rn. 4 ff.
7
Ein Anonymus in: StV 1982, 545 ff.
8
BGHSt 43, 195 ff.: „Verfahrensordnung für Absprachen“; vgl. hierzu: Weigend, NStZ
1999, 57.
„Formlose Einziehung“: Kritische Anmerkungen zu einem Phänomen 1323

erteilen9. Sodann attestierte das BVerfG – mit deutlichen kritischen Hinweisen zwar
– dem Gesetz die erforderliche Verfassungskonformität10; ohne dass freilich die Dis-
kussion um den „Deal“ und damit zusammenhängende verfahrensrechtliche Detail-
fragen abschließend geklärt wären.
Nicht unähnlich verhält es sich mit der sog. formlosen Einziehung11; mitunter
auch als „außergerichtliche Einziehung“12 oder „formlose“ bzw. „außergerichtliche“
Vermögensabschöpfung13 deklariert. Auch sie ist wohl aus ganz praktischen Gründen
heraus entstanden und insbesondere in der höchstrichterlichen Rechtsprechung an-
erkannt worden mit der unmittelbaren Konsequenz, dass sie nunmehr seit langem
zum Alltag der Strafjustiz gehört14. Freilich ist ihr die gesetzgeberische Anerkennung
bis heute versagt geblieben. Auch verfassungsrechtlich wurde sie nie auf den Prüf-
stand gehoben. Da neuere Entscheidungen des BGH zu der Thematik vorliegen15 und
der Gesetzgeber in der vergangenen 18. Legislaturperiode eine Reform der straf-
rechtlichen Vermögensabschöpfung vorgenommen hat16, besteht hinreichend An-
lass, sich dem Phänomen zuzuwenden. Die Thematik wirft nämlich in verschiedener
Hinsicht gerade auch grundsätzliche Fragen auf.

2. Eine kleine Phänomenologie

Die Erscheinungsformen der sog. formlosen Einziehung in der Praxis sind viel-
fältig. Die wohl häufigste Variante ist auf der amtsgerichtlichen Ebene anzutreffen.
Es handelt sich zumeist um die Erklärung des Verteidigers – oder sehr selten des (un-
verteidigten) Angeklagten selbst – in der Hauptverhandlung, dass der Beschuldigte
mit der formlosen Einziehung der durchweg bereits sichergestellten Gegenstände
einverstanden sei. Diese Verfahren beziehen sich in der Regel auf Vorwürfe
9
Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29. 07. 2009, BGBl I
S. 2353; zuvor: BGHSt (GS) 50, 40 ff.
10
BVerfG, NJW 2013, 1058 ff.
11
Zu dieser Terminologie: Putzke/Scheinfeld, in: MüKo-StPO, § 421 Rn. 29; Weber,
BtMG, § 33 Rn. 468.
12
Thode, NStZ 2000, 62; Brauch, NStZ 2013, 503.
13
Habetha, NJW 2019, 1642; BGH, NJW 2019, 1961 (1962).
14
Ein weiteres Instrumentarium jenseits der kodifizierten Einziehung ist die sog. präven-
tive Gewinnabschöpfung nach Abschluss des Strafverfahrens; hierzu: Hüls/Reichling, StraFo
2009, 198 ff. (199 ff. m.w.N.).
15
Es geht spezifisch um die „formlose Einziehung“, nicht hingegen um Fragen im Zu-
sammenhang mit der Neuregelung der Vermögensabschöpfung, wie beispielsweise: Rück-
wirkung (vgl.: BGH, Beschl. v. 22. 3. 2018 – 3 StR 577/17; hierzu: Leipold/Beukelmann,
NJW-Spezial 2018, 377; zuvor: Beukelmann, NJW-Spezial 2018, 56); Jugendstrafrecht und
Konfiskation (vgl.: Beukelmann, NJW-Spezial 2019, 504); Zivilrechtliche Einigung und
Einziehung (vgl.: BGH, Beschl. v. 19. 9. 2018 – 1 StR 183/18, hierzu: Leipold/Beukelmann,
NJW-Spezial, 2019, 24); non-conviction-based-confiscation (vgl.: LG Hamburg, Beschl. v.
7. 3. 2019 – 614 Qs 21/18; hierzu: Beukelmann, NJW-Spezial 2019, 376 f. m.w.N.).
16
Hierzu: Trüg, NJW 2017, 1913 ff.; Heim, NJW-Spezial 2017, 248.
1324 Guido Britz

wegen des Verdachts von Verstößen gegen WaffG, gegen das BtMG, gegen das An-
tiDopG, gegen Körperverletzungsdelikte sowie gegen Vermögensdelikte. Asservier-
te Drogen, für den Konsum oder den Verkauf von Drogen erforderliche Utensilien,
(Bar-)Geldbeträge aus Drogengeschäften, Dopingmittel einschließlich Herstellungs-
oder Mittel zur Applikation, Waffen oder waffengleiche bzw. ansonsten gefährliche
Gegenstände sowie Gegenstände bzw. Geldbeträge aus Diebstahls- oder Betrugsde-
likten sollen auf diesem Wege ohne förmliche gerichtliche Entscheidung aus dem
Verkehr gezogen werden. Dies erfolgt mit dem Ziel, sie schlicht zu vernichten, sie
beispielsweise einer entsprechenden Sammlung der polizeilichen Ermittlungsbehör-
den zuzuführen oder jedenfalls sie dem Täter zu entziehen. Zumeist erfolgt die Er-
klärung zum Ende der Hauptverhandlung, wenn deren Ausgang17 konkret abschätz-
bar ist. Die Initiative hierzu geht überwiegend vom Gericht, nur ab und an unmittel-
bar von der Staatsanwaltschaft aus. Liegt dem Verfahren eine Absprache zugrunde,
ist die Frage einer entsprechenden Erklärung gewöhnlich in diesem Rahmen vorab
thematisiert worden.
Die Erklärung wird grundsätzlich ins Sitzungsprotokoll aufgenommen. Standar-
disiert ist sie hingegen nicht. Gerichtsspezifisch fällt sie unterschiedlich aus. Von der
Erklärung, dass Einverständnis seitens des Beschuldigten mit der formlosen Einzie-
hung bestehe, bis hin zu Erklärungen, dass auf die Herausgabe sichergestellter Ge-
genstände verzichtet werde, oder dass keine Herausgabeansprüche geltend gemacht
würden, reichen die Formulierungen. Die sprachlichen wie inhaltlichen Diskrepan-
zen dokumentieren indessen eine gewisse Sorglosigkeit im Umgang mit der Thema-
tik. Grund hierfür ist, dass es jenseits aller rechtlichen Vorgaben letztlich allen Ver-
fahrensbeteiligten plausibel und daher schon intuitiv rechtlich zulässig erscheint,
dass beispielsweise ein zur Körperverletzung benutzter Teleskopschlagstock nicht
wieder in den Besitz des Beschuldigten zurückgelangen soll; gleiches gilt für die
noch Marihuana behaftete Feinwaage des Kleindealers oder die mit unerlaubten
„Mittelchen“ gefüllte Sporttasche des konsumierenden Bodybuilders. Mit der be-
schriebenen Intuition und der fehlenden Reflektion kann es jedoch sehr schnell
ein Ende haben, wenn sich nämlich Differenzen oder gar Streit abzeichnen. Es be-
trifft Konstellationen, in denen beispielsweise bei Drogendelikten sichergestelltes
Bargeld oder hochwertige Handys konfisziert werden sollen. Es kann nämlich dis-
kutiert werden, inwiefern solche Gelder aus Drogengeschäften resultieren oder in-
wieweit ein Handy als Tatmittel eingesetzt wurden; unabhängig von weiteren Fragen
wie beispielsweise dem Absehen von einer Einziehung nach § 421 Abs. 1 StPO.
Entsprechendes gilt verschärft, wenn die skizzierten Bereiche des „normalen“
Gerichtsalltags verlassen werden und komplexere Bereiche der Kriminalität betrof-
fen sind. Exemplarisch kann auf die Steuerhinterziehung oder die Geldwäsche in
ihrer jeweiligen Vielgestaltigkeit hingewiesen werden. Oftmals stellt sich die

17
Hierbei muss es sich nicht zwingend um eine Verurteilung handeln. Auch im Falle von
Einstellungen vor allem nach §§ 153, 153a StPO werden solche Erklärungen abgegeben.
Gleiches gilt im Übrigen bei Freisprüchen aus tatsächlichen und/oder rechtlichen Gründen.
„Formlose Einziehung“: Kritische Anmerkungen zu einem Phänomen 1325

Frage, ob und in welchem Umfang sichergestelltes Bargeld oder sichergestellte


Wertgegenstände vor allem zur Begleichung (vermeintlicher) Verbindlichkeiten
bei den insofern zuständigen Fiskalbehörden eingezogen werden können und sol-
len18. Die sog. formlose Einziehung kann in solchen Konstellationen zu einem effek-
tiven Instrumentarium der Verteidigung werden, da ihr gewissermaßen eine Ventil-
funktion zukommen kann. Dies gilt insbesondere dann, wenn anspruchsvolle und
aufwändige (Wirtschaftsstraf-)Verfahren vor dem Amtsgericht verhandelt werden,
dessen vor allem zeitliche Ressourcen bekanntermaßen deutlich begrenzt sind.
Die sog. formlose Einziehung – gegebenenfalls eingebunden in ein Rechtsgespräch
und Absprachen der Verfahrensbeteiligten oder zumindest Zusagen seitens des Be-
schuldigten – erspart unter Umständen weitere Ermittlungen und Feststellungen,
aber auch die Anwendung der komplizierten materiell-rechtlichen wie verfahrens-
rechtlichen Vorschriften zur Einziehung.
Hieraus wird deutlich, dass die sog. formlose Einziehung auch bei Verfahren auf
landgerichtlicher Ebene von keinesfalls zu unterschätzender Relevanz ist. Der Ak-
zent dürfte bei den Wirtschaftsstrafverfahren liegen. Denn bei Betrugs- und Untreue-
vorwürfen, aber auch bei Steuerstrafverfahren geht es oftmals um die nicht zuletzt
verfassungsgerichtlich geforderte präzise Schadensfeststellung, welche sodann
erst wiederum Ausgangspunkt einer möglichen Einziehung – in welcher Form
auch immer – ist. Komplizierter wird es schließlich, wenn beispielsweise Gefähr-
dungsdelikte wie der Subventionsbetrug nach § 264 StGB den Tatvorwurf bilden
und etwaige Rückforderungsansprüche der öffentlichen Hand eher mehr denn weni-
ger greifbar im Hintergrund stehen. Aber auch in diesen Bereich ist die „formlose
Einziehung“ aufzufinden.
Jenseits des Hauptverfahrens hat die sog. formlose Einziehung ebenfalls greifbare
Bedeutung im Ermittlungsverfahren19 ; zuweilen sogar im Zwischenverfahren. Ein-
gekleidet ist sie in der Regel in die Vorbereitung der eigentlichen Entscheidung über
die unmittelbare Ahndung (vermeintlich) strafrechtlich relevanten Verhaltens. Eine
thematische Nähe zur Schadenskompensation ist daher gegeben, wenn nicht sogar
direkt intendiert. In der Konsequenz erweitern sich die verfahrensrechtlich vorgese-
henen Entscheidungsoptionen der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts auf der Basis
einer Kooperation des Beschuldigten: Statt Anklage also Strafbefehl oder Einstel-
lung nach §§ 153, 153a StPO; unter der Voraussetzung, dass über die „formlose Ein-
ziehung“ ein Geld- oder Gütertransfer hin zur Staatskasse verbindlich und damit
rechtskräftig bewerkstelligt wird.
Der kursorische Überblick zeigt, dass die Anwendungsmöglichkeiten der sog.
formlosen Einziehung in den verschiedenen Abschnitten des Strafverfahrens vielfäl-

18
Hierzu mit insolvenzrechtlichen Implikationen: OLG München, Beschl. v. 12. 02. 2019 –
3 Ws 939/18.
19
Hüls/Reichling, StraFo 2009, 198 f., 202: deklariert als „voreiliger Verzicht“ (mit For-
mulierungsbeispiel).
1326 Guido Britz

tig sind20. Eine abschließende Phänomenologie zu erstellen, ist mithin nahezu un-
möglich. Zu konstatieren ist freilich, dass dieses Procedere seinen Platz in der Straf-
rechtspraxis innehat und diesen aus verschiedenen Gründen geradezu behauptet.
Maßgeblich ist die Verfahrensvereinfachung21. Denn förmliche gerichtliche Ent-
scheidungen, welche die materiell- und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen
der Einziehung berücksichtigen müssten, werden überflüssig. Demzufolge dürfte
in einer Vielzahl von Fällen der zumindest intuitive Konsens der Verfahrensbeteilig-
ten eine zentrale Rolle spielen; zumal die maßgeblichen strafrechtlichen oder straf-
prozessualen Folgen an anderer Stelle verortet werden. Bei den weiteren Fallkonstel-
lationen ist die sog. formlose Einziehung das Ergebnis eines spezifischen strategi-
schen Kalküls der involvierten Verfahrensbeteiligten. Auf Seiten des Beschuldigten
geht es fallspezifisch um die Reduktion von Strafe22 und kooperatives Verhalten, aber
auch etwa darum, eine Anklage oder einen Strafbefehl zu vermeiden oder eine Ver-
fahrenseinstellung zu erreichen. Im Falle zulässiger Absprachen entsteht gegebenen-
falls Transparenz. Ansonsten bleiben das Zustandekommen und der Inhalt einer ent-
sprechenden Erklärung der Verteidigung einschließlich der Akzeptanz durch Staats-
anwaltschaft oder Gericht gewissermaßen im Dunkeln; sieht man von Vermerken
oder Korrespondenz in der Strafakte ab.

3. Zur Rechtsgrundlage

Die sog. formlose Einziehung basiert nicht auf einer positiven gesetzlichen Rege-
lung23, sondern stellt genuines Richterrecht dar. Denn in den Vorschriften der
§§ 73 ff. StGB sowie den korrespondierenden verfahrensrechtlichen Vorschriften24
ist das Rechtsinstitut (bewusst) nicht geregelt. Gleiches gilt für die Rechtslage vor
der Reform im Jahre 2017, sodass zu keinem Zeitpunkt eine ausdrückliche Normie-
rung existierte. Ein Seitenblick auf Nr. 180 Abs. 4 RiStBV25 erscheint in diesem Zu-
sammenhang kaum hilfreich, da dort zwar das formlose Entfernen von Einziehungs-
und Verfallsobjekten aus dem Verkehr unter anderem beim Verzicht auf die Durch-
führung des selbstständigen Verfahrens erläutert ist. Indessen vermögen diese rudi-
mentären Regelungen bereits aufgrund ihrer Rechtsqualität eine gesetzliche Lücke
nicht zu schließen. Zudem setzt Nr. 180 Abs. 4 RiStBV bei zutreffendem Verständnis
die sog. formlose Einziehung eigentlich eher voraus, als dass sie damit unmittelbar

20
Zur Anwendung der formlosen Einziehung in der Rechtsmittelinstanz; vgl. BGHSt 20,
253 (257).
21
BGH, Beschl. v. 20. 03. 2019 – 3 StR 67/19.
22
Zur Strafmilderung bei einer zustimmenden Erklärung des Beschuldigten im Rahmen
der sog. formlosen Einziehung: BGH, Urt. v. 20. 03. 2019 – 3 StR 67/19 Rn. 19; BGH, Urt. v.
10. 4. 2018 – 5 StR 611/17 (= NStZ 2018, 333 f.).
23
Ähnlich: Ströber/Guckenbiehl, Rpfleger 1999, 115.
24
Vgl.: §§ 111b ff., 421 ff., 459 g ff. StPO.
25
Thode, Die außergerichtliche Einziehung von Gegenständen im Strafprozeß, S. 19 ff.,
27 f.
„Formlose Einziehung“: Kritische Anmerkungen zu einem Phänomen 1327

kreiert würde. Daher wird mit guten Gründen auch vermutet, dass schon seit den Zei-
ten des Reichsgerichts entsprechend verfahren wurde26.
Vor diesem Hintergrund erlangt die Judikatur mit Blick auf die Gestaltung der
Rechtslage maßgebliche Bedeutung27. Die historischen, jedoch nach wie vor für gül-
tig erachteten Referenzen28 resultieren aus zwei in die sog. Amtliche Sammlung auf-
genommenen Entscheidungen des BGH vom 14. 06. 195529 sowie vom 16. 07. 196530.
Beide Verfahren hatten – bezogen auf die damalige Rechtslage – das selbständige
Verfahren wegen Einziehung zum Gegenstand; vor dem Hintergrund, dass im erst-
genannten Fall bezüglich der vorherigen Verurteilung eine Einstellung erfolgt und im
zweitgenannten Fall der Einziehungsbeteiligte durch gerichtlichen Beschluss außer
Verfolgung gesetzt war. Im Urteil aus dem Jahre 1965 führte der BGH an maßgeb-
licher Stelle Folgendes aus31:
„Der Einziehungsbeteiligte hat aber durch Schreiben vom 14. Juli 1965 dem Senat gegen-
über ausdrücklich erklärt, daß er auf die Rückgabe des bei den Gerichtsakten befindlichen
,Archivmaterials‘ … verzichte.“

Und ausgehend davon an anderer Stelle32:


„Es entspricht aber ständiger Praxis des Senats, von der förmlichen Einziehung geringwer-
tiger Gegenstände, auf derer Rückgabe Angeklagte oder Einziehungsbeteiligte von sich aus
verzichtet haben, aus prozessökonomischen Gründen abzusehen. Gegen dieses Verfahren
hat die Bundesanwaltschaft bisher keine Bedenken erhoben, es vielmehr öfter sogar selbst
angeregt. Der Senat sieht keinen Anlaß, von dieser bewährten Gerichtspraxis in einem Falle
abzugehen, in dem Bedeutung und Wirkung eines förmlichen Einziehungsausspruches in
keinem vernünftigen Verhältnis zu dem Umfang und dem Gewicht der dabei zu entschei-
denden Tat- und Rechtsfragen stehen …“

Im letztgenannten Zusammenhang erlangte punktuell der Beschluss des 3. Straf-


senats aus dem Jahre 1955 Bedeutung. Denn der BGH hatte hierin unter anderem
Folgendes entschieden33 :
„Für das selbständige Verfahren gilt aus gutem Grunde der Ermessensgrundsatz (…) Dafür
kann es von Bedeutung sein, ob ein Bedürfnis für die Maßnahme besteht und ob ihre Be-
deutung und Wirkung in vernünftigem Verhältnis zu dem Umfang und dem Gewicht der
dabei zu entscheidenden Tat- und Rechtsfragen steht.“

26
Thode, Die außergerichtliche Einziehung von Gegenständen im Strafprozeß, S. 21. In-
dessen unterscheidet Thode zwischen staatsanwaltschaftlicher und gerichtlicher Praxis.
27
Hinzuweisen ist indessen darauf, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung kein Ge-
setzesrecht darstellt und auch keine hiermit vergleichbare Rechtsbindung erzeugen kann; vgl.:
BVerfG, NJW 2009, 1469 ff. (1475).
28
BGH, NJW 2019, 1961 (1962).
29
BGH, Beschl. v. 14. Juni 1955 – 3 StR 664/53 = BGHSt 7, 356 ff.
30
BGH, Urt. v. 16. Juli 1965 – 6 StE 1/65 = BGHSt 20, 253 ff.
31
BGHSt 20, 253 (257).
32
BGHSt 20, 253 (257).
33
BGHSt 7, 356 (357 f.).
1328 Guido Britz

Aus diesen beiden Entscheidungen mit ihrem eher dürftigen Gehalt wurde und
wird in der Strafrechtspraxis die sog. formlose Einziehung als zulässiges Instrumen-
tarium der Vermögensabschöpfung destilliert und letztlich vor allem legitimiert34.
Demgegenüber ist dem zentralen Judikat lediglich zu entnehmen, dass eine bis
dato nicht beanstandete Gerichtspraxis bestanden habe, bei einem bedingungslosen
Verzicht seitens des Angeklagten oder des Einziehungsbeteiligten auf das Eigentum
aus prozessökonomischen Gründen bei geringwertigen35 Gegenständen von einer
förmlichen Einziehung abzusehen; vor dem damaligen rechtlichen Hintergrund,
dass die Einziehung als Sicherungsmaßnahme auf der Basis der Kann-Vorschrift
des § 86 Abs. 1 StGB eine richterliche Ermessensentscheidung darstellte36. Eine
grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen erfolgte demzufolge auf die-
ser Ebene nicht37. Bereits eine Notwendigkeit dessen wurde nicht gesehen. Vielmehr
deutet sich an, dass eine nicht nur beim BGH schon seit längerem existente Praxis
schlicht durch Erwähnung in den Urteilsgründen perpetuiert und damit höchstrich-
terlich geadelt wurde. Prägnant formuliert: Da der BGH beim bedingungslosen Ver-
zicht auf (geringwertige) Gegenstände eine förmliche Einziehungsentscheidung ex-
pressis verbis für entbehrlich erachtete, ließ sich in der Folgezeit generalisierend
schlussfolgern, eine sog. formlose Einziehung sei grundsätzlich zulässig. Oder an-
ders gewendet: Aus Faktizität wurde Geltung.
In der aktuellen Rechtsprechung wird die Grundsatzfrage nach der Zulässigkeit
der sog. formlosen Einziehung deshalb nicht mehr aufgeworfen38. Vielmehr wird
mit Selbstverständlichkeit davon ausgegangen, dass der Beschuldigte bei einer „au-
ßergerichtlichen Einziehung“ eine wirksame Verzichtserklärung abgeben kann39. In
diesem Rahmen gibt dieser – so die Diktion des BGH – eine etwaige ihm zustehende
Rechtsposition auf, um den Strafverfolgungsbehörden unter Verzicht auf alle Förm-
lichkeiten sofort eine Verwertung der betreffenden Gegenstände zu ermöglichen40.
Die aktuelle Diskussion drehte sich bisher mithin lediglich darum, ob die kodifizier-
ten Vorschriften zur Vermögensabschöpfung insbesondere nach der Neuregelung im
Jahre 2017 der außerrechtlichen Kreation von Konfiskationsmöglichkeiten entge-
genstehen könnten und welche Bedeutung bzw. Rechtsnatur der Erklärung des Be-

34
Kritisch: Thode, NStZ 2000, 62 (63), wonach die Entscheidung des BGH vom 16. 07.
1965 fehlinterpretiert werde, da sie ohne Tenor publiziert ist und deshalb zu Missverständ-
nissen Anlass gebe; Hüls/Reichling, StraFo 2009, 198 ff. (199).
35
Vgl. aber: OLG München, Beschl. v. 15. 07. 2009 – 1 U 2647/09: „Weder in der Recht-
sprechung noch in den Standardkommentaren wird die Auffassung vertreten, dass das Ein-
verständnis zur formlosen Einziehung Rechtswirkungen nur im Falle geringwertiger Gegen-
stände entfaltet (…)“.
36
BGHSt 20, 253 (254 f.).
37
In diesem Sinne: Hüls/Reichling, StraFo 2009, 198 ff. (199).
38
Ähnlich: Habetha, NJW 2019, 1642 (1643).
39
BGH, NJW 2019, 1692 (1693); BGH, NJW 2019, 1961 (1962).
40
BGH, NJW 2019, 1961 (1962) unter Hinweis auch auf BGHSt 20, 253 ff.; BGH, Beschl.
v. 20. 03. 2019 – 3 StR 67/19 Rn. 7.
„Formlose Einziehung“: Kritische Anmerkungen zu einem Phänomen 1329

schuldigten zuzuerkennen sei. Höchstrichterlich ist demzufolge nunmehr geklärt,


dass durch die Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung deren formloses
Pendant nicht eingeschränkt wurde41. Argumentativ lässt sich dies mit dem Willen
des historischen Gesetzgebers unterlegen42. Denn in den Materialien zur Neurege-
lung heißt es unter anderem:43
„Die Neufassung der Vorschrift schränkt die Möglichkeit der ,formlosen Einziehung‘ des
Erlangten nicht ein.“

Ansonsten handelt es sich bei der „formlosen Einziehung“ um ein erprobtes In-
strumentarium aus dem Arsenal der strafrechtlichen Reaktion auf (vermutetes) kri-
minelles Verhalten. Dessen ebenso plötzliche wie gegenwehrlose Eliminierung le-
diglich durch die gesetzliche Neuregelung einer grundsätzlich bekannten Materie
wäre angesichts einer langjährigen und für effizient erachteten Praxis mehr als über-
raschend gewesen. Vor diesem Hintergrund dürfte die ausdrückliche Erwähnung in
den Motiven des Gesetzes erklärlich sein. In gewisser Hinsicht überraschend ist dem-
gegenüber die Entscheidung des BGH, dass auf die „außergerichtliche Einziehung“
die Vorschriften des bürgerlichen Rechts anwendbar seien44. Indessen wurde damit
eine schwelende Kontroverse45 höchstrichterlich bereinigt und Rechtssicherheit ge-
schaffen46 ; jedenfalls vorläufig.
Der status quo um die sog. formlose Einziehung lässt sich zusammenfassend nun-
mehr dahingehend beschreiben, dass ein tradiertes, richterrechtlich anerkanntes
Rechtsinstitut der Konfiskation nach wie vor vorhanden ist, welches koexistent
und insofern konkurrenzlos neben der gesetzlich geregelten Einziehung als weiteres
Instrumentarium zur Verfügung steht. Es handelt sich um einen unwiderruflichen47

41
BGHSt 63, 116 (118 ff.); BGH, NJW 2019, 1961 (1962); vgl. auch: Beck/Knierim, in:
Gesamtes Strafrecht aktuell, Kap. 16 Rn. 22; Köhler, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, Vor
§ 421 Rn. 6.
42
Vgl. hierzu: BGH, NJW 2019, 1961 (1962 f.); BGH, Beschl. v. 20. 03. 2019 – 3 StR 67/
19 Rn 10.
43
BT-Drs. 18/9525, S. 61.
44
BGH, NJW 2019, 1692 (1693); hierzu: Habetha, NJW 2019, 1642 ff. Offen gelassen
noch: BGH, Beschl. vom 20. 03. 2019 – 3 StR 67/19 Rn. 7. Allerdings bereits in diese Rich-
tung: OLG Frankfurt, Urt. v. 22. 11. 2005 – 14 U 221/04; OLG München, Beschl. v. 15. 07.
2009 – 1 U 2647/09.
45
Zu den gegensätzlichen Polen: Thode, NStZ 2000, 62 (65): „öffentlich-rechtliche Lö-
sung“; zur „privatrechtlichen Lösung“: Brauch, NStZ 2013, 503 (505, 509); Ströber/Gu-
ckenbiehl, Rpfleger 1999, 115 f.; zur Möglichkeit, keinen rechtsgeschäftlichen Inhalt zu-
grunde zu legen, sondern nur von einer strafprozessualen Erklärung auszugehen: BGH, NJW
2019, 1692 (1693). Allgemein zum Streitstand: BGH, NJW 2019, 1692 (1693).
46
Habetha, NJW 2019, 1642 ff. (1644).
47
Während der BGHSt 20, 253 (257) noch vom einem „bedingungslosen Verzicht“ sprach,
ist in BGH, NJW 2019, 1961 (1962) von einem unwiderruflichen Verzicht die Rede. Die
Terminologie schwankt also.
1330 Guido Britz

Verzicht zumeist des kooperativen Beschuldigten48 auf etwaige, eventuell sogar dif-
fuse Herausgabeansprüche49. Der „Verzicht“ oder die „Zustimmung zur formlosen
Einziehung“ sind in der notwendigen rechtlichen Konkretisierung privatrechtlich
– ggf. als dingliches Rechtsgeschäft – zu qualifizieren. Neben dem durch die entspre-
chende Erklärung ausgelösten zivilrechtlich zu betrachtenden Vermögenstransfer an
den Justizfiskus sind in strafrechtlicher Hinsicht in der Regel weitere unmittelbare
Konsequenzen gegeben50. Der Beschuldigte begibt sich nämlich uno actu spezifi-
scher Rechtsmittel51 und eine gerichtliche Entscheidung nach §§ 73 ff. StGB ist
grundsätzlich nicht mehr zulässig52, jedenfalls aber entbehrlich53. Die Verzichts-
oder Zustimmungserklärung54 des Beschuldigten55 im Rahmen der sog. formlosen
Einziehung hat demzufolge mit Blick auf die Gestaltung der materiellen Rechtslage
sowie die gleichzeitige Disposition im Bereich des Verfahrensrechts eine Doppelna-
tur56. Übergreifend ist zudem zu berücksichtigen, dass – im Sinne der bereits ange-
deuteten Konkurrenzlosigkeit – ein Nebeneinander von „formloser Vermögensab-
schöpfung“ und förmlicher Einziehung für zulässig erachtet wird57.

48
In Betracht kommen aber auch sonstige Einziehungsbeteiligte bzw. -betroffene; vgl.
etwa: BGHSt 20, 253 (257).
49
Mit dem OLG München (OLG München, Beschl. v. 15. 07. 2009 – 1 U 2647/09) lässt
sich die Ausgangslage wie folgt skizzieren: „Unabhängig davon, ob man eine solche Erklä-
rung als Übereignung der sichergestellten Gegenstände an den Fiskus gemäß § 929 S. 2 BGB
versteht oder als Verzicht auf den Herausgabeanspruch verbunden mit der Zustimmung zur
uneingeschränkten Verwertung der Gegenstände durch die Strafverfolgungsbehörden, (…)“.
50
Hierzu: Thode, Die außergerichtliche Einziehung von Gegenständen im Strafprozeß,
S. 70 ff.
51
Thode, NStZ 2000, 62 (64). Zur möglichen Relevanz des Einverständnisses des Be-
schuldigten mit der (formlosen) Einziehung sichergestellter Gegenstände im Rahmen der
Annahmeberufung: OLG Bamberg, Beschl. v. 11. 11. 2015 – 1 Ws 585/15.
52
Dies ist dann der Fall, wenn die Einziehungsanordnung bei Vorliegen einer Zustimmung
zur „formlosen Einziehung“ als Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewertet
wird; vgl. hierzu: BGH, Urt. v. 10. 04. 2018 – 5 StR 611/17 (= NStZ 2018, 333 f.); a.A.: BGH,
Beschl. v. 20. 03. 2019 – 3 StR 67/19. Es liegt also eine Kontroverse zwischen dem 5. Und dem
3. Strafsenat vor bezogen jedenfalls auf sog. BtM-Fälle.
53
BGHSt 20, 253 (256 f.); BGH, NJW 2019, 1961 (1964); BGH, Urt. v. 10. 4. 2018 – 5 StR
611/17 m.w.Nachw; BayObLG, Beschl. v. 08. 07. 1996 – 4 St RR 76/96; hierzu auch: Brauch,
NStZ 2013, 503 (507 m.w.N.); a.A.: AG München, Urt. v. 10. 10. 2017 – 814 Ds 261 Js
160705/17.
54
Wie bereits ausgeführt, gibt es keine Standardisierung. Die Formulierungen weichen
daher inhaltlich voneinander ab; vgl. oben II.2. (Phänomenologie).
55
Gleiches gilt grundsätzlich auch für sonstige Einziehungsbeteiligte.
56
In diesem Zusammenhang können sich weitere Probleme stellen, wie etwa die Frage, ob
aus der Zustimmung des Beschuldigten zur formlosen Einziehung abgeleitet werden kann,
dass mit Blick auf nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellte Verfahrensteile eine Einziehung nach
§ 73a StGB in Betracht kommt; vgl.: AG München, Urt. v. 10. 10. 2017 – 814 Ds 261 Js
160705/17.
57
BGH, NJW 2019, 1961 (1964).
„Formlose Einziehung“: Kritische Anmerkungen zu einem Phänomen 1331

4. Zu den grundsätzlichen Fragen

Aus praktischen und maßgeblich aus Gründen der Effizienz wurde und wird die
sog. formlose Einziehung durch die Rechtsprechung einhellig akzeptiert und auf die-
ser Basis mit signifikanter Häufigkeit praktiziert58. Die grundsätzliche Frage nach
deren Zulässigkeit blieb freilich bislang aus judikativer Perspektive völlig ausge-
klammert; zumal der Gesetzgeber in der Vergangenheit keine entsprechenden Ver-
bote statuierte und aktuell die Koexistenz der förmlichen, weil kodifizierten Einzie-
hung einerseits und der „formlosen“, doch höchstrichterlich anerkannten Einziehung
andererseits durch Erwähnung in den Gesetzesmaterialien expressis verbis mehr als
zu tolerieren scheint. Die Problematik der grundsätzlichen Zulässigkeit wird mithin
nur in der Literatur aufgegriffen59. Thematisiert werden hierbei der fair-trial-Grund-
satz, das Prinzip des gesetzlichen Richters sowie die Unschuldsvermutung.
Mit dem fair-trial-Grundsatz, der sowohl verfassungsrechtlich über Art. 20
Abs. 3; 2 Abs. 1 GG60 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2; 1 Abs. 1 GG61 als auch eu-
roparechtlich über Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK62 fundiert ist, jedoch der spezifischen
Konkretisierung bedarf63, soll die sog. formlose Einziehung aus zwei Gründen heraus
inkompatibel sein. Zum einen unterbleibe in der Regel die erforderliche gerichtliche
Belehrung des Beschuldigten über die rechtlichen Folgen seiner Erklärung64. Zum
anderen begebe sich der Beschuldigte durch seine Verzichtserklärung in unzulässiger
Art und Weise ihm ansonsten grundsätzlich zustehender Rechtsmittel bzw. bereits
einer rechtsmittelfähigen Entscheidung65. Dem wird entgegengehalten, dass es
sich bei der sog. formlosen Einziehung nicht um eine einseitige hoheitliche Zwangs-
maßnahme, sondern um ein konsensuales Rechtsgeschäft zwischen Beschuldigtem
und Strafjustiz handele66 bzw. es dem Beschuldigten gerade freistehe, den Anspruch
des Staates zu erfüllen oder sich ansonsten hiergegen zu verteidigen67.

58
Eine rechtstatsächliche Untersuchung fehlt – soweit ersichtlich – hierzu. Statische Er-
fassungen durch die Justiz erfolgen grundsätzlich nicht. Indessen begegnet der Praktiker dem
Phänomen in seiner unterschiedlichen Ausprägung fast täglich.
59
Ähnlich: Habetha, NJW 2019, 1642 (1643).
60
BVerfG, NJW 1969, 1719 ff.; NJW 1975, 103 ff.; NJW 1981, 1719 (1722); NJW 1983,
1599 ff.; NJW 1984, 2403 ff.; hierzu zusammenfassend: Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt,
StPO, Einl Rn. 19.
61
BVerfG, NJW 2009, 1469 ff. (1473).
62
Hecker, Europäisches Strafrecht, § 3 Rn. 18 f.; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in:
Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK, Art. 6 Rn. 87 ff.
63
Zu den Konkretisierungen: Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: Meyer-Ladewig/
Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK, Art. 6 Rn. 108 ff.
64
Thode, NStZ 2000, 62 (65); dies., Die außergerichtliche Einziehung von Gegenständen
im Strafprozeß, S. 88 f.
65
Thode, NStZ 2000, 62 (65 f.); dies., Die außergerichtliche Einziehung von Gegenständen
im Strafprozeß, S. 89 f.; Hüls/Reichling, StraFo 2009, 198 ff. (199).
66
Brauch, NStZ 2013, 505 (506).
1332 Guido Britz

Eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG wurde aus einer in der sog. formlo-
sen Einziehung liegenden vermeintlichen richterlichen Willkür abgeleitet. Denn über
dieses „außergerichtliche“ Rechtsinstitut werde dem Beschuldigten eine Entschei-
dung durch das zuständige Gericht im hierfür eigentlich vorgesehenen Verfahren vor-
enthalten68. Auch eine etwaige Überprüfung durch ein Instanzgericht werde verhin-
dert69. Die gegenteilige Auffassung rekurriert indessen maßgeblich darauf, dass mit
einer privatrechtlich wirksamen Vereinbarung zwischen Beschuldigtem und Justiz
die Grundlage für eine gerichtliche Einziehungsentscheidung entfallen sei70. In
der Konsequenz lägen keine sachwidrigen Erwägungen vor, so dass eine willkürliche
gerichtliche (Nicht-)Entscheidung im Sinne von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG nicht aus-
zumachen wäre71.
Im Bereich der sich aus Art. 6 Abs. 2 EMRK sowie Art. 20 Abs. 3 GG ergebenden
Unschuldsvermutung soll ein Verstoß daraus resultieren, dass der Beschuldigte vor
einer das Verfahren abschließenden gerichtlichen Entscheidung infolge der Prakti-
zierung der „außergerichtlichen Einziehung“ als schuldig angesehen werde72. Rela-
tivierend wird dem wiederum entgegen gesetzt, dass kein einseitiger Hoheitsakt, son-
dern ein gegenseitiges Rechtsgeschäft vorläge73. Parallel zu § 153a StPO und der
darin enthaltenen Möglichkeit der Einstellung von Strafverfahren gegen Auflage –
nach der Rspr. des BVerfGs ohne Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermu-
tung – scheide somit ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung aus74.
Der Überblick zeigt, dass der Möglichkeit einer Verletzung von grundsätzlich kar-
dinalen Verfahrensgrundsätzen durchweg Elemente einer konsensualen Verfahrens-
gestaltung im Strafprozess kompensatorisch gegenüber gestellt werden sollen. Daher
disponieren bei der sog. formlosen Einziehung die Verfahrensbeteiligten über die
Geltung betroffener (Verfahrens-)Prinzipien; was indessen vom Normenprogramm
und dem hierauf basierenden Prozessmodell grundsätzlich nicht vorgesehen ist. Un-
abhängig davon, dass sich konstatieren ließe, dass die „außergerichtliche Einzie-
hung“ sicherlich nicht das Gravitationszentrum der einzelnen aufgeführten Verfah-
rensgrundsätze tangiert, bleibt es gleichwohl bei dem eher unbefriedigenden Befund,
dass es eine „Privatautonomie im Strafverfahren“75 geben soll. Dies ergibt sich un-
67
Habetha, NJW 2019, 1642 (1643). Eine Ausnahme soll nach Habetha dann gelten, wenn
der Betroffene durch die Strafjustiz mittels Täuschung und Drohung zu seiner Erklärung
veranlasst wurde.
68
Thode, NStZ 2000, 62 (66 f.); dies., Die außergerichtliche Einziehung von Gegenständen
im Strafprozeß, S. 90 ff.
69
Thode, a.a.O. (vgl. Fn. 50).
70
Brauch, NStZ 2013, 503 (508).
71
Habetha, NJW 2019, 1642 (1643 f.).
72
Hüls/Reichling, StraFo 2009, 198 ff. (199); Thode, NStZ 200, 62 (67); dies., Die au-
ßergerichtliche Einziehung von Gegenständen im Strafprozeß, S. 94.
73
Brauch, NStZ 2013, 503 (508).
74
Habetha, NJW 2019, 1642 (1644); Brauch, NStZ 2013, 505 (508).
75
So die Überschrift des Beitrags von Habetha; vgl.: ders., NJW 2019, 1642.
„Formlose Einziehung“: Kritische Anmerkungen zu einem Phänomen 1333

mittelbar aus dem Ausgangspunkt der Betrachtung. Denn die Frage nach der Zuläs-
sigkeit der sog. formlosen Einziehung wird bisher nahezu ausschließlich an deren
vermeintlicher Rechtsnatur orientiert76.

5. Kritische Anmerkungen

Vor dem skizzierten Hintergrund ließe sich zwangslos argumentieren, die sog.
formlose Einziehung sei in der Praxis des Strafverfahrens als probates Mittel der
Konfiskation im Sinne eines „crime must not pay“ etabliert, da nicht zuletzt Rechts-
natur und Rechtsfolgen hinreichend geklärt sind; nunmehr auch durch die höchst-
richterliche Rechtsprechung. An früherer Stelle geäußerte grundsätzliche Bedenken
konnten trotz einer hierdurch sicherlich ausgelösten Sensibilisierung aus Sicht der
wohl h.A. in der Diskussion zumindest relativiert werden. Freilich bleiben auch
unter Berücksichtigung des erreichten Diskussionsstands diverse Fragen. Im Bereich
des Grundsätzlichen bliebe zu klären, ob nicht weitere, bisher nicht oder nur am
Rande berücksichtigte Aspekte in die Debatte einzubeziehen sind. Wegen der teil-
weise zirkulär anmutenden Argumentation um Rechtsnatur und Zulässigkeit der „au-
ßergerichtlichen Einziehung“ muss der gegenwärtige Stand des Diskurses ebenfalls
kritisch beleuchtet werden.

a) An den Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung

Die sog. formlose Einziehung stellt – wie bereits ausgeführt – Richterrecht dar.
Sie ist daher das Ergebnis richterlicher Rechtsfortbildung. Es fehlt zwar in der Her-
leitung eine dezidierte Auseinandersetzung mit dem Phänomen innerhalb der Recht-
sprechung, jedoch wurde es in der Praxis entwickelt und schließlich judikativ mit
Weihen versehen. Dass die Rechtsfortbildung als schöpferischer Akt der Rechtsfin-
dung zu den autorisierten Aufgaben der Judikative zählt, ist anerkannt77. Insbeson-
dere das BVerfG hat diese Aufgabe richterlicher Tätigkeit in der bekannten „Soraya
Entscheidung“ geradezu zementiert78:
„Diese Aufgabe und Befugnis zu „schöpferischer Rechtsfindung“ ist dem Richter – jeden-
falls unter der Geltung des Grundgesetzes – im Grundsatz nie bestritten worden (…).“

Infolgedessen wurde im Anschluss an diesen Beschluss als Selbstverständlichkeit


– aber auch weiter begründend – formuliert79 :

76
Habetha, NJW 2019, 1642 (1643); Brauch, NStZ 2013, 503 (504).
77
Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 187 ff.; Kramer, Juristische
Methodenlehre, S. 249 ff. m.w.N.; Wiedemann, NJW 2014, 2407; BVerfG, NJW 2009, 1469 ff.
(1472).
78
BVerfG, NJW 1973, 1221 (1225) = BVerfGE 34, 269 ff. (287).
79
BVerfG, NJW 1985, 2939.
1334 Guido Britz

„Das BVerfG hat diese Aufgabe und Befugnis der Gerichte zur richterlichen Rechtsfortbil-
dung stets bejaht (…) Rechtsfortbildung war in der deutschen Rechtsgeschichte nicht nur
seit jeher eine anerkannte Funktion der Rechtsprechung; sie ist im modernen Staat geradezu
unentbehrlich.“

Die Befugnis zur Rechtsfortbildung als allgemeine Aufgabe der Dritten Gewalt
bezieht die strafrichterliche Tätigkeit ein. Mithin finden sich auch im Strafrecht an-
gesichts eines grundsätzlich bestehenden Normenhungers80 schöpferische Akte der
Rechtsfindung81 wie beispielsweise die Möglichkeit der Strafmilderung beim Mord
aus Heimtücke82, die sog. Vollstreckungslösung bei überlanger Verfahrensdauer83
oder die Widerspruchslösung im Bereich der Beweisverbote84. Die Kreation der
sog. formlosen Einziehung wird vor diesem Hintergrund zunächst nicht beanstandet
werden können. Fraglich ist aber, ob damit nicht die Grenzen der richterlichen
Rechtsfortbildung erreicht oder überschritten sind. Denn mit Blick auf die Gewähr-
leistung der Freiheitsgrundrechte sowie unter Berücksichtigung der Anforderungen
an die im Rechtsstaatsprinzip verankerte Rechtssicherheit sind Auslegung wie
Rechtsfortbildung von Verfassungs wegen limitiert85. Das BVerfG formulierte wie
folgt86 :
„Eine Rechtsfortbildung ,praeter legem‘ bedarf zwar sorgfältiger Begründung, ist jedoch
nicht von vornherein ausgeschlossen (…).“

Und an anderer Stelle87:


„Auch die analoge Anwendung einfachgesetzlicher Vorschriften ist von Verfassungs wegen
grundsätzlich nicht zu beanstanden (…) Verfassungsrechtliche Schranken ergeben sich al-
lerdings aus dem in Art. 20 III GG angeordneten Vorrang des Gesetzes (…).“

Obwohl grundsätzlich zu klären bliebe, ob nicht der richterlichen Rechtsfortbil-


dung im Straf- und Strafprozessrechts auch unter Berücksichtigung von § 1 StGB in
Verbindung mit Art. 103 Abs. 2 GG sowie den europa(straf-)rechtlichen und weite-
ren verfassungsrechtlichen Vorgaben besondere Grenzen gesetzt sein können88, und

80
Hirsch, ZRP 2009, 62.
81
Vgl. hierzu kritisch: Eschelbach, Richterliche Rechtsfortbildung, in: FS Fischer, S. 81 ff.
(96), der teilweise – mit Blick auf die Praxis der Urteilsabsprachen vor der gesetzlichen
Regelung – auch von einem „kleinen Staatsstreich“ spricht.
82
BGHSt 30, 105 (121). Zur spezifischen Problematik der Heimtücke als einem häufigen,
aber auch schwierigen Mordmerkmal: Britz, JM 2019, 303 ff. (304).
83
BGHSt 52, 124 (128 ff.).
84
BGHSt 38, 214 ff.; neuerdings mit Bezug zum Ermittlungsverfahren: BGH, NJW 2019,
2627 (2629).
85
Zu den Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung aus verfassungsrechtlicher Sicht: Jarass,
in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 43 m.w.N.
86
BVerfG NJW 1993, 2861 (2863).
87
BVerfG, NJW 1990, 1593.
88
Vgl. zu einer rechtsgebietsspezifischen Rechtsfortbildung: Eschelbach, Richterliche
Rechtsfortbildung, in: FS Fischer, S. 81 ff. (82) unter Hinweis auf BVerfGE 34, 269 (288).
„Formlose Einziehung“: Kritische Anmerkungen zu einem Phänomen 1335

ob – soweit möglich – nicht schärfer zwischen Auslegung einerseits und Rechtsfort-


bildung andererseits zu differenzieren wäre89, bleibt der statische und deshalb uner-
schütterliche Befund, dass der Gesetzesvorbehalt eine besondere Schranke darstellen
muss90. Dies folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip91, aber auch aus dem Grundsatz der
Gewaltenteilung92 sowie dem Demokratieprinzip93. Nach dem BVerfG gilt näm-
lich94:
„Die Auslegung des einfachen Gesetzesrechts einschließlich der Wahl der hierbei anzuwen-
denden Methode ist Sache der Fachgerichte und vom BVerfG nicht umfassend auf ihre Rich-
tigkeit zu untersuchen. Das BVerfG beschränkt seine Kontrolle, auch soweit es um die Wah-
rung der Kompetenzgrenzen aus Art. 20 II 2 und III GG geht, auf die Prüfung, ob das Fach-
gericht bei der Rechtsfindung die gesetzgeberische Grundentscheidung respektiert und von
den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung in vertretbarer Weise Gebrauch gemacht
hat (…) Diese Grundsätze gelten auch im Bereich des Strafprozessrechts.“

Mithin erlangt zentrale Bedeutung, dass der Gesetzgeber im Jahre 2017 das Recht
der Vermögensabschöpfung und der Opferentschädigung unter Berücksichtigung der
vorherigen Rechtslage einschließlich der Defizite vollständig neu geregelt und damit
grundlegend renoviert hat; und zwar mit den Zielen, Abschöpfungslücken zu schlie-
ßen sowie das konfiskatorische Recht zu systematisieren, zu straffen und zu verein-
fachen95. Da infolgedessen umfassende96 Regelungen zur Einziehung vorliegen,
dürfte qua Gesetzesbindung und -vorrang kein Raum (mehr) für eine richterrechtli-
che Schöpfung namens „formlose Einziehung“ bestehen. Hat nämlich der Gesetzge-
ber eine eindeutige Entscheidung getroffen, darf der Richter diese nicht aufgrund ei-

89
Zum Verhältnis von lückenfüllender Auslegung zu „gesetzesübersteigender“ Rechts-
fortbildung: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 187; Neuner, Die
Rechtsfindung contra legem, S. 88 ff., 102 f.; Wiedemann, NJW 2014, 2407; Jarass, in: Jarass/
Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 60 ff.
90
Wiedemann, NJW 2014, 2407 (2411 f.); Eschelbach, Richterliche Rechtsfortbildung, in:
FS Fischer, S. 81 ff. (83); Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 83 f., 85 ff., 130 ff.;
Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 310 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20
Rn. 66 m.w.N.; BVerfG, NJW 1985, 2395 (2402 m.w.N.).
91
BVerfGE 34, 269 (288): „Fraglich können nur die Grenzen sein, die einer solchen
schöpferischen Rechtsfindung mit Rücksicht auf den aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit
unverzichtbaren Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsprechung gezogen werden müs-
sen.“
92
BVerfG, NJW 2009, 1469 (1470).
93
Hierzu: Abweichende Meinung von Voßkuhle, Osterloh und Di Fabio zu BVerfG, NJW
2009, 1469 ff. (1476); Rüthers, NJW 2009, 1461.
94
BVerfGE, NJW 2009, 1469 (1470).
95
Fischer, StGB, Vor §§ 73 – 76a, Rn. 3 m.w.N.; Beck/Knierim, in: Gesamtes Strafrecht
aktuell, Kap. 16 Rn. 2 ff.; BT-Drs. 18/9525, S. 2: „Der Entwurf verfolgt das Ziel, das Recht
der Vermögensabschöpfung durch eine grundlegende Reform zu vereinfachen und nicht ver-
tretbare Abschöpfungslücken zu schließen.“
96
Der Gesetzgeber spricht von einem „durchdachten Abschöpfungsmodell“; vgl.: BT-
Drs. 18/9525, S. 1.
1336 Guido Britz

gener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung


ersetzen97. Vielmehr ist die gesetzgeberische Grundentscheidung zu respektieren98.
In diesem Zusammenhang ließe sich auch schwerlich mit einer lückenfüllenden
Auslegung dahingehend argumentieren, dass die sog. formlose Einziehung in den be-
stehenden Normenkorpus aus spezifisch solchen Gründen mit Blick auf einen wie
auch immer zu definierenden praktischen Bedarf zu implementieren wäre. Dies
würde nämlich den Nachweis einer Gesetzeslücke voraussetzen99. Da der Akzeptanz
der „formlosen Einziehung“ durch die Rechtsprechung indessen bislang kein Akt be-
wusster judikativer Reflektion zugrunde liegt, scheidet dieser Weg aus. Ansonsten ist
zu berücksichtigen, dass das Regelungswerk um die strafrechtliche Vermögensab-
schöpfung von der Legislative als „durchdachtes Abschöpfungsmodell“100 und des-
halb auch als grundsätzlich komplettes101 Regelungssystem angesehen wird.
Sofern die Legislative durch eine entsprechende Äußerung in den Motiven zum
neuen Einziehungsrecht die sog. formlose Einziehung zu tolerieren beabsichtigt,
dürfte schlicht ein Irrtum zugrunde liegen; unabhängig davon, welche Qualität
einer solchen (Neben-)Aussage überhaupt zukommen kann. Im Übrigen wäre die
Wesentlichkeitstheorie102 zu berücksichtigen. Danach ist im Rahmen des Gesetzes-
vorbehalts nach Art. 20 Abs. 3 GG gefordert, dass der Gesetzgeber in grundlegenden
normativen Bereichen alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen hat103. Ist
jedoch die „förmliche Einziehung“ materiell- und verfahrensrechtlich umfassend ko-
difiziert, kann das formlose Pendant104 mit grundsätzlich identischer Ausrichtung
nicht ungeregelt bleiben. Denn die sog. formlose Einziehung beinhaltet naturgemäß
gleichgelagerte Grundrechtseingriffe105, welche darüber hinaus – und dies zeigt die
bisherige Diskussion – weitere verfassungsrechtlich abgesicherte Verfahrensgrund-
sätze tangieren können.
97
BVerfG, NJW 1990, 1593 = BVerfGE 82, 6 ff. (12 f.); hierzu auch: Abweichende Mei-
nung von Voßkuhle, Osterloh und Di Fabio zu BVerfG 2009, 1469 ff. (1478).
98
Eschelbach, in: FS Fischer, S. 81 ff. (S. 89 f.): „Sagt sich der Richter vom Gesetz los und
schöpft er eigenmächtig Regeln und Prinzipien, nach denen er prozediert und judiziert, verliert
er seine demokratische Legitimation.“
99
Zum Lückenbegriff und zur lückenfüllenden Auslegung: Kramer, Juristische Metho-
denlehre, S. 199 ff., 211 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft,
S. 191 ff., 202 ff.
100
BT-Drs. 18/9525, S. 1.
101
BT-Drs. 18/9525, S. 2, 3: „umfassender Ansatz“, und: „Der Entwurf schließt erhebliche
Abschöpfungslücken.“
102
BVerfGE 116, 24 ff. (58). Instruktiv: Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 71 ff.
m.w.N.
103
BVerfGE 84, 212 ff. (226); 101, 1 ff. (34).
104
Zum Zweck der „außergerichtlichen Einziehung“, dieselben Rechtsfolgen wie bei einer
Einziehungsentscheidung herbeizuführen: BGH, NJW 2019, 1692 (1693).
105
Zur Einziehung als gegen das Eigentum gerichtet Sanktion: Eser/Schuster, in: Schönke/
Schröder, StGB, Vor §§ 73 ff. Rn. 1. Zur Einziehung mit Blick auf Art. 14 GG: Zeidler, NJW
1954, 1148 ff.
„Formlose Einziehung“: Kritische Anmerkungen zu einem Phänomen 1337

b) Wider die „Privatautonomie im Strafverfahren“

Das Strafverfahren ist bekanntermaßen mit zivilrechtlichen Komponenten bzw.


Brücken ins Privatrecht versehen. Zu denken106 ist an das Adhäsionsverfahren107,
aber auch an § 153a StPO mit den darin enthaltenen Konfliktlösungsmöglichkei-
ten108. Ähnliches gilt für §§ 56b Abs. 2 Nr. 1109, 46a Nr. 1, 2 StGB110 und die hierin
vorgesehenen Varianten eines materiellen Ausgleichs von straftatbedingten materi-
ellen Einbußen, welche jedoch erst im Verfahren als solchem in verschiedenen Sta-
dien zum Tragen kommen können. Indessen ist es dem Strafverfahren grundsätzlich
fremd, dass Verfahrensbeteiligte über ansonsten gesetzlich zunächst zwingend111
vorgesehene Mechanismen oder Strukturelemente frei disponieren112. Dies wäre je-
doch der Fall, wenn bei der Koexistenz von „formloser“ und kodifizierter Einziehung
eine Wahlmöglichkeit bestünde mit der Konsequenz, dass letztlich zwischen straf-
und zivilrechtlicher Ausgestaltung mit wiederum spezifischen Auswirkungen ausge-
wählt werden könnte. Hinzu kommt, dass die Einziehung nach §§ 73 ff. StGB straf-
rechtlich-hoheitlicher Natur ist, so dass es bereits systemwidrig anmutet, die ledig-
lich entformalisierte Variante identischen Inhalts in ein anderes Rechtsgebiet zu ver-
lagern.
Vor diesem Hintergrund vermag es kaum zu überzeugen, dass die Frage nach der
Zulässigkeit der sog. formlosen Einziehung unmittelbar mit der Frage nach deren
Rechtsnatur verknüpft wird. Denn die Parallelexistenz der „außergerichtlichen Ein-
ziehung“ führt zunächst dazu, dass auf einer ersten Stufe durch Staatsanwaltschaft
oder Gericht überhaupt zu entscheiden ist, ob lege artis nach §§ 73 ff. StGB vorge-
gangen oder die „formlose“ Variante umgesetzt werden soll. Im Sinne der Zweistu-
fentheorie113, die im öffentlichen Recht im Zusammenhang mit einer Wahlfreiheit
106
Die anschließende Aufzählung ist keineswegs abschließend; vgl. etwa § 136 Abs. 1
S. 6. Spezifisch im neuen Einziehungsrecht: § 76 a Abs. 4 StGB i.V.m. §§ 435 ff. StPO;
hierzu: Beukelmann, NJW-Spezial 2019, 376.
107
Zum Sinn und Zweck des Adhäsionsverfahrens als Plattform zur Geltendmachung zi-
vilrechtlicher Ersatzansprüche im Strafverfahren: Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO,
Vor § 403 Rn. 1.
108
Zu fokussieren ist vor allem § 153a Abs. 1 Nr. 1 StPO mit der darin enthaltenen Scha-
denswiedergutmachung. Erfasst ist ein Ausgleich des nach zivilrechtlichen Vorschriften zu
bemessenden und zu ersetzenden Schadens; vgl.: SSW-StPO, Schnabl/Vordermayer, § 153a
Rn. 13.
109
Zur Berücksichtigung der zivilrechtlichen Lage im Rahmen von Bewährungsauflagen:
Fischer, StGB, § 56b Rn. 6.
110
Zur Schadenswiedergutmachung durch Schmerzensgeld: Fischer, StGB, § 46a
Rn. 18 ff. m.w.N.
111
Die Entscheidungen nach §§ 73 ff. StGB sind zwingend vorgeschrieben; vgl.: Fischer,
StGB, § 73 Rn. 3 m.w.N.
112
Zur Unvereinbarkeit von „privater“ Gestaltung und inquisitorischem Prozessmodell:
Radtke/Hohmann/Ambos/Ziehn, § 257c StPO § 257c Rn. 3 (mit Blick auf die Verständigung
im Strafprozess).
113
HK-VerwR/Unruh, § 40 VwGO Rn. 110 m.w.N.
1338 Guido Britz

der Verwaltung hinsichtlich der Gestaltung von Rechtsbeziehungen zur Lösung der
notwendigen Abgrenzung von öffentlichem und privatem Recht herangezogen wird,
ist die erste Stufe stets öffentlich-rechtlich. Übertragen auf das Strafverfahren müsste
daher die Grundentscheidung für die sog. formlose Einziehung – zugleich eine Ab-
lehnung der Anwendung der §§ 73 ff. StGB – genuin strafprozessualer Rechtsnatur
sein. Freilich wird bislang übersehen, dass die sog. formlose Einziehung aus mehre-
ren Entscheidungskomponenten und nicht bloß aus einer Verzichtserklärung des Be-
schuldigten besteht.
Gegen eine zivilrechtliche Ausdeutung der Erklärung des Beschuldigten im Rah-
men der „formlosen Einziehung“, die in ihrer Konstruktion schon deutlich artifizielle
Züge trägt114, spricht im Übrigen, dass Privatautonomie mit der Ausprägung der Ver-
tragsfreiheit idealiter eine Art Kräftegleichgewicht voraussetzt. Indessen ist die Po-
sition des Beschuldigten im Strafverfahren strukturell wie grundsätzlich eine unter-
legene, mitunter sogar eine vulnerable. Denn die drohenden strafrechtlichen wie au-
ßerstrafrechtlichen115 Konsequenzen aus einem vermuteten oder erwiesenen krimi-
nellen Fehlverhalten in Verbindung mit den alleine durch die Existenz eines
Strafverfahrens verbundenen Belastungen können enorm sein. Idealbedingungen
für eine autonome Entscheidung gemeinsam mit der Strafjustiz sind daher tendenzi-
ell nicht gegeben. Eine hierdurch bedingte determinierende Beeinträchtigung in der
Willensbildung wird noch dadurch verstärkt, dass bei der sog. formlosen Einziehung
in der Regel keine Belehrung des Beschuldigten erfolgt; also eine gerichtliche Erläu-
terung, dass der erklärte Verzicht eine Doppelnatur hat und demnach einer Konfis-
kation von Vermögen materiell-rechtlich wie prozessual unwiderruflich zugestimmt
wird. Anhaltspunkte dafür, dass der Beschuldigte in diesem Zusammenhang zu
einem bloßen Objekt des Verfahrens abgewertet wird, sind demzufolge evident vor-
handen.

c) Zur Problematik eines Nebeneinanders von „förmlicher“ Einziehung


und sog. formloser Einziehung

Das alternativ-optionale Nebeneinander von sog. formloser Einziehung einerseits


und elaboriertem Einziehungsrecht nach §§ 73 ff. StGB andererseits – inklusive der
flankierenden verfahrensrechtlichen Regelungen – führt zu nicht unerheblichen Frik-
tionen. Mit Blick auf die Fallkonstellationen nach der Vorschrift des § 75 Abs. 1 S. 2

114
Geht man – dem BGH folgend (vgl.: BGH, NJW 2019, 1692 ff.) – von einem dinglichen
Rechtsgeschäft in Form einer Übereignung aus, ließe sich fragen, was wiederum die rechtliche
Grundlage bzw. die Basis hierfür sein könnte. Dieser Aspekt ist bislang nicht aufgegriffen
worden, sieht man von undeutlichen Hinweisen auf einen „Verzicht“ ab. Zu fragen wäre aber
auch, ob situativ überhaupt das notwendige Erklärungsbewusstsein als Voraussetzung der
entsprechenden Willenserklärung vorhanden ist.
115
Zu den außerstrafrechtlichen Folgen strafrechtlicher Verurteilungen bzw. von Strafver-
fahren: Heim, NJW-Spezial 2019, 120 f.
„Formlose Einziehung“: Kritische Anmerkungen zu einem Phänomen 1339

StGB, die den „kleinen Auffangrechtserwerb“ regelt116, hat der BGH bereits eine
Bruchstelle ausgemacht. Denn im Urteil vom 13. 12. 2018 wird unter anderem aus-
geführt117:
„Die mit dem Reformmodell der Opferentschädigung verbundene Besserstellung des Tat-
opfers tritt indes nur dann ein, wenn das Gericht die Einziehung anordnet, nicht dagegen
bei einer ,formlosen‘ Vermögensabschöpfung (…).“

Dass der identifizierte Riss von keinesfalls zu unterschätzender Tragweite ist, er-
gibt sich aus den Reformanliegen, welche der Neuregelung der Einziehung im Jahre
2017 zugrunde liegen. Denn „Kernstück“118 war die Neujustierung des Opferschut-
zes. Bewerkstelligt wurde dies maßgeblich durch die Streichung der Norm des § 73
Abs. 1 S. 2 StGB (a.F.)119, die zuweilen als „Totengräber des Verfalls deklariert wor-
den ist, sowie eine substanzielle (Neu-)Konzeption120. Hierbei wurden Opfer- bzw.
Verletzteninteressen beim Zugriff auf deliktisch erlangtes Vermögen zunächst elimi-
niert, sodann aber im Verteilungs- bzw. Vollstreckungsverfahren nach §§ 459 g ff.
StPO im Rahmen eines sog. Entschädigungsmodells121 zum zentralen Anliegen er-
hoben. Konkret bedeutet dies, dass die Mängel des bisherigen Modells der Rückge-
winnungshilfe122 zugunsten eines vereinfachten und kostengünstigen Opferschutz-
modells123 überwunden wurden.
Das Funktionieren des Verteilungs- oder Vollstreckungsverfahrens ist jedoch
grundsätzlich und ausnahmslos von einer „förmlichen“ Einziehungsentscheidung
nach §§ 73 ff. StGB insbesondere mit Blick auf deren in § 75 StGB normierten
Rechtsfolgen abhängig. Demzufolge kann der maßgeblich intendierte Opferschutz
leiden, wenn gerade nicht in dieser Art und Weise verfahren wird. Projiziert auf
die Fälle des § 75 Abs. 1 S. 1 StGB, vor allem aber auf die Fälle des § 75 Abs. 1
S. 2 StGB, desavouiert demzufolge die Anwendung der sog. formlosen Einziehung
den „l’esprit des lois“. Dem lässt sich schwerlich entgegenhalten, dass die fehlende
Einschränkung der in den Gesetzmaterialen grundsätzlich tolerierten „formlosen
Einziehung“ in Fällen des § 75 Abs. 1 S. 2 StGB zu einer berechtigten Beschränkung
des Opferschutzes führe, da die Vereinfachung und Effektivierung der Vermögens-
abschöpfung (ebenfalls) Sinn und Zweck des Gesetzes gewesen sei124. Denn alleini-

116
Hierzu: Beck/Knierim, Gesamtes Strafrecht aktuell, Kap. 16 Rn. 93 m.w.N.
117
BGH, NJW 2019, 1961 (1963).
118
Vgl.: BT-Drs. 18/9525, S. 2, 49 („Kernstück des Reformvorhabens ist die grundlegende
Neuregelung der Opferentschädigung“); hierzu auch: BGH, NJW 2019, 1961 (1962).
119
BT-Drs. 18/9525, S. 49.
120
Beck/Knierim, Gesamtes Strafrecht aktuell, Kap. 16 Rn. 3, 5.
121
Knierim, Gesamtes Strafrecht aktuell, Kap. 21 Rn. 4. Zum „Opferentschädigungsmo-
dell“: BGH, NJW 2019, 1961 (1962). Zur Hinfälligkeit des Regelungsmodells der „Rückge-
winnungshilfe“: BT-Drs. 9525, S. 2.
122
Vgl.: BT-Drs. 18, 9525, S. 46 m.w.N.; BGH, NJW 2019, 1961 (1963).
123
Vgl.: BT-Drs. 18, 9525, S. 54.
124
BGH, NJW 2019, 1961 (1963).
1340 Guido Britz

ges Ziel des Gesetzgerbers war die Neuregelung des Rechts der Einziehung und eben
nicht spezifisch die Reglementierung der sog. formlosen Einziehung. Vielmehr
wurde letzterer en passant und ohne nähere bzw. weitere Reflektion lediglich das
Überleben gesichert; und zwar – unausgesprochen – allenfalls in Bereichen, in
denen keine grundsätzlichen Konflikte mit der eigens geschaffenen Gesetzes- und
Rechtslage zu befürchten sein können. Mithin lässt sich auch der Opferschutz
nicht mit der effektiven Vermögensabschöpfung gewissermaßen relativieren oder
gar abwerten. Das Verhältnis zwischen beidem ist nämlich im Gesetz und der
darin gewählten Konzeption nach dem Willen des Gesetzgebers und insofern austa-
riert enthalten. Die Annahme, dass diese Gewichtung durch die sog. formlose Ein-
ziehung würde verschoben werden können, erscheint nahezu abstrus. Oder in Frage-
form: Kann davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber mit einigem Aufwand
das Recht der Einziehung materiell- und verfahrensrechtlich ausführlich regelt, um
sodann mit der zugegebenermaßen eröffneten Möglichkeit der Anwendung des
„formlosen“ Pendants das entworfene System zu durchlöchern? Insgesamt zeigt
dies, dass durch die gesetzliche Neuregelung des Rechts der Vermögensabschöpfung
im Jahre 2017 für die sog. formlose Einziehung – unter Außerachtlassung der ansons-
ten bestehenden grundsätzlichen Bedenken – allenfalls ein reduzierter Anwendungs-
bereich verbleiben kann. Priorität hat demgegenüber eindeutig die gesetzliche Rege-
lung. Eines „Ersatzgesetzgebers“ bedarf es darüber hinaus hingegen nicht.

d) Die Belehrung als Ventil?

Vergleichbar einem Zwischenstadium in der Evolution des „Deals“ sowie unter


Berücksichtigung seiner aktuellen gesetzlichen Ausgestaltung125 wäre zu erwägen,
inwiefern vor allem eine Stärkung der Rechte des Beschuldigten gewissermaßen
zur Entschärfung beitragen könnte. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund,
dass nach überwiegender Meinung einer möglichen Verletzung von tragenden Ver-
fahrensgrundsätzen gerade mit der Akzentuierung von konsensualen Elementen be-
gegnet werden kann und soll. Die hiermit verbundene mehrdimensionale Disposition
des Beschuldigten würde indes zumindest voraussetzen, dass dieser über Vorausset-
zungen und Rechtsfolgen seiner Erklärung orientiert ist126. Demgegenüber erfolgt in
der Praxis keine entsprechende Belehrung127. Auch wurden insbesondere in der
höchstrichterlichen Rechtsprechung hierzu bislang keine entsprechenden Vorgaben
entwickelt.
125
Gemeint ist vor allem § 257c Abs. 4 StPO; vgl. hierzu: Schmitt, in. Meyer-Goßner/
Schmitt, StPO,§ 257c Rn. 30.
126
Dies kann auch für die übrigen Verfahrensbeteiligten gelten. Eine aktuelle, aber kei-
nesfalls repräsentative „Befragung“ von Gerichten und Staatsanwaltschaften im Rahmen der
Praktizierung der sog. formlosen Einziehung dahingehend, ob deren Problematik und die
aktuelle Rechtsprechung hierzu (sog. privatrechtliche Lösung) bekannt seien, erbrachte eher
ernüchternde Befunde. In der Tendenz war keinem bewusst, dass ein (dingliches) Rechtsge-
schäft mit dem Beschuldigten abgeschlossen wird.
127
Zu diesem Befund auch: Thode, NStZ 2000, 62 (65); Brauch, NStZ 2013, 503 (506).
„Formlose Einziehung“: Kritische Anmerkungen zu einem Phänomen 1341

Freilich war die Frage der Belehrung in der Diskussion um die Zulässigkeit der
sog. formlosen Einziehung zumindest fragmentarisch angeschnitten worden128.
Einer unter Berücksichtigung des Rechts auf ein faires Verfahren konstatierten Be-
lehrungspflicht129 wurde entgegen gehalten, dass dies „unsinnig“ sei130. Denn bereits
aus dem Wortsinn der Formulierungen betreffend die „außergerichtlichen Einzie-
hung“ müsse dem Beschuldigten einsichtig und klar sein, dass er Vermögenswerte
endgültig zugunsten des Staates aufgebe131. Verkannt wird hierbei jedoch, dass die
im Übrigen nicht standardisierte Erklärung des Beschuldigten im Rahmen der
sog. formlosen Einziehung eine Doppelnatur aufweist, da materiell- und verfahrens-
rechtliche Konsequenzen unmittelbar folgen. Hinzu kommt, dass – in einer ersten
Stufe – seitens des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft die grundsätzliche Frage
weichenstellend (mit-)entschieden wird, dass von einer Einziehung nach §§ 73 ff.
StGB abgesehen und damit von dem eigens hierfür vorgesehenen Normenprogramm
abgewichen werden soll. Ein zusätzliches Überraschungsmoment für den Beschul-
digten resultiert in diesem Zusammenhang schließlich daraus, dass – unter Berück-
sichtigung der gegenwärtigen Rechtslage – etwaige Erklärungsmängel mit Blick auf
die privatrechtliche Rechtsnatur des „Verzichts“ nunmehr auf diesem Rechtsgebiet
bis hin zu einer zivilgerichtlichen Klärung und damit abseits des Strafprozesses re-
klamiert werden müssen. Mithin geht es bei der sog. formlosen Einziehung nicht
schlicht um einen einvernehmlichen Vermögenstransfer zwischen Beschuldigtem
und Justiz statt ansonsten drohender hoheitlicher Konfiskation. Jenseits grundsätzli-
cher Erwägungen zu ihrer Zulässigkeit wäre eine Belehrung aus rechtsstaatlicher
Sicht unabdingbare Voraussetzung ihrer Instrumentalisierung. Dies gilt in besonde-
rer Weise für den unverteidigten Beschuldigten, aber auch den verteidigten.

6. Zu den Perspektiven

Die gesetzlich nicht geregelte, aber richterrechtlich – eher beiläufig – entwickelte


und sodann in gesetzesübersteigendem132 Maße oder contra legem133 durch die Straf-
gerichte und Staatsanwaltschaften praktizierte sog. formlose Einziehung ist erhebli-
chen verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt. Hierzu zählen neben dem fair-
trial-Grundsatz, dem Prinzip des gesetzlichen Richters sowie der Unschuldsvermu-
tung vor allem der Grundsatz des Vorrangs und des Vorbehalts des Gesetzes. Flan-

128
Brauch, NStZ 2013, 503 (506 f.).
129
Thode, NStZ 2000, 62 (65).
130
Brauch, NStZ 2013, 503 (507).
131
Brauch, NStZ 2013, 503 (507). Argumentiert wird flankierend auch damit, dass bei der
gesetzlich vorgesehenen Einziehung ebenfalls keine Belehrung stattfinde, sondern lediglich
über das Rechtsmittel der gerichtlichen Entscheidung belehrt werden würde.
132
Zum gesetzesübersteigenden Richterrecht: Kramer, Juristische Methodenlehre,
S. 193 f., 249 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 245 ff.
133
Zu einer Definition des Judizierens contra legem: Neuner, Die Rechtsfindung contra
legem, S. 132 ff.
1342 Guido Britz

kierend kommen kontraindiktorisch gesetzessystematische Erwägungen hinzu. Die


aktuell favorisierte „privatrechtliche Lösung“ im Bereich der Diskussion der Rechts-
natur der „außergerichtlichen Einziehung“ vermag aus grundsätzlichen Erwägungen
heraus schon im Ansatz nicht zu überzeugen. Insgesamt ist der sog. formlosen Ein-
ziehung zu attestieren, dass sie im elaborierten (geschriebenen) Recht der Vermö-
gensabschöpfung einen Fremdkörper darstellt; ein Befund, der noch dadurch in be-
sonderer Weise akzentuiert wird, dass der BGH die „außergerichtliche Einziehung“
nunmehr mit bürgerlich-rechtlichen Attributen versehen hat. Der „formlosen Einzie-
hung“ als einem eher hässlichen Pendant zur gesetzlichen Regelung der Konfiskation
sollte deshalb ein Abschied beschieden sein134. Alternativ käme in Frage, dass sich
der Gesetzgeber dem Phänomen unmittelbar annimmt. Bis dahin bleibt nur eine Art
Notfallprogramm, nämlich die Belehrung vor allem des Beschuldigten bei der An-
wendung der sog. formlosen Einziehung.

134
Probleme mit Blick auf die Änderung bestehenden Richterrechts wie bei der nachträg-
lichen Protokollberichtigung dürften nicht zu befürchten sein; vgl. hierzu: BVerfG, NJW 2009,
1469 ff.; Rüthers, NJW 2009, 1461 ff.
VII. Völkerrecht
Die Anfänge des Völkerstrafrechts
im Spiegel von Reinhard Merkels
Völkerstrafrechtsverständnis
Von Claus Kreß

I. Einführung
Reinhard Merkel steht der Idee des Völkerstrafrechts wohlwollend gegenüber, hat
dem historischen Entwicklungsprozess indessen – auch auf diesem Feld – wiederholt
ebenso scharfsinnig-kritisch wie eloquent den rechtsethischen Spiegel vorgehalten.
In drei Studien der 1990er Jahre hat Merkel seine Lehre von den Grundbausteinen
eines legitimen Völkerstrafrechts entfaltet.1 Merkels Lehre ist einerseits ambitio-
niert, weil sie die Strafgewalt unmittelbar in der internationalen Gemeinschaft ansie-
delt und erstere damit genuin überstaatlich und global konzipiert. Andererseits ist
Merkels Lehre bescheiden, weil sie den Wert der einzelstaatlichen Autonomie achtet
und den Umfang des Völkerstrafrechts dementsprechend eng begrenzt. Dieses Ver-
ständnis sieht sich – vielleicht unweigerlich – politischen Gegenwinden aus zwei
Richtungen ausgesetzt – einerseits hin zu einer Verwässerung des genuin weltge-
meinschaftlichen Anspruchs des Völkerstrafrechts, andererseits hin zu einer Über-
dehnung von dessen inhaltlichem Umfang. Unter dem Eindruck machtvoller Rena-
tionalisierungsbestrebungen ist der Gegenwind aus der ersten Richtung zuletzt fast
zum Sturm angeschwollen. Um die von Merkel entfalteten Prinzipien demgegenüber
zu befestigen, mag es hilfreich sein, mit den folgenden historischen Notizen daran zu
erinnern, dass seine Grundüberzeugungen nicht in einem fernen Ideenhimmel ange-
siedelt sind, sondern schon ein Jahrhundert vor der Niederschrift dieser Zeilen bei
den Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg in der hohen internationalen
Politik gut vernehmlich zum Ausdruck kamen.

1
Reinhard Merkel, Universale Jurisdiktion bei völkerrechtlichen Verbrechen, in: Klaus
Lüderssen (Hrsg.), Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse?, Band III,
Baden-Baden 1998, S. 237 – 271 (zit.: „Universale Jurisdiktion“); ders., „Lauter leidige
Tröster“? Kants Friedensschrift und die Idee eines Völkerstrafgerichtshofs, in: Reinhard
Merkel/Roland Wittmann (Hrsg.), „Zum ewigen Frieden“ – Grundlagen, Aktualität und
Aussichten einer Idee von Immanual Kant, Frankfurt a.M. 1996, S. 309 – 350 (zit.: „Leidige
Tröster“); ders., Das Recht des Nürnberger Prozesses. Gültiges, Fragwürdiges, Überholtes, in:
Evangelische Akademie Tutzing/Nürnberger Menschenrechtszentrum (Hrsg.), Von Nürnberg
nach Den Haag. Menschenrechtsverbrechen vor Gericht, Hamburg 1996, S. 68 – 92 (zit.:
„Nürnberger Prozess“).
1346 Claus Kreß

II. Reinhard Merkels Völkerstrafrechtsverständnis:


Eine Skizze
Das Völkerstrafrecht ist für Merkel die Summe der Normen des Völkerrechts, die
die „echten völkerrechtlichen Verbrechen“2 als solche ausweisen, die also diejenigen
Taten bestimmen, deren Strafbarkeit – anders als im transnationalen Strafrecht – „un-
mittelbar aus dem Völkerrecht folgt“.3 Die kraft des Völkerrechts mit Strafe sankti-
onsbewehrten völkerrechtlichen Verhaltensnormen gehören für Merkel zu den „fun-
damentalen Ordnungsnormen der gesamten Staatengemeinschaft“. Es gehe um
„einen sehr kleinen, dafür aber unverzichtbaren Kernbestand des humanitären
Erbes der Menschheit“.4 Diesen normativen Kernbestand gelte es nach einem Norm-
bruch durch die Verhängung von Völkerstrafe „im Namen der Menschheit symbo-
lisch wiederherzustellen“, die Geltung der betroffenen Norm „gegen ihren politisch
motivierten Bruch zu verteidigen und sie damit in ihrem ständigen Konflikt mit der
staatlichen Macht als die stärkere zu behaupten und durchzusetzen“.5 Die Zuständig-
keit für die Ahndung einer Völkerstraftat liegt für Merkel in letzter Instanz nicht bei
den – auch nicht bei den jeweils äußerlich direkt betroffenen – Staaten. Stattdessen
handele es sich um eine „Zuständigkeit der Völkergemeinschaft“,6 die auch unter der
Bezeichnung „ius puniendi der internationalen Gemeinschaft“ thematisiert wird.
Diese Zuständigkeit sei vorzugsweise von einem ständigen Internationalen Strafge-
richtshof als einem „Organ der Völkergemeinschaft“7 auszuüben, den es auf dem
„klassischen und mühsamen Weg über eine völkerrechtliche Konvention zu errichten
gelte“.8 Die „treuhänderische“9 Ausübung des ius puniendi der internationalen Ge-
meinschaft durch einzelne Staaten im Wege der Weltrechtspflege schließt Merkel da-
neben zwar nicht aus.10 Er hat 1998 sogar dafür plädiert, der deutsche Strafgesetzge-
ber möge die Kriegsverbrechen gesondert als solche ausweisen.11 Doch zugleich in-
sistiert Merkel darauf, dass die staatliche Weltrechtspflege, deren Risiken er scho-
nungslos offen legt, gegenüber der direkten Durchsetzung des ius puniendi der
internationalen Gemeinschaft durch einen ständigen internationalen Strafgerichtshof
der schlechtere Weg sei.12

2
Reinhard Merkel, Universale Jurisdiktion, Fn. 1, S. 254.
3
Reinhard Merkel, Universale Jurisdiktion, Fn. 1, S. 268.
4
Reinhard Merkel, Leidige Tröster, Fn. 1, S. 344 f.
5
Reinhard Merkel, Nürnberger Prozess, Fn. 1, S. 89.
6
Reinhard Merkel, Leidige Tröster, Fn. 1, S. 342.
7
Reinhard Merkel, Leidige Tröster, Fn. 1, S. 347.
8
Reinhard Merkel, Leidige Tröster, Fn. 1, S. 347 f.
9
Reinhard Merkel, Universale Jurisdiktion, Fn. 1, S. 252.
10
Reinhard Merkel, Universale Jurisdiktion, Fn. 1, S. 237 – 271.
11
Reinhard Merkel, Universale Jurisdiktion, Fn. 1, S. 268.
12
Reinhard Merkel, Leidige Tröster, Fn. 1, S. 346.
Die Anfänge des Völkerstrafrechts 1347

III. Gegenwartsfragen der Völkerstrafrechtspflege


im Spiegel von Reinhard Merkels Völkerstrafrechtsverständnis
In der diesen – hier natürlich nur skizzenhaft referierten – Beiträgen nachfolgen-
den Entwicklung sind zentrale Anliegen Merkels verwirklicht worden. Allem ande-
ren voran kam es noch 1998 zur diplomatischen Einigung über den Gründungsver-
trag für den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), das IStGH-Statut.13 Der IStGH
ist nicht nur der erste ständige internationale Strafgerichtshof der Rechtsgeschichte.
Mit ihm haben die Staaten auch ihre Entschiedenheit deutlich gemacht, eine ganze
Reihe von rechtsstaatlichen Angriffspunkten der vorherigen Erscheinungsformen in-
ternationaler Strafgerichtsbarkeit, die nicht zuletzt von Merkel benannt worden
waren,14 auszuräumen.15 Die sachliche Zuständigkeit des IStGH erstreckt sich auf
die auch von Merkel als solche anerkannten Völkerstraftaten des Völkermords,
der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, der Kriegsverbrechen und der Aggressi-
on.16 Zwischenzeitlich hatte Merkel die nicht unbegründete Sorge, im positiven
Recht seien lediglich der Völkermord, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit
und die Kriegsverbrechen zu Völkerstraftaten erstarkt. Nicht ohne Grund befürchtete
er, die gegen den Angriffskrieg gerichtete Völkerstrafdrohung könnte nach Nürnberg
und Tokyo einer „destruktiven oder gleichgültigen Staatenpraxis zum Opfer gefal-
len“ sein.17 Noch das ursprüngliche IStGH-Statut gab dieser Befürchtung insofern
Nahrung, als die Ausübung der Zuständigkeit über das Verbrechen der Aggression
hierin bis zu der Einigung über die Tatbestandsfassung und die Bedingungen für
die Ausübung der Zuständigkeit aufgeschoben worden war.18 Inzwischen ist die Ei-
nigung gelungen und Merkel dürfte es begrüßen, dass die Zuständigkeit des IStGH
am 17. Juli 2018 auch über das Verbrechen der Aggression aktiviert worden ist.19 In
Deutschland ist parallel zum IStGH-Statut das Völkerstrafgesetzbuch in Kraft getre-
ten, mit dem auch Merkels Plädoyer für eine deutsche Kodifikation der Kriegsver-
brechenstatbestände verwirklicht worden ist.20 Das Völkerstrafgesetzbuch bekennt
sich auch zum Gedanken der Weltrechtspflege,21 wobei es im Verhältnis insbesonde-
re zum IStGH im Geist Merkels Zurückhaltung obwalten lässt.22
13
Otto Triffterer/Kai Ambos (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court.
A Commentary, 3. Aufl., München 2016.
14
Reinhard Merkel, Nürnberger Prozess, Fn. 1, S. 77 – 86.
15
Claus Kreß, The International Criminal Court as a Turning Point in the History of
International Criminal Justice, in: Antonio Cassese (Hrsg.), The Oxford Companion to Inter-
national Criminal Justice, Oxford 2009, S. 143 – 159.
16
S. Art. 5 IStGH-Statut.
17
Reinhard Merkel, Universale Jurisdiktion, Fn. 1, S. 269.
18
S. Art. 5 Abs. 2 IStGH-Statut a.F.
19
Claus Kreß, On the Activation of ICC’s Jurisdiction over the Crime of Aggression,
Journal of International Criminal Justice 16 (2018), 1 – 18.
20
S. §§ 8 bis 12 VStGB.
21
S. § 1 Satz 1 VStGB. Nach § 1 Satz 2 VStGB gilt dies nicht, soweit es um den zwi-
schenzeitlich eingefügten Tatbestand des Verbrechens der Aggression nach § 13 VStGB geht.
1348 Claus Kreß

Nichtsdestotrotz besteht im Hinblick jedenfalls auf zentrale Bausteine des Mer-


kel’schen Völkerstrafrechtsgebäudes unverändert Streit oder zumindest Unklarheit.
Umstritten bleibt bis heute zunächst, ob Völkerstraftaten, so wie es Merkels Völker-
strafrechtsverständnis entspricht, einer Verwurzelung im universellen Völkerge-
wohnheitsrecht bedürfen.23 Demgegenüber besteht bis in die Rechtsprechung des
IStGH hinein die Versuchung fort, das Völkerstrafrecht auf rein völkervertraglicher
Basis expandieren zu lassen und damit hinzunehmen, dass sich das Völkerstrafrecht
bereichsweise vom universellen Völkergewohnheitsrecht entkoppelt. In der Konse-
quenz einer solchen Expansion des sachlichen Umfangs des Völkerstrafrechts läge
es, dass die ungeteilte Anbindung des Völkerstrafrechts an ein ius puniendi der in-
ternationalen Gemeinschaft „als Ganzer“ brüchig würde. Diese Konsequenz wird
teilweise durchaus gesehen und ausdrücklich in Kauf genommen. So hat sich eine
Verfahrenskammer des IStGH zu einer dezidiert völkervertragsgestützten Deutung
des IStGH-Statuts bekannt, um so eine großzügig erweiternde Auslegung eines
Kriegsverbrechenstatbestands abzusichern. Hiernach sei das IStGH-Statut „first
and foremost a multilateral treaty which acts as an international criminal code for
the parties to it.“24
Eine solche „völkervertragliche Reduktion“ des IStGH-Statuts und die hiermit
verbundene Tendenz zur stillschweigenden Einebnung der von Merkel akzentuier-
ten25 Unterscheidung von Völkerstrafrecht und transnationalem Strafrecht hat sich
in der Rechtsprechung des IStGH bislang nicht durchgesetzt. Ihr entgegen steht ins-
besondere die folgende Feststellung einer Vorverfahrenskammer des IStGH:
„(I)t is the view of the Chamber that more than 120 States, representing the vast majority of the
members of the international community, had the power, in conformity with international law,
to bring into being an entity called the ,International Criminal Court‘, possessing objective in-
ternational personality, and not merely personality recognized by them alone, together with the
capacity to act against impunity for the most serious crimes of concern to the international com-
munity as a whole and which is complementary to national criminal jurisdictions. Thus, the
existence of the ICC is an objective fact. In other words, it is a legal-judicial-institutional entity
which has engaged and cooperated not only with States Parties, but with a large number of
States not Party to the Statute as well, whether signatories or not.“26

22
S. § 153 f StPO. Näher zur Weltrechtspflege und zu deren Subsidiarität und dabei min-
destens im Kern wohl im Geist Merkels Claus Kreß, Universal Jurisdiction over International
Crimes and the Institut de Droit International, Journal of International Criminal Justice 4
(2006), S. 561 – 585.
23
S. hierzu Claus Kreß, International Criminal Law, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max
Planck Encyclopedia of Public International Law. Volume V, Oxford 2012, S. 721.
24
IStGH, Situation in the Democratic Republic of the Congo, Prosecutor v. Ntganda, Trial
Chamber, Second decision on the Defense’s challenge to the jurisdiction of the Court in
respect of Counts 6 and 9, Entscheidung vom 4. Januar 2017, ICC-01/04-02/06-1707, Nr. 35.
25
Reinhard Merkel, Universale Jurisdiktion, Fn. 1, S. 254.
26
IStGH, Pre-Trial Chamber, Decision on the „Prosecution’s Request for a Ruling on
Jurisdiction on Article 19(3) of Statute“, Entscheidung vom 6. September 2018, ICC-
RoC46(3)-01/18 – 37, Nr. 48.
Die Anfänge des Völkerstrafrechts 1349

Die Rechtsmittelkammer des IStGH hatte kürzlich die Gelegenheit, in ihrem


Grundsatzurteil zur Frage der persönlichen Immunität amtierender Oberhäupter
von Nichtvertragsstaaten im Verfahren vor dem IStGH zu diesen miteinander eng
verbundenen Grundsatzfragen klärend Stellung zu beziehen. Denn das stärkste Ar-
gument für ein entsprechendes völkergewohnheitsrechtliches Immunitätsrecht setzte
bei dem weithin anerkannten Befund an, dass ein solches Recht im Hinblick auf ein
nationales Strafverfahren auch bei einer Völkerstraftat besteht. Dann, so hieß es,
könne in einem Verfahren vor dem IStGH nichts anderes gelten, weil dessen Zustän-
digkeit im Kern auf der Delegation nationaler Zuständigkeiten beruhe und die dele-
gierenden Staaten nicht mehr Rechte übertragen könnten, als sie besäßen. Demge-
genüber hat die Rechtsmittelkammer zwar entschieden, dass (auch) Nichtvertrags-
staaten vor dem IStGH kein völkergewohnheitsrechtliches Immunitätsrecht ratione
personae geltend machen könnten.27 Doch hat es die Kammer versäumt, zur Begrün-
dung festzustellen, dass diese Völkerstraftaten notwendigerweise im universellen
Völkergewohnheitsrecht wurzeln. Ebenso wenig findet sich in den Urteilsgründen
die klärende Aussage, mit dem IStGH sei ein Organ der internationalen Gemein-
schaft zur direkten Durchsetzung von dessen ius puniendi errichtet worden.28
Somit wird die Kontroverse über die vorstehend formulierten Grundfragen bis auf
weiteres fortgeführt werden.29 Wie bereits eingangs bemerkt, dürften der Idee eines
ius puniendi der internationalen Gemeinschaft und dem Gedanken von dessen direk-
ter Durchsetzung durch den IStGH bis auf weiteres stürmischer Gegenwind beschie-
den bleiben. Dem kann hier nicht umfassend begegnet werden. Immerhin kann aber
im Folgenden darauf hingewiesen werden, dass die entsprechenden Grundgedanken
bereits in den Anfängen der Staatenpraxis zum Völkerstrafrecht gut sichtbar, wenn
auch noch nicht in der inzwischen anerkannten Terminologie zum Ausdruck kamen.

IV. Das völkerstrafrechtliche Vermächtnis


der Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg
Merkel schreibt zu Recht: „Die unmittelbare Vorgeschichte des seit Nürnberg ak-
tuellen und problematischen Völkerstrafrechts beginnt mit dem Ende des 1. Welt-
kriegs.“30 Zugleich stellt er fest, dass der Durchbruch in diesem historischen Moment

27
IStGH, Appeals Chamber, Judgment in the Jordan Referral re Al-Bashir Appeal, Urteil
vom 6. 5. 2019, ICC-02/05-01/09-393-Corr, Nr. 114.
28
Für eine erste Analyse des Urteils unter Einschluss der im Text bezeichneten Unterlas-
sungen, s. Claus Kreß, Preliminary Obyervations on the ICC Appeals Chamber’s Judgment of
6 May 2019 in the Jordan Referral re Al-Bashir Appeal, Brussels 2019.
29
Für eine neuere scharfsinnige, in zentralen Ergebnissen zwar nicht beifallswürdige, aber
analytisch ihrer Präzision wegen weiterführende Studie s. Alexandre Skander Galand, UN
Security Council Referrals to the International Criminal Court. Legal Nature, Effects and
Limits, Leiden/Boston 2019.
30
Reinhard Merkel, Nürnberger Prozess, Fn. 1, S. 71; ders., Leidige Tröster, Fn. 1, S. 328.
1350 Claus Kreß

„auf der weltpolitischen Bühne coram publico“ misslang, insbesondere des Wider-
stands der USA31 wegen.32 Auch das ist im Kern richtig, und insofern verdient Mer-
kels Einschätzung Zustimmung, die Friedensverhandlungen nach dem Ersten Welt-
krieg seien (lediglich) als Prolog33 zum Völkerstrafrecht einzustufen. Denn der Ver-
sailler Vertrag erwähnt die Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht und spricht
den Angriffskrieg in seinem Art. 227 nicht als Völkerstraftat, sondern als einen
„Zwitter aus Recht und Moral“ an, „dessen Mangel an Begründung erkennbar mit
einem Überschuss an Pathos behoben werden sollte“.34 Auch im Hinblick auf die
Kriegsverbrechen schließlich vollzieht der Versailler Vertrag den völkerstrafrecht-
lich entscheidenden Schritt hin zur Internationalisierung der an die Staatsorgane
als Einzelpersonen gerichteten Verhaltens- und Sanktionsnorm nicht, sondern ver-
bleibt auf dem klassischen Boden35 der Zuständigkeit der unmittelbar von der jewei-
ligen Tat betroffenen Staaten zur extraterritorialen Erstreckung ihrer jeweiligen na-
tionalen Strafgewalt. Dementsprechend folgt Art. 229 Abs. 2 des Versailler Vertrags
selbst für den Fall einer unmittelbaren Betroffenheit einer Mehrheit von Staaten dem
Modell der Delegation der jeweiligen nationalen Strafgewalten auf entsprechend
multilateral besetzte Militärtribunale, anstatt der Errichtung eines weltgemeinschaft-
lichen Straftribunals den Weg zu bahnen.36 Am Ende zeugen die Art. 227 bis 229 des
Versailler Vertrags damit deutlich von der Handschrift des US-amerikanischen Au-
ßenministers Robert Lansing, der in Paris gemeinsam insbesondere mit James Brown
Scott, eine – von Präsident Woodrow Wilson in nicht wenigen Konsequenzen nicht
geteilte – klassisch staatszentrierte Völkerrechtslinie vertrat,37 und der der Idee einer

31
Die ablehnende Haltung der USA kommt vielleicht am prägnantesten in der folgenden
Passage des „Memorandum of Reservations“ zum Ausdruck, das die beiden US-amerikani-
schen Mitglieder der „Commission on the Responsibility of the Authors of the War and on
Enforcement of Penalities“ dem „Report [dieser Kommission; C.K.] Presented to the Preli-
minary Peace Conference“ am 4. April 1919 beifügten: „The American representatives know
of no international statute or convention making a violation of the laws and customs of war
[…] an international crime, affixing a punishment to it, and declaring the court which has
jurisdiction over the offence. They felt, however, that the difficulty, however great, was not
insurmountable, inasmuch the various states have declared certain acts violating the laws and
customs of war to be crimes […]“; The American Journal of International Law 14 (1920),
S. 146.
32
Reinhard Merkel, Nürnberger Prozess, Fn. 1, S. 73; ders., Leidige Tröster, Fn. 1, S. 331.
33
Diesen Begriff hat James F. Willis, Prologue to Nuremberg. The Politics and Diplomacy
of Punishing War Criminals of the First World War, Westport 1982, geprägt.
34
Reinhard Merkel, Nürnberger Prozess, Fn. 1, S. 72; ders., Leidige Tröster, Fn. 1, S. 330.
35
Hierzu näher Claus Kreß, Crimes de guerre, in: Olivier Beauvallet (Hrsg.), Dictionnaire
encyclopédique de la justice pénale internationale, Paris 2017, S. 288 – 296.
36
Die – auf einem Umweg – in die Leipziger Prozesse mündende Geschichte der Umset-
zung von Art. 228 und 229 des Versailler Vertrags ist hier nicht nochmals zu erzählen. Für die
ausführlichste Darstellung s. Gerd Hankel, Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbre-
chen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2003.
37
Lansing und Scott waren die Verfasser des in Fn. 31 erwähnten „Memorandum of Re-
servations“. Zu ihrem „konservativen Legalismus“ näher Marcus Payk, Frieden durch Recht?
Der Aufstieg des Modernen Völkerrechts und der Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg,
Die Anfänge des Völkerstrafrechts 1351

die Staaten überwölbenden völkerrechtlich relevanten internationalen Gemeinschaft


geradezu feindselig gegenüberstand.38
Eine Ergänzung bedarf diese Rückschau indessen bereits auf der Ebene der am
Ende ausgehandelten Friedensverträge: Der (Pariser Vorort-)Vertrag von Sèvres,
der dem Friedensschluss mit dem Osmanischen Reich diente, ging im Hinblick
auf die während des Weltkriegs an den Armeniern begangenen Verbrechen einen ent-
scheidenden Schritt weiter in Richtung Völkerstrafrecht als der Versailler Vertrag.
Frankreich, Großbritannien und Russland hatten die in Rede stehenden Verbrechen
bereits in einer gemeinsamen Note vom 24. Mai 1915 als „nouveaux crimes contre
l’humanité et la civilisation“ bezeichnet.39 Der in dieser Erklärung zum Ausdruck
gebrachte Wille, die für diese Verbrechen Verantwortlichen strafrechtlich zur Verant-
wortung zu ziehen, schlug sich in Art. 230 des Vertrags von Sèvres von 1920 wie
folgt nieder:
„The Turkish Government undertakes to hand over to the Allied Powers the persons whose
surrender may be required by the latter as being responsible for the massacres committed
during the continuance of the state of war on territory which formed part of the Turkish Em-
pire on August 1, 1914.
The Allied Powers reserve to themselves the right to designate the tribunal which shall try
the persons so accused, and the Turkish Government undertakes to recognise such tribunal.
In the event of the League of Nations having created in sufficient time a tribunal competent
to deal with the said massacres, the Allied powers reserve for themselves the right to bring
the accused persons mentioned above before such tribunal, and the Turkish Government un-
dertakes equally to recognise such tribunal.“

Zwar wird der Begriff des Verbrechens gegen die Menschlichkeit hier nicht ver-
wandt. Doch nimmt diese Bestimmung die Möglichkeit in den Blick, die so genann-
ten Massaker zum Gegenstand eines internationalen Strafverfahrens zu machen.
Hiermit erreicht der Vertrag von Sèvres anders als der Versailler Vertrag die völker-
strafrechtliche Schwelle.40 Das ist zusätzlich deshalb bemerkenswert, weil es sich bei
den Verbrechen an den Armeniern um Taten von Staatsangehörigen des Osmani-
schen Reichs gegen Staatsangehörige des Osmanischen Reichs auf dem Gebiet
des Osmanischen Reichs handelte; nach einem strikt zwischenstaatlichen Völker-
rechtsverständnis also um Taten in der dem völkerrechtlichen Zugriff entzogenen do-
maine reservé. Das war den Völkerrechtsberatern Großbritanniens, deren politische
Führung zur treibenden Kraft bei dem Bemühen um die Strafverfolgung avancierte,

Berlin/Boston 2018, S. 268 ff.; zu Lansings beträchtlichem (mittelbaren) Einfluss auf die
Formulierung der Art. 227 bis 229, s. ebendort S. 498 ff.
38
Robert Lansing, Some Legal Questions of the Peace Conference, The American Journal
of International Law (1919), 649: „Nationalism must be maintained at all hazards. It must not
be supplanted by Mundanism.“
39
Zit. nach The United Nations War Crimes Commission (Hrsg.), History of the United
Nations War Crimes Commission andf the Development of the Laws of War, London 1948,
S. 35.
40
Payk, Fn. 37, S. 514 f.
1352 Claus Kreß

natürlich bewusst. Doch entschied man sich in der britischen Politik nun, an die be-
reits im 19. Jahrhundert zum Ausdruck gebrachte Bereitschaft zur (möglichst kollek-
tiven) diplomatischen und notfalls auch militärischen Intervention im „Namen der
Menschheit“ anzuknüpfen und dieser ein weiteres Instrument hinzuzufügen.41
Hier tritt also im historischen Geschehen – wohl erstmals – der systematische Zusam-
menhang zwischen militärischer und juristischer Intervention hervor,42 den Merkel
zum Gegenstand einer Reihe bedeutsamer Abhandlungen gemacht hat.43 In Nürnberg
sollte es denn auch folgerichtig der englische Chefankläger sein, der diesen Zusam-
menhang explizieren würde.44 Bei alldem dürfen indessen die Gesichtspunkte nicht
unberücksichtigt bleiben, die den Stellenwert von Art. 230 Vertrag von Sèvres im
Rahmen der weiteren völkerrechtlichen Entwicklung erheblich begrenzen. Zum
einen hatten die USA ihre Rechtsüberzeugung zwischenzeitlich nicht etwa geändert.
Vielmehr beteiligten sie sich an den Verhandlungen zu Art. 230 Vertrag von Sèvres
nicht mehr.45 Zum anderen blieb diese Bestimmung nicht nur ohne praktische Folgen,
sondern sie wurde mit dem Vertrag von Lausanne, der die signifikant veränderte
machtpolitische Konstellation nach den militärischen Erfolgen der Türkei unter

41
Lesenswert Michelle Tusan, „Crimes against Humanity“: Human Rights, the British
Empire, and the Origins of the Response to the Armenian Genocide’, American Historical
Review 119 (2014), S. 47 – 77.
42
Hochinteressant ist hier etwa, dass der britische Ministerpräsident David Lloyd George
die Delegation des Osmanischen Reichs am 19. Juli 1920 mit einer Formulierung konfron-
tierte, die den Begriff der Schutzverantwortung („responsibility to protect“), der nach dem
Weltgipfeldokument von 2005 mit der staatlichen Souveränität verbunden sein soll (hierzu
Reinhard Merkel, Demokratischer Interventionismus?, in: Jochen Bung/Armin Engländer
(Hrsg.), Souveränität, Transstaatlichkeit und Weltverfassung, ARSP-Beiheft 153, 2017,
S. 15 ff.), wie folgt vorwegnimmt: „There is a great deal of proof that it [die Regierung des
Osmanischen Reichs; C.K.] took upon itself to organize and lead attack of the most savage
kind on a population that it ought to have protected.“; zit. nach Tusan, Fn. 41, S. 63.
43
Reinhard Merkel, Fn. 42, S. 21; ders., Die Intervention in Libyen. Völkerrechtliche und
rechtsphilosophische Anmerkungen zu einem weltpolitischen Trauerspiel, in: Claus Kreß
(Hrsg.), 10 Jahre Arbeitskreis Völkerstrafrecht. Geburtstagsgaben aus Wissenschaft und Pra-
xis, Köln 2015, S. 173; noch nicht so deutlich ders., Das Elend der Beschützten. Rechtsethi-
sche Grundlagen und Grenzen der sog. humanitären Intervention und die Verwerflichkeit der
NATO-Aktion im Kosovo-Krieg, in: Reinhard Merkel (Hrsg.), Der Kosovo-Krieg und das
Völkerrecht, Frankfurt a.M. 2000, S. 76 ff.
44
Sir Hartley Shawcross, Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg, Der Prozess gegen
die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Bände 19 – 20,
S. 526 f.; hierzu näher Claus Kreß, Der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone im hun-
dertjährigen Prozess der Reflexion über den Völkerstraftatbestand der Verbrechen gegen die
Menschlichkeit, Juristen Zeitung 71 (2016), S. 951. Zum ideengeschichtlichen Zusammen-
hang zwischen der Debatte im 19. und frühen 20. Jahrhundert über die militärische humanitäre
Intervention und die spätestens mit den Verbrechen an den Armeniern einsetzende Debatte
über die juristische Intervention bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit, s. die instruktiven
Darlegungen von Sévane Garibian, Le crime contre l’humanité au regard des principes
fondateurs de l’Etat moderne. Naissance et consécration d’un concept, Genf/Zürich/Basel
2009, S. 35 ff.
45
Payk, Fn. 37, S. 515.
Die Anfänge des Völkerstrafrechts 1353

Mustafa Kemal Atatürk46 widerspiegelt, bereits 1923 auch rechtlich obsolet. Letzte-
rer Vertrag enthielt nicht nur keine Entsprechung zu Art. 230 Vertrag von Sèvres.
Vielmehr war dem Vertrag von Lausanne sogar eine (unveröffentlichte) Amnestie-
vereinbarung beigefügt.47
Das völkerstrafrechtliche Vermächtnis der Friedensverhandlungen lässt sich in-
dessen durch den Blick auf den Text der ausgehandelten Friedensveträge auch
dann nicht ausschöpfen, wenn man den Vertrag von Sèvres mit seinem bemerkens-
werten Art. 230 wie soeben geschehen in die Betrachtung mit einbezieht. Denn nor-
mativ bedeutsam ist auch die Staatenpraxis insbesondere Frankreichs und Großbri-
tanniens im Vorfeld des Vertragsschlusses. Zu dieser bemerkt Merkel, sie sei als der
„Vorschlag einer völkerrechtlichen Revolution“48 einzustufen. In der Tat hatten diese
beiden Staaten, wie die neuere historische Forschung betont, nicht nur ihre Kriegs-
rhetorik stark (auch) auf die Verteidigung der internationalen Rechtsordnung ausge-
richtet, sondern sie waren entschlossen, nach dem Krieg zur Wiederherstellung des
Rechts und zu seiner Neubefestigung zu neuen völkerrechtlichen Ufern vorzudrin-
gen.49 Sir Ernest Pollock, Solicitor General und damit einer beiden Law Officers
of the Crown, brachte den rechtspolitischen Impetus für Großbritannien wie folgt
zum Ausdruck:
„(W)e regard the occasion of the Peace Conference – with its association of, I think I am right
in saying, something like fifteen or sixteen countries – as an opportunity when those coun-
tries, in accord with the traditions and principles of law, may bring up to date the duties
which now arise from the settled opinion of civilised States.“50

Wie sich diese rechtspolitische Überzeugung bei der Frage eines ius puniendi der
internationalen Gemeinschaft äußerte, sei nun in Ergänzung zu Merkels hierzu be-
reits getroffenen Feststellungen ein wenig näher dargelegt. Dabei empfiehlt es
sich, den Blick zunächst auf die französische Völkerrechtspolitik zu lenken. Bemer-
kenswert ist bereits eine Passage aus der wissenschaftlichen Abhandlung „De l’app-
lication du droit pénal aux faits de guerre“ des ebenso bedeutenden wie regierungs-
nahen französischen Völkerrechtsgelehrten Louis Renault51 aus dem Jahr 1915.52 Re-
nault entwirft den Rechtsrahmen für eine strafrechtliche Ahndung deutscher Kriegs-
46
Margaret MacMillan, Peacemakers. Six Months that Changed the World, London 2001,
S. 377.
47
Payk, Fn. 37, S. 517.
48
Reinhard Merkel, Nürnberger Prozess, Fn. 1, S. 74.
49
Insbesondere Payks in Fn. 37 zitiertes Buch beleuchtet diesen Aspekt eingehend.
50
Zitiert nach William A. Schabas, The Trial of the Kaiser, 2018, S. 115. Bei Martti
Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International Law 1870 –
1960, Cambridge 2002, S. 293, heißt es zu der Grundüberzeugung in Frankreich: „Clearly, a
much more fundamental spiritual and political reconstruction than a mere technical adjust-
ment of the Hague Treaties [die Haager Konventionen von 1899 und 1907; C.K.] was needed.“
51
Zu ihm näher Martti Koskenniemi, Fn. 50, S. 274 ff.
52
Louis Renault, „De l’application du droit pénal aux faits de guerre“, Journal du droit
international 42 (1915), 313 – 344.
1354 Claus Kreß

verbrechen im Ausgangspunkt ganz im Geist des klassischen Völkerrechts. Doch bei


seinem Plädoyer gegen eine Amnestieregelung, so wie sie einer seit 1648 verbreite-
ten europäischen Staatenpraxis entsprochen hätte,53 bringt er zum Ausdruck, worin
die spezifische Qualität der deutschen Verbrechen im Ersten Weltkrieg zu sehen sei:
„Il est difficile de soutenir qu’il suffit que la paix intervienne pour que le voile soit jeté sur
toutes les horreurs dont nous avons été victimes, parce que, à mon avis, ce n’est pas simple-
ment en ce qui nous concerne, c’est en ce qui concerne le monde entier, que la proclamation
de l’impunité serait immorale et scandaleuse (Hervorhebung von C.K.).“54

Mit dieser Ausrichtung der Verbrechensfolgen auf „die ganze Welt“ wird, wenn
auch gewiss avant la lettre, eine genuin völkerstrafrechtliche Tonlage angeschlagen.
Während es bei Renault bei diesem behutsamen Anklang bleibt, errichten die beiden
Pariser Professoren Ferdinand Larnaude und Albert de Lapradelle in ihrem 1919 ver-
öffentlichten „Examen de la responsabilité pénale de l’empereur Guillaume II d’Al-
lemagne“55 ein veritables völkerstrafrechtliches Gedankengerüst für die Strafverfol-
gung von Wilhem II. Dieses verdient an dieser Stelle eine etwas nähere Betrachtung.
Denn das „Examen“ war nicht lediglich ein wissenschaftliches Traktat. Vielmehr war
es von dem französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau in Auftrag ge-
geben und auf der Friedenskonferenz von Frankreich zirkuliert worden. Larnaude
und de Lapradelle lassen ihre Leser über die Grundrichtung ihrer Darlegungen
nicht im Unklaren: „Un droit international nouveau est né“56 heißt es ausdrücklich,
womit der Akzent gegenüber der britischen Position leicht dahin verschoben wird,
die Friedenskonferenz solle das in den sozialen Tatsachen und im Weltgewissen be-
reits grundgelegte neue Völkerrecht lediglich noch in die gebotene Form bringen.57

53
Zu der Amnestieregelung in den beiden westfälischen Friedensverträgen, s. J. F. Scheidt,
Traité sistématique touchant La Connoissance De l’Etat Du Saint Empire Romain De La
Nation Allemande, ou le Droit Public De Cet Empire, tiré Des Loix Fondamentales De La
Jurisprudence Politique (et) des Auteurs Les Plus Célébrés Et Les Plus Désintéressés. Tome
quatrième, 1754, S. 156; https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/
bsb10561571_00001.html.
54
Louis Renault, Fn. 52, S. 339.
55
Ferdinand Larnaude/Albert de Lapradelle, „Examen de la responsabilité pénale de
l’empereur Guillaume II d’Allemagne“, Journal de Droit International 45 (1919), S. 131 – 159.
56
Ferdinand Larnaude/Albert de Lapradelle, Fn. 55, S. 144.
57
Zum Prozess der Rechtsentstehung heißt es bei Ferdinand Larnaude/Albert de Lapra-
delle, Fn. 55, S. 153 wörtlich: „Le droit international nouveau qui naît des faits et sort tout
armé de la conscience universelle des peuples, réveillée si énergiquement par les messages du
président Wilson (…)“. Zu der Betonung sozialer Tatsachen für den Prozess der Rechtsent-
stehung im zeitgenössischen französischen Rechtsdenken s. Martti Koskenniemi, Fn. 50,
S. 269, 288 ff., 299, 327. S. ebendort S. 302 ff. auch zur internationalen Ausstrahlung dieses
französischen Rechtsdenkens. Für den seinerzeitigen griechischen Außenminister und Völ-
kerrechtler, Nicolas Politis, etwa, der Griechenland in der „Commission on the Responsibility
of the Authors of the War and on Enforcement of Penalities“ vertrat, die von der Friedens-
konferenz zur Vorbereitung der Strafrechtsbestimmungen eingesetzt worden war, entsprang
das Recht sozialen Tatsachen ähnlich wie bei Larnaude und de Lapradelle dergestalt, dass die
Die Anfänge des Völkerstrafrechts 1355

Das von Larnaude und de Lapradelle „erkannte“ neue Völkerrecht enthielt eine ge-
nuin völkerstrafrechtliche Komponente:
„Alors que l’infraction à la paix publique d’un Etat entraîne les peines les plus graves, on ne
comprendrait pas qu’une atteinte à la paix du monde demeurât sans sanction. (…) La solu-
tion que nous adoptons a d’ailleurs le mérite d’être en harmonie avec ce principe nouveau
des peuples libres et honnêtes qui veut que tout droit s’accompagne d’un devoir. Le droit
moderne ne connaît plus d’autorités irresponsables, même au sommet des hiérarchies. Il
fait descendre l’Etat de son piédestal en le soumettant à la règle du juge. Il ne peut dès
lors être question de soustraire au juge celui qui est au sommet de la hiérarchie, soit dans
l’application du droit interne, soit dans l’application du droit international. Chef d’Etat,
l’empereur allemand avait droit à toutes les prérogatives du droit internationale : immunité
juridictionnelle, honneurs, préséances. Au regard du droit international, il doit avoir la char-
ge de responsabilités internationales. Ubi emolumentum, ibi onus esse debet. Qu’on réfléc-
hisse enfin, et ce sera notre conclusion, à l’irremédiable atteinte que porterai au droit inter-
national nouveau l’impunité de l’empereur allemand. (…) Le principal de la démonstration
est acquis : Guillaume II peut être accusé d’avoir commis des crimes, et les crimes qu’il a
commis – guerre préméditée dans l’injustice, violation de la neutralité de la Belgique et du
Luxembourg, violation des règles établies par la coutume internationale et les conventions
de la Haye – sont des crimes de droit international (Hervorhebungen von C.K.).“58

Es gehe also um solche Taten, die sich gegen den Weltfrieden richteten und daher
unmittelbar nach Völkerrecht strafbar sein müssten, und dies gerade auch dann, wenn
sie von denjenigen in den höchsten Staatsämtern begangen werden. Interessanterwei-
se betonen die beiden Autoren die Vorzüge einer internationalen Strafverfolgung sol-
cher Taten sogar kompromissloser als Merkel und das heute geltende Recht. Denn im
„Examen“ scheint eine nationale Strafverfolgung von Völkerstraftaten im Wege der
Weltrechtspflege nicht einmal hilfsweise akzeptiert zu werden:
„Pour prononcer contre les crimes dont il s’agit la sanction solenelle et purificatrice récla-
mée par la conscience publique, il faut une juridiction plus élévée, les débats retentissants,
une scène plus grande. (…) Il faut trouver un Tribunal qui, par sa composition, par la place
qu’il occupera, par l’autorité dont il sera investi, puisse rendre le verdicte le plus solennel que
le monde ait encore entendu. (…) Or, cette solution, c’est le droit international seul qui peut
nous la fournir. Les faits reprochés à Guillaume II sont des crimes internationaux: c’est par
un Tribunal International qu’il doit être jugé.“59

Diese Rigorosität erstaunt, zumal gerade die französische Völkerrechtswissen-


schaft in der Gestalt von Georges Scelles Figur des „dedoublement functionelle“
der Staatsorgane eine völkerrechtsdogmatische Grundlage für die treuhänderische
Durchsetzung des weltgemeinschaftlichen ius puniendi durch einen einzelnen

nachfolgende Gesetzgebung es im Kern festzustellen und nicht erst zu schaffen hatte (ebendort
S. 306).
58
Ferdinand Larnaude/Albert de Lapradelle, Fn. 55, S. 151 f.
59
Ferdinand Larnaude/Albert de Lapradelle, Fn. 55, S. 143 f.; s. in demselben Sinn S. 152.
1356 Claus Kreß

Staat entwickeln sollte.60 Im hiesigen Zusammenhang ist dies indessen nur eine Be-
obachtung am Rande. Zentral ist demgegenüber, dass Larnaude und de Lapradelle
die Zuständigkeit des von ihnen geforderten internationalen Strafgerichtshofs – kon-
sequentermaßen – nicht mit der Delegation nationaler Strafverfolgungszuständigkei-
ten erklärten, sondern dass sie diese Zuständigkeit originär im Völkerrecht angesie-
delt wissen wollten. Hören wir sie ein letztes Mal:
„Et quant aux crimes que, séparément, elles ne pourraient atteindre, ne peut-on dire qu’en
réunissant, elles prennent sur lui compétence parce qu’elles constituent le seul organisme de
fait capable d’élaborer la loi du monde? Elles agissent comme un gouvernement de fait in-
ternational (Hervorhebungen von C.K.).“61

Gewiss erscheint hier noch nicht der Begriff der „international community as a
whole“, verstanden auch als ein völkerrechtlicher Referenzpunkt für ein ius puniendi
im Hinblick auf Völkerstraftaten. Selbst das Nürnberger Urteil wird später nicht so
eindeutig in diesem Sinn formulieren, wie es erst der Internationale Gerichtshof
(IGH) im Streitfall Barcelona Traction tun sollte,62 an dessen Feststellungen wieder-
um die Völkerrechtskommission (ILC) der Vereinten Nationen sollte anknüpfen kön-
nen.63 Doch es wäre ahistorisch, offiziellen Rechtsüberzeugungen, die sich an (welt-)
politischen Weggabelungen artikulieren, deshalb die normative Relevanz zu bestrei-
ten, weil sie eine letzte rechtsbegriffliche Schärfe (aus späterer Warte) noch vermis-
sen lassen.
Die britischen Juristen waren, so wie es von vier Richtern der Rechtsmittelkam-
mer des IStGH zuletzt verdienstvollerweise nachgezeichnet worden ist,64 in etwa
zeitgleich zu ganz ähnlichen Schlussfolgerungen gelangt wie ihre französischen Kol-
legen. Auch hier wird festgestellt, dass es an einer umfassenden nationalen Strafver-
folgungszuständigkeit, die hätte delegiert werden können, fehle.65 Nichtsdestotrotz
wird vorgeschlagen, ein Strafverfahren vor einem internationalen Straftribunal
durchzuführen. Denn, so führen die englischen Juristen aus:
„It seems to us that the trial of the Kaiser ought to be by an International Tribunal, free from
national bias, the decision of which would possess unquestionable authority, which would

60
Erhellend hierzu Antonio Cassese, Remarks on Scelle’s Theory of „Role Splitting“
(dédoublement fonctionnel) in International Law, European Journal of International Law 1
(1990), S. 210 – 231.
61
Ferdinand Larnaude/Albert de Lapradelle, Fn. 55, S. 154.
62
IGH, Barcelona Traction, Light and Power Company, Limited (Belgium v. Spain), Urteil
v. 5. Februar 1970, ICJ Reports 1970, S. 32, Nr. 33.
63
Etwa ILC, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversi-
fication and Expansion of International Law, Bericht vom 3. April 2006, UN. Doc. A/CN.4/
L.682, Nr. 380.
64
IStGH, Joint Concurring Opinion of Judges Eboe-Osuji, Morrison, Hofmánski and
Bossa on Appeals Chamber, Judgment in the Jordan Referral re Al-Bashir Appeal, Urteil vom
6. 5. 2019, ICC-02/05-01/09-397-Anx1-Corr 17-05-2019 1/190 NM PT OA2, S. 31 – 35
(Nr. 77 – 86).
65
IStGH, Joint Concurring Opinion, Fn. 64, Nr. 82.
Die Anfänge des Völkerstrafrechts 1357

speak in the name of the conscience of the world, which would help to re-establish and
strengthen International Law, and which in the future would be a deterrent and warning
to rulers and highly placed officials who meditated or instigated offences against Interna-
tional Law (Hervorhebungen von C.K.).“66

Auf der Grundlage dieser Rechtsüberzeugung nahmen Frankreich und Großbri-


tannien in der von der Friedenskonferenz67 eingesetzten68 „Commission on the Re-
sponsibility of the Authors of the War and on Enforcement of Penalities“ (Kommis-
sion) Stellung. Da sich die Mehrheit der dort vertretenen Staaten69 dieser Rechtsüber-
zeugung anschließen sollte, kam es zum bereits angesprochenen „Vorschlag einer
völkerrechtlichen Revolution“70 immerhin im Hinblick auf Kriegsverbrechen und
– so die embryonale Form der späteren Verbrechen gegen die Menschlichkeit: –
„crimes against the laws of humanity“: Die entsprechenden deutschen Straftaten soll-
ten vor einem internationalen Straftribunal nach Völkerrecht verfolgt werden.71
Aufschlussreich ist schließlich, dass und wie diese Streitfrage am Ende auf der
höchsten Verhandlungsebene – im „Council of Four“72 – behandelt werden sollte.
Dank der Aufzeichnungen des Übersetzers Paul Mantoux ist es möglich, das von
Georges Clemenceau, David Lloyd George, Vittorio Orlando und Woodrow Wilson
hierzu geführte Gespräch nachzuvollziehen und dank der schönen Aufbereitung die-
ser Aufzeichnungen durch William A. Schabas ist dies inzwischen sogar auf beson-
ders angenehme Weise möglich geworden.73 Bei dem – lohnenden – Studium des Ge-
sprächs stößt man auf die Frage eines zögerlichen Wilson, ob die Sieger sich zu Straf-
richtern über die Besiegten erheben dürften. Von Lloyd George erhielt er zur Ant-
wort, dass es verkürzt sei, England oder die USA als die Opfer der Straftaten
anzusehen: „We both made war for justice“.74 Als Wilson speziell im Hinblick auf
den Angriffskrieg nachsetzte und fragte, ob in der Zukunft ein Staat, der Adressat
eines völkerrechtswidrigen Angriffs geworden sei, einen nationalen Strafprozess
gegen die für den Angriff Verantwortlichen führen dürfe, erwiderte Lloyd George
ganz auf der Linie des „Examen“:

66
IStGH, Joint Concurring Opinion, Fn. 64, Nr. 85.
67
Strenggenommen handelte es sich zunächst um vorläufige Beratungen, was in dem
englischen Begriff „Preliminary Peace Conference“ zum Ausdruck kommt; s. Payk, Fn. 37,
S. 220.
68
Zur Organisation der (vorläufigen) Friedenskonferenz, s. Payk, Fn. 37, S. 220.
69
In der Kommission waren Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan und die USA je-
weils mit zwei Mitgliedern und Belgien, Griechenland, Polen, Rumänien und Serbien jeweils
mit einem Mitglied vertreten.
70
Reinhard Merkel, Fn. 48.
71
Für die entscheidende Passage des Berichts der Kommission, siehe The American
Journal of International Law 14 (1920), S. 122 (sub 3.).
72
Hierzu näher Payk, Fn. 37, S. 246.
73
Schabas, Fn. 50, S. 174 ff.
74
Schabas, Fn. 50, S. 177.
1358 Claus Kreß

„Not at all. Then the League of Nations would intervene in accordance with fundamental
rules that we will have laid down. In the present case, it is not Belgium and France that
will have to judge the offenders. If we want to have the League of Nations to have a chance
to succeed, it must offer more then mere lip service. The violation of treaties is precisely the
sort of crime in which the League of Nations has a direct interest.“75

Auch der britische Ministerpräsident bekennt sich also in einem entscheidenden


Moment der Verhandlungen zu der Idee eines ius puniendi der internationalen Ge-
meinschaft und deren direkter Durchsetzung durch ein von dieser Gemeinschaft hier-
zu berufenes Organ. Damit rundet sich das Bild von einer anfänglichen Staatenpraxis
zum Völkerstrafrecht, die fürwahr der Erinnerung lohnt.

V. Schluss
Merkel hat es eine „sinistre Ironie“ genannt, dass die offizielle Völkerrechtspo-
litik der USA bei den Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg Argumente
formulierte, „die 26 Jahre später von den Verteidigern der Hauptkriegsverbrecher in
Nürnberg vorgebracht und dort vor allem auf Betreiben der Amerikaner ausnahmslos
abgewiesen worden sind“.76 Hier ist wohl ein milderes Urteil möglich, da die US-
amerikanische Völkerrechtspolitik in keinem der beiden Fälle auf krude Machtpoli-
tik reduziert werden kann. Vielmehr ist die durchaus komplexe völkerrechtspoliti-
sche Abwägung des jeweiligen amerikanischen Präsidenten in beiden Fällen mit
der Folge unterschiedlich ausgefallen, dass sich erst in Nürnberg die Überzeugung
Bahn gebrochen hat, dass die Gründe dafür überwögen, einen – rechtsstaatlich an-
fechtbaren – schöpferischen völkerstrafrechtlichen Präzedenzfall zu setzen. Weniger
milde muss indessen das Urteil über die völkerrechtspolitischen Positionen ausfallen,
die die meisten derjenigen Staaten, die dem Verbrechen der Aggression in Nürnberg
und Tokyo zu seinem Auftritt auf der Weltrechtsbühne verhalfen, zu der Forderung
der großen Staatenmehrheit bezogen haben, das entsprechende Nürnberger und
Tokyoter Vermächtnis im IStGH-Statut zu bestätigen. Denn diese Positionen siedel-
ten zwischen Zurückhaltung und Ablehnung. Speziell im Hinblick auf die Völker-
strafrechtspolitik Frankreichs und Großbritanniens darf nach der vorstehenden Re-
miniszenz vielleicht tatsächlich von einer veritablen Ironie der Völkerstrafrechtsge-
schichte gesprochen werden: Diese beiden Staaten waren es, die nach dem Ersten
Weltkrieg erstmals und mit größter Leidenschaft dafür gestritten haben, die Aggres-
sion zur Völkerstraftat zu erheben. Dieselben Staaten hätten in einer langen Dezem-
bernacht des Jahres 2017 mit einer bemerkenswert intransigenten Haltung um ein
Haar – und dann vielleicht für sehr lange Zeit – verhindert, dass ihre Rechtsidee
von Versailles ein Jahrhundert später Rechtswirklichkeit werden kann.77 Die Rechts-
wissenschaft ist nicht zur rechtspolitischen Entscheidung berufen. Sie darf es sich
75
Schabas, Fn. 50, S. 178.
76
Reinhard Merkel, Nürnberger Prozess, Fn. 1, S. 75.
77
Claus Kreß, Fn. 19.
Die Anfänge des Völkerstrafrechts 1359

aber zu ihrem Anliegen machen, die Rechtspolitik der Staaten an Rechtsprinzipien zu


erinnern, die im historischen Prozess zu einer praktischen Geltung gelangt sind, die
bei nachfolgenden rechtspolitischen Weichenstellungen auf dem Spiel steht. Merkels
Arbeiten (auch) zum Völkerstrafrecht sind diesem Anliegen verpflichtet. Möge
Reinhard Merkel den Eindruck gewinnen, dass bei der Niederschrift dieser kleinen
völkerstrafrechtshistorischen Reminiszenz, die ihm in langjähriger freundschaftli-
cher Verbundenheit dargebracht wird, derselbe Antrieb wirksam geworden ist.
Von den trüben Quellen und seichten Mündungen
des Völkerstrafrechts
Von Bernd Schünemann

I. Vorbemerkung
Reinhard Merkel hat nicht nur, aber ganz besonders durch seine richtungsweisen-
den Analysen zum Kosovo-Krieg1 und zu den westlichen Interventionen und Bom-
bardements in Libyen2 und Syrien3 weit mehr als nur seine wissenschaftliche Brillanz
und Unbestechlichkeit bewiesen4 ; er hat die Ehre der Jurisprudenz in einer Epoche
gerettet, in der die Bereitschaft der Bundesregierung und der von ihr faktisch be-
herrschten Parlamentsmehrheit zur aktiven Beteiligung an kriegerischen Konflikten
von der NATO-Perspektive dominiert wird und sich das BVerfG aus einer inhaltli-
chen Entscheidung anhand des Verbots des Angriffskrieges des Art. 26 GG bisher
herausgehalten hat5. Mit meinen nachfolgenden kritischen Überlegungen zu den du-
biosen Anfängen einer anderen „heiligen Kuh“ des heutigen rechtswissenschaftli-
chen mainstreams möchte ich seiner unerschrockenen Haltung meine Reverenz er-
weisen.

II. Die großen Hoffnungen und die fragwürdige Wirklichkeit


des Völkerstrafrechts
1. Man darf wohl ohne Übertreibung sagen, dass das sog. Völkerstrafrecht die er-
folgreichste akademische Disziplin im Bereich der Jurisprudenz der letzten Jahr-
zehnte ist. Es gibt heute kaum eine juristische Fakultät in der Bundesrepublik
1
Merkel (Hrsg.), Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht, 2000.
2
Merkel, „Und nächste Woche Bomben auf Damaskus? Die Intervention in Libyen schafft
falsche Erwartungen, desavouiert die UN und beschädigt das Völkerrecht“, Die Zeit, Nr. 14/
2011 vom 31. März 2011.
3
Merkel, „Syrien: Der Westen ist schuldig.“, FAZ v. 2. August 2013.
4
Ein weiteres Beispiel bietet seine Analyse des Beschneidungsproblems, s. Merkel, „Die
Haut eines anderen“, SZ v. 30. 8. 2012.
5
Zur Tolerierung des neuen strategischen Konzepts der NATO s. BVerfGE 90, 286; zur
Vermeidung einer Stellungnahme im Kosovo-Krieg aus prozessualen Gründen s. BVerfGE
100, 266; BVerfG (2. Senat 1. Kammer) EuGRZ 2013, 563; unveröff. Entscheidung Az. 2
BvQ 17/99.
1362 Bernd Schünemann

Deutschland mehr, an der nicht ein dieses Rechtsgebiet vertretender Lehrstuhl offi-
ziell ausgewiesen ist, und zwar als Spezialgebiet nicht des Völkerrechts, sondern des
Strafrechts6. Es verschlägt deshalb auch wenig, dass die Bezeichnung in mehrfacher
Hinsicht unglücklich erscheint: erstens, weil es ja gar nicht um die Bestrafung von
Völkern, sondern von Individuen geht; und zweitens, weil die traditionelle deutsche
Übersetzung des „ius gentium“ mit „Völkerrecht“ im Vergleich zu dem weniger prä-
tentiösen englischen Ausdruck „international law“ in einer Zeit, in der die (in der
Präambel zum GG zweimal verwendete) Redeweise vom „Volk“ im politisch korrek-
ten Sprachgebrauch tunlichst vermieden und namentlich in den Medien als ein
rechtspopulistischer Unbegriff behandelt wird, heikel geworden ist.
2. Gravierender als diese linguistischen Feinheiten sind die Effektivitätsmängel
des Völkerstrafrechts, derentwegen sich die Frage stellt, ob seine Geltungslücken
und Selektivität noch im Rahmen der Unvollkommenheiten jeder Rechtsordnung
verbleiben oder jenes Minimum an Geltung und Gleichbehandlung unterschreiten,
ohne das eine faktische Ordnung nicht als gerechtes Recht angesehen werden kann.
a) Die hochgestimmten Erwartungen, mit denen gerade in Deutschland die Ein-
richtung des Internationalen Strafgerichtshofes begleitet wurde, waren im Hinblick
darauf, dass auch die USA als seit Jahrzehnten in globaler Hinsicht alleinige, dafür
aber umso aktivere kriegführende Macht am Rom-Statut aktiv mitgearbeitet hatten,
durchaus verständlich. Aber mittlerweile sind sie dreifach zerstoben: erstens durch
die Verweigerung einer Ratifizierung durch die USA, zweitens durch das amerika-
nische Gesetz zum Schutz des eigenen Militärpersonals, das, zumal in Verbindung
mit den teilweise erfolgreichen Versuchen, andere Staaten auf diese Seite zu ziehen,
geradezu auf eine aktive Untergrabung der Effektivität des Rom-Statuts gerichtet ist7.
Und drittens haben sich letztlich sogar die Organe des ICC dieser Politik unterwor-
fen, als die Vorverfahrenskammer II am 12. 04. 2019 die Aufnahme von Ermittlungen
wegen mutmaßlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen in
Afghanistan ablehnte.8
b) Angesichts der Zahl von bisher nur drei rechtskräftigen Aburteilungen durch
den ICC, allesamt Afrikanern,9 erscheint die für Rechtserscheinungen zu fordernde
Minimal- oder Residualeffektivität problematisch und die in Afrika verbreitete Mei-
nung, der ICC sei im Grunde genommen eine neokoloniale Einrichtung10, zwar un-
zutreffend, aber verständlich.

6
Wobei freilich als Bezeichnung, Frankfurt/Oder ausgenommen, nicht mehr „Völker-
strafrecht“, sondern „Internationales Strafrecht“ dient.
7
Durch den American Service-Members’ Protection Act (ASPA) und zahlreiche bilaterale
Immunitätsabkommen (BIAs).
8
icc-cpi.int/Pages/item.aspx?name=pr1448, abgerufen am 24. 10. 2019.
9
Ambos, Internationales Strafrecht, 5. Aufl. 2018, S. 131 ff.
10
Zahlr. Nachw. b. Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 8. Aufl. 2018,
§ 14 Rn. 39.
Von trüben Quellen und seichten Mündungen des Völkerstrafrechts 1363

3. Und das setzt sich auf der nationalen Ebene fort, wo der deutsche Gesetzgeber
sich einen höchst problematischen Schachzug einfallen ließ, um das in Art. 26 GG
enthaltene Verbot der Vorbereitung eines Angriffskrieges und die dazugehörige Be-
strafungspflicht politisch geschmeidiger zu machen. Durch das Gesetz zur Änderung
des Völkerstrafgesetzbuches vom 22. 04. 201611 ist § 80 StGB, der in (teilweiser)
Ausführung von Art. 26 GG die Vorbereitung eines (d. h. jedes) Angriffskrieges
unter Strafe stellte, durch § 13 VStGB ersetzt worden, der außer Angriffskriegen
auch Angriffshandlungen erfasst, „die ihrer Art, ihrer Schwere und ihrem Umfang
nach eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellen“.
Die Übernahme dieses sog. Kampala-Kompromisses, durch den der Tatbestand
der Aggression in das Statut des ICC übernommen wurde, also der sog. „Schwellen-
klausel“12, in das deutsche Recht war keinesfalls zwingend13 und führt praktisch zum
völligen Leerlaufen dieser Vorschrift. Das zeigt beispielsweise die Stellungnahme
von Ambos zu der „US-geführten Invasion des Irak in 2003, weil es sich dabei
zwar um eine rechtswidrige Aggressionshandlung handelte, (wohl) aber nicht um
ein Aggressionsverbrechen, weil die von einer beachtlichen wissenschaftlichen Min-
dermeinung vertretene Rechtfertigung der Invasion … das Merkmal der ,Offensicht-
lichkeit‘ nahm“14. Denn weil der als Anlass behauptete Besitz von Massenvernich-
tungswaffen durch den Diktator Saddam Hussein nichts anderes als amerikanische
Fake News war, knapp unterhalb der Höhe des angeblichen Überfalls polnischer
Truppen auf den Sender Gleiwitz15, kann die von Ambos sog. „beachtliche wissen-
schaftliche Mindermeinung“ offensichtlich beliebig manipuliert werden und führt
damit die ganze Vertatbestandlichung ad absurdum16. Erst recht wird die neuerdings
im Völkerrecht Konjunktur genießende Doktrin von der „humanitären Intervention“
(scil. auch ohne Beschluss des Sicherheitsrates gem. Art. 53 der UN-Charta)17 die
Kategorie des eine offenkundige Verletzung der UN-Charta darstellenden Angriffs-
krieges für die Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit auf innerafrikanische Schar-
mützel beschränken und den Generalbundesanwalt von der früher bestehenden Not-
wendigkeit, zur Vermeidung der Strafbarkeit einer bundesdeutschen Beteiligung an
amerikanischen Angriffskriegen verzwickte Argumentationen zu ersinnen18, ein für
alle Mal befreien.

11
BGBl. I S. 3150.
12
Dazu näher Ambos, ZIS 2010, 649, 654 f. m.w.N.
13
Jeßberger, ZIS 2015, 514, 519.
14
ZIS 2010, 656; zutreffend kritisch Paulus, EJIL 20 (2009), 1117, 1123.
15
Nachw. b. Schünemann, GA 2019, 620, 627, 634.
16
So auch Deisenroth, vorgänge #217, 95 ff.
17
Dazu Randelzhofer/Dürr, in: Simma/Khan/Nolte/Paulus (Hrsg.), The Charter oft he
United Nations, Oxford 2012, Vol. I, Art. 2 (4) n. 52 ss.; Ipsen, Völkerrecht, 6. Aufl. 2014,
§ 52; Walzer, Die Debatte um humanitäre Interventionen, polylog 2007, 11 ff.; Fremuth,
NZWehrr 2012, 89 ff.; Klose, Militärgeschichtl. Ztschr. 72 (2013), 1 ff.
18
Vgl. GBA JZ 2003, 908; Ablehnung einer Verfahrenseinleitung wegen des Kosovo-
Kriegs durch Bescheid v. 26. 1. 2006, 3 ARP 8/06 – 3; v. 14. 6. 2016, 3 ARP 101/15 – 4 u. ö.
1364 Bernd Schünemann

4. Das gerade in Deutschland so lebhaft und vollmundig begrüßte Völkerstraf-


recht bildet deshalb (um naheliegender Weise ein afrikanisches Bild zu gebrauchen)
längst nicht mehr einen kräftigen Strom der Rechtsdurchsetzung nach Art des Oka-
wango-Mittellaufes, sondern gleicht eher dessen letzten Rinnsalen in seinem Delta in
der Trockenzeit, die sich im Mühlsand der Politik verlaufen. Liegt darin das tragische
Scheitern einer anfangs großen Idee, oder spiegelt dieser gegenwärtige Befund wo-
möglich ein schon am Anfang stehendes Gebrechen wider?

III. Der Anfang des Völkerstrafrechts


1. Den „Anfang“ oder „Prolog“ des Völkerstrafrechts bilden unstreitig der „Ver-
sailler Friedensvertrag“ und die „Leipziger Kriegsverbrecherprozesse“19. Die einzel-
nen Stufen bildeten die vorbereitende Friedenskonferenz, die auf ihrer Plenarsitzung
vom 25. 01. 1919 zum Zweck der Untersuchung der Verantwortlichkeiten für den
Krieg eine „Kommission über die Verantwortlichkeit der Urheber des Krieges und
die Durchsetzung von Strafen“ auf Grundlage der Untersuchung von de Lapradelle
und Lamaude über die strafrechtliche Verantwortlichkeit Kaiser Wilhelms II.20 ein-
setzte; deren Bericht vom 29. 03. 191921, in dem die Auslösung eines Angriffskrieges
freilich als solche nicht als ein direkter Verstoß gegen das positive Recht angesehen
wurde, den man erfolgreich vor ein Strafgericht bringen könne; der Widerspruch vor
allem des englischen Premierministers Lloyd George, der seinen Wahlkampf 1919
unter die Devise gestellt hatte: „Hang the Kaiser“; und schließlich Art. 227 des Ver-
sailler Vertrages, in dem
„Die Alliierten und assoziierten Mächte Wilhelm II. … unter öffentliche Anklage (stellen)
wegen des höchsten Verstoßes gegen internationale Moral und die Heiligkeit der Verträge.
Ein spezieller Gerichtshof soll errichtet werden, … (es) wird seine Pflicht sein, die Strafe
festzusetzen, die er als festzusetzen ansieht.“22

Nach dem eindeutigen Wortlaut von Art. 227 sollte es sich bei dem Prozess gegen
Wilhelm II. um einen echten Strafprozess handeln, auch wenn der Gegenstand der
ihm anzulastenden Verstöße in dem „internationalen Sittengesetz und der Heiligkeit

19
Satzger (Fn. 10), S. 313 f., widmet ihnen ein Siebtel seines Kapitels über die „historische
Entwicklung des Völkerstrafrechts“; das Große Lehrbuch von Ambos (Fn. 9) beginnt das
Kapitel „Von Versailles nach Den Haag“ (S. 110) mit dem Verweis „zu historischen Vorläu-
fern, insbesondere dem Versailler Friedensvertrag“ auf die 1. Auflage (S. 114), während
Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, 4. Aufl. 2016, diesen völkerstrafrechtlichen „Prolog“ als
ein „neuartiges und überaus ehrgeiziges Bestrafungsmodell“ auf S. 8 – 12 darstellen und dahin
resümieren, dass ihm die praktische Umsetzung versagt blieb, aber trotzdem die erstmalige
Anerkennung in einem völkerrechtlichen Vertrag nicht unterschätzt werden dürfe.
20
Journal de Droit International, 1919, 131 ff.
21
14 American Journal of International Law, 1920, 95 ff.
22
Wörtliche Übersetzung aus dem Englischen, in der deutschen Fassung heißt es „die er
für angemessen erachtet“.
Von trüben Quellen und seichten Mündungen des Völkerstrafrechts 1365

von Verträgen“, also nicht eigentlich in Strafrechtsnormen bestand. Es ging also nicht
nur um die moralische Verurteilung, sondern um die Bestrafung der Auslösung eines
Angriffskrieges, dessen (alleinige Kriegs-)Schuld in Art. 231 des Versailler Vertra-
ges im Sinne des den Alliierten „durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbün-
deten aufgezwungenen Krieges“ beantwortet wurde, wodurch intrasystematisch die
Grundlage für die Anklage gegen Wilhelm II. geschaffen war.
2. In der nachfolgenden Betrachtung muss ich mich allein schon aus Raumgrün-
den auf diese Hauptfrage der im Versailler Vertrag konstitutiv für strafbar erklärten23
Verletzung des „ius in bellum“ beschränken, die in Art. 228 ff. des Vertrages inten-
dierte Verfolgung der Kriegsverbrechen durch Verletzung des „ius in bello“ und
deren völlig unzulängliche Realisierung in den Leipziger Prozessen24 dagegen uner-
örtert lassen. Weil die historische Schuld im Völkerstrafrecht zum Rechtsbegriff
avanciert ist und die in Art. 231 des Versailler Vertrages dem Deutschen Reich ab-
genötigte Anerkennung der Kriegsschuld ähnlich wie ein „plea agreement“ oder
eine „Urteilsabsprache“ die Wahrheitsfrage außerhalb des konkreten Verfahrens
nicht beantwortet, macht es sogar einen dreifachen Sinn, die in der Geschichtswis-
senschaft seit über 100 Jahren fast ohne Unterlass diskutierte Kriegsschuldfrage aus
einer juristischen Perspektive zu erneuern: erstens und vor allem, weil die Ge-
schichtsschreibung weitgehend die normative Schuldprämisse der Rechtswidrigkeit
ignoriert hat, indem nicht nur das Attentat von Sarajewo als condicio sine qua non des
Ersten Weltkrieges, sondern etwa auch schon frühere Völkerrechtsverletzungen, die
die allgemeine Kriegsgefahr wesentlich verschärften,25 als factum brutum genom-
men und dadurch von jeder Verantwortlichkeit befreit werden; zweitens, weil die
strafrechtliche Vorsatzdogmatik für die (gewöhnlich allein für relevant erachtete)
Vorsatzschuld präzisere Differenzierungen erwarten lässt; und drittens, weil die
strafrechtliche Zurechnungslehre in das extrem verwickelte Kausalgeflecht bei der
Auslösung des 1. Weltkrieges eine gewisse Ordnung bringen könnte. Natürlich
wäre es vermessen, in einem umfangmäßig bescheidenen Beitrag auf einem wissen-
schaftlich derart abgegrasten Feld zu völlig neuen Erkenntnissen gelangen zu wollen,
weshalb ich mich nur anheischig machen kann, unter Verwertung des bekannten his-
torischen Materials einige bisher vernachlässigte Denkanstöße zu geben.

23
Denn bis dahin war, wovon auch die Untersuchung von de Lapradelle und Lamaude
ausging, völkerrechtlich das freie Kriegsführungsrecht souveräner Staaten nur von der (vom
Deutschen Reich beachteten) Einhaltung gewisser formeller Voraussetzungen abhängig (Jen-
sen, Krieg um des Friedens willen, 2015, S. 237 ff. m.z.w.N.).
24
Dazu Willis, Prologue to Nuremberg, 1982; Hankel, Die Leipziger Prozesse, 2003;
Wiggenhorn, Verliererjustiz, 2005.
25
Z. B. die französische Verletzung der Akte von Algeciras als Grund der 2. Marokkokrise,
die den Anfangspunkt einer danach nicht mehr abreißenden Kette gefährlicher, oft am Rande
des Krieges verlaufender Krisen gebildet hat (s. Kießling – Fn. 34, S. 40 ff.).
1366 Bernd Schünemann

IV. Die Kriegsschuldfrage


1. Es ist eine aus der Geschichte der Strafrechtsdogmatik altbekannte Erfahrung,
dass bei Diskussionen, die über 100 Jahre andauern, Erkenntnisse und Argumente
nach einiger Zeit in Vergessenheit geraten und dann gewissermaßen neu entdeckt
werden, wobei ihr Stellenwert aber vom jeweils wechselnden Zeitgeist abhängt.
Für mein Thema sind die Fakten eigentlich seit den 20-er Jahren des vorigen Jahr-
hunderts weitestgehend – d. h. soweit damals und heute möglich – geklärt, vor
allem durch die großen Akteneditionen der hauptkriegführenden Mächte (allen
voran Deutsches Reich und Großbritannien), die Erschließung der zaristischen Ar-
chive nach der Oktoberrevolution, zahllose Briefeditionen und (naturgemäß sehr dif-
ferenziert zu analysierende) Memoiren der wichtigsten Protagonisten.26 Eine voll-
ständige und bis heute quasi „neutralste“ Auswertung findet man bereits in den da-
maligen Untersuchungen eines kanadischen und zweier US-amerikanischer Histori-
ker27. Auf demselben Niveau standen anfangs auch die meisten deutschsprachigen
Analysen, erst nach und nach ist damals an deren Stelle eine einseitige Polemik
gegen die sog. Kriegsschuldlüge getreten. Ein erneutes Aufflammen der Diskussion
haben die 60-er Jahre des vorigen Jahrhunderts gezeitigt, als die These Fritz Fischers
und seiner Schule über das die deutsche Alleinschuld implizierende planmäßige Hin-
arbeiten auf den Weltkrieg28 zwar in Historikerkreisen heftig attackiert und wider-
legt29, aber in der allgemeinen Publizistik zunehmend übernommen wurde, ließ
sich doch auf diese Weise eine scheinbare Kontinuität der deutschen Geschichte
von 1900 – 1945 herstellen. Dieses „Narrativ“ hat dann allerdings durch die eine brei-
te Leserschaft erreichenden Darstellungen des in Cambridge lehrenden australischen
Historikers Christopher Clark und zweier der Rechtslastigkeit unverdächtiger Publi-
zisten, Jörg Friedrich und des Soziologen Herfried Münkler,30 einen vernichtenden

26
Man vergleiche dies einmal mit den krampfhaften Versuchen der heutigen Regierungen,
die letzten Gründe ihres Handelns und/oder politischer Skandale, solange es nur geht, zu
sekretieren, etwa für die USA zu 9/11 oder für Deutschland zu NSU.
27
Die amerikanischen Werke stammen von Sidney Bradshaw Fay, The Origins of the
World War, New York 1928, von dem (sich erst später aus der seriösen Forschung verab-
schiedenden) Harry Elmer Barnes, Genesis of World War, New York/London 1927, sowie von
dem Kanadier John Skirving Ewart, The Roots and Causes of the Wars (1914 – 1918), New
York 1925. Nachfolgend stütze ich mich durchgehend auf diese sowie auf die in Fn. 28 – 30
zit. Literatur, ohne diese immer wieder im Einzelnen nachzuweisen.
28
Fischer, Der Griff nach der Weltmacht, 1961; ders., Krieg der Illusionen, 1969.
29
Ritter, HistZtsch. 194 (1962), 646 f.; Zechlin, Krieg und Kriegsrisiko, 1979.
30
Clark, The Sleepwalkers, 2012, dt. „Die Schlafwandler“, 2013 (ähnlich bereits vor ihm
der mittlerweile in Harvard lehrende britische Historiker Ferguson, The Pity of War, 1998, dt.
„Der falsche Krieg“, 1998); Friedrich, 14/18 – Der Weg nach Versailles, 2014; Münkler, Der
Große Krieg, 2013. Noch weitaus detaillierter und dementsprechend deutlicher hinsichtlich
der „indirekten Kriegsentfesselung“ durch die Politik Poncarés, der „russischen Ursprünge
des 1. Weltkrieges“ und Greys Strategie für den Kriegseintritt Großbritanniens McMeekin, The
Russian Origins of the First World War, Cambridge (Mass.)/London 2011; ders., July 1914 –
Countdown to War, London 2013; Newton, The darkest Days, London/New York 2014;
Von trüben Quellen und seichten Mündungen des Völkerstrafrechts 1367

Stoß erlitten. Für mein Thema, die Bewertung der Quellen des Völkerstrafrechts,
könnte ich es dabei belassen, denn weder Clarks „Schlafwandler-Metapher“31
noch die semantisch unklare Rückzugslinie des vorherigen publizistischen mainstre-
ams, das Deutsche Reich trage die „Hauptverantwortung“, würde eine ausreichende
Legitimitätsbasis für die Art. 227, 231 des Versailler Vertrages bilden. Doch möchte
ich immerhin noch einige Hinweise zu geben versuchen, in welche Richtung eine
rechtswissenschaftliche Analyse der Kriegsschuldfrage zu führen wäre, die nach
100 Jahren immer noch aussteht.
2. Eine weitaus überzeugendere Integration des riesigen, wenn auch in einigen
wichtigen Punkten wohl definitiv lückenhaft bleibenden Faktenmaterials als Clarks
Schlafwandler-Hypothese oder die entgegengesetzte „Hauptschuldthese“ verspricht
eine Analyse (1) anhand der in den kriegführenden Mächten bis Juni 1914 dominie-
renden Ziele und (2) der in den beteiligten Staaten miteinander rivalisierenden Prot-
agonisten, wobei wiederum über die zum Krieg hinführenden internationalen Ent-
wicklungen (3) ein Schema von Aktion und Reaktion gelegt werden muss, weil
keine Maßnahme aus sich allein, sondern nur unter Berücksichtigung einer vorher-
gegangenen Maßnahme der anderen Seite erklärt werden kann. An diesen beiden
Punkten liegt übrigens der doppelte methodische Fehler von Fritz Fischer, der aus
der deutschen Kriegszieldiskussion nach Ausbruch des Krieges auf die vorherige la-
tente Bereitschaft geschlossen hat, um dieser Ziele willen einen Krieg zu riskieren,
und der sich später in seiner Interpretation der deutschen Vorkriegspolitik auf die
deutschen Quellen konzentriert und die ausländischen Aktionen und Quellen nur
höchst selektiv berücksichtigt hat.
a) Von den Zielen her sind konservative (einen Kriegsausbruch eigentlich verhin-
dernde) einerseits sowie auf eine Veränderung der Landkarte Europas gerichtete re-
volutionäre Ziele andererseits zu unterscheiden, die naturgemäß nur über einen eu-
ropäischen Krieg zu verwirklichen waren.
(1) In Frankreich ging es um die Revancheidee des Rückerwerbs von Elsaß-Loth-
ringen, die zwar über lange Zeit weitestgehend zurückgedrängt worden32, ausgerech-
net am Vorabend des 1. Weltkrieges aber in Gestalt des Präsidenten Poincaré wieder
in den Vordergrund getreten war.
(2) Das seit 2008 dominierende russische Ziel, die Verhältnisse auf dem Balkan zu
revolutionieren und die Kontrolle über die Meerengen zu erlangen, wurde von den
russischen Botschaftern in Paris Iswolski und in Serbien Hartwig verkörpert; letzte-
rer hatte bereits über die Stiftung des Balkanbundes und den durch diesen ausgelös-

Schmidt, „Revanche por Sedan“ – Frankreich und der Schlieffenplan, HistZtsch 303 (2016),
393 ff.
31
Ähnlich bereits Lloyd George, War Memoirs, Bd. 1, London 1933, S. 32. „Europe
slithered over the brink into the boiling cauldron of war“.
32
So insbesondere zur Zeit der 2. Marokko-Krise, s. Hildebrand, Das vergangene Reich,
1995, S. 265 f.; Fay (Fn. 27) Vol. I, S. 277 ff.; Stieve, Deutschland und Europa 1890 – 1914,
1927, S. 103.
1368 Bernd Schünemann

ten ersten und zweiten Balkankrieg den weitgehenden Umsturz der durch den Ber-
liner Kongress von 1878 auf dem Balkan hergestellten fragilen Ordnung bewirkt,
aber ebenso wenig wie vor ihm Iswolski in der bosnischen Annexionskrise die tür-
kischen Meerengen, also den Bosporus und die Dardanellen, für Rußland öffnen
bzw., weniger euphemistisch, unter die Kontrolle Rußlands bringen können. Nach
dem verlorenen russisch-japanischen Krieg war dieses Thema wieder ins Zentrum
der russischen Expansionspolitik getreten und zum dominierenden Ziel einer russi-
schen Kriegspartei geworden, deren Anführer der Großfürst Nikolaj Nikolajewitsch
der Jüngere (ein Onkel in der Seitenlinie von Zar Nikolaus II.) war; er war übrigens
mit einer montenegrinischen Prinzessin verheiratet, aus deren Korrespondenz mit
ihrem Vater der (ebenso wie der berüchtigte deutsche „Blankoscheck“ an Öster-
reich-Ungarn nur mündlich ausgestellte) französische „Blankoscheck“ im Juli
1914 sehr gut rekonstruiert werden kann.
(3) Auch in Österreich gab es naheliegender Weise eine Kriegspartei, die umge-
kehrt die Befestigung oder in gewisser Weise sogar die Wiedererlangung des Groß-
machtstatus der Doppelmonarchie durch die Niederwerfung Serbiens zu erreichen
suchte, hierbei aber in den Balkankriegen vom deutschen Reich nicht unterstützt
worden war und deshalb dieses Ziel zunächst hatte zurückstellen müssen.
(4) Im Deutschen Reich bestand das dominierende Ziel in Bezug auf Europa in der
Erhaltung des Status Quo, seine Expansionsbestrebungen erstreckten sich auf wei-
tere Kolonien und die Anerkennung als Weltmacht. Mit diesem Ziel geriet das Deut-
sche Reich eigentlich sogar erst sehr spät in einen Konflikt mit Großbritannien, was
zur Entstehung einer in sich freilich gespaltenen Kriegspartei führte. Tirpitz und mit
ihm verbundene weitere Kräfte hielten auf die Dauer eine Auseinandersetzung mit
England für unvermeidbar, wollten diese aber bis zur Vollendung der hierfür geplan-
ten deutschen Seemacht möglichst lange hinausschieben. In Militärkreisen gewann
dagegen der Präventivkriegsgedanke Raum, weil man Deutschland mehr und mehr
umzingelt sah und im Rüstungswettlauf zu unterliegen fürchtete. Durch die mit fran-
zösischen Geldern finanzierte gewaltige russische Aufrüstung, der in Frankreich die
Verlängerung der aktiven Wehrdienstzeit entsprach, glaubte man sich etwa ab 1917
dem russisch-französischen Bündnis nicht mehr gewachsen, weil zur gleichen Zeit
Italien de facto aus dem Dreibund ausscherte und Österreich immer schwächer
wurde.
(5) Parallel zu dieser Entwicklung in Deutschland gewann im Vereinigten König-
reich eine germanophobe Stimmung Raum, die nach neueren Forschungen zwar
noch nicht mit Beginn des deutschen Hochseeflottenbaus33, aber doch in dessen Ver-
lauf das deutsche Kaiserreich als Bedrohung der britischen Weltgeltung empfand.
Diese Germanophobie war zwar im englischen Kabinett in einer deutlichen Minder-
heit, fand ihr Zentrum aber im Außenministerium in Gestalt des für Deutschland zu-
ständigen Abteilungsleiter Eyre Crowe, der übrigens eine deutsche Mutter hatte und
in Deutschland aufgewachsen war. Dessen Germanophobie paarte sich wiederum in
33
Geppert/Rose, HistZtschr 2011, 401 ff.
Von trüben Quellen und seichten Mündungen des Völkerstrafrechts 1369

eigenartig verstärkender Weise mit einer konkreten Angst vor russischen Angriffen
auf die englische Stellung in Indien, deretwegen nach Meinung des britischen Ge-
sandten in St. Petersburg Buchanan wie auch des Unterstaatssekretärs Nicolson
die Beibehaltung und Intensivierung einer Freundschaft mit Russland eine geradezu
höchstwertige Notwendigkeit der britischen Politik sei. Der englische Außenminis-
ter Grey stand stark unter dem Einfluss von Buchanan, Nicolson und Crowe und hatte
durch die Duldung von Militärabsprachen mit Frankreich, die vor den meisten Mi-
nistern des Kabinetts und erst recht dem Parlament raffiniert vertuscht worden waren,
die Erwartungen des französisch-russischen Bündnisses auf einen aktiven Beistand
Englands enorm gesteigert.
Trotzdem blieb die Entwicklung des Verhältnisses Deutschland-Großbritannien
offen, nachdem die sog. Haldane-Mission des britischen Kriegsministers zwar kei-
nen Neutralitätsvertrag gebracht, aber doch immerhin die Möglichkeit einer Annä-
herung gezeigt hatte, die dann in den Kolonialverhandlungen und in der Zusammen-
arbeit bei der Beendigung der Balkankriege gewisse Früchte gebracht hatte34. Als
höchst zweischneidige Folge ergab sich daraus jedoch einerseits die Hoffnung des
der Friedenspartei angehörenden deutschen Reichskanzlers Bethmann Hollweg
auf eine Neutralität Englands in der Julikrise 1914, während er andererseits langfris-
tig wegen der vom englischen Außenminister Grey in dem o. erwähnten Geist unter-
nommenen weiteren Annäherung an Russland durch die Aufnahme von (von Grey
abgeleugneten!) Flottenverhandlungen für die Zukunft eine Verstärkung der Tri-
pel-Entente Frankreich-Großbritannien-Russland zu einer Tripel-Allianz befürchte-
te.
b) Auf diese von mir mit ganz groben Strichen al fresco an die Wand gezeichnete
Ausgangssituation ist sodann die juristische Bewertung der Ermordung des österrei-
chischen Thronfolgers in Sarajewo und die anschließende Entscheidung Bethmann
Hollwegs zu projizieren, Österreich-Ungarn den sog. Blankoscheck des deutschen
Beistands für ein aggressives Vorgehen gegen Serbien auszustellen.35
(1) Für den Strafrechtsdogmatiker lässt sich der subjektive Tatbestand von Beth-
mann Hollwegs Entscheidung elegant qualifizieren: nämlich als die Absicht, eine
Beschränkung der kriegerischen Auseinandersetzung auf den Balkan zu erreichen
und dadurch Österreich-Ungarn als den letzten verbliebenen Bundesgenossen vor

34
Dazu eingehend Kießling, Gegen den „großen Krieg“? – Entspannung in den interna-
tionalen Beziehungen 1911 – 1914, 2002, S. 95 ff., 224 ff.
35
Wobei das politische Kalkül Bethmann Hollwegs historisch geklärt sein dürfte: Weil er
die Bereitschaft Russlands zur Aufnahme des Fehdehandschuhs nach diesem Mord als eher
gering, diejenige Frankreichs als noch geringer und die Aussichten auf eine Neutralität
Großbritanniens als verhältnismäßig hoch einschätzte, andererseits aber eine etwaige gegen-
teilige Entscheidung dieser Mächte als Beweis ansah, dass sie nach der in drei Jahren veran-
schlagten Beendigung der russischen Rüstungen ohnehin bereit wären loszuschlagen, müsse
die Probe aufs Exempel gewagt werden, da Deutschland nach Auskunft des (die Präventiv-
kriegsidee aggressiv vertretenden) Generalstabschefs Moltke im Augenblick die letzte Sie-
geschance besitzen würde.
1370 Bernd Schünemann

dem drohenden Zerfall zu bewahren, verbunden mit einem dolus eventualis, in der
unwillkommenen, aber ernst genommenen Alternative den sonst später unter aus-
sichtslosen Randbedingungen stattfindenden Großen Krieg besser heute als morgen
noch erfolgreich zu bestehen.
(2) Hiermit hat das Deutsche Reich zweifellos eine Anfangsbedingung für den
Weltkrieg gesetzt, doch bleibt natürlich zu prüfen, ob dies auch eine rechtswidrige
Bedingung war. Denn es steht aufgrund der schon 1914 zu vermutenden und während
des Krieges wenigstens teilweise aufgeklärten Hintergründe des Attentats von Sara-
jewo mit praktischer Sicherheit fest, dass dieses von serbischen Militärstellen jeden-
falls mit Wissen des serbischen Ministerpräsidenten Pasic und hochwahrscheinlich
mit Absegnung durch die russische Kriegspartei organisiert worden ist.36 Auf diese
letzte Frage kommt es für die rechtliche Beurteilung des weiteren österreichischen
Vorgehens und des deutschen Blankoschecks aber überhaupt nicht an, denn bezüg-
lich der Verantwortlichkeit des serbischen Staates über Dimitrijevic, über Pasic und
über die das Attentat insgesamt organisierende, letztlich die Macht im Staat ausüben-
de37 „Schwarze Hand“ kann gar kein Zweifel bestehen. Es handelt sich deshalb bei
dem Attentat um einen kriegerischen Anschlag des serbischen Staates, der selbstver-
ständlich Österreich-Ungarn nach dem damaligen Völkerrecht dazu befugte, militä-
risch zurückzuschlagen. Dass die österreichischen Dienststellen diese Zusammen-
hänge damals noch nicht im einzelnen kannten, kann die serbische Verantwortlich-
keit nicht ungeschehen machen.
(3) Auch nach der damals nicht vollständig aufgeklärten Situation war jedenfalls
das österreichische Ultimatum inhaltlich eine berechtigte Forderung, nämlich dass
ein Staat, von dessen Boden aus das Attentat eingefädelt worden war, die zu dessen
Aufklärung und zur Bestrafung der Hintermänner des Attentats erforderliche Hilfe
leisten möge. Gerade aus heutiger Sicht sticht die durchaus maßvolle Art des öster-
reichischen Vorgehens ins Auge, wenn man das von der NATO unter höchst aktiver
Mitwirkung des deutschen Außenministers Fischer der Republik Rest-Jugoslawien

36
Die sorgfältige Vorbereitung und Einfädelung lag in den Händen des Majors im serbi-
schen Generalstab und Führers der halbstaatlichen Terrororganisation „Schwarze Hand“,
Dragutin Dimitrijevic genannt Apis. Dieser hatte sich seine Sporen als Attentäter bereits 1903
bei der bestialischen Ermordung des Königs Alexander aus der Dynastie Obrenovic verdient,
und das Ziel der Ermordung des österreichischen Thronfolgers war von ihm seit langem
vorbereitet worden. Weiter steht fest, dass der serbische Ministerpräsident Pasic eingeweiht
war. Dass die ganze Aktion nicht ohne Information des russischen Botschafters in Belgrad,
Hartwig, geplant worden sein kann, ist nicht, jedenfalls nicht mehr dokumentiert, kann aber
angesichts der wirklichen Machtverhältnisse in Serbien und der Tatsache, dass ohne russi-
schen Beistand das Attentat für Serbien selbstmörderisch gewesen wäre, vernünftigerweise
nicht bezweifelt werden. Aus Montenegro, dessen König Schwiegervater des Hauptes der
russischen Kriegspartei war, sind zahlreiche weitere Äußerungen überliefert, die ebenfalls
kaum einen Zweifel übriglassen, dass die russische Kriegspartei vorab eingeweiht war.
37
Siehe heute § 13 Abs. 4 VStGB: „Beteiligter einer Tat nach den Absätzen 1 und 2 (scil.
Verbrechen der Aggression) kann nur sein, wer tatsächlich in der Lage ist, das politische oder
militärische Handeln eines Staates zu kontrollieren oder zu lenken.“
Von trüben Quellen und seichten Mündungen des Völkerstrafrechts 1371

im Jahre 1999 ultimativ vorgelegte Rambouillet-Abkommen38 oder den nach dem


Attentat vom 11. September von den USA geführten Afghanistan-Krieg als Ver-
gleichsmaßstab nimmt. Dabei ist gerade die Parallele des Afghanistan-Kriegs zur
österreichischen Kriegserklärung an Serbien frappierend, weil der identische Kriegs-
grund in der Nichtauslieferung bzw. -verfolgung mutmaßlicher Terroristen bestand.
Und nachdem ein sozialdemokratischer Verteidigungsminister den Angriffskrieg
gegen Afghanistan und dessen anschließend unter deutscher militärischer Beteili-
gung erfolgende Besetzung damit gerechtfertigt hat, Deutschlands Freiheit werde
am Hindukusch verteidigt39, lässt es sich schwerlich anders als mit Ignoranz erklären,
dass jüngst ein sozialdemokratischer Außenminister anlässlich einer geradezu Fake-
news-Niveau40 erreichenden offiziellen Falschdarstellung der zentralen Parameter
der deutschen Wiedervereinigung auch noch gleich ein implizites Bekenntnis zur
These der deutschen Alleinschuld abgelegt hat.41
3. Die vollständige Berechtigung des österreichischen Ultimatums bildet deshalb
einen Brennpunkt für die Beurteilung der Kriegsschuldfrage, ihre weitgehende Ver-
nachlässigung in der Historiographie eine der schlimmsten Unterlassungssünden.
Dem weiteren Verlauf der Julikrise von gerade noch einmal 8 Tagen mit den Instru-
menten der strafrechtlichen Zurechnungslehre nachzugehen, würde den Rahmen des
vorliegenden Themas sprengen und muss einer anderen Gelegenheit vorbehalten
bleiben. Es sei nur so viel angemerkt, dass von den 4 entscheidenden weiteren Sta-
tionen bis zum endgültigen Kriegsausbruch – der konkludente französische Blanko-
scheck an Russland beim Besuch Poincarés in Sankt Petersburg, der anschließende
russische Blankoscheck an Serbien unter gleichzeitiger (!!), verheimlichter Vorbe-
reitung der Generalmobilmachung, die Teil-Ablehnung des Ultimatums unter sofor-
tiger Kriegserklärung seitens Österreich-Ungarns sowie schließlich die russische Ge-
neralmobilmachung auch gegenüber Deutschland – 3 von der Entente und nur 1 von
den Mittelmächten zu verantworten war, während der übrig bleibende moralische
Vorwurf gegen das Deutsche Reich, nach dem Scheitern der Hoffnungen auf eine Lo-
kalisierung des Krieges Österreich-Ungarn nicht rasch und energisch genug zurück-
gehalten zu haben, in ähnlicher Form auch die Politik Greys gegenüber Russland
trifft. Jedenfalls lässt sich die zur Grundlage des Versailler Vertrags gemachte
These von der Alleinschuld Deutschlands so oder so nicht halten.
38
Zitiert bei Clark (Fn. 30), S. 585.
39
Regierungserklärung des Kabinetts Schröder/Fischer, Verteidigungsminister Struck,
vom 11. 3. 2004.
40
Zur Gefahr der Fake news speziell durch Amtsträger Schünemann, GA 2019, 620, 631 ff.
41
„Namensbeitrag“ des Außenministers Heiko Maas vom 2. 11. 2019 „Wo waren Sie, als
die Berliner Mauer fiel“, der die ausschlaggebende freie Entscheidung der Sowjetunion, die
Wiedervereinigung stattfinden zu lassen, nur nachrangig und verschwommen („Politik von
Glasnost und Perestroika“) erwähnt, die Verhinderungsversuche Frankreichs und Großbri-
tannien ableugnet („Geschenk Europas an Deutschland“) und implizit auch die Kriegsschuld
am 1. Weltkrieg anerkennt („am Ende eines Jahrhunderts, in dem Deutsche unvorstellbares
Leid … gebracht hatten); www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/maas-30-jahre-mauerfall/
2262374, abgerufen am 7. 11. 2019.
1372 Bernd Schünemann

V. Die Haltung des Kaisers


1. Im letzten Teil meiner Überlegungen möchte ich mich noch kurz den auf die
Person Wilhelm II. bezogenen Vorwürfen zuwenden. Sie lassen sich noch eindeutiger
widerlegen als die Alleinschuldthese. Wilhelm ist in der Vorkriegszeit auch interna-
tional ganz überwiegend nach seinen Handlungen als Vertreter einer Friedenspolitik
gewürdigt worden, auch wenn seine vielfachen unkontrollierten Bramarbasierungen,
die immer wieder in ein sinnloses Säbelrasseln führten, auf der Oberfläche den ge-
genteiligen Eindruck vermitteln konnten. Es kommt hinzu, dass er sich durchweg für
Vertragstreue und die Friedensoption entschied, obwohl juristisch das Deutsche
Reich im Recht und nach damaligem Völkerrecht durchaus zur Führung eines Krie-
ges berechtigt gewesen war.42 Um nur einige Stichworte zu geben:
a) Seine Entscheidung, den Rückversicherungsvertrag mit Russland 1890 nicht zu
verlängern, der in der Geschichtsschreibung allgemein als ein Kardinalfehler ange-
sehen worden ist, beruhte auf der Erkenntnis, dass dieser Vertrag dem gleichzeitig
bestehenden Zweibund mit Österreich-Ungarn widersprach und also eine offenkun-
dige Doppelzüngigkeit der Geheimdiplomatie Bismarcks repräsentierte.
b) Die sog. Krüger-Depesche 1896, mit der er damals die englische Öffentlichkeit
maßlos erzürnte, war juristisch vollauf berechtigt, denn er gratulierte darin zur Nie-
derschlagung eines nichtswürdigen Anschlages, den eine Kreatur von Cecil Rhodes,
dem damaligen Ministerpräsidenten der Kap-Republik, namens Jameson gegen die
Autonomie der Buren-Republik unternommen hatte.
c) In der ersten Marokko-Krise 1905 hatte sich Wilhelm instinktiv dagegen ge-
wehrt, durch die spektakuläre Landung in Tanger den deutschen Widerspruch
gegen die Verletzung des Abkommens von Madrid durch Frankreich (!) zu manifes-
tieren, was in diesem Fall einen richtigen politischen Instinkt verriet, aber keinesfalls
rechtlich erzwungen war. Wilhelm gab dann wie auch in vielen anderen Fällen gegen-
über seinem Kanzler Bülow nach, worin sich die im Grunde selbst bramarbasierende
Redeweise vom persönlichen Regiment widerlegt.
d) Erst recht befand sich die Reichsregierung im Recht, als Frankreich die Akte
von Algeciras verletzte und sie 1911 hiergegen mit der Entsendung des Kanonen-
boots Panther in den Hafen von Agadir protestierte. Die innerhalb des britischen Ka-
binetts abgesprochene, berüchtigte sog. Manor House-Rede des damaligen Schatz-
kanzlers Lloyd George mit ihrer freilich verhüllten Kriegsdrohung war deshalb ein
rechtswidriger Stein des Anstoßes, auf den Wilhelm zunächst schäumend reagierte,
ohne aber die durchaus möglichen Folgerungen zu ziehen. Wilhelm war zur Führung
eines (damals durchaus Erfolg versprechenden) Krieges nicht bereit, was er dann
freilich wiederum mit großsprecherischen Formeln zu überdecken versucht hat.

42
Vgl. nur Clark (Fn. 30), S. 534 f.; Münkler (Fn. 30), S. 80; Kießling (Fn. 34), S. 37, 40 f.,
44 f.
Von trüben Quellen und seichten Mündungen des Völkerstrafrechts 1373

e) Bevor ich auf Wilhelms Aktivitäten in der Juli-Krise eingehe, will ich noch kurz
bemerken, dass er am 24. Juli 1905 in den finnischen Schären in persönlichem Ein-
satz ein Defensivbündnis mit dem russischen Zaren ausgehandelt hatte, das auch des-
sen Unterschrift und damit die verbindliche Verpflichtung des autoritären Herrschers
trug, aber auf den Einspruch Frankreichs hin von Russland kassiert wurde.
f) Dass der deutsche Blankoscheck an Österreich, den Wilhelm durchaus nicht
einseitig ausstellte, sondern über den letztlich Bethmann Hollweg entschied, gerade
bei dem vom dynastischen Prinzip tief durchdrungenen Wilhelm keinesfalls als eine
Maßnahme zur Auslösung eines Weltkrieges gemeint war, ist evident. Es war für ihn
unvorstellbar, Monarchien wie Russland und England könnten sich für die serbischen
„Königsmörder“ zu einem Weltkrieg entschließen. Danach wurde Wilhelm auf Nord-
landreise geschickt, weil man in der Wilhelmstraße nicht ohne Grund befürchtete, er
könne sonst wieder, wie man im militärischen Jargon zu sagen pflegte, „abschnap-
pen“ und eine offensive Politik zu früh durchkreuzen.
Die gefährliche Zuspitzung ab dem 23. Juli vollzog sich zunächst völlig ohne
Zutun und Wissen von Wilhelm, der aus eigenem Entschluss vorzeitig von der Nord-
landreise zurückkehrte und dann am 28. Juli vor den Scherben von Bethmann Holl-
wegs Politik stand. Auch dieses Mal war seine Intuition richtig, er schrieb an den
Rand der serbischen Antwort auf das Ultimatum, dass dies eine vorzügliche Leistung
und damit jeder Kriegsgrund fortgefallen sei. Dass die Reichsregierung diese Ent-
scheidung zunächst blockierte und dann nur in abgeschwächter Form weitergab,
kann nicht Wilhelm angelastet werden. Er hat auch danach noch den Versuch ge-
macht, durch direkte Kontaktaufnahme mit dem russischen Zaren den Krieg zu ver-
hindern, was in den zwischen beiden hin- und hergewechselten Telegrammen, den
sog. Nicky-Willy-Telegrammen, einen lebhaften Ausdruck fand.
g) Sein letzter Versuch bestand schließlich darin, wenigstens den Kriegseintritt
Englands zu verhindern, indem er dem jüngeren Moltke als Chef des Generalstabes
die (wegen der Existenz nur noch eines einzigen Aufmarschplanes militärisch nicht
durchführbare) Anweisung gab, zum Angriff nicht gegen Frankreich, sondern gegen
Russland aufzumarschieren und die belgische Neutralität unangetastet zu lassen.
2. Aus alledem ist zu folgern, dass Wilhelm zwar wegen seiner (auf einer tiefen-
psychologisch leicht erklärbaren Neurose beruhenden43) menschlichen Schwächen
sehr leicht als Popanz des deutschen Militarismus aufgebaut werden konnte44, in
den entscheidenden Fragen aber stets den Frieden zu bewahren versucht hat. Ihn
43
S. Röhl, Wilhelm II: die Jugend des Kaisers, 1993, S. 24 ff., 38 ff.
44
Für diese in der Kriegspropaganda naturgemäß zum Exzess gesteigerte Verzeichnung bei
gleichzeitiger medialer „Gentrifizierung“ der britischen Weltmachtpolitik während der Re-
gentschaft Edward VII. in Gestalt der Entente cordiale mit Frankreich und des Ausgleichs mit
dessen Bündnispartner Russland könnte man 2 Möbelstücke als Symbole anführen, nämlich
den von Wilhelm als Sattel ausgestalteten Schreibtischstuhl, auf dem er seine berüchtigten
spontanen Randbemerkungen niederschrieb, und die für die häufigen Besuche Edwards in
Paris eigens konstruierte Sitzgelegenheit, damit er trotz seiner zunehmenden Leibesfülle die
Zärtlichkeiten der dortigen Kokotten genießen konnte.
1374 Bernd Schünemann

als den Hauptschuldigen für den Kriegsausbruch hinzustellen, war und ist eine gro-
tesk falsche Behauptung. Wenn auch den Alliierten bei Ausarbeitung des Versailler
Vertrages nicht sämtliche Interna der deutschen Politik bekannt gewesen sein dürf-
ten, so war doch seine Friedensneigung in der Vorkriegszeit durchaus allgemein be-
kannt, was auch für die Nicky-Willy-Telegramme gilt.

VI. Ergebnis
Das Resultat meiner Überlegungen lässt sich damit wie folgt zusammenfassen:
Sowohl die These von der Alleinschuld Deutschlands als auch Art. 227 des Versailler
Vertrages über die Strafverfolgung Wilhelms II. erweisen sich nicht etwa als Frühfor-
men einer völkerstrafrechtlichen Gerechtigkeit, sondern als ein typisches Beispiel
für ungerechte Siegerjustiz. Und damit schließt sich der Kreis zu meinen eingangs
angestellten Überlegungen. Die trüben Quellen des Völkerstrafrechts bestehen in
der Siegerjustiz des Versailler Vertrages, und die heutige Rechtswirklichkeit ist
von einer gleichmäßigen wie von einer auch nur residual effektiven Rechtsanwen-
dung noch weit entfernt.
Verfolgung und Anklage von Völkerrechtsverbrechen
nach deutschem Recht: wie weit zulässig
und geboten?*
Von Dorothea Magnus

I. Einleitung
Die Legitimation der Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen gehört zu den
schwierigsten und wichtigsten Aufgaben des Völkerstrafrechts. Die Frage, wer
unter welchen Voraussetzungen schwerste Menschenrechtsverletzungen verfolgen
und anklagen kann, scheint für das deutsche Recht § 1 VStGB zu beantworten.
Das in § 1 VStGB geregelte (echte) Weltrechtsprinzip ermöglicht der deutschen Jus-
tiz, bestimmte Verbrechen, welche die internationale Staatengemeinschaft wegen der
Verletzung universal anerkannter Rechtsgüter als strafwürdig ansieht, unabhängig
von Tatort, Nationalität von Täter und Opfer und Tatortrecht zu bestrafen.1 Das Welt-
rechtsprinzip erlaubt mithin die weltweite Verfolgung extraterritorialer Taten unab-
hängig von nationalen Anknüpfungspunkten.2 Dieser Grundsatz überzeugt bei völ-
kerrechtlichen Verbrechen, die schwerste Menschenrechtsverletzungen darstellen
wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, schwere Kriegsverbrechen
und mit Einschränkung auch Verbrechen der Aggression.3 Hier liegt es im Interesse
der Völkergemeinschaft, dass ein universeller Schutz vor solchen Verbrechen be-
steht, unabhängig davon wer, wo, gegen wen eine solche Straftat verübt hat. Der ein-
greifende Staat wird hier nicht nur im eigenen Interesse, sondern im Interesse der

* Dem Jubilar in hoher Wertschätzung und Verbundenheit gewidmet.


1
Vgl. Merkel, in: Jeßberger/Geneuss, Zehn Jahre Völkerstrafgesetzbuch, 1. Aufl. 2013,
45 ff.; Merkel, in: Lüderssen (Hrsg.), Aufgeklärte Kriminalpolitik oder der Kampf gegen das
Böse?, 1998, Bd. 3, S. 237 ff.; zum spezifischen Unrecht der Kernverbrechen und die Be-
deutung der Gesamttat für den Charakter eines Kernverbrechens vgl. Ambos, NStZ 2001, 628;
zur Begründung der „Weltbetroffenheit“ s. Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf
der Grundlage der Kantischen Rechtslehre, 2005, 245 ff.; dies., ZStW 120 (2008), 375, 385 ff.;
dies., Anm. zu BGH, Urt. v. 27. 7. 2017 – 3 StR 57/17, NJW 2019, 2627, 2635.
2
Vgl. O’Keefe, JICJ 2 (2004), 745; Ambos, Internationales Strafrecht, 2011, S. 52; Beh-
rendt, Die Verfolgung des Völkermordes in Ruanda durch internationale und nationale Ge-
richte, 2005, S. 53.
3
Für das Verbrechen der Aggression (§ 13 VStGB) gilt das Weltrechtsprinzip nur einge-
schränkt für deutsche Staatsangehörige oder bei gegen Deutschland gerichteten Taten, vgl.
Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 8. Aufl. 2018, § 17 Rn. 39 a.
1376 Dorothea Magnus

gesamten Staatengemeinschaft tätig, indem er Sicherheitsinteressen aller Staaten


verteidigt und Verstöße gegen universell anerkannte Rechtsgüter verfolgt. Dahinter
steht der Gedanke internationaler Solidarität bei der Strafverfolgung völkerrechtli-
cher Verbrechen.4 Nur vor diesem Hintergrund kann der Eingriff in die Souveränität
anderer Staaten, der zwingend mit einer Verfolgung von ausländischen Straftätern
von Völkerrechtsverbrechen im Ausland ohne Anknüpfungspunkt zum Inland ein-
hergeht, gerechtfertigt werden. Bei anderen Völkerstraftaten versagt hingegen
diese Begründung.5
Reinhard Merkel hat sich ganz grundlegend mit der Legitimation der Weltrechts-
pflege auseinandergesetzt.6 Dabei hat er in einem seiner Werke das Augenmerk auf
die normative Überwindung fremdstaatlicher Souveränität gerichtet (1. Legitimati-
onsbedingung) und zudem die Rechtfertigung eines ius puniendi gegenüber dem Be-
schuldigten in den Blick genommen (2. Legitimationsbedingung). Beides begründet
er überzeugend aus einem rechtphilosophisch-normativen Blickwinkel. Die folgen-
de Untersuchung möchte hierauf Bezug nehmen und zwei Fragestellungen nachge-
hen, die sich im Zusammenhang der Legitimation der Weltrechtspflege stellen. Die
erste bezieht sich auf die Legitimationsmöglichkeit des Weltrechtsprinzips an sich
und im Hinblick auf Tatortstaat, Täterstaat und den Beschuldigten. Insbesondere
bei der Legitimation gegenüber dem Beschuldigten ist zu hinterfragen, ob Gründe
des verfahrensrechtlichen Schutzes des Beschuldigten ein von Merkel konstatiertes
Legitimationsdefizit überwinden können. Die zweite Fragestellung, die Gegenstand
der folgenden Untersuchung ist, zielt demgegenüber auf eine andersgelagerte Pro-
blematik. Sie betrifft die Stellung des Weltrechtsprinzips im Völkerstrafjustizsystem.
Gibt es andere Prinzipien, die vorrangig vor dem Weltrechtsprinzip zu berücksich-
tigen sind? Darf ein Drittstaat die Strafverfolgung auf Grundlage des Weltrechtsprin-
4
BT-Drs. 14/8524 v. 13. 3. 2002 (Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Völkerstraf-
gesetzbuches), 37.
5
Näher hierzu Magnus, D., in: Mankowski/Wurmnest (Hrsg.), FS U. Magnus, 2014,
693 ff.; Ambos, NStZ 2013, 46; Kreß, International Criminal Law, in: The Max Planck En-
cyclopedia of Public International Law 2008; Cryer/Wilmshurst, in: Cryer et al., An Intro-
duction to Criminal Law and Procedure, S. 4 f.; Gaeta, in: Cassese (Hrsg.), The Oxford
Companion to International Criminal Justice, 2009, S. 69; Luban, Fairness to Rightness: Ju-
risdiction, Legality, and the Legitimacy of International Criminal Law, in: Besson/Tasioulas
(Hrsg.), The Philosophy of International Law, 2010, 572.
6
S. Merkel, Zu Legitimation der Weltrechtspflege, in: Jeßberger/Geneuss, Zehn Jahre
Völkerstrafgesetzbuch, 1. Aufl. 2013, 45 ff.; ders., Zur universalen Jurisdiktion bei völker-
rechtlichen Verbrechen im Zusammenhang mit dem Weltrechtsprinzip des § 6 StGB, in:
Lüderssen (Hrsg.), Aufgeklärte Kriminalpolitik oder der Kampf gegen das Böse?, 1998, Bd. 3,
S. 237 ff.; ders., Zu Kants Friedensschrift und der Idee eines Völkerstrafgerichtshofs, in:
Merkel/Wittmann (Hrsg.), Zum ewigen Frieden, Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer
Idee von Immanuel Kant, 1996, 309 ff.; ders., Zur Legitimation der Weltrechtspflege, in:
Jeßberger/Geneuss, Zehn Jahre Völkerstrafgesetzbuch, 2013, 45 ff.; ders., Zu Gründen für den
Ausschluss der Strafbarkeit im Völkerstrafrecht, in: ZStW 2002, 437 ff.; ders., Zur Interven-
tion der NATO in Libyen, ZIS 10/2011, 771 ff. sowie Die Zeit Nr. 14, 31. 3. 2011, S. 15, sowie
Die Zeit Nr. 37, 8. 9. 2011, S. 60; ders., Zum Völkermord und seiner Leugnung, FAZ 26. 1.
2012, S. 8.
Verfolgung und Anklage von Völkerrechtsverbrechen nach dt. Recht 1377

zips erst betreiben, wenn Tatort-, Täter- oder Opferstaat dazu nicht bereit oder nicht
in der Lage sind? Beide Fragestellungen gehen auf den Ursprung der Frage zurück,
wie weit der Schutz vor schwersten Menschenrechtsverletzungen reichen soll.

II. Legitimation des universalen Schutzes


vor Völkerrechtsverbrechen
Die folgenden Ausführungen beziehen sich allein auf das echte Weltrechtsprinzip
des § 1 VStGB, nicht hingegen auf das bedingte Universalitätsprinzip des § 6 StGB,
der einen Katalog von Straftaten gegen besonders schützenswerte Rechtsgüter ent-
hält und durch dessen globale Ausdehnung dem Prinzip stellvertretender Strafrechts-
pflege folgt.7 Nicht Gegenstand der folgenden Ausführungen sollen auch die Voraus-
setzungen sein, die das deutsche Recht an Völkerrechtsverbrechen iSd §§ 6 ff.
VStGB stellt.
Zunächst zu den Legitimationsmöglichkeiten des Weltrechtsprinzips im Allge-
meinen und im Besonderen gegenüber dem Tatort- und Täterstaat und dem Beschul-
digten:

1. Normative, völkerrechtsimmanente Legitimationsbegründung

Das Weltrechtsprinzip des § 1 VStGB soll gewährleisten, dass Deutschland stets


in der Lage ist, die Verbrechen, die in die Zuständigkeit des IStGH (Internationalen
Strafgerichtshofs)8 fallen, selbst zu verfolgen9 und damit seine internationalen Ver-
pflichtungen aus dem IStGH-Statut umzusetzen.10 Auf diese Weise verwirklicht das
VStGB den Grundsatz der Komplementarität, der besagt, dass der IStGH, der die na-
tionale Strafgerichtsbarkeit nur ergänzen soll, ein Verfahren nicht betreiben darf,
wenn in einem Staat bereits Ermittlungen laufen oder eine Strafverfolgung in
Gang gesetzt wurde (Art. 17 IStGH-Statut).11 Nach dieser Vorschrift kann der Inter-
nationale Strafgerichtshof nur tätig werden, wenn die zuständigen Stellen „nicht wil-
lens oder nicht fähig“ sind, das Verfahren ernsthaft zu betreiben. Nach § 1 VStGB ist
Deutschland fähig, Verfahren nach seinem Recht zu betreiben. Die Form der univer-
salen Strafverfolgung sieht sich jedoch dem Vorwurf ausgesetzt, dass sie den Nicht-

7
Zur Unterscheidung von echtem und bedingtem Weltrechtsprinzip s. Magnus, D., in:
Mankowski/Wurmnest (Hrsg.), FS U. Magnus, 2014, 693 ff. sowie Weigend, in: Arnold u. a.
(Hrsg.), FS Eser, 2005, 955 ff.
8
Vgl. zur Idee eines Völkerstrafgerichtshofs Kant, Zum ewigen Frieden, Akademieaus-
gabe Bd. VIII, 1912, 355 sowie dazu Merkel, in: Merkel/Wittmann (Hrsg.), Zum ewigen
Frieden, Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant, 1996, 309 ff.
9
BT-Drs. 14/8524 v. 13. 3. 2002, 12; Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Rn. 438.
10
Safferling, in: Münchener Kommentar, Einleitung zum StGB, 3. Aufl. 2018, Rn. 6.
11
Safferling, Internationales Strafrecht, 2011, 318.
1378 Dorothea Magnus

einmischungsgrundsatz des Art. 2 UN-Charta verletzt, der die Souveränität der Staa-
ten garantieren soll.12 Indem das Weltrechtsprinzip die Verfolgung von Auslandsta-
ten durch Staaten erlaubt, die keine inländischen Anknüpfungspunkte (genuine links)
zum Tatort, Täter oder Opfer haben, greift deren Strafverfolgung unmittelbar in die
Souveränität des betroffenen Staates ein, der unmittelbare Gerichtsbarkeit über die
Sache hat. Dem Vorwurf wird jedoch mit dem Argument begegnet, es könne bei An-
gelegenheiten, die keine innere Angelegenheit eines Staates, sondern der gesamten
Staatengemeinschaft der Welt seien, keine nationalen Souveränitätsrechte geben.
Das Weltrechtsprinzip solle vor solchen Verbrechen schützen, deren Begehung
„den Frieden und die Sicherheit der Menschheit verletzt oder gefährdet.“13 Wo es
aber keine nationalen Souveränitätsrechte gebe, könnten diese auch nicht von ein-
greifenden Staaten verletzt werden.14 Wenn also der Nichteinmischungsgrundsatz
gar nicht erst tangiert sei, so bedürfe es auch keines nationalen Anknüpfungspunktes,
um die Strafverfolgung durch einen Staat zu legitimieren.15 Nach ganz h.L. scheidet
daher in diesen Fällen ein Verstoß gegen das Nichteinmischungsprinzip aus.16 Diese
Legitimation der universalen Verfolgung extraterritorialer Staaten ist offensichtlich
völkerrechtsimmanent. Sie zieht ihre Begründung aus dem Sinn der Norm des § 1
VStGB selbst, nicht indes anderen übergeordneten Prinzipien.
Eine weitere normative Legitimationsbegründung folgt daraus, dass Verbrechen
dieser Art zugleich die internationale Sicherheit im Sinne der Art. 39, Art. 42 der
VN-Charta gefährden. Selbst wenn ein Staat innerhalb seiner eigenen Landesgren-
zen ein Völkerrechtsverbrechen begeht, gefährdet er die internationale Sicherheit.
Bliebe ein so schwerwiegender Normbruch folgenlos, würde das früher oder später
zu einer Normerosion führen, welche auch einen Effekt auf die innere Sicherheit an-
derer Staaten haben würde.17

12
BGHSt 34, 334, 338; 45, 64, 68 f.; NStZ 1994, 232, 233; BGHStV 1999, 240; BGH
NStZ 1999, 236; so auch BayObLG NJW 1998, 392, 395; Krajweski, Völkerrecht, 2017, § 8
Rn. 37 ff.
13
Scharf, LCP 64 (2001), 80; Ambos, Internationales Strafrecht, S. 53; Weigend, in: Fest-
schrift für Eser, S. 967, 975.
14
Eser, in: FS Meyer-Goßner, 2001, S. 19; Neubacher, Kriminologische Grundlagen einer
internationalen Strafgerichtsbarkeit, 2005.
15
S. Scharf, LCP 64 (2001), 76; Broomhall, NELR 35 (2001), 400; Höpfel, FS Eser, 2005,
S. 773; Kreicker, in: Eser/Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Ver-
brechen, 2003, S. 252; Ambos, Internationales Strafrecht, S. 53.
16
Werle, JZ 2000, 755, 759; Werle/Jeßberger, JuS 2001, 141,142; Jeßberger, JR 2001, 432,
434; Lagodny, JR 1998, 475, 478; Lagodny/Nill-Theobald, JR 2000, 202 ff.; Wirth/Harder,
ZRP 2000, 144, 147; Kreß, NStZ 2000, 617, 624; Eser, FS BGH IV, 2000, S. 26 ff.; ders., FS
Meyer-Goßner, 2001, S. 14 ff.; ders., FS Trechsel, 2002, S. 228 ff.; Triffterer, FS Roxin, 2001,
S. 1415, 1444; Ambos/Wirth, in: Fischer/Kreß/Lüder (Hrsg.), International and National Pro-
secution of Crimes under International Law, 2001, S. 779; Satzger, NStZ 2002, 125,131; i.E.
auch Keller, FS Lüderssen, 2002, S. 434.
17
S. hierzu Merkel, in: Jeßberger/Geneuss, Zehn Jahre Völkerstrafgesetzbuch, 53 ff.
Verfolgung und Anklage von Völkerrechtsverbrechen nach dt. Recht 1379

2. Rechtsphilosophische Legitimationsbegründung

Die Zulässigkeit der Intervention von Drittstaaten auf der Grundlage des Welt-
rechtsprinzips lässt sich auch aus einem rechtsphilosophischen Blickwinkel begrün-
den. Merkel entwickelt eine Legitimationsbegründung aus der politischen Philoso-
phie Thomas Hobbes. Seine Grundthese ist, dass eine universale Zuständigkeit für
Eingriffe in den Innenraum einzelstaatlicher Souveränität sich nur aus dem (partiel-
len) Verlust dieser Souveränität begründen lasse.18 Merkel zieht diese These aus dem
Grundsatz, der seit Thomas Hobbes in der politischen Philosophie und Rechtstheorie
dominiert, dass „sich der Staat als rechtliche und faktische Zwangsordnung vor sei-
nen Bürgern zu legitimieren hat, nicht dagegen umgekehrt diesen ihre Subjektstel-
lung erst von Gnaden jenes zuteil wird, wie es der aristotelisch geprägten allgemei-
nen Auffassung vom Gemeinwesen noch bis in die beginnende Neuzeit entsprach“.19
Fehle es an dieser (demokratischen) Legitimation des Staates gegenüber seinen Bür-
gern oder missbrauche der Staat, d. h. die normative und exekutive Machtordnung,
seine Stellung als Garant des inneren Friedens, so führe das zu einer Aufhebung sei-
ner inneren Legitimität (gegenüber seiner Bevölkerung). Der Staat, der zum Feind
seiner eigenen Bürger (hostis populi) werde, werde jedoch auch nach außen illegitim.
Dies sei sinnbildlich in Fällen des Völkermordes an (wesentlichen Teilen) seiner Be-
völkerung der Fall. Da der Staat seine Souveränität aus seiner Legitimation gegen-
über seinen Bürgern ableite, führe deren Verlust auch zu einem Verlust seiner Sou-
veränität gegenüber anderen Staaten. Mit anderen Worten, die rechtswidrige Gewalt,
die ein hostis populi gegenüber seinen Bürgern einsetze, entfalte ihre destruktive
Wirkung auch nach außen und führe zur externen Illegitimität seiner selbst.
Nur aus diesem Grund lasse sich dann ein zwangsweiser Eingriff durch Drittstaa-
ten und eine Einmischung in den Innenraum fremder Souveränität legitimieren. Er
stellt die Grundlage der Legitimierung des Weltrechtsprinzips durch normative Über-
windung fremdstaatlicher Souveränität dar.
Diese Begründung Merkels unterscheidet allerdings nicht zwischen dem Tatort-
staat, in dem die Intervention stattfindet und dem sie gegenüber einerseits zu legiti-
mieren ist, und zum anderen gegenüber dem Täterstaat, dessen Bürger die Kernver-
brechen, ggfs. auch in Drittstaaten begehen. Eine Legitimation gegenüber dem Op-
ferstaat hingegen scheint aus sich heraus schon schlüssig und bedarf keiner näheren
Begründung. Die Legitimationsbegründungen gegenüber Tatort- und Täterstaat kön-
nen jedoch unterschiedlich ausfallen.

3. Legitimation gegenüber dem Tatortstaat

Es lässt sich bereits fragen, ob eine Legitimation der Verfolgung von Völker-
rechtsverbrechen gegenüber dem Tatortstaat überhaupt erforderlich ist. Sind die
18
Merkel, in: Jeßberger/Geneuss, Zehn Jahre Völkerstrafgesetzbuch, 50 ff.
19
Merkel, in: Jeßberger/Geneuss, Zehn Jahre Völkerstrafgesetzbuch, 50.
1380 Dorothea Magnus

Taten weder ihm noch seinen Bürgern zuzuordnen, so scheint die Legitimation ent-
behrlich. Dagegen spricht jedoch, dass es keineswegs selbstverständlich ist, dass ein
Staat eine internationale Intervention auf seinem Boden dulden muss. Diese könne
wie die Interventionen in Syrien und Libyen in jüngster Zeit gezeigt haben, durchaus
zu einer Anfachung der Kriegshandlung statt zu deren – schnellem – Ende führen.20
Allerdings werden solche Interventionen durch den UN-Sicherheitsrat und ggfs. in
Abstimmung mit dem betroffenen Land beschlossen, so dass bereits auf diesem
Wege eine Legitimation erreicht werden kann. Wie fragwürdig eine solche jedoch
sein kann und wieweit sie sich von ursprünglichen Beschlüssen in ihren katastropha-
len Folgen entfernen kann, sei hier nur angedeutet, soll aber nicht Teil der vorliegen-
den Ausführungen sein.21
In Bezug auf den Tatortstaat könnte man behaupten, die Legitimationsbegrün-
dung Merkels beschränke sich zu sehr auf das Verhältnis des Staates zu seinen eige-
nen Bürgern. Sie überzeuge daher besonders in Fällen des Bürgerkriegs im eigenen
Land oder des Völkermordes an Teilen der eigenen Bevölkerung. Doch verliert diese
Begründung bei den anderen Kernverbrechen des VStGB an Überzeugungskraft. So
muss es beispielsweise bei Kriegsverbrechen an Personen in einem internationalen
bewaffneten Konflikt gem. § 8 ff. VStGB, keineswegs zwingend sein, dass sich diese
Kriegsverbrechen gegen die eigene Bevölkerung richten; typischerweise trifft es die
gegnerische Seite. Ein Legitimationsdefizit des Staates gegenüber der eigenen Be-
völkerung kann sich allenfalls dann ergeben, wenn der Staat bewusst zu Kriegsver-
brechen aufgerufen hatte und dabei bewusst die potentiellen Opfer, die erwartungs-
gemäß auch aus den eigenen Reihen bei Kriegsverbrechen verletzt werden, in Kauf
genommen hatte. Weder ist aber eine solche Zahl bezifferbar, noch entspricht es der
Realität, dass die Exekutive zu Kriegsverbrechen aufruft, und es entlastet auch nicht
die Straftäter von ihrer Verantwortung, für die unter ihrer Befehlsgewalt oder durch
ihre Hand begangenen Kriegsverbrechen. Eine Überwindung fremdstaatlicher Sou-
veränität durch den Verlust interner und externer Legitimität lässt sich, wollte man
Merkels Legitimationsbegründung in diesem Sinne verstehen, hierauf nicht gründen.
Eine ähnliche Argumentation hat auch für die anderen Kernverbrechen zu gelten, so-
fern sie sich gegen fremde Nationen richten. Sieht man mit Merkel die Aufhebung der
externen Legitimität (des Staates gegenüber anderen Staaten) nur darin möglich, dass
der Staat seine primäre Aufgabe, Garant des inneren Friedens zu sein, welche seit
Hobbes eine Zwangs(rechts)ordnung erst zu rechtfertigen vermag, aufhebt, so
wäre diese Funktion keineswegs gefährdet, wenn ein solcher Staat Kriegsverbrechen,
Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord auf fremdem Grund und
Boden und gegenüber einem fremden Staatsvolk durchführte (bzw. zurechenbar
durchführen lässt). Eine solche Argumentation setzt aber ein zu enges Verständnis
20
S. zur Intervention der NATO in Libyen Merkel, ZIS 10/2011, 771 ff.; ders., in: Die Zeit
Nr. 14, 31. 3. 2011, S. 15; ders., in: Die Zeit Nr. 37, 8. 9. 2011, S. 60.
21
S. ausführlich Merkel zum Völkermord und seiner Leugnung, FAZ 26. 1. 2012, S. 8; zur
Intervention der NATO in Libyen, ZIS 10/2011, 771 ff.; ders., in: Die Zeit Nr. 14, 31. 3. 2011,
S. 15; ders., in: Die Zeit Nr. 37, 8. 9. 2011, S. 60.
Verfolgung und Anklage von Völkerrechtsverbrechen nach dt. Recht 1381

dessen voraus, was als innerer Frieden zu verstehen ist. In diesem Sinne darf man
Merkel nicht missverstehen.
Versteht man den Begriff des inneren Friedens weiter, so kann sehr wohl ein Staat
den inneren Frieden seiner Bevölkerung gefährden, wenn er auf seinem Territorium
Kriegsverbrechen bzw. andere Völkerrechtsverbrechen duldet, auch wenn diese von
anderen Mächten begangen werden. Seine Pflicht Garant für den inneren Frieden zu
sein, kann auch in einem Unterlassen der Friedenssicherung bestehen. Der Schutz der
Opfer vor Völkerrechtsverbrechen und der Zivilbevölkerung gehört zur ureigensten
Aufgabe der Friedenssicherung. Eine eigene Begehung der Kriegsverbrechen oder
Verbrechen gegen die Menschlichkeit u. a. durch aktive Täterschaft etwa des eigenen
Militärs ist konsequenterweise nicht Voraussetzung für eine Intervention von außen
im Sinne des § 1 VStGB. Die Intervention von Drittstaaten, die vom Weltrechtprinzip
gedeckt ist, lässt sich im Merkelschen Sinne gegenüber dem Staat legitimieren, der
innerhalb seiner Landesgrenzen ein Völkerrechtsverbrechen geschehen lässt. So ge-
sehen gelingt eine Legitimation der Intervention gegenüber dem Tatortstaat auf der
Grundlage des Weltrechtsprinzips auch aus dem genannten rechtsphilosophischen
Blickwinkel.

4. Legitimation gegenüber dem Täterstaat

Gegenüber dem Täterstaat, dessen Bürger die Kernverbrechen als Täter kraft An-
ordnung oder aus eigenem Antrieb in einem anderen Land begehen, lassen sich ver-
schiedene Überlegungen zur Legitimation des Einschreitens einer Drittmacht anstel-
len. Der innere Frieden der Bevölkerung als ganzer, d. h. auch der Daheimgebliebe-
nen scheint nicht gefährdet, wenn Straftäter im Ausland Völkerrechtsverbrechen be-
gehen. Auch sind diese Völkerrechtsverbrechen nicht per se dem Staat zuzurechnen,
sofern sie nicht von ihm angeordnet wurden. Eine partielle Legitimation darüber zu
erreichen, dass auch die Sicherheit der eigenen Soldaten gefährdet ist, die Völker-
rechtsverbrechen begehen, überzeugt ebenfalls nicht. Damit lässt sich die rechtsphi-
losophische Legitimation, die gegenüber dem Tatortstaat als Begründung sinnvoll
war, nicht gleichermaßen auch auf den Täterstaat übertragen. Doch könnte man be-
reits in jedem massiven Rechtsbruch wie er in Form von schwersten Menschen-
rechtsverletzungen vorliegt, auch eine Verletzung der Rechtsordnung des Täterstaa-
tes annehmen, die dessen inneren Frieden bedroht. Nur auf diesem Wege und in Ver-
bindung mit der völkerrechtsimmanenten Legitimationsbegründung ließe sich der
rechtsphilosophische Legitimationsgedanke hier verwenden. Eine Verfolgung und
Anklage der Straftäter des Täterstaats lassen sich damit in überzeugender Weise
wohl nur auf die oben unter II.1. geschilderte normative Überwindung fremdstaatli-
cher Souveränität stützen.
1382 Dorothea Magnus

5. Legitimation gegenüber dem Beschuldigten

Von zentraler Bedeutung ist die Frage nach der Legitimationsmöglichkeit eines
ius puniendi gegenüber dem Beschuldigten. Merkel hat auf diese bis dahin weitge-
hend unerörterte Frage aufmerksam gemacht und sie normativ-rechtsphilosophisch
beantwortet. Zunächst zu der Fragestellung: Warum darf gerade der mit Zwangsge-
walt intervenierende Staat den Beschuldigten verfolgen, anklagen und ggfs. bestra-
fen? Was rechtfertigt gerade seine Strafgewalt über den Beschuldigten?
Merkels Grundthese, die er an Hobbes’ Gedanken aus dem Leviathan anlehnt, lau-
tet folgendermaßen: „Dass nämlich ein Staat den Gehorsam seiner Bürger gegenüber
seiner (gegebenenfalls strafbewehrten) Normenordnung nur soweit zwangsrechtlich
einfordern kann, wie er ihnen auch deren Schutz garantiert“.22 Das bedeutet also, dass
nur derjenige, der „im genuinen Sinn bestrafen will, nämlich zur (kontrafaktischen)
Durchsetzung der Geltung einer verletzten Norm, der muss sich legitimieren können
als Garant für eben diese Normgeltung in ihrer ganzen Reichweite, also nicht nur für
ihr sanktionierendes, sondern auch für ihr protektives Element“.23 Verfolgt und klagt
nun ein Drittstaat mit Zwangsgewalt auf Grundlage des Weltrechtsprinzips den Be-
schuldigten an, so ließe sich mit dieser Begründung eine Bestrafung des Beschuldig-
ten nicht rechtfertigen. Der Drittstaat, der den Bürger eines fremden Landes seiner
Strafgewalt unterwerfen will, hat diesem vor dem Rechtsbruch keinen Schutz ge-
währt. Das protektive Element, dass ein Staat seinen Bürgern durch die Garantien
seiner Rechtsordnung gewährt, würde fehlen, während allein das sanktionierende
Element übrigbliebe, dass allein für eine Legitimation der gewaltsamen Intervention
nicht ausreicht. Merkel zieht daraus den Schluss einer Legitimationslücke der An-
wendung von Zwangsgewalt gegenüber dem Beschuldigten.
Die Annahme einer Legitimationslücke setzt offensichtlich voraus, dass der Be-
strafende dem Bestraften vorher „den Schutz der Norm garantiert haben muss, unter
deren strafende Rechtsfolge er ihn jetzt beugt“.24 Mit Norm kann hier nur die Nor-
mierung des Völkerrechtsverbrechens selbst gemeint sein (wenngleich auch die
Rechtsordnung als Ganzes nicht unplausibel wäre, denn auch die anderen Normen
seiner Rechtsordnung garantiert der bestrafende Staat dem Beschuldigten vor dem
Rechtsbruch nicht). Nun ließe sich freilich fragen, welchen Schutz sich der Täter
eines Völkerrechtsverbrechens von einer vorherigen Garantie der Strafvorschriften
durch den ihn später strafenden Staat versprechen kann. Allenfalls kann dieser po-
tentielle Schutz, nicht selbst Opfer eines Kernverbrechens zu werden, dessen
Täter ungestraft bleibt, zur positiven Normverdeutlichung beitragen und abschre-
ckend auf Täter und Allgemeinheit wirken. Doch ist zum einen nicht gesagt, dass
in der Mehrzahl der Völkerrechtsverbrechen die Täterstaaten nicht ebenfalls in
22
Merkel, in: Jeßberger/Geneuss, zehn Jahre Völkerstrafgesetzbuch, 56.; Hobbes, Levia-
than oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, 2011, 21.
Kap. 212 f.
23
Merkel, in: Jeßberger/Geneuss, zehn Jahre Völkerstrafgesetzbuch, 56.
24
Merkel, in: Jeßberger/Geneuss, Zehn Jahre Völkerstrafgesetzbuch, 56.
Verfolgung und Anklage von Völkerrechtsverbrechen nach dt. Recht 1383

ihrer Rechtsordnung solche Verbrechen unter Strafe gestellt haben und damit den be-
sagten Schutz gewähren. Begeht bspw. ein zum IS übergelaufener französischer
Staatsbürger ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Syrien, so könnte, falls
Frankreich die Strafverfolgung ablehnt, Syrien nicht willens oder fähig ist, zu ver-
folgen und auch der IStGH seine Zuständigkeit ablehnt, Deutschland per Weltrechts-
prinzip intervenieren.25 In diesem Fall würde der Täterstaat (Frankreich) dem Be-
schuldigten den Schutz vor Völkerrechtsverbrechen durch seine Rechtsordnung,
d. h. sein eigenes Völkerstrafrecht gewähren, selbst wenn er die Strafverfolgung
und Sanktionierung nicht selbst übernimmt. Keinesfalls ist der Beschuldigte eines
Völkerrechtsverbrechens rechtlos gestellt und zwar auch nicht im Verhältnis zum
verfolgenden Drittstaat. Denn sofern die Verfahrensrechte und Justizgrundrechte
bei Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen gewahrt sind, gewährt auch der Dritt-
staat dem Beschuldigten Schutz. Würde Deutschland in dem genannten Beispiel
die Strafverfolgung (nach seinem eigenen Recht, §§ 1, 7 VStGB!) übernehmen,
müsste es alle seine rechtsstaatlichen Garantien eines fairen Verfahrens, insbesonde-
re den Anspruch auf rechtliches Gehör, das Recht zur Verteidigung, die Unabhängig-
keit seiner Gerichte, die Freiheitsgarantien, das Verbot der Doppelbestrafung, das
Verbot des Einsatzes von verbotenen Vernehmungsmethoden, das Verbot von Aus-
nahmegerichten, das Verbot der Todesstrafe sowie alle anderen für Beschuldigte ein-
schlägigen Rechte dem Beschuldigten zuerkennen und im Verfahren anwenden.
Zudem sind für die Auslegung des VStGB insbesondere auch das IStGH Statut her-
anzuziehen, das eine Verfahrens- und Beweisordnung (Rules of Procedure and Evi-
dence) sowie Verbrechensmerkmale (Elements of Crimes), enthält, die für die Ver-
tragsstaaten wie Deutschland, die das IStGH Statut ratifiziert haben, bindend
sind.26 Ein Defizit des rechtlichen Schutzes des Beschuldigten lässt sich mithin
nur insoweit konstatieren, als nicht Deutschland (als die intervenierende Drittmacht)
bzw. der IStGH, sondern allein Frankreich den materiellen Schutz vor der Tat ge-
währt hatte. Der französische Staat gewährt allen seinen Bürgern und damit auch sei-
nen potentiellen und künftigen Völkerrechtsverbrechern bereits vor deren Taten den
vollen Schutz des materiellen Völkerstrafrechts. Nimmt man den formellen Rechts-
schutz des deutschen Rechts hinzu, so kann man von einer Lücke im Rechtschutz des
Beschuldigten nicht ernsthaft sprechen.

25
Zur Rangfolge des Territorialitäts-, aktiven und passiven Personalitätsprinzips, sowie
Weltrechtsprinzips s. sogleich unter III.
26
Für die Auslegung der Vorschriften des VStGB sind nicht nur das IStGH-Statut selbst,
sondern auch das Völkergewohnheitsrecht (s. Art. 25 GG) und insb. die Spruchpraxis des
Ruanda- und Jugoslawien- Strafgerichtshofs heranzuziehen; vgl. nur IStGH-Statutsgesetz
BGBl. 2002 II, S. 1393. Hätte der IStGH hingegen auf zweiter Stufe die Strafverfolgung
übernommen, wäre der Beschuldigte auch hier nicht rechtlos gestellt, da das IStGH-Statut eine
Verfahrens- und Beweisordnung sowie Verbrechensmerkmale etc. enthält. Werle und Jeßber-
ger lehnen hingegen eine Bindungswirkung der Elements of Crimes aus Gründen der Ver-
handlungsgeschichte des IStGH-Statuts als auch mit Hinweis auf den Wortlaut des Art. 9
Abs. 1 IStGH-Statut ab, s. Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Rn. 218.
1384 Dorothea Magnus

Geht man auf den Ursprung des kontraktualistischen Arguments Hobbes’ zurück,
nach dem „die Verpflichtung der Untertanen gegen den Souverän nur so lange dauert,
wie er sie auf Grund seiner Macht schützen kann, und nicht länger“27, so wäre bei
enger Auslegung eine Übertragung der Gewalt des Strafen von einem Staat auf
einen anderen nicht möglich. Auch eine stellvertretende Strafrechtspflege wäre
strenggenommen nicht möglich. Das ist gewiss richtig, wenn man Hobbes so ver-
steht, dass sich der Bürger unter die Strafgewalt seines Staates nur begibt, wenn
er im Gegenzug auch dessen Schutz durch eben diese Rechtsordnung erhält. Denn
andernfalls würde er einen massiven Rechtsverlust erleiden, wenn ihm die (eigene)
Rechtsordnung den Schutz nicht gewährt, ihn aber gleichzeitig ihrer Gewalt des Stra-
fens unterwirft. So lässt sich auch – im oben bereits unter I. ausgeführten Sinne – das
Unterwerfen des Bürgers unter eine Zwangsrechtsordnung nur rechtfertigen, wenn
diese ihm im Gegenzug auch Schutz im Sinne eines inneren Friedens sichert. Die
Entrechtlichung des Bürgers, die durch dieses kontraktualistische Argument verhin-
dert werden soll, kann jedoch faktisch ein Drittstaat auffangen. So ließe sich im oben
genannten Beispiel keineswegs von einer Entrechtlichung des Beschuldigten eines
Völkerrechtsverbrechens sprechen. Weder verwirkt er seine Rechte, noch verliert
er faktisch gesehen seinen materiellen und formellen Rechtsschutz. Versteht man
Hobbes in einem weiter gefassten Sinne und trägt dem Umstand Rechnung, dass
im 17. Jahrhundert auch das Prinzip der stellvertretenden Rechtspflege im heutigen
rechtsstaatlichen Sinne noch nicht entwickelt war, so ließe sich das konstatierte Le-
gitimationsdefizit überwinden.
Merkel freilich wählt einen anderen Weg. Er greift auf die Konzeption von John
Rawls „non-ideal theory“ aus dessen Opus Magnum „A Theory of Justice“ zurück.28
Diese zeigt einen Ausweg aus einem Dilemma einer nicht-idealen Wirklichkeit. Bei
empirisch-praktischen ebenso wie bei normativen Problemen nicht anders auflösba-
rer Widersprüche ist auch die nicht-ideale Variante hinnehmbar, „weil ihre einzige
verfügbare Alternative im langwierigen Übergang bis zur Verwirklichung des Pos-
tulats einer idealen Theorie noch weitaus weniger akzeptabel erscheint“.29 Übertra-
gen auf die Legitimation der Weltrechtspflege gegenüber dem Beschuldigten bedeu-
tet das, dass die von Merkel festgestellte Legitimationslücke gegenüber dem Be-
schuldigten hinzunehmen ist, da im Sinne einer non-ideal theory die einzig verfüg-
bare Alternative, nämlich die Nichtverfolgung von Völkerrechtsverbrechen mit einer
normdestruktiven Folge weit weniger akzeptabel wäre. Diese „nicht-ideale“ Abhilfe
aus einem Dilemma sei aber auf Ausnahmefälle normativen Notstands zu beschrän-

27
Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen
Staates, 2011, 21. Kap. 212 f.
28
Rawls, A Theory of Justice, 1971, 244 ff.
29
S. bei Merkel, in: Jeßberger/Geneuss, Zehn Jahre Völkerstrafgesetzbuch, 59, den Ver-
weis auf Rawls, A Theory of Justice, 1971, 244, 245 („Though the specific conditions of our
world – the status quo – do not determine the ideal conception of (that long term goal), those
conditions do affect the specific answers to questions of non-ideal theory. For these are
questions of transition“).
Verfolgung und Anklage von Völkerrechtsverbrechen nach dt. Recht 1385

ken. Ein solcher dürfte indes bei Verbrechen, die die Menschheit angehen, regelmä-
ßig gegeben sein. Gleichwohl ist eine enge Anwendung des Weltrechtsprinzips ge-
boten.

III. Begründung des Weltrechtsprinzips


als Teil eines Völkerstrafjustizsystems
Nachdem sich der erste Teil dieses Beitrags mit der Legitimation des universalen
Schutzes vor schwersten Menschenrechtsverletzungen befasst hat, wendet sich der
zweite Teil der Frage nach der Stellung des Weltrechtsprinzips im Völkerstrafjustiz-
system zu. Welchen Platz in der Hierarchie völkerrechtlicher Prinzipien nimmt das
echte Weltrechtsprinzip ein? Darf ein Drittstaat die Strafverfolgung auf der Grund-
lage des Weltrechtsprinzips erst betreiben, wenn Tatort-, Täter- oder Opferstaat dazu
nicht bereit oder nicht in der Lage sind?

1. Das 3-Stufen-Modell i.V.m. dem Komplementaritätsprinzip

Im deutschem Recht herrschend ist das 3-Stufen-Modell, welches eine Rangfolge


völkerrechtlicher Prinzipien vorsieht. Es wird vom BVerfG und herrschenden Teilen
der Lehre vertreten und vom deutschen Gesetzgeber weitgehend voraussetzt.30 Das
BVerfG fordert eine „gestufte Zuständigkeitspriorität“ für Auslandstaten, die unter
das Völkerstrafgesetzbuch fallen: „Primär sind zur Verfolgung der Tatortstaat und
der Heimatstaat von Täter oder Opfer, sekundär der Internationale Strafgerichtshof
und gegebenenfalls sonstige internationale Strafgerichte und tertiär die nach dem
Weltrechtsprinzip vorgehenden Drittstaaten berufen“. Dieses 3-StufenModell ver-
meidet die Straflosigkeit schwerster Menschenrechtsverletzungen, indem es einen
umfassenden Schutz durch seine drei Ebenen vorsieht. Ambos, der eine Hierarchie
der völkerrechtlichen Anknüpfungspunkte (genuine links) bereits für das deutsche
Strafanwendungsecht entwickelt hatte31, sieht hierin die Einbettung des deutschen
Rechts in ein „Völkerstrafjustizsystem“ verwirklicht.32
Auf der ersten Stufe soll das Territorialitäts- und Personalitätsprinzip Priorität mit
der Folge haben, dass der Tatort-, Täter- oder Opferstaat die Strafverfolgung vorran-
gig zu betreiben habe. Diese Einteilung erscheint auf den ersten Blick sinnvoll. Sie
entspricht auch der Rangfolge, welche § 153f StPO im Hinblick auf die Gerichtsbar-
keiten erkennen lässt (§ 153f Abs. 1, Abs. 2 Nr. 4 StPO), sowie der ratio legis des

30
BVerfG, NStZ 2011, 353, 354; ebenso Ambos, in: Münchener Kommentar, StGB,
3. Aufl. 2018, § 1 VStGB Rn. 21 ff.; Weißer, GA 2012, 416, 430; vgl. auch Werle/Jeßberger,
JZ 2002, 724, 733; Weigend, GS Vogler, 2004, 208; ders., FS Eser, 2005, 973, 976; BT-
Drs. 14/8524, S. 37.
31
Ambos, in: Münchener Kommentar, StGB, Vor § 3 Rn. 63 ff.
32
Ambos, in: Münchener Kommentar, StGB, 3. Aufl. 2018, § 1 VStGB Rn. 2.
1386 Dorothea Magnus

Gesetzgebers.33 So soll nach der Gesetzesbegründung zur Einführung des Völker-


strafgesetzbuches Vorrang vor der Gerichtsbarkeit eines Drittstaats neben dem
IStGH auch der Tatort-, Täter- oder Opferstaat haben.34 Für diese Einteilung spricht,
dass der Tatortstaat die Beweismittel besser gewinnen und die Strafgewalt über sein
Territorium ausüben kann, um dort den sozialen Frieden wiederherzustellen. Das
Territorialitätsprinzip genießt auch im Strafanwendungsrecht (§ 3 StGB) oberste
Priorität vor den anderen Prinzipien. Seine hervorgehobene Stellung in dem 3-Stu-
fen-Modell erscheint daher gerechtfertigt. Auch der Opferstaat hat ein großes Inter-
esse, die Verfolgung und Verurteilung des Täters zu betreiben, um dem Opfer Genug-
tuung und Ausgleich zu verschaffen, steht aber häufig vor der Schwierigkeit, den
Täter selbst zu erfassen und im Ausland dessen eigene Strafverfolgung zu betreiben.
Und schließlich hat der Täterstaat ein Interesse an der Bestrafung seiner Staatsange-
hörigen entsprechend ihrer Schuld, wobei dieses Interesse eingeschränkt sein kann,
wenn es sich um Teile des eigenen Machtregimes handelt.35 Einschränkend wird vor-
geschlagen und gefordert, dass der Tatort-, Täter- oder Opferstaat zur Strafverfol-
gung „willens und fähig“ sein muss.36 Gleichwohl sollte die (Letzt-)Entscheidung
über die Effektivität der nationalen Strafverfolgung auch hier dem IStGH zustehen,
wie dies auch im Rahmen des Art. 17 IStGH-Statuts der Fall ist.37
Auf zweiter Stufe soll die Verfolgung und Aburteilung durch den IStGH als vor-
rangig gegenüber einer Aburteilung durch einen Drittstaat per Weltrechtsprinzip
sein. Dadurch sollen „diplomatische Spannungen zwischen den beteiligten (gleich-
geordneten) Staaten vermieden werden“.38 Auch vermag der IStGH den „Gedanken
der internationalen Solidarität am besten zur Geltung zu bringen und verfügt typi-

33
BVerfG, Beschl. v. 1. 3. 2011 – 2 BvR 1/11, NStZ 2011, 353, 354: „Für Fälle mit In-
landsbezug, das heißt wenn der Beschuldigte sich im Inland aufhält und/oder Deutscher ist,
ergibt sich im Umkehrschluss aus § 153f Abs. 1 StPO eine grundsätzliche Verfolgungspflicht.
Liegt keinerlei Inlandsbezug vor (vgl. § 153 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StPO), ,kann insbesondere‘
von der Strafverfolgung abgesehen werden, sofern ein internationales Gericht oder der Tatort-
oder Heimatstaat von Täter oder Opfer die Verfolgung übernimmt (§ 153f Abs. 2 S. 1 Nr. 4
StPO)“.
34
BT-Drs. 14/8524, 38 („ein unmittelbar betroffener und damit vorrangig zuständiger
Staat“); ebenso AEVStGB, 87; Werle/Jeßberger, JZ 2002, 724, 733.
35
Vgl. zu dieser Begründung BT-Drs. 14/8524, 38; Ambos, in: Münchener Kommentar,
StGB, § 1 VStGB Rn. 23.
36
Vgl. hierzu sogleich im Folgenden; s. auch zur Übertragung des Komplementaritäts-
prinzips auf die zwischennationale Ebene Ambos, in: Münchener Kommentar, § 1 VStGB
Rn. 23; Weigend, GS Vogler, 2004, 208; ders., FS Eser, 2005, 973, 976; Werle/Jeßberger, JZ
2002, 724, 733; Eser, FS Trechsel, 2002, 219; Keller, GA 2006, 25, 34 ff.; Kurth, ZIS 2006,
81, 84; Geißler/Selbmann, HuV-I 2007, 160, 164; Ryngaert, CLF 19 (2008), 153, 157 ff., 176,
178.
37
Vgl. hierzu Verhoeven, NYIL 23 (2002), 3, 20; Ambos, in: Münchener Kommentar,
StGB, § 1 VStGB Rn. 22.
38
Ambos, in: Münchener Kommentar, StGB, § 1 VStGB Rn. 24.
Verfolgung und Anklage von Völkerrechtsverbrechen nach dt. Recht 1387

scherweise über weiterreichende Möglichkeiten, Beweismittel im Wege der straf-


rechtlichen Zusammenarbeit zu erlangen“.39
Auf dritter Stufe greift nach diesem Modell das echte Weltrechtsprinzip ein, wenn
weder der Tatort-, Opfer-, oder Täterstaat zur Strafverfolgung bereit oder in der Lage
ist, noch der IStGH die Strafverfolgung übernimmt. Dann eröffnet das Weltrechts-
prinzip Drittstaaten wie Deutschland, die es kodifiziert haben, die Möglichkeit,
die Strafverfolgung zu betreiben. Das echte Weltrechtsprinzip fungiert nach diesem
Modell auf dritter Stufe als Auffangtatbestand, um Menschenrechtsverbrechen nicht
unbestraft zu lassen. Es ermöglicht verfolgungsbereiten Drittstaaten, ihre Strafge-
walt auf die völkerrechtlichen Kernverbrechen auszudehnen. Sind mehrere Drittstaa-
ten dazu bereit, hat grundsätzlich der das Verfahren zuerst eröffnende Staat den Vor-
rang.40
Dieses 3-Stufen-Modell lehnt sich stark an das Komplementaritätsprinzip des
Art. 17 IStGH-Statut an. Dieses besagt, dass die Strafverfolgung durch den IStGH
unzulässig ist, wenn ein Staat, der Gerichtsbarkeit darüber hat, Ermittlungen oder
eine Strafverfolgung durchführt, es sei denn, der Staat ist nicht willens oder nicht
in der Lage, die Ermittlungen oder die Strafverfolgung ernsthaft aufzunehmen.
Nicht willens, die Strafverfolgung durchzuführen, ist ein Staat nach Art. 17 Abs. 2
IStGH-Statut insbesondere dann, wenn er das Verfahren führt bzw. geführt hat,
um die betroffene Person vor strafrechtlicher Verantwortlichkeit für die Völker-
rechtsverbrechen zu schützen. Ebenso zeigt sich der mangelnde Wille eines Staates
zur Strafverfolgung darin, dass er das Verfahren ungerechtfertigterweise so verzögert
oder verzögert hat oder es nicht unabhängig, nicht unparteiisch oder auf andere Weise
so führt oder geführt hat, dass dies auf die fehlende Absicht schließen lässt, den Be-
troffenen vor Gericht zu stellen. Nicht fähig ein Strafverfahren zu führen, ist nach
Art. 17 Abs. 3 IStGH-Statut ein Staat, der wegen des völligen oder weitgehenden Zu-
sammenbruchs oder der mangelnden Verfügbarkeit seines innerstaatlichen Justizsys-
tems nicht in der Lage ist, des Beschuldigten habhaft zu werden oder die erforder-
lichen Beweismittel und Zeugenaussagen zu erlangen oder aus anderen Gründen
nicht in der Lage ist, ein Verfahren zu führen.
Gleichwohl lassen sich trotz dieser konkreten gesetzlichen Vorgaben Fälle den-
ken, in denen ein Staat willens und fähig ist, die Strafverfolgung zu übernehmen,
und trotzdem eine Aburteilung in seinem Land und nach seinem Recht nicht geboten
erscheint. Ist ein Unrechtsstaat zulässigerweise in der Lage, ein Völkerrechtsverbre-
chen seiner Strafgewalt zu unterwerfen? Prima facie läge der Wille zur Strafverfol-
gung vor, sofern er das Verfahren nicht verzögert, es nicht parteiisch und nicht ab-
hängig führt und auch die betroffene Person vor strafrechtlicher Verantwortlichkeit
für die Völkerrechtsverbrechen nicht ungerechtfertigterweise zu schützen beabsich-
tigt. Auch wäre ein solcher Staat fähig die Strafverfolgung zu betreiben, sofern sein
39
BT-Drs. 14/8524, 37.
40
Hall, in: Lattimer/Sands (Hrsg.), Justice for Crimes Against Humanity, 1. Aufl. 2003, 59
Ambos, in: Münchener Kommentar, StGB, § 1 VStGB Rn. 24.
1388 Dorothea Magnus

innerstaatliches Justizsystem nicht zusammengebrochen ist und er grundsätzlich in


der Lage ist, des Beschuldigten habhaft zu werden und die erforderlichen Beweismit-
tel und Zeugenaussagen zu erlangen. Und doch erscheint es nicht geboten, einem
Staat, der etwa die Todesstrafe eingeführt hat, drakonische Strafen bei Vergehen vor-
sieht, einen unmenschlichen Strafvollzug hat und keine verfassungs- und verfahrens-
rechtlichen Garantien vorsieht, die einem Rechtsstaat entsprechen, die Strafverfol-
gung zu überlassen. Das IStGH Statut sieht deshalb die schon erwähnte Verfahrens-
und Beweisordnung vor (Rules of Procedure and Evidence), die den IStGH und alle
Vertragsstaaten bindet.41 Hinter diesen Regelungen müssen abweichende bzw. wi-
dersprechende Verfahrensordnungen als subsidiär zurücktreten.42 Eine andere Auf-
fassung wäre völkerrechtswidrig und würde nicht nur gegen das IStGH-Statut, son-
dern auch gegen die UN-Grundrechtecharta und andere völkerrechtliche Regelungen
verstoßen. Zudem können Unrechtsstaaten von der Möglichkeit der Ratifizierung des
IStGH-Statuts ausgeschlossen werden. Ob – und wenn ja, wie – diese Hürden für das
3-Stufen-Modell, für die sie weder entwickelt noch vorgeschlagen wurden, gelten, ist
fraglich. Inwieweit sich das Komplementaritätsprinzip, das für den IStGH entwickelt
wurde, tatsächlich auf ein umfassendes Völkerstrafjustizsystem übertragen lässt, soll
im Folgenden untersucht werden.

2. Kritische Würdigung des 3-Stufen-Modells und der Übertragung


des Komplementaritätsprinzips

Das 3-Stufen-Modell fordert, dass der IStGH vorrangig vor Drittstaaten die Straf-
verfolgung und Anklage von Völkerrechtsverbrechen übernehmen soll. Das ist aus
mehreren Gründen problematisch. Der Vorrang der Strafverfolgung durch den IStGH
soll „diplomatische Spannungen zwischen den beteiligten (gleichgeordneten) Staa-
ten“ vermeiden und auch Art. 17 Abs. 1 a, b IStGH Statut soll einer solch restriktiven
Auslegung des Komplementaritätsprinzips nicht entgegenstehen, „denn damit soll in
erster Linie dem tatnäheren Tatort-, Täter- oder Opferstaat eine Vorrangzuständigkeit
eingeräumt, nicht aber ein tatentfernter Drittstaat zur Strafverfolgung ermuntert wer-
den“.43 Dass die Verfolgung durch den IStGH vorrangig vor der der Drittstaaten sein
soll, die auf Grundlage des Weltrechtsprinzips vorgehen, ist fragwürdig.44 Aus dem
Wortlaut des Art. 17 IStGH Statut ergibt sich dieser Vorrang nicht. Vielmehr deutet
41
Triffterer/Ambos/Broomhall, Rome Statute, 3. Aufl. 2016, Art. 51 Rn. 35 ff.; Werle/
Jeßberger, Völkerstrafrecht, Rn. 221.
42
S. Art. 51 Abs. 5 IStGH Statut; vgl. auch IStGH, Beschl. v. 17. 1. 2006 (situation in
DRC, PTC), para. 47.
43
So bereits BT-Drs. 14/8524, 37 und BVerfG, NStZ 2011, 253, 254; ebenso Ambos, in:
Münchener Kommentar, StGB, § 1 VStGB Rn. 24.
44
Bereits Art. 18 Abs. 2 IStGH-Statut könnte darauf hindeuten, jedenfalls den Drittstaaten
die Strafverfolgung zu überlassen, die Zugriff auf den Beschuldigten haben, indem dem
Aufenthaltsstaat des Beschuldigen Gelegenheit dazu zu geben ist, das Verfahren vor nationale
Gerichte zu ziehen, s. hierzu und zum Verhältnis einer „Weltstrafverfolgung“ durch den
IStGH, Weißer, in: Jeßberger/Geneuss, Zehn Jahre Völkerstrafgesetzbuch, 65, 71.
Verfolgung und Anklage von Völkerrechtsverbrechen nach dt. Recht 1389

der Wortlaut die grundsätzliche Subsidiarität des IStGH im Verhältnis zur nationalen
Strafjustiz an. Die Formulierung in Art. 17 Abs. 1a IStGH Statut eröffnet die Straf-
gewalt des IStGH gegenüber jedem „Staat, der Gerichtsbarkeit darüber hat“ nur,
wenn dieser nicht willens oder in der Lage ist, die völkerrechtlichen Kernverbrechen
zu verfolgen.45 Staaten, die in diesem Sinne Gerichtsbarkeit über Kernverbrechen
haben, können mithin auch Drittstaaten sein. Haben diese – wie Deutschland –
das Weltrechtsprinzip in ihrem Recht verankert und sind sie willens und fähig, die
Strafverfolgung zu betreiben, so eröffnet das ihre Gerichtsbarkeit und zwar vorrangig
vor dem IStGH.46 Ob eine sehr restriktive Auslegung, die Drittstaaten aus dem An-
wendungsbereich des Art. 17 IStGH Statut ausklammert, dem Wortlaut gerecht wird,
ist zumindest hinterfragbar. Insoweit ist das Stufenverhältnis, das eine Subsidiarität
des IStGH verneint, angreifbar.
Doch auch andere Gründe können gegen das Stufenmodell sprechen. Wenn der
IStGH auf zweiter Stufe seine Zuständigkeit verneint, kann das zwei Gründe
haben: Entweder hält er sich nicht für zuständig, weil einerseits der Tatortstaat
nicht das IStGH-Statut ratifiziert hat bzw. ein anderer Staat vorrangige Gerichtsbar-
keit hat oder er hält andererseits die Voraussetzungen für ein Völkerrechtsverbrechen
für nicht gegeben. Im zweiten Fall sperrt das die grundsätzliche Verfolgungsmöglich-
keit eines Drittstaats. Denn lehnt bereits der IStGH die Voraussetzungen für ein Völ-
kerrechtsverbrechen (auf zweiter Stufe) ab, so kann ein Drittstaat (auf dritter Stufe)
im Gegensatz dazu nicht die Voraussetzungen eines Völkerrechtsverbrechens anneh-
men. Dies würde einen eklatanten Widerspruch zur Entscheidung des IStGH bedeu-
ten. Wesentlich in diesem Zusammenhang ist die Frage, wer die Einschätzungsprä-
rogative hat, ob ein Völkerrechtsverbrechen vorliegt. Ist die Sichtweise des IStGH
maßgeblich bzw. gilt hier ein objektivierter Standard? Oder kann der Drittstaat
nach Ablehnung der Völkerrechtswidrigkeit durch den IStGH den Sachverhalt
(ohne neue Erkenntnisse) dennoch als Völkerrechtsverbrechen einstufen und nun
selbst verfolgen? Wäre eine Verfolgung nach dem Weltrechtsprinzip schlichtweg
nicht mehr möglich, dann würde damit die dritte Stufe des Modells wohl in vielen
Fällen nicht zum Zuge kommen.
Ist hingegen die Sichtweise des Drittstaats maßgeblich, so dürfte aber weder
seine Definition des Völkerrechtsverbrechens noch seine Auslegung wesentlich
von der des IStGH Statuts abweichen. Die Legitimation einer eigenen Auslegung
der Völkerrechtsstraftaten, etwa die Annahme eines Kriegsverbrechens bei einfa-
cher Nötigung einer nach dem humanitären Völkerrecht zu schützenden Person,
wäre völkerrechtswidrig. Zwingend notwendig ist daher stets eine völkerrechts-
konforme Auslegung. Die Einschätzungsprärogative, ob ein Völkerrechtsverbre-
chen vorliegt, liegt damit beim IStGH bzw. der völkerrechtskonformen Auslegung
45
Der IStGH wird daher auch als „Notfall- und Reservegericht“ bezeichnet, s. Ambos, in:
Münchener Kommentar, StGB, § 1 VStGB Rn. 21.
46
Anders die h.M. im Schrifttum vgl. Kreß, NStZ 2000, 617, 625; KK-StPO/Schoreit,
6. Aufl., § 153f Rn. 3; Ambos, in: Münchener Kommentar, StGB, § 1 VStGB Rn. 23; offen
gelassen BVerfG, NStZ 2011, 353, 354.
1390 Dorothea Magnus

in seinem Sinne. So sind beispielsweise die Legaldefinitionen der Kernverbrechen


des IStGH-Statuts für die Auslegung der Kernverbrechen des VStGB im konkreten
Fall maßgeblich.47 Fällt mithin auf der zweiten Stufe des Stufenmodells die Ent-
scheidung gegen die Verfolgung eines Völkerrechtsverbrechens, kann ein Drittstaat
seine Gerichtbarkeit nicht mehr ausüben. Der Weg über die dritte Stufe ist dann ver-
sperrt, sofern nicht neue Erkenntnisse den Sachverhalt in einem ganz anderen Licht
erscheinen lassen. Fällt indes der IStGH auf der zweiten Stufe die Entscheidung für
eine Verfolgung des Völkerrechtsverbrechens, so kann er nach dem Stufenmodell
vorrangig seine Gerichtsbarkeit ausüben. Auch in diesem Fall wäre der Weg über
die dritte Stufe nicht mehr begehbar, sofern der IStGH die Verfolgung dann selbst
übernimmt. In diesen Fällen kommt man über die zweite Stufe nicht hinaus.
Damit nach dem 3-Stufen-Modell die dritte subsidiäre Stufe nicht häufig leerläuft,
muss ein Drittstaat berechtigt sein, Völkerrechtsverbrechen anzuklagen und zu ver-
folgen, wenn sich ein gegenüber der ablehnenden Entscheidung des IStGH hinrei-
chend veränderter Sachverhalt ergeben hat (und der IStGH dies nicht selbst aufgreift)
bzw. der IStGH die für zulässig und nötig erachtete Strafverfolgung nicht selbst über-
nimmt. Gleiches gilt auch, wenn der IStGH die „situation“ als nicht so gravierend
ansieht, dass er selbst eingreifen müsse, sondern einem Drittstaat die Strafverfolgung
überlässt. Zudem kann die Strafverfolgung auf Ebene des IStGH durch das Veto an-
derer Länder scheitern. So scheiterte bspw. bislang die Strafverfolgung von Tätern
aus dem Syrien-Konflikt an dem Veto Russlands und Chinas.48
Insgesamt ist die Zulässigkeit der Intervention durch einen Drittstaat unter Beru-
fung auf das Weltrechtsprinzip damit als deutliche Ausnahme einzustufen.
Nach der völkerrechtsimmanenten und normativ-rechtsphilosophischen Begrün-
dung des Weltrechtsprinzips lässt sich der strikte Ausnahmecharakter dieses Prinzips
zumindest rechtfertigen (s. o.).
Für das 3-Stufen Modell in diesem Sinn spricht auch der Verweis auf die Rang-
folge der Gerichtsbarkeiten in § 153f Abs. 1, Abs. 2 Nr. 4 StPO und die Begründung
des Gesetzgebers. Nach dessen Willen soll Vorrang vor der Gerichtsbarkeit eines
Drittstaats neben dem IStGH auch der Tatort-, Täter- oder Opferstaat haben. So
heißt es wörtlich in der Begründung zum Gesetzentwurf zur Einführung des Völker-
strafgesetzbuches: „In erster Linie sind zur Verfolgung der Tatortstaat und der Hei-
matstaat von Täter oder Opfer sowie ein zuständiger internationaler Gerichtsof be-
rufen; die (an sich gegebene) Zuständigkeit von Drittstaaten ist demgegenüber als
Auffangzuständigkeit zu verstehen, die Straflosigkeit vermeiden, aber im Übrigen
die primär zuständigen Gerichtsbarkeiten nicht unangemessen zur Seite drängen
soll“.49 Dies impliziert zwar auf den ersten Blick eine Zwei-Stufen-Folge mit der Ge-
richtbarkeit des IStGH und Tatort-, Täter- oder Opferstaats auf der ersten Stufe und
47
OLG Stuttgart (5. Strafsenat), Urt. v. 28. 09. 2015 – 5 – 3 StE 6/10, BeckRS 2015,
118449, Rn. 1228.
48
Safferling/Petrossian, JA 2019, 401 (408).
49
BT-Drs. 14/8524, 37.
Verfolgung und Anklage von Völkerrechtsverbrechen nach dt. Recht 1391

des Drittstaats nachrangig auf der zweiten Stufe. Zum Rangverhältnis von IStGH und
Tatort-, Täter- und Opferstaat äußert sich die Gesetzesbegründung freilich nicht ex-
plizit. Sie stellt lediglich fest: „dem Tatortstaat und dem Heimatstaat von Täter oder
Opfer gebührt der Vorrang wegen ihres besonderen Interesses an der Strafverfolgung
und wegen der regelmäßig gegebenen größeren Nähe zu den Beweismitteln“.50 Ob
damit der Vorrang gegenüber dem IStGH oder der Vorrang vor der subsidiären Straf-
verfolgung durch Drittstaaten gemeint ist, bleibt undeutlich. Mit Blick auf Art. 17
Abs. 1a IStGH-Statut liegt es jedoch deutlich näher, die Subsidiarität der Gerichts-
barkeit des IStGH gegenüber jener der Tatort-, Täter- und Opferstaaten anzunehmen.
Der deutsche Gesetzgeber hat sich in der Begründung zum Gesetzentwurf zur Ein-
führung eines Völkerstrafgesetzbuches jedenfalls nicht gegen das 3-Stufen-Modell
für ein Völkerstrafjustizsystem ausgesprochen. Dessen oben ausgeführte Vorzüge
sind unstreitig. Es hat deshalb auch bei uns seinen berechtigten Platz. Doch bleiben
die vorstehend erörterten Differenzierungen zu beachten.
Die Vollzugspraxis zeigt, dass auf der Grundlage des 3-Stufen Modells in nur sehr
seltenen Fällen Drittstaaten von ihrer Strafverfolgungsmöglichkeit Gebrauch ge-
macht haben. Das überhaupt erste VStGB-Verfahren, das in Deutschland mit
einem erstinstanzlichen Urteil abschloss, erging am 28. 9. 2015 vor dem OLG Stutt-
gart – also 13 Jahre nach Erlass des VStGB – und betraf die Beihilfe zu Kriegsver-
brechen an der kongolesischen Bevölkerung und Rädelsführerschaft in einer auslän-
dischen terroristischen Vereinigung (FDLR).51 Die Angeklagten hatten 20 Jahre in
Deutschland gelebt und teilweise von Deutschland aus agiert, so dass die Strafver-
folgungsbehörden in diesem Fall nicht von ihrem Ermessen nach § 153f StPO Ge-
brauch gemacht haben, die Strafverfolgung einzustellen52. Eine echte Entscheidung
zum Weltrechtsprinzip ist hierin nicht zu sehen, da auch die Mitgliedschaft in einer
ausländischen terroristischen Vereinigung gem. §§ 129a,129b StGB verfolgt und an-
geklagt wurde, die in Tateinheit zu dem Vorwurf der Beteiligung an Kriegsverbre-
chen stand, und für die das Weltrechtsprinzip nicht gilt. In seiner jüngsten Entschei-
dung zur Leichenschändung als Kriegsverbrechen im Syrienkonflikt hat der BGH
eine Strafbarkeit von Leichenschändungen nach § 8 Abs. 1 Nr. 9 VStGB angenom-
men.53 Die Besonderheit der Entscheidung liegt darin, dass der BGH eine Annex-
kompetenz zu § 1 VStGB bejaht hat. Statt eine näher liegende Gesetzeskonkurrenz
für die mitverwirklichten Körperverletzungsdelikte anzunehmen, weitet der BGH
die Zuständigkeit der deutschen Strafgerichtsbarkeit nach dem Weltrechtsprin-

50
BT-Drs. 14/8524, 37.
51
OLG Stuttgart (5. Strafsenat), Urt. v. 28. 09. 2015 – 5 – 3 StE 6/10, BeckRS 2015,
118449.
52
Zwar durchbrechen die §§ 153c und 153 f StPO das Legalitätsprinzip; in Fällen, in denen
sich der Beschuldigte aber bereits im Inland aufhält – wofür bereits eine Durchreise ausrei-
chen soll –, besteht jedoch eine Ermittlungs-und Verfolgungspflicht, s. BT-Drs. 14/8524, 38.
53
BGH, Urt. v. 27. 7. 2017 – 3 StR 57/17, NJW 2019, 2627.
1392 Dorothea Magnus

zip durch die Annahme einer Annexkompetenz deutlich aus.54 Indem er das Welt-
rechtsprinzip auf neben den Völkerrechtsverbrechen verwirklichte Delikte erstreckt,
verzichtet er auch bezüglich dieser Delikte auf einen Inlandsbezug. Das widerspricht
der Beschränkung des Weltrechtsprinzips auf die völkerrechtlichen Kernverbrechen
und ist entsprechend kritisch zu sehen. Diese Tendenz der jüngsten Rechtsprechung
zielt auf eine Ausweitung des Weltrechtsprinzips, das seiner Art nach bislang subsi-
diär und in der Praxis eine Ausnahme war. Allerdings können aktuelle Entwicklun-
gen vor allem im Zusammenhang des bewaffneten Konflikts in Syrien dazu führen,
dass das VStGB in nationalen Strafverfahren an Bedeutung gewinnt. Ob die Recht-
sprechung die Rolle des Weltrechtsprinzips weiter ausdehnen wird, wird die zukünf-
tige Rechtsprechungsentwicklung zeigen.

IV. Zusammenfassende Schlussbetrachtung


Ausgangspunkt der Überlegungen war die grundsätzliche Frage, wie weit die Le-
gitimation des universalen Schutzes vor schwersten Menschenrechtsverletzungen
reichen soll. Dafür relevant war zum einen die Frage nach den Legitimationsmög-
lichkeit des Weltrechtsprinzips an sich sowie im Hinblick auf den Tatortstaat, den
Täterstaat und den Schutz des Beschuldigten. Zum anderen war die Frage von Be-
deutung, welche Stellung das Weltrechtsprinzip im Völkerstrafjustizsystem ein-
nimmt.
Die normtheoretische Legitimation des echten Weltrechtsprinzips gelingt gegen-
über dem Tatortstaat, dem Täterstaat und dem Beschuldigten auf unterschiedliche
Weise. Neben völkerrechtsimmanenten Begründungsansätzen sind rechtsphiloso-
phisch-normative Ansätze zur Legitimationsbegründung sinnvoll. Reinhard Merkel
hat diese in Teilen seines Werkes überzeugend entwickelt. Für eine Legitimation der
Strafverfolgung aufgrund des Weltrechtsprinzips zieht Merkel die politische Philo-
sophie Thomas Hobbes’ heran. Gegenüber dem Tatortstaat erscheint die Idee Hob-
bes’ gerechtfertigt, dass ein Staat seine innere Legitimität (gegenüber seiner Bevöl-
kerung) verliere, wenn er seine Stellung als Garant des inneren Friedens missbrau-
che, die auch zum Verlust seiner äußeren Legitimität gegenüber anderen Staaten füh-
ren kann. Ob hingegen diese Idee Hobbes’ ein Legitimationsdefizit eines ius
puniendi gegenüber dem Völkerrechtsverbrecher erklären kann, ist fraglich. Hier
scheint sich die Legitimationslücke durch einen umfassenden materiellen und for-
mellen Rechtsschutz im Völkerstrafjustizsystem schließen zu lassen.
Die Frage nach der Stellung des Weltrechtsprinzips im Völkerstrafjustizsystem
führte zu dem im deutschen Recht vorherrschenden 3-Stufen-Modell. Danach darf
ein Drittstaat die Strafverfolgung per Weltrechtsprinzip erst betreiben, wenn Tatort-,

54
S. hierzu kritisch Gierhake, Anm. zu BGH, Urt. v. 27. 7. 2017 – 3 StR 57/17, NJW 2019,
2627, 263; vgl. auch Weigend, in: Münchener Kommentar StGB 3. Aufl. 2018, § 2 VStGB
Rn. 3, 7; Jeßberger, HRRS 4/2013, 119, 121; NK-StGB/Böse, 5. Aufl. 2017, § 6 Rn. 6 m.w.N.
Verfolgung und Anklage von Völkerrechtsverbrechen nach dt. Recht 1393

Täter- oder Opferstaat dazu nicht bereit oder nicht in der Lage sind und auch der
IStGH seine an sich gegebene Zuständigkeit nicht wahrnimmt, etwa aus Überlas-
tungsgründen, nicht wahrnehmen kann oder durch ein Veto an der Strafverfolgung
gehindert ist. Keine Drittstaatzuständigkeit besteht dagegen, wenn der IStGH den
Tatbestand eines Völkerrechtsverbrechens verneint hat und auch keine neuen Er-
kenntnisse zu einer hinreichend veränderten Beurteilung geführt haben. Dass
damit der Anwendungsbereich des Weltrechtsprinzpips recht beschränkt ist, ist
durchaus so gewollt. Zu Recht soll das Weltrechtsprinzip Ausnahmecharakter
haben. Gleichwohl hat sich gezeigt, dass das 3-Stufen-Modell weiterer Differenzie-
rung bedarf. Die Gerichtsbarkeit des IStGH auf zweiter Stufe stellt zwar eine erheb-
liche Hürde dar, die Drittstaaten aber berechtigt sein müssen, zu überwinden.55 Die
bislang weitgehende Bedeutungslosigkeit des Weltrechtsprinzips in der Strafverfol-
gungspraxis dürfte sich dann auch ändern. Freilich bleibt die Situation, dass politisch
mächtige Staaten auf internationaler Ebene durch außenpolitischen Druck Drittstaa-
ten von ihrer Jurisdiktionsausübung nach dem Weltrechtsprinzip abhalten können.56
Insgesamt führt sowohl die Stellung des Weltrechtsprinzips im völkerstrafrecht-
lichen System als auch seine Legitimationsbegründung nur zu einer beschränkten
Anwendung dieses Prinzips in – freilich klar konturierten – Ausnahmefällen. Der
jüngsten Tendenz der Rechtsprechung, den Anwendungsbereich des Weltrechtsprin-
zips durch eine fragwürdige Annex-Kompetenz auszuweiten, bedarf es vor diesem
Hintergrund nicht.

55
Vgl. auch noch die Fälle, in denen die in Rede stehende Tat nicht ausreichend schwer ist,
um ein Eingreifen durch den Internationalen Strafgerichtshof zu rechtfertigen (Art. 17 Abs. 1d
des IStGH-Statuts).
56
S. zur Schwächung des Weltrechtsprinzips durch eine selektive nationale Strafverfol-
gung in politisch mächtigen Staaten Weißer, in: Jeßberger/Geneuss, Zehn Jahre Völkerstraf-
gesetzbuch, 65, 69.
Kollateraltötungen und Optimierungspflichten
Von Ulrich Steinvorth

Reinhard Merkel hat gezeigt, wie man als „Mitbewerber im Wettstreit um die bes-
seren Argumente“ auf die Öffentlichkeit wirken kann. Er ist selbst ein Beispiel für
das, was er den christlichen Morallehrern zu sein empfahl, einer der „regulären Kon-
kurrenten neben anderen, vor allem der Philosophie“. Und für ihn gilt, was er der
Moraltheologie bescheinigt: „die Kompetenz eines über Jahrhunderte betriebenen
profunden Raisonnements mit(zu)bringen, auf die der allgemeine ethische Diskurs
der Gesellschaft nicht ohne Nachteil verzichten könnte“ (2002:17).
Mit seiner Kompetenz hat Merkel auf die Öffentlichkeit vor allem durch zwei Ak-
tionen gewirkt. Er verurteilte den von der NATO 1999 geführten Krieg gegen den
damaligen Staat Jugoslawien als „illegal, … illegitim und keiner ethischen Rechtfer-
tigung zugänglich“ (2000:66), und er kritisierte das Embryonenschutzgesetz als
„Doppelmoral“ und „moralische Hehlerei“ (2002:14). Seine Kritik am Embryonen-
schutzgesetz halte ich für vorbildlich. Seine Kritik am Kosovokrieg dagegen scheint
mir problematisch. Es geht mir nicht darum zu zeigen, dass er legitim war, wie ich
selbst meinte. Merkels konkrete Argumente an der Durchführung des Kriegs schei-
nen mir vielmehr zu Zweifeln an dessen Legitimität zu berechtigen. Vielmehr geht es
mir um die Kritik der Absolutheit, mit der Merkel den Krieg für „keiner ethischen
Rechtfertigung zugänglich“ behauptete. Dabei teile ich mit Merkel die Kriterien,
an denen er Handlungen und Gesetze, den Kosovokrieg und das Embryonenschutz-
gesetz, moralisch und rechtlich misst. Jedoch weiche ich von einigen seiner Annah-
men über die Moral ab, vor allem der, dass die Moral unserem Handeln bedingungs-
los gültige oder absolute Normen bereitstellt. Diese Annahme teilt Merkel mit Kant.
Daher werde ich in diesem Punkt auch Kant kritisieren, kann dies aber hier nur in der
Kürze eines Festschriftbeitrags tun, die für eine Kantkritik natürlich nicht ausreicht.

Zu Merkels Moralverständnis
Merkel orientiert sich an zwei Kriterien der moralischen Beurteilung gesellschaft-
lichen und individuellen Handelns, denen auch die meisten Philosophen und Laien
folgen. Nach dem ersten Kriterium, das in seinem Urteil über den Kosovokrieg den
Ausschlag gibt, ist eine Handlung zu verwerfen, wenn sie einen Unschuldigen ver-
letzt; nach dem zweiten, das in seinem Urteil über das Embryonenschutzgesetz den
Ausschlag gibt, ist eine Handlung zu empfehlen, soweit sie Leiden verringert.
1396 Ulrich Steinvorth

Diese zwei Kriterien entsprechen genau den beiden inhaltlichen Zielen, die die
Moral vorschreibt, zumindest wenn wir dem alltäglichen Moralverständnis folgen.
Danach verlangt die Moral einerseits, niemanden zu verletzen, und anderseits,
allen soweit möglich zu helfen. Auch die allermeisten Philosophen finden in der
Moral diese zwei Ziele. Ihre Übereinstimmung verdient Hervorhebung, da sie zur
nüchternen Beurteilung von Kants Moraltheorie beiträgt. Kants Moraltheorie aber
wird in der folgenden Diskussion der Plausibilität von Merkels Kritik am Kosovo-
krieg eine Rolle spielen. Daher möchte ich kurz auf das gewöhnliche Moralverständ-
nis und Kants von ihm abweichende Moraltheorie eingehen.
Am klarsten hat Schopenhauer das gewöhnliche Moralverständnis artikuliert, als
er zwischen dem „hoti“, dem „dass“ oder Inhalt, und dem „dioti“, dem „weil“ der
Moral (die er „Ethik“ nennt) unterschied:
Das Princip oder der oberste Grundsatz einer Ethik ist der kürzeste und bündigste Ausdruck
für die Handlungsweise, die sie vorschreibt … Es ist … das hoti … der Tugend. Das Fun-
dament einer Ethik hingegen ist das dioti der Tugend, der Grund jener Verpflichtung … Die
meisten Ethiker verwischen … geflissentlich diesen Unterschied: wahrscheinlich weil das
hoti so leicht, das dioti hingegen so entsetzlich schwer anzugeben ist. (1979:43)

Der „Ausdruck, den ich für den allereinfachsten und reinsten halte“, ist folgender
Doppelimperativ:
Neminem laede; imo omnes, quantum potes, juva (1979: 34 f) –
Verletze niemanden, sondern hilf allen, soweit du kannst.

Schopenhauer erklärte auch, wie der Doppelimperativ näher zu verstehen sei. Das
Verletzungsverbot ist das Prinzip des erzwingbaren Rechts, das Hilfegebot das Prin-
zip der vom Recht unterschiedenen nicht erzwingbaren Moralität. Aber er bemühte
sich nicht um Belege, dass tatsächlich alle Welt in diesem Doppelimperativ den In-
halt der Moral findet.Er hätte jedoch gute Belege finden können. Denn schon Platon
lässt Sokrates beiläufig als eine Selbstverständlichkeit erklären,
Das Schlechte ist das, was vernichtet und zerstört, das Gute, was bewahrt und nützt. (Rep. X,
608e, tr. Vretska)

Und Augustin erklärt das zweite von Jesus’ zwei „großen Geboten“ – das Gebot,
seinen Nachbarn wie sich selbst zu lieben, nach dem ersten, Gott zu lieben – genau so,
dass er als Schopenhauers Quelle erkennbar wird. Jedem sei geboten, so Augustin,
primum ut nulli noceat, deinde ut etiam prosit cui potuerit. (Civ. Dei XIX cap. 14; ed. Migne
col. 643)
erstens niemandem zu schaden, sodann auch zu helfen, wem er helfen kann.

In Konfuzius’ Lehre, ren, Wohltätigkeit, Menschlichkeit, gehöre zu den höchsten


Tugenden, wird man ebenfalls Schopenhauer bestätigt finden können. Selbst wenn
Konfuzius und Platon im Verletzungsverbot noch nicht das Prinzip des Rechts
und im Hilfegebot nicht das Prinzip der nicht erzwingbaren Moralität gesehen
Kollateraltötungen und Optimierungspflichten 1397

haben sollten, Schopenhauers inhaltliche Bestimmung der Moral ist schwer abzu-
weisen.
Auch Merkels Auffassung vom Inhalt der Moral stimmt mit Schopenhauers These
überein. Der Kosovokrieg ist „keiner ethischen Rechtfertigung zugänglich“, weil er
bewusst die Tötung Unschuldiger – „Kollateraltötungen“ – in Kauf nahm; das Em-
bryonenschutzgesetz ist „Doppelmoral“ und verwerflich, weil es Stammzellenfor-
schung verbietet, obgleich solche Forschung niemanden verletzt und die Verringe-
rung unnötigen Leidens verhindert, und doch zugleich Forschung an importierten
Stammzellen erlaubt.
Anders als einige Philosophen folgt Merkel einer klaren Hierarchie, wenn die bei-
den Kriterien konfligieren: das Verletzungsverbot hat Vorrang. Auch das entspricht
dem von Schopenhauer artikulierten Moralverständnis. Niemand zu verletzen ist das
Prinzip der Gerechtigkeit. Sowohl nach dem gewöhnlichen Moralverständnis wie
nach den empirische Daten andrer Gesellschaften und Zeiten hat dies Prinzip Vor-
rang vorm Prinzip der von der Gerechtigkeit unterschiedenen Moralität, dem Prinzip,
allen Notleidenden zu helfen, soweit es möglich ist. Daher sticht das Argument, der
Kosovokrieg habe von Vergewaltigung, Tötung und Vertreibung bedrohten Albanern
geholfen, nicht gegen die Feststellung, der Krieg habe unschuldige Serben getötet.

Worin Merkel vom alltäglichen Moralverständnis abweicht


Merkels Kritik des Embryonenschutzgesetzes zeigt, dass er im Hilfegebot nicht
eine nur freiwillig zu erfüllende Pflicht sieht, die den Staat nichts angeht. Denn er
sagt von den „klinisch-therapeutischen Hoffnungen“, die man in die Stammzellen-
forschung setzte:
Sind solche Chancen auch nur entfernt realistisch, dann gibt es eine gewichtige moralische
und daher auch politische Pflicht zu ihrer Förderung. Denn sie sind Chancen der Hilfe für
eine unabsehbare Zahl schwerkranker, leidender, sterbender Menschen. (2002:12)

Mit dieser Aussage weicht Merkel vom traditionellen liberalen Pflichtverständnis


ab. Nach diesem hat der Staat nur die Rechtspflicht, Unrecht notfalls auch mit Zwang
zu verhindern (und muss Unrechttäter bestrafen), aber darf Hilfe nicht erzwingen und
Hilfe Verweigernde nicht bestrafen. Der Staat hat die Rechtspflicht, alle Handlungs-
weisen zu schützen, solange sie nicht jemand Unrecht tun, sei die Handlung eine Hil-
feleistung und moralisch gut, oder seien sie wertneutral und nur moralisch zulässig.
Doch mit der Annahme einer „politischen Pflicht“, Hilfe für leidende Menschen zu
fördern, wenn sie niemanden verletzt, schreibt Merkel dem Staat eine Optimierungs-
pflicht zu, wie ich sie nennen möchte, die Aufgabe, nicht nur Unrecht notfalls mit
Zwang zu verhindern, sondern auch, wenn es niemandes Recht verletzt, Hilfe für
Notleidende zu fördern.
Allerdings erkennt auch der deutsche Staat eine Körperschaft als gemeinnützig,
mildtätig oder kirchlich an und begünstigt sie steuerlich, „wenn ihre Tätigkeit darauf
1398 Ulrich Steinvorth

gerichtet ist“, „die Allgemeinheit“, „Personen“ oder „eine Religionsgemeinschaft,


die Körperschaft öffentlichen Rechts ist“, „selbstlos zu fördern“ oder „zu unterstüt-
zen“ (Abgabenordnung AO §§ 52 – 54). Sogar in den traditionell liberaleren angel-
sächsischen Staaten werden charity- und non-profit-Körperschaften steuerlich be-
günstigt. Aber mit der Annahme einer politischen Pflicht des Staats, Forschung zu
fördern, die Leiden verringert, schreibt Merkel dem Staat eine Aufgabe zu, die
über das traditionelle liberale Staatsverständnis hinausgeht. Er erwartet vom Staat,
nicht nur die Wohltätigkeit seiner Bürger zu schützen und zu fördern, sondern selbst
im Wohltun aktiv zu werden.
Diese Erwartung spielt heute in den philosophischen und juristischen Überlegun-
gen zu Staatsaufgaben, Menschenrechten und humanitären Interventionen eine wich-
tige Rolle. Mehr als Philosophen misstrauen jedoch Juristen der Erwartung, der Staat
sollte selbst im Wohltun aktiv werden. Aus guten Gründen, da sein Gewaltmonopol
den Staat leicht zum Missbrauch seiner Macht verleiten kann. Trotz seiner Kritik am
Embryonenschutzgesetz misstraut auch Merkel dieser Erwartung in seiner Kritik am
Kosovokrieg. So konnte es zur bemerkenswerten Konstellation kommen, dass Juris-
ten, traditionell eher zu wohlwollendem Urteil über Staatsakte bereit als Philoso-
phen, den Kosovokrieg verurteilten (außer Merkel sei Köhler 2003 genannt), wäh-
rend ihn Philosophen wohlwollender beurteilten (Höffe 2003, Steinvorth 2004,
2005).
Die Annahme einer politischen Pflicht des Staats, die Welt zu optimieren, wie ich
es nenne, ist zugleich naiv und realistisch. Sie ist naiv, weil der Staat nur eine von
skrupellosen Fürsten geschaffene Institution ist, die unter dem Vorwand, Gerechtig-
keit durchzusetzen, Gesellschaften beherrscht, und realistisch, weil der Staat nun ein-
mal, wie die Dinge liegen, vielleicht nicht die einzige Institution mit der Macht ist,
die Welt zu verbessern, aber doch eine der wenigen. Wenn wir die Gesundheitsbe-
dingungen verbessern wollen, wie können wir da nicht vom Staat verlangen, aktiv
zu werden? Wie können wir dem Staat nicht eine politische Pflicht zuschreiben,
selbst aktiv zu werden und die Forschung zu fördern, die Leiden verringert? Dieser
Überlegung folgt auch Merkel.
Aber wenn wir die Selbstbehauptungsbedingungen von Minderheiten verbessern
wollen, von Frauen, Kindern, Religionen oder ethnische Minderheiten in einem Staat
A, müssen wir da nicht auch den Staaten B, C, D eine politische Pflicht zuschreiben,
aktiv zu werden und notfalls Staat A zur Respektierung der Minderheit zu zwingen,
soweit ihre Ressourcen den Staaten B, C, D solche Aktivität erlauben? Vor dieser
Überlegung warnt Merkel mit guten Gründen. Denn die hier angenommene politi-
sche Pflicht gibt dem Staat eine Macht, die er zu leicht missbrauchen kann und,
wenn wir nur auf die empirischen Daten blicken, immer wieder missbraucht.
Da er grundsätzlich dem Staat eine politische Pflicht zuschreibt, die Pflicht, wie
ich es nenne, selbst in der Weltoptimierung aktiv zu werden, erklärt Merkel (gegen
Köhler) Notrechte und Nothilfekriege auch ohne Ermächtigung durch den Weltsi-
cherheitsrat für grundsätzlich legitim (2003:30 ff.). Doch er besteht darauf, dass
Kollateraltötungen und Optimierungspflichten 1399

eine Nothilfe keine Unschuldige opfern darf. Das scheint ein vernünftiger wider-
spruchsfreier Weg, an der Idee einer politischen Pflicht des Staats zur Weltoptimie-
rung und seiner Kritik am Embryonenschutzgesetz festzuhalten und zugleich den
Kosovokrieg als „keiner ethischen Rechtfertigung zugänglich“ zu verwerfen.
Aber gilt das Verbot, Unschuldige zu opfern, so absolut, wie Merkel behauptet?
Zum Beleg führt er einen Fall an, in dem wir eine mögliche Ausnahme finden könn-
ten, aber nicht dürfen:
Erwägen wir ein pointiertes Beispiel: Hätte ein Hitler-Attentäter, der mit dem Diktator zu-
gleich die Ursache für die drohende Vernichtung vieler Millionen Menschen beseitigt hätte,
nicht auch dann richtig gehandelt, wenn er seine Bombe erfolgreich während eines Kinder-
gartenbesuchs Hitlers gezündet und dabei (wie er vorausgesehen hat) zehn oder fünfzehn
Kinder mitgetötet hätte? … Die Antwort lautet: nein … Wer das Recht eines Helfers behaup-
tet, Unschuldige zu töten, um viele andere Unschuldige zu retten, behauptet damit zugleich
eine Pflicht der Getöteten, ihr Leben zugunsten anderer zu opfern … Wie aber eine solche
Pflicht, sein Leben für andere zu opfern, denen man nichts getan hat, nichts tun will und die
man weder bedroht noch auch nur kennt, zu begründen sein sollte, ist schlechterdings un-
erfindlich. Wer dies dennoch behauptet, überprüfe seine Auffassung mit einem sozusagen
kantianischen Test: Wäre er bereit, sich selbst und etwa noch seine Familie töten zu lassen,
um jemandem wie Slobodan Milosevic die weitere Misshandlung, Vertreibung, Tötung von
Albanern unmöglich zu machen. (2003:45 f.)

Ich nehme mit Merkel an, das Recht eines Helfers, Unschuldige zu töten, impli-
ziere eine Pflicht der Getöteten, ihr Leben zugunsten anderer, genauer, anderer in
einer sehr viel größeren Zahl, zu opfern. Doch unerfindlich ist es keineswegs, wie
eine solche Pflicht begründbar ist: eben mit der viel größeren Zahl der Geretteten.
In seiner Begründung seines absoluten Nein auf die Frage der möglichen Rechtmä-
ßigkeit eines Attentats auf Hitler, bei dem zehn oder fünfzehn Kinder mitgetötet wür-
den, verweigert Merkel genau das zu erörtern, worum es geht, nämlich ob Zahlen bei
der Tötung Unschuldiger eine Rolle spielen.
In seiner Überlegung dafür, das fiktive Hitlerattentat sei zu verwerfen, stützt sich
Merkel auf die von Utilitarismuskritikern verfochtene These, töten sei grundsätzlich
von sterben lassen zu unterscheiden. Töten sei grundsätzlich unmoralisch, sterben
lassen dagegen gewöhnlich moralisch neutral. Viele Philosophen, am wirksamsten
vermutlich Philippa Foot und Robert Nozick, haben sich für diese Unterscheidung
auf anschauliche Fallbetrachtungen gestützt.
Zu den Fallbetrachtungen, die in der Diskussion um die Plausibilität des Utilita-
rismus zu den wichtigsten wurden, gehört der Vergleich folgender Wahlmöglichkei-
ten. Ich muss entscheiden (a) entweder ein Boot mit zehn oder eins mit fünf Men-
schen aus Seenot zu retten, ohne die Möglichkeit, beide zu retten, (b) entweder
eine Weiche so zu stellen, dass ein nicht mehr bremsbarer Zug nur fünf Menschen
statt der zehn tötet, die ohne meine Weichenstellung getötet würden, oder die Weiche
nicht zu betätigen.
1400 Ulrich Steinvorth

Der Vergleich, so die Utilitarismuskritiker, weckt unsere moralischen Intuitionen,


und mit ihrer Hilfe erkennen wir zwei Dinge. Erstens erkennen wir einen moralisch
relevanten Unterschied zwischen töten und sterben lassen. Stelle ich die Weiche um,
töte ich fünf Menschen und lasse zehn sterben. Rette ich das Boot mit zehn Menschen
und lasse die fünf Unglücklichen ertrinken, töte ich nicht; ich lasse sie sterben. Zwei-
tens erkennen wir, dass ich berechtigt bin und vorziehen sollte, die Weiche nicht zu
betätigen. Denn so töte ich die fünf Menschen nicht; ich lasse nur zehn andre Men-
schen sterben. Wie wir auch sagen könnten, ich mache mir meine Hände nicht
schmutzig; ich beflecke mich nicht mit Tötungen.
Im ersten Punkt wird kaum jemand den Utilitarismuskritikern widersprechen. Es
gibt einen Unterschied zwischen töten und sterben lassen, und er ist moralisch rele-
vant. Aber der zweite Punkt ist angreifbar. Meine moralischen Intuitionen sagen mir
jedenfalls nicht, ich sollte die Weiche nicht betätigen und zehn Menschen das Leben
retten, auch wenn ich so fünf Menschen opfere. Im Gegenteil sagen sie mir, ich dürfe
mich meiner Verantwortung nicht entziehen und müsse handeln. Ich mache mich da-
durch allerdings schuldig an den fünf unschuldigen Menschen, die ich den zehn Men-
schen opfere, aber ich würde mich noch schuldiger machen, wenn ich es nicht täte.
Ich mache meine Hände schmutzig, aber meine Untätigkeit würde mir noch weniger
meine Unschuld erhalten.
Utilitarismuskritiker und Merkel als Verfechter des absoluten Verbots, Unschul-
dige wofür auch immer zu opfern, führen gegen diese Überlegung an, wenn eine klei-
nere Zahl von Menschen für eine größere Zahl geopfert werden dürfe, dann dürfe
auch ein Chirurg einen Gesunden opfern, um mit dessen Organen einer größeren
Zahl das Leben zu retten:
Welcher Utilitarist möchte denn in einer Welt leben, in der er jederzeit gegen seinen Willen
als Organspender für fünf andere zwangsgeschlachtet werden dürfte? Oder eben: in der zur
Eliminierung der verbrecherischen Politik von Diktatoren, für die er nichts kann, Bomben
auf sein Haus, seine Familie, sein Leben geworfen werden dürften? (2003:47)

Doch Merkel und die Utilitarismuskritiker übersehen den Unterschied zwischen


den zwei Welten, die sie hier vergleichen. Eine Welt, in der ich jederzeit als Organ-
spender zwangsgeschlachtet werden darf, ist in der Tat keine Welt, in der jemand
leben möchte. Eine Welt dagegen, in der Diktatoren wie Hitler getötet werden dürfen,
auch wenn ihre Tötung Unschuldige opfert, ist eine Welt, die nicht offensichtlich
schlechter oder verwerflicher ist als eine Welt, in der Hitler nicht so getötet werden
darf.
Deshalb ist die Antwort auf Merkels abschließende Frage an den Befürworter der
Pflicht, für eine größere Zahl zu sterben, nicht so eindeutig, wie er unterstellt: „Wäre
er bereit, sich selbst und etwa noch seine Familie töten zu lassen, um jemandem wie
Slobodan Milosevic die weitere Misshandlung, Vertreibung, Tötung von Albanern
unmöglich zu machen“. Natürlich geht es in der strittigen Pflicht nicht darum, jeman-
dem wie Milosevic etwas unmöglich oder möglich zu machen, sondern um die Be-
Kollateraltötungen und Optimierungspflichten 1401

dingungen der moralischen Richtigkeit von Kollateraltötungen. Diese sind nicht so


eindeutig, wie Merkel unterstellt.
Merkel sagt, dass seine Antwort „mit geläufigen Intuitionen nicht zusammen-
passt“ (2003:45). Er kann vielleicht für seine Antwort behaupten, sie appelliere
nicht an „geläufige Intuitionen“. Aber an moralische Intuitionen appelliert auch
er, nämlich an die, die Utilitarismuskritiker mit dem Vergleich von (a) und (b),
der Seenotrettung und der Weichenumstellung, wecken wollen, um die moralische
Gleichsetzbarkeit von töten und sterben lassen zu widerlegen. Aber ich kann und
sollte diesen Unterschied anerkennen und kann dennoch argumentieren, unter beson-
deren Umständen sei Töten moralisch besser als Sterbenlassen.
Hier ist ein Beispiel. Ein Attentäter droht glaubhaft, alles Leben auf der Welt
durch Giftgasbomben zu vernichten, die er über die Erde verteilt hat und mit
einem Knopfdruck sprengen kann. Pervers wie er ist, kann er nur durch Folterung
eines Kinds vor seinen Augen daran gehindert werden. Nach Merkel ist das Opfer
des Kinds absolut verboten. Mir scheinen die moralischen Intuitionen schwerer zu
wiegen, die das Opfer, obgleich es offensichtlich größtes Unrecht ist, legitimieren,
weil das Sterbenlassen der gesamten Menschheit ein noch größeres Unrecht ist.
Noch einmal, mir geht es hier nicht um die Legitimierung des Kosovokriegs, son-
dern um die Kritik der Absolutheit, die Merkel für das moralische Verbot behauptet,
Menschen zu opfern. Es gehört vielmehr, so vermute ich, zur Moral, keine absoluten
Imperative zuzulassen. Denn was der Schaden ist, den die Moral verbietet, und was
die Hilfe, die sie fordert, lässt sich nicht bedingungslos oder absolut bestimmen, son-
dern nur bedingt.

Zur Kritik an Kants Moraltheorie


Damit widerspreche ich allerdings dem Kern von Kants Moraltheorie, nach der es
einen kategorischen, das heißt, unbedingten Imperativ gibt. Dem entspricht Merkels
wiederholte Berufung auf Kant. Merkel hat in der Tat eine starke Autorität auf seiner
Seite. Ich kann nur dann glaubwürdig an der Absolutheit seiner These rütteln, wenn
ich auch an Kants kategorischem Imperativ rütteln kann, den nicht nur Merkel für
eine Autorität hält. Dies ist weniger schwer, als es Kants Autorität annehmen lassen
kann. Ich kann meine Kantkritik hier jedoch nur andeuten und muss für ausführliche-
re Argumente auf Steinvorth 2020 verweisen.
Kants kategorischer Imperativ verlangt von uns, nur nach verallgemeinerbaren
Maximen zu handeln. Diese Handlungsweise setzt Kant mit Moralität gleich.
Doch die Moral verlangt nicht, nach verallgemeinerbaren Maximen zu handeln, son-
dern niemandem zu schaden und jedem zu helfen. Auch nach Kant ist Handeln nach
verallgemeinerbaren Maximen nicht das, was das geläufige Moralverständnis erwar-
tet, sondern was die praktische Vernunft verlangt. Im Handeln nach der praktischen
Vernunft findet Kant den einzigen Weg, selbstdeterminiert statt naturdeterminiert zu
1402 Ulrich Steinvorth

handeln. Solches Handeln fordert die praktische Vernunft, da sie Autonomie ver-
langt. Deshalb nennt Kant den kategorischen Imperativ ein Prinzip der Autonomie
und versteht Moral als Produkt der praktischen Vernunft.
Kant macht faszinierende Annahmen zur Autonomie und praktischen Vernunft,
die auch mir sehr plausibel scheinen. Aber er leitet aus ihnen Annahmen über die
Moral ab, die eine verblüffende Konsequenz haben. Für die geläufige Moral ist Frei-
heit eine Bedingung der Moral, aber nicht identisch mit Moral. Für Kant dagegen ist
Moral identisch mit Willensfreiheit oder Autonomie, weil er die Moral als die Ge-
setzgebung der praktischen Vernunft betrachtet und nicht als ein System von Nor-
men, das der Menschheit bei ihrem Überleben hilft. Praktische Vernunft wiederum
ist nach Kant das Vermögen, mit dem wir unsre Handlungen so beurteilen, dass wir
uns selbst als ihre Urheber und für sie verantwortlich betrachten können. Daher ist für
ihn das Sittengesetz das Prinzip der Autonomie. Daher kann meine Freiheit nicht
darin bestehen, auch unmoralisch zu handeln. Daher erklärt Kant paradox, aber kon-
sistent,
daß die Freiheit nimmermehr darin gesetzt werden kann, daß das vernünftige Subjekt auch
eine wider seine (gesetzgebende) Vernunft streitende Wahl treffen kann, wenngleich die Er-
fahrung oft genug beweist, daß es gescheht (wovon wir doch die Möglichkeit nicht begreifen
können). (Kant 1954:30; Rechtslehre, Einleitung in die Metaphysik der Sitten IV)

Mit andern Worten, wir sind nicht frei, wenn wir unmoralisch handeln; daher auch
nicht verantwortlich für unsre unmoralischen Handlungen. Denn unmoralische
Handlungen haben nicht „das vernünftige Subject“ zum Urheber, sondern nur das
natürliche empirisch erfahrbare Subjekt. Dies ist der kausalen Naturdetermination
unterworfen und so wenig verantwortlich für seine Bewegungen wie Planeten
oder Billiardkugeln für ihre Bewegungen. Also sind wir nur für unsere moralischen
Handlungen verantwortlich.
Diese Konsequenz scheint mir ein klarer Fall für eine demonstratio ad absurdum
von Kants Moraltheorie zu sein. Wie konnte er trotzdem sich selbst und so viele Kan-
tianer von seiner Theorie überzeugen? Weil er mit seinem kategorischen Imperativ in
der Tat für eine plausible absolute Norm argumentiert: für die Norm, mit der eignen
Freiheit auch seine Vernunft zu erhalten. Diese Norm verlangt von uns jedoch nicht,
moralisch zu handeln, sondern so, dass wir in unserem Leben Sinn und Bedeutung
finden können. Eine solche Norm sollte man nicht als moralisch, sondern als meta-
physisch verstehen, wie ich Normen nennen möchte, die angeben, wie man Sinn fin-
det.
Zugleich ist die Konsequenz aus Kants Moraltheorie, uns für nicht verantwortlich
für unsere unmoralischen Handlungen zu erklären, ein Beleg für die Wahrheit der
Annahme der geläufigen Moral, nach der Freiheit, oder Autonomie, die Bedingung
der Möglichkeit sowohl moralischer wie unmoralischer Handlungen ist und nicht
identisch mit Moral. Dies spricht wiederum dafür, dass das Sittengesetz kein Prinzip
der Autonomie ist, sondern ein Gesetz, das Schaden verbietet und Hilfe gebietet. Die-
ses Gesetz ist kein kategorischer, sondern ein bedingter Imperativ, bestimmt durch
Kollateraltötungen und Optimierungspflichten 1403

das, was wir, bedingt durch wechselnde Umstände, als Schaden und Hilfe verstehen
müssen. Wir können zwar den Doppelimperativ der Moral, nicht zu schaden sondern
zu helfen, bedingungslos oder absolut nennen. Aber aus diesem Imperativ lässt sich
keine absolut gültige Handlungsanweisung ableiten, weil wir nicht mit unbedingter
Gültigkeit ableiten können, was Schaden und was Hilfe ist. Vielmehr ist die Bestim-
mung, was konkret unter gegebenen Bedingungen Schaden und Hilfe ist, eine der
wichtigsten Aufgaben der Moraltheorie und der Gesetzgebung.
Die Konsequenz meiner Kritik an Merkels Kritik des Kosovokriegs ist, dass allein
sein Hinweis darauf, der Krieg habe Kollateraltötungen und das Opfer Unschuldiger
in Kauf genommen, ihn nicht als illegitim ausweisen kann. Vor der Behauptung, er
habe ihn als illegitim ausgewiesen, schreckt Merkel jedoch zurück, wenn auch viel-
leicht nur, um seine Verurteilung des Kosovokriegs am Ende zu verstärken. Denn er
sagt:
Hier werden nun, stelle ich mir vor, der Realpolitiker und der ihn unterstützende ,realisti-
sche‘ politische Philosoph und etwa noch der Völkerrechtler ungeduldig und sagen ungefähr
folgendes: ,Tötungen unschuldiger Zivilisten sind in einem modernen Krieg niemals ver-
meidbar. Wenn es aber kriegerische Aktionen gibt, die als Nothilfe gerechtfertigt sind,
dann muss die in solchem Rahmen unvermeidliche Tötung von Zivilisten irgendwie ohne
Vorwurf gegen den Kriegführenden hingenommen und wenn schon nicht gerechtfertigt,
dann zumindest entschuldigt werden.‘
Dass auch diese Überlegung Hand und Fuß hat, ist nicht zu bestreiten. Da sie mit meinen
vorherigen Überlegungen offensichtlich nicht zu vereinbaren ist, präsentiert sie (mir jeden-
falls) ein Dilemma, für das ich derzeit keine befriedigende Lösung sehe … Vielleicht enthält
alle internationale Politik tatsächlich … ein Element von Tragik. Man kann das allerdings
auch profaner … artikulieren, dass Außenpolitik ein ,business of dirty hands‘ sei. Damit
bliebe dem Normwissenschaftler aber immer noch die bescheidene Feststellung, dass die
Hände eben schmutzig sind. (2003:48 f.)

Diese Feststellung ist in der Tat bescheiden, weil jeder erfahrene Mensch anerken-
nen wird, dass niemand sein Leben verantwortlich führen kann, ohne seine Hände
schmutzig zu machen. Die Frage ist nicht, ob wir unsre Hände schmutzig machen
dürfen; die Frage ist, wie schmutzig wir sie machen dürfen. So gefragt ist die Ant-
wort, die Opferung Unschuldiger sei absolut verboten, von vornherein unbefriedi-
gend.

Merkels konkretere Kritik am Kosovokrieg und ein möglicher Ausweg


aus seiner Ratlosigkeit
Tatsächlich begnügt sich Merkel auch nicht mit dem Hinweis auf ein kategori-
sches Verbot, Unschuldige zu opfern. Zusätzlich konzentriert er seine Kritik auf
eine Besonderheit des Kosovokriegs, die
,neue‘, ,elegante‘, ,chirurgische‘, auf der eigenen Seite ,opferlose‘ Kriegsart (und was der-
gleichen deplazierte Kennmarken sonst sind) – nämlich die Bombardierung nicht nur der
1404 Ulrich Steinvorth

Militär-, sondern der gesamten Nervenstruktur eines Landes aus großen, für die Luftabwehr
unerreichbaren Höhen.
Das ist ein prinzipiell und offensichtlich verwerfliches Verfahren. Die militärische ,Feig-
heit‘, die möglichst jedes Opfer an Menschenleben auf der eigenen Seite vermeiden will,
ist im Grundsatz selbstverständlich vollkommen vernünftig und richtig, ja normativ geboten
… Wer aber jemandem anderen helfen will, indem er zur Behebung von dessen Not unbe-
teiligte Dritte mit ihrem Leben bezahlen lässt, obwohl er dies durch Inkaufnahme eigener
Lebens- und Leibesrisiken vermeiden könnte, folgt einer schäbigen Maxime; er desavouiert
noch die Norm selbst, auf die er sich für sein Handeln beruft.“ (2003:50)

Diese Kritik ist völlig berechtigt, ebenso wie Merkels moralische Entrüstung in
seiner Beschreibung der Handelsweise der NATO als einer schäbigen Maxime fol-
gend. Merkel hat auch recht, den Spiegel-Journalisten anzuprangern, der Merkels
„Satz, man dürfe nicht Unschuldige töten, um andere Unschuldige zu retten, schlicht
für absurd erklärt(e) (vgl. Spiegel Nr. 21, 1999, S.125)“ und auf Nachfrage, „aus wel-
chen Gründen denn die Norm einmal gelte und einmal nicht, im Tone unbeirrter
Überzeugung erwidert(e), weil Politik so nicht funktioniere“ (2003:49 n35).
Der Spiegel-Journalist war offensichtlich inkonsistent, aber dass Politik nicht so
funktioniert, wie kantianische Rechtsphilosophen es wünschen, darin hatte er recht.
Auch Merkel räumt dies ein, wenn er am Ende den Leser und sich selbst ratlos lässt,
wie Rechtsphilosophie und Völkerrecht auf Verbrechen wie Völkermord reagieren
sollten, die zwar eine humanitäre Intervention nahelegen, aber das Verbrechen nur
durch eine militärische Intervention beenden können, die „Lebens- und Leibesrisi-
ken“ der eingreifenden Seite in Kauf nimmt. Daher möchte ich abschließend
einen Vorschlag skizzieren, dieser Ratlosigkeit zu begegnen. Er deckt sich weitge-
hend mit Überzeugungen Merkels; daher vermute ich, Merkel könnte ihm zustim-
men.
Mein Vorschlag besteht in (A) einem Plädoyer dafür, nur Gründe als zu humani-
tärer Intervention berechtigend anzuerkennen, die dazu auch verpflichten, (B) einem
Hinweis auf eine Möglichkeit militärischer Intervention, die Lebens- und Leibesri-
siken der intervenierenden Seite in Kauf nimmt, ohne das Recht der intervenierenden
Soldaten „auf die Unversehrtheit von Leib und Leben“ (so auch Merle 2003:58) zu
verletzen.
(A) Nur die „massive“ Verletzung eines „fundamentalen“ Menschenrechts wie
ein Völkermord kann nach verbreiteter Auffassung zu humanitärer militärischer In-
tervention berechtigen (vgl. Merle 2003:67). Merkel spricht von „der erforderlichen
(Mindest-)Qualität der verteidigten Menschenrechte und der erforderlichen (Min-
dest-)Quantität ihrer Verletzungen“ (2003:35). Als „eindeutig“ gelten „der Genozid
an den Juden, der Fall Ruanda … oder (die) mit Mordaktionen vermischte organisier-
te Vertreibung einer Gruppe vom Territorium“ wie der Genozid „an den in die Wüste
getriebenen Armeniern“ (Köhler 2003:96, vgl. Merkel 2003:38).
Wie immer man die Legitimitätsbedingungen militärischer humanitärer Interven-
tion definiert, wenn man diese nicht auch zu Bedingungen erhebt, die zu militärischer
Kollateraltötungen und Optimierungspflichten 1405

Intervention verpflichten, dient die Intervention nicht allein dem Schutz von Rechten
oder des Völkerrechts oder des Rechts überhaupt, sondern auch einem Eigennutzen
der Interventionsmächte. Sowenig aber auf nationaler Ebene das Eingreifen des
Staats zur Durchsetzung des Rechts mit einem zusätzlichen Interesse verbunden
sein darf, sowenig auf internationaler Ebene das Eingreifen der internationalen Ge-
meinschaft zum Schutz des Rechts. Daher müssen die Bedingungen, die zu humani-
tärer Intervention berechtigen, zu ihr auch verpflichten, insbesondere die Bedingun-
gen zu einer militärischen humanitären Intervention.
(B) Die Massaker in Ruanda werden allgemein als ein Fall anerkannt, der eine
militärische humanitäre Intervention rechtfertigt. Dass sie trotzdem nicht erfolgte,
gilt als Versagen der internationalen Staatengemeinschaft, die zum Schutz „massi-
ver“ und „fundamentaler“ Menschenrechtsverletzungen bereit ist, und der Vereinten
Nationen, die zu ihrem Schutz eingerichtet wurde. Eine militärische humanitäre In-
tervention blieb aus, weil weder die UNO noch eine andere Institution bereit war, das
Risiko für Leib und Leben der intervenierenden Soldaten zu tragen. Das ist erstaun-
lich, weil eine der in den letzten Jahrzehnten entstandenen und oft beklagten privaten
und profitorientierten Militärfirmen (PMCs) sich zur Intervention bereit erklärte. Der
damals amtierende UNO-Generalsekretär lehnte das Angebot ab, weil er den Einsatz
privater Firmen für unvereinbar mit dem Ziel hielt, das Völkerrecht zu schützen
(McFate 2014:155, 164).
Mit dieser Auffassung stand er nicht allein. Merle etwa nennt zwar „eine Interven-
tionstruppe von freiwilligen Soldaten“ eine „unproblematische Lösung“ des Pro-
blems der Gefährdung intervenierender Soldaten, aber hält sie für „aus organisato-
rischen Gründen kaum denkbar“ und fügt hinzu: „Denn Nicht-Regierungsorganisa-
tionen dürften wohl an der humanitären Intervention teilnehmen, jedoch nicht an
ihrem militärischen Teil!“ (2003:59).
Der Grund dieser Auffassung ist vermutlich die Überzeugung, ebenso wie auf na-
tionaler müsse es auf internationaler Ebene ein Gewaltmonopol geben, genauer eine
und nur eine Instanz, die das Recht hat, über (1) die Legitimität des Gebrauchs von
Gewalt, (2) deren Einsatz in jedem bestimmten Fall und (3) ihre Durchführung zu
entscheiden. Das Gewaltmonopol wird gewöhnlich dem Staat zugeschrieben,
ohne zugleich anzugeben, warum oder unter welchen Bedingungen es ihm zukom-
men sollte. Der Grund ist, dass das Gewaltmonopol sicher stellen soll, dass die Un-
terscheidung zwischen Recht und Unrecht eindeutig und von der Allgemeinheit, dem
Allgemeinwillen oder dem Gemeinwohl tragbar ist, die der Staat vertreten soll. Bei
einem Auftrag der UNO an eine private Militärfirma würden Bedingungen (1) und
(2) zwar eingehalten, nicht aber Bedingung (3).
Mir scheint dieser Punkt jedoch für die grundsätzliche Ablehnung des Einsatzes
profitorientierter Firmen weder auf nationaler noch internationaler Ebene auszurei-
chen. Bedingung (3) des Gewaltmonopols kann in der Tat dann das Gewaltmonopol
der Allgemeinheit gefährden, für die der Staat und die internationale Staatengemein-
schaft zum Schutz des Rechts stehen, wenn die Militärfirma zum Monopolisten auf
1406 Ulrich Steinvorth

dem „Markt für Gewalt“ wird, der in den letzten Jahrzehnten entstanden ist (Avant
2007:441). Solange jedoch die Militärfirmen mit andern konkurrieren und die Käufer
der Gewalt über Bedingungen (1) und (2) entscheiden, ist das Gealtmonopol der All-
gemeinheit nicht gefährdet. Es liegt an den heutigen Staaten, der UNO und der in-
ternationalen Staatengemeinschaft, die zum Schutz des Rechts bereit sind, sich
diese Freiheit zu erhalten. In diesem Fall kann der Kauf der Gewalt von Militärfirmen
das Problem lösen, Soldaten einen militärischen Einsatz zu befehlen, bei dem sie
Leib und Leben riskieren.
Wenn der Einsatz einer PMC Massaker wie die in Ruanda verhindern kann,
scheint er mir moralisch geboten. Statt zu Konkurrenten mit Staaten um das Gewalt-
monopol würden so eingesetzte PMCs zu einem Mittel, mit dem Staaten ihren Op-
timierungspflichten nachkommen. Zugleich würden sie damit dem Verletzungsver-
bot entsprechen, dem Prinzip des erzwingbaren Rechts, dessen Erzwingung als erstes
Ziel jeder Staatlichkeit anerkannt ist und ohne dessen Verfolgung weder ein Natio-
nalstaat noch eine internationale Staatlichkeit die Allgemeinheit vertreten kann. Die
Staaten würden eine Rechtfertigung ihrer Existenz liefern, ebenso wie eine Rechtfer-
tigung ihres Anspruchs, die Allgemeinheit zu vertreten. Sie würden Gewalt vermin-
dern.

Literatur

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www.documentacatholicaomnia.eu/04z/z_0354-0430__Augustinus__De_Civitate_Dei__
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dustry“, in: Jäger, Thomas/Gerhard Kümmel (Hg.), Private Military and Security Companies.
Chances, Problems, Pitfalls and Prospects. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften
2007, 419 – 42
Beestermöller, Gerhard (Hg.): Die humanitäre Intervention – Imperativ der Menschenrechts-
idee? Rechtsethische Reflexionen am Beispiel des Kosovo-Krieges. Stuttgart: Kohlhammer
2003
Höffe, Otfried: „Humanitäre Intervention? Rechtsethische Überlegungen“, in: Beestermöller
2003, S. 11 – 28
Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten. Hg. Vorländer. Hamburg: Meiner 1954
Köhler, Michael: „Zur völkerrechtlichen Frage der ,humanitären Intervention‘“, in: Beester-
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McFate, Sean: The Modern Mercenary. Private Armies and What They Mean for World Order.
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Kollateraltötungen und Optimierungspflichten 1407

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der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen. München: dtv 2002
Merkel, Reinhard: „Können Menschenrechtsverletzungen militärische Interventionen rechtfer-
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des Kosovo-Kriegs“, in: Beestermöller 2003, S. 29 – 52
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Platon: Der Staat. Hg. Karl Vretska. Stuttgart: Reclam 1961
Schopenhauer, Arthur: Preisschrift über die Grundlage der Moral. Hamburg: Meiner 1979
Steinvorth, Ulrich: „Zur Legitimität der Kosovo-Intervention“, in: Georg Meggle (Hg.), Huma-
nitäre Interventionsethik: was lehrt uns der Kosovo-Krieg? Paderborn: Mentis, 2004, S. 19 –
30. Engl. tr: „On the legitimacy of der NATOs Kosovo intervention“, in: Georg Meggle (Hg.),
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Steinvorth, Ulrich: „Justifications for and limits to military violence“, in: Oliver Jütersonke/
Peter Schaber (Hg.), Justifying the Use of Force. Ethical Considerations and Humanitarian
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Brehm
Steinvorth, Ulrich: A Secular Absolute. How Philosophy Discovered Authenticity. New York:
Palgrave Macmillan 2020
Tödliche „Kollateralschäden“ durch
militärische Aktionen: zu deutscher Mitverantwortung
für ausländische Drohneneinsätze
Von Albin Eser*

I. Vorbemerkung
Zu den Themen, mit denen sich Reinhard Merkel, dem dieser Beitrag zu seinem
70. Geburtstag gewidmet ist, wiederholt beschäftigt hat, gehört auch das Töten im
Krieg, wie insbesondere die – oft verharmlosend als „Kollateralschaden“ bezeichne-
te – Tötung von Zivilisten. Auch wenn der grundlegende Beitrag des Jubilars dazu
bereits mehrere Jahre zurückliegt,1 lohnt es sich, darauf zurückzukommen. Und zwar
schon aus konkretem Anlass, hat es doch vor kurzem erstmals ein deutsches Ober-
gericht gewagt, die von militärischen Drohneneinsätzen verursachte Tötung von un-
beteiligten Zivilisten am Verfassungs- und Völkerrecht zu messen und dabei, weil
von Ramstein aus mitgesteuert, auch die Frage nach deutscher Mitverantwortung
aufzuwerfen.2 Doch so wenig in dieser Entscheidung auf die von Merkel aufgezeig-
ten rechtsethischen Grundlagen und Grenzen tödlicher Nebenwirkungen humanitä-
rer Interventionen Bezug genommen wurde, so wenig tiefgehend ist das Oberverwal-
tungsgericht bis zur Grundfrage legitimen Tötens im Krieg vorgedrungen.3 Nachdem
dieser Verzicht auf eine radikale Hinterfragung militärischer Tötungslizenz auch in
anderen neueren Veröffentlichungen zu vermissen ist, erscheint es mir angebracht,

* Professor Dr. Dr. h.c. mult., M.C.J., Direktor em. am Max-Planck-Institut für ausländi-
sches und internationales Strafrecht in Freiburg.
1
Reinhard Merkel, Die „kollaterale“ Tötung von Zivilisten im Krieg. Rechtsethische
Grundlagen und Grenzen einer prekären Erlaubnis des humanitären Völkerrechts, in: Ulrich
Bielefeld/Heinz Bude/Bernd Greiner (Hrsg.), Gesellschaft – Gewalt – Vertrauen. Jan Philipp
Reemtsma zum 60. Geburtstag, Hamburg 2005, S. 204 – 228; in überarbeiteter Fassung in
JuristenZeitung (JZ) 2012, 1137 – 1145, sowie in einer weiteren Überarbeitung in: Prittwitz/
Bauermann/Günther/Jahn/Kuhlen/Merkel/Nestler/Schulz (Hrsg.), Rationalität und Empathie.
Kriminalwissenschaftliches Symposion für Klaus Lüderssen zum 80. Geburtstag, Nomos
Baden-Baden 2014, S. 223 – 247. Zu weiteren thematisch einschlägigen Veröffentlichungen
von Merkel vgl. die Nachweise in den Fn. 7, 12, 36, 57, 68.
2
OVG Münster – 4 A 1361/15 (Fall Jemen) – Urteil vom 19. 03. 2019.
3
Vgl. dazu meinen Leserbrief „Drohneneinsätze nicht einfach hinnehmen“ in: Frankfurter
Allgemeine Zeitung, 10. April 2019.
1410 Albin Eser

mich in Fortführung eigener Vorarbeiten4 erneut auf die Suche nach einer möglichen
Legitimationsgrundlage von Tötung im Krieg zu machen und dabei insbesondere die
Frage nach deutscher Mitverantwortung für ausländische Militäraktionen zu stellen.
Dies möchte ich in drei Schritten tun: Zunächst zur grundsätzlichen Frage, ob und
inwieweit sich durch den schlichten Verweis auf Krieg das Töten von Menschen le-
gitimieren lässt, wobei dies nicht zuletzt im Licht der Begründungsversuche von
Merkel betrachtet werden soll (II.). Sodann werden insbesondere die tödlichen Kol-
lateralschäden ferngesteuerter Drohneneinsätze zu beleuchten sein (III.). Abschlie-
ßend bleibt zu untersuchen, inwieweit sich daraus auch eine deutsche Mitverantwor-
tung – von welch unterschiedlicher Art auch immer – ergeben kann (IV.). Wie sich
von selbst versteht, wird all das in diesem Rahmen nur ansatzweise zu bewältigen
sein.

II. Mangelnde Legitimationsbasis von Tötung im Krieg


Auch wenn es als ein Don Quijottischer Kampf gegen Windmühlen erscheinen
mag, gilt es, gegen die als selbstverständlich hingenommene Meinung anzurennen,
wonach im Krieg alles erlaubt sei, was nicht ausdrücklich verboten ist – mit der
Folge, dass, um ein ganz aktuelles Beispiel zu nennen, die kriegerisch motivierte Ein-
richtung kollateral todbringender autonomer Waffen, weil bislang nicht verboten, als
erlaubt und demzufolge als straflos anzusehen ist.5 Demgegenüber ist einmal mehr
die mangelhafte Rechtsbasis dieser Praxis zu monieren und auf eine klare positive
Rechtsgrundlage hin zu insistieren.
Wenn man sich vor Augen führt, dass ein „normaler“ Totschlag, sofern nicht kon-
kret gerechtfertigt, selbstredend als rechtswidrig zu verstehen ist, kann man sich nur
wundern, mit welcher Nonchalance Töten im Krieg, soweit nicht ausdrücklich ver-
boten, grundsätzlich als rechtmäßig hinzunehmen sei, ohne dass es dafür einer be-
sonderen Begründung bedürfe.6 Von einer solchen grundsätzlichen Tötungslizenz
4
Albin Eser, Rechtmäßige Tötung im Krieg: zur Fragwürdigkeit eines Tabus, in: Dieter
Dölling/Bert Götting/Bernd-Dieter Meier/Thorsten Verrel (Hrsg.), Verbrechen – Strafe – Re-
sozialisierung. Festschrift für Heinz Schöch, Berlin 2010, S. 461 – 480 = www.freidok.uni-frei
burg.de/volltexte/9710; ders., Tötung im Krieg: Rückfragen an das Staats- und Völkerrecht,
in: Ivo Appel/Georg Hermes/Christoph Schönberger (Hrsg.), Öffentliches Recht im offenen
Staat. Festschrift für Rainer Wahl zum 70. Geburtstag. Duncker & Humblot, Berlin 2011,
S. 665 – 687 = www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/9714; ders., Tötung im Krieg: auf der
Suche nach einer Legitimationsgrundlage, in: Martin Löhnig/Mareike Preisner/Thomas
Schlemmer (Hrsg.), Krieg und Recht. Die Ausdifferenzierung des Rechts von der ersten
Haager Friedenskonferenz bis heute. Edition Rechtskultur, Regenstauf 2014, S. 239 – 254 =
www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/9722; ders., Killing in War: Unasked Questions – Ill-
Founded Legitimisation, in: Criminal Law and Philosophy (2018), 12: 309 – 326 = http://link.
springer.com/article/10.1007/s11572-017-9426-9.
5
Vgl. Silja Vöneky, „Es gibt die große Gefahr einer Verantwortungslücke“, in: Badische
Zeitung vom 11. Juli 2019, S. 24.
6
Vgl. den Überblick über die gängige Lehrbuch- und Kommentarliteratur in Eser (o.
Fn. 4), Schöch-FS S. 443 ff. sowie (mit Ergänzungen) Wahl-FS S. 667 ff. Obwohl dieser
Tödliche „Kollateralschäden“ durch militärische Aktionen 1411

im Krieg dürfte, um dies kurzum an Rechtsprechungspraxis zu demonstrieren, nicht


nur der Einstellungsbeschluss des Generalbundesanwalts im Kundus-Fall ausgegan-
gen sein,7 vielmehr sieht sich die grundsätzliche Zulässigkeit von Tötungen im Krieg
auch neuerdings vom OVG Münster nicht infrage gestellt.
Fragt man sich, wie es zur Annahme einer grundsätzlichen – nämlich nicht be-
gründungs-, sondern allenfalls einschränkungsbedürftigen – Tötungslizenz im
Krieg kommen konnte, so ist an verschiedenartige Hypothesen zu denken.
Die sozialpsychologisch einfachste Erklärung ist die, dass man, falls man nicht
hoffnungslos lebensfremd erscheinen will, Krieg als ein menschheitsgeschichtliches
Phänomen – und damit unvermeidlich verbundenen Todesopfern – als ein nicht wei-
ter zu hinterfragendes Tabu meint akzeptieren zu müssen. Wenn demzufolge, wie be-
reits von Marcus Tullius Cicero zur Verteidigung des Volkstribunen Milo wegen der
Ermordung seines Gegners Clodius vorgetragen, im Krieg die Gesetze zu schweigen
haben8 und dies von Thomas Hobbes als ein „fond saying“ bezeichnet werden konn-
te,9 so liegt das auf der gleichen Linie, auf der sich – wie Jan-Philipp Reemtsmas
Kriegsstudie von Reinhard Merkel gedeutet – „die moderne Kollektivseele auf
dem unvollendeten Weg ihrer Zivilisierung seit eh und je mit einer normfeindlichen
Sphäre so gewaltigen Ausmaßes wie der des Krieges zu arrangieren weiß“.10
Seitdem es allerdings nicht mehr als menschenrechtlich tolerabel erscheint, den
Krieg samt damit verbundenen tödlichen Folgen in derart radikaler und umfassender
Weise als dem Recht völlig entzogen zu sehen, gibt es mehr oder weniger weitgehen-
de Differenzierungs- und Eingrenzungsversuche, von denen hier lediglich die zwei
wichtigsten angesprochen seien. So erstens die Unterscheidung zwischen dem – nach
anglo-amerikanischer Terminologie sogenannten – „law enforcement paradigm“
und dem „war paradigm“: Während auf tödliche Aktionen, die in die „rubric of cri-
minal law“ gehören, das allgemeine Strafrecht anwendbar sein soll, sollen Tötungen

Überblick schon rund zehn Jahre zurückliegt, ist inzwischen kaum ein Meinungsumschwung
zu konstatieren. Auch soweit gelegentlich auf meine Infragestellung mangelnder Legitimation
von Tötung im Krieg hingewiesen wird (wie etwa von Detlev Sternberg-Lieben, in: Schönke/
Schröder, StGB-Kommentar, 30. Aufl. München 2019, Vor § 32 Rn. 91 ff. oder Philip Kunig,
in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz, 6. Aufl. München 2012, Art. 2 Rn. 44), werden daraus
kaum Konsequenzen gezogen. Als bemerkenswerte Ausnahme sei beispielhaft hingewiesen
auf Markus Löffelmann, Rechtfertigung gezielter Tötungen durch Kampfdrohnen?, Juristische
Rundschau (JR) 2013, 496 – 513 (507 f.), mit dem ich mich hinsichtlich der von ihm gefor-
derten Anpassung der Schnittstelle zwischen Völkerrecht und Strafrecht durchaus einig sehe.
7
Einstellungsverfügung des Generalbundesanwalts im Ermittlungsverfahren gegen Oberst
Klein – 3 BJs 6/10-4 vom 19. 04. 2010, veröffentlicht in: Neue Zeitschrift für Wehrrecht
(NZWehrR) 2010, S. 172 – 174. – Zur Kritik von Reinhard Merkel, Die Schuld des Oberst, in:
die Zeit, 21. 01. 2010 Nr. 04: „Die Tötung von Zivilisten im Krieg ist kaum strafbar – aber
dennoch Unrecht“, vgl. auch u. IV. 3. zu Fn. 115.
8
„Silent enim leges inter arma“: M. Tulli Ciceronis Pro T. Annio Milone Oratio, Clarendon
Press, 1895, Ch. IV no. 11.
9
Thomas Hobbes, On the Citizen, (1642) Cambridge 1998, Chap. V, para. 2.
10
Merkel (Fn. 1), JZ 2012, 1137.
1412 Albin Eser

in der „rubric of war“ nach den Regeln des humanitären Völkerrechts zu behandeln
sein.11 Was dabei auf den ersten Blick harmlos klingen mag, hat jedoch gravierende
Folgen: Wenn beispielsweise Drohneneinsätze nach dem „law enforcement para-
digm“ zu behandeln sind, ist jedenfalls die Tötung von unschuldigen Zivilisten als
tatbestandsmäßig im Sinne des allgemeinen Strafrechts (wie im deutschen Recht
nach § 212 StGB, wenn nicht sogar wegen Gemeingefährlichkeit nach § 211
StGB) und demzufolge als rechtfertigungsbedürftig anzusehen. Sollen solche Tötun-
gen dagegen, weil militärisch veranlasst, unter die „rubric of war“ fallen, seien sie,
soweit nicht unverhältnismäßig, nach humanitärem Völkerrecht (wie etwa gemäß
Art. 51 Abs. 5 (b) Zusatzprotokoll I zu den Genfer Abkommen über den Schutz
der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte vom 12. August 1949) nicht verbo-
ten und sollen demzufolge auch keiner Rechtfertigung nach dem allgemeinen Straf-
recht bedürfen.
Ein zweiter Schritt weg von der einstmals totalen Tötungslizenz mittels simpler
Berufung auf Krieg ist in der Etablierung der internationalen Strafgerichtsbarkeit zu
sehen. Seit den Internationalen Militärtribunalen von Nürnberg und Tokio nach dem
Zweiten Weltkrieg – mit regionaler Reichweite fortgeführt mit den Internationalen
Strafrechtshöfen für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda sowie schließlich,
wenngleich mit bedauernswerten Lücken, universalisiert durch die multilaterale Ein-
richtung eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag – sind be-
stimmte Verletzungen des ius in bello als Völkerrechtsverbrechen pönalisiert (wie
insbesondere in der detaillierten Auflistung von Kriegsverbrechen in Art. 8 des
Rom-Statuts).
Doch so begrüßenswert solche Einschränkungen tödlicher Militäraktionen auch
sein mögen, ist damit die traditionelle Tötungslizenz im Krieg keineswegs grund-
sätzlich aufgehoben. Ganz im Gegenteil: Wenn nach den Statuten der Internationalen
Strafgerichtsbarkeit nur vereinzelte Verletzungen des Kriegsrechts strafbar sein sol-
len, bleibt Krieg als Tötungsbefugnis so lange erlaubt, als nicht die Schwelle zu
einem völkerstrafrechtlichen Kriegsverbrechen überschritten wird. Und wenn
nach der im Völkerrecht vorherrschenden Lehre und Praxis im Krieg alles erlaubt
sein soll, was nicht ausdrücklich durch humanitäres Völkerrecht verboten ist,
wenn also aus dem Nichtverbotensein einer tödlichen Kriegshandlung auf deren Er-
laubtheit soll geschlossen werden können, dann wird die angebliche Humanisie-
rungsabsicht des humanitären Völkerrechts geradezu in ihr Gegenteil verkehrt:
indem der bis dahin lediglich gewohnheitsrechtlich angenommenen Tötungslizenz
im Krieg durch einen Umkehrschluss von nichtverboten als erlaubt eine scheinbare
Rechtsgrundlage verschafft wird.
Dass dieser Schachzug nicht nachvollziehbar ist, dazu mag kurz zusammenfas-
send auf einige bereits an anderen Stellen näher erläuterte Einwände hingewiesen
sein. Dabei bleibt von vornherein im Auge zu behalten, dass infolge des in bewaffnete

11
Näher dazu wie auch zum Folgenden Eser (Fn. 4), CrimLaw&Phil 2018, 310 ff.
Tödliche „Kollateralschäden“ durch militärische Aktionen 1413

Konflikte aller Art ausufernden Kriegsbegriffs12 die Grenzlinie zwischen der allge-
meinstrafrechtlichen „rubric of criminal law“ und der völkerrechtlich lizenzierenden
„rubric of war“ immer unschärfer wird und selbst bei den der letzteren unterfallenden
tödlichen Aktionen unklar sein kann, ob diese, wenn und weil nach humanitärem
Völkerrecht verboten, auch strafbar sein können. Sollen sie gleichwohl zu rechtfer-
tigen sein, so scheinen sich zunächst allgemeinstrafrechtliche Rechtfertigungsgrün-
de anzubieten. Solche aber gibt es, sofern man sich nicht mit vordergründigen An-
nahmen begnügen will, nicht einmal zwischen Kombattanten, ganz zu schweigen
von einer allgemeinstrafrechtlich noch weniger begründbaren Rechtfertigung der
Tötung von unbeteiligten Zivilisten.13
Auch aus verfassungsrechtlichen Ermächtigungen ist schwerlich eine allgemeine
Erlaubnis zur Tötung im Krieg, sofern nicht ausdrücklich verboten, abzuleiten. So-
weit man dies mit einem Verweis auf die der Bundesrepublik in Art. 87a GG einge-
räumte Kompetenz zur Aufstellung und zum Einsatz von Streitkräften meint begrün-
den zu können, wird übersehen, dass mit dieser Ermächtigung keineswegs Eingriffs-
befugnisse in individuelle Grundrechte begründet werden, die über bereits dort vor-
gesehene Schutzschranken hinausgehen würden. Das aber heißt gerade für das durch
Tötung zutiefst betroffene Recht auf Leben, dass in dieses „nur aufgrund eines Ge-
setzes eingegriffen werden“ darf (Art. 2 Abs. 2 GG) – mit der Folge, dass diesem
formalgesetzlichen Erfordernis kaum mit schlichter Umdeutung eines fehlenden Tö-
tungsverbots in eine positive Tötungserlaubnis zu genügen ist.14
Diesem Mangel einer positiven – und damit einer nicht negativ durch einen Um-
kehrschluss aus einem fehlenden Verbot abgeleiteten – Tötungsbefugnis im Krieg ist
auch nicht durch die übliche Berufung auf Völkerrecht abzuhelfen. Selbst wenn etwa
aus Art. 22 der Haager Landkriegsordnung, wonach „die Kriegführenden kein unbe-
schränktes Recht in der Wahl der Mittel zur Schädigung des Feindes (haben)“, zu
entnehmen ist, dass dabei offenbar von einer der Beschränkung vorausliegenden Ver-
letzungsbefugnis bis hin zu möglicher Tötung von Menschen ausgegangen wird,
oder selbst wenn in sonstigen internationalen Abkommen partiell nur besonders un-
menschliche Tötungsmittel verboten oder lediglich bestimmte Exzesse gegenüber

12
Wie insbesondere gegenüber der Ausweitung auf Terrorismusbekämpfung auch kritisiert
von Reinhard Merkel, Frankreichs Terrorkampf: Wen sollen wir denn da bekriegen?, in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. 11. 2015.
13
Näher zu diesen – weder im Schrifttum noch in der Rechtsprechung ernsthaft wahrge-
nommenen – allgemeinstrafrechtlichen Rechtfertigungsmängeln Eser (Fn. 4), Schöch-FS
S. 464 ff., Wahl-FS S. 667 ff., CrimLaw&Phil 2018, 313 ff.; speziell zur fragwürdigen Legi-
timierung „kollateraler“ Tötung von Zivilisten vgl. u. III.
14
Näher zu diesen verfassungsrechtlichen Aspekten Eser (Fn. 4), Wahl-FS S. 671 ff., Krieg
und Recht S. 244 ff., CrimLaw&Phil 2018, 316 ff. – Soweit in meinen deutschen Publikatio-
nen auf die Menschenwürde Bezug genommen wird (wie in Wahl-FS S. 672 bzw. in Krieg und
Recht S. 245), bleibt klarzustellen, dass Art. 2 Abs. 2 GG nicht nur für den Umfang des
Lebensschutzes, sondern auch, wie in der englischen Version unmissverständlich zum Aus-
druck gebracht (CrimLaw&Phil 2018, 317), für Gegenstand und Maß der Menschenwürde
bestimmend ist (BVerfGE 88, 203, 251).
1414 Albin Eser

der Zivilbevölkerung untersagt werden sollten, ohne damit das Töten als solches aus-
zuschließen, so mögen solche Schlussfolgerungen zwar logisch korrekt, nicht aber
auch normativ vertretbar sein. Denn dies wären sie nur dann, wenn durch den Ver-
zicht auf ein Verbot eine bereits bestehende Handlungsfreiheit gewahrt bliebe. Das
aber wäre im Hinblick auf die Garantie des Lebens nur dann der Fall, wenn die Tö-
tung menschlichen Lebens zur allgemeinen Entfaltungsfreiheit gehören würde. Eine
solche weitreichende primäre Tötungsfreiheit, wie sie sich vielleicht noch Thomas
Hobbes vorgestellt haben mag, wäre jedoch schwerlich mit allgemeinen Rechtsüber-
zeugungen vereinbar, wie insbesondere nicht mit modernen Menschenrechten und
deren Höchstrecht auf Leben. Daher ist es nicht das Recht auf Leben, sondern dessen
Verletzung, wofür es einer Rechtfertigung bedarf. Kurzum: da die Tötung von Men-
schen grundsätzlich verboten (und dadurch tödliche Freiheitsentfaltung von vornher-
ein eingeschränkt) ist, lässt sich kriegsbedingtes Töten nicht einfach aus dem Fehlen
eines ausdrücklichen Tötungsverbots im Kriegsrecht legitimieren.15 Dies ist auch
dem gelegentlich von Völkerrechtlern zu vernehmenden Vorschlag entgegenzuhal-
ten, aus Art. 43 Abs. 2 und Art. 51 des Zusatzprotokolls I zum Genfer Abkommen
der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte eine – im Unterschied zu „Kämp-
fern“ nicht-internationaler Konflikte – speziell und allein für „Kombattanten“ einge-
räumte Befugnis zum Ergreifen nicht ausschließlich verbotener Kriegshandlungen
herauszulesen.16 Denn auch auf diesem Weg ist, soweit es um die Vernichtung
menschlichen Lebens geht, nicht daran vorbeizukommen, dass sich eine solche Tö-
tungslizenz lediglich negativ aus einem Nichtverbotensein erschließen ließe, eine
solche Schlussfolgerung jedoch normativ voraussetzen würde, dass menschlichem
Leben gegenüber nicht ausdrücklich verbotenen Kriegshandlungen schon grundsätz-
lich kein Schutzanspruch zustehe – eine weder mit grund- noch mit menschenrecht-
lichen Lebensgarantien vereinbare Annahme.17

15
Näher zu diesen kriegsvölkerrechtlichen Legitimierungsversuchen – einschließlich ihrer
teils aus Souveränitätsaspekten zu erklärenden Hintergründe – Eser (Fn. 4), Schöch-FS
S. 469 ff., Wahl-FS S. 678 ff., Krieg und Recht S. 248 f., CrimLaw&Phil 2018, 320 ff.
16
In diesem Sinne dürfte etwa auch OVG Münster (Fn. 2), Rn. 392 zu verstehen sein.
17
Dies gilt unbeschadet der in Art. 6 Abs. 1 S. 3 des Internationalen Paktes für bürgerliche
und politische Rechte (IPbpR) vorgesehenen Einschränkung, dass niemand „willkürlich“
seines Lebens beraubt werden darf; denn das damit für „nicht willkürliche“ Tötung eröffnete
Tor wird schwerlich dahingehend zu verstehen sein, dass Kriegshandlungen, sofern nicht
ausdrücklich verboten, generell nicht „willkürlich“ seien und demzufolge im Krieg dem
menschlichen Leben grundsätzlich kein Lebensschutz garantiert sei – ganz abgesehen davon,
dass in anderen menschenrechtlichen Verbürgungen, wie insbesondere in Art. 3 der Allge-
meinen Erklärung der Menschenrechte, Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention
(EMRK) und Art. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-Charta), keine
dem IPbpR vergleichbare Einschränkung vorzufinden ist. Bezeichnenderweise finden sich
selbst zu den Lebensschutzeinschränkungen in Art. 2 EMRK – wie (neben dem zunächst in
dessen Abs. 1 S. 2 eingeräumten, inzwischen jedoch durch Art. 2 des Protokolls 6 zur EMRK
obsolet gewordenen Vorbehalt zugunsten der traditionellen Todesstrafe) in der nach Abs. 2 (a)
nicht als Verletzung der Lebensschutzgarantie zu betrachtenden Tötung zwecks unbedingt
erforderlicher Verteidigung gegen rechtswidrige Gewalt – keine Hinweise auf vergleichbare
Tötungsbefugnisse im Krieg (wie beispielsweise weder bei Jochen Abr. Frowein, Art. 2 [Recht
Tödliche „Kollateralschäden“ durch militärische Aktionen 1415

Wie schwer es gleichwohl fällt, sich der Grundfrage nach der Legitimation von
Tötung im Krieg überhaupt zu stellen und sich dabei nicht auf bestimmte Tötungs-
konstellationen wie insbesondere tödliche „Kollateralschäden“ an Zivilisten zu be-
schränken, lässt sich kaum eindrucksvoller als an der in neuerer Zeit wohl umfang-
reichsten Untersuchung zum deutschen Einsatz tödlicher Gewalt im Ausland von
Carl-Wendelin Neubert demonstrieren.18 Einerseits sehe ich in dieser gleichermaßen
völkerrechtlich wie verfassungsrechtlich ungemein tiefgründigen und kompetenten
Arbeit meine Zweifel an einer derzeit mangelnden Rechtsgrundlage für Tötung im
Krieg insofern bestätigt, als Neubert auch im Kriegszustand die Achtung von Grund-
und Menschenrechten auf Leben nicht suspendiert sieht und demzufolge tödliche
Eingriffe einer Ermächtigung bedürfen,19 dass sich solche Erlaubnisnormen insbe-
sondere nicht im Umkehrschluss aus nur partiellen Verbotsnormen ableiten lassen,20
ebenso wenig wie sich mangelnde gesetzliche Ermächtigungen durch Berufung auf
Gewohnheitsrecht oder sonstige „zusammengesetzte Rechtsgrundlagen“ ersetzen
ließen21 – mit dem daraus von Neubert für den auswärtigen deutschen Einsatz töd-
licher Waffengewalt gezogenen Ergebnis, dass es dafür derzeit an einer verfassungs-
gemäßen parlamentsgesetzlichen Eingriffsgrundlage fehle und demzufolge inner-
halb einer ausnahmsweisen Übergangsfrist eine ausreichende Ermächtigungsgrund-
lage zu schaffen sei.22
So sehr diesem Befund zuzustimmen ist, soweit es unbeteiligte Zivilisten als To-
desopfer militärischer Aktionen betrifft, so sehr ist andererseits zu bedauern, dass
Neubert – aus welchen Gründen auch immer – davon absah, sich der generellen Le-
gitimitätsfrage rechtmäßigen Tötens im Krieg, und damit auch zwischen gegneri-
schen Kombattanten, zu stellen. Ohne in Zweifel ziehen zu wollen, dass sich bei
der Tötung von Kombattanten, Zivilisten oder sonstigen Teilnehmern an Kampf-
handlungen angesichts ihrer verschiedenartigen Rolle23 die Rechtfertigungsfrage je-

auf Leben], in: Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2009,


S. 28 ff., noch bei Jens Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl. 2011, Art. 2 Rn. 4 f.). Und selbst
soweit es um eine mögliche Suspendierung von Menschenrechten im Kriegsfall geht, soll dies
zwar nach Art. 15 Abs. 2 EMRK für auf „rechtmäßige Kriegshandlungen“ rückführbare To-
desfälle zulässig sein, ohne dass jedoch die für die Rechtmäßigkeit maßgeblichen Regeln
positiv geregelt wären, während in der vergleichbaren Notstandsregelung des Art. 4 Abs. 2
IPbpR die Kriegsklausel schon gar nicht enthalten ist und somit das Recht auf Leben (Art. 6)
vorbehaltlos garantiert wird. – Zu nicht willkürlicher Tötung aus der Sicht des OVG Münster
vgl. u. zu Fn. 28.
18
Carl-Wendelin Neubert, Der Einsatz tödlicher Waffengewalt durch die deutsche aus-
wärtige Gewalt, Berlin 2016.
19
Neubert (Fn 18), S. 62 ff., 135 ff.
20
Neubert (Fn. 18), S. 103, 292 ff.
21
Neubert (Fn. 18), S. 286 ff., 316 ff.
22
Neubert (Fn. 18), S. 319 ff.
23
Wie von Neubert (Fn. 18) als möglichen Zielpersonen und Zielobjekten sowohl im
Hinblick auf internationale als auch nicht-internationale bewaffnete Konflikte zutreffend un-
terschieden: S. 103 ff. bzw. 127 ff. Näher zum privilegierten Status von Kombattanten im
1416 Albin Eser

weils in unterschiedlich gravierender Weise stellen kann,24 muss gleichwohl bei Neu-
bert verwundern, mit welch hohem akribischen Aufwand im Hinblick auf die „kol-
laterale“ Tötung von Zivilisten der Suche nach einer Ermächtigungsgrundlage nach-
gegangen wird, während die Rechtfertigung möglicherweise gleichzeitig getöteter
Kombattanten, weil offenbar als selbstverständlich vom Kriegsvölkerrecht ge-
deckt,25 wohl keiner näheren Hinterfragung bedürftig erschien. Zwar wird immerhin
eingeräumt, dass der Einsatz tödlicher Waffengewalt – und dies offenbar auch gegen-
über gegnerischen Kombattanten – „im Regelfall den Tatbestand des Totschlags gem.
§ 212 StGB oder der fahrlässigen Tötung gem. § 222 StGB, u. U. sogar des Mordes
gem. 211 StGB“ erfülle, doch sei dieser Einsatz aus der Sicht des Strafrechts als ge-
rechtfertigt anzusehen, „wenn sich die Gewaltanwendung – jenseits der engen Vor-
aussetzungen der §§ 32, 34 StGB – im Rahmen des völker- und verfassungsrechtlich
Zulässigen bewegt“26 – wobei jedoch gerade mit dieser üblichen Berufung auf das
Völkerrecht offen bleibt, inwieweit diesem eine ausreichende Legitimationsgrund-
lage entnommen werden kann.27
Ein solcher Vorbehalt ist auch gegenüber der Argumentationsweise des OVG
Münster im Jemen-Fall zu machen. Wenn dieses unter Bezugnahme auf Art. 6
Abs. 1 S. 3 IPbpR immer wieder davon spricht, dass nur „willkürliche“ Tötungen“
völkerrechtlich verboten seien28 und Willkürlichkeit zu verneinen sei, solange
Kriegshandlungen von Kombattanten nicht durch das humanitäre Völkerrecht verbo-
ten sind,29 so ließe sich das zwar einerseits dahingehend verstehen, dass auch im
Krieg Leben nicht grundsätzlich schutzlos gestellt sein soll. Doch ganz abgesehen
davon, dass der Ausschluss von Willkürlichkeit bei völkerrechtlich nicht verbotenen
Kriegshandlungen im fraglichen IPbpR-Artikel nicht ausgesprochen, sondern ledig-
lich hineingelesen ist, lässt der Rückgriff auf das humanitäre Völkerrecht immer
noch den üblichen Schluss zu, dass alles, was danach nicht ausdrücklich verboten

Unterschied zu anderen an bewaffneten Konflikten beteiligten Personengruppen Wolff Heint-


schel von Heinegg, in: Knut Ipsen, Völkerrecht, 7. Aufl. München 2018, S. 1320 ff.
24
Wie bereits in differenzierter Betrachtung von vier Gruppen beiderseits betroffener
Kombattanten und Zivilpersonen dargestellt in Eser (Fn. 4), Wahl-FS S. 672 ff., Krieg und
Recht S. 245 ff., CrimLaw&Phil 2018, 317 ff.
25
Vgl. Neubert (Fn. 18), S. 18 ff., 100, 104 ff., 127 ff. sowie passim.
26
Neubert (Fn. 18), S. 326.
27
Obgleich Neubert diese meine bereits in der Schöch-FS (Fn. 4) S. 461 ff. erhobenen
Zweifel bekannt gewesen sein dürften, da er ausdrücklich auf diese Publikation verweist
(S. 326 Anm. 330), und ihm auch meine zusätzlichen Einwände in der von ihm mehrfach
zitierten Wahl-FS (Fn. 4) S. 665 ff. nicht entgangen sein konnten, ist er einer Auseinander-
setzung damit aus dem Weg gegangen, um sich stattdessen mit einer Charakterisierung meiner
Meinung als „kritisch“ (gegenüber der von ihm akzeptierten herrschenden Meinung) zu be-
gnügen. Auch von einer vertieften Auseinandersetzung mit den im obigen Zitat angespro-
chenen Rechtfertigungsgründen, an deren Anwendbarkeit von mir ebenfalls bereits Zweifel
angemeldet worden waren, meinte er, an dieser Stelle absehen zu sollen.
28
OVG Münster (Fn. 2), Leitsatz 12, Rn. 219, 418, 425.
29
Wie wohl OVG Münster (Fn. 2), Rn. 219, 372, 392, 419 zu verstehen ist.
Tödliche „Kollateralschäden“ durch militärische Aktionen 1417

ist, im Krieg erlaubt sein soll30 – mit der merkwürdigen Konsequenz, dass das soge-
nannte „humanitäre“ Völkerrecht zwar Kriegs-Kombattanten einen nicht verbotenen
Freiraum verschafft, Kriegs-Opfer hingegen insoweit schutzlos stellt.31 All dies
bleibt auch vom OVG Münster unbedacht, weil es sich, anstatt die Legitimation
von Tötung im Krieg grundsätzlich zu hinterfragen, kurzerhand auf die Grenzen
rechtmäßiger Drohneneinsätze beschränkt.
Was die Position von Reinhard Merkel zu jenem Grundsatzproblem betrifft, so ist
sie nicht ganz leicht auszumachen. Wenn es ihm „lebensfern“ erschiene zu verken-
nen, dass das Völkerrecht den Krieg als „Faktum der Politik und der Menschheits-
geschichte“ voraussetze und es deshalb „jedenfalls nicht alle tödlichen Folgen krie-
gerischer Gewalt als Unrecht brandmarken“ könne, so daß dies „im Hinblick auf die
wechselseitige Tötung der unmittelbar gewaltbeteiligten Akteure … allgemein für
evident gehalten“ werde, gehöre sie doch „zum Sinn, ja nachgerade zur Definition
militärischer Gewalt“,32 so liegt es nahe anzunehmen, dass ihm die Selbstverständ-
lichkeit, mit der Töten im Krieg im Völkerrecht als legitim gilt, nicht unverständlich
erscheint. Nachdem er allerdings sogleich dazu bemerkt, „dass dies keineswegs frag-
los sein sollte“ und er meine Kritik an der mangelnden Legitimitätsdebatte plausibel
findet,33 scheint er von der traditionellen Selbstverständlichkeit, mit der Tötung im
Krieg grundsätzlich für legitim und nicht weiter begründungsbedürftig gehalten
wird, nicht überzeugt zu sein. In diesem Sinne ist wohl auch seine Antwort auf
eine Frage zu verstehen, die ihm in der Diskussion seines Vortrags auf dem Lüders-
sen-Symposion34 von Wolfgang Naucke zur verbrechenssystematischen Einordnung
strafloser Kollateralschäden gestellt wurde: ob es dabei um Tatbestandserfüllung,
Rechtfertigung oder Entschuldigung gehe.35 Auch wenn Naucke dabei offenbar
nur an die Tötung unschuldiger Menschen dachte, lässt die Antwort von Merkel,
dass es ihm „um die Frage einer Rechtfertigung tatbestandsmäßigen Handelns, näm-
lich des Tötens von Menschen, nicht um eine Entschuldigungsfrage“ gehe,36 den
Schluss zu, dass dies als eine allgemeine, nämlich jede Tötung im Krieg umfassende
Aussage im Sinne eines – wie auch immer zu begründenden – Rechtfertigungsbe-
dürfnisses gemeint ist. Hingegen dürfte er bei seinem weiteren Hinweis auf eine
30
Vgl. auch o. Fn. 17.
31
Vgl. dazu auch u. zu Fn. 40.
32
Merkel (Fn. 1), JZ 2012, 1137.
33
Merkel (Fn. 1), JZ 2012, 1138 Anm. 3 unter Hinweis auf meinen Beitrag in der Schöch-
FS (Fn. 4), S. 461 ff.
34
Diskussion zum Referat von Reinhard Merkel, in: Lüderssen-Symposion (Fn. 1),
S. 248 – 262.
35
Wolfgang Naucke (Fn. 34), S. 258.
36
Merkel (Fn. 34), S. 260 f.; vgl. aber auch Merkel, Können Menschenrechtsverletzungen
militärische Interventionen rechtfertigen?, in: Georg Meggle (Hrsg.), Humanitäre Interventi-
onsethik, Paderborn 2004, S. 107 – 132, wonach der „kollaterale“ Tod von Zivilisten zwar
nicht rechtfertigungsfähig sei, jedoch „als unvermeidbare Folge legitimer militärischer Ver-
teidigungsaktionen auf Seiten des Angegriffenen immerhin entschuldigt werden“ könne
(S. 127).
1418 Albin Eser

bloße „Teilrechtfertigung, vielleicht gar keine richtige Rechtfertigung“ oder eine


möglicherweise einfach offen zu bleibende „Rechtfertigungslücke“37 lediglich die
von Naucke angesprochene Tötung unschuldiger Menschen im Auge gehabt
haben, zumal es in seinem Vortrag ja insbesondere um die kollaterale Tötung von
Zivilisten im Krieg und deren Legitimierung ging.38
Bevor darauf näher einzugehen sein wird, erscheint noch ein – möglichen Fehl-
vorstellungen vorbeugendes – Wort zu der bislang im Vordergrund stehenden
Grundsatzfrage legitimen Tötens im Krieg angebracht. Wenn dazu das Fehlen
einer tragfähigen Legitimationsbasis zu monieren war, dann nicht etwa deshalb,
weil ich so weltfremd wäre zu meinen, dass tödlichen Militäraktionen prinzipiell
die Rechtmäßigkeit abzusprechen sei. Denn ebenso wie sich eine Privatperson
gegen einen rechtswidrigen Angriff erforderlichenfalls mit tödlicher Folge muss
verteidigen dürfen, muss Gleiches auch für ein angegriffenes Land und für die
zu seiner Verteidigung eingesetzten Soldaten gerechtfertigt sein. Wohl aber müs-
sen solche Tötungsbefugnisse begründet und in ihren Voraussetzungen und Gren-
zen gesetzlich umschrieben sein.39 Auch wenn völkerrechtlich bestimmte Tötungs-
mittel inzwischen verboten sind und jedenfalls die Zivilbevölkerung von unrecht-
mäßigen Verlusten an Menschenleben verschont bleiben soll, ist damit das Grund-
problem nicht gelöst: nämlich dass die menschenrechtliche Garantie des Lebens
auch im Krieg Beachtung erheischt und demzufolge dem Schutz des allgemeinen
Tötungsverbots untersteht, von dem Ausnahmen einer Rechtfertigung bedürfen,
die sich nicht einfach aus einem fehlenden Verbot ergeben kann. Wenn es bislang
an einer klaren und ausdrücklichen Positivierung rechtfertigbarer Tötung im Krieg
fehlt, dürfte ein wesentlicher Grund nicht zuletzt darin zu finden sein, dass der Völ-
kergemeinschaft bisher nur eine Einhegung des Krieges gelungen ist, nicht aber
dessen grundsätzliche Verwerfung oder zumindest seiner tödlichen Folgen. Inso-
fern ist das Völkerrecht im Zuge seiner humanitären Verrechtlichung auf halbem
Wege stehen geblieben.40
37
Merkel (Fn. 34), S. 261.
38
Gleichwohl erscheint es hinsichtlich der dazu geführten Diskussion (Fn. 34) einmal
mehr bemerkenswert, dass in dieser zwar alle möglichen Einzelfragen aufgeworfen wurden,
nicht aber die Grundfrage legitimen Tötens im Krieg. Immerhin war aber von dem an
diesem Symposion ebenfalls teilnehmenden Ulfrid Neumann schon zuvor – unter Hinweis
auf meinen FAZ-Beitrag zu „Dürfen Soldaten überhaupt töten?“ vom 28. 12. 2011 – fest-
gestellt worden, dass auch tödliche Kriegshandlungen „als Rechtsgutsverletzungen tatbe-
standsmäßige Tötungshandlungen darstellen und deshalb eines klar konturierten Rechtfer-
tigungsgrundes bedürfen“: Normlogik, Argumentationstheorie und das Problem der nega-
tiven Tatbestandsmerkmale, in: Piotr Kardas/Tomasz Sroka/Włodzimierz Wróbel (Hrsg.),
Państwo Prawa i Prawo Karne (Festschrift für Andrzej Zoll), Warszawa 2012, Tom I,
S. 417 – 432 (432).
39
An welchen Leitlinien dies auszurichten wäre, findet sich bereits skizziert in Eser
(Fn. 4), Schöch-FS S. 479 f., Krieg und Recht S. 252 ff., CrimLaw&Phil 2018, 324 f.
40
Insoweit gilt hier Gleiches wie für die unvollendet gebliebene Verrechtlichung des
Völkerrechts überhaupt, wie eindrücklich beschrieben von Marcus M. Payk, Frieden durch
Recht? Der Aufstieg des modernen Völkerrechts und der Friedensschluss nach dem Ersten
Tödliche „Kollateralschäden“ durch militärische Aktionen 1419

III. Zur fraglichen Rechtmäßigkeit tödlicher „Kollateralschäden“


bei Drohneneinsätzen
Auch wenn einerseits zu bedauern ist, dass – wie vorangehend gezeigt – Tötung
im Krieg von der herrschenden Lehre und Praxis grundsätzlich als nicht legitimie-
rungsbedürftig hingenommen wird, ist andererseits zu begrüßen, dass zumindest
die Rechtmäßigkeit der Tötung von unbeteiligten Zivilisten durch ferngesteuerte
Drohneneinsätze immer mehr hinterfragt wird. Dabei sollte freilich bewußt bleiben,
dass es innerhalb der vier Hauptgruppen potentiell kriegsbedingt getöteter Menschen
– nämlich jeweils eigener und gegnerischer Kombattanten sowie unbeteiligter Zivi-
listen der eigenen und der gegnerischen Bevölkerung41 – bei den hier infrage stehen-
den tödlichen Drohneneinsätzen im Ausland lediglich um ein Teilsegment der zuletzt
genannten Kategorie ziviler Kollateralschäden geht. Bei diesen steht die steigende
Einsatzpraxis im umgekehrten Verhältnis zu ihrer rechtlichen Legitimierung.42
Wie sich eine solche begründen ließe, wird in diesem Rahmen nicht abschließend
zu klären sein. Immerhin mögen aber wenigstens einige der dazu eingeschlagenen
Wege auf ihre Gangbarkeit hin überprüft werden.
Wie bereits an anderen Stellen dargetan, ist die Tötung von unbeteiligten Zivil-
personen infolge ferngesteuerter Drohneneinsätze gegen – tatsächliche oder ver-
meintliche – Kombattanten oder Kämpfer jedenfalls nicht mit allgemeinstrafrecht-
lichen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründen zu legitimieren.43 Auch aus
dem Verfassungsrecht sind keine Ermächtigungen zur Tötung unbeteiligter Zivilis-
ten, gleich welcher Nationalität oder Territorialität, zu gewinnen44 – ganz abgesehen
davon, dass nicht einmal die gezielte Tötung von angeblichen Terroristen im Sinne
von „targeted“ killing“ oder „signature strikes“ frei ist vom verfassungswidrigen Ge-
ruch antizipierter Todesstrafe.
Was angesichts dieser strafrechtlichen Fehlanzeige die Entscheidung des OVG
Münster zu den Drohneneinsätzen im Jemen-Fall betrifft,45 kann kaum überraschen,
dass sich das Gericht bei seiner Rechtmäßigkeitsprüfung kurzerhand auf die völker-

Weltkrieg, Berlin/Boston 2018. So gesehen wurde auch mit dem Kellogg Briand Pact von
1928 noch kein „outlawing war“ erreicht, wie dies angenommen wird von Oona A. Hathaway/
Scott J. Shapiro, The Internationalists: How a Radical Plan to Outlaw War Remade the World,
New York 2017, mit Review von Arthur Ripstein, CrimLaw&Phil (2019), 13: 205 – 214.
41
Näher zu diesen verschiedenen, mit unterschiedlich schwierigen Legitimierungsproble-
men behafteten Täter-und Opfergruppen militärischer Auseinandersetzungen vgl. o. zu
Fn. 23 f.
42
Zu dem kaum noch überschaubaren Schrifttum zu zivilen Todesopfern bei – wie auch
immer weit verstandenen – Kriegseinsätzen vgl. neuestens die Literaturnachweise bei Neubert
(Fn. 18), S. 347 ff., wo sich allerdings die einschlägigen Veröffentlichungen von Merkel
(Fn. 1) merkwürdigerweise nicht genannt finden.
43
Eser (Fn. 4), Schöch-FS S. 475 ff., Wahl-FS S. 669 f., Krieg und Recht S. 242 f., Crim-
Law&Phil 2018, 313 ff.
44
Eser (Fn. 4), Wahl-FS S. 675, CrimLaw&Phil 2018, 318.
45
OVG Münster (Fn. 2).
1420 Albin Eser

rechtliche Ebene begeben hat, ohne sich mit vorgelagerten Legitimitätsproblemen


von Tötung im Krieg auseinanderzusetzen,46 geschweige von bereits publizierten Be-
denken gegen tödliche Kollateralschäden an unbeteiligten Zivilisten47 überhaupt
Kenntnis zu nehmen.48 Stattdessen geht das OVG zur Begründetheit der auf Ver-
pflichtung der Bundesregierung gerichteten Klage, sich über die Vereinbarkeit der
von deutschem Boden aus mitgesteuerten Drohneneinsätze mit dem Völkerrecht
zu vergewissern und erforderlichenfalls auf dessen Einhaltung hinzuwirken,
davon aus, dass der Kläger zwar keinen grundrechtlichen Abwehranspruch,49
wohl aber einen gleichermaßen grundgesetzlichen wie völkerrechtlichen Anspruch
auf den Schutz seines Lebens hat.50 Inwieweit die dementsprechende Schutzpflicht
des Staates im Falle bewaffneter Konflikte Einschränkungen erfahren kann, soll –
kürzestmöglich auf den hier relevanten Punkt gebracht – nach humanitärem Völker-
recht zu bestimmen sein.51 Da danach nur „willkürliche“ Tötungen verboten sein sol-
len und militärische Einsätze nicht als willkürlich anzusehen seien, soweit sie nicht
durch humanitäres Völkerrecht verboten sind,52 sei der Einsatz bewaffneter Drohnen
nicht generell verboten.53 Demzufolge brauchte es für das OVG nur noch darauf an-
zukommen, ob und inwieweit die infrage stehenden Drohneneinsätze den Vorausset-
zungen des dafür einschlägigen Art. 51 Zusatzprotokoll I entsprachen, wie insbeson-
dere dem Vorliegen eines bewaffneten Konflikts, sowie das Unterscheidungsgebot
zwischen Kombattanten und Zivilpersonen beachtet und die Verhältnismäßigkeit
zwischen dem zu erwartenden militärischen Vorteil und den zu befürchtenden Ver-
lusten an Menschenleben gegeben waren.54 Von diesen Voraussetzungen erschien es
dem OVG vor allem hinsichtlich des Unterscheidungsgebots als erheblich zweifel-
haft, ob diesem die generelle Einsatzpraxis der USA in der gebotenen Weise Rech-
nung trägt.55 Fraglich sei dies insbesondere deshalb, weil die USA in ihrem praktisch
grenzenlos und potenziell globalen Krieg gegen den internationalen Terrorismus von
einem zu weiten, mit humanitärem Völkerrecht nicht in Einklang zu bringenden Ver-

46
Wenn das Urteil gleichwohl – in dem mir vorliegenden Ausdruck in www.nrwe.de – eine
Länge von nahezu 140 Seiten aufweist, so ist das vor allem damit zu erklären, dass bereits
Zulässigkeitsfragen – wie auch die Darstellung der Drohneneinsatzpraxis – einen breiten
Raum einnehmen, immerhin aber schon dabei verfassungs- und völkerrechtliche Aspekte
angesprochen werden.
47
Wie etwa die von Merkel (Fn. 1) oder meinerseits (Fn. 4) erhobenen Einwände.
48
Wie überhaupt an diesem OVG-Urteil auffällt, dass sich die durchaus zahlreichen Lite-
raturnachweise – neben der Anführung von einschlägigen offiziösen Stellungnahmen – wei-
testgehend auf öffentlichrechtliches Schrifttum beschränken.
49
OVG Münster (Fn. 2), Rn. 137 ff.
50
OVG Münster (Fn. 2), Rn. 185 ff.
51
OVG Münster (Fn. 2), Rn. 341 ff.
52
Vgl. dazu bereits o. zu Fn. 28 f.
53
OVG Münster (Fn. 2), Rn. 372.
54
Zu Einzelheiten vgl. OVG Münster (Fn. 2), Rn. 343 ff.
55
OVG Münster (Fn. 2), Rn. 459.
Tödliche „Kollateralschäden“ durch militärische Aktionen 1421

ständnis eines bewaffneten Konflikts ausgehen,56 wobei das OVG diese Zweifel noch
dadurch verstärkt sieht, dass die USA ein völkerrechtlich nicht gedecktes Recht auf
„präemptive“Ausübung von Gewalt für sich in Anspruch nehmen.57 Um auszuschlie-
ßen, dass demzufolge völkerrechtswidrige Drohneneinsätze von deutschem Boden
aus mitgesteuert werden, wurde die Bundesrepublik zum Ergreifen geeigneter Er-
mittlungsmaßnahmen verurteilt.58
Was die an dieser Stelle allein interessierende Frage nach der Rechtfertigung kol-
lateraler Tötung von Zivilpersonen durch Drohneneinsätze betrifft, sind zwar einer-
seits die Zulässigkeitsgrenzen zu begrüßen, die das OVG Münster mit – mögliche
außenpolitische Spannungen nicht scheuender – Deutlichkeit gezogen hat.59 Zu
der möglichen Begrenzungen vorausliegenden Grundsatzfrage hingegen, nämlich
zur Legitimität des verbleibenden Bereichs unverbotenen, weil für verhältnismäßig
gehaltenen, kollateralen Tötens, hat sich das OVG mit einem nicht weiter hinterfrag-
ten Rückgriff auf das humanitäre Völkerrecht begnügt. Doch selbst wenn man den –
meinerseits für falsch gehaltenen – Umkehrschluss von nicht verboten zu erlaubt für
zulässig hält,60 hätte man bei einer im Übrigen derart eingehenden Urteilsbegrün-
dung wie dieser erwarten dürfen, dass sich das OVG nicht mit der bloßen Existenz
völkerrechtlicher Abkommen, wie hier in Gestalt des Zusatzprotokolls I, zufrieden
gibt, sondern diese auf grundgesetzlich tragfähige Ermächtigungsgrundlagen hin
einer Überprüfung unterzieht. Grund für Zweifel daran hätte nicht zuletzt die Her-
anziehung der bereits im Entscheidungszeitraum vorliegenden Untersuchung von
Neubert61 liefern können.
Wie dazu bereits festgestellt,62 bedarf es für Eingriffe in die auch in bewaffneten
Konflikten schutzberechtigten Grund- und Menschenrechte auf Leib und Leben
einer gesetzlichen – oder zumindest gesetzesgleichen – Ermächtigungsnorm, für
die weder partielle Verbotsnormen des humanitären Völkerrechts noch die Berufung
auf internationales Gewohnheitsrecht oder sonstige „zusammengesetzte Rechts-
grundlagen“ genügen können. Zwar meinte Neubert bis zur erforderlichen Schaffung
einer ausreichenden Ermächtigungsgrundlage ausnahmsweise eine Übergangsfrist
einräumen zu können.63 Doch ganz abgesehen davon, ob die von ihm dafür geforder-
ten Interimsvoraussetzungen derzeit gegeben sind, gilt es für die Zukunft eine trag-
56
OVG Münster (Fn. 2), Leitsatz 7, Rn. 460 ff.
57
OVG Münster (Fn. 2), Leitsatz 5, Rn. 328 ff., 504 ff. Kritisch zu „präventiver Notwehr“
namentlich auch Reinhard Merkel, Amerikas Recht auf die Welt, in: Dieter S. Lutz/Hans J.
Gießmann (Hrsg.), Die Stärke des Rechts gegen das Recht des Stärkeren, Baden-Baden 2003,
S. 37 – 42; vgl. auch Merkel (Fn. 12).
58
Näher zu dieser deutschen Mitverantwortungsfrage bei ausländischen Drohneneinsätzen
s. u. IV. 2.
59
Vgl. OVG Münster (Fn. 2), Leitsatz 13, Rn. 209, 218, 572.
60
Wiewohl aus OVG Münster (Fn. 2), Rn. 372 zu entnehmen.
61
Neubert (Fn. 18).
62
Vgl. o. zu Fn. 19 ff.
63
Neubert (Fn. 18), S. 319 ff.
1422 Albin Eser

fähige Rechtfertigungsrundlage für Drohneneinsätze mit kollateralen Lebensgefah-


ren für unbeteiligte Zivilpersonen zu schaffen. Dafür aber kann es nicht allein darauf
ankommen, in formaler Hinsicht dem Gesetzesvorbehalt für Grundrechtseingriffe in
Leib und Leben zu genügen, wie dies das Hauptanliegen von Neubert gewesen zu
sein scheint.64 Vielmehr ist dann auch in materieller Hinsicht nach bestmöglichen Le-
gitimationserfordernissen für möglicherweise tödliche Drohneneinsätze unter der
Zivilbevölkerung zu suchen.
In dieser Hinsicht kann man bei Merkel eher fündig werden. Zwar vermag auch er
– in Bestätigung meiner Aussage, dass die Rechtfertigung der Tötung unbeteiligter
Zivilisten im Krieg nach Grund und Grenzen noch einer wirklich befriedigenden Lö-
sung harrt65 – letzten Endes keine solche zu bieten. Immerhin werden aber verschie-
dene Rechtfertigungsansätze scharfsinnig und gedankenreich auf ihre – letztlich
mangelnde – Tragfähigkeit hin überprüft. Das beginnt – nach der meines Erachtens
allerdings nicht voll durchdachten Hinnahme einer generellen Tötungslizenz im
Krieg66 – hinsichtlich der hier interessierenden kollateralen Tötung von unbeteiligten
Zivilpersonen mit dem Bedenken, dass die Opfer eine Duldungspflicht träfe, nämlich
sich um eines militärischen Zieles willen töten zu lassen, wenn die Tötung erlaubt
und dem Täter ein entsprechendes Recht eingeräumt wäre. Eine solche Duldungs-
pflicht sei aber jedenfalls in individuellen Rechts- und Moralverhältnissen schlech-
terdings nicht zu begründen.67 Auch sei dies nicht mit der üblichen Berufung auf hu-
manitäres Völkerrecht zu erreichen, wie insbesondere mit der am Kriterium der Ver-
hältnismäßigkeit ausgerichteten Grenzlinie zwischen erlaubten und verbotenen kol-
lateralen Tötungen in Art. 51 Abs. 5 Zusatzprotokoll I; denn ganz abgesehen davon,
dass es weder einen Konsens darüber, was unter „verhältnismäßigem“ Töten zu ver-
stehen sei, noch eine inner- oder zwischenstaatliche Form legitimen Tötens von
Staats wegen gebe, die ihre genuine Rechtfertigung gerade aus ihrer Verhältnismä-
ßigkeit bezöge, sieht Merkel in der Verhältnismäßigkeit zu Recht nur ein sekundäres
Begrenzungs-, nicht aber ein primäres Begründungsprinzip für tödliche Handlungs-
befugnisse, weswegen mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip nur die Reichweite
eines bereits zuvor und anderweitig zu rechtfertigenden Eingriffs begrenzt wird.68
Eine solche – nicht nur kollaterales Töten begrenzende, sondern das Recht dazu über-
haupt erst begründende – Rechtfertigung aber sei weder mit der Figur des „erlaubten
Risikos“69 noch mit der „Doktrin der Doppelwirkung“70 zu gewinnen, ebenso wenig
64
Woraus sich übrigens auch erklären könnte, warum die – nachfolgend zu betrachtenden
– mehr materiell ausgerichteten Überlegungen von Merkel bei Neubert, soweit ersichtlich,
keine Beachtung gefunden haben. Vgl. auch o. II. zu Fn. 27.
65
Merkel (Fn. 1), JZ 2012, 1143 Anm. 29.
66
Vgl. o. II. zu Fn. 32 ff.
67
Merkel (Fn. 1), JZ 2012, 1138 f.
68
Merkel (Fn. 1), JZ 2012, 1139 f.; vgl. auch schon Merkel, § 14 Abs. 3 Luftsicherheits-
gesetz: wann und warum darf der Staat töten?, JZ 2007, 373 – 385 (374 ff.).
69
Merkel (Fn. 1), JZ 2012, 1140 f.
70
Merkel (Fn. 1), JZ 2012, 1141 f.
Tödliche „Kollateralschäden“ durch militärische Aktionen 1423

wie eine „zwangssolidarische Notstandspflicht“ in Betracht komme, sei doch „kein


vernünftiges Argument dafür erkennbar, der Einzelne müsse solidarisch genug zur
Hergabe seines Lebens für die Ziele und Zwecke Dritter sein, denen er nichts
getan hat, die er nicht bedroht, ja nicht einmal kennt“.71
Auch ohne die von Merkel für nicht tragfähig befundenen Legitimierungsver-
suche hier im Einzelnen kommentieren zu können, ist schwerlich zu bestreiten,
dass mit traditionellen Rechtfertigungsfiguren kein akzeptabler Weg für kollatera-
les Töten von unbeteiligten Zivilpersonen zu finden sein wird. Damit vor die Al-
ternative gestellt, entweder jede Möglichkeit einer Rechtfertigung kollateraler
Kriegstötungen rundum auszuschließen, was jedoch – weil in jedem modernen
Krieg schlechterdings unvermeidbar – letztlich auf nichts Geringeres als das Ver-
bot jedes Krieges selbst hinausliefe und um den hohen Preis einer „esoterischen
Lebensferne“ zu erkaufen wäre, oder sich – im Sinne einer Rawlsschen „nonideal
theory“ – mit einem Legitimationsdefizit abzufinden, hat er sich zu letzterem
durchgerungen und für Abhilfe in Form eines „globalen und transtemporalen nor-
mativen Notstands“ ausgesprochen.72
In der Tat wird man im Sinne von Merkel, wenn man sich nicht realer Bedeutungs-
losigkeit preisgeben und jeder praktischen Verwirklichungschance begeben will,
nicht daran vorbeikommen, dass es angesichts der weltgeschichtlich unleugbaren
Unausrottbarkeit bewaffneter Konflikte eine Rechtfertigungsmöglichkeit für damit
unvermeidbar verbundene Verletzungen von unbeteiligten Personen geben muss,
wobei sich dies noch am ehesten mit notstandsähnlichen Kriterien legitimieren
ließe. Ein daraus zu reklamierender „unreiner Erlaubnistitel einer zwangssolidari-
schen Pflicht zur Lebensopferung“73 wird jedoch allenfalls unter zwei Bedingungen
zu akzeptieren sein: zum einen durch Beschränkung der Privilegierbarkeit bewaff-
neter Konflikte, indem deren Grund vertretbar erscheinen muss und deren Grenzen
möglichst eng zu ziehen sind, und zum anderen durch verstärkten Schutz unbeteilig-
ter Zivilpersonen, indem die Anforderungen an die Beschränkbarkeit potenziell töd-
licher Angriffe auf Kombattanten und vergleichbare Kämpfer verschärft werden und
bei gleichwohl zu befürchtender Betroffenheit Unbeteiligter die Erforderlichkeit von
Kampfhandlungen strengsten Kriterien zu unterwerfen ist. Danach bemessen dürfte
wohl nicht wenigen der derzeit praktizierten Drohneneinsätze die Rechtmäßigkeit
abzusprechen sein.

71
Merkel (Fn. 1), JZ 2012, 1142 f.
72
Merkel (Fn. 1), JZ 2012, 1143 f.
73
Merkel (Fn. 1), JZ 2012, 1144.
1424 Albin Eser

IV. Mögliche Ebenen deutscher Mitverantwortung


Ohne damit die zuvor kritisierte Rechtsprechung und Lehre gutheißen zu wollen,
sei nun gleichwohl auf deren Basis der Frage nachgegangen, ob und inwieweit die
Bundesrepublik Deutschland für ausländische Drohneneinsätze mit kollateraler Tö-
tung unbeteiligter Zivilpersonen mitverantwortlich gemacht werden könnte, wenn
diese Aktionen in irgendeiner Weise als rechtswidrig anzusehen wären. Dabei
sind, wie häufig nicht hinreichend differenziert wird, mehrere Ebenen zu unterschei-
den: eine öffentlich-rechtliche, eine zivilrechtliche sowie eine national und interna-
tional strafrechtliche. Auch bleibt dabei zu beachten, dass der mögliche Verantwor-
tungsbereich von vornherein enger gezogen ist, wenn man alle nach humanitärem
Völkerrecht nicht ausdrücklich verbotenen militärischen Aktionen für erlaubt hält,
als wenn man – wie hier vertreten – umgekehrt nur ausdrücklich für zulässig erklärte
Kampfhandlungen mit möglicherweise tödlichen Folgen als rechtmäßig akzeptiert.74
Doch wie auch immer eng oder weit der Bereich verbotener Aktionen zu ziehen ist,
bleibt der möglicherweise unterschiedliche Wirkungsgrad des Verbots zu beachten.

1. Grundvoraussetzung: die gerichtliche Überprüfbarkeit


von tödlichen militärischen Aktionen

Auch in dieser Hinsicht scheint das Militär eine privilegierte Stellung erwarten zu
dürfen: so jedenfalls in den USA, wo im Jemen-Fall dem Kläger Zugang zu den Ge-
richten verwehrt wurde,75 weil die Entscheidung der Exekutive über Drohneneinsätze
im Ausland als „political question“ nicht justiziabel sei.76 Auch in der deutschen Jus-
tiz war der Kläger zunächst auf ähnliche Vorbehalte gestoßen. Zwar ging das VG
Köln als Vorinstanz im Jemen-Fall nicht so weit, politische Entscheidungen der Exe-
kutive grundsätzlich einer gerichtlichen Überprüfung zu entziehen; indem jedoch bei
der Zielverfolgung von grundrechtlichen Schutzpflichten der jeweils zuständigen
staatlichen Gewalt, womit für den Regelfall die Exekutive gemeint sein dürfte, ein
weiter Gestaltungsspielraum zukomme, sei es den Gerichten nicht gestattet, ihre ei-
gene Einschätzung an die Stelle des jeweils handelnden Organs zu setzen; andern-
falls werde die den Gerichten grundrechtlich eingeräumte Rechtmäßigkeitskontrolle
auf eine mit dem Gewaltenteilungsprinzip nicht vereinbare „Letztentscheidungs-

74
Wobei dies selbstverständlich nicht als Rechtfertigungsbedürfnis für jeden Einzelfall,
sondern als generelle Ermächtigung für bestimmte Kampfhandlungen zu verstehen ist.
75
Vgl. OVG Münster (Fn. 2), Rn. 26, 130.
76
Ahmed Salem bin Ali Jaber et al. v. USA, District Court for the District of Columbia,
Civil Action No. 15-0840 (SH), bin B1, Memorandum Opinon by Judge Ellen S. Huvelle vom
22. 02. 2016; https://ecf.dcd.uscourts.gov/cgi-bin/Opinions.pl?2016, in Anwendung der sog.
„political question doctrine“ (Teil III), wonach Gerichte keine Entscheidungen sollen treffen
dürfen über politische Wahlmöglichkeiten und Werturteile, die ihrer Natur nach unter Aus-
schluss der Gerichtsbarkeit dem politischen Apparat übertragen sind, wobei dies insbesondere
für auswärtige Angelegenheiten und die nationale Sicherheit gelte.
Tödliche „Kollateralschäden“ durch militärische Aktionen 1425

kompetenz der Judikative“ hinauslaufen.77 Dafür sei insbesondere in außenpoliti-


schen Angelegenheiten kein Raum, sodass es „den innerstaatlichen Gerichten ver-
wehrt (sei), völkerrechtliche Beurteilungen der auswärtigen Gewalt unbeschränkt
zu überprüfen“.78
Dieser Selbstentmachtung der Justiz ist das OVG Münster mit der lapidaren Be-
gründung entgegengetreten, dass „das Verbot willkürlicher Tötungen gemäß Art. 6
Abs. 1 S. 3 IPbpR praktisch unwirksam (wäre), wenn es kein Verfahren zur Prüfung
der Rechtmäßigkeit der Anwendung tödlicher Gewalt gäbe“;79 demzufolge komme
der Exekutive – unter Hinweis auf die Gesetzesbindung gemäß Art. 20 Abs. 3 GG
und die Rechtsweggarantie in Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG – grundsätzlich „kein nicht jus-
tiziabler Beurteilungsspielraum“ zu.80 Wie dazu auch der Begründung des Rechts-
schutzinteresses zu entnehmen, war dieses dem Kläger nicht etwa unter Verweis
auf eine größere „Sachnähe“ eines Rechtsschutzes in den USA (als dem Ausgangs-
punkt der fraglichen Drohneneinsätze) abzusprechen,81 ebenso wenig wie mögliche
außenpolitische Spannungen ohne weiteres einer Rechtmäßigkeitsprüfung von töd-
lichen Drohneneinsätzen entgegenstehen dürften.82
Die Bedeutung dieser mutigen, vor Warnungen der beklagten Bundesregierung,
gegenüber anderen souveränen Staaten nicht als „Weltstaatsanwaltschaft“ aufzutre-
ten,83 nicht zurückschreckenden Entscheidung ist nicht hoch genug einzuschätzen;
denn erst dadurch wurde das Tor zu einer gerichtlichen Rechtmäßigkeitsprüfung aus-
ländischer Kampfhandlungen, soweit dabei auch deutsches Territorium involviert ist,
eröffnet – mit möglichen Konsequenzen auf unterschiedlichen Ebenen.

2. Öffentlichrechtliche Ebene: Staatliche Abwehr- und Schutzpflichten

Es ist diese Ebene, auf der im Jemen-Fall über die Mitverantwortung der Bundes-
republik Deutschland an von Ramstein aus mitgesteuerten amerikanischen Drohnen-
einsätzen zu befinden war. Wie aus den Anträgen der Kläger in Verbindung mit dem
Urteilstenor des OVG Münster zu ersehen ist, kommt staatliche Mitverantwortung
für mögliche völkerrechtswidrige Drohneneinsätze in dreifacher Hinsicht in Be-
77
VG Köln 3 K 5625/14 v. 27. 05. 2015 unter B. II. 1.
78
VG Köln (Fn. 77) unter B. II. 2, 5. Soweit dabei innerstaatliche Gerichte völkerrechtli-
che Einschätzungen der Bundesregierung hinsichtlich ihres Tätigwerdens gegenüber dritten
Staaten immerhin daraufhin sollen überprüfen dürfen, „ob sich die Einnahme der fraglichen
Rechtsposition als vertretbar gegenüber dem Bürger darstellt“ (unter B. II. 2), bleibt allerdings
rätselhaft, wonach ausgerechnet eine solche – unvermeidlich politische – Vertretbarkeitsprü-
fung vorzunehmen sein soll.
79
OVG Münster (Fn. 2), Rn. 425.
80
OVG Münster (Fn. 2), Leitsatz 4, Rn. 553 ff., 564.
81
OVG Münster (Fn. 2), Rn. 122 ff.
82
OVG Münster (Fn. 2), Rn. 568 ff.; vgl. auch Rn. 209, 218, 572, 574.
83
Vgl. VG Köln (Fn. 77) S. 6 bzw. OVG Münster (Fn. 2), Rn. 18 zum Klageabweisungs-
antrag der Bundesregierung.
1426 Albin Eser

tracht: durch eine Aufklärungs- und Ermittlungspflicht (a), durch die Pflicht, bei dem
für die Einsätze primär zuständigen Staat auf die Beachtung völkerrechtlicher Ver-
bote hinzuwirken (b), sowie durch die Pflicht, erforderlichenfalls völkerrechtswid-
rige Kampfhandlungen des anderen Staates mittels geeigneter Maßnahmen zu unter-
binden (c).84
Ohne den Entscheidungsgründen dieses Falles – oder weiteren Varianten mögli-
cher staatlicher Inpflichtnahmen – hier im Einzelnen nachgehen und dabei jeweils
zwischen Zulässigkeits- und Begründetheitsaspekten unterscheiden zu können,
seien folgende Punkte als wesentlich für innerstaatliche Mitverantwortung hervorge-
hoben.
• Substantiell entscheidungserheblich ist die Feststellung – bzw. Verneinung – der
Rechtswidrigkeit der verklagten Kampfhandlungen, einschließlich der individu-
ellen Betroffenheit des Klägers. Im Jemen-Fall wurde die Völkerrechtswidrigkeit
der amerikanischen Drohneneinsätze vor allem mit „erheblichen Zweifel(n), ob
die generelle Einsatzpraxis der USA dem Unterscheidungsgebot des Völkerrechts
in der gebotenen Weise Rechnung trägt“, begründet85 und die Betroffenheit der
Kläger darin erblickt, dass sie durch die Einsatzpraxis der USA einer grundrecht-
lich erheblichen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt sind.86

• Sofern die fraglichen Militäraktionen nicht ohnehin von deutschem Boden ausge-
hen oder sich darauf abspielen, ist für eine Mitverantwortung der Bundesrepublik
in territorialer Hinsicht ein Deutschland-Bezug erforderlich.87 Ein solcher wurde
im Jemen-Fall seitens der Bundesregierung vor allem damit bestritten, dass es sich
bei der Nutzung der Relaisstation in Ramstein für die Durchführung amerikani-
scher Drohneneinsätze, ohne dass dabei Kontrollmöglichkeiten deutscher Behör-
den vorgesehen seien, um ein „selbstständiges hoheitliches Handeln eines frem-
den Staates ohne Grundrechtsrelevanz im Verhältnis zur deutschen Staatsgewalt“
handele.88 Dem wurde vom OVG schon bei der Zulässigkeitsprüfung entgegenge-
halten, dass der deutsche Staat zum grundrechtlichen Schutz seiner Staatsangehö-
rigen auch gegenüber fremden Staaten verpflichtet ist und ein solcher Anspruch
aufgrund des Jedermann-Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit
auch Nichtdeutschen zustehen kann89 – mit dem in der Begründetheitsprüfung ge-

84
Vgl. OVG Münster (Fn. 2), Rn. 2, 11 ff., 72, Leitsätze 12 f. Soweit die Kläger hilfsweise
beantragt hatten, das Unterlassen geeigneter Maßnahmen als rechtswidrig festzustellen
(Rn. 30), war die Feststellungsklage wegen Subsidiarität gegenüber einer Leistungsklage als
unzulässig zu verwerfen (Rn. 584), ähnlich wie auch mit der Feststellungsklage im Somalia-
Fall OVG Münster (Fn. 101, Rn. 45 ff.) verfahren wurde.
85
OVG Münster (Fn. 2), Rn. 459; zu Einzelheiten vgl. Rn. 229 ff., 460 ff.
86
OVG Münster (Fn. 2), Rn. 532 ff. Vgl. auch o. III. zu Fn. 50 ff.
87
OVG Münster (Fn. 2), Leitsatz 1, Rn. 116 ff., 218.
88
OVG Münster (Fn. 2), Rn. 18.
89
OVG Münster (Fn. 2), Rn. 90, 103 ff. mit weiterer Vertiefung zur Begründetheit in
Rn. 185 ff., 213 ff.
Tödliche „Kollateralschäden“ durch militärische Aktionen 1427

zogenen Schluss, dass ein enger Bezug zum deutschen Staat anzunehmen ist,
„wenn der andere Staat sein beeinträchtigendes Handeln – den ,Grundrechtsein-
griff‘ – in wesentlicher Hinsicht vom deutschen Staatsgebiet und mithin aus dem
originären Zuständigkeits- und Verantwortungsbereich der deutschen Staatsge-
walt heraus vornimmt“.90 Mithin kann sich ein Mitverantwortung begründender
Deutschland-Bezug bereits daraus ergeben, dass die Bundesrepublik den fremden
Staat, ohne bestmögliche Kontrolle seines verfassungs- und völkerrechtsgemäßen
Verhaltens, auf dem eigenen Territorium agieren lässt.

• Was Art und Grundlage der eine deutsche Mitverantwortung begründenden Pflicht
betrifft, kann grundsätzlich sowohl ein Abwehranspruch gegen Grundrechtsein-
griffe eigener Staatsorgane als auch ein Anspruch des Klägers auf Schutz
gegen Grundrechtseingriffe eines anderen Staates (oder einer vergleichbaren mi-
litärischen Einheit) in Betracht kommen. Im Jemen-Fall wurde ein Abwehran-
spruch verneint, weil dieser deutschen Organen zurechenbare Grundrechtseingrif-
fe voraussetzen würde,91 solche aber weder unmittelbar92 noch mittelbar93 nach-
weisbar seien. Stattdessen wurde eine eingehend begründete, auch nichtdeutschen
Betroffenen zugutekommende Schutzpflicht der Bundesrepublik gegenüber tat-
sächlich oder möglicherweise völkerrechtswidrigen amerikanischen Drohnenein-
sätzen angenommen.94

• Soweit es um die Folgen geht, die aus einer gerichtlich festgestellten Schutzpflicht
zu ziehen sind, kommt für die staatliche Schutzgewährung grundsätzlich alles in
Betracht, was für eine wirksame Pflichterfüllung erforderlich und angemessen
wäre. Nach der dabei zu beachtenden Grenzlinie zwischen der judikativen Recht-
mäßigkeitsprüfung, wie sie sich das OVG Münster nicht nehmen ließ,95 und dem
exekutiven Zweckmäßigkeitsermessen, wie es der Verwaltung zur Umsetzung
staatlicher Aufgaben zusteht, ist dieser ein umso weiterer Einschätzungs-, Beur-

90
OVG Münster (Fn. 2), Rn. 218.
91
OVG Münster (Fn. 2), Rn. 137 f.
92
Und zwar deshalb nicht, weil nur Angehörige der US-Streitkräfte an den Drohnenein-
sätzen beteiligt seien und auf eine Beteiligung deutscher Amtsträger nichts hindeute
(Rn. 139).
93
Insbesondere könne ein mittelbar der Bundesrepublik zurechenbarer Grundrechtseingriff
nicht schon darin erblickt werden, dass die von den amerikanischen Drohneneinsätzen in
Kenntnis gesetzte Bundesregierung eine Unbedenklichkeitserklärung abgegeben habe
(Rn. 159 ff,); denn ganz abgesehen davon, dass die militärische Nutzung von Ramstein von
vornherein nur für eine nach der deutschen Rechtsordnung rechtmäßige Verwendung gestattet
worden sei (Rn. 157), habe die Bundesregierung keinen bestimmenden Einfluss auf den we-
sentlichen Geschehensablauf gehabt (Rn. 170 ff). Aber könnte dieser Mangel an Einfluss, so
wäre kritisch nachzufragen, nicht gerade darauf beruhen, dass die Bundesregierung Maßnah-
men unterlassen hatte, zu denen sie letztlich verurteilt wurde (Rn. 535 ff.)?
94
OVG Münster (Fn. 2), Rn. 136, 185 ff. Zu der dabei angenommenen Völkerrechtswid-
rigkeit vgl. auch o. III. zu Fn. 54 ff.
95
Vgl. o. IV. 2.
1428 Albin Eser

teilungs- und Gestaltungsbereich einzuräumen, je mehr sie – wie insbesondere in


auswärtigen und militärischen Angelegenheiten – für die zu treffenden Maßnah-
men kompetenter erscheint.96 Diesen Ermessensspielraum sah das OVG im
Jemen-Fall nicht fehlerfrei genutzt, da die von der Bundesregierung ergriffenen
Maßnahmen völlig unzulänglich gewesen seien, das verfassungsrechtliche
Schutzziel – die Bewahrung der Kläger vor Schaden an Leib oder Leben durch
völkerrechtswidrige US-Drohnenangriffe unter Nutzung der Air Base Ramstein
– zu erreichen.97 Aufgrund ihrer Mitverantwortung für eine völkerrechtsgemäße
Nutzung von Ramstein wurde die Bundesrepublik Deutschland daher zu Recht
dazu verurteilt, geeignete Ermittlungsmaßnahmen zu ergreifen und erforderli-
chenfalls auf Einhaltung des Völkerrechts hinzuwirken, wobei die Art der konkre-
ten Schutzmaßnahmen dem exekutivem Ermessen der Bundesregierung zu über-
lassen war.98 Wenn die darüber hinausgehend begehrte Unterbindung der Nutzung
für Drohneneinsätze zwar im konkreten Fall schon deshalb abgelehnt werden
konnte, weil die streitigen Drohneneinsätze nicht von vornherein generell völker-
rechtswidrig seien,99 dürfte damit aber kaum auszuschließen sein, dass für den Fall
völkerrechtswidriger – und trotz diplomatischen Gegenvorstellungen gleicherma-
ßen fortgesetzter – Nutzung von Ramstein deren Beendigung geboten sein könnte.

3. Zivilrechtliche Ebene: Wiedergutmachung – Schadensersatz

Während es im Jemen-Fall zweifelsfrei zukunftsgerichtet um Schutz vor drohen-


den Drohneneinsätzen mit möglicherweise zivilen Todesopfern ging,100 war in dem
am selben Tag entschiedenen Somalia-Fall101 das eigentliche Klageziel nicht glei-
chermaßen klar. Denn obgleich formal lediglich auf die Feststellung gerichtet,
dass es die Bundesrepublik Deutschland pflichtwidrig unterlassen habe, gegenüber
den USA auf die Unterbindung bewaffneter Einsätze unbemannter Fluggeräte in So-
malia hinzuwirken,102 und diese Unterlassung den Tod des Vaters des Klägers zur
Folge gehabt habe, ist der Begründung des Rechtsschutzinteresses zu entnehmen,
dass es dem Kläger offenbar um ein zweifaches ging: zum einen um Rehabilitation
und Genugtuung für die Tötung seines Vaters und zum anderen um Abwehr ihm
künftig selbst drohender Drohnenangriffe.103 Lässt man einmal beiseite, dass die ver-
waltungsgerichtliche Feststellungsklage als subsidiär gegenüber einer möglichen

96
OVG Münster (Fn. 2), Rn. 535 ff.
97
OVG Münster (Fn. 2), Rn. 568 ff.
98
OVG Münster (Fn. 2), Leitsatz 13. Rn. 574.
99
OVG Münster (Fn. 2), Rn. 136, 573 ff.
100
Vgl. zuvor IV. 1.
101
OVG Münster – 4 A 1072/16 (Fall Somalia) – Urteil vom 19. 03. 2019.
102
OVG Münster (Fn. 101), Rn. 2, 15.
103
OVG Münster (Fn. 101), Rn. 8 ff.; zu den Einwänden der Beklagten vgl. Rn. 18 ff.
Tödliche „Kollateralschäden“ durch militärische Aktionen 1429

Leistungsklage wohl zu Recht als unzulässig verworfen wurde104 – und der Kläger
mit einem in eine solche Klage gekleideten öffentlich-rechtlichen Schutzanspruch
vielleicht in gleicher Weise wie im Jemen-Fall hätte Erfolg haben können –, so
wäre eine zivilrechtlich auf Wiedergutmachung und Schadensersatz gerichtete
Klage (für den Verlust des Vaters samt etwaiger Nebenfolgen) nicht von vornherein
von der Hand zu weisen.
• Als Anspruchsgrundlage für eine Schadensersatzpflicht der Bundesrepublik
Deutschland für die Tötung oder Verletzung von unbeteiligten Zivilpersonen
durch amerikanische Drohneneinsätze im Ausland, die von deutschem Territori-
um aus mitgesteuert werden, kommt Amtshaftung gemäß des grundsätzlich auch
auf Auslandsaufenthalte anwendbaren Art. 34 S. 1 GG in Verbindung mit § 839
BGB in Betracht.105 Auch wenn im Somalia-Fall letztlich nicht gewährt, war
von den angerufenen Gerichtsinstanzen Schadensersatz jedenfalls nicht vornher-
ein ausgeschlossen worden,106 ebenso wenig wie die für die staatliche Schutz-
pflicht im Jemen-Fall vom OVG Münster erst noch zu erkämpfende gerichtliche
Überprüfbarkeit107 im Somalia-Fall, da offenbar als selbstverständlich angenom-
men, überhaupt in Frage gestellt wurde. Von den für einen staatlichen Schadens-
ersatzanspruch wesentlichen Voraussetzungen108 seien hier lediglich die folgen-
den kurz angesprochen:

• Ebenso wie für eine öffentliche Schutzpflicht bedarf es in territorialer Hinsicht


auch für eine Schadensersatzpflicht der Bundesrepublik eines Deutschland-Be-
zugs.109 Dieser ist natürlich am klarsten, wenn deutsches Personal unmittelbar
an militärischen Aktionen im Ausland beteiligt ist. Doch kann sich ein solcher
Bezug auch mittelbar aus der Überlassung von inländischem Territorium oder
deutschen Einrichtungen zur Nutzung ausländischer Einsätze von fremden Streit-
kräften ergeben.110

• Als substantieller Haftungsgrund ist eine Amtspflichtverletzung erforderlich. Ist


eine solche darin zu erblicken, dass es für tödliche Drohneneinsätze, wie von den
USA derzeit praktiziert, bereits an einer verfassungsgemäßen Eingriffsermächti-
gung fehlt, wie dies namentlich von Neubert moniert wird,111 so kann der Bundes-
republik eine breitflächige Inanspruchnahme für mitzuverantwortende Kollateral-
schäden im Ausland drohen. Doch selbst wenn und soweit es an einer generellen
104
OVG Münster (Fn. 101), Rn. 44 ff.; wenngleich zum Teil aus anderen Gründen im Er-
gebnis bereits ebenso die Vorinstanz VG Köln 4 K 5476/15 vom 24. 04. 2016, Rn. 26 ff.
105
Vgl. Neubert (Fn. 18), S. 325 mit weiteren Nachweisen.
106
Vgl. VG Köln (Fn. 104), Rn. 118 ff., OVG Münster (Fn. 101), Rn. 98.
107
Vgl. o. IV. 1.
108
Vgl. im Übrigen Neubert (Fn. 18), S. 325 Anm. 324.
109
Vgl. o. IV. 2 zu Fn. 87 ff.
110
Wie im Jemen-Fall vom OVG Münster (Fn. 2), Rn. 218 ff. näher dargetan.
111
Neubert (Fn. 18), S. 325; vgl. o. II. zu Fn. 18 ff.
1430 Albin Eser

Eingriffsermächtigung nicht fehlt, kann sich eine haftungsbegründende Amts-


pflichtverletzung aus der konkreten Missachtung von humanitären Verboten be-
stimmter kriegerischer Einsätze, wie etwa nach Art. 51 Zusatzprotokoll I zu
den Genfer Abkommen,112 ergeben. Sollte ein solcher Verstoß, wie die Bezugnah-
me des OVG Münster auf den Einstellungsbeschluss des Generalbundesanwalts
im Kundus-Fall nahelegen könnte,113 nur dann als rechtswidrige Amtspflichtver-
letzung anzusehen sein, wenn er als Völkerrechtsverbrechen im Sinne des VStGB
zu qualifizieren wäre, so würde verkannt, dass die humanitären Kriegshandlungs-
verbote keineswegs deckungsgleich mit dem VStGB, sondern darin lediglich in
ihren gravierenden Modalitäten pönalisiert sind.114 Auch würden solche humani-
tären Verbote jeglicher Eigenbedeutung beraubt, wenn ihre Verletzung völlig fol-
genlos bliebe – wie es der Fall wäre, wenn sie nicht zumindest eine Amtspflicht-
verletzung begründen könnten. In diesem Sinne sehe ich mich auch mit Merkel
einig, wenn er im Kundus-Fall selbst bei zu verneinender Strafbarkeit des Oberst
dessen Handeln für „nicht rechtens“ erklärt und der Bundesregierung die Entschä-
digung der Opfer zu bedenken gibt.115

4. Strafrechtliche Ebene: Individuelle Verantwortlichkeit

Während es vorangehend um Schutzpflichten und Entschädigungshaftung des


Staates ging, steht in strafrechtlicher Hinsicht der individuelle Tatbeteiligte im Mit-
telpunkt. Wenn man sich auch auf dieser Ebene damit zufrieden gibt, dass – entgegen
den hierin erhobenen Einwänden – alles erlaubt sei, was nicht ausdrücklich verboten
ist,116 so sind der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Mitbeteiligten an ausländi-
schen Drohneneinsätzen einerseits in straftatbestandlicher Hinsicht von vornherein
engere Grenzen als bei Schadensersatzansprüchen gesetzt, andererseits können sich
in personeller Hinsicht über deutsche Staatsangehörige hinaus unter Umständen auch
ausländische Tatbeteiligte strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt sehen.
• Um strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden zu können, müssen die frag-
lichen Kriegshandlungen durch einen bestimmten Straftatbestand mit Strafe be-
droht sein. Das ist fraglos der Fall, soweit militärische Kollateralschäden an un-
beteiligten Zivilpersonen als Völkerrechtsverbrechen pönalisiert sind. Ist dies
auf supranationaler Ebene vorgesehen, wie beispielsweise durch Art. 8 Abs. 2
(b) des Rom-Statuts, ist der Internationale Strafgerichtshof zur Verfolgung beru-
fen. Sofern Kriegsverbrechen auch durch nationales Recht sanktioniert sind, wie
namentlich in den §§ 8 – 12 VStGB, fällt die Befassung damit naturgemäß in die
112
Vgl. o. III.
113
OVG Münster (Fn. 101), Rn. 98.
114
Vgl. Kai Ambos, Art. 8 VStGB, in: Münchener Kommentar StGB, Bd. 6/2, München
2009, Vor § 8, Rn. 1 ff.
115
Merkel (Fn. 7).
116
Vgl. o. II.
Tödliche „Kollateralschäden“ durch militärische Aktionen 1431

Zuständigkeit der jeweiligen nationalen Gerichtsbarkeit. Weniger klar ist die


Strafbarkeit von militärischen Aktionen, die zwar nicht als völkerstrafrechtliche
Kriegsverbrechen qualifiziert sind, wohl aber gegen humanitäres Völkerrecht ver-
stoßen. Soweit dies „Kämpfern“ anzulasten ist, die nicht den Status eines „Kom-
battanten“ im Sinne des humanitären Völkerrechts wie insbesondere gemäß
Art. 43 Zusatzprotokoll I genießen,117 ist kein Grund ersichtlich, tödliche Aktio-
nen gegen unbeteiligte Zivilpersonen – im Sinne des „criminal law paradigm“ –
nicht dem allgemeinen Strafrecht zu unterwerfen.118 Ob und inwieweit in gleicher
Weise auch mit Kombattanten zu verfahren ist, hängt davon ab, ob diese allein
schon deshalb dem allgemeinen Strafrecht enthoben sein sollen, weil ihnen im hu-
manitären Völkerrecht ein Sonderstatus eingeräumt sei. Dass dieser jedoch so weit
reichen sollte, dass Kombattanten straflos gegen humanitäre Kriegsführungsre-
geln sollen verstoßen dürfen, solange sie nicht die Schwelle zu einem völkerstraf-
rechtlichen Kriegsverbrechen überschreiten, ist selbst dann nicht einzusehen,
wenn man der Meinung anhängt, dass im Krieg alles erlaubt sei, was nicht verbo-
ten ist. Denn sofern man durch Krieg nicht per se das allgemeine Strafrecht sus-
pendiert sehen will, bedürfen straftatbestandliche Tötungshandlungen, um straflos
zu sein, der Rechtfertigung und Entschuldigung; solche Straffreistellungsgründe
aber dürften schwerlich damit zu begründen sein, dass der Kombattant lediglich
ein humanitäres Verbot missachtet, nicht aber ein Völkerrechtsverbrechen began-
gen habe.119 Soweit sich daher speziell im Blick auf die amerikanischen Drohnen-
einsätze herausstellen sollte, dass sie nicht mit humanitärem Völkerrecht verein-
bar sind, wird sich die Bundesregierung nicht mit nur verwaltungsrechtlichen
Schutzmaßnahmen begnügen dürfen, sondern auch strafrechtliche Ermittlungen
zu veranlassen haben.120
• Soweit sich nach dem Vorangegangenen bestimmte Drohnenangriffe als strafbar
erweisen, stellt sich in personeller Hinsicht die Frage nach den zu erfassenden Tat-
beteiligten. Was die Mitwirkung von deutschen Staatsangehörigen betrifft, wird
für das Ermöglichen der Mitsteuerung von Drohneneinsätzen im Ausland von
deutschem Boden aus wohl nur Beihilfe nach § 27 StGB in Betracht kommen,
es sei denn, dass gesteigertes Engagement und Eigeninteresse einen mittäter-

117
Näher zu dieser Differenzierung vgl. o. II. zu Fn. 23.
118
Vgl. o. II. zu Fn. 11.
119
Auch wenn nicht auf diese Weise begründet, dürften doch auch gegen die großzügig
über die engen Notwehr- und Notstandsvoraussetzungen hinausgehenden Rechtfertigungs-
versuche von Neubert (Fn. 18), S. 326 Zweifel anzumelden sein, ganz abgesehen davon, dass
er zuvor (S. 296 ff.) diese Rechtfertigungsgründe nicht als Ermächtigungsgrundlage hatte ge-
nügen lassen. Auch dass der von ihm konstatierte Ermächtigungsmangel zwar verfassungs-
rechtlich (vgl. o. II. zu Fn. 18 ff.), nicht aber strafrechtlich von Belang sein soll (S. 327),
vermag – entgegen Sternberg-Lieben (o. Fn. 6, Rn. 91a) – nicht recht zu überzeugen.
120
Wobei die Überzeugungskraft der Begründungen, mit denen im Somalia-Fall die Un-
verhältnismäßigkeit ziviler Begleitschäden bzw. eine diskriminierende Wirkung verneint
wurden (VG Köln [o. Fn. 104], Rn. 23, 123, OVG Münster [o. Fn. 101], Rn. 98), hier offen
bleiben mag.
1432 Albin Eser

schaftlichen Grad im Sinne von § 25 Abs. 2 StGB erreichen.121 Wie auch immer,
wäre in territorialer Hinsicht selbst bei einem vom Ausland ausgehenden und in
einem anderen Land einschlagenden Drohneneinsatz aufgrund der Zwischen-
steuerung auf deutschem Boden entweder eine Inlandstat nach § 3 StGB oder
eine Inlandsteilnahme nach § 9 Abs. 2 StGB gegeben. Für ausländische oder
nur im Ausland mitwirkende deutsche Tatbeteiligte wäre die Anwendbarkeit
des deutschen Strafrechts nach § 7 Abs. 2 Nr. 2 bzw. Nr. 1 StGB in Betracht zu
ziehen, vorausgesetzt jedoch, dass der mit Kollateralschäden verbundene Droh-
neneinsatz am jeweils betroffenen ausländischen Tatort mit Strafe bedroht
ist.122 Das wird bei zivilen Todesopfern allerdings wohl nur dann zu bezweifeln
sein, wenn der Drohneneinsatz nicht als Völkerrechtsverbrechen zu qualifizieren
ist und bloße Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht als dem allgemeinen Straf-
recht entzogen angesehen werden.

V. Schlussbemerkung
Wie bereits eingangs angedeutet, konnten in diesem Rahmen bei weitem nicht alle
Fragen, die sich bei tödlichen ,,Kollateralschäden“ an Zivllisten durch militärische
Drohneneinsätze stellen, in der gebotenen Breite und Tiefe behandelt, geschweige
abschließend beantwortet werden. Aber vielleicht ließen sich immerhin die neural-
gischen Punkte aufzeigen, die einer kritischeren Hinterfragung bedürften, als sie von
der derzeit vorherrschenden Lehre und Praxis geboten wird. Zu diesem Überdenken
neuartige Ansätze geliefert und weiterführende Wege eröffnet zu haben, dafür ge-
bührt dem verehrten Jubilar in höchstem Maße Dank und Anerkennung – in der Hoff-
nung, dass ihm noch viele Jahre Zeit und Kraft zur Befassung mit derart gewichtigen
Lebensfragen bleibt.

121
Wie dies im Somalia-Fall vom Kläger vorgetragen wurde: VG Köln (Fn. 103), Rn. 12.
Zur Bandbreite von Personen, die bei Autonomisierungen in Betracht kommen können, vgl.
etwa Markus Wagner, Völker(straf)rechtliche Überlegungen zu autonomen Waffensystemen,
in: Gropp/Hecker/Kreuzer/Ringelmann/Witteck/Wolfslast (Hrsg.), Strafrecht als ultima ratio.
Gießener Gedächtnisschrift für Günter Heine, Tübingen 2016, S. 355 – 368 (366 f.).
122
Näher zu den Einzelheiten, die für die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts bei
grenzüberschreitenden Straftaten zu beachten sind, vgl. die Erläuterungen vor und zu den
§§ 3, 7 und 9 von Eser/Weißer, in: Schönke/Schröder, StGB-Kommentar, 30. Aufl. 2019.
Individuelle Verantwortlichkeit
für staatliche Angriffshandlungen
Überlegungen zum Verbrechen der Aggression

Von Stefanie Bock

Zu den herausragenden Stärken Reinhard Merkels gehört neben wissenschaftli-


cher Gedankenschärfe auch rhetorische Brillanz. Seine leidenschaftlichen und inspi-
rierenden Strafrechtsvorlesungen, in denen er uns Studierende immer wieder ermu-
tigte, tradierte Ansichten und herrschende Meinungen kritisch zu hinterfragen, gehö-
ren zu prägenden Momenten meiner Hamburger Studienzeit. Besonders beeindruckt
hat mich allerdings ein Vortrag, den er 2011 auf der Jahressitzung des Arbeitskreises
Völkerstrafrecht in Den Haag gehalten hat.1 Im März desselben Jahres hatte der UN-
Sicherheitsrat alle UN-Mitgliedstaaten und jede regionale Staatenorganisation er-
mächtigt, „alle erforderlichen Maßnahmen anzuwenden, um Zivilisten und von Zi-
vilisten besiedelte Gebiete in Libyen, die von Angriffen bedroht sind, zu schützen.“2
Die NATO nahm dies bekanntermaßen als Grundlage, um in Libyen zu intervenieren:
ein Militäreinsatz der wegen seiner humanitären Zielrichtung auf recht breite Zu-
stimmung gestoßen ist – und zwar auch unter den Mitgliedern des Arbeitskreises.
Merkel hingegen brandmarkte die Resolution als „beklagenswerte[s] Beispiel
einer […] Fehlentwicklung“, die die Gefahr „einer kriterienlosen Ausdehnung der
völkerrechtlichen Gewaltbefugnisse“ in sich berge.3 Seine eindringlich vorgetrage-
nen, rechtsphilosophisch fundierten Ausführungen zur Legitimität staatlicher bzw.
überstaatlicher Gewalteinsätze, deren Überzeugungskraft sich auch die Befürworter
der Libyen-Intervention nicht gänzlich entziehen konnten, waren der Auftakt zu
einer der wohl intensivsten und instruktivsten Diskussionen, die es bislang im Ar-
beitskreis Völkerstrafrecht gegeben hat. Nachdem im Juni 2018 die Vorschriften
des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs zum Verbrechen der Aggression
in Kraft getreten sind, hat die Debatte um die Legitimität militärischer Interventionen
eine zusätzliche, nämlich strafrechtliche Dimension bekommen. Ich hoffe, dass es
dem Jubilar gefällt, wenn ich seinen Vortrag zur Intervention der NATO in Libyen
zum Anlass nehme, ein paar kursorische Überlegungen zu den Voraussetzungen

1
Nachzulesen in ZIS 2011, 771.
2
SR Res. 1973 v. 17. 3. 2011, Nr. 4 – Übersetzung nach Reinhard Merkel, Die Intervention
der NATO in Libyen – Völkerrechtliche und rechtspolitische Anmerkungen zu einem welt-
politischen Trauerspiel, ZIS 2011, 771.
3
Merkel (Fn. 2), ZIS 2011, 775.
1434 Stefanie Bock

und Grenzen einer individuellen Verantwortlichkeit für kollektive Angriffshandlun-


gen anzustellen.

I. Völkerstrafrechtliche Zurechnungslehre:
die Individualisierung des Kollektiven
Das Völkerstrafrecht ist ein Hybrid, eine Kombination aus strafrechtlichen und
völkerrechtlichen Grundsätzen.4 Die Primärnormen, aus denen sich die völkerrecht-
lichen Kernverbrechen herausgebildet haben, entstammen dem Völkerrecht. Diese
werden mit den strafrechtlichen Grundprinzipien der individuellen Verantwortlich-
keit und Vorwerfbarkeit kombiniert,5 sodass eine unmittelbare Strafbarkeit Einzelner
nach dem Völkerrecht entsteht.6 Die Erkenntnis, dass „Verbrechen gegen das Völker-
recht […] von Personen begangen [werden], nicht von abstrakten Einheiten“ und
dass „nur durch Bestrafung von Einzelpersonen […] internationales Recht durchge-
setzt werden“ kann,7 ist eine der zentralen Errungenschaften der Nürnberger Nach-
kriegsrechtsprechung. Mittlerweile ist das erste Nürnberger Prinzip, dem zufolge
jede Person, welche ein völkerrechtliches Verbrechen begeht, hierfür strafrechtlich
verantwortlich ist, im Grundsatz einhellig anerkannt. Seine Konkretisierung und
Ausgestaltung in der Praxis bereiten aber nach wie vor erhebliche Schwierigkeiten.
Dies liegt auch und nicht zuletzt daran, dass sich das Völkerrecht und das Straf-
recht in Zielsetzung, Funktion und Struktur grundlegend unterscheiden; ihre Ver-
knüpfung führt nahezu zwangsläufig zu Spannungen und schwer aufzulösenden
Wertungswidersprüchen.8 So richtet sich das Völkerrecht traditionell an Staaten,
ist also darauf ausgerichtet,9 die Beziehungen zwischen kollektiven Akteuren zu re-
gulieren. Diese überindividuelle Dimension spiegelt sich auch in der besonderen
Struktur völkerrechtlicher Verbrechen wieder,10 die regelmäßig Resultat kollektiver
Prozesse sind.11 Die einzelne Verletzungshandlung ist kein isoliertes Ereignis, son-
dern Teil eines übergeordneten Unrechtskontextes, der zumeist Ausdruck eines ge-

4
Ambos, Internationales Strafrecht, 5. Aufl., München 2018, § 5 Rn. 1; Safferling, Inter-
nationales Strafrecht, Heidelberg 2011, § 4 Rn. 4; Satzger, Internationales und Europäisches
Strafrecht, 8. Aufl., Baden-Baden 2018, § 12 Rn. 1.
5
Ambos (Fn. 4), 2018, § 5 Rn. 1; Stefanie Bock, Zurechnung im Völkerstrafrecht, in: ZIS
2017, 410; Satzger (Fn. 4), § 12 Rn. 1.
6
Ambos (Fn. 4), 2018, § 5 Rn. 1.
7
IMG, Urteil v. 30. 9. 1946 u. 1. 10. 1946 (Prosecutor v. Goering u. a.), in: Trial of the
Major War Criminals before the International Military Tribunal, Volume I, Nürnberg 1947,
S. 223.
8
Treffend Safferling (Fn. 4), § 4 Rn. 1, 4.
9
Siehe nur Herdegen, Völkerrecht, 18. Aufl., München 2019, § 7 Rn. 3; Knut Ipsen, Völ-
kerrecht, 7. Aufl., München 2018, § 7 Vor Rn. 1.
10
Hierzu auch Bock (Fn. 5), ZIS 2017, 411 m.w.N.
11
Vgl. Seelmann, Kollektive Verantwortung im Strafrecht, Berlin 2002, S. 8.
Individuelle Verantwortlichkeit für staatliche Angriffshandlungen 1435

samtgesellschaftlichen Konflikts ist.12 Zudem haben die Taten regelmäßig eine po-
litische Dimension und sind phänotypisch durch die direkte oder indirekte Involvie-
rung einer staatlichen oder staatsähnlichen Organisation gekennzeichnet, die den
Konflikt initiiert, verstärkt oder zumindest duldet.13 Völkerrechtliche Verbrechen
werden daher der Makrokriminalität zugeordnet. Es handelt sich im Sinne Jägers
um systemkonforme Verhaltensweisen innerhalb eines kollektiven Aktionszusam-
menhangs, der wiederum eine nicht wegzudenkende Rahmenbedingung der indivi-
duellen Handlung darstellt.14 Anders als das Völkerrecht ist das Strafrecht von seiner
Grundstruktur aber gerade nicht auf die Erfassung kollektiver (staatlicher) Prozesse
zugeschnitten. Vielmehr gebietet das Schuldprinzip15 eine Fokussierung auf den Ein-
zelnen. Eine der zentralen Herausforderungen des Völkerstrafrechts besteht damit
darin, das Individuelle im Kollektiven zu finden, also individuelle Verantwortungs-
beiträge in überindividuellen, staatlichen Handlungs- und Tatkomplexen zu identifi-
zieren bzw. zu konstruieren.16

II. Die zwei Ebenen des Verbrechens der Aggression


und ihre Implikationen
Die dem gesamten Völkerstrafrecht zu einem gewissen Grad innewohnende Ver-
schränkung von individueller und staatlich-kollektiver Verantwortlichkeit tritt beim
Verbrechen der Aggression besonders deutlich zutage,17 da es der strafrechtlichen
Absicherung und Verstärkung des völkerrechtlichen (und damit staatsorientierten)
Gewaltverbotes dient.18 In diesem Sinne definierte das Statut des Internationalen Mi-
litärgerichtshofs von Nürnberg das Verbrechen gegen den Frieden als „Planen, Vor-
bereitung und Einleitung oder Durchführung eines Angriffskrieges […] unter Verlet-
zung internationaler Verträge, Abkommen oder Zusicherungen“.19 In seiner Urteils-
begründung differenzierte der Gerichtshof dementsprechend klar zwischen dem Vor-
12
Herbert Jäger, Makrokriminalität, Studien zur Kriminologie von Gewalt, Frankfurt a.M.
1989, S. 12; Bock (Fn. 5), ZIS 2017, 411 m.w.N.
13
Grundlegend Herbert Jäger, Ist Politik kriminalisierbar?, in: Klaus Lüderssen (Hrsg.),
Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse, Bd. 3, Baden-Baden 1998, S. 121.
14
Jäger (Fn. 12), S. 12; ders. (Fn. 13), S. 134.
15
Zur Anerkennung des Schuldprinzips im Völkerstrafrecht schon IMG, Urteil v. 30. 9.
1946 u. 1. 10. 1946 (Fn. 7), S. 256; ICTY, Urteil v. 15. 7. 1999 – IT-94-1-A (Prosecutor v.
Tadić), Rn. 186.
16
Vgl. auch Seelmann (Fn. 11), S. 8; Bock (Fn. 5), ZIS 2017, 411.
17
Vgl. auch Matthias Schuster, The Rome Statute and the Crime of Aggression: A Gordian
Knot in Search of a Sword, in: CLF 14 (2003), 1, 15; Grzebyk, Criminal Responsibility for the
Crime of Aggression, New York 2013, S. 259; Safferling (Fn. 4), § 6 Rn. 164.
18
Vgl. auch Satzger (Fn. 4), § 16 Rn. 77; zum völkerrechtlichen Gewaltverbot als hinter
dem Aggressionstatbestand stehende Primärnorm auch Ambos, Das Verbrechen der Aggres-
sion nach Kampala, in: ZIS 2010, 649, 655; Safferling (Fn. 4), § 6 Rn. 164, 167, 175.
19
Art. 6 lit. a) IMG-Statut.
1436 Stefanie Bock

liegen einer staatlichen Angriffshandlung bzw. eines Angriffskrieges und der Betei-
ligung der einzelnen Angeklagten hieran.20 Beispielsweise setzten sich die Richter
ausführlich mit dem deutschen „Überfall auf Polen“ auseinander und kamen zu
dem Schluss, dass Deutschland einen Angriffskrieg gegen Polen geführt21 und
damit gegen den von ihm unterzeichneten Briand-Kellogg-Pakt aus dem Jahr
1928 verstoßen habe.22 Anschließend wurde untersucht, welche Rolle die Angeklag-
ten bei den staatlichen Aggressionsakten gespielt haben.23
In diesem Vorgehen offenbart sich ein charakteristisches Strukturelement des Ver-
brechens der Aggression, das auch für modernere Tatbestandsfassungen konstitutiv
ist: Es besteht aus zwei Handlungs- bzw. Aktionsebenen, die aufeinander bezogen
sind. Die erste Ebene, die Makroebene, ist – zumindest nach vorherrschendem klas-
sischen Deliktsverständnis24 – staatszentriert. Es muss eine kollektive Angriffshand-
lung vorliegen, die darin besteht, dass ein Staat in völkerrechtswidriger Weise Waf-
fengewalt gegen einen anderen Staat einsetzt.25 Auf der zweiten Ebene, der Mikro-
ebene, wird der individuelle Tatbeitrag in den Blick genommen. Ausgelöst wird die
strafrechtliche Verantwortlichkeit durch die Beteiligung an der staatlichen Kollektiv-
tat, namentlich durch Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Ausführung der An-
griffshandlung.
Die Verurteilung eines Individuums für das Verbrechen der Aggression erfordert
damit notwendig die Feststellung, dass ein Staat das völkerrechtliche Gewaltverbot
des Art. 2 Nr. 4 UN-Charta26 verletzt hat; die individuelle strafrechtliche Verantwort-
lichkeit setzt also Staatenverantwortlichkeit voraus.27 Hierdurch unterscheidet sich
das Verbrechen der Aggression von den anderen völkerrechtlichen Kernverbrechen.
Zwar wird auch hier häufig die Verurteilung eines individuellen Täters – zumal dann,

20
IMG, Urteil v. 30. 9. 1946 u. 1. 10. 1946 (Fn. 7), S. 186.
21
IMG, Urteil v. 30. 9. 1946 u. 1. 10. 1946 (Fn. 7), S. 204.
22
IMG, Urteil v. 30. 9. 1946 u. 1. 10. 1946 (Fn. 7), S. 218.
23
Siehe beispielsweise zur Rolle Görings IMG, Urteil v. 30. 9. 1946 u. 1. 10. 1946 (Fn. 7),
S. 279 f.
24
Zu Überlegungen, auch die Initiierung eines Bürgerkrieges unter Strafe zu stellen, Kreß,
Der Bürgerkrieg und das Völkerrecht: Zwei Entwicklungslinien und eine Zukunftsfrage, JZ
2014, 365; Lieblich, Internal Jus ad Bellum, Hastings Law Journal 67 (2016), 687.
25
Vgl. die Legaldefinition in Art. 8bis Abs. 2 IStGH-Statut (Rome Statute of the Interna-
tional Criminal Court, A/CONF.183/9 v. 17. 7. 1998, ergänzt auf der Review Conference of the
Rome Statute of the International Criminal Court, Kampala, 3.5.–11. 6. 2010,
C.N.651.2010.TREATIES-8); siehe auch Reisinger Coracini, Astrid/Wrange, Pål, The Spe-
cificity of the Crime of Aggression, in: Claus Kreß/Stefan Barriga (Hrsg.), Crime of Ag-
gression Library Volume I, Cambridge 2017, S. 307, 312.
26
Hierzu Kreß, The State Conduct Element, in: Kreß/Barriga (Fn. 25), S. 412, 424 ff.
27
Reisinger Coracini/Wrange (Fn. 25) S. 312; siehe auch Hogan-Doran/van Ginkel, Ag-
gression as a Crime under International Law and the Prosecution of Individuals by the Pro-
posed International Criminal Court, in: NILR 1996, 321, 324; Schuster (Fn. 17), CLF 14
(2003), 22; Ambos (Fn. 18), ZIS 2010, 654; zurückhaltender Safferling (Fn. 4), § 6 Rn. 164,
der davon ausgeht, dass der Vorwurf (nur) moralisch auch den Staat trifft.
Individuelle Verantwortlichkeit für staatliche Angriffshandlungen 1437

wenn es sich um eine ranghohe militärische oder politische Führungsperson handelt


– implizieren, dass ein Staat in die Verbrechen involviert ist.28 Wird beispielsweise
die ehemalige Frauen- und Familienministerin Ruandas, Pauline Nyiramasuhuko,
wegen Völkermordes verurteilt,29 so legt bereits ihre offizielle Position den Schluss
nahe, dass ihre Handlungen dem Staat Ruanda zugerechnet werden können. Dies
muss und wird aber im Strafurteil nicht ausdrücklich behandelt werden. Beim Ver-
brechen der Aggression schwingt die Frage nach der Rolle des Staates hingegen nicht
nur mit; eine Verurteilung kommt vielmehr nur dann in Betracht, wenn das Strafge-
richt – das grundsätzlich nicht befugt ist, über die Verantwortlichkeit von Staaten zu
urteilen – explizit feststellt, dass ein völkerrechtswidriger staatlicher Aggressionsakt
vorliegt.30 Das Maß, in dem staatliches Handeln der Beurteilung durch ein Strafge-
richt unterworfen wird, erreicht damit eine neue Dimension.31
Hieraus erklärt sich auch, dass das Verbrechen der Aggression und strafgericht-
liche Aggressionsverfahren als besonders politisch angesehen werden.32 Zwar kön-
nen Völkermorde oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit ebenso Teil einer po-
litischen Auseinandersetzung sein oder der Umsetzung einer politischen Strategie
z. B. zum Umgang mit Minderheiten dienen, sodass völkerstrafrechtliche Verbrechen
bzw. Verfahren vielfach eine politische Dimension haben werden.33 Beim Verbre-
chen der Aggression wird aber die inhärent politische Entscheidung eines Staates,34
militärische, bewaffnete Gewalt gegen einen anderen Staat einzusetzen, unmittelbar
auf ihre Rechtmäßigkeit hin überprüft. Das strafgerichtliche Urteil berührt dabei
einen Bereich, der eng mit der staatlichen Souveränität verbunden und damit für

28
Zur Beteiligung von Staaten als kennzeichnendes Merkmal von Makrokriminalität schon
oben Fn. 13 und dazugehöriger Text. Die faktische Verbindung zwischen individueller und
staatlicher Verantwortlichkeit bei internationalen Kernverbrechen zeigt sich auch daran, dass
der IGH (der Rechtsstreitigkeiten zwischen Staaten zu klären hat) den Feststellungen des
ICTY (die sich auf die individuelle Verantwortlichkeit einzelner Personen beziehen) erhebli-
che Bedeutung für seine eigenen Entscheidungen zumisst, siehe IGH, Urteil v. 26. 2. 2007
(Bosnia and Herzegovina v. Servia and Montenegro – Case concerning Application of the
Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide), Rn. 223.
29
ICTR, Urteil v. 24. 6. 2011 – ICTR-98-42-T (Prosecutor v. Nyiramasuhuko u. a.).
30
Reisinger Coracini/Wrange (Fn. 25), S. 316.
31
Siehe auch den 1995 Report des Ad Hoc Committee, abgedruckt in: Kreß/Barriga
(Fn. 25), S. 205 (Rn. 64).
32
Siehe Hogan-Doran/van Ginkel (Fn. 27), NILR 1996, 346 ff.; Grzebyk (Fn. 17), S. 259
sowie die Überlegungen Deutschlands zu einem möglichen politischen Missbrauch von Ag-
gressionsverfahren, wiedergegeben in: Kreß/Barriga (Fn. 25), S. 234.
33
Darauf weisen Reisinger Coracini/Wrange (Fn. 25), S. 331 ff. zu Recht hin.
34
Siehe auch US Military Tribunal, US v von Leeb et al. (High Command case) (case 12),
in US GPO, TWC, xi (1997), p. 509 (28 October 1948): „[W]ar is the exerting of violence by
one state or politically organized body, against another. In other words, it is the implementa-
tion of a political policy by means of violence.“; auch Hogan-Doran/van Ginkel (Fn. 27),
NILR 1996, 323, 346 sowie die Zusammenfassung des Diskussionsstandes im 1995 Report
des Ad Hoc Committee, abgedruckt in: Kreß/Barriga (Fn. 25), S. 205 (Rn. 68).
1438 Stefanie Bock

die betroffenen Staaten besonders sensibel ist: das Recht zur Kriegsführung.35 Zwar
entzieht das Gewaltverbot der UN-Charta der noch bis in das 20. Jahrhundert hinein
vorherrschenden Ansicht, „dass es das Recht eines jeden souveränen Staates [ist], aus
beliebigem Grund Krieg zu führen“,36 endgültig den Boden. Allerdings schließt auch
die UN-Charta den Einsatz militärischer Mittel nicht absolut aus.37 Vielmehr wird
das Recht zur Kriegsführung auf ein Recht zur Selbstverteidigung reduziert.38 Dieses
ist zwar in seinem Kerngehalt gemeinhin anerkannt; viele Detailfragen bezüglich
seiner exakten Geltungsvoraussetzungen und Grenzen sind aber noch ungeklärt. Um-
stritten ist beispielsweise, inwiefern bewaffnete Angriffe von nicht-staatlichen Ak-
teuren, die vom Territorium eines anderen Staates aus geführt werden, gewaltsam ab-
gewehrt werden dürfen oder ob drohenden Angriffen durch Akte „präventive Selbst-
verteidigung“ zuvorgekommen werden kann.39 Im Rahmen des zunehmend an Be-
deutung gewinnenden Menschenrechtsdiskurses wird zudem diskutiert, ob und
inwieweit militärische Interventionen zur Verhütung oder Beendigung humanitärer
Verbrechen statthaft sind.40 Mit der Pönalisierung des Angriffskrieges erhalten diese
und andere Graubereiche des völkerrechtlichen Gewaltverbotes inklusive ihrer
(macht-)politischen Implikationen strafrechtliche Relevanz.41

III. Kompromisslösungen:
Das Verbrechen der Aggression im IStGH-Statut
Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass die Kodifikation des Ver-
brechens der Aggression, wie sie nunmehr im IStGH-Statut zu finden ist, das Kom-
promissergebnis zäher und langjähriger diplomatischer Verhandlungen ist. Auch
wenn viele Staaten der Auffassung zuneigten,42 dass das IStGH-Statut nicht hinter
den 1945 in Nürnberg gesetzten Standards zurückfallen dürfe und den Angriffskrieg

35
Siehe auch Hogan-Doran/van Ginkel (Fn. 27), NILR 1996, 323: „Aggression is the
ultimate expression of State power“.
36
Siehe Fink, Der Krieg und seine Regeln, in: Sönke Neitzel/Daniel Hohrath (Hrsg.),
Kriegsgreuel. Die Entgrenzung der Gewalt in kriegerischen Konflikten vom Mittelalter bis ins
20. Jahrhundert, Paderborn 2008, S. 39, 40; auch Schuster (Fn. 17), CLF 14 (2003), 3; Merkel
(Fn. 2), ZIS 2011, 774.
37
Merkel (Fn. 2), ZIS 2011, 774.
38
Siehe Art. 51 UN-Charta.
39
Hierzu und zu weiteren Graubereichen des Rechts auf Selbstverteidigung Kreß (Fn. 26),
S. 459 ff.; auch Hogan-Doran/van Ginkel (Fn. 27), NILR 1996, 348 f.
40
Kreß (Fn. 26), S. 489; zur Responsibility to Protect Merkel (Fn. 2), ZIS 2011, 775 ff.;
auch Larry May, Aggression and Crimes against Peace, Cambridge 2008, S. 273 ff.
41
Siehe auch Noah Weisbord, Conceptualizing Aggression, in: Duke J. of Comp. & Int’l L
20 (2009), 1, 2.
42
Überblick über den Meinungsstand in Report des Ad Hoc Committee, 1995, abgedruckt
in: Kreß/Barriga (Fn. 25), S. 205 (Rn. 63).
Individuelle Verantwortlichkeit für staatliche Angriffshandlungen 1439

– im Einklang mit dem Urteil des Internationalen Militärgerichtshofs43 – unmissver-


ständlich als internationales Verbrechen brandmarken müsse,44 entpuppte sich die
Ausarbeitung verallgemeinerungs- und konsensfähiger Regelungen als wahre Mam-
mutaufgabe.45 Um die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH)
nicht weiter zu verzögern oder gar insgesamt zu gefährden, einigten sich die Staaten
bei den Verhandlungen von Rom 1998 schlussendlich darauf, das Verbrechen des An-
griffskrieges zwar in das Statut aufzunehmen, die Gerichtsbarkeit des IStGH aber
insoweit zu suspendieren und die weitere Diskussion um die konkrete Deliktsdefini-
tion sowie – dies war der zweite große Streitpunkt46 – die Rolle des Sicherheitsrates
bei der strafrechtlichen Ahndung von Angriffshandlungen auf einen späteren Zeit-
punkt zu verschieben.47 Und tatsächlich gelang es den Delegierten auf der ersten
Überprüfungskonferenz zum IStGH-Statut, die 2010 in Kampala (Uganda) stattfand,
in allen strittigen Punkten eine Einigung zu erzielen.48 Im Dezember 2017 beschloss
die Versammlung der Vertragsstaaten dann, die neuen Vorschriften zum Aggressi-
onsverbrechen mit Wirkung zum 17. 7. 2018 in Kraft zu setzen.49
Inhaltlich besteht der Kompromiss von Kampala aus zwei großen Bausteinen. In
prozessualer Hinsicht legen die Art. 15bis und Art. 15ter IStGH-Statut fest, unter
welchen Voraussetzungen der Gerichtshof seine Gerichtsbarkeit über das Verbrechen
der Aggression ausüben kann. Auf die Details soll hier nicht weiter eingegangen wer-
den. Im Kern etablieren diese Vorschriften ein mehrschichtiges Kommunikationssys-
tem zwischen dem IStGH bzw. seiner Anklagebehörde und dem Sicherheitsrat, durch
das einerseits die vorrangige Rolle des Sicherheitsrates im System der internationa-
len Friedenssicherung anerkannt wird, andererseits aber auch gewährleistet wird,
dass der IStGH sein Strafverfolgungsmandat grundsätzlich unabhängig wahrnehmen
kann.50 Materiell-rechtlich definiert Art. 8bis Abs. 2 IStGH-Statut die Makroebene
des Aggressionsverbrechens, also die staatliche Angriffshandlung, unter Rückgriff
auf Resolution 3314 der UN-Generalversammlung aus dem Jahr 1974 als „die

43
Der IMG hat das Verbrechen des Angriffskrieges als „das größte internationale Verbre-
chen“ bezeichnet, Urteil v. 30. 9. 1946 u. 1. 10. 1946 (Fn. 7), S. 186.
44
Siehe die Stellungnahme Deutschlands, abgedruckt in: Kreß/Barriga (Fn. 25.), S. 233.
45
Schuster (Fn. 17), CLF 14 (2003), 1 verglich die Diskussion um die Aufnahme des
Aggressionsverbrechens ins IStGH-Statut mit dem (von vornherein zum Scheitern verurteil-
ten) Versuch, den gordischen Knoten zu lösen.
46
Überblick über die Diskussion im 1995 Report des Ad Hoc Committee, abgedruckt in:
Kreß/Barriga (Fn. 25), S. 205 (Rn. 68 ff.); siehe auch den 1996 Report des Preparatory
Committe, ebenda, S. 211 (Rn. 137 ff.).
47
Clark, in: Kreß/Barriga (Fn. 25), S. 244, 253, 263, 264 ff. Kritisch zu der Entscheidung,
das Statut bewusst unvollständig zu lassen. Schuster (Fn. 17), CLF 14 (2003), 17.
48
Resolution RC/Res.6 v. 11. 6. 2010.
49
Resolution ICC-ASP/16/Res.5 v. 14. 12. 2017.
50
Siehe auch die Würdigung bei Ambos (Fn. 18), ZIS 2010, 664, 668. Ausführlich Blokker/
Barriga, Conditions for the Exercise of Jurisdiction Based on Security Council Referrals,
Conditions for the Exercise of Jurisdiction Based on State Referrals and Proprio Motu In-
vestigations, in: Kreß/Barriga (Fn. 25), S. 646 ff. und S. 652 ff.
1440 Stefanie Bock

gegen die Souveränität oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete
oder sonst mit der Charta der Vereinten Nationen unvereinbare Anwendung von Waf-
fengewalt durch einen anderen Staat“. Nach der ebenfalls aus der GA-Resolution
3314 übernommenen Beispielsliste zählen hierzu u. a. die Invasion des Hoheitsgebie-
tes eines Staates, die Bombardierung eines fremden Staatsgebietes, aber auch die mi-
litärische Blockade von Häfen.51 Soweit es um den Bereich der Staatenverantwort-
lichkeit geht, orientiert sich Art. 8bis IStGH-Statut damit an dem bestehenden und
weitgehend konsentierten völkerrechtlichen status quo. Die an die völkerrechtliche
Verbotsnorm anknüpfende Mikroebene, durch die die individuelle Verantwortlich-
keit einzelner Personen begründet wird, bringt hingegen substantielle Neuerungen.
Zwar wird die strafbarkeitsbegründende Individualhandlung in grundsätzlicher
Übereinstimmung mit dem Nürnberg-Präjudiz in der Planung, Vorbereitung, Einlei-
tung oder Ausführung der Angriffshandlung gesehen; die Reichweite der strafrecht-
lichen Haftung wird aber in zweierlei Hinsicht beschränkt.
Zunächst muss die Angriffshandlung „ihrer Art, ihrer Schwere und ihrem Umfang
nach eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen“ darstellen.
Durch diese Schwellenklausel wird eine – in Nürnberg 1945 so noch nicht bekannte
bzw. zumindest nicht klar herausgestellte52 – Unterscheidung zwischen völkerrechts-
widriger Angriffshandlung und dem Verbrechen der Aggression etabliert: Nicht jede
Verletzung des Gewaltverbotes zieht eine individuelle Verantwortlichkeit nach sich;
vielmehr sind nur qualitativ wie quantitativ schwerwiegende Völkerrechtsverstöße
strafrechtlich relevant.53 Die hiermit einhergehende Abschichtung zwischen Staaten-
verantwortlichkeit und individueller Verantwortlichkeit war essentiell, um die Auf-
nahme des Aggressionsverbrechens ins IStGH-Statut konsensfähig zu machen,54
führt sie doch dazu, dass staatliches Handeln nur in eindeutig gelagerten Fällen in
ein strafgerichtliches Unwerturteil einbezogen wird. Ausgenommen von der Straf-
barkeit sind insbesondere Handlungen im rechtlichen Graubereich, also beispiels-
weise die Beteiligung an bestimmten Akten der präventiven Selbstverteidigung
oder an humanitären Interventionen.55 Damit wird anerkannt, dass es nicht die Auf-
gabe der (internationalen) Strafgerichtsbarkeit ist und sein kann, den Gehalt der un-
scharfen völkerrechtlichen Primärnorm – das Gewaltverbot – bis in ihre Randberei-
che hinein zu präzisieren.56

51
Kritisch, da die Liste auch Handlungen erfasst, die keine Gewaltanwendung im eigent-
lichen Sinne voraussetzen, Ambos (Fn. 18), ZIS 2010, 657.
52
So Ambos (Fn. 18), ZIS 2010, 654.
53
Reisinger Coracini/Wrange (Fn. 25), S. 321; Ambos (Fn. 18), ZIS 2010, 655; vgl. auch
den 2008 Report of the Special Working Group on the Crime of Aggression, abgedruckt in:
Kreß/Barriga (Fn. 25), S. 205 (Rn. 24).
54
Vgl. den 2008 Report of the Special Working Group on the Crime of Aggression, ab-
gedruckt in: Kreß/Barriga (Fn. 25), S. 205 (Rn. 24); auch Kreß (Fn. 26), S. 507.
55
Reisinger Coracini/Wrange (Fn. 25), 321; Ambos (Fn. 18), ZIS 2010, 655. Vertiefend
Kreß (Fn. 26), S. 510 ff.
56
Siehe Kreß (Fn. 26), S. 508.
Individuelle Verantwortlichkeit für staatliche Angriffshandlungen 1441

In Ergänzung der Schwellenklausel wurde das Verbrechen der Aggression – und


das soll im Zentrum der weiteren Überlegungen stehen – als absolutes Führungsde-
likt konzipiert. In Anlehnung an die einschlägige Rechtsprechung von Nürnberg57
waren sich die Vertragsstaaten im Grundsatz einig, dass die Strafbarkeit auf Füh-
rungspersonen, den inneren Kreis der Staatsleitung, begrenzt werden soll.58 Umstrit-
ten war jedoch, ob und inwieweit sich dies auf Art. 25 Abs. 3 IStGH-Statut auswirkt,
der zwischen verschiedenen Formen der Täterschaft und Teilnahme differenziert.59
Schlussendlich einigte man sich darauf, an der bestehenden Regelungssystematik
und damit an der generellen Anwendbarkeit des Allgemeinen Teils des IStGH-Sta-
tuts auf alle Verbrechenstatbestände festzuhalten. Gleichzeitig wurde aber durch den
neu eingefügten Art. 25 Abs. 3bis IStGH-Statut das ausdifferenzierte Beteiligungs-
modell des IStGH-Statuts vollständig der Sonderdeliktsnatur des Aggressionsverbre-
chens untergeordnet. Es findet insoweit nur auf Personen Anwendung, die tatsächlich
dazu in der Lage sind, das politische oder militärische Handeln eines Staates zu kon-
trollieren oder zu lenken. Auch die Teilnahmestrafbarkeit wird damit auf Mitglieder
der obersten Führungsebene – die Intranei – begrenzt. Personen, die nicht hierzu ge-
hören, die Extranei, sind hingegen vollständig von der Strafbarkeit ausgenommen;
sie können auch nicht wegen Beihilfe zum Aggressionsverbrechen belangt werden.60

IV. Der Führungscharakter des Aggressionsverbrechens


Die Beschränkung der Strafbarkeit auf die Führungseliten ist ein Spezifikum des
Aggressionsverbrechens; die anderen völkerrechtlichen Kernverbrechen sind Allge-
meindelikte, können also von jedermann begangen werden. Vom Ansatz her ent-
spricht die abweichende Deliktskonstruktion der besonderen Struktur des Tatbestan-
des: Das Unrecht der Tat ergibt sich erst aus der Verbindung zwischen staatlicher Ge-
waltanwendung und individuellem Beteiligungsakt. Ein persönlicher Schuldvorwurf
kann nur demjenigen gemacht werden, der für das Handeln des Staates (mit-)verant-
wortlich ist und dem daher die Verletzung des völkerrechtlichen Gewaltverbotes zu-
mindest partiell zugerechnet werden kann.61 Anders formuliert: Täterschaftliche in-

57
Siehe bereits United States Military Tribunal, Urteil v. 29. u. 30. 7. 1948 (The Farben
Case), in: Trials of War Criminals before the Nuernberg Military Tribunals under Control
Council Law No. 10, Volume VIII, 1952, S. 1124 f.
58
Siehe den 2006 Princeton Report, abgedruckt in: Kreß/Barriga (Fn. 25), S. 493 (Rn. 88).
Siehe auch schon den Vorschlag Deutschlands aus dem Jahr 1997, abgedruckt in: Kreß/Bar-
riga (Fn. 25), S. 235 sowie Weisbord (Fn. 41), Duke J. of Comp. & Int’l L 20 (2009), 43.
59
Siehe hierzu die verschiedenen Verhandlungsberichte und -vorschläge abgedruckt in:
Kreß/Barriga (Fn. 25), S. 496 (Rn. 84 ff.), S. 525 (Rn. 59), 536 (Rn. 6), 559 (Rn. 9 ff.).
60
Ambos (Fn. 18), ZIS 2010, 659.
61
In diesem Sinne hielt das United States Military Tribunal, Urteil v. 29. u. 30. 7. 1948 (The
Farben Case) (Fn. 57), S. 1125, 1126 die Beschränkung der Strafbarkeit auf Führungspersonen
für notwendig, um Massenbestrafungen zu verhindern. Nach Ansicht des IMG, Urteil v. 30. 9.
1442 Stefanie Bock

dividuelle Verantwortlichkeit für staatliche Angriffshandlungen entsteht, wenn und


soweit Staat und Individuum eine Zurechnungseinheit bilden.62

1. Die Bestimmung des Führungszirkels:


der faktisch staatszentristische Ansatz des IStGH-Statuts

Auch wenn es damit grundsätzlich richtig erscheint, das Aggressionsverbrechen


als Führungsverbrechen zu verstehen, bleibt die Frage, wie der Kreis der tauglichen
Täter zu bestimmen ist und damit, welche konkreten Anforderungen an die Zurech-
nungseinheit „Staat-Individuum“ zu stellen sind. Das IStGH-Statut fragt danach, ob
der Betroffene „tatsächlich“ in der Lage ist, das Handeln des Staates „zu kontrollie-
ren oder zu lenken“. Rein rechtlich liegt der Fokus damit auf den faktischen Gege-
benheiten, nicht auf formellen Positionen oder gesetzlichen Befugnissen. Täter des
Aggressionsverbrechens können also theoretisch auch Personen sein, die das Han-
deln eines Staates bestimmen, ohne offizielle Ämter zu bekleiden oder in anderer
Weise förmlich in den Staatsapparat eingebunden zu sein.63 Die „leadership clause“
scheint daher vom Grundansatz her weit genug, um beispielsweise auch Führungs-
personen aus den Bereichen Wirtschaft und Religion zu erfassen.64
Dies entspricht im Ausgangspunkt der Rechtsprechung der Nürnberger Militärtri-
bunale, die den Angriffskrieg als Führungsverbrechen verstanden haben, dabei aber
davon ausgegangen sind, dass grundsätzlich auch hochrangige Vertreter der Wirt-
schaft als taugliche Täter in Betracht kommen.65 Dessen ungeachtet zeigte sich ins-
besondere im Fall der IG-Farben, dass es bei Personen, die als nicht-politische bzw.
nicht-militärische Funktionsträger nicht der unmittelbaren staatlichen Führungsebe-
ne angehören, zumindest schwierig ist, nachzuweisen, dass sie das staatliche Han-

1946 u. 1. 10. 1946 (Fn. 7), S. 256 steht die Verhinderung von Massenbestrafungen wiederum
in einem engen Zusammenhang mit dem Schuldgrundsatz.
62
Der Gedanke einer Zurechnungseinheit findet sich auch in United States Military Tri-
bunal, Urteil v. 29. u. 30. 7. 1948 (The Farben Case) (Fn. 57), S. 1125: „The acts of a
government and its military power are determined by the individuals who are in control and
who fix the policies that result in those acts. To say that the government of Germany was guilty
of waging aggressive war but not the men who were in fact the government and whose minds
conceived the plan and perfected its execution would be an absurdity.“
63
Weisbord (Fn. 41), Duke J. of Comp. & Int’l L 20 (2009), 47.
64
Weisbord (Fn. 41), Duke J. of Comp. & Int’l L 20 (2009), 47; Satzger (Fn. 4), § 16
Rn. 84; auch Grzebyk (Fn. 17), S. 196.
65
United States Military Tribunal, Urteil v. 29. u. 30. 7. 1948 (The Farben Case) (Fn. 57),
S. 1124; auch United States Military Tribunal, Order of the Tribunal v. 5. 4. 1948 (The Krupp
Case), in: Trials of War Criminals before the Nuernberg Military Tribunals under Control
Council Law No. 10, Volume IX, 1950, S. 393. Tendenziell anders United States Military
Tribunal, Urteil v. 14. 4. 1949 (The High Command Case), in: Trials of War Criminals before
the Nuernberg Military Tribunals under Control Council Law No. 10, Volume XII, 1950,
S. 490.
Individuelle Verantwortlichkeit für staatliche Angriffshandlungen 1443

deln in hinreichendem Maße beeinflussen konnten.66 Obwohl dargelegt war, dass die
Produktion synthetischen Kraftstoffes und Kautschuks durch die IG-Farben für die
Kriegstätigkeit Deutschlands essentiell war,67 wurde keines der angeklagten Mitglie-
der der Konzernspitze wegen Beteiligung an einem Angriffskrieg verurteilt.68 Sie
seien „Mitläufer, nicht Führer“ gewesen, hätten die Kriegsbemühungen zwar unter-
stützt, aber nicht den Angriffskrieg geplant oder die deutsche Nation in den Krieg
geführt.69 Ähnliche Argumentationsmuster finden sich auch im Urteil gegen die
Hauptkriegsverbrecher. So begründete das IMG den Freispruch des ehemaligen
Reichsbankpräsidenten und Reichswirtschaftsministers Hjalmar Schacht (auch)
vom Vorwurf des Verbrechens gegen den Frieden insbesondere damit, dass er
nicht zum „inneren Kreis“ um Hitler gehört habe und zudem nicht zweifelsfrei be-
wiesen werden könne, dass er Kenntnis von den nationalsozialistischen Aggressions-
plänen gehabt habe.70
Die Schwierigkeiten, einen hinreichenden Zurechnungszusammenhang zwischen
staatlicher Aggression und nicht-staatlichen Akteuren herzustellen, werden im An-
wendungsbereich des IStGH-Statuts durch die restriktive Fassung der „leadership
clause“ weiter erhöht. Die Nürnberger Militärtribunale haben maßgeblich darauf ab-
gestellt, ob der Beschuldigte in der Lage war, die Politik des Staates zu gestalten oder
zu beeinflussen („shape or influence“).71 Dies genügt den Anforderungen des
Art. 8bis IStGH-Statut nicht. Dieser verlangt vielmehr, dass der Täter effektive Kon-
trolle72 über das politische oder militärische Handeln eines Staates ausübt.73 Das wird
66
Siehe hierzu auch Kevin Heller, Retreat from Nuremberg: The Leadership Requirement
in the Crime of Aggression, EJIL 18 (2007), 477, 483 f. sowie May (Fn. 40), S. 185 ff.;
Weisbord (Fn. 41), Duke J. of Comp. & Int’l L 20 (2009), 45. United States Military Tribunal,
Urteil v. 14. 4. 1949 (The High Command Case) (Fn. 65), S. 490 konzentriert sich insgesamt
auf die politische Führungselite.
67
Hierzu United States Military Tribunal, Urteil v. 29. u. 30. 7. 1948 (The Farben Case)
(Fn. 57) – Concurring Opinion of Judge Herberg, S. 1216; auch May (Fn. 40), S. 192.
68
Siehe United States Military Tribunal, Urteil v. 29. u. 30. 7. 1948 (The Farben Case)
(Fn. 57), S. 1205 ff. – Freispruch aller Angeklagten vom Anklagepunkt 1.
69
United States Military Tribunal, Urteil v. 29. u. 30. 7. 1948 (The Farben Case) (Fn. 57),
S. 1126 f. Ähnliche Argumentation in United States Military Tribunal, Order of the Tribunal v.
5. 4. 1948 (The Krupp Case) (Fn. 65) – Concurring Opinion of Presiding Judge Anderson,
S. 449.
70
IMG, Urteil v. 30. 9. 1946 u. 1. 10. 1946 (Fn. 7), S. 310. Beim Freispruch von Albert
Speer vom Vorwurf der Verbrechen gegen den Frieden stellte das Gericht darauf ab, dass er
durch seine Aktivitäten als Rüstungsminister die Kriegsanstrengungen des deutschen Reichs
nicht stärker unterstützt habe als andere Produktionsunternehmen, ibid., S. 330.
71
United States Military Tribunal, Urteil v. 14. 4. 1949 (The High Command Case)
(Fn. 65), S. 489; auch United States Military Tribunal, Urteil v. 11. 4. 1949 (The Ministries
Case), in: Trials of War Criminals before the Nuernberg Military Tribunals under Control
Council Law No. 10, Volume XIV, 1949, S. 425.
72
Grundsätzlich kritisch zur Anlehnung der „leadership clause“ an dem vom IGH entwi-
ckelten effective-control-test, der auf die Begründung staatlicher Verantwortlichkeit ausge-
richtet ist und nicht ohne weiteres auf das individualbezogene Strafrecht übertragen werden
könne Weisbord (Fn. 41), Duke J. of Comp. & Int’l L 20 (2009), 47.
1444 Stefanie Bock

bei Personen, die nicht in staatliche Hierarchien eingebunden sind, kaum der Fall
sein. Wirtschaftliche und religiöse Eliten können die tatsächlichen Handlungsbedin-
gungen eines Staates, die gesellschaftliche Stimmung in einem Land oder die diplo-
matischen Beziehungen zu einem Nachbarstaat entscheidend beeinflussen. Aber
selbst wenn ihr Handeln eine conditio-sine-qua-non für den staatlichen Aggressions-
akt darstellt, ist die endgültige Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Gewalt
politischen oder militärischen Funktionsträgern vorbehalten. Insgesamt ist die „lea-
dership clause“ an einem westlichen Staatsmodell mit einer klaren hierarchisch-bü-
rokratischen Architektur ausgerichtet. Sie ist konzeptionell nicht oder allenfalls sehr
bedingt dazu geeignet, informellere bzw. faktische Wirkzusammenhänge oder post-
bürokratische Strukturen zu erfassen.74
Soweit es um die Konstruktion täterschaftlicher Verantwortlichkeit geht, kann die
(faktische) Staatszentriertheit der „leadership clause“ als Konsequenz der Staatszen-
triertheit des gesamten Aggressionsverbrechens75 angesehen werden. Täterschaftli-
ches Unrecht, so ließe sich argumentieren, wird nur von demjenigen verwirklicht, der
als Zentralgestalt76 beide tatbestandlichen Akte – die staatliche Aggression und die
individuelle Beteiligungshandlung – kontrolliert. Insoweit erscheint es durchaus
stimmig, hohe Anforderungen an die Zurechnungseinheit „Staat-Individuum“ zu
stellen und den Kreis tauglicher Täter auf Mitglieder des engsten politischen bzw.
militärischen Führungszirkels mit (weitgehend) formalisierten Machtbefugnissen
zu beschränken. Nur diese tragen als Repräsentanten des Staates eine besondere Ver-
antwortung für die Einhaltung des völkerrechtlichen Gewaltverbotes. Der spezifi-
sche Unrechtsgehalt des Aggressionsverbrechens liegt demnach darin, dass der
Täter die ihm infolge seiner herausgehobenen Position obliegende Sonderpflicht ver-
letzt und die ihm eingeräumte Machtstellung zur Initiierung oder Förderung zwi-
schenstaatlicher Gewalthandlungen missbraucht hat.77

73
Heller (Fn. 66), EJIL 18 (2007), 479; zustimmend Ambos (Fn. 18), ZIS 2010, 659. In
United States Military Tribunal, Urteil v. 11. 4. 1949 (The Ministries Case) (Fn. 71), S. 354
wurde ausdrücklich klargestellt, dass das „shape and influence“-Kriterium nicht voraussetzt,
dass der Täter das Handeln des Staates kontrollieren kann.
74
Siehe Weisbord (Fn. 41), Duke J. of Comp. & Int’l L 20 (2009), 47, 49; auch Ambos
(Fn. 18), ZIS 2010, 660.
75
Hierzu oben Fn. 24 und dazugehöriger Text.
76
Roxin, Strafrecht AT II, Besondere Erscheinungsformen der Straftat, München 2003,
§ 25 Rn. 10; zur Übernahme der Tatherrschaftslehre durch den IStGH siehe IStGH, Ent-
scheidung v. 29. 1. 2007 – ICC-01/04 – 01/06 – 803 (Prosecutor v. Lubanga), Rn. 330 ff.
77
Vgl. allgemein Puppe, in: Urs Kindhäuser/Ulfrid Neumann/Hans-Ullrich Paeffgen
(Hrsg.), Nomos Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 5. Aufl., Baden-Baden 2017, § 29
Rn. 8 ff., die überzeugend darlegt, dass „Sonderdelikte“ durch zwei Komponenten, nämlich
Ausnutzung einer Machstellung und Verletzung einer Sonderpflicht, geprägt sind (wobei sie
ersteres als Unrechts-, letzteres als Schuldmerkmal einordnet).
Individuelle Verantwortlichkeit für staatliche Angriffshandlungen 1445

2. (Keine) Beteiligung am Sonderdelikt?

Bedenklich erscheint allerdings, dass die restriktive „leadership clause“ über


Art. 25 Abs. 3bis IStGH-Statut auf alle Beteiligungsformen durchschlägt. Personen,
die das Handeln des Staates zwar ggf. sogar entscheidend beeinflussen, aber eben
nicht kontrollieren, können nicht wegen Beihilfe zum Aggressionsverbrechen be-
langt werden. Dies bedeutet u. a., dass Verantwortungsbeiträge von Rüstungsindus-
triellen, Inhabern privater Sicherheits- und Militärunternehmen oder außerstaatli-
chen paramilitärischen Führern78, die ein erhebliches wirtschaftliches oder politi-
sches Interesse an bewaffneten Auseinandersetzungen haben können, völkerstraf-
rechtlich nicht erfasst werden79 – und zwar selbst dann nicht, wenn ihr Handeln
eine conditio-sina-qua-non der zwischenstaatlichen Gewalthandlungen ist.80
Dogmatisch zwingend ist die Konstruktion des Art. 25 Abs. 3bis IStGH-Statut
nicht. Auch wenn das täterschaftliche Unrecht des Aggressionsverbrechens darin be-
steht, dass der Täter die ihm eingeräumten Machtbefugnisse ausnutzt, bedeutet dies
nicht zwangsläufig, dass Tatbeiträge von Extranei per se kein strafwürdiges Unrecht
darstellen. Diese sind zwar insoweit machtlos, als sie selbst nicht in einer Position
sind, die Tat aus eigener Kraft zu begehen; bei einem staatszentristischen Verständnis
des Aggressionsverbrechens bedarf es zwingend der Mitwirkung der politischen
bzw. militärischen Führungsriege. Außenstehende können aber den Intranei in sei-
nem pflichtwidrigen Vorhaben bestärken bzw. ihn in der Ausführung unterstützen.
Hierin lässt sich eine „Ausnutzung fremder Machtstellung“81 sehen, durch die der
Extranei in zurechenbarer Weise am tatbestandlichen Gesamtunrecht mitwirkt.82
Dass die Pflicht, das Gewaltverbot zu achten und die ihm eingeräumte Machtstellung
nicht zu missbrauchen, primär den Intranei und nur mittelbar den Extranei trifft, der
letzterem zu machende Vorwurf damit zwingend geringer ist, lässt sich auf Ebene der
Strafzumessung in ausreichender Weise berücksichtigen.83

78
Mit Blick auf Terrororganisationen wie al-Qaida Weisbord (Fn. 41), Duke J. of Comp. &
Int’l L 20 (2009), 47; auch Schuster (Fn. 17), CLF 14 (2003), 23.
79
Vgl. hierzu auch die Zusammenfassung des Diskussionstandes in 2004 Princeton Report,
abgedruckt in: Kreß/Barriga (Fn. 25), S. 429 (Rn. 49).
80
Dass die absolute Begrenzung der Strafbarkeit auf die Führungsebene zu kurz greifen
kann, wurde bereits in Nürnberg anerkannt, siehe IMG, Urteil v. 30. 9. 1946 u. 1. 10. 1946
(Fn. 7), S. 226: „Hitler could not make aggressive war by himself. He had to have the co-
operation of statesmen, military leaders, diplomats, and business men“.
81
So Puppe (Fn. 77), § 29 Rn. 8.
82
Daher kann auch der Einwand, ohne eine Regelung wie Art. 25 Abs. 3bis IStGH-Statut
würde der Charakter des Verbrechens des Angriffskrieges als Führungsdelikt unterminiert,
siehe den 2007 Princeton Report, abgedruckt in: Kreß/Barriga (Fn. 25), S. 559 (Rn. 11), nicht
überzeugen.
83
Siehe hierzu Puppe (Fn. 77), § 29 Rn. 8 ff.; auch Roxin (Fn. 76), § 27 Rn. 2. Vgl. aus
deutscher Sicht auch § 28 StGB.
1446 Stefanie Bock

Anders als der Sonderdeliktscharakter des Aggressionsverbrechens an sich lässt


sich die Beschränkung der Teilnehmerstrafbarkeit auf Führungspersonen auch nicht
(formell)84 durch Verweis auf die Präjudizen von Nürnberg begründen. Die Recht-
sprechung ist diesbezüglich uneinheitlich. Im IG Farben Fall wurde der Freispruch
der Angeklagten insgesamt damit begründet, dass sie nur „Mitläufer, nicht Führer“
gewesen seien.85 Die Richter sind also offenbar davon ausgegangen, dass die fehlen-
den politischen Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten der Angeklagten86 auch eine
Verurteilung wegen Beteiligung87 an Verbrechen gegen den Frieden ausschließt.88
Demgegenüber hat sich der IMG im Urteil gegen die Hauptkriegsverbrecher auf
den Standpunkt gestellt, dass eine strafbare Teilnahme am Angriffskrieg stets –
und zwar auch bei Diplomaten und Geschäftsleuten – zu bejahen sei, wenn sie
von den Zielen Hitlers wussten und sich dennoch an den Planungen der Angriffskrie-
ge beteiligt haben.89 In diesem Sinne wurde im Krupp-Verfahren herausgestellt, dass
die Angeklagten die deutsche Aggressionspolitik zwar nicht entscheidend beeinflus-
sen konnten und auch keinerlei Kontrolle über die Truppen oder die Art und Weise
der Kriegsführung hatten; entscheidend für die Freisprüche war allerdings, dass die
subjektiven Tatvoraussetzungen, zu denen namentlich das Wissen um die Pläne Hit-
lers gehörte, nicht nachgewiesen werden konnten. Damit scheint das Tribunal eine
Teilnehmerstrafbarkeit unterhalb der unmittelbaren Führungsebene grundsätzlich
für möglich gehalten zu haben.90
Dass sich die Staaten dennoch dafür entschieden haben, die „leadership clause“
auf alle Beteiligungsformen zu erstrecken, ist primär dem Bedürfnis geschuldet,
einer uferlosen Ausdehnung der (Teilnahme-)Strafbarkeit vorzubeugen. Durch
Art. 25 Abs. 3bis IStGH-Statut wird insbesondere sichergestellt, dass der der angrei-
fenden Armee angehörende Soldat nicht belangt werden kann.91 Ebenso werden –
wie dies bereits im IG-Farben-Urteil für notwendig erachtet wurde – Bauern, die

84
Grundsätzlich kritisch zum überwiegend positivistischen Ansatz internationaler Norm-
geber, grundlegenden dogmatischen und rechtstheoretischen Fragen durch Rückgriff auf
Präzedenzfälle und existierende völkerrechtliche Regelungen auszuweichen, Ambos (Fn. 18),
ZIS 2010, 654.
85
United States Military Tribunal, Urteil v. 29. u. 30. 7. 1948 (The Farben Case) (Fn. 57),
S. 1126 f. Ähnliche Argumentation in United States Military Tribunal, Order of the Tribunal v.
5. 4. 1948 (The Krupp Case) (Fn. 65) – Concurring Opinion of Presiding Judge Anderson,
S. 449.
86
Zu diesem Standard oben Fn. 71.
87
Zur grundsätzlichen Anerkennung einer Beteiligungsstrafbarkeit in Nürnberg Ambos
Kai, Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts. Ansätze einer Dogmatisierung, 2. Aufl.,
Berlin 2004, S. 126.
88
Siehe auch Heller (Fn. 66), EJIL 18 (2007), 485.
89
IMG, Urteil v. 30. 9. 1946 u. 1. 10. 1946 (Fn. 7), S. 226.
90
Military Tribunal, Order of the Tribunal v. 5. 4. 1948 (The Krupp Case) (Fn. 65), S. 396,
449; siehe auch Heller (Fn. 66), EJIL 18 (2007), 485.
91
Ambos (Fn. 18), ZIS 2010, 659; vgl. auch Grzebyk (Fn. 17), S. 193.
Individuelle Verantwortlichkeit für staatliche Angriffshandlungen 1447

die Angriffsarmee mit Nahrung versorgen, oder Personen, die den Soldaten Unter-
kunft gewähren, von der (Beihilfe-)Strafbarkeit ausgenommen.92

V. Ein Alternativmodell:
Konkretisierung der Beihilfevoraussetzungen
Auch wenn das Bestreben, völkerstrafrechtliche Verantwortlichkeit nicht zu ent-
grenzen, uneingeschränkt zu begrüßen ist, drängt sich die Frage auf, ob die vollstän-
dige und vorbehaltlose Straffreistellung von Extranei der richtige Weg ist. Eine denk-
bare Alternativlösung besteht in der Präzisierung und Schärfung der allgemeinen
Strafbarkeitsvoraussetzungen. Schlussendlich steht hinter den diskutierten Beispie-
len um eine mögliche individuelle Verantwortlichkeit von einfachen Soldaten, Far-
mern und Gastwirten die grundsätzliche Frage, wann eine (Unterstützungs-)Hand-
lung strafwürdiges Unrecht darstellt. Sie ist bei der völkerstrafrechtlichen Makrode-
linquenz besonders virulent, da sich die Beteiligten in einen kollektiven Deliktszu-
sammenhang einfügen, in den ggf. große Teile der Gesellschaft in unterschiedlicher
Weise und Intensität eingebunden sind; der Taterfolg ist Resultat einer Vielzahl in-
dividueller Einzelhandlungen.93 Eine völkerstrafrechtliche Zurechnungs- und Betei-
ligungslehre muss diesem systemischen Moment Rechnung tragen, dabei aber zu-
gleich einer im Lichte des Schuldprinzips bedenklichen Überpönalisierung entge-
genwirken und – wie es die Nürnberger Tribunale wiederholt gefordert haben94 –
Massenbestrafungen verhindern. Schwierigkeiten bereitet dabei vor allem die ange-
messene Erfassung sog. neutraler, d. h. alltäglicher oder berufsadäquater, Verhaltens-
weisen.
Die ad-hoc Tribunale für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda haben die Teil-
nahmestrafbarkeit dadurch zu begrenzen versucht, dass sie erhöhte objektive Anfor-
derungen an die Beihilfe gestellt haben.95 Grundsätzlich könne zwar jede Form phy-
sischer oder psychischer Hilfeleistung zur Haupttat als „aiding und abetting“ strafbar
sein.96 Die Unterstützungshandlung müsse keine conditio-sina-qua-non der Haupttat

92
United States Military Tribunal, Urteil v. 29. u. 30. 7. 1948 (The Farben Case) (Fn. 57),
S. 1124 f.; auch Schuster (Fn. 17), CLF 14 (2003), 21.
93
Vgl. auch James G. Stewart, Overdetermined Atrocities, in: JICJ 10 (2012), 1189, 1216.
94
Siehe die Nachweise in Fn. 61.
95
Dies muss allerdings auch im Zusammenhang damit gesehen werden, dass die ad-hoc
Tribunale über die Joint-Criminal Enterprise Doktrin z. T. sehr weitreichende andere Mög-
lichkeiten hatten, indirekte und tatferne Unterstützungsbeiträge strafrechtlich zu erfassen,
hierzu Bock (Fn. 5), ZIS 2017, 423.
96
ICTY, Urteil v. 15. 7. 1999 – IT-94-1-A (Prosecutor v. Tadić), Rn. 229; ICTY, Urteil v.
25. 2. 2004 – IT-98-32-A (Prosecutor v. Vasiljević), Rn. 102; ICTY, Urteil v. 10. 12. 1998 – IT-
95-12/1-T (Prosecutor v. Furundžija), Rn. 234; ICTY, Urteil v. 6. 9. 2011 – IT-04-81-T (Pro-
secutor v. Perišić), Rn. 1; ICTY, Urteil v. 24. 3. 2016 – IT-95-5/18-T (Prosecutor v. Karadžić),
Rn. 575; ICTR, Urteil v. 7. 6. 2001 – ICTR-95-1A-T (Prosecutor v. Bagilishema), Rn. 33;
ICTR, Urteil v. 21. 5. 1999 – ICTR-95-1-T (Prosecutor v. Kayishema/Ruzindana), Rn. 199 f.;
1448 Stefanie Bock

sein,97 wohl aber wesentlich zur ihrer Begehung beigetragen haben („substantial ef-
fect“).98 Dies wurde verneint, wenn der Beschuldigte lediglich eine Position ohne
Einflussmöglichkeiten inne hat.99 Dementsprechend soll der angestellte Gastechni-
ker, der an Gaslieferungen nach Auschwitz beteiligt war, nicht wegen Beihilfe zum
Mord strafbar sein.100 Gleiches muss erst recht für Personen gelten, die die Angriffs-
armee durch Nahrungslieferungen oder ähnliche berufstypische Handlungen unter-
stützen. Ebenso erscheint der in Befehls- und Gehorsamshierarchien eingebundene
Soldat als austauschbarer Befehlsempfänger,101 der keinen nennenswerten Einfluss
auf den staatlichen Aggressionsakt hat.102 Auch wenn in diesen Fällen die Beschrän-
kung der Beihilfestrafbarkeit im Ergebnis richtig erscheint, überzeugt die Verknüp-
fung von Wesentlichkeit des Gehilfenbeitrags und real-existierender Einflussmög-
lichkeit nicht. Dass der Einzelne isoliert betrachtet nicht die Macht hat, die Tatabläu-
fe nennenswert zu modifizieren oder gar den Erfolgseintritt zu verhindern, ist für sys-

ICTR, Urteil v. 15. 5. 2003 – ICTR-97-20-T (Prosecutor v. Semanza), Rn. 385; ICTR, Urteil v.
30. 12. 2011 – ICTR-01-68-T (Prosecutor v. Ndahimana), Rn. 723; ICTR, Urteil v. 20. 12. 2012
– ICTR-99-54-T (Prosecutor v. Ngirabatware), Rn. 1295.
97
ICTY, Urteil v. 10. 12. 1998 – IT-95-12/1-T (Prosecutor v. Furundžija), Rn. 233; ICTR,
Urteil v. 21. 5. 1999 – ICTR-95-1-T (Prosecutor v. Kayishema/Ruzindana), Rn. 201; ICTR,
Urteil v. 7. 6. 2001 – ICTR-95-1A-T (Prosecutor v. Bagilishema), Rn. 33; auch ICTY, Urteil v.
6. 9. 2011 – IT-04-81-T (Prosecutor v. Perišić), Rn. 126; ICTR, Urteil v. 30. 12. 2011 – ICTR-
01-68-T (Prosecutor v. Ndahimana), Rn. 723; SLSGH, Urteil v. 18. 5. 2012 – SCSL-03-01-T
(Prosecutor v. Taylor), Rn. 482.
98
ICTY, Urteil v. 25. 2. 2004 – IT-98-32-A (Prosecutor v. Vasiljević), Rn. 102; ICTY, Urteil
v. 10. 12. 1998 – IT-95-12/1-T (Prosecutor v. Furundžija), Rn. 233; ICTY, Urteil v. 6. 9. 2011 –
IT-04-81-T (Prosecutor v. Perišić), Rn. 126; ICTY, Urteil v. 24. 3. 2016 – IT-95-5/18-T (Pro-
secutor v. Karadžić), Rn. 575; ICTR, Urteil v. 7. 6. 2001 – ICTR-95-1A-T (Prosecutor v.
Bagilishema), Rn. 33; ICTR, Urteil v. 20. 12. 2012 – ICTR-99-54-T (Prosecutor v. Ngirabat-
ware), Rn. 1294; ICTR, Urteil v. 30. 12. 2011 – ICTR-01-68-T (Prosecutor v. Ndahimana),
Rn. 723. Am IStGH wird eine Beschränkung der Beihilfe auf wesentliche Beiträge überwie-
gend abgelehnt, IStGH, Urteil v. 19. 10. 2016 – ICC-01/05-01/13-1989 (Prosecutor v. Bemba
Gombo u. a.), Rn. 93; IStGH, Entscheidung v. 11. 12. 2014 – ICC-02/11-02/11-186 (Prosecu-
tor v. Blé Goudé), Rn. 167; IStGH, Entscheidung v. 24. 3. 2016 – ICC-01/12-01/15-84 (Pro-
secutor v. Al Mahdi), Rn. 26; a.A. IStGH, Urteil v. 14. 3. 2012 – ICC/01/04-01/06-2842
(Prosecutor v. Lubanga), Rn. 997.
99
ICTY, Urteil v. 10. 12. 1998 – IT-95-12/1-T (Prosecutor v. Furundžija), Rn. 233; siehe
auch ICTY, Urteil v. 23. 1. 2014 – IT-05-87-A (Prosecutor v. Šainović u. a.), Rn. 1637.
100
ICTY, Urteil v. 10. 12. 1998 – IT-95-12/1-T (Prosecutor v. Furundžija), Rn. 233 i.V.m.
Rn. 223.
101
Siehe auch Grzebyk (Fn. 17), S. 194.
102
Der Gedanke, dass Strafbarkeit einen hinreichend schweren Tatbeitrag voraussetzt,
findet sich auch in United States Military Tribunal, Urteil v. 29. u. 30. 7. 1948 (The Farben
Case) (Fn. 57), S. 1125: „Of necessity, the great majority of the population of Germany sup-
ported the waging of war in some degree. They contributed to Germany’s power to resist, as
well as to attack. Some reasonable standard must, therefore, be found by which to measure the
degree of participation necessary to constitute a crime against peace in the waging of ag-
gressive war.“
Individuelle Verantwortlichkeit für staatliche Angriffshandlungen 1449

temische Kollektivtaten typisch103 und ändert nichts daran, dass der Einzelne Anteil
am Gesamtgeschehen hat. Stellt man (zu) hohe Anforderungen an die objektiven Bei-
hilfevoraussetzungen wird man der Tatsache nicht gerecht, dass das Gesamtunrecht
auf Ausführungsebene auch dadurch entsteht, dass für sich betrachtet nahezu bedeu-
tungslose Einzelakte zusammenwirken und sich wechselseitig verstärken.104
Zielführender erscheint es, wenn in Teilen der internationalen Rechtsprechung
verlangt wird, dass die Beihilfehandlung speziell darauf gerichtet sein muss, die Be-
gehung der Haupttat zu fördern.105 Zwischen Unterstützungshandlung und Haupttat
muss hiernach eine unmittelbare Schuldbeziehung, ein „culpable link“, bestehen.106
Ob es sich hierbei um ein objektives oder subjektives Merkmal handelt, ist nicht ein-
deutig;107 seine Funktion besteht jedenfalls (auch) darin, die Strafbarkeit für neutrale,
alltagstypische Handlungen zu begrenzen.108 Den (Kampf-)Handlungen der Soldaten
lässt sich isoliert nicht ansehen, ob sie im Rahmen eines völkerrechtswidrigen An-
griffs erfolgen oder Teil eines kollektiven Verteidigungseinsatzes bzw. einer zuläs-
sigen humanitären Hilfsaktion sind. Sie sind regelmäßig nicht darauf gerichtet,
einen Angriffskrieg oder die Verletzung staatlicher Souveränitätsrechte zu fördern,
sondern darauf, ein konkretes militärisches Ziel – z. B. Einnahme einer Stadt, Zer-
störung kriegsrelevanter Infrastruktur etc. – zu verwirklichen. Ob die konkreten mi-
litärischen Maßnahmen rechtmäßig sind, ist eine Frage des ius in bello (dessen Ver-
letzung ggf. eine Strafbarkeit wegen Kriegsverbrechen nach sich zieht); ein „culpa-
ble link“ zum spezifischen Unrecht der Aggression wird typischerweise nicht gege-
ben sein – jedenfalls dann nicht, wenn die fragliche Kampfhandlung auch Teil eines
völkerrechtmäßigen Gewalteinsatzes sein könnte. Anders ist die Situation hingegen,

103
Siehe in diesem Zusammenhang auch den Hinweis von Joachim Vogel, Individuelle
Verantwortlichkeit im Völkerstrafrecht, in: ZStW 114 (2002), 403, 410, dass in jedem syste-
mischen Zurechnungsmodell der Grundsatz gelten muss, dass Fungibilitäten unbeachtlich
sind.
104
Bock (Fn. 5), ZIS 2017, 426.
105
So bereits ICTY, Urteil v. 15. 7. 1999 – IT-94-1-A (Prosecutor v. Tadić), Rn. 229; siehe
u. a. auch ICTY, Urteil v. 25. 2. 2004 – IT-98-32-A (Prosecutor v. Vasiljević), Rn. 102; ICTY,
Urteil v. 28. 2. 2013 – IT-04-81-A (Prosecutor v. Perišić), Rn. 37; ICTY, Urteil v. 24. 3. 2016 –
IT-95-5/18-T (Prosecutor v. Karadžić), Rn. 575; ICTR, Urteil v. 14. 12. 2011 – ICTR-05-82-A
(Prosecutor v. Ntawukulilyayo) Rn. 214; ICTR, Urteil v. 30. 12. 2011 – ICTR-01-68-T (Pro-
secutor v. Ndahimana), Rn. 723. Unumstritten ist dieses Merkmal allerdings nicht, siehe ins-
besondere ICTY, Urteil v. 23. 1. 2014 – IT-05-87-A (Prosecutor v. Šainović u. a.), Rn. 1617 ff.;
auch ICTY, Urteil v. 6. 9. 2011 – IT-04-81-T (Prosecutor v. Perišić), Rn. 126 m.w.N.; SLSGH,
Urteil v. 26. 9. 2013 – SCSL-03-01-A (Prosecutor v. Taylor), Rn. 471 ff.; SLSGH, Urteil v.
18. 5. 2012 – SCSL-03-01-T (Prosecutor v. Taylor), Rn. 484.
106
ICTY, Urteil v. 28. 2. 2013 – IT-04-81-A (Prosecutor v. Perišić), Rn. 37.
107
Ausführlich zur nicht einheitlichen Rechtsprechung Ambos/Njikam, Charles Taylor’s
Criminal Responsibility, in: JICJ 11 (2013), 789, 804 ff.
108
Vgl. ICTY, Urteil v. 28. 2. 2013 – IT-04-81-A (Prosecutor v. Perišić), Rn. 44 („the pro-
vision of general assistance which could be used for both lawful and unlawful activities will
not be sufficient, alone, to prove that this aid was specifically directed to crimes of principal
perpetrators“).
1450 Stefanie Bock

wenn ein ranghoher Beamter, der nicht dem unmittelbaren Führungszirkel angehört,
in Kenntnis der staatlichen Aggressionspolitik Angriffspläne ausarbeitet oder ein
Rüstungsindustrieller seine Waffenproduktion erhöht, um dem Staat die Durchfüh-
rung einer Angriffshandlung zu ermöglichen. Dies entspricht im Kern dem Zurech-
nungsmodell von Vest, der darauf abstellt, ob die Beihilfehandlung „sowohl substan-
tiell als auch in Machart oder Verwendungszweck auf die Haupttat abgestimmt
ist“.109
Ein weiterer Anknüpfungspunkt für die Begrenzung der Beihilfestrafbarkeit fin-
det sich in Art. 25 Abs. 3 lit. c) IStGH-Statut, der einschränkend verlangt, dass der
Gehilfe seinen Tatbeitrag „zur Erleichterung“ der Haupttat leistet. Bei dem hochgra-
dig normativen Verbrechen der Aggression wird man insoweit verlangen können,
dass sich die Förderungsintention auch auf die Völkerrechtswidrigkeit des unter-
stützten Gewalteinsatzes bezieht. Während dies bei befehlsausführenden Soldaten
oder Personen, die an der Versorgung der Angriffsarmee mitwirken, regelmäßig
nicht der Fall sein dürfte, ist dies bei wirtschaftlichen oder religiösen Akteuren
ggf. anders, wenn sie in die Pläne der Staatsleitung eingeweiht sind oder sie sogar
aktiv mitgestalten.110
Im Kern geht es bei den hier knapp skizzierten Ansätzen um die übergeordnete
Frage, wann die neutrale Handlung den Bereich des Erlaubten verlässt, d. h., wann
sie im Sinne der Lehre von der objektiven Zurechnung eine rechtlich missbilligte Ri-
sikoerhöhung darstellt.111 Mit Art. 25 Abs. 3bis IStGH-Statut hat der internationale
Normgeber Rechtsprechung und Wissenschaft zumindest für das Verbrechen der Ag-
gression von der Aufgabe entbunden, die völkerrechtliche Zurechnungslehre zu
schärfen und fortzuentwickeln. Dies ist insoweit verständlich, als die klare Regelung
des Art. 25 Abs. 3bis IStGH-Statut Rechtssicherheit und den Staaten die Gewissheit
gibt, dass die Strafbarkeit für Angriffshandlungen keinesfalls ausufern kann. Der
Preis ist allerdings hoch: strafrechtlich irrelevant sind auch Verantwortungsbeiträge,
die zwar unter- bzw. außerhalb des engen (staatlichen) Führungszirkels geleistet wer-
den, aber dennoch in erhöhtem Maße missbilligenswert erscheinen und das Risiko
einer Friedensverletzung ggf. erheblich steigern. Man denke nur an den Rüstungsin-
dustriellen, der aus rein wirtschaftlichen Motiven heraus die staatliche Aggressions-
politik unterstützt und forciert.

109
Vest, Völkerrechtsverbrecher verfolgen: ein abgestuftes Mehrebenenmodell systemi-
scher Tatherrschaft, Bern 2011, S. 209.
110
Zu ähnlichen Ergebnissen wird man mit dem subjektiven Ansatz der deutschen Recht-
sprechung gelangen BGHSt 46, 107, 112.
111
Allgemein zur völkerstrafrechtlichen Bedeutung der Regeln der objektiven Zurechnung
Reinhard Merkel, Die „kollaterale“ Tötung von Zivilisten im Krieg, in: JZ 2012, 1137, 1140.
Vertiefend Ambos (Fn. 87), 2004, S. 631 ff.
Individuelle Verantwortlichkeit für staatliche Angriffshandlungen 1451

VI. Zusammenfassung
Das Verbrechen der Aggression ist durch eine besonders enge Verzahnung von
staatlicher und individueller Verantwortlichkeit geprägt, die die Erfassung und Be-
wertung einzelner Tatbeiträge erschwert. Das IStGH-Statut beschränkt die Strafbar-
keit im Grundsatz zu Recht auf die Führungsebene und schreibt täterschaftlich ver-
wirklichtes Aggressionsunrecht nur demjenigen zu, der eine hervorgehobene Macht-
und Pflichtenstellung innehat. Dass aber die „leadership clause“ auch auf alle Be-
teiligungsformen erstreckt wird, ist dogmatisch nicht zwingend, entspricht nicht
den Präjudizen von Nürnberg und führt zu bedenklichen Strafbarkeitslücken. Ob
diese in der Praxis zu spüren sein werden, bleibt abzuwarten. Schon aufgrund der
hohen Schwellenklausel des Art. 8bis IStGH-Statut, die die Strafbarkeit auf qualita-
tiv und quantitativ schwerwiegende Verletzungen des völkerrechtlichen Gewaltver-
botes beschränkt, ist nicht zu erwarten, dass in absehbarer Zeit Aggressionsverfahren
vor dem IStGH eingeleitet werden. Derzeit liegt der eigentliche Wert des Kampala-
Kompromisses in der symbolischen Ächtung staatlicher Aggressionshandlungen, die
nicht nur rechtlich, sondern auch und vielleicht sogar primär politisch bedeutsam ist.
Zum „Terrorismus“ im Sicherheitsrat
Von Georg Meggle

Wie geht der UN-Sicherheitsrat mit dem Begriff „Terrorismus“ um? Und was zeigt
uns dieser Umgang? (Dazu Teil A.) Was wäre nötig, damit sich dieser Umgang zum
Besseren ändert? Und wie steht es mit den Chancen der Realisierbarkeit einer solchen
Verbesserung? (Dazu Teil B.)

Teil A.
1. Was unter „Terrorismus“ zu verstehen ist, dafür gibt es, wie einschlägige Über-
sichten belegen, bekanntlich mehr als hundert verschiedene Definitionen.1 Daraus zu
schließen, dass weitere Definitionsversuche entweder müßig oder gar unmöglich
sind, wäre jedoch ein Fehlschluss – einer, der freilich sehr oft begangen wird.
Und es gibt Institutionen, die daran, dass dieser Fehlschluss von uns begangen
wird, ein dezidiertes Interesse zu haben scheinen. Wie sonst wäre es zu erklären,
dass von solchen Institutionen Arbeiten (primär Dissertationen) gefördert werden,
die zeigen wollen – und wohl auch sollen –, dass eine sinnvolle Definition von „Ter-
rorismus“ gar nicht möglich sei?2
Am wenigsten begehen diesen Fehlschluss in der Regel die, die schon von Berufs
wegen Experten für Begriffserklärungen sind – und auch sein sollten: Außer Juris-
tinnen und Juristen also Philosophinnen und Philosophen, insbesondere also speziell
Analytische Philosophen (wie ich einer zu sein mich bemühe). Besagtem Fehlschluss
halten diese entgegen, dass zum einen nicht alle dieser hundert Definitionen gleich
gut und zum anderen die guten nicht ohne logische Verbindung untereinander sein
müssen. Es ist nichts Ungewöhnliches, dass unser Verständnis ,ein und derselben
Sache‘ unterschiedlich weit bzw. eng ist. Dass „Kommunikation“ zum Beispiel
von den kommunikativen Röhren bis hin zum Habermas’schen Kommunikativen
Handeln alles Mögliche umfassen kann, ist kein Hindernis, klar zu sagen, was jeweils
mit „Kommunikation“ gemeint sein soll.3
1
So zum Beispiel in dem heute schon fast uralt wirkenden Werk: Alex P. Schmid, Political
Terrorism, A Research Guide to Concepts, Theories, Data Bases and Literature, Amsterdam,
1983.
2
Als ein Musterbeispiel für eine solche bestellte Auftragsarbeit sehe ich an: Omar Malik,
Enough of the Definition of Terrorism, The Royal Institute of International Affairs, London,
2001.
3
Das ist freilich kein Kinderspiel. Vgl. etwa G. Meggle, Grundbegriffe der Kommunika-
tion, 19972.
1454 Georg Meggle

1.1 Auch was Terroristische Aktionen sind, lässt sich klar sagen. Und auch bei die-
sem Begriff lohnt es sich (entsprechend zu den kommunizierenden Röhren), nicht
mit der allgemeinsten Verwendung anzufangen, vielmehr mit einer der engeren.
Es brächte uns zum Beispiel kaum weiter, wenn wir uns an den Fällen orientieren
würden, wonach schon all jenes Verhalten unserer Kids echt ,terroristisch‘ wäre,
gegen das wir uns – meist erfolglos – mit einem genervten „Ich lass mich von Dir
nicht weiter terrorisieren!“ zu wehren versuchen. Selbst die schlimmsten ,Terroris-
ten‘ von dieser Sorte stellen wir nicht einfach an die Wand und knallen sie ab, halten
sie vielmehr meist fünf Minuten später schon wieder für „süß“.
1.2 Terroristische Aktionen in dem die Welt und den Sicherheitsrat primär inter-
essierenden Sinne sind: (i*) Extreme Gewalt-Akte, (ii*) mit deren Hilfe Terror aus-
geübt wird, (iii*) wobei dieser Terror als Mittel zum Zweck des Erreichens politischer
Ziele dient – und (iv*) diese Gewalt-Akte direkt gegen nicht-legitime Gewaltziele
(Kinder z. B.) gerichtet sind.4
1.3 Diese Definition scheint zirkulär, ist es aber nicht. Terrorismus ist nämlich
nicht dasselbe wie Terror. Letzteres ist der umfassendere Begriff: Jede terroristische
Aktion ist auch ein Terror-Akt; aber eben nicht jeder Terror-Akt auch ein terroristi-
scher. Denn: Nicht bei jedem Terror-Akt fungiert der bewirkte bzw. zumindest zu
bewirken versuchte Terror bzw. der ihm auf der Rezipienten-Seite entsprechende
Horror: sei es Panik oder lähmendes Entsetzen, als Mittel zum Erreichen politischer
Zwecke.
1.4 Diese Definition hat den für jede rationale – wie auch für jede ethisch akzep-
table – Diskussion unabdingbaren Vorteil, dass sie nicht selektiv ist. Sie schließt nicht
schon per Definition bestimmte Spezialfälle aus. Sie schaut auf die Tat, auf das, was
getan wurde bzw. getan wird – und nicht darauf, wer es ist, der die Tat tut; sie recht-
fertigt oder verurteilt die Tat nicht schon deshalb, weil sie aus bestimmten Motiven
vollzogen wird; und sie ermöglicht so, dass wir uns auch von Täterschaft und Mo-
tivlage unabhängig darüber verständigen können, an welchen Tatmerkmalen unsere
moralische Verurteilung (der Tat und dann auch von deren Tätern) letztlich hängt.
Kurz: Die Definition ist, was Täter, Motive und unsere Bewertungsbasis angeht, neu-
tral. Das muss sie auch sein, damit, wer gegen jeglichen Terrorismus vorgehen will,
auch wirklich jeglichen treffen kann.
2. Die Vereinten Nationen bemühen sich um ein gemeinsames Terrorismus-Ver-
ständnis schon lange. Im Folgenden geht es mir nur um einen einzigen konkreten Fall
dieses Bemühens. Am 08. Oktober 2004 hatte der Sicherheitsrat mit der Resolution
1566 erneut zum Terrorismus Stellung genommen und dabei auch zum wiederholten
Male den Terrorismus-Begriff selber zu erklären versucht. Diese Begriffserklärung

4
Genaueres in G. Meggle (Hrsg.), Terror & Der Krieg gegen ihn. Öffentliche Reflexionen,
2003 – i.F. auch kurz: T&KG. Siehe dort insbesondere die Beiträge von C.A.J. Coady, G.
Meggle und I. Primoratz. Zu einer ersten Kritik an meinem Definitionsvorschlage siehe Uwe
Steinhoff, „Die Ethik des Terrorismus“, in: Christian Schicha/Carsten Brosda (Hrsg.), Medien
und Terrorismus. Reaktionen auf den 11. September 2001, 2002, S. 188 – 197.
Zum „Terrorismus“ im Sicherheitsrat 1455

ist von allen bis dahin gezeigten Sicherheitsrats-Ansätzen die überzeugendste; sie
deckt sich mit der obigen Definition nahezu völlig. Jedenfalls prima facie.
2.1 Terroristische Akte sind nach Absatz 3 dieser Resolution Akte, (i) „die mit der
Absicht begangen werden, den Tod oder schwere Körperverletzungen zu verursa-
chen“, Taten (ii), „die mit dem Ziel begangen werden, die ganze Bevölkerung,
eine Gruppe von Personen oder einzelne Personen in Angst und Schrecken zu ver-
setzen“, und (iii) [“die mit dem Ziel begangen werden“] „eine Bevölkerung einzu-
schüchtern oder eine Regierung oder eine internationale Organisation zu einem
Tun oder Unterlassen zu nötigen“. Wenn nun auch noch (i) als Mittel zum Zweck
(ii) und dieser wiederum als Mittel zum Zweck (iii) herausgestellt worden wäre,
dann wäre das ziemlich genau unsere Terrorismus-Erklärung von oben. (Jedenfalls
in den Punkten (i*) bis (iii*).)
Diese Resolutions-Definition erscheint somit in ihrem Ansatz als ein Fortschritt in
Sachen begrifflicher Klarheit. Und Klarheit wäre im „Kampf gegen den Terroris-
mus“ auch echt vonnöten – falls dieser Kampf nicht nur selektiv oder gar blind ge-
führt werden sollte.
[Ich weiß, dass an dieser Stelle ein Überblick über die späteren Bemühungen der
UN um ein allgemein verbindliches und somit einheitliches Verständnis des „Terro-
rismus“ fällig wäre. Dass mir dazu derzeit die Zeit fehlt, versteht sicher niemand bes-
ser als der Adressat dieser Festschrift.]
2.2 Genau diesen klaren Schritt macht aber, entgegen dem ersten Eindruck, auch
diese Resolution 1566 nicht. Sie versieht die zitierte Begriffserklärung vielmehr mit
einer Reihe von Zusätzen, durch welche die begriffliche Neutralität und damit die
generelle Brauchbarkeit dieser Erklärung wieder zunichte gemacht werden. [Über
einen israelischen UN-Mitarbeiter erhielt ich die Information, dass diese Zusätze er-
sichtlich die Handschrift des damaligen (nur per Dekret vom Präsidenten G. W. Bush
ernannten) US-Botschafters bei der UN zeigen. Und in der Tat: Auf den von meinem
Informanten gemachten Kopien von den Entwürfen zu dieser Resolution stammen
die entscheidenden handschriftlich eingetragenen ,Verbesserungen‘ nachweislich
von John Bolton.]
Die Resolution ergänzt die genannten Bedingungen (i) bis (iii) um die folgende
vierte: Terroristische Akte sind (iv) Akte, welche „im Sinne und entsprechend der
Begriffsbestimmungen der internationalen Übereinkommen und Protokolle betref-
fend den Terrorismus“ Straftaten darstellen. Dieser Zusatz hat zweierlei zur
Folge: (a) Er macht die ganze Begriffserklärung entweder schlicht zirkulär oder
drückt sie auf das mindere Niveau der früheren Erklärungen; und (b) er macht
den Straftatbestandscharakter dieser Taten bereits zu einem Merkmal von deren De-
finition. Es kommt der Resolution primär wohl auf diese letztere Folgerung (b) an.
Auf (iv) folgt jedenfalls direkt: Derartige Taten können „unter keinen Umständen ge-
rechtfertigt werden […], indem politische, philosophische, weltanschauliche, rassi-
sche, ethnische, religiöse oder sonstige Erwägungen ähnlicher Art angeführt wer-
den“. Dazu gleich noch mehr.
1456 Georg Meggle

2.3 An diese Definitionsmerkmale und diese Zusatzfolgerungen will Absatz 3


dieser Resolution freilich nicht nur „erinnern“; sie fordert unmittelbar danach
„alle Staaten auf, solche Straftaten zu verhindern und, wenn sie nicht verhindert wer-
den können, sicherzustellen, dass für solche Straftaten Strafen verhängt werden, die
der Schwere der Tat entsprechen“.
2.4 Keine einzige der bisherigen „Begriffsbestimmungen der internationalen Über-
einkommen“ ist [genauer: war bislang] so formuliert – s. 2.6 unten –, dass sie auch
staatlichen Terrorismus als „Terrorismus“ bezeichnet. Man beachte zudem: Diskutiert
wird hier ohnehin nur so genannter Fremd-Terrorismus, also nicht die Fälle, in denen
sich staatlicher Gewaltterror gegen die eigene Bevölkerung richtet.
Die Folgerung aus dem obigen Zusatz (iv) besagt, dass diese Begriffslücke auch
weiterhin bleiben soll. Damit ist aber auch diese neue Definition nicht mehr neutral.
Ob Aktionen terroristische sind oder nicht, hängt ihr zufolge nicht mehr allein von
den Taten ab, vielmehr auch davon, wer es ist, der sie vollzieht. Auch die Definition
der Resolution 1566 ist bezüglich der potentiellen Täterschaft selektiv.
2.5 Wer kommt dieser Resolutionsdefinition zufolge bei terroristischen Akten
als deren potentieller Gewalt-Adressat in Frage? Das bleibt offen. Abgehoben
wird lediglich auf den Spezialfall „namentlich auch […] Zivilpersonen“. Das ist
nur so zu verstehen, dass sich terroristische Akte außer gegen Zivilisten auch
gegen Nicht-Zivilisten richten können. Also auch gegen Soldaten bzw. Militäran-
gehörige im weiteren Sinne. Auch diese können somit der Resolution zufolge
nicht-legitime Gewaltziele sein. Diese Voraussetzung muss zum Beispiel gemacht
werden, damit auch der Anschlag auf das US-Schlachtschiff Cole im Golf von
Aden (2002) so bezeichnet werden kann, wie er von den USA und deren Verbün-
deten natürlich sofort bezeichnet wurde: als ein terroristischer Akt. Eine der zu klä-
renden Fragen wäre jetzt: Genau wann sind Soldaten legitime Gewaltziele und
wann nicht? Und wer legt das fest? Ein zu weites Feld für diesen Kurzkommentar.
Aber klar sollte sein, was diese Begriffsbestimmung praktisch bedeutet: Sogenann-
te asymmetrische Angriffe (insbesondere: nicht von regulären Soldaten ausgeführ-
te Angriffe) auf die eigenen Soldaten fallen unter Terroristische Akte. Im Klartext:
Jeder Aufständische, dessen Angriff Soldaten schwer verletzt oder tötet, ist Terro-
rist. Ganz egal, was sonst noch der Fall ist. Der nächste Erweiterungsschritt wäre:
Auch Soldaten oder Milizionäre, die kein Recht darauf haben, unsere Soldaten zu
verletzen oder zu töten, sind Terroristen.
2.6 Die im April 2019 getroffene Präzedenzfall-Entscheidung der derzeitigen US-
Administration, auch die iranischen Revolutionsgarden auf ihre Terroristen-Liste zu
setzen, macht genau diesen Erweiterungsschritt. Diese gewiss nicht ohne den derzei-
tigen nationalen Sicherheitsberater dieser Administration herbeigeführte Entschei-
dung kann sich also direkt auf die hier betrachtete UN-Sicherheitsrat-Resolution
1566 stützen. Der Name dieses Sicherheitsberaters: John Bolton. Eine Frage an un-
sere Experten: Wie könnte sich eine die gesamte UN-Charta derartig verachtende In-
Zum „Terrorismus“ im Sicherheitsrat 1457

strumentalisierung der UN rechtlich verhindern lassen?5 Müsste nicht auch ein sol-
cher Fall von semantischer Kriegsführung in den Zuständigkeitsbereich einer inter-
nationalen Gerichtsbarkeit fallen?6
2.7 Ein weiteres Manko dieser Resolutionsdefinition von Terrorismus hängt mit
ihrer essentialistischen Vorverurteilung zusammen. Diese schließt alle möglichen be-
urteilungsrelevanten weiteren Unterscheidungen aus. Zum Beispiel die, ob die legiti-
men wie die nicht-legitimen Gewaltopfer direkte oder indirekte Gewaltopfer sind, ob
die betreffenden Gewaltfolgen stark zurechenbar sind oder nicht und dergleichen.
Kurz: Ob es sich bei den zivilen Opfern um (wie in (i*) von 1.2 oben) direkt ins Visier
genommene Opfer oder ,nur‘ um sogenannte Kollateralschäden handelt. Oder sollen
all diese Unterscheidungen (und die damit verbundenen Entschuldbarkeiten wie Aus-
reden) nur für die eigenen Gewaltanwendungen reserviert bleiben? Das hätte dann
aber, vermute ich, mit neutralen moralischen Bewertungen nur noch sehr wenig zu tun.
2.8 Den Terrorismus zu verurteilen, ist eine Sache; die Verurteilung schon in seine
Definition zu stecken, eine ganz andere. Letzteres hat natürlich einen ungeheuren
,Vorteil‘: Diskussionen darüber, warum (welche Art von) Terrorismus verwerflich
ist, sind schlicht überflüssig. Die neue Resolution geht aber, indem sie uns daran „er-
innert“, dass terroristische Akte „unter keinen Umständen gerechtfertigt werden kön-
nen“, einen wesentlichen Schritt weiter. Sie schließt jegliche „politische, philosophi-
sche“ etc. Erwägungen pro und contra einer Rechtfertigbarkeit von terroristischen
Akten prinzipiell aus – und damit auch jegliches Nachdenken über die Gründe un-
serer Beurteilungen solcher Akte.
2.9 Was soll mit denen geschehen, die sich durch diese als „Erinnerung“ maskierte
Drohung des Sicherheitsrates das eigene Nachdenken nicht verbieten lassen wollen –
auch nicht das öffentliche? Sind im Krieg gegen den Terrorismus in Bälde auch Phi-
losophen und andere Denker zum Abschuss freigegeben? Und was soll mit den Staa-
ten geschehen, die eine offene Diskussion über Verständnis und Bewertung des Ter-
rorismus und der diversen anti-terroristischen Maßnahmen trotz dieser Drohung wei-
terhin zulassen? Werden auch sie zur Klasse der Schurkenstaaten gerechnet? Und all
dies mit dem Segen der Vereinten Nationen?
3 Kurz: Wie die Vereinten Nationen auch in dieser Resolution 1566 mit dem Be-
griff „Terrorismus“ umgehen, ist höchst problematisch. Offenbar wird auch dort
letztlich alles getan, um eine umfassende Definition, die auch den durch Staaten aus-
5
Auf einen weiteren Extremfall einer solchen Instrumentalisierung von UN-Resolutionen
habe ich mit meinem Telepolis-Beitrag „Zur Rolle der UN beim Völkermord im Jemen “ (vom
06. 01. 2019) aufmerksam zu machen versucht.
6
Die wichtigsten Entscheidungen des Sicherheitsrates sind in der Regel solche unter
enormem Zeitdruck. Dass unter solchen Bedingungen auch eklatante Fehlentscheidungen
getroffen werden, ist menschlich. Also: Sollte ein weiterer Schritt zu einer Stärkung des
internationalen Rechts nicht darauf abzielen, dass Resolutionen des Sicherheitsrates auf An-
trag von Mitgliedern des Rates oder einer qualifizierten Mehrheit der UN-Vollversammlung
oder auf Verlangen des UN-Generalsekretärs durch den internationalen Gerichtshof ex post
auch wieder revidiert werden können?
1458 Georg Meggle

geübten Terrorismus einschließen würde, durch die Bank zu verhindern. Damit wird
aber gerade die schlimmste Sorte von Terrorismus bereits per definitionem ausge-
blendet.7 Es kann somit keine Rede davon sein, dass sich die Vereinten Nationen
– bzw. die den Sicherheitsrat bislang dominierenden Staaten – wirklich gegen
jede Art von Terrorismus wenden. Und die Medien? Anstatt den so geschaffenen
blinden Fleck auszuleuchten, schließen sie sich dieser semantischen Ausblendungs-
strategie nahezu ausnahmslos an.
3.1 Was lässt sich gegen diese Form von (letztlich nicht nur) begrifflicher Gehirn-
wäsche tun? Nichts – solange diese Gehirnwäsche nicht als solche erkannt wird. Und
selbst dann: Auch wer den blinden Fleck lokalisiert hat, hat damit noch nicht die
Sprache – und so auch die Sehweise – der Blinden geändert.
Wer will denn in Sachen Terrorismus überhaupt Klarheit? All die wohl kaum, die
vom (von Thomas Kaplan8 so bezeichneten) „Terrorism of ,Terrorism‘“, also vom
Terrorismus, der allein schon durch die Benutzung des „Terrorismus“-Diskurses aus-
geübt wird, primär profitieren. Und zu dieser großen Klasse können Terroristen und
Contra-Terroristen gleichermaßen gehören. Beidemal auch staatliche; ja, wohl am
ehesten eben solche. Und somit eben auch die, die auch in der UN das Sagen
haben – und das primär in deren Sicherheitsrat.
3.2 Diese Diagnose – blinder Fleck & Anfälligkeit für semantische „Terroris-
mus“-T-Akte – ist eine generelle. Besonders gravierende Folgen hat diese Diagnose
freilich, wenn von der so diagnostizierten Krankheit, wie hier belegt, sogar diejenige
Institution befallen ist, auf die alle, die – wie ich z. B. – immer noch an den Vorrang
des Rechts vor den verschiedensten Formen von Gewalt glauben, auch jetzt noch
trotz aller himmelschreienden Missbräuche derselben sozusagen ihren letzten Fun-
ken Hoffnung setzen: unsere UN.

Teil B.
4 Lässt sich an dieser Malaise etwas ändern? Und wie? Und was wäre dazu zu-
vörderst notwendig? Ich beschränke mich im Folgenden auf die Änderung, die die
allerwichtigste – freilich damit mit Sicherheit auch die, was ihre Durchsetzbarkeit
angeht, allerschwierigste – sein dürfte.9
4.1 „Ändere Deine Sprache!“, dieser Imperativ des großen Aufklärers Lessing gilt
auch für die UN. Aber wie sollte diese Änderung in Sachen „Terrorismus“ aussehen?

7
Staatsterrorismus ist moralisch schlimmer als nicht-staatlicher Terrorismus. Zur Be-
gründung dieser These siehe insbesondere Kapitel 4 des Beitrags „Staats-Terrorismus und
Gegen-Terrorismus“ von I. Primoratz, in: T&KG, S. 60 – 64.
8
Siehe seinen Beitrag „,Terrorism‘ as a Method of Terrorism“, in: G. Meggle (Hrsg.),
Ethics of Terrorism & Counter-Terrorism, Frankfurt / Paris, 2005, S. 21 – 38.
9
Wie ein genereller Neuansatz in Sachen Bewertung des Terrorismus und des Kriegs
gegen ihn aussehen könnte, habe ich sehr viel ausführlicher in meiner Bilanz der von mir
organisierten gleichnamigen Leipziger Ringvorlesung skizziert: T&KG, S. 293 – 309.
Zum „Terrorismus“ im Sicherheitsrat 1459

Die Antwort folgt bereits aus dem Kern des Rechts selbst. Dieser Kern hat einen
Namen: Unparteilichkeit.
Die zentrale semantische Aufgabe ist klar und einfach benennbar: Die Sprache
(der Terrorismus-Begriff) der hier verhandelten UN-Resolution 1156 ist bereits a
priori parteiisch; die Sprache (der Terrorismus-Begriff) von 1.2 ist das nicht.
(Siehe jetzt nochmal 1.4.) Also …
4.2 Der T-Begriff von 1.2 ist nicht nur nicht selektiv; er ermöglicht auch eine klare
Trennung zwischen Deskription und Bewertung (Verurteilung). Ob ein Akt ein T-Akt
ist oder nicht, das ist eine Tatsachenfrage; was an T-Akten verwerflich ist und was
nicht, das ist eine Frage der moralischen (und gegebenenfalls auch der rechtlichen)
Bewertung, die sich aus allgemeineren und im Idealfall auch universellen bzw. zu-
mindest universalisierbaren Bewertungs- (bzw. Rechts-)Kriterien ergibt.
Ein Vorteil dieser Deskriptiv/Evaluativ-Trennung ist der Nebeneffekt, dass sich
erst mit ihr auch eine klare begriffliche Basis für die verschiedenen Arten von em-
pirischen (sozial- und politik- wie religionswissenschaftlichen) T-Theorien ergibt
– falls an solchen überhaupt ein ernsthaftes Interesse besteht.
4.3 Der größte Vorteil dieser Trennung ist aber der, dass nur mit ihr einer zwar oft
gehörten, bislang aber wohl nirgendwo auch nur ansatzweise eingelösten Forderung
Genüge getan werden kann – wenn man das wirklich wollte: nämlich der nach einer
Verrechtlichung unseres Umgangs mit der ganzen T-Sphäre: und zwar sowohl des
inner- als auch des transstaatlichen Umgangs.
4.4. Allein mit diesem in der Tat radikalen Begriffs-Perspektiven-Wechsel dürfte
es aus dem derzeitig immer noch vorherrschenden, ja sogar ersichtlich sich beschleu-
nigenden Teufelskreis von T-Gewalt und nicht minder großer kriegerischer Counter-
T-Gewalt ein Entkommen geben. (Wiederum: so man das überhaupt möchte.)
4.5 Radikal wäre ein solcher Verrechtlichungs-Schritt – inner- wie überstaatlich –
auch in seinen Folgen: Schon mein bloßes Votum für den T-Begriff von 1.2 (der sich
leicht in eine Palette unterschiedlich starker T-Begriffe differenzieren ließe) ist ein
Beispiel dafür, wie revolutionär selbst eine simple analytisch-philosophische Inter-
vention sein kann: Das Votum für 1.2 impliziert in Sachen T-Akte einen Umsturz der
gegenwärtigen Machtverhältnisse. Wer T-Täter ist und wer nicht, darüber entschei-
den derzeit letztlich Regierungen – und zwar in Form von je nach politischer Groß-
wetterlage aktualisierbaren Terroristen-Listen. Mein Votum zweifelt die semantische
und allein damit auch schon die moralische Legitimität dieser ,Definitions‘-Hoheit
an. Die Frage, ob die Definitionsmerkmale von 1.2 erfüllt sind oder nicht, darf eben
nicht vom politischen Gusto abhängig sein; es geht um eine oft über Leben und Tod –
und zwar nicht nur der T-Täter! – entscheidende Faktenfrage, für die (über den so-
genannten gesunden Menschenverstand hinaus) letztlich die einschlägigen nationa-
len wie internationalen Gerichte zuständig sind. Sonst niemand.
So sollte es jedenfalls sein.
VIII. Recht und Ethik der Medizin
und Biowissenschaften
Gene Editing in Humans
By John Harris

I seem to have known Reinhard all my professional life, but in fact our friendship
cannot be quite that long! I feel we are kindred spirits – not because we agree on ev-
erything (and possibly not on anything!) but because I admire, with some envy, his
analytic mind, precision of expression of complex ideas and his uncompromising in-
dependence of thought. Whenever I see that he will be at a conference that I will at-
tend (which is embarrassingly often) I always cheer up, knowing that there will be at
least one rational voice there!
I hope Reinhard will forgive me for the comparison, but whenever I hear him
speak and read his papers, I am always reminded of another great liberal legal
voice in contemporary debate, that of Ronnie Dworkin. Ronnie was the supervisor
of my D.Phil in Oxford and my friend and mentor from when I first met him in
1970 until his death in 2013.
In thinking about the subject of my contribution to this tribute to Reinhard, and
reminding myself of the corpus of his work in English (alas I have no German), I
found myself remembering and re-reading his magisterial analysis of the legal status
of the human embryo. His analysis of this problem in the German context with its
emphasis both on moral considerations and public policy, reminds me of Dworkin’s
elegant treatments of related issues. Reinhard’s dissection of the poor arguments that
have bedevilled human relations with their own embryos are a wonderful example of
the very best work in bioethics.1
It is for this reason that I have chosen to discuss a contemporary problem on which
I have been working and writing in recent years and which can be traced back to my
interests in the ethics of influencing evolution and on what this means for future gen-
erations and indeed on the nature of “persons” since around 1973. It is in many ways
resonant of and informed by Reinhard’s work, namely the issue of gene editing in
humans.2

1
Reinhard Merkel, “The Legal Status of the human embryo”, in: Reproductive Bio-
medicine Online, Vol. 14. Supp. 1. 2007, 54 – 60.
2
My most recent and complete work on gene editing more narrowly, is John Harris,
“Germ line modification and the burden of human existence”, Cambridge Quarterly of
Healthcare Ethics, Vol. 25 No. 1 January 2016. Another foray entitled “Germline manipula-
tion and our future worlds” was published in: The American Journal of Bioethics. 2015 Dec 2;
15(12):30 – 4. Public interventions on this theme include: Invited Speaker invitations at the
two Washington Summits on germline manipulation, the first on Mitochondrial replacement
1464 John Harris

I. Rights of the Child in the Age of the Biotechnologies


Two genetic technologies capable of making heritable changes to the human ge-
nome have revived interest in, and in some quarters a very familiar panic concerning,
so-called germline interventions.
CRISPR/Cas9 to edit genes3 and Mitochondrial Replacement Therapy (MRT)
which effectively removes mitochondrial disease from an embryo at the cost
(some say) of adding 3rd party DNA – so called three parent children.
I will here concentrate on gene editing. Principled objections to gene editing in
human embryos have centred on issues concern the rights or interests of generations
to come, of future children. To talk of the rights of future children is somewhat strain-
ed since by definition future children do not exist to have their rights violated or their
interests compromised. It is problematic simply to define problems out of existence
so I will not object too vigorously to the use of the language of rights for the non-
existent.
David Baltimore4 has insisted the need for such work to be carried out “in coun-
tries with a highly developed bioscience capacity” and ones in which “tight regula-
tion” of such science exists or can be established. In the U.K. any further such mod-
ifications that would end up in the genome of an implanted human embryo would
have to be licensed by the U.K. regulatory body, The Human Fertilization and Em-
bryology Authority (HFEA) which was established by Act of Parliament in 19905.
Such measures would probably also need to be approved separately by the UK Parlia-
ment, as has recently happened in the case of MRT.

therapy the second on Crispr Cas 9. http://nationalacademies.org/gene-editing/Gene-Edit-Sum


mit/. http://nationalacademies.org/cs/groups/genesite/documents/webpage/gene_169461.pdf.
I also spoke in a debate in United Kingdom Parliament, on 2nd February 2015 on the eve of
the historic parliamentary debate and vote in the U.K. that gave the go-ahead to mitochondrial
transfer in humans.
3
http://www.nih.gov/about/director/04292015_statement_gene_editing_technologies.htm.
Accessed 18th May 2015.
4
Baltimore, David/Berg, Pau/Botchan, Michael/Carroll, Dana/Charo, R. Alta/Church,
George/Corn, Jacob E. et al., “A prudent path forward for genomic engineering and germline
gene modification.” Science (2015), In Press. Available at: http://www.sciencemag.org/con
tent/early/2015/03/18/science.aab1028.full (accessed 26 March 2015).
5
The Human Fertilization and Embryology Act 1990 c. 37. http://www.legislation.gov.uk/
ukpga/1990/37/contents. As amended by the Human Fertilization and Embryology Act 2008
c. 22. http://www.legislation.gov.uk/ukpga/2008/22/contents. Both accessed 7 April 2015.
Gene Editing in Humans 1465

II. Objections to Gene Editing


Objections to gene editing in embryos are centred on three fallacious objections.
1. The first is that gene editing is wrong because it affects future generations, the
argument being that the human germline is sacred and inviolable.
2. The second is that it constitutes an unacceptable risk to future generations.
3. Third, that the inability to obtain the consent of those future generations means we
must not use gene editing.
We should be clear that there is no precautionary approach; just as justice delayed
is justice denied, so therapy delayed is therapy denied.
UNESCO, in their Universal Declaration on the Human Genome and Human
Rights (rushed through in a panick following the birth of Dolly) absurdly endorses
the notion of the preservation of the human genome as common heritage of humanity.
Likewise, the Oviedo Convention provides Article 13, that “an intervention seeking
to modify the human genome may only be undertaken for preventive, diagnostic or
therapeutic purposes and only if its aim is not to introduce any modification in the
genome of any descendants.” These declarations and conventions are often cited
as knock down arguments against gene editing, but they are not “arguments” they
are simply “declarations of prejudice”.
Lets look first at:

III. Future Generations


Many objections to germline interventions emphasise that such interventions are
problematic because they affect “generations down the line”6 But we must remember
that this is true not only of all assisted reproductive technologies, but of all reproduc-
tion of whatever kind, including the genetic lottery, sometimes called
“sexual reproduction”.
Sex is a very dangerous activity indeed, for the actors, as well as for the possible
resulting children. I hope no-one reading this is so reckless as to be contemplating
sexual reproduction! The dangers for the actors (risk of Sexually Transmitted Disease
– STD, not to mention possible emotional side effects are beyond the scope of this
discussion). But it gets worse …
Every year an estimated 7.9 million children – 6 percent of total birth worldwide – are born
with a serious birth defect of genetic or partially genetic origin. Additional hundreds of thou-

6
Lisa Jardine quoted in: Sample I. Regulator to consult public over plans for new fer-
tility treatments, The Guardian 2012 , Sept 17. Available from: http://www.theguardian.
com/science/2012/sep/17/genetics-embryo-dna-mitochondrial-disease?newsfeed=true Ac-
cessed 8 April 2015.
1466 John Harris

sands more are born with serious birth defects of post-conception origin, including maternal
exposure to environmental agents, (teratogens) such as alcohol, rubella, syphilis and iodine
deficiency that can harm a developing fetus.7

Some estimates put the birth defect rate at 3 % but either way it is let’s say between
4 and 7.9 million children world-wide. Sexual reproduction, with its added gross in-
efficiency in terms of the death and destruction of embryos (estimated to be one in
three to one in five deaths per live birth) involves significant harm to future gener-
ations, but is not usually objected to on these grounds. If the gold standard for per-
missible risk of harm to future generations is sexual reproduction, germline-creating
and editing techniques (other than sexual reproduction) would need to demonstrate
severe foreseeable dangers to fail. And if sex had been invented as a reproductive
technology rather than ‘found’ as part of our evolved biology it would never have
been licensed by regulators – far too dangerous!

IV. The Alternative to MRT for Example


Involves Greater Known Risk
As I pointed out recently elsewhere:8
In the case of Mitochondrial disease we know that many women will continue to desire their
own genetically related children and will continue to have them if denied or unable to access
MRT. The denial of access to MRT will not prevent serious disease being transmitted indef-
initely through the generations whereas access to MRT can be expected significantly to re-
duce this risk. The choice here is not between a germline intervention which might go wrong
and as a result perpetuate a problem indefinitely and a safe alternative. It is between such a
technique and no current alternative for women who want their own genetically related off-
spring and who will also act so as to perpetuate the occurrence of disease.

I heard compelling testimony at the 2016 Washington summit, from women with
mitochondrial disease to this effect.

V. The Use of CRISPR/Cas9 in Embryos9


Many of the arguments rehearsed above also apply to objections to other germline
modification techniques like CSRISPR. In a recent “Statement on NIH funding of

7
The March of Dimes Birth Defects Foundation. March of Dimes Global Report on Birth
Defects, New York: White Plains 2006.
8
In these sections the argument follows lines taken in: John Harris “Germ line modifica-
tion and the burden of human existence”, Cambridge Quarterly of Healthcare Ethics Vol. 25
No 1 January 2016.
9
In this section the argument follows lines taken in my presentation to the Washington
Summit http://nationalacademies.org/gene-editing/Gene-Edit-Summit/.
Gene Editing in Humans 1467

research using gene-editing technologies in human embryos”, issued officially by


NIH, Francis S. Collins, Director, National Institutes of Health stated:
[T]he strong arguments against engaging in this activity remain. These include the serious
and unquantifiable safety issues, ethical issues presented by altering the germline in a way
that affects the next generation without their consent…10

“Serious and unquantifiable” safety issues feature in all new technologies what is
different here? Collins thinks one important difference is absence of consent.

VI. Consent
Consent is simply irrelevant here for the simple and sufficient reason that there are
no relevant people in existence capable of either giving or withholding consent to
these sorts of changes in their own germline. All would be/might be parents take nu-
merous decisions about issues that might affect their future children they/we do this
all the time without thinking about consent of the children, how could they/we not do
so? Decisions first and foremost in most cases of sexual reproduction, about what
genetic endowment is likely to result from a particular paring (or more complex com-
bination) of sets of chromosomes.
George Bernard Shaw and Isadora Duncan were famous exceptions. When she,
apparently, said to him something like: “why don’t we make a baby together…
with my looks and your brains it can’t fail” and received Shaw’s more rational
assessment … “yes but what if it has my looks and your brains?”.
(This is of course an aspect of Derek Parfit’s famous “non-identity problem”11.)
Take my own case …
I am the victim of my parents callous disregard of the wishes of their future chil-
dren, but not of course of the rights and interests of the future child that they actually
produced.
Why? … well, I am a baby-boomer; what does that mean in my context? In my
case the dilemma for my Jewish parents living in London in 1939 was whether to have
a second child with war looming, or to postpone conception until it became clear that
Hitler would not win the impending war. They recklessly made their decision without
bothering to obtain either my consent or that of any other children they might have
conceived between 1939 and 1945!

10
http://www.nih.gov/about/director/04292015_statement_gene_editing_technologies.htm.
Accessed 18th May 2015.
11
Parfit D. Reasons and Persons, Oxford, Clarendon Press, 1984, Part 4 Chapter 16: 351 –
377.
1468 John Harris

VII. Humanimals
The news that a combination of stem cell and gene editing technology may soon
enable scientists to grow human organs in pigs is cause for serious reflection, not
least because those organs may actually be superior to human donor organs from
either cadavers or from live donation.
The existence of so-called “species barriers” is often invoked against such a
prospect. But the reality is that humans and animals have been exchanging bits
of their biological matter, intentionally or by chance, naturally or artificially,
since time immemorial. We do it in drugs and in vaccines and diet is a good exam-
ple. Except for vegetarians, for whom objections are usually rooted in moral issues
concerning animal welfare rather than those of species mixing, there does not seem
to be any preoccupation with the entry of animal genes, cells, tissue, muscle and
other bodily products into our daily metabolism.
And we know that diet profoundly influences our bodies at both genetic and ep-
igenetic levels. So really, if one were consistent in maximising the purity of human
matter, the diet of choice would be cannibalism. Moreover, genetic hybrids have
almost certainly always existed naturally. A report by the United Kingdom Acad-
emy of Medical Sciences back in 2007 (of which I was a co-author), noted “there
are thousands of examples of transgenic animals, mostly mice, containing human
DNA”.
There is a genuinely problematic issue here, noted recently by the US National
Institutes of Health. They fear that the presence of human cells in the modified an-
imals might “humanise” the animals’ brains to the extent that they possessed
human sensibilities, cognition, and rationality. Such capabilities would not just
merit moral and legal protections comparable with creatures like ourselves- they
would demand them. In short such animals, becoming more human, would have
rights analogous to human rights … and indeed would necessitate “Taking the
Human out of Human Rights” as discussed in my recent book How To Be Good.
This, of course, would change our entire conception of our place in the animal
kingdom – our entire relationship with the natural world – in ways that the prospect
of so-called “full” Artificial Intelligence, may change our attitudes to machines
(and theirs to us?).
The best combination of evidence and informed scientific opinion so far does
not support the idea that these attempts to grow human organs in pigs will result
in any “humanisation” of pig brains. But, unless this work continues we will
never know the answer to this question for sure.
Harvard’s Professor George Church, who has led research on chimeras suggests
that “gene editing could ensure the organs are very clean, available on demand and
Gene Editing in Humans 1469

healthy, so they could be superior to human donor organs”.12 eGenesis, a spinout


company of Church’s lab, showed in 2015 that using gene editing they
could eliminate viruses that lie latent in the pig’s genome.13
If Church is right the prize is enormous in terms of human health and happiness. In
the US, an average of 22 people die each day waiting for transplants that can’t take
place because of the shortage of donated organs. In the UK the figure is three people a
day (a thousand people per year) who die waiting for a transplant.14 Globally, prevent-
able deaths for want of donor organs and tissue run into hundreds of thousands.
Therapy delayed is therapy denied and that denial costs human lives day after day.
Of course, pursuing this research will cost animal lives and this should not be
taken lightly. But no society and no person that “stomaches” the eating of meat,
can consistently object to animal research directed to human health and safety.
It is a curious irony that Animal Rights demonstrations (like those I often expe-
rienced outside the Medical School in Manchester, where my office used to be), are
usually targeted on research institutions and not supermarkets, but the food industry
kills many more animals than do research scientists. There is no good reason, either in
the sense of “adequate” or “moral”, for not pursuing the science to the point at which
we are able to judge just how safe or unsafe using such techniques in animals, or their
fruits in humans, will be.
In fact, in the end the ethical issues may not be the ones many now fear, with the
creation of talking and thinking pigs – but one where limitless safe organs and tissue
transplants allow humans to live healthy, fit and productive lives well into what is
currently considered “old age”.15,16
Nothing I have so far argued suggests that we don’t have duties to future gener-
ations. Far from it. We do have such duties and these are to benefit and protect the
probable members of those generations to the best of our ability, including of course
protecting their environment – the planet and optimising their health and longevity

12
See: https://www.theguardian.com/science/2016/jun/05/organ-research-scientists-
combine-human-stem-cells-and-pig-dna. See also: https://www.technologyreview.com/s/
603857/crispr-may-speed-pig-to-human-transplants/.
13
Reported in “CRISPR May Speed Pig-to-Human Transplants” from MIT technology
review. Startup says it will edit pigs’ genes to prepare organs for harvest by Karen Weintraub
March 16, 2017. https://www.technologyreview.com/s/603857/crispr-may-speed-pig-to-human-
transplants/.
14
http://www.organdonor.gov/about/data.html. http://www.nhs.uk/Livewell/Donation/Pages
/Donationthefacts.aspx. Both accessed 1st May 2017.
15
I develop the importance of this imperative – “to act for the best all things considered” in
my new book How to be good, Oxford: Oxford University Press, Forthcoming,.
16
I develop this idea in Harris, How to be Good Op Cit. and in John Harris, “Rights and
Reproductive Choice”, in: John Harris/Søren Holm (Eds.), The Future of Human Reproduc-
tion: Choice and Regulation. Oxford University Press, Oxford. 1998. 5 – 37. See also John
Harris, The Value of Life, Routledge, London 1985.
1470 John Harris

prospects. But those duties may well … probably do involve intervening to improve
the prospects of those generations, including in germline changing or germline estab-
lishing ways.

VIII. Transgenerational Epigenetic Inheritance


One further possibility that has, I believe, so far almost entirely escaped attention
in this context, is the fact that heritable changes are not necessarily confined to con-
ventional germline genetic effects.17 As noted recently: “The transmission of epige-
netic states across cell divisions in somatic tissues is now well accepted and the mech-
anisms are starting to be unveiled. The extent to which epigenetic inheritance can
occur across generations is less clear …”18 How could an obligation to preserve
“the human genome as common heritage of humanity” be applied to epigenetic effects
which may only be apparent post hoc?
For now we need not panic, rather we need to recognise that we ourselves are the
products of a germline altering process called evolution, which uses a very hit and
miss experimental technology, sometimes politely called “sexual reproduction”
Let me leave you with two truths about the future, which are as true as any truths
about the future can be. We know for sure that:
1. In the future there will be no more human beings.
2. In the future there will be no more planet earth.
Either we will have been wiped out by our own foolishness or by brute forces of
nature or, I hope, we will have further evolved by a process more rational and much
quicker than Darwinian evolution. A process I described in my book Enhancing Evo-
lution19. Even more certain it is that there will be no more planet earth. Our sun will
die and with it all possibility if life on this planet.
As I say in my most recent book: How To Be Good20 ;
By the time this happens, we may hope that our better evolved successors will have devel-
oped the science and the technology needed to survive and to enable us (them) to find and
colonise another planet or perhaps even to build another planet; and in the meanwhile to cope
better with the problems presented by living on this planet. Most importantly perhaps the

17
http://www.nature.com/news/us-congress-moves-to-block-human-embryo-editing-1.
17858. Accessed 27th June 2015.
18
Announcement of a workshop on Transgenerational Epigenetic Inheritance of The
Company of Biologists 4th-7th October 2015 organised by Edith Heard, Institute Curie, Paris
France and Ruth Lehmann Skirball Institute, New York, USA http://workshops.biologists.com/
transgenerational-epigenetic-inheritance/. Accessed 27th June 2015.
19
John Harris, Enhancing Evolution, Princeton University Press, Princeton and Oxford,
2008.
20
Published by Oxford University Press, April 2016.
Gene Editing in Humans 1471

problem of how to be good, or how to be good enough to ensure the survival of what may be
the only sorts of beings anywhere in the universe capable of caring about their own survival
and the survival of others.

Steven Hawking initially predicted that we might have about 7.6 billion years to
go before the earth gives up on us; but he recently revised his position in relation to
the earth’s continuing habitability as opposed to its physical survival:
“We must also continue to go into space for the future of humanity … I don’t think we will
survive another thousand years without escaping beyond our fragile planet.”21

We need science in order that we, and our successors will have a chance to survive
to experience any future at all. Talk of, for example, “moratoria” on science in this
field invoked in the name of precaution and safety may in fact be inimical to safety.
We must surely proceed with research on CRISPR/Cas9 and other germline modifi-
cation technologies to the point where we can properly assess their likely safety in
humans.
And we need the better to understand epigenetics so that we can harness methods
available or that might become available to make the world a better place and we, its
temporary inhabitants, better able to preserve one another, our world and to find new
worlds to support us and successor persons whether they are animal, vegetable or
mineral, persons with real or what we somewhat misleadingly call “artificial intel-
ligence”.

21
Steven Hawking famously estimated we have about 7.6 billion years to go: http://
bigthink.com/dangerous-ideas/5-stephen-hawkings-warning-abandon-earth-or-face-extinc
tion. Hawking recently revised this estimate with a different event horizon of 1000 years.
http://www.theguardian.com/science/2013/nov/12/stephen-hawking-physics-higgs-boson-
particle. Different recent studies indicate that a realistic figure would be 2.8 billion years:
http://arxiv.org/pdf/1210.5721v1.pdf.
Moderne Pränataldiagnostik:
Legitimer Freiheitsgebrauch fern von
„Diskriminierung“ und „Selektion“?
Von Gunnar Duttge

I. Der aktuelle Anlass


Nach mehrjährigem Vorlauf und kontroverser Debatte (auch im Deutschen Bun-
destag)1 hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) zugunsten einer Einbezie-
hung nicht-invasiver molekulargenetischer Tests (NIPT) auf Trisomie 13, 18 und
21 in den krankenversicherungsrechtlichen Leistungsanspruch entschieden:2 Auf
diese Weise könne das „Schadenspotential“ der bisherigen invasiven pränataldia-
gnostischen Methoden – Amniozentese und Chorionzottenbiopsie (mit einem Fehl-
geburtsrisiko von 0,5 – 1 %)3 – auf eine „möglicherweise erforderliche Abklärungs-
diagnostik beschränkt“ oder gänzlich vermieden werden.4 Zugleich müsse konsta-
tiert werden, dass der Bluttest bereits in einer Reihe von qualifizierten pränataldia-
gnostischen Praxen und Kliniken für Selbstzahler angeboten werde, was diese
finanziell erheblich belaste und einen Teil von ihnen von diesem Angebot ausschlie-
ße. Allerdings müsse die Anwendung der seit 2012 auf dem Markt verfügbaren Gen-
tests auf „begründete Einzelfälle bei Schwangerschaften mit besonderen Risiken“
nach vorheriger „intensiver Beratung und Aufklärung“ begrenzt werden, um eine
weitere Entwicklung in Richtung eines „ethisch unvertretbaren Screenings“ zu un-
terbinden.5 Soweit in den eingeholten Stellungnahmen6 prinzipielle Vorbehalte

1
Orientierungsdebatte vom 11. 4. 2019 (https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/
2019/kw15-de-genetische-bluttests-633704).
2
Beschluss v. 19. 9. 2019: Nicht-invasive Pränataldiagnostik zur Bestimmung des Risikos
autosomaler Trisomien 13, 18 und 21 mittels eines molekulargenetischen Tests (NIPT) für die
Anwendung bei Schwangerschaften mit besonderen Risiken (https://www.g-ba.de/downloads/
39-261-3955/2019-09-19_B_Mu-RL_NIPT_WZ_.pdf).
3
Statt vieler z. B. Murken, in: ders./Grimm/Holinski-Feder (Hrsg.), Humangenetik,
7. Aufl. 2006, S. 386 ff.; s. auch Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzGA),
Pränataldiagnostik, 2010, S. 39: 0,5 %; zur Chorionzottenbiopsie vgl. Wieacker/Steinhard,
Deutsches Ärzteblatt Int. 107 (2010), A-857, 85: bis zu 1 %.
4
Pressemitteilung des Gemeinsamen Bundesausschusses Nr. 26/2019 v. 19. 9. 2019.
5
Vorsitzender des G-BA Hecken, Pressemitteilung (Fn. 4).
1474 Gunnar Duttge

wegen möglicher „Diskriminierung“ bzw. aus Sorge vor einer „schleichenden Selek-
tion“ formuliert worden sind, hat diese fundamentalethische Dimension keinen Ein-
gang in den Beschluss des G-BA gefunden, der freilich noch der Genehmigung durch
das Bundesministerium für Gesundheit (nicht vor Ende 2020) bedarf.
Folgt man dem überaus geschätzten Jubilar, so sollte in diesem Kontext besser
auch gar nicht von (pränataler) „Selektion“ oder „Diskriminierung“ (von Behinder-
ten) gesprochen, ja mehr noch: sollten derart „diskreditierende Kampfbegriffe“ im
weiteren Diskurs sogar „geächtet“7 werden. Denn ein der Informationserlangung
nachfolgender Schwangerschaftsabbruch erfolge von Rechts wegen nicht wegen
der genbedingten Embryopathie, sondern aufgrund des subjektiven Unvermögens
zur weiteren Aufrechterhaltung der Schwangerschaft (§ 218a Abs. 2 StGB): „Eine
solche rein maternale Indikation beruht auf einem anderen Legitimationsgrund als
eine embryopathische […]; nichts an ihr diskriminiert das Ungeborene wegen seines
genetischen Status“. Im Übrigen verdienten Frauen, die sich dem Risiko einer untrag-
baren Belastung mit Blick auf ein schwerstbehindertes Kind nicht gewachsen fühlen,
keinen Tadel, und streite ihr Recht auf Wissen gegen eine paternalistische Bevormun-
dung: „Ihr Recht, sich per NIPT über den Zustand des Ungeborenen zu informieren,
reicht genauso weit wie die ihr garantierte Freiheit, über Fortsetzung oder Abbruch
der Schwangerschaft eine selbstbestimmte Entscheidung zu treffen“. Es sei „inak-
zeptabel, autonomen Personen die Bürde einer Wahl dadurch nehmen zu wollen,
dass man ihnen die Wahl vorenthält“. Gewiss liege in ihrer Abbruchsentscheidung
de facto eine Negativbewertung hinsichtlich der genetischen Aberration; diese
aber ist berechtigt und bilde „keinerlei abwertendes Urteil über Mitmenschen, die
damit leben“.
Mit dieser Positionierung dürfte der vorherrschende Mainstream treffend gekenn-
zeichnet sein, und es ist das besondere Verdienst Reinhard Merkels, die tragenden
Argumente dafür in gewohnter Klarheit und Scharfsinnigkeit zusammengeführt zu
haben. Mit großem Recht mahnt er nachdrücklich eine „vernünftige Diskussion“
auf Grundlage „aller vernünftigen Gesichtspunkte“ an, was insbesondere erfordert,
auch die Argumente der Gegenposition ernstzunehmen und die prämissenbasierte
Relativität des eigenen Standpunktes dabei nicht zu übersehen. Für jeden, dem die
krankenversicherungsrechtliche Förderung einer niedrigschwelligen Erlangung ab-
treibungsaffiner Informationen moralische Bauchschmerzen bereitet, ist es deshalb
ein Muss (und eine intellektuelle Herausforderung), sich um des „eigentümlich
zwanglosen Zwangs des besseren Arguments“8 willen der Feuerprobe gerade der
Merkelschen Urteilskraft auszusetzen – nicht etwa in der Hoffnung auf einen Kon-

6
Anlageband zur zusammenfassenden Dokumentation im Rahmen des Beratungsverfah-
rens Methodenbewertung (https://www.g-ba.de/downloads/40-268-6009/2019-09-19_B_Mu-
RL_NIPT_Anlage-ZD.pdf), S. 26 ff.
7
Zum Folgenden Merkel, FAZ v. 26. 4. 2019, S. 9.
8
Habermas, in: Schulz-FS 1973, S. 211, 240; verschiedentlich wiederholt, etwa in:
DZPhil 44 (1996), 715, 735, und in: Wahrheit und Rechtfertigung, 1999, S. 230 ff., 261.
Moderne Pränataldiagnostik 1475

sens, wohl aber zwecks Erhöhung der Transparenz kraft „transsubjektiver Einsicht“9
in die divergierenden Vorannahmen und Argumentationsstränge der gegensätzlichen
Positionen. Hiermit verbinden sich zugleich die herzlichsten Glückwünsche für
einen Kollegen, der sich in bewundernswerter Manier weit über das Strafrecht hinaus
mit großem Scharfsinn und sprachlicher Brillanz um die Aufklärung komplexer
Grenzfragen von (Medizin-)Recht und (Bio-)Ethik verdient gemacht hat.

II. Die fundamentalethische und


grundrechtstheoretische Ausgangslage
So sehr der populäre Gedanke prima vista schlagend erscheint, dass doch die Nut-
zung einer risikoärmeren Methode auf Grundlage des ohnehin bereits Gebilligten
(und massenhaft Praktizierten) aus Gründen der Schadensvermeidung schlechter-
dings nicht von Übel sein könne (sondern vielmehr ein Gut10 sein müsse),11 so
wenig wird mit dieser (technikaffinen) Nützlichkeitspragmatik12 bereits die norma-
tive Fragestellung erschöpfend beantwortet. Denn sie weist ersichtlich zwei blinde
Flecken auf: Zum einen könnte es sein, dass selbst innerhalb des Nützlichkeitspara-
digmas die Erweiterung des Handlungsspielraums um ein neues Mittel die abwä-
gungsrelevanten Parameter in ihrem Verhältnis zueinander so weit verändert, dass
die (regelhafte) Abwägungsentscheidung nach Maßgabe der nunmehr zu erwarten-
den Risiken und Nebenwirkungen anders ausfällt. So kann der kollektive Technik-
gebrauch das Potential in sich tragen, als Teil einer neuen (und kaum mehr reversi-
blen)13 gesellschaftlichen Routine die gesamtgesellschaftliche Werthaltung in einer
Weise zu verändern, die selbst einer zweckrationalen Sichtweise nicht gleichgültig
sein dürfte (weil sie im Sinne einer Rückwirkung die Zwecksetzung verändert)14.
Daher ist es im hiesigen Kontext ungeachtet der damit zwangsläufig eingefangenen
(prognostischen) Unsicherheit durchaus von Belang, ob sich der Einsatz der nicht-
invasiven Gendiagnostik tatsächlich auf „begründete Einzelfälle“15 begrenzen
lässt. Zum anderen bleibt bei dem weithin vorherrschenden Nutzenkalkül von vorn-
herein ausgeblendet, ob nicht die Mittelwahl für sich kategorische Grenzen missach-
9
Gottschalk, in: Nennen (Hrsg.), Diskurs – Begriff und Realisierung, 2000, S. 237, 258.
10
Im Sinne eines Erstrebenswerten auf Basis teleologischer Ethikkonzeptionen, dazu etwa
Hübner, Einführung in die philosophische Ethik, 2. Aufl. 2018, S. 211 ff.
11
Oben Fn. 4.
12
Paradigmatisch William James, The Works of William James, Bd. 2, 1975, S. 132:
„What works is true and represents a reality, for the individual for whom it works“.
13
Siehe Irrgang, in: Zichy/Grimme (Hrsg.), Praxis in der Ethik. Zur Methodenreflexion in
der anwendungsorientierten Moralphilosophie, 2008, S. 359, 361 f.: „quasi Naturwüchsig-
keit“.
14
Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß einer verstehenden Soziologie,
2. Aufl. 1925, § 2 (S. 12 f.): „Absolute Zweckrationalität des Handelns ist […] nur ein im
wesentlichen konstruktiver Grenzfall“.
15
Oben Fn. 5.
1476 Gunnar Duttge

ten könnte und infolgedessen dann jenseits des legitimen Handlungsspektrums läge.
Gewiss verlangt eine normative Versagung (möglicher) besserer praktischer Folgen
nach einem triftigen Grund; wenn der „gute Zweck“ aber nicht jedes Mittel „heili-
gen“ soll, ist ein „deontologischer Einschlag“ unverzichtbar16 – und mit Blick auf die
„unantastbare“ Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) samt der daraus resultie-
renden Diskriminierungsverbote (Art. 3 GG) auch selbstverständlicher Teil unserer
Rechtsordnung.
Dieser normativen Limitierung des Möglichkeitsraums lässt sich nicht eine be-
reits bestehende „allgemeine Praxis“ entgegenhalten, weil dasjenige, was ist (oder
war oder sein wird), nichts darüber besagt, ob es auch „richtig“ ist (Sein-Sollen-Fehl-
schluss)17. Es müsste also erst durch ein normatives Argument („Brückenprinzip“)
ausgewiesen werden, warum diese Praxis auch billigenswert oder gar vorzugswürdig
sein soll, ehe daraus ein normativ relevanter Vortrag entsteht.18 Anspruchsvoller ist
der Einwand ad absurdum,19 dass jenes von Skeptikern postulierte Überschreiten der-
art fundamentaler Grenzen des Akzeptierbaren nicht etwa allein den Ausschluss aus
der solidarischen Finanzierung, sondern ein kategorisches (u. U. strafbewehrtes)
„Totalverbot“ nach sich ziehen müsste: Ganz in diesem Sinne spricht Merkel von
einem „seltsam trivialen“ Anlass,20 der mit dem fundamentalethischen Memento
so gar nicht zusammenpasse. Daran ist richtig, dass eklatant menschenrechtswidriges
Geschehen (wie z. B. Folter)21 die grundrechtsgebundene Staatsgewalt auch dann zur
Intervention zwingt, wenn nicht das Handeln der eigenen Organe, sondern solches
von Privaten in Rede steht (vgl. Art. 1 Abs. 3 GG: „… und zu schützen …“). Die
grundrechtliche Schutzpflichtdimension ist auf Fälle einer direkten Verletzung der
Menschenwürdegarantie nicht beschränkt und hat ausweislich der beiden Grundsatz-
entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch insbesondere dort eine weiterrei-
chende Bedeutung, wo das Existenzrecht menschlichen Lebens – auch des ungebo-
renen – in Frage steht.22 Weil im Schwangerschaftskonflikt aber auf beiden Seiten
bedeutsame Grundfreiheiten wirken, muss die hoheitliche Intervention keineswegs
im Sinne eines – noch dazu strafbewehrten – „Totalverbots“ ausfallen. Ganz im Ge-
genteil hat das Verbotsregime justament aus Gründen des Freiheitsschutzes nach
16
Siehe z. B. Birnbacher, in: Nida-Rümelin/Spiegel/Tiedemann (Hrsg.), Handbuch Philo-
sophie und Ethik, Bd. II, S. 53: „Dass die Zwecke die Mittel in einem gewissen Maße heiligen,
ist ein konstitutiver […] Teil ihrer Theorie“ (scil: der Konsequenzialisten).
17
Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1932, § 2 (= S. 5), auch abgedr. in: Arthur
Kaufmann (Hrsg.), Gustav-Radbruch-Gesamtausgabe, Bd. 2: Rechtsphilosophie II, 1993,
S. 209, 230.
18
Zur Notwendigkeit eines „Brückenprinzips“ bereits grdl. Hume, A Treatise of Human
Nature, 1739/40, hrsg. von R. Brandt (übersetzt v. Th. Lipps), 1978, Bd. 2, S. 211.
19
Zu dieser indirekten Argumentationsweise grdl. Schopenhauer, Eristische Dialektik oder
die Kunst, Recht zu behalten, Nachdruck 1991, S. 22 f.
20
Merkel, FAZ v. 26. 4. 2019, S. 9.
21
Sofern man nicht auch das Folterverbot in Grenzfällen des Lebensschutzes (sog. „ti-
cking-bomb-Szenarien“) relativieren will.
22
BVerfGE 39, 1 ff. und 88, 203 ff. („Untermaßverbot“).
Moderne Pränataldiagnostik 1477

einer dem Verhältnismäßigkeitsprinzip verpflichteten „praktischen Konkordanz“ zu


streben, und dies umso mehr, wenn Gegenstand der Rechtskontrolle nicht die das
Rechtsgut „Leben“ unmittelbar tangierende Handlung, sondern allein die vorausge-
hende Schaffung der „tatgeneigten“ Situation bildet. Die geltenden §§ 218 ff. StGB
und ihr historischer Vorläufer (reines Indikationenmodell), aber auch die aktuelle
Debatte um den Vorfeldtatbestand des § 219a StGB23 machen deutlich, dass ein „To-
talverbot“ selbst bei Anerkennung eines eigenständigen Lebensrechts von Ungebo-
renen keineswegs alternativlos ist.
Geht somit das argumentum ad absurdum schon deshalb ins Leere, weil es die pro-
jizierte Folge nicht als die einzig denkbare zu erweisen vermag, und taugt es wegen der
hiermit einhergehenden indirekten Beweisführung ohnehin nicht zur Begründung der
eigenen Position,24 so lehrt seine konkrete Verwendung im hiesigen Kontext aber: Der
Diskriminierungseinwand ist nicht schon dadurch entkräftet, dass die letztverbindliche
Entscheidung zur Informationsgewinnung und -nutzung zu Lasten des Ungeborenen
nicht auf hoheitliches Handeln, sondern auf eine eigenverantwortliche Disposition Pri-
vater zurückzuführen ist. Eben dies bildet für den vorherrschenden Mainstream aber
offenbar einen zentralen Unterschied, verbunden mit dem Hinweis, dass der Entschei-
dung zugunsten eines Abbruchs (mit Blick auf die künftigen Belastungen im Falle
eines schwerbehinderten Kindes) keinerlei Intention einer Abwertung behinderten Le-
bens immanent sei.25 Wäre dies eine zutreffende Deutung in rechtsprinzipieller Hin-
sicht, ließe sich aber gar nicht mehr erklären, warum der Gesetzgeber die Mitteilung
des Geschlechts vor Ablauf der 12. Schwangerschaftswoche untersagt (§ 15 Abs. 1
S. 2 GenDG); denn auch diese Information könnte ja für die Ausübung der „Fortpflan-
zungsfreiheit“ von – vielleicht sogar ausschlaggebender – Relevanz sein, und natürlich
würde jedes Paar auch hier den Verdacht vehement von sich weisen, mit seiner indi-
viduellen Entscheidung ein generelles (abwertendes) Urteil über das (vor allem weib-
liche) Geschlecht eines Menschen aussprechen zu wollen. Erklärtermaßen wollte der
Gesetzgeber mit dieser Regelung jedoch eine inakzeptable „Geschlechtsselektion“26
(vgl. Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG) unterbinden, die innerhalb der ersten 12 Schwangerschafts-
wochen ansonsten die „Letztverantwortung“ der Schwangeren27 (verdeckt und ohne
Kontrolle) prägen könnte.28

23
Dazu krit. Duttge, in: Tröndle-GS 2019.
24
Treffend Stellhorn, ZJS 2014, 467, 468: Es „kann nur die Schwächen der anderen An-
sichten aufzeigen, nicht die Stärke der eigenen“.
25
So z. B. auch Taupitz, in: Propping/Schott (Hrsg.), Auf dem Wege zur perfekten Ratio-
nalisierung der Fortpflanzung? Perspektiven der neuesten genetischen Diagnostik (Doku-
mentation des Leopoldina-Gesprächs am 16. und 17. Februar 2013), 2014, S. 58, 67 f.
26
Fenger, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, § 15 GenDG Rn. 1; Kern/
Reuner, in: Kern (Hrsg.), Gendiagnostikgesetz. Kommentar, 2012, § 15 Rn. 5; vgl. Plenar-
protokoll des Deutschen Bundestages Nr. 16/218 v. 24. 4. 2009, S. 23752 B.
27
BVerfGE 88, 203, 270 sowie § 5 Abs. 1 S. 2 SchKG.
28
Wie hier auch schon Joerden/Uhlig, in: Steger/Ehm/Tchirikow (Hrsg.), Pränatale Dia-
gnostik und Therapie in Ethik, Medizin und Recht, 2014, S. 93, 104.
1478 Gunnar Duttge

Bemerkenswert ist an diesem Gesetzgebungsakt weiterhin der Umstand, dass die


im Raume stehende „Selektion“ erst mit der Abbruchsentscheidung einherginge,
nicht aber bereits durch die Informationserlangung als solche. Denn in der Tat bleibt
der Schwangeren noch immer de jure die Freiheit, sich für oder gegen das Kind zu
entscheiden. Allerdings lässt sich nicht übersehen, dass gesamtgesellschaftlich die
Toleranzschwelle in Fällen einer „geistigen Behinderung“ (anders als bei einer kör-
perlichen) tendenziell überschritten ist, jedenfalls dann, wenn sich schwerer wiegen-
de Auswirkungen im späteren Phänotyp nicht ausschließen lassen, auch wenn die üb-
licherweise benannte Quote von 90 % Schwangerschaftsabbrüchen nach Detektion
jedenfalls für Deutschland nicht empirisch gesichert ist.29 Unbestritten ist jedoch
die Tatsache, dass eine Fortführung der Schwangerschaft mit nachfolgender Geburt
heute die deutliche Ausnahme ist, weil der „sanfte Zwang der Normalität“30, das
durch Lebensplanung (beruflich motivierter Aufschub) bedingte erhöhte Lebensalter
der Schwangeren und die in der Schwangerenbetreuung selbstverständliche Devise
„safety first“ den Nichtabbruch zu einem erklärungsbedürftigen Sonderweg machen.
Dabei fällt es offensichtlich schwer, in einer von „technischer Machbarkeit“ gepräg-
ten Atmosphäre überhaupt noch rationale Argumente zugunsten der Annahme eines
behinderten Kindes zu finden. Eine qualitativ-empirische Studie zu den Entschei-
dungsprozessen konstatierte wirkmächtige „Zugzwänge“ zwecks Herstellung von
Eindeutigkeit im Befund und „Verstrickungen“, die begreiflich machen, wie der
zuvor ohne „Zulassungskriterien“ als solcher angenommene Fetus durch die Unter-
suchungsroutine „vorzeitig aus seinem Schutzraum herauskatapultiert“ und in seiner
„Existenzberechtigung“ plötzlich hinterfragbar und disponibel wird.31 Bedeutsam ist
dabei insbesondere das Einwirken der gesamtgesellschaftlichen „Normalität“ in die
individuelle Entscheidung: „Zukünftige Diskriminierungs- und Stigmatisierungser-
fahrungen werden schon während der Schwangerschaft antizipiert […]; mit der Aus-
sicht darauf, den Zustand der ,missglückten’ Schwangerschaft durch einen Abbruch
wieder rückgängig zu machen, geht deshalb auch immer ein Normalitätsversprechen
einher […], nämlich: in der Mehrheitsgesellschaft wieder anzukommen“32.
Ein Blick zu den europäischen Nachbarn zeigt, wie wirksam dieser Normalitäts-
druck ausfallen kann: Eine dänische Studie registrierte im Jahr 2017, dass 97 % der

29
Zu den Gründen für das Fehlen verlässlicher Daten s. den Sachstandsbericht des Wis-
senschaftlichen Dienstes beim Deutschen Bundestag WD 9-3000-024/17 v. 31. 5. 2017. Nach
Kalmutzke (in: Zimpel [Hrsg.], Trisomie 21, 2016, S. 184, 191) ist es allgemeiner Konsens,
dass die Diagnose Down-Syndrom den häufigsten Grund für einen Schwangerschaftsabbruch
bildet; klarer dagegen die Datenlage für Großbritannien (90 %): Gee, in: BBC News Magazine
v. 29. 9. 2016 (www.bbc.com/news/magazine-37500189); Mortimer, in: The Independent v.
20. 11. 2017 (www.independent.co.uk/news/uk/home-news/uk-birth-rate-latest-number-babies-
born-lowest-decade-a8066101.html).
30
Baldus, Von der Diagnose zur Entscheidung. Eine Analyse von Entscheidungsprozessen
für das Austragen der Schwangerschaft nach der pränatalen Diagnose Down-Syndrom, 2006,
S. 23 ff.
31
Baldus (ebd.), S. 153 ff.
32
Baldus (ebd.), S. 158 f.
Moderne Pränataldiagnostik 1479

betroffenen Paare die angebotene (und landesweit kostenfreie) Diagnostik angenom-


men und 95 % aus dem Kreis jener mit einem positiven Befund zugunsten einer Ab-
treibung entschieden haben.33 Gewiss wird damit noch immer kein „Automatismus“
belegt, aber es lässt sich ein nachhaltiger Wirkzusammenhang zwischen Information
und Abbruch schlechterdings nicht bestreiten: Die Diagnostik ist daher nur scheinbar
– bei künstlicher Verengung der Betrachtung – „neutral“, denn sie schafft erst das
Entscheidungsdilemma und wirkt bei positivem Befund „tatanreizend“ als (häufig)
ausschlaggebender Faktor zugunsten eines Schwangerschaftsabbruchs. Und mehr
noch: Wer vorausschauend handelt, was die vielbeschworene Beratung vor Starten
des „Risikovorsorge“-Programms bewirken will, dürfte bereits mit seiner Zustim-
mung zur Diagnostik das weitere Existenzrecht des Fötus unter den Vorbehalt „scha-
densfrei“ gestellt haben: „Ein genetischer Test, der schon in der Frühschwanger-
schaft einsetzbar ist, kann die Selektion nur in einen Zeitabschnitt verschieben, in
dem sie weniger schlimm erscheint; das verringert das Problembewusstsein …“34.
Damit erfährt der diagnostische Befund und seine Wegbereitung seine Sinngebung
erst und gerade durch die nachfolgende Dispositionsmöglichkeit über Fortführung
oder Abbruch der Schwangerschaft; eine Information bloß um der Information wil-
len würde allenfalls die Neugier befriedigen, wäre ansonsten aber ohne Sinn. Ebenso
wie aber ein Arbeitszeugnis seine konkret-praktische Bedeutung erst im Bewer-
bungsverfahren erfährt, und zwar ggf. durch Ausschluss aus dem Bewerberkreis
und stets in Ausübung von Entscheidungsfreiheit, imprägniert auch das Werturteil
spätestens nach Durchführung der genetischen Diagnostik („dieses Kind will ich
[nicht]“) den nur bei isolierter Betrachtung rein informatorischen Befund.
Erweisen sich gesellschaftliche Strukturen aber als diskriminierungs- bzw. selekti-
onsaffin, so kann deren Verfestigung (durch erleichterte Zugänglichkeit des „tatanrei-
zenden Auslösers“) eine wertegebundene Rechtsgemeinschaft, die sich im Lichte des
Gebots vollwertigen Respekts gegenüber „Behinderten“ (vgl. Art. 1 S. 2 UN-Behin-
dertenrechtskonvention) der Unterbindung von Benachteiligungen (Art. 3 Abs. 3
S. 2 GG) – auch durch Private35 – verpflichtet hat, nicht gleichgültig lassen. Es resultiert
hieraus vielmehr eine rechtliche Verpflichtung, einen „wirksamen rechtlichen Schutz
vor Diskriminierung, gleichviel aus welchen Gründen“ geschehen, zu „gewährleisten
und zu fördern“ (Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 2 UN-Behindertenrechtskonvention).36
Dazu gäbe schon die bisherige Rechtslage zum Schwangerschaftsabbruch triftigen An-
lass, weil sie mit der Erweiterung der sog. medizinischen Indikation auf Beeinträchti-
gungen des „seelischen Gesundheitszustandes“ in Ansehung der mutmaßlich „künfti-

33
Zit. nach dem Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung v. 4. 4. 2019, BT-Drucks. 19/9059, S. 72.
34
Schneider/Binkhoff, Zeitschrift für Lebensrecht (ZfL) 2013, 2, 5.
35
Zur grundsätzlich anerkannten Relevanz des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG auch für privat-
rechtliche Rechtsbeziehungen z. B. BVerfGE 96, 288, 306; Buch, Das Grundrecht der Behin-
derten …, 2001, S. 202 ff.; Höfling, KritV 1998, 99, 103 f.; Nußberger, in: Sachs (Hrsg.),
Grundgesetz. Kommentar, 8. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 307.
36
In diesem Sinne bereits Duttge, ZfmE 61 (2015), 109, 114 f.
1480 Gunnar Duttge

gen Lebensverhältnisse“ (§ 218a Abs. 2 StGB) sehenden Auges37 die Türe für ein un-
kontrolliertes Wirken embryopathisch motivierter Schwangerschaftsabbrüche geöffnet
hat. Denn die „ärztliche Erkenntnis“ steht insoweit nur auf dem Papier38 und entzieht
sich bei Anerkennung eines Beurteilungsspielraums39 in weitem Maße auch einer
Rechtskontrolle. Mehr noch hat die mütterliche Non-Toleranz potentiell behinderter
Kinder als ausschlaggebender Grund für eine Abtreibungsentscheidung ausdrückliche
Anerkennung durch den Gesetzgeber gefunden, wenn in § 2a Abs. 1 SchKG für diesen
Fall eine gesonderte Beratungspflicht statuiert ist. Spätestens seit 200940 lässt sich
daher nicht mehr der Blick isoliert auf § 218a Abs. 2 StGB richten und behaupten,
die Abtreibungsentscheidungen seien wenigstens de jure allein medizinisch und
nicht embryopathisch bedingt.41 Vielmehr lässt es schon die bisherige Rechtslage
zu, dass die (potentiell) gesundheitsschädliche Wirkung bei der Schwangeren aus em-
bryopathischem Anlass nicht mehr als objektives Datum eigenständig evaluiert, son-
dern als mutmaßliche Naturgegebenheit nach einem solchen Befund fingiert wird.
Dazu drängt um so mehr, wenn der Gesetzgeber auch an anderer Stelle, bei der künst-
lichen Befruchtung, das Risiko einer „schwerwiegenden Erbkrankheit“ zur Rechtfer-
tigung einer selektionsaffinen (Präimplantations-)Diagnostik akzeptiert42 – und hier
nun ganz und gar unabhängig von gesundheitsspezifischen Auswirkungen (vgl. § 3a
Abs. 2 S. 1 ESchG)43.
Mit der jüngsten Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses kommt
freilich noch etwas Entscheidendes hinzu: Es macht normativ einen wesentlichen
Unterschied, ob das Handeln von Privatpersonen nur mehr toleriert oder sogar geför-
dert wird. Im Lichte der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) finden
sich unzählige Vorgänge innerhalb der sozialen Welten, die gewiss keine allgemeine
Wertschätzung verdienen, aber dennoch um der individuellen Grundfreiheit willen
im menschenrechtlichen Grundverhältnis der Gleichheit akzeptiert werden müssen.
Die Akzeptanz des Geschehens auf Basis der wechselseitigen personenbezogenen
Achtung44 erschöpft sich aber in einem Geschehenlassen (mit Interventionsverbot)
und erfordert keinerlei darüber hinausgehende wertbezogene Zuwendung als
etwas für sich Gutes bzw. Erstrebenswertes, das deshalb besondere Unterstützung

37
Vgl. BT-Drucks. 13/1850, S. 26, 51: „ungeschriebener Anwendungsfall“.
38
Zutreffend Schmitz, Ethik in der Medizin 2009, 113, 119: sachlich fundierte Prüfung ist
unter den herrschenden Rahmenbedingungen „nahezu unmöglich“.
39
So die h.M., Nachweise z. B. in: Prütting/Duttge, Fachanwaltskommentar Medizinrecht,
5. Aufl. 2019, §§ 218, 218a StGB Rn. 26 (a.E.).
40
Gesetz zur Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes v. 26. 8. 2009 (BGBl. I,
2990).
41
So aber dezidiert die Argumentation bei Merkel, FAZ v. 26. 4. 2019, S. 9.
42
Zur Kritik statt vieler nur Duttge, ZStW 125 (2013), 647 ff. und medstra 2015, 77 ff.
43
Wegen der Inkonsistenz zu § 218a StGB kritisch Schroth, ZStW 125 (2013), 627 ff.
44
Kant, Metaphysik der Sitten, § 38: „Ein jeder Mensch hat rechtmäßigen Anspruch auf
Achtung von seinen Nebenmenschen, und wechselseitig ist er dazu auch gegen jeden Anderen
verbunden“.
Moderne Pränataldiagnostik 1481

verdient. Die in einer freiheitlich verfassten Rechtsordnung geschuldete „Anerken-


nung“45 beschränkt sich im Kern auf den notwendigen Mindestrespekt gegenüber der
anderen Person und erfordert (grundsätzlich) keine evaluative Bestätigung oder gar
ein Sich-Zueigenmachen auch ihrer subjektiven Interessen und Wünsche: Tolerieren
kann und muss man auch, wenn man die tolerierte Praxis nicht als erstrebenswert
ansieht.46 Die Einbeziehung in den Kreis der solidarisch finanzierten Gesundheits-
leistungen ist jedoch mit der eindeutigen Symbolik des Unterstützungswürdigen ver-
sehen, weil es „in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine Grundauf-
gabe des Staates“ ist, dem Einzelnen im Krankheitsfall einen tatsächlich wirksamen
Zugang zu professioneller heilender Fürsorge – und damit letztlich zur Wiedererlan-
gung seiner Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe – zu verschaffen.47 Mehr noch
wird auf diese Weise sogar eine gesteigerte inhaltsbezogene Anerkennungswürdig-
keit zum Ausdruck gebracht, weil nach § 12 SGB V nur solche Leistungen die „So-
zialgemeinschaft“ (§ 1 S. 1 SGB V) belasten dürfen, die „zweckmäßig“ und auch
wirklich „notwendig“ (und zudem „wirtschaftlich“) sind (vgl. auch § 2 Abs. 4
SGB V); bei aller grundsätzlichen Beurteilungsfreiheit des Gesetzgebers soll mit
dem Versorgungssystem der Gesetzlichen Krankenversicherung also vor allem das
(durch Krankheit i.w.S. bedrohte) „Existenzminimum“ gesichert werden.48 Die
dazu unverzichtbare „Indikation“ (arg. e contr. § 106a Abs. 2 Nr. 1 SGB V) verlangt
aber die Feststellung einer werthaften „Angemessenheit“ im Verhältnis zu mögli-
chen „Risiken und Nebenwirkungen“ des Einsatzes von Medizin;49 bei einem Medi-
kament, das absehbar (selbst bei bestimmungsgemäßem Gebrauch) den Fötus von
Schwangeren akut gefährdet, würde man im Lichte des Schädigungsverbots (Princi-
ple of Nonmaleficence) niemals ein positives Abwägungsergebnis auch nur ernstlich
erwägen (vgl. § 5 Abs. 2 AMG). Für den nichtinvasiven Gentest soll dies aber nun-
mehr sehenden Auges in Kauf genommen werden, und zwar bereits nach Pflichtbe-

45
Zum schillernden Charakter des Begriffes z. B. Pinsdorf, Lebensformen und Anerken-
nungsverhältnisse. Zur Ethik der belebten Natur, 2016, S. 167 ff.; aktueller Überblick bei
Schmetkamp, in: Goppel/Mieth/Neuhäuser (Hrsg.), Handbuch Gerechtigkeit, 2016, S. 328 ff.
sowie dies., Achtung oder Anerkennung? Über die Verbindung zweier vermeintlich unver-
söhnlicher Begriffe, 2008 (unveröffentlichtes Manuskript, http://www.dgphil2008.de/filead
min/download/Sektionsbeitraege/14-4_Schmetkamp.pdf).
46
Zur Divergenz zwischen „Toleranz“ und „Wertschätzung“ näher Forst, in: ders. (Hrsg.),
Toleranz. Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend,
2000, S. 119, 120 ff.: „Ablehnungs-Komponente“ als begriffsnotwendiger Bestandteil von
„Toleranz“.
47
BVerfGE 115, 25 ff. = NJW 2006, 891, 892; aus der Literatur statt vieler nur Wilksch,
Recht auf Krankenbehandlung und Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, 2017,
S. 1 ff. (m.w.N.).
48
Siehe z. B. Neumann, NZS 2006, 393 ff.
49
Vgl. etwa Neitzke, Medizinische Klinik – Intensivmedizin und Notfallmedizin 2014,
8 ff.; vertiefend Wiesing, Indikation. Theoretische Grundlagen und Konsequenzen für die
ärztliche Praxis, 2017.
1482 Gunnar Duttge

ratung ohne Indikation (§ 218a Abs. 1 StGB): Denn laut Herstellerangaben kann der
Test bereits ab der 10. Schwangerschaftswoche (p.m.) eingesetzt werden.50

III. „Autonomie“ im Kontext einer liberalen Eugenik


Den Einwänden wird gerne entgegengesetzt, dass mit der „reproduktiven Auto-
nomie“51 doch ein positives Wertinteresse zugunsten der individuellen Entschei-
dungsfreiheit (der Frau) zu Buche schlage, die nach allgemeinen Grundsätzen
eine bestmögliche Informationsbasis nach Maßgabe des „informed consent“-Mo-
dells erfordere, sofern nicht der (die) Einzelne entsprechende Informationen kraft
seines (ihres) Selbstbestimmungsrechts zurückweise („Recht auf Nichtwissen“).
Zu letzterem ist aber mittlerweile auch empirisch52 belegt, dass ein solcherart be-
wusster Informationsverzicht im Zeitalter selbstbewusster „Mündigkeit“ weithin
als „irrational“ aufgefasst und deshalb selbst dann nicht in Anspruch genommen
wird, wenn bereits absehbar ist, dass dies später bereut werden dürfte: „Die Verknüp-
fung von Autonomie und Rationalität mit Wissen ist tief verwurzelt in der Kultur […]
der westlichen Moderne; der Wille zum Wissen gilt als ,normal‘, rational und nor-
mativ gerechtfertigt, der Verzicht auf Wissen [steht] unter dem pauschalen Verdacht
der geistigen Trägheit, der Verantwortungslosigkeit und eines Mangels an ,echter‘
Autonomie“53. Wenn „Autonomie“ daher mehr meint als nur einen einmaligen for-
malen Zustimmungsakt, darf dessen gesamtgesellschaftliche wie kontextspezifische
(„Risikovorsorge“) Einbettung für die Frage nach der materiellen Substanz der pos-
tulierten „Selbstbestimmung“ nicht irrelevant bleiben. Für die Einführung einer ärzt-
lichen Beratungspflicht nach embryopathischem Befund im Jahr 2009 (durch § 2a
SchKG)54 war ausschlaggebend die sich in verschiedenen Studien bestätigende Ein-
sicht, dass Schwangere unter dem „schockartigen“ Eindruck des positiven Befundes
(signifikant häufig) auf sich alleingestellt und nicht selten sogar unter Drängen des
ärztlichen Beistands ihre Entscheidung treffen müssen.55 Unabhängig davon, ob sich

50
Gemeinsamer Bundesausschuss, Zusammenfassende Dokumentation (Fn. 6), S. 23.
51
Zu den (unsicheren) verfassungsrechtlichen und rechtsethischen Implikationen näher
z. B. Wapler, in: Baer/Sacksofsky (Hrsg.), Autonomie im Recht – Geschlechtertheoretisch
vermessen, 2018, S. 185 ff.
52
Dazu näher Flatau/Schulze, in: Duttge/Lenk (Hrsg.), Das sogenannte Recht auf Nicht-
wissen. Normatives Fundament und anwendungspraktische Geltungskraft, 2019, S. 147 ff.,
mit Kommentaren aus humangenetischer (Zoll, S. 155 ff.), ethischer (Lenk, S. 168 ff.) und
rechtlicher Perspektive (Duttge/Zimmermann, S. 173 ff.).
53
Wehling, in: Duttge/Lenk (Fn. 51), S. 233, 238 ff.; zuvor bereits ders., Vom Nutzen des
Nichtwissens. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, 2015, S. 9, 22: „kulturelle
Voreingenommenheit“.
54
Oben Fn. 40.
55
Eingehend dazu Rohde/Woopen, Psychosoziale Beratung im Kontext von Pränataldia-
gnostik – Evaluation der Modellprojekte in Bonn, Düsseldorf und Essen, 2007; s. auch dies.,
MedR 2009, 130 ff.
Moderne Pränataldiagnostik 1483

die Situation für die Schwangeren inzwischen zum Besseren hin verändert hat (was
sehr fraglich sein dürfte), lehrt jedenfalls die nähere Befassung mit dem „Recht auf
Nichtwissen“, dass die entscheidende Weichenstellung bereits zuvor mit der Ent-
scheidung zugunsten einer Inanspruchnahme von Pränataldiagnostik einhergeht: So-
lange dies aber so gut wie immer im Bestreben geschieht, sich nur mehr die „Gesund-
heit“ des Kindes („dass alles in Ordnung ist“) bestätigen zu lassen,56 ohne das Risiko
des u. U. nachfolgenden Entscheidungsdilemmas und den gehörigen (Zeit-)Druck
wahrzunehmen, fehlt es selbst bei Zugrundelegung einer nicht anspruchsvollen „Au-
tonomie“-Konzeption57 am notwendigen Minimum an informierter Reflexion und
verstehender58 Überzeugungsbildung.
Des Weiteren ist die (reproduktive) „Autonomie“ des Einzelnen innerhalb einer
Rechtsgemeinschaft niemals grenzenlos. Gewiss wird damit die zentrale Freiheits-
idee im spezifischen Kontext des Wunsches nach privatautonomer Entscheidung
von Ob und Wie der Nutzung von (auch technischen) Fortpflanzungsoptionen in An-
spruch genommen, und das „liberale Prinzip […] verteidigt Freiheitsspielräume und
Privatsphäre in reproduktiven Fragen, wenn nicht besonders starke moralische Grün-
de aufgezeigt werden“59. Die existentielle Betroffenheit des Fötus sollte allerdings
ein hinreichender Grund sein, um die Notwendigkeit normativer (auch rechtlicher)
Grenzen einzusehen, sofern man dessen Eigenwert nicht (etwa durch sein Ver-
schwindenlassen als bloßes „Schwangerschaftsgewebe“ der Frau)60 radikal in
Frage stellen will. Die feministische Position präferiert diese Sichtweise aus nahe-
liegender ergebnisorientierter Motivation und reklamiert vor allem, dass die „sym-
biotische Verbundenheit“ des Ungeborenen mit seiner Mutter einem Denken in
den Kategorien von Rechten und Pflichten entgegenstehe. Von der Tautologie einmal
abgesehen, lässt sich ein Rechtskonflikt nicht dadurch lösen, dass man ihn negiert.
Denn die spezifische Problematik des Schwangerschaftskonflikts besteht doch nach
allgemeiner Auffassung darin, dass der Fötus von der Schwangeren existentiell ab-
hängig, mit dieser aber nicht (teil-)identisch ist. Dementsprechend bleibt kein ande-
rer Weg als jener schwierige, die rechtlich geschützten Belange beider subjekthaften
Entitäten analytisch getrennt zu erfassen und zueinander normativ ins Verhältnis zu

56
Z. B. Keßler, Psychosoziale Beratung in der Pränataldiagnostik, 2008, S. 100 et passim
(http://hss.ulb.uni-bonn.de/2008/1378/1378.pdf).
57
Überblick zu den heterogenen Autonomie-Konzeptionen z. B. bei Steinfath, in: ders./
Wiesemann/Duttge u. a. (Hrsg.), Autonomie und Vertrauen. Schlüsselbegriffe der modernen
Medizin, 2016, S. 11, 14 ff. (m.w.N.).
58
Z. B. Faden/Beauchamp, A History and Theory of Informed Consent, 1986, S. 248; zur
notwendigen „capacity“ auch Birnbacher, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 1997,
S. 105, 107 f.; zum innovativen Konzept eines „Contextual Consent“ jüngst Lindner/Linoh/
Rosenau/Schmidt am Busch, MedR 2019, 413 ff.
59
Tarkian, in: Bahne/Waldner (Hrsg.), Die Perfektionierung des Menschen? Religiöse und
ethische Perspektiven, 2018, S. 161, 167 f.; s. auch Beier/Wiesemann, in: Wiesemann/Simon
(Hrsg.), Patientenautonomie. Theoretische Grundlagen – Praktische Anwendungen, 2013,
S. 205 ff.
60
Siehe z. B. http://www.kristinahaenel.de/docs/Schwangerschaftsabbruch.pdf.
1484 Gunnar Duttge

setzen.61 Ist nun aber die vorausgegangene Information über evtl. genetisch bedingte
Schadensanlagen so sehr mit einem nachfolgenden Abbruch verknüpft, dass bereits
sie als ernstliche Existenzgefährdung des Fötus begriffen werden muss, dann lässt
sich auch die nachfolgende rechtliche Begrenzung der Entscheidungsbefugnis in
der Abtreibungssituation nicht mehr isoliert sehen: Sie muss vielmehr auf die Infor-
mationsgabe vorwirken. Anhand eines klassischen Strafrechtsszenarios veranschau-
licht: Wer einem „Tatgeneigten“ die ausschlaggebende Information zugänglich
macht, welche die absehbare Tat auslöst, kann hernach auch nicht unter Verweis
auf das „Autonomieprinzip“ seine Hände in Unschuld waschen.62
Der Verweis auf die „Autonomie“ der Einzelnen legt die Annahme nahe, dass es
beim Streben nach Vermeidung genetischer Defekte und Optimierung des Nach-
wuchses nicht mehr um die alte, verbrecherische, sondern um die moderne „liberale
Eugenik“63 des freien Marktes und der individuellen Lebenspläne gehe: Hier herrscht
nicht die brutale Gewalt zu Lasten der Schwachen, die „ausgesondert“ werden, son-
dern der „freie Wille“ der Eltern, ihre Kinder nach eigenen Vorstellungen zu „for-
men“. Man muss nicht allzu weit blicken, um zu erkennen, dass auch eine „Eugenik
von unten“64 sehr wohl Zwang impliziert – nur eben einen, der nicht mehr so augen-
fällig ist wie zu früheren Zeiten: Wenn genetische Technologien zugänglich sind, die
eine „Qualitätskontrolle“ ermöglichen, wird die Option zur Verantwortung und die
Verantwortung zur moralischen Pflicht. Aber auch jene, die irrational „im Blindflug“
gezeugt und trotz ungesicherter „Defektfreiheit“ an der weiteren Entwicklung nicht
gehindert wurden, könnten künftig zu den Verlierern zählen. Michael J. Sandel hat
diesen Zusammenhang eindrucksvoll beschrieben: „Je bewusster uns die zufällige
Natur unseres Loses ist, desto mehr Grund haben wir, unser Schicksal mit anderen
zu teilen. […] Die Sorge, dass Versicherungsunternehmen genetische Daten verwen-
den würden, um Risiken und Prämien zu bestimmen, hat […] dazu bewogen, für ein
Verbot der genetischen Diskriminierung in der Krankenversicherung zu stimmen;
aber die größere […] Gefahr liegt darin, dass die genetische Optimierung, routine-
mäßig praktiziert, es schwieriger machen würde, das moralische Gefühl zu pflegen,
welches die soziale Solidarität voraussetzt. […] Wenn uns die genetische Zurichtung
gestattete, die Ergebnisse der genetischen Lotterie zu überspielen […], würden die-
jenigen am unteren Ende der Gesellschaft nicht mehr als benachteiligt und daher
eines Maßes des Ausgleichs würdig betrachtet, sondern schlicht als untauglich …“65.
Reinhard Merkel dürfte vermutlich darauf dringen, dass dies nur logisch denkbare
und keineswegs real-sichere Folgen für die Zukunft sind – gewiss: Aber sie sind un-
61
Zutreffend Wapler (Fn. 51), S. 185, 209.
62
Zur „Förderung eines erkennbar Tatgeneigten“ insbesondere Roxin, Tröndle-FS 1989,
S. 177, 190 ff.
63
Umfassende ethische Analyse und Ideengeschichte bei Ranisch, Kritik der liberalen
Eugenik, 2018.
64
Tarkian (Fn. 59), S. 162.
65
Sandel, Plädoyer gegen die Perfektion. Ethik im Zeitalter der genetischen Technik, 2008,
S. 110 ff.
Moderne Pränataldiagnostik 1485

anfechtbar abgeleitet, entsprechen der menschlichen Natur und knüpfen nahtlos an


die vorherrschende Haltung der Gegenwartsgesellschaft an. Das gilt umso mehr, als
mit der Beseitigung des Schädigungsrisikos jedwedes Motiv entfallen ist, die An-
wendung der NIPTs auf „Ausnahmefälle“ zu reduzieren;66 jede dahingehende
Grenzziehung muss vielmehr willkürlich erscheinen und ließe sich im Lichte der „re-
produktiven Autonomie“ wohl auch kaum rechtfertigen. Die Idee der Menschenwür-
de predigt jedoch nicht präventive Selektion, sondern Inklusion, gleiches Existenz-
recht und Solidarität. Sie erschöpft sich nicht, wie häufig angenommen, in der Stär-
kung individueller Abwehrrechte gegen hoheitliche Instrumentalisierung, sondern
zielt auch und gerade gegen Strukturen gesellschaftlicher Ausgrenzung: Sie verlangt
– mit Heiner Bielefeldt – nach einem „Empowerment“ aller Mitglieder der Rechts-
gemeinschaft und damit die Vorsorge, dass der „Raum normativer Kommunikation“
geöffnet bleibt auch und gerade für jene, die ansonsten den biopolitischen Machbar-
keitsphantasien (des Kollektivs wie der Vielen) leicht zum Opfer fallen könnten.67

IV. Begriff und Bezugsgegenstand


Wie steht es nun aber mit der Ausgangsfrage nach der angemessenen Begrifflich-
keit: Rechtfertigen es die Optionen der modernen Pränataldiagnostik tatsächlich, von
einer „Diskriminierung“ bzw. gar von einer „Selektion“ zu sprechen? Die Semantik
bietet kaum Anhaltspunkte, daran zu zweifeln, denn die Detektion genetischer
Krankheitsdispositionen (oder gar irreversibler Chromosomenaberrationen wie bei
den Trisomien) führt eben bei menschlichem Leben in seiner Frühphase mit hoher
Wahrscheinlichkeit zu einer „Auslese“68 und damit zu einer zugespitzten (existenz-
vernichtenden) Form von „Benachteiligung“69. Die vielzitierte „Rampe von Au-
schwitz“70 ist danach nur eine nochmals bis zum Äußersten des menschlichen Vor-
stellungsvermögens gesteigerte Tat, die aber den begrifflichen Bedeutungsgehalt nur
punktuell erfasst und längst nicht ausschöpft. Wesentliche Bestätigung findet dies in
Art. 3 Abs. 2 lit. b) der EU-Grundrechtecharta, der unmissverständlich zu erkennen
gibt, dass eugenischen Praktiken im Rahmen der Reproduktionsmedizin das Poten-
tial einer menschenwürdewidrigen „Selektion“ keineswegs von vornherein abgeht.71
Das einzige, freilich ausschlaggebende Zusatzerfordernis bildet das Momentum der
mangelnden Berechtigung: Nur für solche menschlich beherrschten und damit zu

66
Bereits Heinrichs/Spranger/Tambornino, MedR 2012, 625, 628.
67
Bielefeldt, Menschenwürde. Der Grund der Menschenwürde, 2008.
68
Brockhaus in fünf Bänden, Bd. 4, 2004, S. 4324, Stichwort: „Selektion“.
69
Brockhaus in fünf Bänden, Bd. 1, 2004, S. 986, Stichwort: „Diskriminierung“.
70
Merkel, FAZ v. 26. 4. 2019, S. 9.
71
Noch dezidierter Art. 16-4 (S. 2) des französischen Code Civil, der den Passus der EU-
Grundrechtecharta wesentlich Inspiriert hat (Borowski, in: Meyer/Hölscheidt, Charta der
Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl. 2019, Art. 3 Rn. 45): „Toute pratique eugé-
nique tendant à l’organisation de la sélection des personnes est interdite“.
1486 Gunnar Duttge

verantwortenden Vorgänge, die andere Rechtssubjekte ohne sachlichen Rechtferti-


gungsgrund signifikant schlechter stellen bis hin zur existentiellen Exklusion, er-
scheint es angemessen, von einer Diskriminierung bzw. Selektion zu sprechen.
Dabei ist jedoch nicht die Stigmatisierung geborener Behinderter gemeint, auch
wenn diese sich durchaus fragen könnten, ob ihr Leben von einer die Zugänglichkeit
pränataler Gentests sogar fördernden Rechtsgemeinschaft überhaupt noch als schät-
zenswert („würdig“) betrachtet wird.72 Diese könnte jedoch antworten, dass die In-
anspruchnahme solcher Tests und ggf. die nachfolgende Entscheidung zum Schwan-
gerschaftsabbruch in der individuellen Verantwortung der jeweiligen Eltern liegt.
Was aber die hier in Frage stehende Begrifflichkeit rechtfertigt, ist jene Haltung,
die in der jeweils individuellen Entscheidung zum Ausdruck kommt: Wer seinen
Fötus möglichst frühzeitig („bevor es zu spät ist“) auf genetische Krankheitsanlagen
hin untersuchen lassen will, entscheidet sich per definitionem gegen eine unbedingte
Annahme des Kindes in seiner „natürlichen Ausstattung“ und bezieht damit mangels
therapeutischer Interventionsmöglichkeiten denknotwendig zugleich die Option ein,
dieses Kind trotz seiner existentiellen Abhängigkeit und Vulnerabilität abzulehnen.
Innerhalb von interpersonalen Beziehungsverhältnissen ist diese Form der tödlichen
Zurückweisung, wenn sie also gerade wegen der Normabweichung (und nicht etwa
wegen Überschreitung des subjektiven Vermögens zur Aufrechterhaltung der
Schwangerschaft) erfolgt, im Lichte der Menschenwürdegarantie eine schlechter-
dings nicht akzeptierbare Option. Deshalb bietet auch der Verweis auf die Notwen-
digkeit vermehrter Aufklärung und Beratung, wie sie zuletzt insbesondere die EKD
empfohlen hat,73 nur eine unbefriedigende (Schein-)Lösung und keinen wirklich
gangbaren Ausweg:74 Denn die sich anschließende diskriminierende/selektierende
Tat müsste ja der Logik der individuellen Letztverantwortung folgend respektiert
werden. Gleiches gilt für den Vorschlag einer Begrenzung auf singuläre genetische
Merkmale, die nur bei „Risikoträgerinnen“ und nicht im Wege eines flächendecken-
den Screenings relevant werden sollen:75 Denn abgesehen von der „Not der Grenze“
lässt sich nicht der qualitative Unterschied erkennen, der „ein bisschen Selektion“ als
tolerabel, das Mehr hingegen als ethisch verwerflich ausweisen könnte.
Anstelle dessen von einer „Stigmatisierung von Menschen mit Behinderung“ zu
sprechen, um die evtl. mit noch größerer Negativität konnotierten Begriffe der Dis-
kriminierung bzw. Selektion zu vermeiden,76 entspricht jener durchaus populären
72
Z. B. Saxton, in: Davis (Hrsg.), The Disability Studies Reader, 2006, S. 105, 115: „The
message at the heart of widespread selective abortion on the basis of prenatal diagnosis is the
greatest insult: some of us are too flawed in our very DNA to exist; we are unworthy of being
born“.
73
Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), Nichtinvasive Pränataldiagnostik. Ein
evangelischer Beitrag zur ethischen Urteilsbildung und zur politischen Gestaltung, 2018
(https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/NIPD-2018.pdf).
74
Etwas positiver hingegen die Einschätzung von Eibach, ZfL 2019, 151, 163 ff.
75
So jüngst auch der Gemeinsame Bundesausschuss (Fn. 5).
76
Vgl. Düwell, Bioethik. Methoden, Theorien und Bereiche, 2008, S. 214 ff.
Moderne Pränataldiagnostik 1487

„Ausweichstrategie“, die das jeweilige Problem absichtsvoll nicht in seiner Schärfe


transparent macht, sondern eher (semantisch) vernebelt. Es ist nicht zuletzt Reinhard
Merkel, der solches stets mit unbestechlichem Blick unnachgiebig beanstandet hat.77
Ihm ist es gewiss keine Neuigkeit, dass die vorstehenden Überlegungen letztlich na-
türlich ganz und gar davon abhängig sind, ob dem Fötus der Status eines eigenstän-
digen Rechtssubjekts zugestanden wird. Hier scheiden sich bekanntlich die klugen
Geister bis heute, und dies im hiesigen Rahmen zu Ehren des Jubilars näher zu be-
leuchten hieße wahrlich, Eulen nach Athen zu tragen. Wenn das Ungeborene jedoch
nicht als Rechtssubjekt, aber – siehe die Sonderregelungen der §§ 218 ff. StGB –
auch nicht als bloßes Objekt zu betrachten wäre: Was sollte es dann sein?

77
Etwa im Kontext der „Sterbehilfe“, in: Hegselmann/Merkel (Hrsg.), Zur Debatte über
Euthanasie, 1991, S. 71, 74; zu den konzeptionellen „Umgehungsstrategien“ der Strafrechts-
lehre bei der Bewertung der sog. „Früheuthanasie“ siehe das gleichnamige Werk von Merkel,
2001, S. 219 ff.
Manipulation und mentale Selbstbestimmung
Von Thomas Schramme

Reinhard Merkels Beiträge zu philosophischen, rechtlichen und politischen De-


batten sind aus vielerlei Gründen inspirierend. Erstens ist seine Argumentation
immer außerordentlich klar und leicht nachzuvollziehen. Diese Klarheit zeigt sich
auch während Diskussionsveranstaltungen, oft zum Leidwesen seiner Kontrahenten.
Natürlich ist damit nur ein formaler Aspekt benannt; die Argumente werden dadurch
nicht automatisch plausibler. Gleichwohl – zweitens – ist seine Argumentation tat-
sächlich sehr häufig überzeugend. Dazu gehört auch, dass Merkel immer bereit ist,
seine Schlussfolgerungen ausschließlich von den besten Argumenten erzeugen zu
lassen. Dies ist eine nicht zu verachtende Tugend der Debattenkultur. Bisweilen
setzt ihn diese Konsequenz in Kontrast zu weit verbreiteten und eingefleischten Mei-
nungen. Als unvoreingenommener Leser oder Zuhörer wird man dadurch wiederum
bisweilen auf Gedankenpfade gelockt, die man nicht von alleine beschritten hätte –
ein unschätzbarer Dienst für die Diskussionskultur. Drittens imponiert Merkels
enorm breites Wissen über einschlägige Erörterungen in verschiedenen Disziplinen.
Diese multiplen Perspektiven zu vereinen ist ein schwieriges und langwieriges Un-
terfangen und es lohnt sich daher umso mehr, Merkels Beiträge zur Kenntnis zu neh-
men.
In den letzten Jahren hat Merkel sich verstärkt mit neurophilosophischen Themen
befasst. Heutzutage machbare technische und medizinische Eingriffe in mentale Pro-
zesse stellen verschiedene Annahmen bezüglich Selbstbestimmung und Willensfrei-
heit in Frage. Die sogenannte tiefe Hirnstimulation beispielsweise hat das Potential,
Emotionen und Willensentscheidungen von Patienten zu beeinflussen. Damit sind
Formen von Manipulationen von Personen möglich, die nur schwer in den traditio-
nellen Begrifflichkeiten zu fassen sind. Entsprechend hinkt auch das Recht hinterher:
Welche Formen von Einflüssen auf die Willensbildung sollen unter Strafe gestellt
werden? Immerhin sind wir vielen solchen Einflüssen unterworfen, die wir keines-
wegs anstößig finden, geschweige denn, unter Strafe stellen wollen – man denke an
Werbung, öffentliche Kritik, aber auch visuelle und olfaktorische Reize, die auf uns
einwirken.
Merkel hat sich in einer Reihe von Beiträgen – meist erstellt in Zusammenarbeit
mit seinem ehemaligen wissenschaftlichen Assistenten, Christoph Bublitz – mit der
grundsätzlichen Frage befasst, wie legitime von illegitimen Interventionen in die
mentale Selbstbestimmung abgegrenzt werden können. Mit diesem Problem will
ich mich in meinem Beitrag befassen. In der Tat sind bestimmte Formen der Eingriffe
1490 Thomas Schramme

in die individuelle Selbstbestimmung, die wir unter dem Stichwort Manipulation zu-
sammenfassen können, ein vergleichsweise unterbelichtetes Thema der philosophi-
schen Diskussion; im Unterschied etwa zum Problem des Zwangs:1
„Philosophy and law seem to neglect the question of where to draw the line between per-
missible and impermissible ways of changing other peoples’ minds, between permissible
skillful rhetorical persuasion, undue influence, and illegitimate manipulative indoctrina-
tion“ .2

Das Problem besteht in erster Linie darin, illegitime von legitimen Einflüssen auf
die Willensbildung zu unterscheiden. Hinzu tritt aber auch ein begriffliches Problem
bezüglich des Verständnisses von Manipulationen. Merkel hat bezüglich der norma-
tiven Frage vorgeschlagen, die Idee der mentalen Selbstbestimmung und der menta-
len Integrität zum normativen Standard zu erklären, so dass negative Einflüsse als
problematisch gelten können:
„Hence, lines must be drawn to separate permissible from impermissible interventions. For
this, we hold ,mental self-determination‘ to be the most promising notion. In its light, the aim
is not an environment free of external stimuli, but free from stimuli that have deleterious
effects on other persons’ mental integrity“3.

In diesem kurzen Beitrag werde ich versuchen, ein Verständnis von Manipulation
zu verteidigen, das auf den damit einhergehenden Aspekt des Willensbildungspro-
zesses fokussiert. Manipulationen entfremden eine Person von ihrem eigenen Willen
und führen schließlich zur Aneignung eines neuen Willens. Dieser Aspekt kann nur
in einer diachronen Perspektive beleuchtet werden. Um diese Interpretation zu ver-
teidigen greife ich Harry Frankfurts viel beachtetes Modell der hierarchischen
Wunschstruktur zurück. Für Frankfurt besteht der eigene Wille in den Wünschen,
mit denen man sich identifiziert. Das Besondere an der Manipulation besteht
darin, dass eine Person dazu gebracht wird, ihren Willen in einer Weise zu verändern,
dass sie zum Zeitpunkt einer Handlung tatsächlich im Einklang mit ihrem Willen
handelt und gleichwohl Zweifel bestehen, ob sie aufgrund des Willens handelt,
mit dem sie sich „eigentlich“ identifiziert beziehungsweise mit dem sie sich identi-
fiziert hätte, wenn sie nicht manipuliert worden wäre. In diesem Beitrag werde ich
nur in der Lage sein, allererste Schritte hin zu einer Klärung zu unternehmen, was das
genauer heißen könnte. Dabei wende ich mich gegen Merkels Unterscheidung von
direkten und indirekten Eingriffen als entscheidenden Schritt für die normative Be-
wertung.
1
Pennock, J. R./Chapman, J. W. (Hrsg.), Coercion. Nomos XIV. 1972, Chicago: Aldine
Press; Wertheimer, Alan, Coercion, Princeton: Princeton University Press, 1987.
2
Bublitz, Jan Christoph/Merkel, Reinhard, Guilty Minds in Washed Brains? Manipulation
Cases and the Limits of Neuroscientific Excuses in Liberal Legal Orders. In: Vincent, Nicole
A. (Hrsg.), Neuroscience and Legal Responsibility. Oxford: Oxford University Press, 2013,
S. 345.
3
Bublitz, Jan Christoph/Merkel, Reinhard, Crimes Against Minds: On Mental Manipula-
tions, Harms and a Human Right to Mental Self-Determination. Criminal Law and Philosophy,
2014, 8: S. 68.
Manipulation und mentale Selbstbestimmung 1491

Bevor wir uns der normativen Bewertung von Manipulationen zuwenden, scheint
es mir zunächst sinnvoll zu betonen, dass das Gehirn als Objekt von Interventionen
keine speziellen oder neue normativen Probleme aufwirft. Das Gehirn ist ein Teil des
Körpers, und Eingriffe in die Unversehrtheit des Körpers erfordern die informierte
Einwilligung der betroffenen Personen. Einige der Beispiele, die in der einschlägigen
Debatte hervorgebracht werden, wie etwa die Stimulation von Hirnregionen durch
transkranielle Magnetstimulation, sind daher meines Erachtens keine besonders in-
teressanten oder erhellenden Illustrationen. Sie mögen neue technische Möglichkei-
ten der Manipulation betreffen, aber normativ betrachtet sollten diese sicherlich als
problematische Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit gelten, wo sie ohne Ein-
willigung erfolgen, vergleichbar etwa mit der heimlichen Verabreichung von leis-
tungsverändernden Mitteln.
Interessanter sind die Fälle, in denen durch Gestaltung der Umgebung und die
Beeinflussung der Entscheidungsfindung auf die Psyche einer anderen Person ein-
gewirkt wird. Hier scheint es Beispiele zu geben, die eindeutig manipulativen Cha-
rakter haben, beispielsweise wenn intellektuelle oder emotionale Schwächen aus-
genutzt werden, um Personen zu bestimmten Entscheidungen zu verleiten. Wir
kennen dies aus der Werbung, aber auch im privaten Rahmen finden sich Beispiele:
Formen der Vortäuschung von Vorteilen oder der emotionalen Erpressung fallen in
diesen Bereich. Viele dieser alltäglichen Manipulationen würden von einigen ver-
mutlich gar nicht als manipulativ angesehen, weil Manipulation für sie verboten
gehört, aber Lügen der Werbeindustrie oder viele Tricks eines Casanovas sicher-
lich als erlaubt gelten sollten. Gleichwohl sollten wir nicht begriffliche Abgrenzun-
gen durch normative Konsequenzen leiten lassen. Mit anderen Worten: Wir sollten,
soweit wie möglich, den Begriff der Manipulation wertfrei bestimmen, und auf die-
ser Basis darüber reflektieren, welche Manipulationen moralisch oder rechtlich
verboten sein sollten.
Ob man eine rein deskriptive Definition des Manipulationsbegriffs tatsächlich er-
reichen kann, ist zweifelsohne keineswegs ausgemacht.4 Ähnliche Debatten finden
sich in Bezug auf den Begriff des Zwangs. In diesem Beitrag werde ich dazu nichts
beitragen können. Es scheint mir aber jedenfalls unplausibel, nur solche Formen der
Interventionen in die mentale Selbstbestimmung als manipulativ anzusehen, die ein-
hellig abgelehnt werden. Dies wäre eine normative Aufladung des Begriffs, welche
die entscheidenden ethischen Fragen zu begrifflichen umdeutet, was kaum hilfreich
sein kann.
Ein hervorstechendes Element von Manipulation ist jedenfalls die Tatsache,
dass sie freiwillige Entscheidungen erlaubt. Im Unterschied zu Zwang liegt bei
Manipulation keine Form der Beeinflussung vor, die eine eigene Entscheidung un-

4
Coons, Christian/Weber, Michael (Hrsg.), Introduction: Investigating the Core Concept
and Its Moral Status. In: dies., Manipulation: Theory and Practice. 2014, Oxford University
Press, S. 4 ff.
1492 Thomas Schramme

terminiert.5 Bei Zwang handelt es sich um einen Entscheidungskontext, der eine Per-
son auf eine spezifische Weise von ihrem eigenen Willen entfremdet. Eine bedrohte
Person folgt üblicherweise dem Entscheidungsweg, der eine drohende Konsequenz
von ihr abhält. Beispielsweise wird sie ihre Brieftasche übergeben, auch wenn dies
nicht ihrem eigenen Willen entspricht, um einer drohenden Verletzung oder gar dem
Tod zu entgehen. Eine manipulierte Person wird hingegen durch spezifische Formen
der Willensbeeinflussung dazu gebracht, ihren Willen in bestimmter Weise so zu for-
men, dass ihre Entscheidungen letztlich nicht von ihr entfremdet sind. Daher kann
eine manipulierte Person durchaus als selbstbestimmt und frei erscheinen. Nebenbei:
Darin zeigt sich auch, dass Manipulation nicht unbedingt die moralische Verantwort-
lichkeit für Taten unterminieren muss, wie auch Merkel ausdrücklich festhält.6
Denken wir an das häufig benutzte Beispiel einer manipulierten Handlung: Othel-
los Ermordung seiner Frau Desdemona. Wir wissen durch die Lektüre des Werks von
Shakespeare, dass Othellos Überlegungen, die letztendlich zur Tötungsabsicht füh-
ren, durch Iagos geschickte Manipulationen stark beeinflusst sind. Gleichwohl han-
delt Othello freiwillig. Wichtiger noch: Nach allem, was wir wissen, handelt Othello
im Moment der Tat aufgrund seines eigenen Willens – er ist nicht ambivalent oder
unter Zwang; tatsächlich handelt er offenbar nicht gegen seinen Willen. Er will Des-
demona töten und er identifiziert sich mit dieser Absicht. Allerdings, und dies ist der
springende Punkt, hätte er Desdemona wohl nicht töten wollen, wäre er nicht durch
Iago in seiner Willensbildung entsprechend manipuliert worden.
Der entscheidende Aspekt der Manipulation liegt demnach in einer historischen
Dimension: In der Formung des Willens in eine bestimmte Richtung. Üblicherweise
ist die Richtung durch die Absichten eines Manipulators vorgegeben, doch können
wir uns sicherlich Manipulationen der Willensbildung ohne bewusste Manipulation
durch einen Manipulator vorstellen. Denken wir nur an die Mechanismen von Filter-
blasen und Echokammern in Internetkontexten, die Menschen möglicherweise ma-
nipulieren können, ohne eine bestimmte Richtung zu antizipieren – „möglicherwei-
se“, weil es sicherlich unterschiedliche Auffassungen gibt, welche Beeinflussungen
tatsächlich den Namen Manipulation verdienen.
Bevor wir uns der Frage widmen, welche Prozesse der Willenssteuerung als ma-
nipulativ gelten sollten, gilt es, ein paar Worte zur Rede vom eigenen Willen zu ver-
lieren: Harry Frankfurt hat mit seinem Werk entscheidend dazu beigetragen, solche
Fälle begrifflich fassen zu können, in denen eine Person im Einklang mit sich selbst
oder aber entfremdet handelt. Seine wesentliche terminologische Neuerung war es,
sogenannte Volitionen, also motivierende Wünsche, in eine erste und eine zweite
5
Coons, Christian/Weber, Michael (Hrsg.), Introduction: Investigating the Core Concept
and Its Moral Status. In: dies., Manipulation: Theory and Practice. 2014, Oxford University
Press, S. 8.
6
Bublitz, Jan Christoph/Merkel, Reinhard, Guilty Minds in Washed Brains? Manipulation
Cases and the Limits of Neuroscientific Excuses in Liberal Legal Orders. In: Vincent, Nicole
A. (Hrsg.), Neuroscience and Legal Responsibility. Oxford: Oxford University Press, 2013,
S. 340 f.
Manipulation und mentale Selbstbestimmung 1493

Stufe einzuteilen.7 Volitionen erster Stufe können alle möglichen Wünsche sein, mit-
unter auch solche, die miteinander in Konflikt liegen. So kann man sich beispielswei-
se wünschen, ein Eis zu essen, aber gleichzeitig auch wünschen, keine zuckerhaltigen
Speisen zu sich zu nehmen. Volitionen zweiter Stufe sind, Frankfurt zufolge, dieje-
nigen Wünsche, von denen wir tatsächlich motiviert sein wollen. Mitunter gelingt
uns das nicht, etwa wenn wir durch bestimmte psychologische Mechanismen ver-
führt werden, etwas zu tun, mit dem wir uns nicht identifizieren, beispielsweise
wenn wir ein Eis essen, obwohl wir eigentlich durch den Wunsch geleitet sein wollen,
zuckerhaltige Speisen zu vermeiden. Wir handeln in diesen Fällen zwar willentlich –
also nicht unbeabsichtigt oder unbewusst –, aber dennoch nicht aufgrund unseres ei-
genen Willens – im Sinne eines angeeigneten Willens. Für Frankfurt war diese ter-
minologische Struktur von Volitionen erster und zweiter Stufe in erster Linie wichtig,
um zu zeigen, dass Menschen sich frei entscheiden und moralisch verantwortlich für
ihr Tun sein können, selbst wenn sie keine andere Option haben, als sich so zu ent-
scheiden, wie sie es tun. Der entscheidende Aspekt der Freiheit ist derjenige, dass der
Wille einer Person, also die sie zum Handeln bewegende Volition, ihr eigener Wille
ist; sich die Person demnach mit ihrer Entscheidung identifiziert. Handelt sie gegen
ihren eigenen Willen, so ist ihr Wille unfrei; gleichwohl handelt sie willentlich.
„In the central cases of unfree doing, a person does something unfreely when it is not merely
not by his own choice that he does it but when he does it against his will. The corresponding
case of willing unfreely would be that of a person who wills against his will. Accordingly,
unfreedom of will is the condition a person is in when it is not by his own will but, rather,
against his own will that he wills what he wills“.8

Es gäbe viel zu diesem Modell zu sagen und es existiert inzwischen eine kleine
Industrie an Veröffentlichungen zu Frankfurts Theorie.9 Wesentlich für unsere Zwe-
cke ist nun, dass wir in der Lage sind, die Problematik der Manipulation begrifflich
besser zu fassen zu bekommen: Im Unterschied zu Fällen von Zwang handelt eine
manipulierte Person üblicherweise aufgrund ihres eigenen Willens. Sie ist nicht ent-
fremdet von ihrer Entscheidung. Gleichwohl ist die Person im Laufe der Willensbil-
dung von ihrem ursprünglichen eigenen Willen durch manipulative Eingriffe ent-
fremdet worden. Betrachten wir den Willen einer Person nur zum Zeitpunkt der
Handlungsentscheidung, so fällt es schwer, Manipulation als einen Einfluss anzuse-
hen, der die Selbstbestimmung und möglicherweise gar die moralische Verantwor-
tung unterläuft. Um dies an dem bereits genannten Beispiel zu beleuchten: Othello ist
nicht von inneren oder äußeren Zwängen dazu gebracht worden, Desdemona zu

7
Frankfurt, Harry G., Freedom of the Will and the Concept of a Person, Journal of Phi-
losophy 68 (1): 1971, S. 5 – 20.
8
Frankfurt, Harry G., Concerning the Freedom and Limits of the Will. Philosophical
Topics Vol. 17, No. 1, Philosophy of Mind, 1989, S. 119 – 130; wieder abgedruckt und zitiert
nach ders., Necessity, Volition, and Love. Cambridge: Cambridge University Press, S. 77.
9
S. nur Betzler, Monika/Guckes, Barbara (Hrsg.), Autonomes Handeln. Texte zur Philo-
sophie Harry G. Frankfurts. 2000; Buss, Sarah/Overton, Lee (Hrsg.), Contours of Agency.
Essays on Themes from Harry Frankfurt. 2002, Cambridge, Mass.: MIT Press.
1494 Thomas Schramme

töten; es war sein eigener Wille. Aber, und darin liegt der entscheidende Faktor, sein
Wille zum Zeitpunkt des Tötungsdelikts ist nach allem, was wir wissen, ein anderer
als der Wille zum Zeitpunkt, bevor Jago sein böses Spiel begann. In einem Satz:
Othellos Wille wurde durch die Manipulation gesteuert; er wurde von seinem ur-
sprünglichen Willen entfremdet und dazu gebracht, sich einen anderen Wunsch an-
zueignen, also einen neuen eigenen Willen auszubilden.
Frankfurts Modell als solches lässt diese historische Dimension aus dem Blick
geraten. Er kennt nur die Identifikation der Wünsche zweiter mit denen der ersten
Stufe als Kriterium der Freiheit und der moralischen Verantwortlichkeit. Dies
wurde immer wieder kritisch angemerkt, auch von Merkel.10 Im Extremfall muss
Frankfurt selbst solche Menschen als frei ansehen, die durch eine Gehirnwäsche ra-
dikal in ihrer psychischen Struktur verändert wurden, nur weil sie zum Zeitpunkt der
Handlung im Einklang mit sich selbst sind. Das erscheint wenig plausibel.
Um die historische Dimension der Willensbildung in ihrer potentiellen normati-
ven Problematik abzubilden, benötigen wir eine Theorie, die illegitime Manipulatio-
nen von legitimen Einflüssen auf die Willensbildung unterscheidet. Das ist, wie zu
sehen sein wird, keineswegs ein leichtes Unterfangen. Sogar die Rede von einem ei-
genen Willen selbst wirft philosophische Fragen auf, die durchaus zu Skepsis dieser
Terminologie gegenüber führen können.11 Ich werde skeptische Einwände weitge-
hend ignorieren, zumal wir sicherlich sinnvoll über Manipulationen diskutieren kön-
nen, selbst wenn wir die Rede von einem eigenen Willen bestenfalls als eine meta-
phorische Redewendung betrachten sollten. Tatsächlich können die Extreme des Ma-
nipulationsbegriffs durchaus klar vor uns liegen: Bewusste Täuschungen beeinflus-
sen die Willensbildung in ungerechtfertigter Weise; Ratschläge oder die
Bereitstellung von Informationen hingegen sind ein legitimer Einfluss auf die Wil-
lensbildung. Zwischen diesen Extremen liegt allerdings ein riesiges Feld von auf den
Willen einwirkenden Kräften. Welche dieser Kräfte sind machtvoll genug, den Wil-
len eines Menschen von sich selbst zu entfremden; und welche Einflüsse sind ille-
gitim?
Merkel, zusammen mit Bublitz, hat diesbezüglich wertvolle Vorschläge gemacht.
Zugegeben, sein Fokus ist ein rechtlicher– er versucht die Frage zu beantworten, in
welchen Fällen Eingriffe in mentale Verfassung einer anderen Person strafbar sein
sollten. Gleichwohl sind diese Überlegungen auch für die ethische Überlegung rele-
vant, welche Einflüsse auf die Willensbildung als moralisch problematisch gelten

10
Bublitz, Jan Christoph/Merkel, Reinhard, Guilty Minds in Washed Brains? Manipulation
Cases and the Limits of Neuroscientific Excuses in Liberal Legal Orders. In: Vincent, Nicole
A. (Hrsg.), Neuroscience and Legal Responsibility. Oxford: Oxford University Press, 2013,
S. 348 ff.
11
Vgl. Bublitz, Jan Christoph/Merkel, Reinhard, Guilty Minds in Washed Brains? Mani-
pulation Cases and the Limits of Neuroscientific Excuses in Liberal Legal Orders. In: Vincent,
Nicole A. (Hrsg.), Neuroscience and Legal Responsibility. Oxford: Oxford University Press,
2013, S. 354.
Manipulation und mentale Selbstbestimmung 1495

sollten. Die zentrale Unterscheidung für Merkel ist diejenige zwischen direkten und
indirekten Einflüssen:
„Roughly one could say that indirect interventions are inputs into the cognitive machinery
our minds are adapted to process, whereas direct interventions change the cognitive machi-
nery itself“.12

Direkte Interventionen in die Willensbildung sind demnach solche, die auf psy-
chologische Mechanismen selbst einwirken. So können durch Verabreichung von
Substanzen, durch Gestaltung der Umgebung oder durch Einwirkung auf den Denk-
apparat die psychologischen Fähigkeiten einer Person, ihren eigenen Willen zu bil-
den, erheblich gestört oder gar unterbunden werden.
„[W]orrisome interventions are those that reduce or impair cognitive capacities (e. g. me-
mory, concentration, willpower), alter preferences, beliefs and behavioral dispositions
(e. g. implanting false or erasing true memories, creating addictions), elicit inappropriate
emotions (e. g. artificially induced appetite) or clinically identifiable mental injuries“.13

Indirekte Interventionen sind solche, die von der betroffenen Person durch norma-
le mentale Prozesse verarbeitet werden können. Sie erlauben daher üblicherweise in-
dividuelle mentale Selbstbestimmung. Eine Beleidigung, aber auch die Hervorhe-
bung besonderer Vorteile einer bestimmten Option sind Beispiele solcher indirekten
Interventionen auf die Willensbildung, die von der betroffenen Person in üblicher
Weise verarbeitet werden können. Sie stellen daher keine manipulativen Eingriffe
dar.
Sicherlich gäbe es auch hier weiteren Klärungsbedarf. Beispielsweise könnte man
fragen, ob die Einflussnahme durch Werbung, etwa die Assoziation bestimmter Pro-
dukte mit sexueller Attraktion, eine Form der direkten Intervention darstellt. Wir
können uns etwa vorstellen, dass Produkte mit Moschusduft getränkt werden, um se-
xuelle Reize bei potentiellen Käufern auszulösen. Hierbei würde es sich Merkel zu-
folge dann wohl um einen direkten (potentiell illegitimen) Eingriff in die Willensbil-
dung handeln. Auf der anderen Seite scheint der Kontext der Bewerbung von Produk-
ten – mit welchen Mitteln auch immer – zumindest für kompetente Käufer relativ
offensichtlich und leicht zu navigieren. Insofern wäre fraglich, ob diese Formen
der Einflussnahme tatsächlich die psychologischen Mechanismen direkt betreffen
beziehungsweise ob sie wirklich problematisch sind.
Ein weiteres Problem für Merkels Kategorisierung scheint die Kausalkette zu
sein, die Entscheidungen jeweils zugrunde liegt. Beispielsweise können Menschen
durch Informationsüberfluss von wesentlichen Gesichtspunkten einer Entschei-

12
Bublitz, Jan Christoph/Merkel, Reinhard, Crimes Against Minds: On Mental Manipula-
tions, Harms and a Human Right to Mental Self-Determination. Criminal Law and Philosophy,
2014, 8: S. 70.
13
Bublitz, Jan Christoph/Merkel, Reinhard, Crimes Against Minds: On Mental Manipula-
tions, Harms and a Human Right to Mental Self-Determination. Criminal Law and Philosophy,
2014, 8: S. 68.
1496 Thomas Schramme

dungssituation abgelenkt werden. Der Informationsüberfluss, zumindest wo er ein


geplantes Manöver zur Willensbeeinflussung darstellt, kann Menschen dazu bringen,
sich für etwas zu entscheiden, dass sie nicht gewollt hätten, wären sie nicht mit zu viel
nebensächlicher Information überschüttet worden. Aber wie soll man feststellen,
dass die Intervention kausal entscheidend für die letztlich getroffene Entscheidung
war? Auch wenn man rechtlich gesehen natürlich sagen kann, dass auch die versuch-
te, nicht erfolgreiche Manipulation gleichwohl strafbar sein sollte, wird man sich
schwertun, die uns hier interessierende Frage zu beantworten, ob der Wille eines
Menschen durch eine Intervention anderer von ihm entfremdet wurde oder er sich
einfach „aus sich heraus“ dafür entscheiden hat.
Allgemeiner gesprochen scheint mir fraglich, ob die Unterscheidung von direkten
und indirekten Interventionen tatsächlich die normative Signifikanz besitzt, die Mer-
kel unterstellt. Es ist sicherlich korrekt, dass Einflussnahme auf die Willensbildung,
wo sie rationale Mechanismen nicht tangiert – also in Merkels Terminologie indirekt
bleibt – meist unproblematisch ist, aber warum sollten direkte Interventionen unter
Generalverdacht stehen? Die direkten Interventionen tangieren psychische Mecha-
nismen, etwa der Informationsverarbeitung. Aber es scheint nicht ausgemacht, dass
diese zu unterminieren als solches problematisch ist. Vielmehr scheinen wir das tag-
täglich zu erleben: Menschen gestalten beispielsweise ihr Aussehen und die Umge-
bung, um anderen zu gefallen. Dabei versuchen sie ausdrücklich, die üblichen Me-
chanismen der Überlegung auszuhebeln. Wir gehen beispielsweise nicht zu einem
Rendezvous mit einer Liste unserer vorteilhaften Eigenschaften, die der andere er-
wägen könnte. Nun könnte man einfügen, dass der beispielhaft genannte Kontext
speziell sei und „in der Liebe alles erlaubt“ sei. Doch können wir viele weitere
Arten von Situationen nennen, in denen direkte Einflüsse auf psychische Mechanis-
men üblich sind: In Vorlesungen benutzen Vortragende versteckte emotionale Hin-
weise, um den Lernerfolg zu erhöhen; das jüngst in Mode gekommene Schubsen
(nudging) versucht ebenfalls, unbewusste Mechanismen wie etwa Entscheidungsten-
denzen (biases) oder hyperbolisches Diskontieren auszunutzen (bei dem Menschen
psychologischen Mechanismen unterworfen sind, die zu inkonsistenten Bewertun-
gen von Handlungsalternativen führen).
Mir scheint die Direktheit der Intervention bestenfalls ein notwendiges Kriterium
der normativen Fragwürdigkeit zu sein. Wesentliches Kriterium einer normativ pro-
blematischen Manipulation ist vielmehr der Versuch, die Entscheidung einer anderen
Person zu kontrollieren bzw. zu usurpieren.14 Manipulation involviert eine Missach-
tung Anderer in ihrer Eigenschaft als handelnde (und mental selbstbestimmte) Per-
sonen.15

14
Noggle, Robert, Manipulative Actions: A Conceptual and Moral Analysis. American
Philosophical Quarterly, 1996. Vol. 33, No. 1, S. 43 – 55.
15
Baron, Marcia, The Mens Rea and Moral Status of Manipulation. In: Christian Coons/
Michael Weber (Hrsg.), Manipulation: Theory and Practice. Oxford University Press, 2014,
S. 98 – 120.
Manipulation und mentale Selbstbestimmung 1497

Ein solches alternatives Verständnis erlaubt es, problematische Einflüsse auf die
Willensbildung zu identifizieren, die nach Merkels Kategorisierung indirekt sind, da
sie durch normale kognitive Mechanismen verarbeitet werden können. Beispielswei-
se können Formen der emotionalen Erpressung, etwa in Form einer beleidigten Re-
aktion eines engen Freundes, einen enorm starken Einfluss auf die Willensbildung
hervorbringen.16 Wo Menschen entsprechend dazu gebracht werden, sich anders
zu entscheiden, als sie sich ohne diesen Einfluss entschieden hätten, liegt es nahe,
von einer Manipulation auszugehen – und damit von einer zumindest prima facie
normativ problematischen Intervention. Wie wir gleich sehen werden, kann aber
auch diese Beschreibung nicht hinreichend sein, um das normative Problem heraus-
zuarbeiten. Gleichwohl können wir aus dem bisher Gesagten zusammenfassend fest-
halten, dass der Aspekt der Willenssteuerung und die damit einhergehende Missach-
tung der Entscheidungsfähigkeit einer anderen Person maßgeblich für das Vorliegen
von Manipulation ist.
Viele Entscheidungen, die wir treffen, sind durch Manipulationen beeinflusst und
möglicherweise sogar durch sie ausgelöst worden. Gleichwohl müssen solche Um-
stände nicht in jedem Fall Eingriffe in die mentale Selbstbestimmung darstellen. Bis-
weilen mag das daran liegen, dass unsere Entscheidungen einfach zu unbedeutend in
unserem Lebenszusammenhang sind, als dass wir ihnen große Bedeutung zumessen
würden. So mag es beispielsweise sein, dass eine Person keine schwarze Kleidung
kauft, weil sie seit ihrer Kindheit von ihrer Mutter indoktriniert wurde, dass Schwarz
die Farbe des Teufels sei. Aber nicht nur die mangelnde Bedeutung einer Entschei-
dung kann uns zweifeln lassen, ob eine Manipulation normativ relevant ist: Ebenso
wird man sich schwertun, eine Person als von ihrem Willen entfremdet anzusehen,
die aufgrund ihrer Erziehung eine Aversion gegen akademische Umgebungen hegt
und daher trotz sehr guter schulischer Leistungen nicht studieren will. Auch wenn
es sein könnte, dass diese Person sich ohne die Einflüsse anders entschieden hätte
(für einen schwarzen Pulli; für das Studium) scheint es zumindest nicht ausgemacht,
dass eine illegitime Beeinflussung des Willens vorliegt, die uns befürchten lässt, dass
die Person von ihrem Willen entfremdet wurde. Eine Manipulation muss insofern
nicht immer als moralisch problematisch angesehen werden und schon gar nicht
als rechtlich beachtlich.
Mir scheint, dass eine illegitime Manipulation üblicherweise nur dann vermutet
wird, wenn nicht bloß eine potentielle, sondern eine wirklich authentische Willens-
entscheidung unterstellt werden kann, die durch eine Intervention vereitelt wurde.
Nur in diesen Fällen wird üblicherweise von einer Entfremdung des eigenen Willens
durch Manipulation ausgegangen. In anderen Worten: Wir benötigen Hinweise, dass
die Person tatsächlich nicht so entscheidet, wie sie „eigentlich“ entschieden hätte.
Dieser dynamische Aspekt kann nun meines Erachtens in eine Theorie der men-
talen Selbstbestimmung eingearbeitet werden, indem man die Rede von einem Preis
16
Barnhill, Anne, What is Manipulation? In: Christian Coons/Michael Weber (Hrsg.),
Manipulation: Theory and Practice. Oxford University Press, 2014, S. 54.
1498 Thomas Schramme

einführt, den die Person zahlen muss, wenn sie einem bestimmten Entscheidungsweg
folgt. Üblicherweise wird der Preis darin bestehen, dass die Person etwas tut, das sie
eigentlich nicht tun will.17 Sie handelt gegen ihre stabile Disposition bzw. in untypi-
scher Weise – ein Phänomen, das in der englischen Sprache hilfreich als „out of cha-
racter“ bezeichnet wird. Dies ist zu unterscheiden von Situationen, in denen eine Per-
son neutral gegenüber einer Wahloption ist. Beispielsweise können Angebote Men-
schen dazu bringen, bestimmte Dinge zu tun, die sie sonst nicht getan hätten, die sie
aber gleichzeitig auch nicht nicht tun wollen; gegenüber denen sie also neutral sind.
Ein Preis kann allerdings durchaus auch in einem objektiven Nachteil bestehen,
der durch eine Entscheidung hervorgerufen wird und der nicht unbedingt als solcher
von der betreffenden Person wahrgenommen wird. Insofern können wir objektiv
nachteilhafte Entscheidungen, wie die oben beispielhaft erwähnte Entscheidung
einer Person, die trotz sehr guter schulischer Leistungen nicht studieren will, weil
sie von ihrer Familie anderweitig beeinflusst wurde, durchaus in die Nähe von inau-
thentischen Willensbekundungen stellen. Normativ relevant sind solche Formen der
Interventionen, weil wichtige Lebensoptionen, die mit signifikanten Vorteilen ein-
hergehen können, nicht durch Einflüsse auf die Willensbildung verschlossen werden
sollten. Dies kann auch gelten, wenn die Person gar nicht von ihrem eigentlichen Wil-
len entfremdet wird, da sie nie einschlägige Wünsche ausgebildet hat.
Die Tatsache, dass jemand einen Preis bezahlt, ist allerdings in normativer Hin-
sicht nicht hinreichend, um eine Intervention in Frage zu stellen. Schließlich können
ökonomische Anreize Menschen dazu bringen, beispielsweise schwere und gefähr-
liche Tätigkeiten auszuführen. Unerwünschte Arbeit gegen Bezahlung ist nicht das
Ergebnis einer Manipulation des Willens, obwohl man in manchen Situationen si-
cherlich den – uns allerdings hier nicht interessierenden – Aspekt der Ausbeutung
diskutieren könnte. Zu dem zu zahlenden Preis muss der Aspekt treten, dass die Be-
reitschaft dazu auf Seiten der betroffenen Person nicht durch einen Vorteil erklärt
werden kann, sondern durch eine beabsichtigte Beeinflussung mit dem Ziel der Ver-
änderung des Willens hervorgerufen wird, die für die betroffene Person als solche
nicht von Vorteil ist. Auch hier kann man wieder die Usurpation der Willensbildung
als eingängige allgemeine Beschreibung des normativen Problems anbringen.
Der von mir eingeführte Aspekt der Entfremdung vom eigentlichen Willen einer
Person liegt quer zur Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Einflüssen
auf die Willensbildung, die Merkel in erster Linie diskutiert. Der Entfremdungsas-
pekt kann nur über einen gewissen zeitlichen Horizont hinweg festgestellt werden,
wohingegen die Frage, ob eine direkte oder indirekte Einflussnahme auf den Willen
einer Person vorliegt, zu jedem individuellen Zeitpunkt beantwortet werden kann.
Zugegeben, für den rechtlichen Kontext scheint Merkels Modell besser geeignet.
Doch wenn wir an den grundlegenden normativen Fragestellungen der Manipulation

17
Schramme, Thomas, Paternalismus, Zwang und Manipulation in der Psychiatrie. In:
Johann S. Ach (Hrsg.), Grenzen der Selbstbestimmung in der Medizin, 2013, S. 263 – 281.
Manipulation und mentale Selbstbestimmung 1499

interessiert sind, dann kommen wir wohl an dem komplexen Aspekt der diachronen
Willenssteuerung zur Usurpation der personalen Entscheidungsfindung nicht vorbei.
Reinhard Merkels Veröffentlichungen zur Frage der ethischen und rechtlichen
Bewertung von Manipulationen sind wegweisende Beiträge zu einem unterbelichte-
ten philosophischen Problem mit erheblicher praktischer Bedeutung. Auch wenn ich
hier seinen Vorschlägen nicht immer gefolgt bin, so gilt doch – wie sonst auch –, dass
die Lektüre seiner Schriften zu größerer Klarheit und Verständnis geführt und mein
eigenes Nachdenken inspiriert hat. Insofern bleibt abschließend zu hoffen, dass Mer-
kel weiterhin zu den Themen der Manipulation und mentalen Selbstbestimmung ar-
beiten wird.
.
No Matter, Never Mind:
The Bodily Basis of Mental Integrity
By Ingmar Persson and Julian Savulescu

I, Julian Savulescu, have had the privilege to engage with Reinhard Merkel for
over a decade. He is one of the major thinkers on bioethics of our time. I remember
we had a vigorous discussion by the sea in San Diego after a conference. Whatever
objections I posed to there being a distinction, Reinhard compellingly responded. I
discovered that Reinhard’s habilitation concerned this topic but was published un-
fortunately only in German. I invited him to submit a Feature Article on this for
the Journal of Medical Ethics. I was Editor at the time. This appeared as “Killing
or letting die? Proposal of a (somewhat) new answer to a perennial question”.1
This brought his scholarship on killing to the English speaking world, to our benefit.
However, even great minds can sometimes reasonably disagree, as I wish to show
with my co-author, Ingmar.
In Crimes against Minds: On Mental Manipulations, Harms and a Human Right
to Mental Self-Determination,2 Christoph Bublitz and Reinhard Merkel argue that, in
general, our minds are not as well protected by the law as are our bodies and, more
specifically, that there are
two types of negative interferences with the mental sphere which are neglected in legal
thinking: infliction of mental injury – i. e. pain, disorder, impairment of mental health –
and mental manipulations – i. e. influences on preferences and choice. (2014: 52).

While “legal systems have developed detailed rules of permissible conduct with
bodies”, rules of permissible conduct with respect to the minds of others “are hard to
find and strikingly underdeveloped” (2014:52). This is worrying, they argue, because
contemporary and future “neurointerventions targeting mental phenomena cannot be
adequately captured by legal protection of bodily integrity” (2014:53). They believe
that the explanation of this discrepancy or asymmetry between bodily and mental
legal protection is the following:
Bodies have clearly defined boundaries in space, interferences with and infringements upon
which can be outlawed without restricting other people’s reasonably defined liberties,

1
Reinhard Merkel, Killing or letting die? Proposal of a (somewhat) new answer to a
perennial question. Journal of Medical Ethics 2016; 42:353 – 360.
2
Christoph Bublitz/Reinhard Merkel, Crimes Against Minds: On Mental Manipulations,
Harms and a Human Right to Mental Self-Determination, Criminal Law and Philosophy,
2014, 8: 51 – 77. All following quotes are from this paper.
1502 Ingmar Persson and Julian Savulescu

whereas mental sufferings often arise in response to social interactions. A general norm stip-
ulating that “infliction of severe mental injuries shall be punished” would potentially inter-
fere with a host of mundane actions of others, exemplifying, as it were, social normality.
(2014: 56)

To remedy this lack of mental protection without infringing the liberties of others,
they “propose a normative dualism of interventions. Prima facie, indirect interven-
tions are permissible, direct ones not” (2014: 73). The distinction between direct and
indirect interventions is explicated as follows:
Direct interventions are those working directly on the brain (e. g. DBS [direct brain stimu-
lation], psychoactive substances) whereas indirect interventions are somehow more
remote – mediated, as it were, by internal processes on the part of the addressee. Tentatively,
indirect (or external) interventions are those stimuli which are perceived sensually (i. e.
heard, seen, smelled, felt, even if not apprehended or reflected upon consciously) and
pass through the mind of the person, being processed by a host of psychological mecha-
nisms. (2014: 69)

Their rationale for urging the legal importance of this distinction is that we have
more control over indirect intervention:
Persons have most control over interventions whose sensual substrates they perceive, par-
ticularly those rising to the level of conscious awareness. We can think about what we see
and hear, we can modify and process it. And we can attribute experienced inner emotional
changes to their cause – the perception. Control is reduced when stimuli are subconsciously
processed (subliminal stimuli). Still, persons have more control over those than over direct
interventions. (2014: 69)
Therefore, stimuli working their way through conscious awareness are more controllable,
whereas subconsciously processed stimuli are less controllable. Direct interventions, by
contrast, are qualitatively different, presumably bypassing these psychological (not neces-
sarily rational) processes altogether. Roughly one could say that indirect interventions are
inputs into the cognitive machinery our minds are adapted to process, whereas direct inter-
ventions change the cognitive machinery itself. (2014: 70)

We doubt that there is any significant difference between direct and indirect in-
terventions in respect of control. Bublitz and Merkel themselves are aware of how
limited our control over our mental processes generally is:
We can neither concentrate as strongly as we wish, nor remember all we should. On occa-
sion, we cannot tame our emotions nor avoid hating, liking or loving someone else, even if it
runs counter to our well-understood interests. We find it hard, sometimes impossible, to
overcome behavioral dispositions or cease habits. We cannot alter our preferences by efforts
of will, and, perhaps most remarkably, we cannot change our beliefs by wanting to believe
differently … At times, we have problems motivating ourselves to do what we should. Our
behavior is often biased and predictably irrational. We find ourselves in an incessant stream
of consciousness in which phenomena appear and fade away without any conscious com-
mand. Even willingly halting the wandering of the mind takes a long time of meditative prac-
tice. (2014: 65)
No Matter, Never Mind: The Bodily Basis of Mental Integrity 1503

To bring out the problems of upholding a distinction between direct and indirect
intervention by reference to a general difference as regards control, consider percep-
tion and the beliefs, emotions and desires that it directly determines. We have control
over what we perceive only indirectly to the extent that we have control over our lo-
cation and over certain parts of our bodies, like our eyes. However, what we see and
hear when we are in a certain place and keep our eyes open and ears unplugged is not
under our control, but normally determined by what there is to be seen and heard. Our
beliefs about our surroundings are in turn determined by what we perceive and, thus,
are beyond our control: if we see something red flowing where we came in contact
with a sharp object, we cannot help believing it is red. Similarly, if the sight of this
makes us afraid, and if we desire that the pain we are feeling should stop, this is some-
thing we cannot avoid.
Now suppose that the visual impressions of being cut and bleeding, and the sen-
sation of pain, were not produced by your actually being cut, but by electrodes im-
planted in your brain by some clever neuroscientists. If such a direct intervention with
your brain were to occur, you would certainly not control your visual impressions and
the sensation of pain, but you do not exercise more control if they are caused by an
actual cut. Moreover, the “cognitive machinery” of your mind which produces be-
liefs, emotions and desires on the basis of the perceptual or sensory input might
be the same irrespective of whether the cause of the input is a cut or electrodes stim-
ulating your brain. Therefore, we do not understand how the distinction between di-
rect and indirect intervention with our brains could be based on a difference in our
control over the resulting mental processes, or whether they are such that the “ma-
chinery” of our minds is adapted to process them, or it has been changed.
Instead, we propose that the importance of the distinction is due to the fact that in
the case of direct intervention, there is a penetration of “protective shell” of your body
in the form of electrodes being implanted in your brain. This is impermissible without
your consent. In English law, it is a crime of battery punishable with imprisonment.
Likewise, it is impermissible without your consent to restrict your freedom of bodily
movement which is normally necessary in order to implant electrodes in your brain.
Bublitz and Merkel give the example of a person who is receiving DBS for the
treatment of depression but scientists modify the stimulation to change other aspects
of mood in an experiment without the person’s knowledge. Such a person may have
consented to the insertion of the DBS and so no battery occurred. However, the un-
witting subject did not consent to the insertion of the DBS machine for those purposes
so his consent is invalid. In this case, existing law relating duty of care and negligence
is sufficient to cover the unethical action.
To be sure, when other people affect our mental processes by their behaviour being
perceived by us – a form of indirect intervention – a penetration of our bodily boun-
daries also occurs: lightwaves reflected by their bodily surfaces enter our pupils,
soundwaves from their vocal chords enter our ears, and so on. But this is not a pen-
etration of anything which is alien to the normal function of bodily organs; it rather
1504 Ingmar Persson and Julian Savulescu

enables them to serve the function for which they are designed, as oxygen enables our
lungs to perform their function. When in less customary circumstances very strong
light- or soundwaves reach our eyes and ears, they might harm and hurt our senses,
and then there is a case for legally prohibiting the production of such light and sound.
These reflections lead to a proposal along the following lines: it is a necessary
condition for an intervention with our minds to which we have not consented to vio-
late a right of ours that it is produced by either: (1) a penetration of the boundaries of
our bodies, to which we have rights, by means which are harmful and/or alien to their
normal functioning; or (2) restriction of the freedom of bodily movement that we
share with other people. In other words, contrary to Bublitz and Merkel, we do
not think that we possess a right to the protection of our minds, to mental integrity,
which is independent of our rights to bodily integrity. As we shall soon try to show, a
right to mental integrity that is independent of our rights to bodily integrity would
clash with the rights of bodily integrity of other people. Nonetheless, the magnitude
of the wrongness of an intervention with our minds produced by an infringement of
our bodily rights is a function not only of the magnitude of the (possible) bodily harm,
but also of the harmful effect on our minds. An invasion of our bodies by something
alien to it may be impermissible simply in virtue of its harmful effect on our minds,
since it may have no harmful effect on our bodies.
The examples Bublitz and Merkel provide of interventions with our minds that
they regard as plausible candidates for legal prohibition almost all involve the inva-
sion of our bodies by something alien to their functioning, for the most part drugs, but
also transcranial magnetic stimulation and implantation of a deep brain stimulator
(2014: 58 – 9). These are covered by existing law: unconsented to “touching” is bat-
tery. So, our proposal has no difficulty explaining why these kinds of intervention
could justify prohibition. However, one of their cases features intervention by
means of subliminal perception, and this is a type of intervention that is not illegit-
imate according to our proposal, since it is not a means that harms or introduces for-
eign elements into our bodies. Bublitz and Merkel regard it as something of border-
line case, but seem to lean more towards the view that it is illegitimate (2014: 72).
We think they are right to be doubtful because subliminal perception is an ingre-
dient in everyday communication. In a well-known psychological experiment, sub-
jects are shown two photos of the face of a woman which are identical save that her
pupils are dilated in one photo. The face with the dilated pupils generally strikes the
subjects as friendlier, but they do not know why. They subliminally perceive the di-
lated pupils. Suppose that when some people argue for views that are dear to them,
they get enthusiastic with the result that their pupils dilate. Suppose also that this tips
many listeners to endorse their views. Surely, the fact that many listeners are swayed
by subliminal perception of the speakers’ pupils cannot justify that the latter be re-
quired not to look their listeners in the eye, or wear sunglasses, when they argue their
cases. As Bublitz and Merkel remind us, “it must be borne in mind that protecting the
rights of one always curbs the liberty of others; outlawing interventions restricts lib-
No Matter, Never Mind: The Bodily Basis of Mental Integrity 1505

erties of interveners” (2014: 68). If this is so, it might seem that the speakers should
also not be required to abstain from showing films with subliminal features (though a
reason for rejecting this inference will emerge later).
The general reason why there cannot be a right to mental integrity that stands by
itself without being propped up by our rights to our bodies is that, unlike our bodies,
our minds do not have any clear boundaries which could non-arbitrarily limit the lib-
erties of others. There does not appear to be any change of our mental state so great
that it cannot be affected by behaviour which others incontestably have a right to en-
gage in. This is because, by nature, we might be hyper-sensitive to the influence of
some people, or they might have super-powers of influencing us. This is essentially
the point Bublitz and Merkel recognize when in a passage already quoted they write:
“A general norm stipulating that ‘infliction of severe mental injuries shall be punish-
ed’ would potentially interfere with a host of mundane actions of others, exemplify-
ing, as it were, social normality” (2014: 56).
Imagine that, by nature, you are very strongly susceptible to our influence. Thus, if
we simply tell you what our views are on different matters, you straightway adopt the
same views; if you see how we are dressed, you will buy the same sort of clothes, and
so on. You will be led to conform to our attitudes and conduct, even though this may
be harmful for you. This certainly does not mean that we could legitimately be for-
bidden to tell you what are views are, to show you how we dress, etc., for we are at
liberty to behave in these ways as is everyone else who may not be in the same posi-
tion to exercise influence.
Imagine instead that, by nature, you are not particularly disposed to be influenced
by us, but that without your consent we regularly supply you with a drug that induces
this disposition in you, so you become just as easily influenceable by us as you were
imagined to be by nature in the foregoing paragraph. Then there is good reason to
declare that we should not be permitted to feed you surreptitiously with this drug.
But the reason is not that your mind will then be too much under our influence,
for the influence we exercise here is not greater than it was imagined to be in the pre-
vious paragraph; the reason is that your bodily integrity is violated by foreign sub-
stances entering your body without your consent.
What if means were invented that could affect the minds of people at a distance,
without entering into their bodies or having to be applied to their bodies by proce-
dures that restrict their freedom of movement, e. g. an apparatus that non-harmfully
affect the electrical activity of a brain at a distance? If the use of such an apparatus
were to have a powerful negative effect on the mind of others, the use of it may le-
gitimately be prohibited. But that this sort of intervention is impermissible does not
imply that people have a right to be protected from being subjected to this kind of
effect, for others may be equipped with natural capacities the exercise of which in
the course of everyday social interaction produces precisely the same effect, and
they have a right to this exercise of their capacities.
1506 Ingmar Persson and Julian Savulescu

However, this does not mean that people who lack these natural capacities have a
right to amplify or extend the power of their insufficient capacities by artificial
means. To see this, compare with the following situation: a seller who is smarter
than another has a right or permission to drive the second to the brink of bankruptcy,
though this harms the second seller. It follows that the second seller does not possess a
right to be protected from this harm. But this does not mean that a less well-endowed
seller has a right to the use of any available artificial means in order to enhance his
capacity to drive competitors to ruin. (This point may also be relevant to earlier ex-
ample of the use of films and other devices which exploit subliminal perception.)
Or consider a more mundane example. A beautiful woman is allowed to use her
bewitching smile to make a man fall irresistibly and perhaps maniacly in love with
her. But she is not allowed to surreptiously slip him a love drug without consent which
has the same effect.
Thus, although we have argued that we have a right not to be subjected to certain
interventions with our minds, these are only those interventions that violate some
bodily right of ours. In addition, we think that other interventions with our minds
could be impermissible and punishable even though they do not violate any bodily
right of ours, simply in virtue of their harmful effect on our minds. Such harmful ef-
fects are also parts of what determine the degree of wrongness of mental interventions
that do violate bodily rights, along with their bodily harmfulness. For example, vio-
lent pornography might be banned just in virtue of the harm it causes to the viewer,
and to others, and not because of any violation of the right to mental self-determina-
tion or mental integrity.
Subliminal advertising or messaging is similar. It might undermine autonomy, like
religious indoctrination, or harm the individual, like pornography. Respect for au-
tonomy and well-being are good grounds for laws. We do not need to posit some
new right to mental self-determination or integrity.
Most of Bublitz and Merkel’s problematic cases in fact involve straightforward
unconsented to bodily invasion and are covered by standard law including the
crime of battery. The indirect forms of mental influence do raise different issues,
which they do not address and anyway do not ground a new right of mental self-de-
termination. Harm includes psychological harm and the injunction to prevent harm is
a sufficient ground to deal with these problematic cases.
Nudge, Nudge, Wink, Wink:
Nudging is Giving Reasons1
By Neil Levy

Abstract: Nudges are, roughly, ways of tweaking the context in which agents choose in order
to bring them to make choices that are in their own interests. Nudges are controversial: oppo-
nents argue that because they bypass our reasoning processes, they threaten our autonomy. Pro-
ponents respond that nudging, and therefore this bypassing, is inevitable and pervasive: if we do
not nudge ourselves in our own interests, the same bypassing processes will tend to work to our
detriment. In this paper, I argue that we should reject the premise common to opponents and
proponents: that nudging bypasses our reasoning processes. Rather, well designed nudges pres-
ent reasons to mechanisms designed to respond to reasons of just that kind. In this light, it is
refusing to nudge that threatens our autonomy, by refusing to give us good reasons for action.
Roughly, a nudge is a way of influencing people to act that works by changing
aspects of the “choice architecture”2 – the context in which agents choose – rather
than by giving them explicit reasons, changing their incentives, or removing options.
Nudges work by taking advantage of predictable dispositions of human beings to
make decisions in ways that are influenced by (apparently) irrelevant features of
the environment in which they find themselves. As a framework for public policy,
nudges usually aim to solve widespread failures of individuals to act in their own
best interests. There are many examples of such failures: for instance, very many peo-
ple fail to save enough money for a comfortable (or even an adequate) retirement.
They may do so despite judging that they ought to save more. There is evidence
that they may be nudged to save much more. For example, changing the defaults
on the superannuation policies they sign up to on taking up employment changes
the savings rate, because people tend to accept the default.3 Increase the default
rate of savings, and people tend to save more. For those who are already in a job,
savings rates can be increased in a different way. People are reluctant to see a
drop in their take home salaries, and therefore reluctant to increase the percentage
of their current pay sequestered in a retirement savings plan. But they are willing
to sign up to a program that will see a higher proportion of future salary sequestered,

1
This paper first appeared, in slightly modified form, in Ergo: An Open Access Journal of
Philosophy 6/2019. I am grateful to the Australian Research Council and the Wellcome Trust
(grant WT104848/Z/14/Z) for their generous support of this research.
2
Thaler/Sunstein (2008). Nudge: Improving Decisions about Health, Wealth and Happi-
ness, New Haven, CT: Yale University Press, S. 6.
3
See for a review: Smith/Goldstein/Johnson (2013). Choice without awareness: Ethical
and policy implications of Default. Journal of Public Policy & Marketing 32, 159 – 172.
1508 Neil Levy

if it is triggered by a raise in their pay, so that they don’t see a drop in their take home
pay.4
Nudges seem to have the potential to improve health and welfare by improving
decision-making and behavior. But many people – philosophers, psychologists,
economists and legal scholars – have expressed a great deal of anxiety about nudges.
Central to these anxieties are concerns that have been forcefully and persuasively ex-
pressed by our jubilarian.5 Thaler and Sunstein call their policy framework libertar-
ian paternalism. It is, they concede, paternalistic, because it manipulates people in
their own best interests. Paternalism requires justification, when it is aimed at the be-
havior of competent adults. It is, however, libertarian because it doesn’t close off any
options. If you want to reject the default retirement option, you have only to say so
(you are provided with an opportunity to do so when you sign up to the plan). It
doesn’t even burden any options (they claim): there are no penalties for choosing
a different option. These facts have failed to reassure many critics, like our jubilarian.
While the critics accept that nudges are not coercive, the critics allege that they are
nevertheless manipulative. When our capacities for reasoning are bypassed, as nudg-
es are supposed to, our autonomy as agents is threatened.6
As John Doris has recently implied, the worry on which the critics fasten is much
more general than they themselves seem to recognise.7 While there may be special
concerns that arise from nudges, the worry that our behavior is significantly influ-
enced by seemingly irrelevant features of the environment, in ways that bypass our
reasoning processes and thereby threaten our autonomy, is absolutely pervasive.
All that nudging adds to the picture is intentional bypassing. Indeed, that fact is
central to Thaler and Sunstein’s reply to the manipulation concern: since such in-
fluences are pervasive, and therefore our capacity to reason is bypassed all the time,
why worry about one more such influence? Since we are going to be nudged wheth-
er anyone nudges us or not, why not put nudges to good use and increase our wel-
fare?
Reinhard Merkel has repeatedly warned against what he sees as control-bypassing
mind- or neurointerventions; he even called for introduction of a criminal offence.8

4
Thaler/Benartzi (2004). Save more tomorrow: Using behavioral economics to increase
employee saving. Journal of Public Economy 112, 164 – 187.
5
For instance: Bublitz/Merkel (2014). Crimes against minds: On mental manipulations,
harms and a human right to a mental self-determination. Criminal Law & Philosophy 8, 51 –
77.
6
See, for instance: Bovens (2009). The ethics of nudge. Modelling Preference Change:
Perspectives from Economics, Psychology and Philosophy, ed. Grüne-Yanoff/Hansson; Wil-
kinson (2013). Nudging and political manipulation. Political Studies 61, 341 – 355.
7
Doris (2018). Precis of: Talking to Our Selves: Reflection, Ignorance, and Agency. Be-
havioral and Brain Sciences 41, 1 – 12.
8
Bublitz/Merkel (2011). Autonomy and Authenticity of enhanced personality traits. Bio-
ethics 23, 51 – 77; Bublitz/Merkel (Fn. 5).
Nudge, Nudge, Wink, Wink: Nudging is Giving Reasons 1509

Elsewhere, I have tackled his arguments directly. In this paper,9 I will argue that the
concerns about bypassing of reasoning, and therefore about threats to our autonomy,
are misplaced. Whether you accept my responses to our jubilarian or not, I will claim
that nudging (at least) doesn’t bypass our capacity to reason. When they are effective
in changing behavior, manipulations of the context of choice typically (though per-
haps not invariably) work by giving us reasons. These reasons may not be consciously
recognized or responded to by agents, but they are reasons nevertheless, and it is in
virtue of being reasons that they alter behavior. The mechanisms that respond to
nudges are reasoning mechanisms, and in most cases, at least, nudges no more bypass
reasoning than do philosophical arguments.10
I don’t have an account of the nature of reasoning in hand, but it may be useful to
say a few words about what I think it takes for a mechanism to constitute a reasoning
system. I take the link between ‘reasons’ and ‘reasoning’ seriously: a reasoning
mechanism is one that has the proper function of responding appropriately to reasons.
A reason, in turn, is a consideration in favour of (or against) a particular response or a
particular doxastic state. To respond appropriately to a reason is to be better or worse
disposed toward an action, or to raise or lower one’s credence, in a way that reflects
the actual force of the reason. Thus, a reasoning mechanism is one that has the proper
function of responding to reasons by appropriately changing dispositions or cre-
dence.11 I will argue that the mechanisms addressed by nudges have this function.
Moreover, when they are nudged (appropriately), they actually play this role.

I. Nudges and Bypassing


The debate over nudges and the way in which they allegedly bypass our reasoning
is familiar.12 Rather than rehearse it here, I will illustrate the threat they represent to
our autonomy by reference to John Doris’s recent work. In Talking to Ourselves,

9
Forthcoming: Levy. Defending Parity. In: Vincent/Nadelhoffer/McCay (ed.). Neuro-In-
terventions and the Law: Regulating Human Mental Capacity. Oxford University Press.
10
In what follows, I will not be very careful in my use of words like “mechanism” (and
“process”, which I will use more or less synonymously). Introducing greater precision in the
terminology would require taking a stance on some controversial issues regarding mechanism
individuation. It would also introduce some potentially distracting complications: I would bet
that the “mechanisms” to which my loose use of the word refers are sometimes identical to a
relatively discrete mental process, and sometimes supervene on a set of such processes. Some
“mechanisms” may be cobbled together more or less on the fly. Because I don’t think anything
important for the discussion here turns on this issue, I prefer to avoid the issue.
11
For accounts of “reasons” and “reasoning” in this spirit, see: Sturgeon (1994). Good
Reasoning and Cognitive Architecture. Mind and Language 9, 88 – 101; Hieronymi (2003).
The Wrong Kind of Reason. Journal of Philosophy 102, 437 – 457; Way (2017). Reason as
Premises of Good Reasoning. Pacific Philosophical Quarterly 98, 251 – 270.
12
See Saghai for an overview: Saghai (2013). Salvaging the concept of nudge. Journal of
Medical Ethics 39, 487 – 493.
1510 Neil Levy

Doris describes a number of different manipulations or features of the (mainly social)


environment in which agents find themselves that cause them to act in predictable
ways, without them being conscious of the influence.13 Talking to Ourselves builds
on the earlier, and very influential, Lack of Character.14 The earlier book argued that
variance in behavior owes more to features of situations than to agents’ characters, a
fact that appears to threaten the Aristotelian program in ethics. The newer book is
concerned not with character, but with what Doris calls ‘agency’. Nevertheless,
the newer book develops themes from the older: The same kinds of features of con-
text that better predicted behavior than did agents’ characters serve as what Doris
calls defeaters of their agency. Agency, as understood by Doris, is manifested in ac-
tions that express people’s values. Doris argues that agency in this sense is defeated
when the facts that cause cognition or behavior would not be recognized as reasons by
the agent, were she to become aware of them.15 Such defeaters are common, and
therefore agency is pervasively at risk.
Doris provides many examples of such defeaters in Talking to Ourselves. Consid-
er, for illustration, ballot order effects (which serve as Doris’ major example in a
Brain and Behavioral Sciences target article).16 Candidates placed at the top of
the ballot in elections enjoy a small but significant advantage over candidates
lower down the order. In close elections, this advantage may be decisive. Why
does this defeat agency? The order in which candidates are listed is typically alpha-
betical or (in recognition of the existence of the effect) drawn by lot. In neither case
does the order in which candidates are listed tend to correlate with their quality. Since
being at the top of the ballot is not a reason in favour of voting for the candidate, and
would not be thought to be a reason were the agent to recognize its influence, being
influenced by ballot order is being influenced in a way that bypasses agency. In Aus-
tralia, political pundits take a particular ballot order effect into account in predicting
the outcome of an election: the Donkey Vote. Australia has compulsory voting, and
preferences must be expressed by numbering every candidate. Someone is a donkey
voter when they simply number the candidates from 1 to n, from top to bottom. The
donkey vote has been estimated to amount to 0.7 % of total votes, which is sufficient
to decide some electorates.17
As the name suggests, we don’t think of donkey voting as especially rational. No
doubt, donkey voting satisfies Doris’ test for being a defeater: donkey voters would
not accept candidate order as a reason for voting as they do if they were asked. Some
13
Doris (2015). Talking to Our Selves: Reflection, Ignorance, and Agency. Oxford Uni-
versity Press.
14
Doris (2002). Lack of Character: Personality and Moral Behavior. Cambridge University
Press.
15
Doris (2015) (Fn. 13).
16
Doris (2018) (Fn. 7).
17
Richardson (2010). What’s the donkey worth? Plenty, the ballot draw reveals. Crikey
August 2. https://www.crikey.com.au/2010/08/02/whats-the-donkey-worth-plenty-the-ballot-
draw-reveals/ [accessed November 28th, 2011].
Nudge, Nudge, Wink, Wink: Nudging is Giving Reasons 1511

of them would probably report, accurately, that ballot order guided their voting with-
out serving as a reason: they voted that way because it was easy, and they simply
didn’t care about the outcome (ballot order effects are much stronger for low infor-
mation voters),18 or as a protest against compulsory voting. Some would probably
confabulate a reason for voting as they did (no doubt, in Australian elections
some mixture of these different factors play a role, with some people choosing can-
didates at the top of the ballot because order effects lead to them being evaluated more
positively, and those lower down simply being numbered in the order they are listed
because the voter doesn’t have a preference between them).
The ballot order effect illustrates how the processes that are engaged by nudges
bypass genuine reasoning. When we prefer a candidate at the top of the ballot because
she is listed first we are guided by a fact that is not a genuine reason. Since order does
not correlate with quality, being guided by that fact is not being guided by reasons. A
mechanism that is responsive to candidate order therefore doesn’t seem to be a rea-
soning mechanism: it is not a mechanism that has the proper function of responding
appropriately to genuine considerations in favour of an action or adjusting a cre-
dence. Our reasoning is out of the picture.
On the view shared by Doris and both the opponents and proponents of nudging,
our agency (in Doris’ sense of that word) is constantly being bypassed in this kind of
way. Our agency is bypassed because our reflective processes, impressive as they are,
have severely limited capacities, and we are largely at the mercy of non-rational –
worse “deeply unintelligent” (50) – processes.19 Thaler and Sunstein make much
the same claim, saying that nudges take advantage of the fact that we are “somewhat
mindless, passive decision makers”.20 Nudges are addressed to parts of the mind that
are non-rational, bypassing genuine reasoning. That’s why they’re threatening: au-
tonomous agents govern themselves in the light of reasons (that’s why it’s not prob-
lematic to act paternalistically toward children: they don’t have the capacity to gov-
ern themselves appropriately, so we may permissibly substitute competent guidance
by an adult). Because autonomy depends on the capacity to respond to reasons, by-
passing our reasoning mechanisms entails subverting our autonomy.

II. The Dual Process View


A particular account of the nature of mental processes underlies both the worries
about autonomy expressed by opponents of nudges and the optimism of their advo-
cates. On this view (at least as it has traditionally been understood), intelligent infor-

18
Pasek et al. (2014). Prevalence and moderators of the candidate name-order effect evi-
dence from statewide general elections in California. Public Opinion Quarterly 78, 416 – 439.
19
Here Doris is quoting Stanovich (2004). Stanovich qualifies the phrase in a way Doris
does not: he says they are “in some sense deeply unintelligent” (39; emphasis added).
20
Thaler/Sunstein (2008) (Fn. 2).
1512 Neil Levy

mation processing is the domain of what are often called type two processes.21 Such
processes are slow, effortful (both in phenomenology and in requiring depletable cog-
nitive resources), at least typically conscious and flexible. So-called type one proc-
esses, on the other hand, are fast, effortless, typically nonconscious and inflexible.
The properties characteristic of each kind of process are thought to entail that the
former – which I will from now on refer to as reflective processes – alone are gen-
uinely intelligent.22
What makes it the case that unreflective processes and the mechanisms that under-
lie them are unintelligent? We may point to two different properties. First, they are
inflexible. Take, for example, our (alleged) hyperactive agency detection devices.23
Because agency is so important for us – because agents are crucial threats and oppor-
tunities for animals like us – we have mechanisms that are hypersensitive to cues in-
dicative of its presence. We are therefore disposed to see agents, and faces, in the
world at the (literal) drop of a hat. Even when we know the cue is not really indicative
of agency, the mechanism continues to dispose us to respond as if it were. More gen-
erally, these unreflective mechanisms are encapsulated: that is, they are insensitive to
information outside the narrow domain to which they are attuned.24 Reflective mech-
anisms, in contrast, are flexible with regard to input type: they may respond to any
reason at all. The lack of flexibility of unreflective mechanisms is manifested in their
firing in response to considerations that are not genuine reasons (like ballot order, or
minimal cues for agency). A genuine reasoning mechanism is one that responds ap-
propriately to the force of genuine reasons; for that, we require the domain-generality
that is possessed by reflective processing alone.
The second property of unreflective mechanisms that ensures that they are not in-
telligent is their lack of fit to contemporary environments. Take the first example of
irrational behavior mentioned at the beginning of this paper: undersaving for retire-
ment. Our tendency to value the near term and (hyperbolically) discount future re-
wards may be explained by a mismatch between the environment to which we are
evolutionarily adapted and our current environment. In the (so-called) environment

21
Kumar (2016) notes that recent work on implicit learning greatly complicates this pic-
ture. Some unreflective processes satisfy plausible criteria for being intelligent. The lessons he
thinks follow for the permissibility of nudges are important, and I will return to his view in
later sections.
22
The standard terminology divides human psychology into System One and System Two
(Kahneman, 2011), or Type One and Type Two. I avoid this terminology for two reasons. First,
the ‘System’ language suggests that the distinction is exclusive and exhaustive, picking out
natural kinds, whereas in fact there are a number of processes with some of the features of
each type (see Carruthers 2012 for discussion). Second, and more importantly, it ignores the
fact that reflective cognition is not dependent on a set of mechanisms distinct from unre-
flective. Rather, reflective cognition is realized by unreflective mechanisms interacting in
various ways, with this interaction sustained by attention.
23
Barret (2004). Why Would Anyone Believe in God? New York, NY: AltaMira Press.
24
Fodor (1983). The Modularity of Mind: An Essay on Faculty Psychology. Cambridge,
Mass: MIT Press.
Nudge, Nudge, Wink, Wink: Nudging is Giving Reasons 1513

of evolutionary adaptiveness – the Pleistocene environment in which our species


emerged – it was typically adaptive to consume resources more or less as soon as
they became available. Food couldn’t be preserved long, and access was unreliable;
hence resources forgone might be permanently lost. Today, however, many of us live
in environments in which food is cheap and abundant, and in which resources may be
stored indefinitely. In this environment, our evolved disposition toward immediate
consumption ill serves us. Again, contrast this mismatch with the properties of reflec-
tive mechanisms. Such mechanisms do not remain fixated on considerations that are
no longer reasoning giving. Instead, they are capable of updating, as the genuine
force of considerations changes. They alone seem to be genuine reasoning mecha-
nisms, responding appropriately to the reason giving force of considerations in favour
of actions or credences.
It is in the light of this dual process psychology that nudging is so controversial.
Because nudged agents are brought to act by processes that bypass their reasoning
mechanisms, their autonomy is undermined. When we nudge others, we do not man-
ifest the respect that is due to a rational agent. We manipulate them instead (albeit for
their own good). Advocates of nudges dissent from these worries only insofar as they
claim that we can’t realistically hope for better from ourselves. Because reflective
processes are an expensive and limited resource, we have to reconcile ourselves to
being nudged. Nudging is inevitable.25 If our agency is not bypassed by nudgers,
who ensures that our intuitive processes are triggered in ways that work in our inter-
ests, it will be bypassed in any case, and often in ways that harm us. This may occur
because we are manipulated by others who do not have our interests at heart (such as
those who manipulate us into buying produces we don’t need or into eating foods that
are unhealthy). If we are not intentionally manipulated, we will be nudged neverthe-
less, by chance features of our choice context. Unintentional nudges, too, will often
produce behavior contrary to our interests. There may be more ways to go wrong than
right in many domains, after all, so randomly distributed nudges will tend to be del-
eterious nudges. We will be nudged in any case; we might as well put nudging to our
advantage.26
25
Thaler/Sunstein (2008) (Fn. 2).
26
Kumar (2016) denies that nudging is inevitable, for two reasons. First, he claims that it is
not always true that if we are not nudged intentionally, we will be nudged anyway, because
nudging may introduce additional structural influences on choice. Second, he notes that the
value of autonomy is not consequentialist, and there is therefore a normative difference be-
tween intentional and unintended manipulation. I think both claims are mistaken. Even if it is
true that a nudge introduces novel structural constraints, it is plausibly true that in the absence
of the nudge, the agent would be (just as significantly) guided by features of the choice
architecture. These features might be of a different kind, but the inevitability of nudge claim
does not depend on sameness of kind of influence. From the fact (if it is a fact) that the value of
autonomy is non-consequentialist, it does not follow that threats to autonomy arise only or
even more seriously from intentional manipulation. If autonomous agents govern themselves
in the light of reasons, then agents whose reasoning is bypassed have their autonomy und-
ermined. Being governed by others is one way to lack autonomy; another is failing to govern
oneself.
1514 Neil Levy

Proponents of nudges agree with their critics that nudges take advantage of “deep-
ly unintelligent” mechanisms. For them, intelligence enters the picture at the only
point it can: in the design of the nudges. They argue that given the pervasiveness
of the kinds of processes that nudges target, and the limits of reflective processing,
the best we can hope for is a kind of indirect autonomy, through intelligent design of
the choice architecture.
I aim to show that both sides are wrong, and we can realistically hope for much
more. We can intelligently and directly self-govern despite the limitations of con-
scious deliberation. In fact, that is what we already do, though very imperfectly.
The proponents of nudges are right to think that behavior is inevitably governed
by intuitive processes, with reflection playing only a limited role. But they, and
their opponents, are wrong in thinking that this entails that it is governed by unintel-
ligent processes. Intelligence should not be identified with reflective processes alone.
They do not have a monopoly on it. Nor, for that matter, do intuitive processes have a
monopoly on unintelligence. Both intelligence and unintelligence are distributed
across information processing mechanisms.

III. Unreflective Intelligence


Reflective processing is required for the acquisition, and in many cases for the
implementation, of the kinds of cognition we regard as paradigmatically rational.
Formal and rule-based thought is the domain of such processes: mathematics, formal
logic, statistical reasoning all depend on effortfully acquired and (often, though not
always) effortfully implemented conscious use of explicitly representable symbols.
These are ‘unnatural’ ways of thinking, in McCauley’s sense of natural, where to be
natural is to be such as to be the expected outcome of cognitive maturation.27 Such
rational thought is indeed the domain of reflective cognition.
Perhaps because we tend to identify reasoning with such ‘unnatural’ activities as
science and mathematics, or because we tend to identify reasoning with conscious
processes, we are likely to overlook the extent to which automatic, uncontrolled
and/or unconscious processes are rational processes. Ironically, despite his opposi-
tion to what he calls reflectivism (which identifies agency with the products of con-
scious deliberation), and his explicit recognition that “the analytic/automatic distinc-
tion crosscuts the intelligent/unintelligent distinction”,28 Doris provides a neat illus-
tration of how powerful is the intuition that conscious deliberation is the province of
true reasoning. As mentioned above, Doris’ test for whether something constitutes a
defeater of rational agency explicitly makes our intuitions about reasoning decisive:
“when the causes of her cognition or behavior would not be recognized by the actor as

27
McCauley (2011). Why Religion is Natural and Science is not. New York: Oxford
University Press.
28
Doris (2018) (Fn. 2) S. 2.
Nudge, Nudge, Wink, Wink: Nudging is Giving Reasons 1515

reasons for that cognition or behavior, were she aware of these causes at the time of
performance, these causes are defeaters”.29 In doing so, he makes the conscious judg-
ments of naïve agents decisive. If the threat to agency consisted in a threat to our self-
conception alone, then such a test might be appropriate. We might be incorrigible
with regard to whether a particular process is consistent with our self-image. But
the threat Doris aims to identify is supposed to have dimensions that escape such sub-
jective judgments: the subjective test is supposed to index whether or not certain at-
titude-independent facts about human agency prevail.
For Doris, the ballot order effect and related dispositions are supposed to show not
only that our conception of ourselves as governed by consciously accessible reasons
is false, but also that our behavior is caused by facts that do not constitute reasons. If
your vote was determined by the ballot order effect, it had causes “that are not plau-
sibly taken as reasons for that behavior”.30 Hence (whatever your attitude to it), “your
conduct was not appropriately responsive to reasons”.31 Tapping into the extent to
which conduct is guided by agents’ genuine reasons (and not merely into whether
they take it to be guided by reasons) is required, in turn, because for Doris agency
is expressive of values: “behaviors are exercises of agency when they are expressions
of the actor’s values”.32 At least in principle, an action might express an agent’s values
despite her failure to recognize that it does (and vice-versa). Hence, it is only if the
subjective test really indexes the facts about agency that it can serve Doris’ purposes.
However, there is no particular reason to think that this is test is reliable. I would bet
that the test would fail by its own standards: the considerations to which these proc-
esses are responsive, in producing the judgment, often wouldn’t be recognized by the
agent as reasons, were she aware of them. Rather than rely on a subjective test, I will
attempt to assess whether a mechanism manifests intelligence by careful probing of
how it operates and the considerations to which it responds, not by consulting our
intuitions. Such a direct assessment should be acceptable by Doris, since his subjec-
tive test is supposed to tap into the facts about agency.33
The argument for the claim that nudges are addressed to reasoning mechanisms
will come in two steps. First, I will argue that attention to how nudges work shows
that they have the function of making considerations salient to us, and disposing us to
respond to them in a way that reflects their actual reason-giving force. That is, nudges

29
Doris (2015) (Fn. 13) S. 64 – 65.
30
Doris (2018) (Fn. 2) S. 3.
31
Doris (2018) (Fn. 2) S. 3.
32
Doris (2018) (Fn. 2) S. 7.
33
I have expanded this discussion of Doris’ subjective test for agency at the urging of a
reviewer for Ergo. As the reviewer points out, nudges will routinely fail Doris’ test, whether or
not they are genuinely addressed to reasoning mechanisms. But since Doris’ test is not suitable
for the task he sets himself, I don’t take that fact as a mark in their disfavour. Perhaps under
pressure, Doris would prefer to identify agency with conscious expression of consciously held
values, and retain the subjective test. He would need an account of why such expression is
valuable, given that it does not underwrite control by reasons.
1516 Neil Levy

work by targeting mechanisms that satisfy the conditions for being reasoning mech-
anisms. I will then turn to the (alleged) features of unreflective mechanisms that are
supposed to entail that they are unintelligent: their inflexibility, and the mismatch
between the environment for which they are designed and the contemporary
world. These two facts together are taken to entail that intuitive processes are ata-
visms, which systematically generate dispositions to believe and behave which are
at odds with the reasons that genuinely prevail. Inflexibility, I will argue, is not dis-
tinctive of, or limited to, unreflective processes, and mismatch, though genuine, is no
reason to conclude that such processes are not reasoning mechanisms.

1. Nudges are Addressed to Reasoning Mechanisms

Let’s begin with Doris’s central example in his recent précis of Talking to Our
Selves: ballot order effects.34 Doris highlights this example because it seems obvious
that such effects are irrational: nudging us to prefer one candidate over another in this
way is bringing us to be influenced by irrelevant facts. The appellation of the best-
known ballot order effect as the donkey vote indicates what we usually think of it.
Candidate order is allocated alphabetically or (as in Australia) by lot, so ballot
order does not track quality. The property to which we respond is not, in fact, a
good reason. But that fact doesn’t entail the conclusion that Doris wants: that the
mechanism does not have the function of disposing us to respond, appropriately,
to reasons. While being at the top of the order may not be a good reason, the mech-
anism may nevertheless be a reasoning mechanism, which happens to misfire in this
context.
The ballot order effect probably arises because the order in which candidates are
listed is taken to be an implicit recommendation.35 There is evidence that people do
tend to see options that have been made salient to them as having been recommended
to them (see McKenzie, Liersch, and Finkelstein for supportive data).36 But being
guided by recommendations is rational. We can generalize this recommendation
paradigm: canonical nudges and supposedly irrational heuristics and biases very
often work by functioning as implicit recommendations. Take framing effects.
They are often cited as paradigmatically irrational, on the grounds that they cause
us to have conflicting preferences over options depending on how they are present-
ed.37 But if the choice of frame is understood as an implicit recommendation,38 there
is nothing irrational about reliance on it. No one ever argued that it is irrational to

34
Doris (2018) (Fn. 2).
35
Gigerenzer (2015). On the Supposed Evidence for Libertarian Paternalism. Review of
Philosophy and Psychology 6, 361 – 383.
36
McKenzie/Liersch/Finkelstein (2006). Recommendations Implicit in Policy Defaults.
Psychological Science 17, 414 – 420.
37
E. g. Shafir/LeBoeuf (2002). Rationality. Annual Review of Psychology 53, 491 – 517.
38
Gigerenzer (2015) (Fn. 35).
Nudge, Nudge, Wink, Wink: Nudging is Giving Reasons 1517

choose a recommended option on the basis that if exactly the same option hadn’t been
recommended, it wouldn’t have been chosen. If it is rational to be guided in our judg-
ments by testimony (and it surely is, under many conditions), it is no less rational to
be guided by implicit recommendations (of course, we would worry if these implicit
recommendations disposed us to ignore countervailing considerations, but there is no
evidence that they do: recall that the ballot order effect is strongest for low informa-
tion voters). Setting defaults or framing options is communicative: people frame op-
tions in ways that highlight particular choices because they take them to be good
ones, and their communicative intent is recognized by those who respond to the fram-
ing.
So even the central examples invoked in the debate over nudging and bypassing –
the ballot order effect, the selection of defaults, framing, anchoring effects – actually
have the properties we expect of reasoning mechanisms: making particular consid-
erations salient to us and disposing us to respond appropriately to them. However, this
may not be sufficient to show that nudges are addressed to reasoning mechanisms. A
number of theorists have suggested that nudges work by combining reason-giving
with non-rational influence. There is extensive evidence that under cognitive load
(when processing resources are scarce, for instance because the person is required
to multi-task, or is fatigued or stressed), agents are more powerfully influenced by
heuristics and biases.39 The fact that our susceptibility to heuristics and biases in-
creases under load seems to indicate that they work (in part at least) by taking advant-
age of cognitive laziness or the fact that it is temporarily too difficult for us to make a
decision. Since nudges harness the heuristics and biases, that suggests that at mini-
mum they partially bypass our reasoning. Ansher et al. make the point explicit:
changing defaults at once provides recommendations to agents and takes advantage
of non-rational dispositions.40
However, the fact that susceptibility to defaults increases under load isn’t a com-
pelling reason to think they work by bypassing our reasoning, even in part. Once
again, it is helpful to think of setting defaults (and framing and anchoring effects)
as functioning as implicit testimony. There is nothing irrational about putting
more weight on testimony when we lack the resources to assess a claim for ourselves.
We all accept that I ought to place more weight on your testimony when you are more
expert in the relevant domain than I am. We might think of load analogously: while I
am under load, I should give greater weight to testimony because I am temporarily
less expert. Nor is the other piece of evidence Ashner et al. cite to show that defaults
function in part as non-rational status quo effects persuasive. In the study they cite,
pulmonologists were are asked whether they would prescribe a CT for a patient. In
39
E. g. Gilbert/Osborne (1989). Thinking backward: Some curable and incurable conse-
quences of cognitive busyness. Journal of Personality and Social Psychology 57, 940 – 949;
Krull/Erickson (1995). Judging situations: On the effortful process of taking dispositional
information into account. Social Cognition 13, 417 – 438.
40
Ansher et al. (2014). Better medicine by default. Medical Decision Making 34, 147 –
158.
1518 Neil Levy

the control condition, 54 % of pulmonologists ordered the scan. That establishes a


baseline: given the symptoms described, roughly half will think a scan is warranted.
In the other condition, participants were told that a scan had already been ordered but
not yet performed. In this condition, only 29 % of physicians cancelled the scan. The
original authors of this study,41 and following them Ansher et al. suggest that a mere
(non-rational) bias drives the difference between conditions, for the following rea-
son: “clinical information should dictate whether or not a CT scan should be per-
formed […] whether or not it has been ordered or discontinued by the emergency
department physician should be irrelevant”.42 But that’s false. Clinical information
is of course an important piece of evidence, but the decisions of other qualified people
are also evidence. The attitudes formed by other physicians is higher-order evidence
concerning the correct attitude to take to the case at hand. There is nothing irrational
about being guided by such evidence.43
Far from showing that defaults guide behavior in part by taking advantage of irra-
tional biases, working through these examples strengthens the case for seeing them as
functioning as evidence. Nor are these isolated examples. Kumar identifies nudges
(proper) with manipulations of choice architecture that take advantage of Kahneman
style heuristics and biases.44 But in most, if not all cases, these heuristics and biases
have the proper function of making us appropriately sensitive to genuine reasons
(and, indeed, routinely play this role, even in our current environment). There are,
for example, compelling arguments that the hindsight bias is not a bias,45 and that
the confirmation bias is an adaptation for reasoning.46 There is a good reason for
this: these mechanisms are designed to make us respond adaptively to considerations,
and – at least in general – it is adaptive to respond to considerations in ways that fol-
low their actual reason-giving force. That is not to say, of course, that these disposi-
41
Abbereg/Haponik/Terry (2005). Omission bias and decision making in pulmonary and
critical care medicine. Chest 128, 1497 – 1505.
42
Abbereg/Haponik/Terry (2005) (Fn. 41) S. 1499.
43
Philosophers acquainted with the debate on the epistemic significance of disagreement
will recognize this kind of experiment as parallel to the thought experiments that populate this
literature. While some philosophers defend positions according to which the higher-order
evidence represented by dissenting peers should not influence our credences (e. g. Kelly,
2005), many other defend a conciliatory view, according to which we should give significant
weight to such higher-order evidence (see Matheson (2015) for discussion and defence of the
equal weight view). At best, then, the claim that it is irrational for the physicians to give weight
to the opinions of other experts is controversial. The case presented is not a case of actual
disagreement – physicians do not first form a view and then learn of a dissenting position – and
it is not apparent whether those philosophers who defend a steadfast view would embrace the
suggestion that higher-order evidence should not guide initial decision-making, so it may be
that even they would not accept the irrationality claim.
44
Kumar (2016). Nudges and bumps. Georgetown Journal of Law and Public 14, 861 –
876; Kahnemann (2011). Thinking Fast and Slow. London: Allan Lane.
45
Hedden (2019). Hindsight bias is not bias. Analysis 79, 43 – 52.
46
Levy (2019). Due Deference to Denialism: Explaining Ordinary People’s Rejection of
Established Scientific Findings. Synthese 196, 313 – 327.
Nudge, Nudge, Wink, Wink: Nudging is Giving Reasons 1519

tions never mislead us; that a mechanism has the proper function of making us sen-
sitive to reasons doesn’t entail that it always plays that role. We will return to this
question with regard to the heuristics and biases in the next section.
In light of this evidence, we ought, therefore, to be much less impressed than we
commonly are by the fact that our paradigms of reasoning involve effortful process-
ing over explicit representations. A range of data indicates that unreflective processes
may embody intelligence. Kumar cites extensive evidence that some unreflective
processes embody sophisticated learning biases that are sensitive to statistical regu-
larities.47 For instance, unreflective processes implement Bayesian reasoning opti-
mally, whereas we are notoriously bad at conscious probabilistic reasoning tasks;
even nonhuman animals, including many species that are usually supposed to lack
reflective processing capacities altogether, appear to update in conformity with
Bayesian principles; Valone,48 and see Brownstein for further evidence that implicit
processes are responsive to personal-level goals.49 These unreflective processes sure-
ly satisfy plausible tests for manifesting intelligence.
In fact, there is extensive evidence that reflective processing often lowers decision
quality and accuracy, relative to these kinds of unreflective mechanisms. For in-
stance, Halberstadt and Levine provide evidence that thinking about reasons lowers
the accuracy of predictions about the outcomes of basketball games, compared to the
production of intuitive judgments.50 Wilson and Schooler provide evidence that
thinking about reasons made participants’ judgments about jams less likely to
match those of experts.51 The capacity for intuitive judgments in some domains
seems to be learnable, and in those domains expert judgment is better when made
immediately compared to after reflection. Johnson and Raab, for example, present
evidence that expert handball players choose worse options when given more time
to reflect than when asked to respond immediately.52 Reviewing a number of studies,
Plessner & Czenna conclude that “the assumption of a general superiority of analytic
processes proves to be wrong even in the domain of judgments about matters of
fact”.53
Some psychologists have gone further, arguing that not only does reflective proc-
essing often lower decision quality, relative to immediate judgment, but that unreflec-
47
Kumar (2016) (Fn. 44).
48
Valone (2006). Are animals capable of Bayersian updating? Oikos 112, 252 – 259.
49
Brownstein (2018). The Implicit Mind: Cognitive Architecture, the Self, and Ethics.
New York: Oxford University Press.
50
Halberstadt/Levine (1999), Effects of Reasons Analysis on the Accuracy of Predicting
Basketball Games. Journal of Applied Social Psychology 29, 517 – 530.
51
Wilson/Schooler (1991). Thinking Too Much: Introspection Can Reduce the Quality of
Preferences and Decisions. Journal of Personality and Social Psychology 60, 181 – 192.
52
Johnson/Raab (2003). Take The First: Option generation and resulting choices. Orga-
nizational Behavior and Human Decision Processes 91, 215 – 229.
53
Plessner/Czenna (2008). The Benefits of Intuition. In: Plessner/C. Betsch/T. Betsch
(eds.), Intuition in Judgment and Decision Making, 251 – 265 (253).
1520 Neil Levy

tive processing may raise the quality of the decision, relative to both reflective proc-
essing and immediate judgement, even in domains for which we are unlikely to have
either innate or acquired learning algorithms. The principal advocate of this view is
Ap Dijksterhuis.54 On his view, when there are multiple competing considerations to
juggle, the higher capacity of nonconscious processing produces better decisions
than both conscious deliberation and immediate judgment. Under these conditions,
people make objectively better decisions,55 are more satisfied with their decisions,56
and are more consistent in their judgments.57 Interestingly, he also produces evidence
that conscious deliberation increases the influence of the availability heuristic.58
Dijkersterhuis’s work is controversial. A number of studies comparing imme-
diate judgment, nonconscious deliberation (operationalized by a distraction condi-
tion) and conscious reflection have failed to find an advantage of nonconscious
thought over the immediate judgment.59 However, we need not accept Dijkster-
huis’s central claim for his evidence to help break the grip of reflective processing
on our imaginations: even if he is wrong that unreflective processing is better than
reflective in domains in which we lack learning algorithms, his work does seem to
demonstrate that reflective processing is sometimes worse than immediate judg-
ment in these domains. In some domains, unreflective mechanisms are intelligent
because they are able to integrate a range of information. In others, we may lack
such intelligent learning mechanisms, but reflection nevertheless lowers decision
quality relative to immediate judgment.
In light of this evidence, there seems little reason to accept the common view that
associates reflective processing with intelligence and unreflective with its lack. The
intelligent/unintelligent distinction seems to cross-cut the reflective/unreflective dis-
tinction.60 How can we square the apparent intelligence of unreflective mechanisms
with evidence of their inflexibility?

54
Dijksterhuis et al. (2006). Complex choices better made unconsciously? Science 313,
760 – 761.
55
Dijksterhuis (2004). Think different: The merits of unconscious thought in preference
development and decision making. Journal of Personality and Social Psychology 87, 586 –
598; Dijksterhuis et al. (2006) (Fn. 54).
56
Dijksterhuis/Olden (2006). On the benefits of thinking unconsciously: Unconscious
thought increases post-choice satisfaction. Journal of Experimental Social Psychology 42,
627 – 631.
57
Nordgren/Dijksterhuis (2009). The devil is in the deliberation: Thinking too much re-
duces preference consistency. Journal of Consumer 36, 39 – 46.
58
Dijksterhuis et al. (2008). The rational unconscious versus thought in complex consumer
choice. In: Michaela Wänke (ed.). Social Psychology of Consumer Behavior. New York:
Psychology Press, 89 – 108 (94).
59
Payne et al. (2008). Boundary conditions on unconscious thought in complex decision
making. Psychological Science 19, 1118 – 1123; Waroquier et al. (2010). Is it better to think
unconsciously or to trust your first impressions? A reassessment of unconscious thought
theory. Social Psychological and Personality Science 1, 111 – 118.
60
Kumar (2016) (Fn. 44).
Nudge, Nudge, Wink, Wink: Nudging is Giving Reasons 1521

2. Intuitive, Inflexible?

As Kumar (2016) emphasises and we noted in the previous section, some unre-
flective processes manifest considerable evidence of flexibility.61 This fact is central
to his distinction between “nudges”, which take advantage of heuristics and biases
and bypass our reasoning, and “bumps”, which instead work by addressing our so-
phisticated implicit reasoning capacities. The distinction between implicit processes
Kumar draws is genuine. Only some manipulations of the choice architecture target
heuristics and biases, and only some work via mechanisms that are to some signifi-
cant degree encapsulated. It doesn’t follow, however, that there is a normatively sig-
nificant distinction to be drawn between nudges and bumps, or that nudges addressed
to heuristics and biases are addressed to inflexible mechanisms.
The flexibility of response characteristic of reflective processing is not the product
of unencapsulated central cognition. There is no such thing. Rather, it is realised by
otherwise inflexible mechanisms working in concert: reflective deliberation works
through cycles of repeated querying of intuitive processes.62 It is true that reflective
processing is often more flexible than unreflective. When reflective processing is en-
gaged, attention is (typically) sustained and the outputs of intuitive processes are
made available to yet further processes. Without such processing, fewer such mech-
anisms tend to be engaged for a shorter period of time, and as a result reasoning may
reflect a narrower range of the agent’s beliefs, desires and other attitudes. But nudges
are typically processed consciously, and therefore attentional mechanisms are engag-
ed (attention need not be directed to the nudge for the mechanisms to play their
role)63. Nudges never engage only a single mechanism, and we should therefore ex-
pect a considerable degree of flexibility in the processing of their contents – at least
typically sufficient flexibility for them to count as reasoning mechanisms.
Just as importantly, it doesn’t follow from the fact that sometimes unreflective
mechanisms produce outputs that are encapsulated against domain-general reason-
ing that they are especially irrational, compared to reflective processes. True, unre-
flective mechanisms are sometimes responsible for cognitive ‘seemings’ that the
agent knows to be misleading. Such seemings are recalcitrant to domain-general
knowledge: that the snake is made of rubber, that the lines are the same length,
and so on. But this kind of resistance to update is not specific to unreflective mech-
anisms. Consider Huck Finn cases, for example. In Twain’s novel, famously, Huck
knows that Jim the escaped slave is a human being, who in virtue of that fact deserves
the same rights and the same dignity as anyone else. But he finds compelling the argu-
ment for the view that Jim is property and he therefore wrongs his ‘owner’ in helping
Jim to escape. He knows that deliberation is misleading here, but this personal-level
61
Kumar (2016) (Fn. 44).
62
Carruthers (2006). The Architecture of Mind. Oxford: Oxford University Press; Levy
(2014), Consciousness and Moral Responsibility. Oxford: Oxford University Press.
63
Baars (2002). The conscious access hypothesis: Origins and recent evidence. Trends in
Cognitive Science 6, 47 – 52.
1522 Neil Levy

knowledge is powerless to render the output of deliberative processes any less com-
pelling for him.
While Huck Finn cases are unusual, cases in which we find arguments powerful
even though we know their conclusions are false are common. Philosophy has long
specialized in generating such arguments (consider brain-in-a-vat skepticism), but
they are a routine feature of ordinary epistemic lives. Most of us are unable to counter
the arguments of moderately sophisticated climate science ‘sceptics’, for example,
since we lack the scientific expertise. We may be confident that the premises are
true, and we may be unable to find fault with the argument itself, but we may be
very confident – in fact we may know – that the conclusion is false.64 Again, recalci-
trance of the output to personal-level knowledge is not distinctive of unreflective
processes alone.
It might be responded that reflective processing is rational even when its outputs
are recalcitrant to domain-general knowledge. Consider the influential default inter-
ventionist model of rational cognition.65 On this model, the role of reflective proc-
essing is to intervene in reasoning, to correct the outputs of unreflective mechanisms.
This model accepts that sometimes the outputs will continue to seem compelling to
the agent, but the rational agent will override the seeming. As Steven Jay Gould re-
ports, even when he knows that a particular seeming is the product of the conjunction
fallacy, “a little homunculus in my head continues to jump up and down, shouting at
me.”66 This response is plausible, but does nothing to show that nudging is addressed
to irrational mechanisms. If the conjunction of recalcitrant output and intervening
process is sufficient for reasoning, then nudging may be addressed to reasoning
mechanisms. The outputs of nudges are not so compelling that agents cannot ignore
them: indeed, when they have good reason to ignore them, they routinely do (recall
that the ballot order effect is strong only for low information voters).
In light of this fact, the inflexibility that sometimes arises from unreflective proc-
esses should not lead us so quickly to conclude that nudges bypass our reasoning in
virtue of being addressed to such processes. Since nudges are never addressed to a
single mechanism at a time, we ought to expect some degree of flexibility in their
processing. Even when they output a recalcitrant seeming, a broader set of mecha-
nisms allows the agent to ignore or override the seeming. In this respect (too), there is
no difference between nudging and the presentation of explicit arguments.

64
See Fantl for a book-length discussion of cases like this, in which we retain knowledge
despite our inability to counter the argument: Fantl, The Limitations of the Open Mind.
65
Evans/Stanovich (2013). Dual-process theories of higher cognition: Advancing the de-
bate. Perspectives in Psychological Science 8, 223 – 241.
66
Gould (1988). The New York Review of Books, August 18.
Nudge, Nudge, Wink, Wink: Nudging is Giving Reasons 1523

3. Mismatch to the Contemporary World

While it may be true that the intuitive processes engaged by nudges have the prop-
er function of prompting appropriate response to genuine reasons, in a manner that
qualifies them as reasoning mechanisms, there remains the worry that they may be
systematically mismatched to the contemporary world. Due to this mismatch, they
might fail to produce judgments or dispositions that respond to the genuine rea-
son-giving force of the properties to which they respond. Consider our informational
context. We are (allegedly) adapted for the small groups in which our ancestors lived
on the African savannah: groups of roughly 150 individuals.67 Today, however, most
of us live in giant cities, alongside millions of other people. Moreover, we are con-
stantly exposed to reports of events from across the world. If our cognitive processes
are adapted for small group living, and to processing information about events that
occur nearby, we ought to expect them to misfire routinely. For example, we might be
designed to enter a state of heightened alert in response to reports of violence. In con-
temporary life, we will be exposed to such reports daily, whenever we watch the
news. We may therefore find ourselves in a state of constant vigilance.
There is persuasive evidence that people process information about risks badly,
underestimating relatively high probability risks like heart disease, while overesti-
mating much less likely risks like terrorist attacks.68 This implicit assessment is mal-
adaptive, insofar as it leads to underinsuring for health risks, on the one hand, and
unjustified support for restrictions on civil liberties, on the other. Our evolved biases
plausibly play a role in our attitude to risk: for example, the salience bias – the bias
toward information that is striking – and the closely related availability heuristic en-
sure that terrorist attacks play an obtrusive role in our thinking, out of proportion to
their true risk. Plausibly, this dysfuncion arises out of a mismatch between the envi-
ronment for which the relevant mechanisms are designed and the informational en-
vironment we currently inhabit.
Overall, I think there is persuasive evidence that maladaptive belief and behavior
is often produced by intuitive mechanisms, because they are ill-matched to the inputs
they receive. However, it is a mistake to think that this evidence indicates that the
intuitive mechanisms are not reasoning mechanisms. Once again, using susceptibil-
ity to mismatch as a criterion will fail to distinguish the mechanisms involved in proc-
essing nudges from reflective processing. Reflective processes, too, perform badly
given inputs of a kind for which they are not designed.
Most obviously, reflective processes work badly when the inputs are false. The
adage ‘garbage in, garbage out’ applies as much to these processes as intuitive.
The problem of fake news, which – arguably – has had seriously negative consequen-

67
Dunbar (1996). Grooming, Gossip, and the Evolution of Language. Cambridge, Mass.:
Harvard University Press.
68
Sunstein/Zeckhauser (2011). Overreaction to Fearsome Risks. Environmental & Res-
ource Economics 48, 435 – 449.
1524 Neil Levy

ces for the world over the past few years is at least partially a problem that arises from
the way that reflective processes may be targeted with bad inputs. Less obviously,
reflective processes can be nudged. Consider the influence of how decisions are
framed.69 Agents overlook reasons an action might be impermissible when they
are asked which actions are obligatory, and vice-versa. The questions are designed
to encourage reflection, yet the framing nudges the response in one direction or an-
other.70 Again, bad inputs will lead to bad outputs, for reflective processes as much as
intuitive.
Intuitive processes may indeed often go wrong because the inputs they are asked to
handle are a poor match for those to which they are designed to be sensitive. But that
failing is not well understood as involving the bypassing of reasoning. Rather, we do
better to understand the failing as involving the presentation of bad reasons to these
mechanisms. Such mismatches occur all too frequently, because we have allowed
corporations, bad intuitions about institutional design and sheer drift to ensure
that we too often make choices in environments in which bad reasons are presented
to us – in which, for example, the best options are not implicitly recommended or the
wrong properties are made salient to us.
The right response to failures of inputs to match those the mechanisms are de-
signed to respond to is not to avoid nudging. That’s impossible, as Thaler and Sun-
stein have argued. But it’s also absurd; as absurd as refusing to give people explicit
reasons why some options are better than others. The right response is to ensure that
the context in which we choose is better matched to the mechanisms which process
information, so that they are presented with adequate reasons for choice. Just as we
shouldn’t respond to the problem of fake news, say, by concluding that reflective
processing is hopeless, but instead by ensuring that reflection is fed more accurate
information, so we should respond to the predictable failures of intuitive processes
by ensuring that they are fed the kinds of inputs that serve as reasons for them. That’s
what well designed nudges do: they present reasons to mechanisms designed to re-
spond to reasons of that kind.

IV. Nudge in Peace?


Most actual and proposed nudges function by presenting reasons to agents. They
often present higher-order evidence, and higher-order evidence is evidence. It is, of
course, rational to guide our decisions and our beliefs in the light of evidence. There is

69
Koralus/Alfano (2017). Reasons-based moral judgment and the erotetic theory. In: Jean-
Francois Bonnefon/Bastien Trémolière (eds), Moral Inferences. London. Routledge.
70
It is plausible that this kind of framing works like other kinds: people treat the framing as
an implicit recommendation. When we arenudged into thinking that obligatoriness is the
normative dimension that is most significant here, we give it greater weight than when im-
permissibility is the dimension recommended for our attention.
Nudge, Nudge, Wink, Wink: Nudging is Giving Reasons 1525

no reason to think, therefore, that most nudges bypasses reasoning. Should we con-
clude that nudging raises no special worries about autonomy or paternalism?
While well-designed nudges do not threaten autonomy, it is certainly possible to
nudge in an autonomy threatening way. Perhaps, first, there are nudges that might
promote welfare or pro-social behavior without presenting agents with reasons. Per-
haps priming behavior might be an example: whether priming works by presenting
evidence or by simply biasing processing mechanisms is difficult to assess. Second,
whether or not such non-rational nudges exist, nudges that are addressed to reasoning
mechanisms can be used in an autonomy-threatening manner. We can nudge people
by designing the choice architecture so that they are presented with bad reasons: bad
defaults, or inappropriate frames, for example. Such nudges don’t bypass reasoning,
anymore than overt lies bypass reasoning. Rather, they subvert autonomy by giving
bad reasons. They aren’t nudges, as classically conceived, insofar as such nudges are
thought to bypass reasoning. But they subvert autonomy nevertheless.
In fact, that’s exactly how we should think of the features of choice architecture
that proponents of nudges aim to change. Bad defaults or badly designed environ-
ments subvert autonomy by feeding bad reasons to us. The opponents of nudges
are right to worry about threats to autonomy, but they find them in precisely the
wrong places. It is when we fail to change these features that we subvert autonomy,
by giving bad reasons to agents. The mechanisms addressed by nudges are reasoning
mechanisms. They may be addressed well or badly: with good reasons or bad. When
they are addressed with good reasons, they tend to promote autonomy, for exactly the
same reasons why giving people good arguments promotes their autonomy. Con-
versely, when they are addressed with bad reasons, their autonomy tends to be im-
paired.

V. Conclusion
In this paper, I have argued that the worry that nudges bypass reasoning, and there-
fore threaten agents’ autonomy or are unacceptably paternalistic, is misplaced. Rath-
er than bypassing reasons, nudges are addressed to reasoning mechanisms. This is
true whether the underlying mechanisms are sophisticated implicit learning mecha-
nisms capable of integrating disparate information, or whether they are the kinds of
mechanisms that underlie comparatively simple heuristics and biases. Good nudges
aim to substitute genuine reasons for the badly designed cues which cause maladap-
tive behavior: considerations to which the mechanisms have the proper function of
responding. The intuitive mechanisms to which nudges are addressed are reasoning
mechanisms: they are disposed to respond as they do because they are attuned to fea-
tures of the context of choice in just the way such mechanisms are supposed to be.
Nudges may subvert autonomy, but that fact doesn’t distinguish them from the pre-
sentation of explicit reasons. When they subvert autonomy, they do so for the same
reasons as bad arguments do.
1526 Neil Levy

Rather than there being a special problem with nudging, a reason to worry that
nudging threatens autonomy, good nudges promote autonomy. Indeed, when our
agency is undermined by badly designed features of the context of choice, we
may have an obligation to nudge. We treat one another respectfully when we ensure
that the context in which we choose is one that supports rational agency.

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Privacy, Neuroscience and the Inner Life
By Jonathan Glover

There, behind those blinds, inside her, something was going on – I don’t know what …
Human heads aren’t transparent, and their only windows: the eyes… Before me were
two terrifyingly dark windows, and within them a very unknown, strange life. I could
only see fire – some kind of inner wood fire was blazing there … (Yevgeny Zamyatin: We.)

Has privacy a future? In one way, of course it has. Many of us, whether singles,
couples or groups, can expect, if we choose, to go on living in places that are private to
us. We can expect (mainly) not to walk uninvited into each other’s homes, not to read
each other’s letters and not to eavesdrop on intimate conversations. But we are getting
used to other people having access to things once private. Social media corporations
provide information about us for use in marketing or for more sinister electoral ma-
nipulation. Intelligence services make huge use of surveillance technology. Some of
us are already troubled by how these developments erode privacy. But, depending on
how they develop, some technologies now starting to come from neuroscience might
threaten privacy more fundamentally.

I. A Pattern of Plural Privacy


Is there a single coherent right to privacy? Or could it be reduced without remain-
der to a series of different property rights, etc.? This is boring. Like garlic, privacy is a
cluster. It takes different forms, each with its corresponding violations. But it is a re-
lated cluster. Several central features dominate the landscape of privacy.

1. The Body

In most cultures the naked body is private. About nudity, cultures draw boundaries
differently. But in many societies nudity, or some bodily functions being seen, would
cause shame or embarrassment. Though, obviously bodily privacy can be waived, as
in sexual relations or in medical investigations.

2. Territory

Territorial frontiers do not keep everyone out. The key is control. People living in a
house usually control who comes into it, or at least to their part of it. This extends to
1532 Jonathan Glover

who may see or hear what goes on there. Territorial privacy is still invaded, when the
house is distantly targeted by the long range camera or by ultra-sensitive eavesdrop-
ping equipment.

3. Intimate Information

People often want to keep intimate information private. W. H. Auden believed in


the privacy of personal life and wanted his letters destroyed. Isaiah Berlin was some-
times pressed to speak publicly about his visit in 1945 to Anna Akhmatova. He did
once talk about it to Amanda Haight for her biography of Akhmatova. Later, he wrote
that “although her account of me is scrupulous, accurate, based on what I myself told
her – yet, yet, I am appallingly embarrassed by the information now afforded to the
public of my personal relationship with the poetess, even though it is related briefly
and decently, in neutral, impersonal terms.”1 Like bodily privacy, the privacy of in-
timate information can be waived. Again, the important thing is control.

4. Private Space

The phrase “private space” is both literal and metaphorical. Controlling access to
the body, personal territory and intimate information can be seen as the core of literal
private space. Caring about a room or a house of one’s own is about territory. But
there is also metaphorical private space, which can be violated even in public places
by stalkers, eavesdroppers, prying photographers. It is violated, when journalists or
the security services bug our phones or read our emails.
Much of the data from internet surveillance by the U. S. intelligence services is
stored in a repository in Utah. At the entrance is a supposedly reassuring sign: Wel-
come to the Utah Data Center. If you have nothing to hide, you have nothing to fear.
But controlling access to our private space is not, as this wrongly suggests, just for
terrorists or others with illegal things to hide.

II. Context and the Web of Constraints


Clear boundaries are needed to guard against violations. One approach is to work
out general principles (perhaps a set of rights) that can be applied across the board: to
media reporting, security service surveillance, medical records, the confessional,
stalkers, internet encryption, or legal confidentiality. Helen Nissenbaum has suggest-
ed that this top-down approach is misguided.2 Not all information about a person is
1
Isaiah Berlin, Affirming, Letters 1975 – 1997, edited by Henry Hardy/Mark Pottle, Lon-
don: Chatto and Windus, 2015, pp. 39 – 40.
2
Helen Nissenbaum, Privacy in Context, Technology, Policy and the Integrity of Social
Life, Stanford, California: Stanford University Press, 2010.
Privacy, Neuroscience and the Inner Life 1533

private. It is hard to draw good context-free boundaries. Perhaps today, when walk-
ing, I saw a puddle and avoided it. If you tell other people this trivial fact, you have not
invaded my privacy. Only noticing or passing on private facts is invasive.
But how are the boundaries of what is private to be drawn? Is all medical infor-
mation private? On our walk, soon after boringly avoiding the puddle, I collapse. You
come with me as I am rushed, unconscious, to hospital. Do you really invade my pri-
vacy, if you tell doctors relevant facts about my medical history? Are religious or
political beliefs always private? When writing to support someone being considered
to chair a committee on the ethics of abortion, is it wrong to mention that he is a con-
servative Catholic or that she is a radical feminist? Helen Nissenbaum argues that
whether items of personal information are public or private depends on context. A
bank and its staff can ask questions about someone’s financial affairs. Doctors can
ask questions about exercise, diet or drinking that others should not. The teacher
should not talk to journalists about the girl being bullied at school. But you should
be told because you are her parent. There are other constraints. Is it necessary to give
a potential employer this information? Were you told it in confidence? And so on.
Family constraints are usually informal. Medical ones are more often in laws or eth-
ical codes.
In this pluralist account a single criterion or a very short list of rights is replaced by
many fine grained contrasts. Existing codes and tacit conventions save re-inventing
the wheel. They are “a complex, delicate web of constraints on the flow of personal
information that itself brings balance to multiple spheres of social and political life”.
Nissenbaum warns that systems and practices that radically disturb it are “potentially
tearing at the very fabric of social and political life”.3
But the existing web of constraints may not tell us enough. Technology sometimes
means inventing new boundaries. The results of one person’s genetic tests may have
implications for other family members. Do they have a right to be told? Do they have
a right not to know? When these questions first arose, the answers could not just be
read off from existing constraints. Parallels with other information disclosure could
be drawn on. But previous practice was not enough. Genetic knowledge goes so deep,
affecting people’s sense of identity or shaping their decisions about having children.
Approaching the questions by appealing only to existing privacy constraints would
be shallow.
And, even when the existing web of constraints gives easy answers, sometimes
they should be challenged. If the Stasi surveillance had lasted for a century, its estab-
lished norms might have come to seem hallowed by time. “It is not intrusive if the
doctor asks you about your body, or the therapist asks you about your feelings.
Nor is it intrusive if those protecting us from enemies ask about your friends, your
family, your suspicions …” Decisions about surveillance do need awareness of
the evolved web. But we also need to think about which of different possible social

3
Nissenbaum, p. 128.
1534 Jonathan Glover

webs are better than others. This requires critical thinking. Underneath the various
forms of privacy, what are the values that need protecting?

III. Why Private Space?


Despite cultural variations, the importance of having some private space may
come from needs deep in human psychology. Perhaps our concern with private
space, “being left alone”, has evolutionary roots. But a more complex psychology
can grow out of an evolved core. Desires evolved many thousands of years ago
for reproduction are now also expressed in love poetry. Privacy may have evolved
from needing to protect ourselves at vulnerable moments and to defend territory.
But the values it now serves go far beyond those needs.
Intrusions into private space are often restrictive. Simply knowing you are being
watched can be a form of pressure, as is brought out by dystopian literature from
Yevgeny Zamyatin’s We through George Orwell’s 1984 to Dave Eggers’ The Circle.
The intrusion itself can be felt as a violation. Julia Behrend lived in the former
German Democratic Republic. At twenty, her having an Italian boyfriend drew
the attention of the Stasi. She was summoned for an interview with “Major N”.
He had a pile of letters between her and her (by then ex-)boyfriend. He asked intrusive
questions: What does this mean then, Miss Behrend, when your friend writes, “I want
my little cocoriza”? He tried unsuccessfully to get her to spy on her former boyfriend
and told her she must never tell her family or anyone else about this interview. When
she got home, her legs would not support her and she vomited in the bathroom. Years
later, she knew the episode’s impact.
“At the time I criticised other things – not being allowed to study or have a career. But look-
ing back on it, it’s the total surveillance that amazed me the worst. I know how far people will
transgress over your boundaries – until you have no private sphere left at all. And I think that
is terrible knowledge to have … It becomes clear to me as I am telling you this, the effect this
knowledge has had on my life. I think I am definitely psychologically damaged! That’s prob-
ably why I react so extremely to approaches from men and so on. I experience them as an-
other possible invasion of my intimate sphere.”4

The intrusion can be aimed at producing harmful consequences. After the 1968
Soviet invasion of Czechoslovakia, Jan Prochazka (a leading dissident) did not
care that his café conversation with a friend was probably bugged. Later the security
services decided to discredit Prochazka by turning their talks into a radio serial. To
some extent this worked.

4
Anna Funder, Stasiland, Stories from behind the Berlin Wall, London: Granta Books,
2003, pp. 108 – 113.
Privacy, Neuroscience and the Inner Life 1535

“Prochazka was discredited: because in private, a person says all sorts of things, slurs
friends, uses coarse language, acts silly, tells dirty jokes, repeats himself, floats heretical
ideas he’d never admit in public, and so forth.”5

The value of privacy, as Jan Prochazka was forced to find out, is linked to getting
on with each other. This includes people we have hostile, contemptuous or embar-
rassing thoughts about.

IV. The Inner Life Made Public?


The violations of private space mentioned so far, of bodily privacy, territory or of
intimate information, all depend on observation from outside the person. Eavesdrop-
pers or voyeurs may come to know intimate things about our inner lives or our bodies.
But this depends on what can be seen or heard from somewhere outside us. If they
want, government agencies like America’s National Security Agency or Central In-
telligence Agency can massively enter our private space by intercepting and reading
our emails or by interpreting metadata about our phone calls. Other security services
can find out a lot about our intimate life by bugging our conversations, reading our
letters or by the kind of interrogation the Stasi gave Julia Behrend. All this is alarming
enough. But even this gives only indirect access to our inner lives. We can to some
extent defend ourselves by caution in what we say in letters, on the phone or in emails.
Even under tough intrusive interrogation we may still have a degree of choice about
what we say. If technology based on neuroscience could give direct access to our
inner lives, this would add an extra dimension to the threats to our private space.
Jeremy Bentham’s supposedly more humane prison, the Panopticon, would have
kept inmates in a nightmare of permanent observation. But, as Bentham said, it was
about changing behaviour, but it did not “pry into the secret recesses of the heart”.6
Even in George Orwell’s 1984, people could be made to conform in actions and in
speech. But the privacy of thoughts and feelings in our own minds was the one place
monitoring could not reach:
“the inner heart, whose workings were mysterious even to yourself, remained impregnable
… Always the eyes watching you and the voice enveloping you. Asleep or awake, working
or eating, indoors or out of doors, in the bath or in bed – no escape. Nothing was your own
except the few cubic centimetres inside your skull.”7

What if this changed, so that even our inner life became available to others? Im-
manuel Kant raised this question in a thought experiment. In his lectures on anthro-
pology, he said we hide many thoughts: His thought experiment was about aliens:

5
Milan Kundera, Testaments Betrayed, translated from the French by Linda Asher, Lon-
don: Faber and Faber, 1995, pp. 258 – 259.
6
Jeremy Bentham, Panopticon; or, The Inspection-House, 1791, Letter 20.
7
George Orwell, 1984, Harmondsworth: Penguin Books, 1956, p. 25 and p. 136.
1536 Jonathan Glover

“It could well be that on some other planet there might be rational beings who could not think
in any other way but aloud. These beings would not be able to have thoughts without voicing
them at the same time, whether they be awake or asleep, whether in the company of others or
alone.”

How would this affect what they do? Kant thought the consequences would be
highly disruptive. We think hostile or devastating things about people.
“Unless they are all pure as angels, we cannot conceive how they would be able to live at
peace with each other, how anyone could have any respect for anyone else, and how they
could get along with each other?”

The human species usually avoids this conflict. We hide our own thoughts. And,
Kant sternly adds, this concealment is always the start of dishonesty. It will drift down
through intentional deception to actual lying.8
Kant’s aversion to conflict is not the whole story. Thomas Nagel, in a subtle dis-
cussion, agrees that hiding thoughts is sometimes necessary. We do not want our-
selves or others to express everything. We leave out of play feelings such as hostility,
contempt, envy, vanity, sexual desire or self-absorption. He mentions “how nice to
see you”. Everyone knows we sometimes conventionally say this when not really
feeling it is nice. Nagel sees two competing values. We want to maintain civilised
relationships. But we also want great freedom in our inner life. Combining the
two means putting up with quite big discrepancies between public persona and
our inner life. As he engagingly says, “Everyone is entitled to commit murder in
the imagination once in a while”.9
We want to get on with others and to have the freedom of our inner life. So we are
lucky not to have to think aloud. Will this continue? We struggle to imagine the sur-
veillance that future neuroscience might bring about. Is neurotransparency possi-
ble?10 Will the few cubic centimetres inside your skull remain the inner citadel of
privacy?

1. Brain Hacking?

“In this paper, a method is proposed for using a simple neurophysiological brain response,
the N400 potential, to determine a deeper underlying brain state. The goal is to construct a
BCI [Brain Computer Interface] that can determine what the user is ‘thinking about’…”
(M. van Vliet et al.: Guessing What’s on Your Mind: Using the N400 in Brain Computer
Interfaces)

8
Immanuel Kant, Anthropology from a Pragmatic Point of View, translated by Victor Lyle
Dowdell, Carbondale: Southern Illinois University Press, 1978, p. 250.
9
Thomas Nagel, Concealment and Exposure, Philosophy and Public Affairs, 27.1, 1998,
pp. 3 – 30.
10
John-Dylan Haynes (Brainreading)/Tim Bayne, How to Read Minds, both in: Sarah
Richmond/Geraint Rees/Sarah J. L. Edwards (eds.), I Know What You’re Thinking, Oxford:
Oxford University Press, 2012, pp. 29 – 58.
Privacy, Neuroscience and the Inner Life 1537

In deep brain stimulation a stimulator sends signals to electrodes planted in the


brain. This can be used to alleviate pain to control tremors and help people with
strokes, spinal cord injury and Parkinson’s disease. Brain Computer Interfaces can
make it possible for people to control wheelchairs or artificial limbs by conscious
decisions. But, since computers can be hacked, these interfaces may pose a threat.
Hi-jacking the system might allow a hacker to stimulate the brain, changing what
the victim wants and decides. “Delusions of alien control” might be delusions no lon-
ger.
The other possible threat is to privacy. The direct links between brain and com-
puter may enable brain-hackers to access information about a person’s brain states.11
A Brain Computer Interface can enable “neurogames”. In one study people fitted
with an Interface used it to play a game about a whale avoiding obstacles. Research-
ers flashed subliminal messages, in one case logos of various banks. The resulting
brain waves can give information about what bank a person uses, their credit
cards, PIN numbers, where they live and who they know.12 Can we be confident
this will not extend to political and religious beliefs, sexual orientation, or other in-
timate information? We need technology to frustrate brain hacking. But, this may
lead to an offensive-defensive arms race. We need social innovation, too. As in med-
icine, we need codes of ethics, backed by professional sanctions and probably laws.
These depend on us not accepting fatalistically that privacy is over.

2. Brain Imaging: Access to Personal Characteristics?

Brain hacking would be confined to Brain Computer Interfaces. But more general
brain imaging could have a much wider impact. How far will it reveal a person’s psy-
chology? By analogy with genotyping, it has been called “brainotyping”. Studies so
far have looked at skills such as navigation and verbal intelligence, and at traits such
as anxiety, pessimism and extraversion. Evidence suggests that some very limited
brainotyping is now possible.13 Further developments may raise questions about pri-

11
M. van Vliet/C. Muhl/B. Reuderink/M. Poel, Guessing What’s on Your Mind: Using the
N400 n Brain-Computer Interfaces, in: Yao y. et al., Brain Informatics, Berlin, 2010;
T. Bonaci/J. Herron/C. Mattlack/H. J. Chizeck, Securing the Exocortex: A Twenty-first Cen-
tury Cybernetics Challenge, IEEE Technology and Society Magazine, 34.3, 2015, 45 – 51;
M. Ienca/P. Haselager, Hacking the Brain: Brain-Computer Interfacing Technology and the
Ethics of Neurosecurity, Ethics and Information Technology, 18.117, 2016.
12
T. Bonaci/J. Herron/C. Mattlack/H. J. Chizeck, How Susceptible is the Brain to Side-
Channel Private Information Extraction? American Journal of Bioethics, Neuroscience, 6.4,
2013; Lisa Vaas, How Hacking Brainwaves Could Reveal Our Deeply Guarded Secrets,
Naked Security, 5 August, 2016; I. Martinovic/D. Davies/M. Frank/D. Perito/T. Ros/D. Song,
On the Feasibility of Side-Channel Attacks with Brain-Computer Interfaces, Proceedings of
the 21st Usenix Conference on Security Symposium, Berkeley, August 2012, 2013, 34 – 46.
13
Martha J. Farah/M. Elizabeth Smith/Cyrena Gawuga/Dennis Lindsell/Dean Foster,
Brain Imaging and Brain Privacy: A Realistic Concern? Journal of Cognitive Neuroscience,
2010, vol. 21 (1), 119 – 127.
1538 Jonathan Glover

vacy. How much more intrusive is reading off someone’s psychology from brain
imaging than reading it off from their behaviour?14

3. Towards Neurotransperency? –
“A Window Into the Movies in Our Minds”?

“… as if a magic lantern threw the nerves in patterns on a screen …” (T. S. Eliot, The Love
Song of J. Alfred Prufrock)

More concerning (perhaps less likely, or at least further off) is the possibility of
brain imaging depicting current mental states. Functional magnetic resonance imag-
ing has monitored blood flow through the visual cortex of people watching a film. A
decoder was used, based on brain responses to the film. The same people later watch-
ed a different set of films. Computational models were used to decode the brain ac-
tivity into associated images. These were called
“the first reconstructions of natural movies from human brain activity … This modelling
framework might also permit reconstruction of dynamic mental content such as continuous
natural visual imagery.”15

The science is still primitive. The decoded images are indistinct, though recognis-
ably similar to the actually seen ones. Perhaps they have similar potential to the feeble
and blurry images of early experiments in television. Could brain scanning one day
give access to the inner life? An article in the Berkeley News about the studies asks its
readers to imagine watching their own dream on YouTube. One of the neuroscientists
involved, Jack Gallant, has said that “this is a major leap toward reconstructing in-
ternal imagery. We are opening a window into the movies in our minds.”16

4. Interpreting Brain Images

The brain images need interpreting. When activity in a brain region is correlated
with a visual experience, does this mean that the region is where the experience itself
is embodied? Or could the activity be a cause or a consequence of other brain events
that are the experience’s real physical embodiment?17 Sometimes people will vary in
the location of different activities in the brain. Regions programmed for activities

14
Stacey A. Tovino, Regulating Neuroimaging, in: Martha J. Farah, Neuroethics, An In-
troduction with Readings, Cambridge, Mass: MIT Press, 2010, pp. 201 – 209.
15
Nishimoto et al., Reconstructing Visual Experiences from Brain Activity Evoked by
Natural Movies, Current Biology, 2011. PDF 1.4 m.
16
Yasmin Anwar, Scientists Use Brain Imaging to Reveal the Movies in our Mind, Be-
rkeley News, 22 September, 2011.
17
Tom A. De Graaf/Po-Jang Hsieh/Alexander T. Sack, The “Correlates” in Neural Corre-
lates of Consciousness, Neuroscience and Biobehavioral Reviews, 2012, 30.1, pp. 191 – 197.
Privacy, Neuroscience and the Inner Life 1539

rarely used can be diverted to functions more often used.18 This “neuroplasticity” is
one aspect of the big variations in how people’s mental lives are embodied in their
brains.
What people can say, even about seeing, is not the whole story. As we look at
things, more information may enter the brain than we know. On one model, visual
inputs “compete” to enter conscious awareness. When people have been asked to
look out for two things, they usually notice both. But, if the “targets” are very
close together, the person may not report seeing the second one. Evidence suggests
that the information people are not aware of may still influence what they think and
do.19
These issues may not decisively block neurotransparency. Future technology, try-
ing to read people’s inner lives from states of their brains, may find ways round them.
A more serious difficulty may come from visual images playing different roles in
mental life according to the interpretations imposed on them. The ambiguous figure
discussed by Wittgenstein may look to someone at one moment like a duck and the
next moment be seen as a rabbit. Our experience includes not only raw images but
how we see them, sometimes shaped by attitudes and past experiences. What you see
as another sign of God’s love, I – less imaginatively – see as a sunny day. Climate
scientists may see it in a darker perspective. This complicates the hope of opening
a window into the movies in our minds. But, although we cannot yet see how to de-
code interpretations, we may start opening the window even on this. If so, the pos-
sibility of neurotransparency is not clearly ruled out. Privacy debates should reflect
this.

5. Should We Be Relaxed About Neurotransparency?

The good side would be the elimination of dishonesty. But the control element in
privacy would be lost. We might be appalled to find people reading our discreditable
or self-flattering thoughts, embarrassing sexual fantasies or unkind thoughts about
others. But perhaps, with all of us transparent, we might adapt to the shared loss
of control?
It could still affect relationships. But there might be some benefits. We would mis-
interpret each other less. We would have easier contact without the defensive layers.
There would still be conversation but, as people envisage telepathy, it might not need
18
Eleanor A. Maguire/David G. Gadian/Ingrid S. Johnsrude/Catriona D. Good/John
Ashburner/Richard S. J. Frakowiak/Christopher D. Frith, Navigation-related Structural
Change in the Hippocampi of Taxi Drivers, Proceedings of the National Academy of Sciences
of the United States of America, 2000, 27, pp. 4398 – 4403.
19
S. Dehaene/J.-P. Changeux, Neural Mechanisms for Access to Consciousness, in: M.
Gazzaniga (ed.), The Cognitive Neurosciences III, 2004; J. A. Debner/L. L. Jacoby, Uncons-
cious Perception: Attention, Awareness and Control, Journal of Experimental Psychology of
Learning, Memory and Cognition, 1994, pp. 304 – 317; Ned Block, Two Neural Correlates of
Consciousness, Trends in Cognitive Science, 9.2, 2005, pp. 1364 – 1366.
1540 Jonathan Glover

speech. Perhaps transparent relationships would not be worse than opaque ones?
There is Zamyatin’s thought in We that individuality is interwoven with a degree
of impenetrability. If we became transparent, others would know the thoughts, feel-
ings and attitudes we finally endorse. But, perhaps worse, they would know those we
just play with or wonder about. Pressures to conform could be stifling. We might
grow more robust in resisting pressures. And losing defensive barriers might liberate
us in ways outweighing the threat to individuality. Perhaps. But, given what is at
stake, not sufficiently reassuring?

V. Why Defend the Privacy of the Inner Life?


“Much more realistic are concerns that enhancements in the brain could massively distort a
very delicate equilibrium in the most complex piece of matter in the human body, perhaps
even in the entire universe … Thus the initial insistence on an allegedly ‘true nature of
human beings’, with which we started out, turned out not to be so much a concern for
human nature, but for human wellbeing.” (Reinhard Merkel)20

Reinhard Merkel was writing, not about loss of privacy possibly coming from
technological interventions in the brain, but about possible drawbacks of “enhance-
ments” from other such interventions. In both debates (as in many others about the
human impact of technology) there are broadly three parties. Without too much sim-
plification, they can be given political labels. Conservatives want to keep things as
they are (or sometimes as they were) on such grounds as the wrongness of changing
the “true nature of human beings”. They are sometimes, but by no means always,
religious. Revolutionaries are relatively untroubled by the possible downsides of rad-
ically changing people and strongly emphasise the possible upsides. (They are often,
but by no means always, scientists and/or technologists.) Reformists do not see
“progress” in these fields as probably beneficial, but they see no absolute barrier
to changing what people are like. They are empiricists, wanting to know about the
potential impact of the changes on deeply held human values worth endorsing. In
the words quoted above, it is not so much a concern for human nature, but for
human wellbeing.21
What is the cluster of deeply held values that makes us care so much about our
inner life being at least relatively private? These values are not all different from

20
Treatment-Prevention-Enhancement: Normative Foundations and Limits, in: R. Merkel
et al., Intervening in the Brain, Changing Psyche and Society, 2007.
21
Reinhard and I have met (for me too rarely) at conferences together over many years. My
pleasure in discussion with him goes far beyond our shared “reformist” approach. His thinking
has the precision and clarity no doubt to be expected in an able lawyer. But there is also the un-
dogmatic openness that makes an exchange so fruitful. Outside the seminar room, his interests
in art and poetry and his wide sympathies make for interesting and civilized conversation.
Throw in his engaging sense of humour and it is no puzzle that cheerfulness breaks in at the
thought that “Reinhard will be there”.
Privacy, Neuroscience and the Inner Life 1541

those threatened by violations of the rest of our private space, but the threats to them
posed by making the inner life public can be much more acute. Roughly, the threats
are to our emotional vulnerability, to creativity, to intimacy and relationships, to the
way we ourselves partly create the kind of person we are, and to the freedom of our
inner life. Of course these things are not the whole story of a fulfilled human life. But
the interwoven cluster comes near to the psychological core of such a life.

1. Our Emotional Vulnerability

Some brave people live their lives according to their own values, with a glorious
unconcern for respectable opinion, or for the opinion of other people in general. We
can salute them while still knowing that we or others are easily hurt by unkind words
about our loves, friendships, sexual orientation, disability, ethnicity, religion or our
political beliefs. Perhaps this is particularly true of children. Some features (some
ethnic differences, the distinctive dress of some religions) are visible. But, even in
a generally tolerant society, where teachers stress mutual respect, the only child in
the class from a group whose beliefs are sometimes disliked or despised may choose
the protection pf keeping quiet. And, although in many places things are changing for
the better, people have often found it hard to come out as gay. People, who have de-
viant but harmless beliefs, or who like deviant but harmless sex, should be protected
from media exposure and ridicule. Individuality needs to develop before it can be
expressed. Among all the attacks on privacy, the threats to our inner life may expose
our deepest vulnerability. Those most vulnerable could feel all their defensive boun-
daries have been weakened or destroyed.

2. Creativity

That people are partly impenetrable by others may be important for creativity. T.S.
Eliot said his poems often came from his “automatic writing”. Would they have sur-
vived neurotransparency?
Even fully conscious creation may need the protection of private space. As Vir-
ginia Woolf saw, the need for privacy in writing – for a room of one’s own – is linked
to others’ attitudes. She thought artists mind excessively what is said about them:
“Literature is strewn with the wreckage of men who have minded beyond reason
the opinions of others.” And for most of history it has been harder for women:
“The world said with a guffaw, Write? What’s the good of your writing?” Jane Austen
had no separate study. She was careful that servants, visitors and others outside her
family should not know about her writing:
“Jane Austen hid her manuscripts or covered them with a piece of blotting paper … one
would not have been ashamed to have been caught in the act of writing Pride and Prejudice.
1542 Jonathan Glover

Yet Jane Austen was glad that a hinge creaked, so that she might hide her manuscript before
anyone came in.”22

3. Degrees of Intimacy

“To respect, love, trust or feel affection for others and to regard ourselves as the objects of
love, trust and affection is at the heart of our notion of ourselves as persons among persons,
and privacy is the necessary atmosphere for these attitudes and actions, as oxygen is for com-
bustion.” (Charles Fried, An Anatomy of Values)

Long ago Charles Fried gave one good answer to the question of why privacy is
necessary for love, trust and affection. These attitudes cannot be uniformly spread
among everyone we know. (Auden’s line: Not universal love but to be loved
alone.) They depend on varying degrees of intimacy. And deciding how intimate
to be with someone includes choosing how much of our inner life (our thoughts,
hopes, fears, fantasies and private eccentricities) to share with them.23
There would still be degrees of relationships. Friends have to be generous, not just
with possessions but with themselves. Despite neurotransparency we could still be
more or less generous with ourselves in the time or concern we give people. We
could still respond with more or less warmth. Closeness, while different, would
still exist. But, as things are now, it has another dimension. Friends are special in
what of their private inner life they share. Neurotransparency, with its involuntary
availability of inner thoughts and feelings, is a threat to that part of intimacy.

4. The Holiness of the Heart’s Affections

“I am certain of nothing but of the holiness of the heart’s affections and the truth of Imag-
ination.” (John Keats, Letter to Benjamin Bailey, 22 November 1817)

A paradigm case of intimacy is the one-one relationship. (Though obviously both


families and groups of friends can be very intimate.) Talking changes with the move
from one-one to one-several. On the phone Tom is quietly telling Judy he has never
loved anyone as he loves her. He is startled by hearing on the other extension the as-
sertive voice of his Uncle Fred: “I would seriously challenge that.” If Uncle Fred can-
not be got rid of from the call, both Tom and Judy will know he is there. Self-censor-
ship may set in. Intimacy has gone. Apart from such unwelcome disruptions, the tone
can be changed even when a conversation between two friends turns into one between
three. With different friends we have different histories, different shared jokes, and
(subtly or not) different ways of talking to each other.

22
Virginia Woolf, A Room of One’s Own, pp. 53 – 58 and 67 – 68.
23
Charles Fried, An Anatomy of Values, Cambridge, Mass.: Harvard University Press,
1970, chapter 9, pp. 137 – 152; Julie C. Inness, Privacy, Intimacy and Isolation, New York:
Oxford University Press, 1992, chapter 6, pp. 74 – 94.
Privacy, Neuroscience and the Inner Life 1543

The change is even more disruptive, when we find the call is bugged by the se-
curity services. Or when it is bugged by intrusive journalists. When Sally and Bob
Dowler planned on the phone to repeat their missing daughter Milly’s last walk
back from school, they did not know anyone was listening in. They only realised
this later, when there was a photograph in the paper of Sally leaning forward to
touch the poster of Milly pinned to a tree. Not only had the privacy of their call
been violated, but also “It was distressing to think that someone had been secretly
photographing this intensely private moment”.
The phone being bugged or the intimate moment being photographed are already
far too intrusive. Things might be even worse if intrusive journalists at moments of
grief had open access to the actual words or images in a victim’s stream of conscious-
ness.

5. Self-Creation

“Privacy is the right to the self. Privacy is what gives you the ability to share with the world
who you are, on your own terms, for them to understand what you are trying to be. And to
protect for yourself the parts of you that you’re not sure about, that you’re still experimenting
with. If we don’t have privacy, what we’re losing is the ability to make mistakes. We’re los-
ing the ability to be ourselves.” (Edward Snowden)

One thing we partly create is ourselves. Of course we cannot just decide what we
are like. Our genes, our family, friends, our schooling, our health, the place where and
when we live, are all part of a huge framework whose influence we cannot escape.
There is no total self-creation. But, as our autonomy develops, our values start to crys-
talize. Ideas of what we do or don’t want to be like, become important in shaping who
we are. John Stuart Mill famously saw pressures to conform as a threat to this devel-
opment of individuality. Too strong pressures may create a society in which people
make only conventional choices
“until by dint of not following their own nature they have no nature to follow: their human
capacities are withered and starved: they become incapable of any strong wishes or native
pleasures, and are generally without either opinions or feelings of home growth, or properly
their own.”24

A relatively impenetrable inner life gives the freedom to play with different ideas
of what to do, what to create, or what sort of person to be. It frees these ideas from the
distortions of – even informal – public commitment. As Timothy Macklem has put it,
isolation may be needed for “the development of individual voice”. To become rec-
ognisably themselves people may need to be “free of the shaping influence of others”.
This, in turn, matters politically: “it is the exercise of creativity in isolation that makes
it possible for people to reach different conclusions and thereby develop different

24
John Stuart Mill, On Liberty, 1856, chapter 3: Of Individuality, as one of the elements of
wellbeing.
1544 Jonathan Glover

ways of life, the ways of life that liberal societies draw upon for the diversity that
makes freedom valuable there.” For Macklem, this is where John Stuart Mill
meets Virginia Woolf: “This is the story of privacy and freedom, and part of the
story of the significance of a room of one’s own.”25
Mill’s inspiring phrase “experiments in living” is one we should not give up. But
perhaps some of the experiments are best started away from the public stage?

6. At the Centre: Freedom of the Inner Life

“… after that, to my Closit, wher I praied and writt som things for mine owne priuat Con-
science, and so I went to bed.” (Lady Margarete Hoby, Diary, February 4, 1600)

One of the great fourteenth century English mystical writings, The Cloud of Un-
knowing, starts with a prayer. The anonymous author asks God to cleanse his heart so
that he may perfectly love and worthily praise Him. The prayer opens by addressing
its intended recipient: “GOD, unto whom all hertes be open, and unto whom alle wille
speakith, and unto whom no prive thing is hid …” The simple and direct poetry has
kept versions of this in Anglican prayer books from then until now. Though, to some
of us moderns, the idea of a God, from whom nothing private is hidden, has the chill
of totalitarian surveillance. This is even stronger, if it is all being recorded in some
moral balance sheet. But the author believed God loves us, and so is willing to for-
give. So the total inner surveillance may have been only partly terrifying.
Things are different, when no prive thing is hid from hacking by the American
NSA or CIA, the British GCHQ or the Russian FSB. We think our televisions are
switched off, but really they may be transmitting. The intrusive security services
can listen to any bits of our life we talk about near a television they have hacked.
This echoes Nadezhda Mandelstam’s account of how in Stalin’s time rumours that
telephones were fitted with recording devices people led people to cover them
with cushions. Freedom of the inner life includes “intellectual privacy”.26 Part of
this is freedom of thought and belief. Another part is the confidentiality of commu-
nications with each other. We use search engines to find things out about the world.
So our “thought” now includes internet searches. And confidentiality of communi-
cations is needed for us to be free to email each other without fearing that our mes-
sages are intercepted and read. Even more terrible would be the fear that these secur-
ity organisations had the same access to our inner life simply by switching on their
computer’s brain imaging programme.

25
Timothy Macklem, Independence of Mind, Oxford: Oxford University Press, 2006,
pp. 50 – 67.
26
Neil Richards, Intellectual Privacy, Rethinking Civil Liberties in the Digital Age, New
York: Oxford University Press, 2015, pp. 95 – 150.
Zur Autorität von Demenzverfügungen: Merkels Vorschlag
einer notstandsanalogen Interessenabwägung
Von Bettina Schöne-Seifert und Marco Stier

I. Einleitung
Nach welchen Willens- oder Wohlkriterien Patienten medizinisch behandelt wer-
den sollen, die ihre Urteils- und Einwilligungsfähigkeit unwiederbringlich verloren
haben, wird seit Jahrzehnten international in Medizinrecht und -ethik diskutiert.
Zwei paradigmatische Problemszenarien sind dabei zu unterscheiden, nämlich
Patienten in einem irreversibel apallischen Zustand und Patienten mit einer fortge-
schrittenen Demenzerkrankung oder anderen vergleichbar schweren erworbenen
Hirnabbau-Zuständen (im Folgenden unter ,Demenz‘ zusammengefasst). Für
beide Konstellationen können sich Fragen nach der Verbindlichkeit potentiell vor-
handener Verfügungen pro oder contra lebenserhaltende Maßnahmen, nach Grund-
lagen und Gewicht möglicher Willensmutmaßungen, nach Verständnis und Relevanz
des Patientenwohls sowie schließlich nach der Lösung etwaiger Konflikte zwischen
diesen unterschiedlichen Orientierungsmaßstäben stellen. Reinhard Merkel hat sich
als einer der ersten deutschsprachigen Autoren zu den systematischen moralphiloso-
phischen Grundlagen dieser in zahlreichen Gerichtsentscheidungen verhandelten
Fragen ausführlich und kritisch geäußert (1995, 1999, 2004).1
Während nun die erstgenannte Gruppe, die der apallischen Patienten, nach vor-
herrschender wissenschaftlicher Meinung nichts mehr zu erleben vermag,2 können
1
Verweise auf Reinhard Merkels Texte (Merkel, Reinhard, Tödlicher Behandlungsabbruch
und mutmaßliche Einwilligung bei Patienten im apallischen Syndrom, Zeitschrift für die ge-
samte Strafrechtswissenschaft 107, 1995, S. 545 – 575; ders., Personale Identität und die
Grenzen strafrechtlicher Zurechnung: Annäherung an ein unentdecktes Grundlagenproblem
der Strafrechtsdogmatik, JuristenZeitung 54, 1999, S. 502 – 511; ders., Zur Frage der Ver-
bindlichkeit von Patientenverfügungen: Eine notwendige Ergänzung der bisher in Deutsch-
land geläufigen Argumente, Ethik in der Medizin 16, 2004, S. 298 – 307) werden im Folgen-
den im Haupttext nur mit Jahr und Seite angegeben. Alle anderen Verweise erfolgen in Fuß-
noten.
2
„Auch die Apalliker-Fälle unterliegen – wie alle anderen, in denen eine ehemals vor-
handene Entscheidungskompetenz vollständig und für immer fehlt – dem Prinzip der Abwä-
gung zwischen vergangenen Präferenzen und gegenwärtigen bzw. zukünftigen Interessen des
Patienten. Aber diese Abwägung ist hier regelmäßig vorentschieden: Die Seite des Lebens-
interesses für den Patienten ist leer.“ (Merkel, 1995, S. 573; Hvh. durch die Autoren). Aller-
dings gibt es im Gefolge neuerer bildgebender Untersuchungen eine Debatte darüber, ob und
1546 Bettina Schöne-Seifert und Marco Stier

Patienten der zweiten Gruppe ganz unterschiedliche Erlebnisse, Wünsche und Emp-
findungen haben: leid- wie freudvolle. Und genau dieser letztgenannte Umstand bie-
tet den Hintergrund für den spezifischen ethischen Konflikt, um dessen Lösung eine
etwa dreißigjährige Kontroverse kreist.3 Gemeint ist der mögliche Konflikt zwischen
einer in früheren Tagen erhaltener Einwilligungsfähigkeit verfassten Verfügung con-
tra vitam und den aktuellen Lebensinteressen eines (zufriedenen) Demenzpatienten.
Solle hier etwa, so Merkel,
der Arzt […] gezwungen […] sein, einen Menschen, der gerne leben möchte und leicht zu
retten wäre, aufgrund einer Verfügung sterben zu lassen, von der dieser Mensch nicht mehr
das Geringste weiß oder auch nur begreifen könnte und die seinen heutigen Interessen so
fern ist wie die exzentrische Neigung eines beliebigen Dritten? (1999, S. 508)4

Schon diese Formulierung der Frage insinuiert ein Nein. Dessen genauere Be-
gründungen zunächst dar-, dann aber doch kritisch in Frage zu stellen, schickt
sich dieser Aufsatz – mit einer bewundernden Verbeugung vor Reinhard Merkels
auch hier Maßstäbe setzendem Scharfsinn – im Folgenden an.

II. Die Problemkonstellation: zugespitzt


Um die hier interessierende ethische Frage genau in den Blick zu bekommen,
seien mehrere Rahmenbedingungen unterstellt. In der Theorie mag für einzelne5
von ihnen strittig sein, wie weit sie wirklich erforderlich sind; und in der Praxis

in welcher Form bei Apallikern ,Minimalbewusstsein‘ vorhanden sein könnte. Vgl. dazu Stier,
Marco, Remainders of the Self: Consciousness as a Problem for Neuroethics, in: Michael
Kühler/Veselin Mitrović (Hrsg.), Theories of the Self and Autonomy in Medical Ethics,
Dordrecht: Springer [im Erscheinen].
3
Zu Beginn waren die zentralen Kontrahenten Rebecca Dresser (u. a. in: dies., „Life,
Death, and Incompetent Patients: Conceptual Infirmities and Hidden Values in the Law,“
Arizona Law Review 28 (3), 1986, S. 373 – 405) und Ronald Dworkin (ders., in: Life’s Do-
minion, London, Harper Collins 1993, Kap. 8). Es folgten Abhandlungen zahlreicher be-
kannter Philosophen wie etwa Buchanan/Brock (Buchanan, Allen E./Brock, Dan W., Deciding
for Others: The Ethics of Surrogate Decision-Making, Cambridge, Cambridge University
Press 1990, Kap. 3); DeGrazia (DeGrazia, David, Human identity and bioethics, Cambridge,
New York, Cambridge University Press 2005, Kap. 5), McMahan (2006, Kap. 5.3.1) oder
Sumner (Sumner, Leonard Wayne, Assisted Death: A Study in Ethics and Law, Oxford, Ox-
ford University Press 2011, Kap. 5.1). Die Anzahl der Aufsätze ist kaum noch zu überblicken,
eine Systematik der Positionen hier nicht zu leisten und eine wirklich neue Idee zu entwickeln
kaum möglich. Als deutsche Philosophen haben sich nicht zuletzt Michael Quante (Quante,
Michael, Precedent autonomy and personal identity, Kennedy Institute of Ethics Journal 9 (4),
1999, S. 365 – 381) und Oliver Hallich (Hallich, Oliver, Dementia and the Principle of Pre-
cedent Autonomy, in: Daniela Ringkamp/Sara Strauß/Leonie Süwolto [Hrsg.], Dementia and
Subjectivity/Demenz und Subjektivität, 2017, S. 211 – 240, mit zahlreichen weiteren Nach-
weisen) an der internationalen Debatte beteiligt.
4
Fast wortgleich Merkel, 2004, S. 302.
5
Notorisch kontrovers ist Bedingung 1.3 unten.
Zur Autorität von Demenzverfügungen 1547

mag es schwierig zu entscheiden sein, ob sie tatsächlich erfüllt sind. Derlei Unschär-
fen werden in den nachfolgenden theoretisch-hypothetischen Überlegungen jedoch
zur Gänze ausgeblendet.
Damit ein typischer past-directive-versus-present-interests-(PDPI)-Konflikt, wie
er in der angloamerikanischen Debatte manchmal genannt wird, entsteht, muss (1)
eine Patientenverfügung contra vitam vorliegen, die alle Autoritätserfordernisse er-
füllt, wie sie auch in anderen Konstellationen üblicherweise erhoben werden. Im Ein-
zelnen soll hier unterstellt werden, dass die Verfügung (1.1) von einem klarerweise
einwilligungsfähigen Verfasser stammt, der (1.2) hinreichend gut versteht, worum es
geht, und dessen Entscheidungen frei von (1.3) Willensmängeln und (1.4) kontrol-
lierender Steuerung Dritter zustande gekommen sind. Zudem sollen (2) die verfügten
Anweisungen zum Therapieverzicht (2.1) konkret und eindeutig formuliert sein und
(2.2) zum Zeitpunkt des Konflikts auf die klinische Behandlungssituation des De-
menzpatienten unzweideutig zutreffen. Dieser soll ferner (3) an einer so weit fortge-
schrittenen Demenz leiden, dass er (3.1) aktuell klarerweise nicht mehr einwilli-
gungsfähig, wohl aber zu nicht-autonomen Willensäußerungen – in der deutschen
Debatte als natürliche Willensäußerungen bezeichnet6 – in der Lage ist. Somit
soll der Patient (3.2) die Inhalte und Beweggründe seiner früher verfassten Verfügung
schlechterdings nicht mehr verstehen, geschweige denn befürwortend teilen können.
Seine früheren antizipierten Vorstellungen davon, wie er in der Phase einer schweren
und irreversiblen geistigen Beeinträchtigung leben und sterben wolle, sind ihm also
in dem spezifischen Sinne vollkommen fremd geworden, dass sie einer erloschenen
Kategorie von Präferenzen angehören (dazu später mehr). Schließlich soll (4) die kli-
nische und psychologische Situation des Patienten insgesamt derart sein, dass dieje-
nige lebenserhaltende Behandlung, die von der Verfügung konkret abgelehnt wird,
anderenfalls ohne Frage als patientendienlich betrachtet und durchgeführt würde.
Dafür ist anzunehmen, dass der Patient (4.1) in den Augen seiner Betreuer und Na-
hestehenden zumindest überwiegend als ,lebensfroh‘ imponiert – d. h. dass er Freude
an verschiedenen Erlebnissen und Begegnungen zu haben scheint. Zudem soll die in
Rede stehende medizinische Behandlung mit wenig Belastungen einhergehen (4.2)
und es soll (4.3) ihre Unterlassung auch nicht als probates Mittel erscheinen, dem
Patienten absehbar bevorstehendes Leid zu ersparen.
Cum grano salis sind es Patienten in der solchermaßen eingegrenzten Konstella-
tion, über deren ethisch richtige Behandlung anhaltend diskutiert wird. Bei Ronald
Dworkin heißt die exemplarische Alzheimerpatientin Margo7, Jennifer Hawkins

6
Vgl. Jox, Ralf/Ach, Johann S./Schöne-Seifert, Bettina: Patientenverfügungen bei De-
menz: Der „natürliche Wille“ und seine ethische Einordnung. Deutsches Ärzteblatt 111 (10),
2014, A-394 / B-340 / C-324; Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestags: Ausar-
beitung: Widerruf einer Patientenverfügung und Berücksichtigung des natürlichen Willens,
2017, URL: https://www.bundestag.de/resource/blob/530846/9f6d5e2179b23c5d05439917139
832e3/WD-7-100-17-pdf-data.pdf [Zugriff: 2019-10-09], mit weiteren Literaturangaben.
7
Dworkin (Fn. 3), S. 220 ff.
1548 Bettina Schöne-Seifert und Marco Stier

nennt sie Rupina8, in der rezenten deutschen Debatte wird oft auf die reale Person des
2016 verstorbenen Tübinger Intellektuellen Walter Jens Bezug genommen9 und bei
Merkel schließlich sind es – weiter gefächert – der nach einer Tumoroperation de-
ment gewordene Zeuge Jehovas (1995, S. 566 f. und 2004, S. 300 f.), sowie Herr A,
ein Manager mit Alzheimerdemenz (1999, S. 502 f. und 2004, S. 301 f.).

III. Merkels Lösungsvorschlag


Merkel identifiziert in der Debatte um den wie oben zugespitzten PDPI-Konflikt
zwei zentrale Positionen.10 Der einen zufolge seien Demenzverfügungen (DVs) un-
bedingt verbindlich; der anderen Position nach liefere eine DV höchstens gewisse
Anhaltspunkte für die Ermittlung des richtigen Vorgehens. Ausschlaggebend hierfür
sei vielmehr der aktuelle (natürliche) Wille des betroffenen dementen Patienten, so-
weit er für die Beurteilung seines Lebensinteresses relevant sei. Erstere ordnet also
regelmäßig den in der DV verfügten autonomen Willen vor, letztere tut ein Gleiches
mit dem natürlichen Willen. Beide Positionen seien unzulänglich, denn sie verken-
nen das eigentliche Problem. Die angemessene normative Grundlage sei hier viel-
mehr eine Abwägung der konkurrierenden Interessen im quasi-interpersonalen
Modus – eine Lösung, die Merkel 2004, in seiner ausgefeiltesten Abhandlung
zum Thema, in juristischer Terminologie als notstandsanaloge Abwägung bezeich-
net (2004, S. 304 f.).
Diese Notstandslösung ergibt sich für ihn aus drei Aspekten der PDPI-Konstella-
tion: (1.) aus der seiner Interpretation nach häufig missverstandenen Natur des Kon-
flikts; (2.) aus der Unmöglichkeit, hier einen Willen zu mutmaßen, an dem sich die
Entscheidung für oder gegen lebenserhaltende Therapien orientieren könnte; (3.)
aus der Non-Identität von DV-Verfasser und Demenzpatient. Dieser dritte Punkt
ist unzweifelhaft die zentrale Gelenkstelle für Merkels Lösungsansatz.
• Der besondere Konflikt: Wie viele andere Autoren anerkennt Reinhard Merkel die
Wichtigkeit, die eine DV für deren Verfasser haben kann – insbesondere dann,
wenn er sich mit den Aussichten auf ein späteres Leben mit schwerer geistiger Be-
einträchtigung realistisch und kritisch auseinandergesetzt hat. Zu antizipieren,
dass seine DV später gewissermaßen „in den Papierkorb“ geworfen würde,
wenn er denn nur hinreichend lebensfroh wirke, werde ihm, so Merkel, ob dieser
künftigen „Versklavung“ Grund zu „Empörung“ und „gravierender Demütigung“
sein (2004, 301 – 302). Auf der anderen Seite betont Merkel die Bedeutung der –
im vorigen Abschnitt skizzierten und vorausgesetzten – völligen Entfremdung des

8
Hawkins, Jennifer: Wellbeing, Time, and Dementia, Ethics 124, 2014, S. 508 ff.
9
Vgl. Jens, Inge: Langsames Entschwinden, Reinbek, Rowohlt 2016.
10
Natürlich ist er sich der Zwischen-, Misch- und Übergangsformen bewusst – die Redu-
zierung der Problematik auf nur zwei Positionen reicht aber aus, um das grundsätzliche Pro-
blem darzustellen.
Zur Autorität von Demenzverfügungen 1549

lebensfrohen Demenzpatienten von der früheren Verfügung: Eindringlich stellt er


fest, es sei
[…] schwer einzusehen, warum man einen am Leben hängenden Menschen, der noch lange
zufrieden leben könnte, aufgrund einer früheren Verfügung sollte sterben lassen dürfen, von
der er nichts weiß und die er so wenig verstehen könnte wie die Gründe, die sie einst mo-
tiviert haben (1995, S. 567).

Klarerweise ist diese Kombination aus irreversiblem, kognitiv bedingtem Ent-


fremdungseffekt und subjektiver Lebenszufriedenheit ein Unterscheidungsmerkmal
gegenüber all jenen Verfügungen, die Patienten mit vorübergehenden kognitiven
Einbußen, Appaliker oder überwiegend leidende demente Patienten betreffen. Die
subjektive Lebenszufriedenheit – geäußert im Modus natürlicher positiver Willens-
äußerungen etwa zugunsten der Nähe geliebter Personen, erinnerter Musik oder ge-
schätzter Speisen – wird von Merkel zwar als eine „Willensmanifestation“ beschrie-
ben, die mit dem autonomen Willen des DV-Verfassers in Konflikt gerate (2004,
S. 299). Aber sie wird – wie wir meinen: völlig zu Recht – nicht in den Kategorien
von Widerruf oder reflektiertem Wertewandel (die im Modus der Einwilligungs-
bzw. Reflexionsfähigkeit erfolgen müssten) verstanden, sondern allein als Indikator
für ein Interesse am Weiterleben (2004, S. 304).
• Der mutmaßliche Wille: Auf eine logische Besonderheit der Rechtfertigungsbasis
für Therapieentscheidungen bei allen Patienten mit unwiederbringlichem Verlust
der Einwilligungsfähigkeit hat Merkel schon früh hingewiesen (1995, S. 565):
Anders als in typischen Konstellationen, in denen jemand vorübergehend und
kurz abwesend oder einwilligungsunfähig ist und man daher keinen Grund hat,
an der etwaigen Autorität relevanter, zuvor geäußerter, aber eben nicht dezidiert
verfügter Willensäußerungen zu zweifeln, müsse in Fällen wie dem vorliegenden
das kontrafaktische Gedankenexperiment eines fiktiven luziden Intervalls bemüht
werden. Dabei müsse angenommen werden, dass der Patient gleichermaßen seine
früheren, autonom verfügten Wünsche und seine aktuellen Interessen kenne und
sie subjektiv abwäge. Hier zu einem begründeten Ergebnis zu kommen, sei aber
bei Demenzpatienten schlechterdings unmöglich. Der Griff zur Rechtfertigung
einer Behandlungsentscheidung qua Mutmaßung sei hier daher eine petitio prin-
cipii.11
• Non-Identität von „Autor und Destinatär“ (2004, S. 304): Das Gravitationszen-
trum des Merkelschen Ansatzes liegt nun aber darin, dass er die These vertritt,
der frühere Verfasser einer DV und der später aus ihm gewordene schwer demente
Patient seien in entscheidender Hinsicht nicht mehr dieselbe Person. In Merkels

11
Merkel hätte sein einleuchtendes Petitio-Principi-Argument allerdings gar nicht benö-
tigt: Mit seiner im Folgenden skizzierten Annahme eines vollständigen Identitätsbruchs zwi-
schen DV-Verfasser und dem späteren schwer dementen Patienten entfällt die Rechtfertigung
für das Gedankenexperiment des luziden Intervalls. Dieses ist aber durchaus von systemati-
scher Bedeutung für andere Konstellationen.
1550 Bettina Schöne-Seifert und Marco Stier

eindringlicher Formulierung muss eine plausible Lösung für die Handhabung des
PDPI-Konflikts vielmehr
[…] den vollständigen Bruch der personalen Identität in Fällen dieser Art anerkennen und
zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen nehmen. Damit wird nicht eine riskante metaphy-
sische These über Personenidentitäten im Ablauf der biographischen Zeit vorausgesetzt. Die
hierfür einschlägige philosophische Debatte spielt in unserem Zusammenhang keine Rolle
und kann außer Betracht bleiben (2004, S. 303).12

Und begründend wie schlussfolgernd fordert er, zu überdenken:


[…] ob Person A1 (z. Z. t1) verbindlich verfügen kann, dass mit Person A2 (z. Z. t2) auf be-
stimmte Weise verfahren werde, wiewohl A2 mit den Grundlagen für jene Verfügung kei-
nerlei subjektiven Zusammenhang hat, und zwar nicht einmal den des Verstehenkönnens,
geschweige denn den des Billigens oder Einverstandenseins. Eine solche Annahme wider-
spräche ersichtlich einem ethischen und rechtlichen Fundamentalprinzip: dass nämlich eine
Person über grundrechtlich geschützte Positionen einer anderen Person nicht wirksam frei
verfügen kann. Zur Vermeidung von Missverständnissen: Selbstverständlich sind der auto-
nome Verfasser einer PV und der nicht mehr autonome Adressat ihrer Wirkungen in zahl-
reichen anderen Hinsichten, vor allem als biologisches Wesen aus Fleisch und Blut, ein- und
dieselbe Person. Aber nicht in denjenigen Hinsichten, die allein als Grundlage für eine PV in
Betracht kommen. […] Anders formuliert: Die frühere PV, die allein auf der Grundlage be-
stimmter höchstpersönlicher Überzeugungen entstanden ist, kann dem jetzigen Patienten
nicht zugerechnet werden, weil er mit diesen Überzeugungen keinerlei subjektiven Zusam-
menhang (mehr) hat (2004, S. 304).

Merkel hat sich zur personalen Identität im Kontext bioethischer Fragestellungen


bemerkenswert früh, dezidiert, pragmatisch und konstant geäußert: Notwendige Be-
dingungen personaler Identität seien ein jeweils gewisses Maß an relevanter psychi-
scher wie physischer Kontinuität.13 Letzteres bestreitet er für das Verhältnis von DV-
Verfasser und -Betroffenem ganz explizit. Diese personale Verschiedenheit aber hat
für ihn, wie für andere Verfechter dieser Position naheliegenderweise den Autoritäts-
verlust der DV für den schwer dementen Patienten zur Folge. Dass der Verfasser der
DV eine autonome Person war, der Patienten dies aber nicht mehr ist, spielt dabei für
ihn keine maßgebliche Rolle.
• Die notstandsanaloge Abwägung: Weil aufgrund des Identitätsbruchs die DV für
den Dementen nicht gelten darf und eine mutmaßliche Einwilligung „eine blanke
Spekulation“ wäre, kann sich eine Behandlungsentscheidung nach Merkel nur von
außen an „objektiv wirklichen Interessen“ (1995, S. 564) beider Beteiligter orien-
tieren: gewissermaßen als Notlösung nach dem Muster quasi-interpersonaler Kon-
flikte, nämlich dem

12
Ähnlich bereits Merkel, 1995, S. 567 und 1999, S. 508 ff.
13
So formuliert er als „Minimalbedingung personaler Identität […]: Sie muß jedenfalls
eine relevante Kontinuität im subjektiv-geistigen mit einer ebensolchen im objektiv-physi-
schen Dasein des Menschen miteinander integrieren.“ (Merkel, 1999, S. 508).
Zur Autorität von Demenzverfügungen 1551

[…] Prinzip zur Regelung der Kollision von Interessen, die unterschiedlichen Inhabern zu-
zuordnen sind: das allgemeine rechtsethische Prinzip des Notstands. (2004, S. 305)

Abwägungserfordernis hin oder her: Im Konflikt zwischen dem autonomen Wil-


len contra vitam und dem (nichtautonomen) Interesse pro vita müsse allerdings
[…] regelmäßig die frühere PV, durch eine Entscheidung von außen zurücktreten und in
ihrer Wirkung gegenstandslos werden. (2004, S. 305)

Merkels Antwort auf die Frage der Autorität von DVs lässt sich damit wie folgt
zusammenfassen: Der Verfasser einer DV und der fortgeschritten Demente sind per-
sonal nicht-identisch. Darum kann sich im Fall eines Interessenkonflikts die DV
nicht auf den Dementen beziehen. Im Umkehrschluss folgt zudem, dass auch der De-
mente die DV nicht widerrufen kann – einen Punkt, den Merkel selbst nicht explizit
macht. Einen Willen zu mutmaßen, ist in dieser Konstellation zudem logisch unmög-
lich. Die Interessen beider beteiligter Personen bedürfen also im Falle eines Konflikts
einer quasi-interpersonalen (notstandsanalogen) Abwägung. Diese muss nicht stets,
wohl aber im paradigmatischen PDPI-Konflikt in eine Entscheidung pro vita mün-
den. In jedem Fall sei sie aber eine sich an objektiver Interessenbewertung orientie-
rende Entscheidung von außen.

IV. Zur argumentativen Kohärenz des Vorschlags


In der vielstimmigen Debatte zum PDPI-Konflikt imponiert Merkels Lösung in
der Tat als eine erfrischend neue Option, scheint sie doch – wie von ihm selbst in
Aussicht gestellt – einen dritten Weg zwischen den polarisierten Lagern derer zu bie-
ten, die entweder die strikte Autorität der DV oder aber deren strikte Irrelevanz ver-
treten. Innovativ an Merkels Vorschlag ist dabei nicht etwa die Non-Identitäts-These,
die auch von anderen Autoren, allen voran Rebecca Dresser seit den späten 1980er
Jahren, prominent vertreten wird.14 Originell ist vielmehr die Schlussfolgerung eines
normativen Abwägungsgebots zwischen den Interessen des DV-Verfassers und
denen des späteren schwerst dementen Patienten. Aber ist sie wirklich plausibel?
Manche Formulierungen in Merkels Ausführungen lesen sich zunächst als klare
Zurückweisung jedweder Bedeutung der früheren DV für anstehende Behandlungs-
entscheidung in der PDPI-Konstellation – etwa wenn er von jener schreibt:
Wohl mag eine ehedem wirksam verfasste PV vorliegen; ist sie aber dem heutigen Adres-
saten ihrer ehedem angeordneten Wirkungen normativ nicht mehr zuzurechnen, so liefert sie
für die Frage, wie dieser zu behandeln sei, weder eine verbindliche noch auch nur eine in-
dizielle Maßgabe. Salopp: Sie ist nicht mehr „seine“ Verfügung; oder genauer: er ist nicht

14
Dresser (Fn. 3). Üblicherweise argumentieren die Non-Identitäts-Verfechter gegen die
Autorität der DV und umgekehrt (so etwa Dworkin, McMahan, DeGrazia). Aber es gibt
durchaus auch die umgekehrten Koppelungen: z. B. Buchanan/Brock (Fn. 3) gegen Identität
und für DV-Autorität, umgekehrt Hallich (Fn. 3) für (oder zumindest nicht gegen) Identität,
aber contra DV-Autorität.
1552 Bettina Schöne-Seifert und Marco Stier

mehr ihr Verfasser. Die Behandlungsentscheidung muss ohne sie getroffen werden. (2004,
S. 299; Hvh. durch uns)

Und später:
Denn im Zustand seiner völligen Inkompetenz kann der Patient keinen Willen mehr bilden,
der mit seinem früheren autonomen Willen auch nur in Verbindung, geschweige denn in
Konkurrenz treten oder diesen sogar aufheben könnte. Rechtlich gesprochen: Er ist nicht
bloß nicht mehr einwilligungs-, er ist auch widerrufsunfähig. Daher geht es nun bei der ärzt-
lichen Entscheidung nur noch um sein Wohl, seine unmittelbaren Interessen. Darauf allein
muss und kann die Entscheidung zur Therapie oder zu ihrem Unterlassen gegründet werden.
(2004, S. 304; Hvh. durch uns)

Dann aber räumt Merkel – gewiss nicht nur zu unserem eigenen Erstaunen – den
Interessen des DV-Verfassers zwar keinen Vorrang, aber denn doch eine grundsätz-
liche Berücksichtigungsfähigkeit im Rahmen eines externen Interessenabwägungs-
verfahrens ein. Zwar seien die Verfasser-Interessen im PDPI-Konflikt regelhaft ob-
jektiv weit weniger gewichtig als die durch Lebensfreude signalisierten Lebensinter-
essen des Demenzpatienten; aber warum sollten sie, so muss Merkel sich fragen las-
sen, überhaupt von irgendeiner Bedeutung sein? Warum gehört die Verfügung einer
vermeintlich nicht mehr existenten Person A1 über eine vermeintlich andere Person
A2 nicht schlicht in den Papierkorb geworfen?
Merkels Rechtfertigung einer Abwägungs- statt der Papierkorblösung verweist –
siehe oben Abschnitt III. – zum einen generell auf das Empörungs- und Demütungs-
potential, welches die Papierkorblösung für den sie antizipierenden Verfasser habe:
Ihm werde ein Gefühl der Ohnmacht in Sachen existentieller Zukunftsplanung zu-
gemutet (2004, S. 302). Zum anderen dekliniert Merkel an drei Beispielen durch,
warum es in bestimmten Konstellationen normativ richtig sei, nicht nur die natürli-
chen Willensäußerungen des Patienten zum Orientierungsmaßstab für dessen Be-
handlung zu nehmen, sondern auch die widersprechende Verfügung (2004,
S. 300 ff.). Sehen wir uns diese Beispiele näher an.
Im ersten Exempel geht es um die Frage, ob dem gegenwärtig lebensfroh wirken-
den Patienten eine klarerweise belastende Behandlungsmaßnahme zugemutet wer-
den solle – etwa eine nebenwirkungsreiche Chemotherapie bei einem Krebsleiden.
Damit verletzt die Situation die von uns in Abschnitt III. formulierten Randbedingun-
gen 4.2 und 4.3 des typischen PDPI-Falls und macht es erforderlich, absehbare zu-
künftige Leidenspotentiale mitzuberücksichtigen:
Der gegenwärtige „natürliche“ Wille des A spricht für die Lebenserhaltung, besagt aber
nichts über die dafür in Kauf zu nehmenden Belastungen. Sein früher artikulierter autonomer
Wille macht dagegen genau dazu präzise und freilich ablehnende Vorgaben; diese scheinen
daher eine konkrete Entscheidung gegen die Lebenserhaltung zu fordern. (2004, S. 301;
Hvh. durch uns)

In einer solchen Konstellation, in der weder die natürliche Interessenlage des Pa-
tienten Anhaltspunkte gibt noch entsprechende Mutmaßungen angestellt werden
könnten, kann für Merkel nun offenbar doch die Verfügung mit ihrer Dominanz in
Zur Autorität von Demenzverfügungen 1553

puncto Konkretheit einen orientierenden Ausschlag geben: Unerwartet ist hier die
Rede davon, dass es
fundamentalen rechtlichen und ethischen Prinzipien [widerspreche], den nur mutmaßlichen
Willen einer Person ihrem wirklichen, autonomen, eindeutig erklärten und exakt auf die
konkrete Anwendungslage bezogenen Willen einfach vorzuziehen […]. (2004, S. 301;
Hvh. durch uns)

Dagegen scheint uns zweierlei einzuwenden: Erstens lässt sich angesichts der de-
zidiert vertretenen Non-Identitäts-These sprachlich nicht rechtfertigen, dieses Pro-
blem durch die Verwendung eines den vermeintlichen Identitätsbruch überspringen-
den Possessivpronomens zu relativieren, um das Argument durchgehen zu lassen.
Wichtiger aber ist, zweitens, dass der rechtlich wie ethisch anerkannte Orientierungs-
maßstab für die Behandlung einwilligungsunfähiger Patienten ohne Verfügung und
ohne Mutmaßungsgrundlage – und so müsste ein Vertreter der Non-Identitäts-These
den Patienten hier konsequenterweise einordnen – sein objektives Wohlergehen (eng-
lisch: best interest) ist. Bei dessen schwieriger Bestimmung ist der natürliche Wille
nur ein Indikator für sein gegenwärtiges Befinden, die zukünftigen Aussichten müs-
sen auf der Grundlage allgemeiner Wertvorstellungen über die Zumutbarkeit von
künftigen Schmerzen, unverstandenen Eingriffen und progredienter Krankheit ge-
troffen werden. Das ist mitnichten leicht – bietet aber keine Hintertür für die Mitbe-
rücksichtigung der Verfügung einer wildfremden Person, als die der Verfasser der DV
Merkel doch in relevanter Hinsicht gilt.
Das zweite Beispiel (2004, S. 302 f.) skizziert einen DV-Verfasser, der den PDPI-
Konflikt voraussieht und ausdrücklich verfügt, auch in dieser Konstellation solle
seine Verfügung contra vitam in Kraft bleiben. Eine derartige Metadirektive15 ist un-
bestreitbar der Ausdruck eines ebenso informierten wie reflektierten und besonders
ernsthaften Verfasser-Interesses daran, in besagter Konfliktsituation nicht mit medi-
zinischen Maßnahmen am Leben erhalten zu werden. Es trifft also zu, dass gerade in
dieser Konstellation die Aberkennung jeder Verfügungsautorität über die Behand-
lung des späteren Patienten eine besonders gravierende Demütigung und Interessen-
verletzung für den betroffenen Verfasser wäre. Er würde unter ihr leiden, da eine sol-
che Regelung nicht im Verborgenen bleiben kann und sollte; er würde sich vielleicht
gar zu einem präventiven Suizid genötigt fühlen, um ein Lebensende zu verhindern,
das ihm unwürdig erscheint. Das alles aber kann zunächst nichts daran ändern, dass
unter der Prämisse der Non-Identitätsthese auch die Metadirektive die Anweisung
eines fremden Dritten wäre und daher im Entscheidungsprozess über die richtige Be-
handlung des Patienten nichts zu suchen hätte.
Auch in vielen anderen Situationen können Menschen ein gravierendes subjekti-
ves Interesse daran entwickeln, die Rechte anderer Personen beschnitten zu sehen.
Gleichwohl steht es ihnen in der Regel nicht zu, dieses Interesse durchzusetzen.
Wenn nun jemand dasselbe für seinen dementen ,Nachfolger‘ beansprucht, dieser

15
Dazu etwas mehr in Abschnitt VI.
1554 Bettina Schöne-Seifert und Marco Stier

aber – wie Non-Identitäts-Befürworter dies behaupten – nach belastbaren Kriterien


als anderer anzusehen ist, gilt dasselbe: Der Mangel an Verfügungsgewalt mag den
DV-Verfasser schmerzen, aber er muss sich aufgrund normativer Überlegungen
damit abfinden. Er müsste einsehen lernen, dass er anderenfalls eine Art moralischen
Rechenfehler beginge. Damit aufzuräumen wäre eine Aufklärungs-, nicht aber eine
normative Regelungsaufgabe. Wer dem intuitiv nicht zustimmen mag – wie dies für
uns selbst und vielleicht eben auch für Merkel zutrifft – sollte nachfragen, ob nicht
doch die Non-Identitäts-These oder die aus ihr gefolgerte Nicht-Zuständigkeits-
These unplausibel sind (dazu unten mehr).
Merkels drittes Beispiel behandelt einen PDPI-Konflikt mit untypischer Konstel-
lation – nämlich eine DV mit lebenserhaltenden Anweisungen und einem leidenden,
depressiven Patienten. Hier nun eine Lungenentzündung nicht zu behandeln, sei, so
Merkel, „ein Ergebnis, das vielen nicht akzeptabel erscheinen dürfte“ (2004, S. 303)
– ihn selbst offenbar eingerechnet. Uns hingegen erschiene das, die Non-Identitäts-
Prämisse wiederum unterstellt, sehr wohl einleuchtend: Eine quälende oder qualver-
längernde Behandlung, die man nicht mehr durchführen würde, wenn die Entschei-
dung sich allein am gegenwärtigen und absehbaren Patientenwohl orientierte, auf-
grund der Verfügung eines Fremden auch nur in Erwägung zu ziehen, imponiert
als mindestens so begründungsbedürftig wie die spiegelbildliche Entscheidung im
typischen PDPI-Fall. Und sollte es sich bei DV-Verfasser und Patient doch um die-
selbe Person handeln, ließe sich sehr wohl damit argumentieren, dass Ärzte und Pfle-
gekräfte nicht per DV zu quälenden Verhaltensweisen genötigt werden können, weil
dies ihre Rechte verletzen würde.16
Ein grundsätzliches Problem der Merkelschen Argumentation liegt mithin in der
Annahme eines „interpersonalen Konflikts“. Akzeptiert man nämlich vor dem Hin-
tergrund seiner These der Non-Identität, dass A1 und A2 verschiedene Personen sind,
und fragt sich, wie man das Ansinnen des gesunden und autonomen A1, der demente
A2 möge sterben, aufzufassen habe, dann liegt unserer Ansicht nach folgendes Urteil
am nächsten: Das Verlangen des A1 ist schlicht ungehörig! Es gibt in diesem Fall
nichts abzuwägen und nichts zu schlichten, sondern nur etwas zurückzuweisen.
Wer hier einen ,Konflikt‘ sieht, muss ihn auch zwischen dem Mörder und seinem
Opfer, zwischen dem Dieb und dem Bestohlenen sehen. Anders liegen die Dinge,
wenn man die Non-Identitätsthese aufgibt und von einem intra-personalen Konflikt
ausgeht.
Unser Zwischenfazit lautet daher auf eine maßgebliche Inkohärenz des Merkel-
schen Abwägungsvorschlags – fragt sich nur, ob ein insgesamt kohärenterer und zu-
gleich intuitiv plausibler Vorschlag überhaupt zu haben ist. Dazu ein paar kursorische
Überlegungen in den beiden nächsten Abschnitten.

16
In diesem Sinne argumentiert etwa auch Birnbacher (Birnbacher, Dieter, Patientenver-
fügungen und Advance Care Planning bei Demenz und anderen kognitiven Beeinträchtigun-
gen, Ethik in der Medizin 28(4), 2016, S. 283 – 294), wenn er eine Verfügung, die einen
qualvollen Nahrungsentzug anordnet, für unbeachtlich hält.
Zur Autorität von Demenzverfügungen 1555

V. Zum Verhältnis von Identitäts- und Entfremdungsproblematik


in der PDPI-Debatte
Personalität und personale Identität gehören in der Bioethik zu den philosophisch
tiefgründigsten und zugleich strittigsten Themen – mit Relevanz etwa für Fragen des
Embryonenschutzes, des Hirntods oder eben des PDPI-Konflikts. Den Versuch einer
umfassend begründeten eigenen Positionierung können wir hier nicht einmal in An-
fängen wagen.
Merkels Ansatz, dann und nur dann von der Identität einer Person über die Zeit
auszugehen, wenn zumindest eine minimale körperliche und psychische Kontinuität
besteht, scheint uns für die Zwecke der nachfolgenden Überlegungen durchaus ver-
nünftig und im Einklang mit verbreiteten Intuitionen über radikale Brüche der einen
oder anderen Art.17
Problematisch scheint uns hingegen Merkels pragmatische Überzeugung, die per-
sonale Identität eines Menschen sei
[…] nicht eine Frage des umfassenden Entweder/Oder. Sie kann bei ein und demselben
Menschen in zahlreichen Hinsichten, etwa in den meisten zivilrechtlichen Belangen, fort-
bestehen und zugleich in anderen fehlen, z. B. als Grund für die Zurechnung einer früheren
autonomen Verfügung zu einem jetzigen Alzheimer-Patienten. (1999, S. 509)

Und später:
Selbstverständlich sind der autonome Verfasser einer PV und der nicht mehr autonome
Adressat ihrer Wirkungen in zahlreichen anderen Hinsichten, vor allem als biologisches
Wesen aus Fleisch und Blut, ein- und dieselbe Person. Aber nicht in denjenigen Hinsichten,
die allein als Grundlage für eine PV in Betracht kommen. Die frühere PV, die allein auf der
Grundlage bestimmter höchstpersönlicher Überzeugungen entstanden ist, kann dem jetzi-
gen Patienten nicht zugerechnet werden, weil er mit diesen Überzeugungen keinerlei sub-
jektiven Zusammenhang (mehr) hat. Dann liegt es freilich auf der Hand, dass ihm die be-
lastenden, möglicherweise tödlichen Folgen der Verfügung erst recht nicht zugerechnet wer-
den dürfen.

Dass sich Urteile über personale Identität nicht notwendig in einem „Entweder/
Oder“ erschöpfen müssen, ist eine in der Philosophie verschiedentlich vertretene
These.18 Eine Person kann sich im Laufe ihres Lebens – lose gesprochen – ,unähn-
licher‘ werden. Das mag an den Entwicklungsprozessen liegen, die sie durchlebt, und
an den damit verbundenen Veränderungen ihrer Präferenzen, ihrer Weltanschaung
etc. Ein leider gar nicht seltener Sonderfall nun besteht eben dann, wenn einer der-
artigen Abschwächung der Identitätsrelation mentale Abbauprozesse zugrunde lie-
gen. Die oben diskutierten Persönlichkeitsveränderungen, die ein Patient im Laufe
17
„Es muß wohl so sein, daß beide Aspekte des Menschseins, nämlich, wenn die anti-
quierte Wendung gestattet ist, Leib und Seele bei der Frage nach personaler Identität über
vergehende Lebenszeiten hinweg irgendwie berücksichtigt werden.“ (Merkel, 1999, S. 506)
18
Stellvertretend für andere sei hier auf Parfit (Parfit, Derek, Reasons and Persons, New
York, Oxford University Press, 1984) als Klassiker verwiesen.
1556 Bettina Schöne-Seifert und Marco Stier

seiner sich mit der Zeit verstärkenden Demenz erleidet, zeigen das ebenso eindrucks-
voll wie erschreckend. Er wird ,sich selbst‘ unähnlicher, ohne aber doch ein anderer
zu werden. Was hier schwächer oder ,uneindeutiger‘ wird, ist die Identität über die
Zeit hinweg. Wenn Merkel jedoch feststellt, personale Identität sei keine „Frage des
umfassenden Entweder/Oder“, dann hat er offenkundig etwas ganz anderes, nämlich
das Folgende im Sinn: Die Identitätsrelation ,verblasst‘ nicht, sie wird aufgespalten.
Die so entstehenden einzelnen ,Identitätsstränge‘ scheinen dann der Eindeutigkeit
eines Entweder/Oder wieder zu gehorchen. Ob A1 und A2 identische Personen
sind, lässt sich darum zu ein und demselben Zeitpunkt in mancher Hinsicht vernei-
nen, in anderen Hinsichten aber bejahen. A1 und A2 sind damit zugleich identische
und nicht-identische Personen. Nur so lässt es sich verstehen, dass ,zwei‘ Individuen
als „biologisches Wesen aus Fleisch und Blut, ein- und dieselbe Person“ bleiben, dass
aber zugleich in diesem Körper „nun eine radikal andere Subjektivität, ein […] buch-
stäblich anderes Ich“ existiert (1999, S. 508). Wer der Merkelschen Idee folgt, müss-
te anzuerkennen bereit sein, dass jeder von uns zwei oder gar mehrere ,Personen‘ in
sich versammelt, und zwar derart, dass einige von ihnen über die Zeit hinweg iden-
tisch bleiben, während andere dies nicht tun. Zwischen dem Verfasser der DV und
dem Patienten wäre die Relation personaler Identität also sowohl erhalten als
auch zerstört. Das, so will uns scheinen, ist durchaus „eine riskante metaphysische
These über Personenidentitäten im Ablauf der biographischen Zeit“ (2004, S. 303).
Letztlich ist hier aber nicht primär das zugrunde gelegte Verständnis von ,Identi-
tät‘ problematisch, sondern das Konzept der ,Person‘. Nur dadurch, dass ,Person‘ auf
unterschiedliche Weise Verwendung findet, wird es möglich, die Identität sowohl zu
bejahen als auch zu verneinen. Es wäre nun aber wiederum zu einfach, nur zwischen
einem physischen und einem psychischen Identitätsstrang ,der‘ Person zu sprechen.
Es sind vielmehr kategorial anders zu fassende „Hinsichten“ in denen die Identität
erhalten oder aufgehoben sein kann. Merkel bezieht sich zum Beispiel auf zivilrecht-
liche Belange, in denen die Identität bald bewahrt ist, bald nicht (sowohl in 1999,
S. 509 als auch in 2004, S. 304).19 Der Personen-Begriff, das ist eine folgenreiche
Schwachstelle des ganzen Ansatzes, wird hier ad hoc in unterschiedlicher Weise ver-
wendet. Die Begründung dafür ist simpel: Physisch gesehen lässt sich von einem au-
ßerhalb philosophischer ,puzzle cases‘ im Hier-und-Jetzt lebenden Körper kaum be-
haupten, er habe ungeachtet seiner tadellosen Kausalgeschichte einen Identitäts-
bruch erlitten. Für gewisse zivilrechtliche Belange mag das ähnlich sein. Anderer-
seits wird die Non-Identität aber dringend gebraucht, um die Notstands-Lösung zu
rechtfertigen. Allein dadurch, dass der Begriff der Person aufgespalten wird, lässt
sich eine Hinsicht formulieren, in der es sinnvoll erscheint, von DV-Verfasser und
Patient als von unterschiedlichen Personen zu reden – obwohl ,die‘ Person in anderen
Hinsichten mit sich identisch geblieben ist. Nur auf der Basis einer Non-Identität
lässt sich der eingangs skizzierte Konflikt als inter-personal formulieren. Und nur

19
Merkel ist hier nicht recht entschieden, denn noch 1995 scheint er von „personaler
Verschiedenheit“ bei „körperlicher Identität“ (1995, S. 568) zu sprechen.
Zur Autorität von Demenzverfügungen 1557

auf dieser Grundlage kann Merkel wiederum seine notstandsanaloge Lösung formu-
lieren. Der philosophische Preis aber, der dafür gezahlt wird, scheint uns zu hoch.20
Naheliegender wären unserer Ansicht nach folgende Lesart einer Identitätsrela-
tion zwischen DV-Verfasser und Patient: Wir stimmen der These zu, dass hier in ge-
wisser Hinsicht eine ,Identität‘ nicht zu leugnen ist, während sie in anderer Hinsicht
nicht mehr sinnvoll behauptet werden kann. Und wir teilen auch Merkels Intuition,
dass beide, Körper und Geist, „irgendwie berücksichtigt“ (1999, S. 506) werden
müssen. Anders als er gehen wir jedoch – in starker Anlehnung etwa an David De-
Grazias Überlegungen21 – davon aus, dass eine relevante körperliche Identitätsrela-
tion, die sogenannte numerische, unabhängig von psychischer Kontinuität besteht.22
Letztere hingegen bedingt die darüber hinausgehende narrative Identität und ist
Grundlage von „Selbstnarration“ und „Selbstkreation“, wie sie uns Menschen we-
sentlich zukommt und wichtig ist.23 Nach DeGrazia besteht sie in schwacher
Form bei antizipierender Identifikation des DV-Verfassers mit seinem späteren de-
menten Ich, während sie bei diesem verloschen ist. 24 Auf diese Weise lässt sich
die kontraintuitive und zu verschiedenen Paradoxien führende Idee einer zugleich
erhaltenen und zerstörten Identität vermeiden, ohne die deskriptive und normative
Komplexität massiver Persönlichkeitsveränderungen zu unterschlagen.
Damit allerdings ist Merkels Grundbedenken keineswegs gegenstandslos, man
dürfe einen lebenswilligen und behandelbaren Patienten doch nicht bloß aufgrund
einer früher erstellten Verfügung sterben lassen,

20
Das besagt nicht, dass der Identitätsbegriff und andere Schlüsselkonzepte in der Bioethik
metaphysisch wasserdicht sein müssen und unabhängig von normativen Überlegungen gebil-
det werden können. Sie sollten freilich auch nicht unnötig „riskant“ sein. Vgl. dazu Shoemaker
(Shoemaker, David: Personal identity and bioethics: the state of the art, Theoretical Medicine
and Bioethics 31, 2010, S. 249 – 257) sowie DeGrazia (Fn. 3), S. 9.
21
DeGrazia (Fn. 3): Zum PDPI-Konflikt siehe Kapitel 5, zu den Fragen der menschlichen
Identitätsrelationen siehe das gesamte Buch.
22
Hier kann offen bleiben, ob diese, wie von DeGrazia vertreten, an der Fortexistenz des
Körpers (biological approach) oder eines zumindest minimal funktionierenden Gehirns (mind
essentialism) hängt, da auch bei fortgeschrittener Demenz beide Dimensionen weiterbestehen.
23
„Human persons are (1) essentially human animals and (2) characteristically self-nar-
rators and (where circumstances permit) self-creators who care about continuing as such.
Thus, we – who are now human persons – are human animals, but not necessarily persons,
throughout our existence. But we human persons all have, and will continue to have so long as
we are persons, inner stories whose overall character and direction matter to us. More fun-
damentally, much of what matters to us is our continued existence as persons – as beings
whose complex forms of consciousness make self-narration and self-creation possible. Yet we
cannot continue to exist as persons unless we continue to exist. That is why narrative identity,
on the present view, presupposes numerical identity.“ (DeGrazia [Fn. 3], S. 114)
24
„Let us call weak narrative identity the relation that is created when a person projects her
self-narrative to a future time when she will exist without narrative capacity, as with decision
making in accordance with precedent autonomy“ a.a.O., S. 180.
1558 Bettina Schöne-Seifert und Marco Stier

[…] von der dieser Mensch nicht mehr das Geringste weiß oder auch nur begreifen könnte
und die seinen heutigen Interessen so fern ist wie die exzentrische Neigung eines beliebigen
Dritten. (2004, S. 508)

Die irreversible psychische Entfremdung von der früheren Verfügung lässt sich
vielmehr auch unter der Annahme erhaltener (numerischer) Identität als Einwand
gegen die Autorität der Verfügung geltend machen. Besonders systematisch hat Jen-
nifer Hawkins diesen Entfremdungs-Einwand in einem Aufsatz von 2014 unter-
sucht.25 Damit die Erfüllung irgendeiner Präferenz oder, noch genereller, die Reali-
sierung irgendeines Sachverhalts intrinsisch zum Wohlergehen einer Person beitra-
gen könnte, müsste sie, so Hawkins, zum Zeitpunkt der Wohlergehensbeurteilung
das „Prinzip des Nichtfremdseins“ (nonalienness principle [NA]) erfüllen. Dabei
sei NA als die Forderung definiert, dass die betroffene Person auf den in Rede ste-
henden Sachverhalt zum Zeitpunkt der Wohlergehensbeurteilung mental positiv rea-
gieren würde, wenn sie seiner gewahr wäre.26 Der schwerst demente Patient aber,
dem man mitteilte, man werde seiner DV gehorchen und eine lebensrettende Behand-
lung daher unterlassen, kann das alles nicht mehr verstehen, geschweige denn positiv
bewerten (siehe oben: Abschnitt II., Bedingung 3.2). Eine DV-Befolgung könne also
wegen ihrer Verletzung von NA nicht zum Wohlergehen des Kranken beitragen.
Mit dem Insistieren auf NA, für das Hawkins vor allem verbreitete und kohärente
Intuitionen anführt, weist sie eine prominente ethische Lösungsstrategie für den
PDPI-Konflikt zurück, nämlich den pionierhaften und weit rezipierten Vorschlag Ro-
nald Dworkins.27 Dieser analysiert das Problem als einen zum Zeitpunkt der zu tref-
fenden Behandlungsentscheidung bestehenden (intrapersonalen) Konflikt zwischen
den früheren kritischen Interessen des Patienten, die sich als Würdevorstellungen in
der DV niederschlugen, und den aktuellen erlebnisbezogenen Interessen des De-
menzpatienten. Bei der Frage nun, ob eine Behandlung im besten Interesse des Pa-
tienten liege, sollten die kritischen Interessen die ,bloß‘ erlebnisbezogenen aus ka-
tegorialen Gründen übertrumpfen:
Competent people who are concerned about the end of their lives […] will naturally worry
about how they might be treated if they become demented. Someone anxious to ensure that

25
Hawkins (Fn. 8), S. 526 ff.
26
Im Wortlaut: „More formally, NA says it is a necessary condition of X’s being intrinsi-
cally good for A at T1 that either (1) A responds positively to X at T1 if she is aware of X at T1
or (2) A be such that she would respond positively to X at T1 if she were aware of X at T1.“
(ebd. S. 527).
Die schwächere Bedingung (2) umfasst Bedingung (1), daher haben wir im Haupttext nur
diese paraphrasiert. Zu Recht betont Hawkins, dass die Befürwortung von NA kompatibel mit
ganz unterschiedlichen Wohlergehenstheorien ist und dass das hypothetisch formulierte NA
deutlich weniger verlangt als die in Wohlergehensdebatten umstrittene Erfahrungsbedingung
(experience requirement), die ein tatsächliches positives Reagieren fordert (ebd. S. 526 ff.).
Fraglich ist allerdings, in welchem Sinne der Schwerstdemente der Sachverhaltsrealisierung
DV-Erfüllung überhaupt noch gewahr werden kann – hier muss eine sehr schwache Lesart
gewählt werden.
27
Dworkin (Fn. 3), Kap. 8.
Zur Autorität von Demenzverfügungen 1559

his life is not then prolonged by medical treatment is worried precisely because he thinks that
the character of his whole life would be compromised if it were.28

Hier ist der kategoriale Unterschied zwischen kritischen und erlebnisbezogenen


Interessen angedeutet. Beide unterscheiden sich nicht etwa primär darin, das erstere
wohlüberlegt und letztere nur dem Genuss des Moments verhaftet sind. Erlebnisbe-
zogene Interessen können durchaus anspruchsvoll sein, wie etwa eine Weltreise die
man lange und akribisch vorbereitet. Dennoch beziehen sie ihren Wert allein aus
ihrem Erlebtwerden. Kritische Interessen zielen stattdessen auf das Leben als Gan-
zes, wie Dworkin nicht müde wird zu betonen. Werde ein erlebnisbezogenes Inter-
esse nicht befriedigt, dann möge das bedauerlich sein, nicht aber tragisch. Werde hin-
gegen ein kritisches Interesse verfehlt, könne dies ein ganzes Leben entwerten. In
diesem Sinne bestehe das beste Interesse auch eines Demenzpatienten in der Erfül-
lung seiner (früheren) kritischen Interessen.
When we ask what would be best for him, we are not judging only his future and ignoring his
past. We worry about the effect of his life’s last stage on the character of his life as a whole, as
we might worry about the effect of a play’s last scene or a poem’s last stanza on the entire
creative work.29

Insgesamt scheint uns das Konzept der kritischen Interessen in begrifflicher wie
praktischer Hinsicht sympathisch. Dennoch ist zweierlei contra Dworkin anzumer-
ken. Erstens: Dworkin ist zuzustimmen, dass Personen kritische Interesse haben,
mitunter nur implizit, mitunter werden sie erst „in moments of special crisis or
drama“30 artikuliert. Das Narrativ des ein ganzes Leben ruinierenden verfehlten kri-
tischen Interesses halten wir hingegen für überzogen. Damit wollen wir, wohlge-
merkt, nicht die mannigfaltige Relevanz von kritischen Identifikationen dieser Art
leugnen. Zweitens: kann unseres Erachtens auch kein kritisches Interesse den ,Ab-
grund‘ zwischen dem DV-Verfasser und dem Dementen überbrücken. Das Interesse
des dementen Patienten als solches bleibt also von den Wünschen und Werten der
ehemals autonomen Person unbeeindruckt, wie kritisch diese auch sein mögen.
Genau diesen letzten Punkt nun macht Hawkins mit NA stark und erklärt die Er-
füllung der früheren kritischen Interessen für gänzlich irrelevant bei der Bestimmung
des Patientenwohls zum Behandlungszeitpunkt. Ebenso wendet sie sich dagegen, die
früheren kritischen Interessen zwar nicht mehr für gegenwartsrelevant zu halten, aber
doch für teil-beachtlich (mit einem Prä, wenn sie über einen wesentlich längeren
Zeitraum bestanden, als die Phase schwerer Demenz potentiell dauern kann).31

28
A.a.O., S. 228.
29
A.a.O., S. 199.
30
A.a.O., S. 200.
31
Hawkins (Fn. 8), S. 523 ff. Damit wendet sich Hawkins gegen Jeff McMahan, der der
Ansicht ist, die Demenzphase sei „isolated from the rest of the life by the dramatically
weakened prudential unity relations“ (McMahan, Jeff, The Ethics of Killing. Problems at the
Margin of Life, New York, Oxford University Press 2002, S. 499), zugleich aber – anders als
1560 Bettina Schöne-Seifert und Marco Stier

Die Forderung, das intrinsische Wohlergehen eines Menschen durchgängig ak-


tuell zeitrelativ und mentalistisch zu verstehen und also erloschene Präferenzen in
dieser Hinsicht für irrelevant zu erklären, ist auch nach unserer Auffassung nicht
leicht von der Hand zu weisen. Uns selber geht es beim Nachdenken über diese For-
derung wie beim Betrachten eines Vexierbildes: Bald scheint sie uns zu Recht einer
basalen und durchgängigen Intuition zu folgen, bald wiederum scheint sie gerade im
Extremfall des PDPI-Konflikts eine Ausnahme zugunsten einer Mitberücksichti-
gung der ,Gesamtleben-Interessen‘ zu verlangen. Im Folgenden wollen wir skizzie-
ren, wie man mit einem zusätzlichen Argument dennoch die moralische Autorität
einer DV im PDPI-Konflikt begründen kann.

VI. Unsere eigene Position: Freiheit zur Zukunftsgestaltung


Unter der Annahme, dass – contra Merkel – der einwilligungsfähige Verfasser
einer DV und der später betroffene Patient hinreichend (nämlich numerisch) iden-
tisch sind, um als „Derselbe“ verstanden zu werden, hat man für die aktuelle Behand-
lungsentscheidung grundsätzlich drei potentiell bedeutsame Orientierungspunkte:
(i) die aktuellen erlebnisbezogenen Interessen des Patienten, (ii) seine ihm inzwi-
schen fremd gewordenen („erloschenen“) früheren kritischen DV-Präferenzen und
(iii) sein im Akt der Verfügung zum Ausdruck gebrachter Wunsch, dass allein (ii)
als Orientierungsmaßstab genommen werden solle. Während es im vorigen Ab-
schnitt um die Parameter (i) und (ii) als Maßstäbe für das Wohlergehen ging, ist Pa-
rameter (iii) als separater Aspekt zu betrachten. Dass diese Unterscheidung in der
Debatte nicht durchgängig getroffen wird, hängt maßgeblich an einer gewissen Un-
schärfe des oben diskutierten Dworkin-Vorschlags. Dieser nämlich kann als Vertei-
digung sowohl des Vorrangs kritischer vor erlebnisbezogenen Interessen als auch als
des Vorrangs der DV-Verfasser-Autonomie vor Wohlergehensaspekten verstanden
werden. Für beides liefert Dworkin passende Formulierungen, die in der Rezeption
entsprechend aufgegriffen werden.32 Beides aber sollte voneinander getrennt werden.
Um die Separatheit des Autonomie-Arguments zu stärken, stelle man sich vor, der
paradigmatische Demenzpatient sei in früheren Tagen gar nicht auf die Idee einer DV
gekommen, habe aber ohne den Hauch eines Zweifels soziale und intellektuelle As-

Hawkins – meint: „the Demented Patient’s present good ought to be sacrificed for the greater
good of her earlier self, which is also the greater good of her life as a whole“ (a.a.O., S. 502).
32
Exemplarisch: Dworkin (Fn. 3), S. 337: „I argued that a person who has become de-
mented retains his critical interests because what happens to him then affects the value or
success of his life as a whole.“
Und andererseits: „A competent person’s right to autonomy requires that his past decisions
about how he is to be treated if he becomes demented be respected even if they contradict the
desires he has at that later point. If we refuse to respect Margo’s precedent autonomy – if we
refuse to respect her past decisions, though made when she was competent, because they do
not match her present, incompetent wishes – then we are violating her autonomy on the
integrity view.“ (A.a.O., S. 228 – Hervorhebungen in beiden Zitaten durch uns).
Zur Autorität von Demenzverfügungen 1561

pekte für die essentiellen Bestandteile eines subjektiv akzeptablen Lebens gehalten.
Unterscheidet sich seine Situation in ethischer Hinsicht maßgeblich von der eines
Patienten mit einer entsprechenden DV? Wir meinen: ja und sehen – wenig überra-
schend – den Unterschied in der ,intendierten Selbstbindung‘ des Letztgenannten.
Selbstbindungen ganz unterschiedlicher Inhalte sind ein verbreitetes und wichti-
ges Element menschlicher Lebensgestaltung, ohne das sich Zukunftsplanungen in
eigener Sache gar nicht realisieren ließen. Inhaltlich kann es sich dabei um Selbst-
verpflichtungen sozialer, beruflicher, weltanschaulicher Art handeln – etwa um eine
Lebenspartnerschaft, eine Studienwahl oder die Entscheidung zum ethischen Vege-
tarismus. Formal resultieren daraus Zusagen, Festlegungen, Versprechungen oder
Dispositionen gegenüber Dritten oder sich selbst, wobei es uns an dieser Stelle
nicht um deren soziale oder rechtliche Ausgestaltung (in Form von Verträgen etc.)
geht, sondern um die intendierte Selbstbindung und deren ethische Relevanz.
Diese nun scheint daran zu hängen, dass Selbstbindungen in vielen Fällen aus Vor-
stellungen darüber resultieren, wer man sein möchte, welches Leben man führen, als
wer man wahrgenommen werden möchte – und dass wir in diesen Entscheidungen,
einschließlich der zu ihrer Realisierung erforderlich erscheinenden Selbstbindung,
frei sein wollen. Freiheit in der persönlichen Lebensgestaltung – innerhalb der Zwän-
ge und Kontingenzen, die sich normativ begründen oder faktisch nicht vermeiden
lassen – ist das kondensierte Credo des westlich geprägten Liberalismus. Und es
gibt dabei eine offenkundige Koppelung zwischen diesem Credo und jenen Interes-
sen, die wir oben mit Dworkin als kritische Interessen klassifiziert haben: Freiheits-
präferenzen richten sich naheliegenderweise zumeist auf zentrale Aspekte der per-
sönlichen Lebensgestaltung und es sind diese, die zu ihrer Realisierung teilweise
der Selbstbindung bedürfen. Gleichwohl ist diese Koppelung nicht zwingend: Men-
schen mögen kritische Interessen haben und sich doch, etwa aufgrund von Zielkon-
flikten, Willensschwäche, Unsicherheit, Zukunfts- oder Bindungsangst, nicht an sie
binden wollen. Daher muss man zwischen kritischen Interessen und ihrer Beglaubi-
gung oder Bekräftigung durch eine Form der Selbstverpflichtung – also zwischen den
Aspekten (ii) und (iii) unserer obigen Auflistung – unterscheiden. Wer eine DV ver-
fasst, die seine persönlichen Vorstellungen davon zum Ausdruck bringt, wie er im
Stadium hochgradiger geistiger Defizienz erlebt und behandelt werden möchte, rea-
lisiert aber offenkundig beide (ethisch potentiell relevanten) Aspekte.
Gegen diese Kategorisierung von DVs als freiheitsrelevante Selbstbindung wer-
den (jenseits der oben zurückgewiesenen Non-Identitäts-These) zwei Argumente ins
Spiel gebracht: das ,Recht auf eine offene Zukunft‘ und die Verbotenheit einer
Selbstversklavung. Beide hängen miteinander zusammen und können hier nur in
sehr kurzer Form behandelt werden. Das Recht auf eine offene Zukunft postuliert,
soweit es um dessen Verletzung durch eigenes Handeln geht,33 das Anrecht eines
33
In der Regel geht es den Befürwortern dieses in der Tat gewichtigen Anrechts darum,
dass eines Menschen, insbesondere eines Kindes, Recht auf die Entwicklung eigener bzw.
neuer Präferenzen nicht durch Dritte verletzt werden darf. Notorisch wird dies im Zusam-
menhang mit kindlichem Enhancement, Erziehung etc. diskutiert.
1562 Bettina Schöne-Seifert und Marco Stier

Menschen darauf, seine selbstbezüglichen Präferenzen und die darauf basierenden


Entscheidungen im Laufe des Lebens ändern zu dürfen.34 Dieses Postulat erscheint
auch uns von zentraler Bedeutung und zudem dazu angetan, gelegentlich in ethische
und praktische Konflikte mit dem Recht auf Selbstbindung zu geraten – allerdings
nicht im Kontext von DVs, wo es ja gerade nicht um die Änderung oder Negierung
einer bestimmten kritischen Präferenz geht, sondern um deren irreversibles Verges-
sen – und zwar durch die Unfähigkeit, überhaupt noch Präferenzen auf dieser Ebene
zu haben, zu bilden und zu verstehen. In den Worten von Jongsma et al.:
[P]atients with dementia do not choose what they forget. There is a difference between
,choosing‘ and ,losing‘ abilities and preferences. Even though a patient with dementia
might seem to behave similar to a person who has chosen to drop his former beliefs, it is
highly questionable whether the patient with dementia and the person who has willingly
dropped his beliefs should also be treated in the same manner.35

Dies ist klarerweise ein Sonderfall, der in deutlicher Disanalogie zu all den Fällen
steht, in denen wir das Recht auf eine offene Zukunft geltend machen.
Der zweite Einwand, das ethische Verbot einer ,Selbstversklavung‘, suggeriert
mit viel semantischem Aplomb die Vergleichbarkeit einer DV-Befolgung mit der
Recht- und Würdelosigkeit eines in Sklaverei gehaltenen Menschen. Sklaverei ist
aus mindestens drei gewichtigen Gründen ethisch zu verurteilen: Sie widerspricht
in aller Regel aufs Massivste den kritischen Interessen der Versklavten; sie verletzt
das Gebot der Gleichkeit aller Menschen und sie torpediert das ,Recht auf eine offene
Zukunft‘. Nur in diesem letzten Punkt könnte eine DV-Befolgung überhaupt als Spe-
zialvariante von Menschenhandel und -unterdrückung angesehen werden und dazu
haben wir uns im voranstehenden Absatz bereits geäußert. Eine sprachlich mildere
Form des Selbstversklavungseinwands wurde schon von Immanuel Kant gegen die
Erlaubtheit des Suizids formuliert und wird seitdem kantianisch gewandet in Debat-
ten um intendiertes Sterben perpetuiert: Autonomie, so heißt es, dürfe nicht dazu ein-
gesetzt werden, die Bedingungen ihrerer eigenen Möglichkeit zu vernichten. Kurz:
eine freiwillige Entscheidung dagegen, weiterhin in Freiheit leben zu können, sei ein
performativer Widerspruch. Diese Position, die sich gegen DVs schon deshalb nicht
richten könnte, weil hier von einem Weiterleben in der gemeinten Freiheit (zum au-
tonomen Entscheiden) gar nicht die Rede sein kann, ist als geradezu absurd abzu-
tun.36 Ihr offenkundiger Fehler besteht darin, praktizierte persönliche Autonomie

34
Vgl. Hallich (Fn. 3), S. 229 ff.
35
Jongsma, Kars und van Delden (Jongsma, Karin R./Kars, Marijke C./van Delden, Jo-
hannes J. M., Dementia and advance directives: some empirical and normative concerns,
Journal of Medical Ethics 45, 2019, S. 92 – 94 [S. 93]) – die damit eine Gegenposition zu
Hallich (Fn. 3) beziehen.
36
Vgl. Schöne-Seifert, Bettina, Selbstbestimmte Lebensbeendigung als Selbstwider-
spruch? Prüfung eines (Kantianischen) Arguments gegen aktive Sterbehilfe und Suizid, in:
Carmen Kaminsky/Oliver Hallich (Hrsg.), Verantwortung für die Zukunft: zum 60. Geburtstag
von Dieter Birnbacher, 2006, S. 163 – 174.
Zur Autorität von Demenzverfügungen 1563

als ein quantifizierbares objektives Gut zu behandeln und nicht, wie es angemessen
ist, als ein Wert für ihren Träger.
Selbstbindungen gegen aktuelle erlebnisbasierte Interessen im Zustand schwerer
Demenz zu respektieren, setzt ein hohes Maß an Informiertheit und Eindeutigkeit der
DV voraus, weshalb regelmäßig eine explizite antizipierende Regelung des PDPI-
Konflikte in der DV vorgeschlagen bzw. verlangt wird37 – eine Überlegung, die
schon Merkel angestellt hat (2004, S. 301 f.), freilich ohne einer solchermaßen deut-
lichen DV am Ende Dominanz zuzusprechen.
Selbstbindung für den Fall vorübergehender oder unwiderruflicher Autonomieun-
fähigkeit38 wird in der angloamerikanischen Literatur als precedent autonomy – vor-
ausgehende Autonomie – bezeichnet.39 Sie grundsätzlich ebenso zu respektieren wie
Jetzt-für-jetzt-Autonomie, wie wir und andere dies vorgeschlagen haben, folgt offen-
kundig weder aus begrifflichen noch gar aus metaphysischen Einsichten. Auch nor-
mativ gesehen ist dieser Vorschlag nicht zwingend – wohl aber sollte sie das kohä-
rente Ergebnis einer normativen gesellschaftlichen Verabredung auf Wert und Re-
spekt von selbstbezüglicher Freiheit sein, sei diese nun vorausgehend oder aktual.

VII. Fazit
Es gibt Dinge im Leben eines Menschen, die verweisen ihn ganz auf sich selbst
zurück. Die Entscheidung über die Art und Weise des eigenen Lebens in möglicher
fortgeschrittener Demenz kann dazu gehören. Er sollte diese Entscheidung – wenn
das Paradox hier gestattet ist – nicht alleine treffen müssen, aber treffen muss er sie
allein. Ist er dann nach reiflicher Überlegung und gut informiert zu einem Entschluss
gekommen, dann sollte dieser auch respektiert werden – im Namen der Freiheit, die
wir einander zugestehen sollten und die vielen Menschen Erhebliches bedeutet.
Unser Plädoyer also lautet: Höchstpersönliche Angelegenheiten verlangen oft
nicht nur ein Höchstmaß an individueller Freiheit, diese Freiheit verlangt auch ein

37
Vgl. DeGrazia (Fn. 3), S. 186 ff., für die Praxis auch schon Nationaler Ethikrat: Stel-
lungnahme Patientenverfügung, 2005, S. 22 ff.
38
Dass schwerstdemente Patienten gänzlich unfähig sind, irgendwelche autonomen Ent-
scheidungen (im Sinne reflektierter, informierter und freiwilliger Entschlüsse) zu treffen,
scheint uns ebenso wie DeGrazia (Fn. 3), S. 188 ff. oder Dworkin (Fn. 3), S. 225 f.) vollkom-
men unbestreitbar. Der häufig geforderte Respekt vor der „Selbstbestimmung“ dieser Patien-
ten kann in sinnvoller deskriptiver wie normativer Weise nur das Befördern und Respektieren
unschädlichen Wahlverhaltens meinen, welches zum aktuellen Wohlergehen beitragen kann.
So lesen wir auch den Beitrag von Agnieszka Jaworska (Jaworska, Agnieszka, Respecting the
margins of agency: Alzheimer’s patients and the capacity to value, Philosophy & Public
Affairs 28, 1999, S. 105 – 138), die selbst allerdings wohl zu einem schwächeren Verständnis
von Autonomie neigt als wir.
39
Vgl. Davis, John K., Precedent autonomy, Advance Direcitves, and End-of-Life Care, in:
Steinbock, Bonnie (Hrsg.), The Oxford Handbook of Bioethics 2007, S. 349 – 374.
1564 Bettina Schöne-Seifert und Marco Stier

hohes Maß an Achtung und Respekt. Demenzverfügungen (mit klarer Antizipation


eines möglichen PDPI-Konflikts) gehören dazu.
Zu vielen Aspekten dieser Problematik hat sich Reinhard Merkel in seiner scharf-
sinnigen und pointierten Weise schon früh geäußert. Und so gibt es zumindest im
deutschen Schrifttum vermutlich keinen Autor, der hierzu arbeitet, ohne sich in
der einen oder anderen Weise auf ihn zu beziehen oder beziehen zu sollen. Auch
die von uns angestellten Überlegungen können über weite Strecken kaum mehr
sein als dies: Fußnoten zu Merkel.
Zur Legitimation der gesetzlichen Regelungen
der Nierenlebendspende
Von Ulrich Schroth

I. Einleitung
Werfen wir zunächst einen Blick auf die Statistik.1

Weder die postmortale Transplantation noch die Lebendspende, die nur einen mi-
nimalen Anteil ausmacht, vermögen den Bedarf an Nieren abzudecken. Die Nieren-
lebendspende war bis 2008 eine Erfolgsgeschichte, die Anzahl der Lebendspenden
stieg kontinuierlich an. Dann ist eine Stagnation bzw. ein Rückgang festzustellen. Im
1
https://www.dso.de/DSO-Infografiken/DOT_2018_03_31_Anmeldung_Niere.jpg (abgeru-
fen am 23. 07. 2019). Zu den aktuellen Zahlen vgl. auch Deutsche Stiftung Organtransplanta-
tion (DSO), Jahresbericht 2018, S. 84 f.
1566 Ulrich Schroth

Jahr 2018 war erstmals wieder ein Anstieg zu verzeichnen. Um Schwerkranken zu


helfen, wäre ein weiterer Anstieg der Lebendspenden wünschenswert.
Im Folgenden sollen gesetzliche Rahmenbedingungen der Lebendspende auf den
Prüfstand gestellt werden. Es soll analysiert werden, ob sie normativ angemessen
sind.

II. Grundlegung
In der internationalen medizinethischen und medizinrechtlichen Diskussion hat
sich das Prinzip der Notwendigkeit der Respektierung der Autonomie des Patienten
– gerade in den letzten Jahren – mit guten Gründen zur Leitidee entwickelt. Was
diese Entwicklung zur Leitidee bedeutet, wird besonders bei der Organspende von
Lebenden deutlich. Nehme man das Schädigungsverbot des Hippokratischen Eids
ernst, wäre die Lebendorganspende, die einen ärztlichen Eingriff bei einem gesunden
Menschen voraussetzt, moralisch und – wenn man das Schädigungsverbot für recht-
lich garantiert hält – auch rechtlich untersagt.
Die hippokratische Position, die einem verabsolutierten Prinzip der Schadensver-
meidung folgt und konsequenterweise die Entnahme eines Organs beim Gesunden
für unerlaubt halten muss, widerspricht anderen Leitprinzipien gegenwärtiger medi-
zinischer Ethik und gegenwärtigem Medizinrecht.
Sie kollidiert zum einen mit dem Prinzip der Nutzenmaximierung für die Betrof-
fenen, da jedenfalls bei der Lebendspende einer Niere außer Frage steht, dass der Akt
der Spende in seiner Nutzenfunktion die Lage der Betroffenen insgesamt verbessern
kann. Verbessert wird die Gesundheit des Organempfängers; verbessert werden kann
aber auch die psychische Situation des Organspenders. Zum anderen – und dies er-
scheint wegen der problematischen Natur utilitaristischer Argumente bedeutsam –
wird die hippokratische Position dem Selbstbestimmungsrecht der Patienten nicht
gerecht. Die hippokratische Tradition ist paternalistisch, d. h. sie versteht die überra-
gende Bedeutung nicht, die dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten bei der Ent-
scheidung über seinen Körper, über Risiken und Behandlungsalternativen oder über
einen Behandlungsverzicht zukommt. Wir begreifen es jedoch heute als eines unse-
rer wichtigsten normativen Prinzipien, dass Menschen in sehr weiten Grenzen die
Befugnis haben, über das Rechtsgut ihrer körperlichen Integrität zu entscheiden. Per-
sonen haben in der Terminologie des amerikanischen Rechtsphilosophen Dworkin
nicht nur „erlebensbezogene“ Interessen, zu denen die Gesundheit, die Freiheit
von Schmerzen, die körperliche Berührung und die körperliche Integrität gehören,
sondern auch „wertbezogene“ Interessen. Wertbezogene Interessen beziehen sich
darauf, was für ein Mensch man sein will, was ein Leben im Ganzen sinnvoll und
gelungen macht. Sie können nicht stellvertretend von anderen wahrgenommen wer-
den, auch nicht von einem Arzt. Dieses Prinzip des Respekts gegenüber Personen
gründet in der wechselseitigen Anerkennung von Personen als Subjekte solcher wert-
Zur Legitimation der gesetzlichen Regelungen der Nierenlebendspende 1567

bezogenen Interessen. Die Entscheidung für die Organlebendspende ist, soweit sie
freiwillig ist, das berechtigte Verfolgen eines wertbezogenen Interesses.
Zur Organspende bereiten Menschen das Schädigungsverbot entgegenzuhalten,
ist nichts anderes als Bevormundung. Geht man hiervon aus, so ist es zwangsläufig,
dass sich die Vorstellung nicht halten lässt, die ethische und juristische Rechtferti-
gung der Lebendspende hänge mit einer bestimmten Motivation des Spenders – näm-
lich einer altruistischen – zusammen. Ihre moralische und verfassungsrechtliche
Rechtfertigung findet die Lebendspende im Prinzip der Notwendigkeit des Respekts
vor der Autonomie von Spender und Empfänger. Sie ist damit unabhängig davon, von
welcher Motivation der Organspender getragen ist.
Ein immer wieder angeführter Einwand gegen die Legitimation der Organlebend-
spende über die Einwilligung des Organspenders geht dahin, dass es hier überhaupt
kein autonomes Handeln geben könne. Eine derartige Argumentation verwechselt
eine freiwillige mit einer leichten Entscheidung.2 Eltern, die vor der Wahl stehen,
ihr von akutem Organversagen bedrohtes Kind sterben zu lassen oder ihm einen
Teil ihres Organs zu spenden, haben eine schwere Entscheidung zu treffen. Aber
weder die Tatsache, dass der Spender zwischen zwei Übeln – dem Eingriff in
seine Unversehrtheit einerseits und dem Leiden des Kindes anderseits – zu wählen
hat, noch der Umstand, dass er sich in einer Lebenssituation befindet, die mit starkem
Aufforderungscharakter auftritt, steht einer autonomen Entscheidung grundsätzlich
entgegen. Der Druck einer Situation verhindert keine freie Entscheidung des Organ-
lebendspenders. Von einer freiwilligen Entscheidung spricht man auch dann, wenn
eine Entscheidung getroffen wird, die mit der Wertvorstellung des Organspenders in
Übereinstimmung ist. Diese Entscheidung ist nämlich dann authentisch. Auch die
Authentizität einer Entscheidung begründet deren Freiwilligkeit. Etwas anderes
gilt, wenn Dritte auf den Spender Druck ausüben, um diesen zu einer Organspende
zu nötigen. Dieser Druck begründet eine unfreiwillige Entscheidung, da der Spender
eine Entscheidung trifft, die nicht in seinem Wertesystem, sondern in dem System
eines Dritten wurzelt.
Die Spenderautonomie, die verfassungsrechtlich, aber auch strafrechtlich abgesi-
chert ist, hat drei Funktionen:3
• Sie ist ein Bollwerk gegen jedes eigenmächtige Herangezogenwerden des Le-
bendspenders.
• Sie erlaubt, körperbezogene Schutzvorschriften durch autonome Entscheidungen
außer Kraft zu setzen. Die Spenderautonomie gewährt dem Organspender die

2
Gutmann, in: Schroth/König/Gutmann/Oduncu, TPG, § 8 Rn. 56.
3
Vgl. dazu Schroth, Ärztliches Handeln und strafrechtlicher Maßstab. Medizinische Ein-
griffe ohne und mit Einwilligung, ohne und mit Indikation, in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Hand-
buch des Medizinstrafrechts, S. 30 ff.; zur verfassungsrechtlichen Problematik vgl. Di Fabio,
in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1 GG, Rn. 204 ff.
1568 Ulrich Schroth

Kompetenz, seine wertbezogenen Interessen – hierzu gehört auch die Möglichkeit


zur Organspende – zu verwirklichen.
• Schließlich garantiert sie dem Arzt, dass er, soweit er im Rahmen der Vorstellung
des Patienten handelt, nicht in Anspruch genommen werden kann.

III. Einwilligung und Aufklärung


Die Lebendspende legitimiert sich aus der autonomen bzw. authentischen Einwil-
ligung des Lebendspenders. Dies bedeutet, dass der Gesetzgeber nicht nur verlangen
muss, dass der Organlebendspender einsichtsfähig ist und bei ihm keine Willensmän-
gel vorliegen – weder solche über Drohung noch solche über Zwang –, sondern auch
verlangen sollte, dass der Organlebendspender die hinreichenden Informationen ver-
mittelt bekommt, die notwendig sind, um sich selbst bestimmen zu können.
Ein Aufklärungsverzicht ist nicht möglich. Scheinfeld hat dies in differenzierter
Weise angegriffen.4 Dieser Auffassung sind meines Erachtens jedoch entscheidende
Gründe entgegenzusetzen. Einmal ist zu sagen, dass eine Verletzung der Aufklä-
rungspflicht explizit strafbewehrt ist in § 19 Abs. 1 Nr. 1 TPG. Dies nicht ohne
Grund, da der Gesetzgeber wollte, dass Ärzte umfassend aufklären. Weiter kommt
hinzu, dass Aufklärungspflichten auch insofern gesichert werden, als bei der Aufklä-
rung ein neutraler Arzt – ein Arzt, der absolut nichts mit der Transplantation zu tun
hat – anwesend sein muss. Das heißt, der Gesetzgeber möchte, dass Aufklärungs-
pflichten umfassend nachgekommen wird und nicht von dem Interesse an Transplan-
tationen gesteuert ist. Schließlich ist anzuführen, dass der Eingriff beim Lebendor-
ganspender eine Verletzung der Schadensvermeidungspflicht von Ärzten ist. Eine
solche kann nur hingenommen werden, wenn es eine in jeder Hinsicht selbstbe-
stimmte Entscheidung des Organspenders gibt und dies ist eine Entscheidung, die
keinerlei Willensmängeln unterliegt (keine Täuschung, keine Nötigung) und die
in einer umfänglichen Kenntnis der Sachlage getroffen worden ist. Wobei die Kennt-
nis der Sachlage auch noch bestimmt wird von der erkennbaren Entscheidungssitua-
tion. Dass bei Schönheitsoperationen ein Aufklärungsverzicht möglich ist, ist sicher-
lich zunächst ein Argument gegen die von mir vertretene Auffassung. Jedoch fragt
sich einerseits, ob diese Auffassung richtig ist. Andererseits lässt sich die Schönheits-
operation nicht zentral mit der Lebendorganspende vergleichen. Bei der Schönheits-
operation gibt es auch ein unmittelbares körperliches Interesse an der Durchführung
der Operation. Dies existiert bei der Lebendorganspende nicht. Hier handelt der Le-
bendspender ausschließlich von dem Interesse getragen, einem anderen helfen zu
wollen. Ein unmittelbar eigenes körperliches Interesse an der Operation hat er regel-
mäßig nicht. Ein blinder Altruismus ist auch, wenn er gewünscht wird, meines Er-
achtens nicht schutzwürdig.

4
Scheinfeld, Organtransplantation und Strafrechtspaternalismus, S. 266 ff. und S. 548 ff.
Ich halte dies nach wie vor für nicht richtig.
Zur Legitimation der gesetzlichen Regelungen der Nierenlebendspende 1569

Selbstbestimmt sind Entscheidungen, die auf einer richtigen Tatsachengrundlage


basieren und von angemessenen Risikoannahmen ausgehen. Die Selbstbestim-
mungsaufklärung verlangt generell, wie der Gesetzgeber zu Recht festgelegt hat,
eine Verlaufs-, Risiko- und Folgenaufklärung. Hierher gehört das Risiko, das mit
der spezifischen Organentnahme verbunden ist. Der Spender muss etwa mit dem
Mortalitätsrisiko konfrontiert werden. Üblicherweise wird das Mortalitätsrisiko
bei der Nierenlebendspende mit 0,03 % angegeben. Hinreichend ist die Nennung die-
ser Zahl nicht, zumal viele mit dieser Zahl nichts anfangen können. Diese Zahl be-
deutet, dass weltweit betrachtet drei Todesfälle auf 10.000 Lebendspenden kommen.
In dieser Weise muss die Zahl 0,03 verständlich gemacht werden.5 Ein Eingriff in
einen gesunden Körper verlangt eine schonungslose Aufklärung. Nützlich ist die In-
formation, dass die Berichte über Todesfälle bei der Nierenlebendspende nicht ganz
einheitlich sind. Teilweise wird ein Todesfall auf 1.600 Lebendspenden angenom-
men, in den USA wird über fünf Todesfälle bei 20.000 Lebendspenden berichtet.6
Bei der Nierentransplantation ist auch über das Morbiditätsrisiko aufzuklären. So
wird heute überwiegend davon ausgegangen, dass in 30 % der Lebendnierenspenden
nicht nur leichtere Komplikationen auftreten können: Lungenatelektasen, Harnweg-
infektionen und Nachblutungen. Hierüber muss aufgeklärt werden. Auch muss dem
Organspender klar sein, dass Folge der Organspende vielfach ein Bluthochdruck ist,
der sich allerdings in vielen Fällen gut behandeln lässt. Aufgeklärt werden müssen
junge Frauen, die spenden wollen, dass sich das Risiko für Fehlgeburten nach einer
Nierenspende erhöht.7 Die Ursache ist bisher ungeklärt. Aufgeklärt werden muss
auch über die Lebenserwartung des Lebendspenders. Ganz überwiegend wird ange-
nommen, dass sich die Lebenserwartung nicht wesentlich ändert. In Teilen der Lite-
ratur wird eine etwas geringere Lebenserwartung angenommen. Der Unterschied
dürfte darin liegen, dass die jeweiligen Vergleichsgruppen unterschiedlich gewählt
wurden.8 Ist bei der Lebendspende mit einem erhöhten Risiko für den Spender zu
rechnen, muss über dieses erhöhte Risiko aufgeklärt werden. Ein erhöhtes Risiko
ist etwa bei Fettstoffwechselstörungen, bei Fettleibigkeit, bei erhöhtem Blutdruck,
fortgeschrittenem Alter und übermäßigem Nikotingenuss des Nierenlebendspenders

5
Soweit Scheinfeld argumentiert, dass maximal ein Todesfall auf 30.000 Nierenlebend-
spenden kommt (Scheinfeld, Organtransplantation und Strafrechtspaternalismus, S. 51), ist
diese Zahl unzutreffend. 0,03 % bedeutet, dass drei Todesfälle auf 10.000 Todesfälle kommen.
6
Vgl. Suwelack, Information und Aufklärung zur Nierenlebendspende, Konsensus der
Arbeitsgemeinschaft Nierentransplantationzentren NRW (UK Aachen/Bochum/Bonn/Düs-
seldorf/Essen/Köln/Köln-Merheim/Münster) und der UK Homburg- Saar/Kiel/Lübeck/Mainz/
Mannheim, Stand: 25. 02. 2016, S. 5. https://www.ukm.de/fileadmin/ukminternet/daten/klini
ken/medd/15_Sektion_Transplantationsnephrologie/_Aufklaerung_Lebendnierenspende_Kon
sensus_NTX_AG_25.02.2016_UKM_Version.pdf (abgerufen am 23. 07. 2019).
7
Sommerer, Aktuelles zur Nierenlebendspende, Der Nephrologe 2018, 173 (176) mit
weiteren Nachweisen. Vgl. auch Hillebrand, Nierentransplantation nachgefragt – 50 Fragen
und 50 Antworten, S. 66 f.
8
Vgl. dazu Sommerer, Aktuelles zur Nierenlebendspende, Der Nephrologe 2018, 173
(178) mit weiteren Nachweisen.
1570 Ulrich Schroth

gegeben. Hierüber muss so informiert werden, dass sich der gefährdete Spender eine
Vorstellung von seinem Risiko machen kann. Erst recht muss er über sein erhöhtes
Risiko aufgeklärt werden, wenn er unter einer Gefäßerkrankung leidet. Selbstver-
ständlich bedürfen weitere mögliche Folgen, auch Spätfolgen bei der Lebendtrans-
plantation, der Aufklärung. Auch wenn Risiken nicht hinlänglich erforscht sind,
muss über die Möglichkeit von Risiken aufgeklärt werden. Lange Zeit war umstrit-
ten, ob über das chronische Ermüdungssyndrom aufgeklärt werden muss. Dieses Ri-
siko ist wissenschaftlich noch nicht hinreichend aufgeklärt. Einmal ist unklar, wann
von einem chronischen Ermüdungssyndrom gesprochen werden kann. Weiter ist
wissenschaftlich noch nicht geklärt, ob nicht diejenigen Personen nach einer Trans-
plantation unter dem chronischen Ermüdungssyndrom leiden, die bereits vorher de-
pressiv waren. Zu Recht hat der Bundesgerichtshof – anders als die jeweiligen Vor-
instanzen – die Frage, ob insoweit eine Aufklärungspflicht besteht, offengelassen.9
Man wird davon ausgehen müssen, dass der Organspender jedenfalls aufgeklärt wer-
den muss, dass eine erhebliche Müdigkeit nach der Organspende eintreten kann, dass
aber das Risiko weitgehend unaufgeklärt ist. Es könnte auch sein, dass Depressionen
über die Lebendspende intensiviert werden. Aufklären muss man jedenfalls depres-
sive Spender darüber, dass ein erhebliches Ermüdungssyndrom nach der Lebend-
spende auftreten kann.
Eine weitere umfassende Aufklärung ist ebenfalls dahingehend erforderlich, dass
sich beim Organspender die „Nierenfunktion nur auf etwa 70 % der präoperativen
Werte erholen werde“.10 Dies zu wissen ist zentral und völlig unverzichtbar für
jeden Organlebendspender. In besonderer Form gilt dies, wenn bei Organlebend-
spendern die Funktionswerte der Nieren nicht allzu hoch sind. Für diese ist die Auf-
klärung besonders wichtig, da aufgrund der Organentnahme beim Organspender
dann Werte auftreten können, die sich im Bereich einer chronischen Nierenerkran-
kung bewegen.11 Es gehört auch zur Folgenaufklärung, dass über Vorerkrankungen
des Organspenders dahingehend aufgeklärt wird, dass diese mit einer weiteren Nie-
renverschlechterung verbunden sein können, selbst wenn dies bei der Organentnah-
me im konkreten Fall nicht unmittelbar naheliegt und es eine begründete Hoffnung
gibt, dass die Nierenverschlechterung nicht eintritt.12
Zu Recht hat der Gesetzgeber festgelegt, dass der Organlebendspender auch über
die zu erwartende Erfolgsaussicht beim Organempfänger aufgeklärt werden muss. Er
trifft eine Entscheidung zu Gunsten eines anderen und wie die Erfahrung lehrt ist
diese Entscheidung vielfach mit der Erwartung verbunden, dass er durch seine Or-
ganspende einem anderen helfen kann. Zu der Aufklärung über die Erfolgsaussicht
9
BGH, Urteil vom 29. 01. 2019 – VI ZR 318/17, BeckRS 2019, 1867; BGH, Urteil vom
29. 01. 2019 – VI ZR 495/16, NJW 2019, 1076; hier begründet der BGH auch umfänglich,
dass es insoweit keine hypothetische Einwilligung bei nicht zureichender Aufklärung im Le-
bendtransplantationsrecht gibt.
10
BGH, Urteil vom 29. 01. 2019 – VI ZR 318/17, BeckRS 2019, 1867.
11
BGH, Urteil vom 29. 01. 2019 – VI ZR 318/17, BeckRS 2019, 1867.
12
BGH, Urteil vom 29. 01. 2019 – VI ZR 318/17, BeckRS 2019, 1867.
Zur Legitimation der gesetzlichen Regelungen der Nierenlebendspende 1571

gehört auch, dass der Organspender erfährt, dass in drei bis fünf Prozent der Fälle die
Organspende dem Organempfänger wenig hilft, da er die Niere im ersten Jahr bereits
trotz regelmäßiger Medikamenteneinnahme abstoßen kann. Nach fünf Jahren ist man
bei einer Abstoßungsquote von neun Prozent. Im Schnitt helfen Nierenspenden dem
Organempfänger 15 Jahre.13 In vielen Fällen halten Nieren des Organspenders
20 Jahre und mehr. Die Notwendigkeit über die Erfolgsaussicht aufzuklären bedeutet
auch die Aufklärung darüber, dass sich manche Nierenerkrankungen des Organemp-
fängers auch negativ auf die Spenderniere auswirken können. Soweit vorhanden,
muss über erhöhte Risiken einer Nierenabstoßung beim Organempfänger ebenfalls
aufgeklärt werden.
Der Gesetzgeber verlangt auch zu Recht, dass der Organspender über alle Um-
stände aufgeklärt werden muss, denen er erkennbar Bedeutung beimisst. Will man
garantieren, dass der Lebendspender eine authentische Entscheidung trifft, so
muss er über alle Umstände aufgeklärt werden, die für sein Wertesystem zentral
sind. Bringt z. B. der Lebendspender dem Arzt gegenüber zum Ausdruck, dass er
mit der Spende seine Ehe retten will, muss der Arzt ihn darüber informieren, dass
es mit einer Lebendspende im Regelfall nicht möglich ist, Ehen zu retten. Einige
Sachverhalte, die regelmäßig für Lebendspender von Bedeutung sind, sollten als
Aufklärungsgegenstände explizit gesetzlich festgehalten werden, selbst wenn
diese sich auch unter die bisherigen gesetzlichen Aufklärungspflichten – jedenfalls
teilweise – subsumieren lassen. Für Lebendspender ist regelmäßig die Frage zentral,
welchen Nutzeffekt die konkrete Lebendspende für den Organempfänger hat. Dar-
über müssen sie informiert werden. Dies gilt gerade dann, wenn Organempfänger
eine beschränkte Lebenserwartung haben. Das gleiche gilt auch für die Dringlichkeit.
Viele Lebendspender wollen nur deshalb ein Organ spenden, da sie von der Vorstel-
lung getragen werden, dass es für das Wohlergehen des Organempfängers keine Al-
ternative gibt. Gerade bei der Lebendspende von Nieren muss jedoch auch festge-
stellt werden, dass die Dialyse eine Alternative für viele potenzielle Organempfänger
ist. Schließlich spielt auch für Spender vielfach die Frage eine Rolle, ob noch weitere
Lebendspender zur Verfügung stünden. Meines Erachtens haben sie das Recht dies
zu erfahren. Die Vorstellung, dass kein anderer als Spender zur Verfügung stünde,
muss korrigiert werden, wenn diese Vorstellung falsch ist. Eine gesetzgeberische
Aufklärungspflicht insoweit würde die Selbstbestimmungsmöglichkeit des Spenders
stärken. Da sich die Lebendspende aus selbstbestimmter Entscheidung legitimiert, ist
eine rigorose Aufklärung über alle Sachverhalte wichtig, die für Spender regelmäßig
zentral sind. Aufgeklärt werden sollte auch über die Frage, welche Niere dem Spen-
der entnommen werden soll, insbesondere dann, wenn die Nieren unterschiedlich in-
tensiv arbeiten. Nur der Spender kann entscheiden, welche Niere ihm dann entnom-
men werden darf. Der Organspender sollte also nicht nur darüber aufgeklärt werden,
was für ihn erkennbar von Bedeutung ist, sondern auch darüber, was für Organspen-
der regelmäßig relevant sein dürfte. Nur so wird garantiert, dass dessen Entscheidung
13
Liefeldt/Eckardt, Spenderrisiko – Vertrauen durch Evidenz, Nieren- und Hochdruck-
krankheiten 2018, 194 (195) mit weiteren Nachweisen.
1572 Ulrich Schroth

als authentische Entscheidung angesehen werden kann. Es versteht sich von selbst,
sollte aber durchaus explizit in das Gesetz aufgenommen werden, dass nur eine scho-
nungslose Aufklärung in der Lage ist, Basis einer rechtswirksamen Einwilligung zu
sein, und dass – wie es übrigens auch das österreichische Transplantationsgesetz vor-
sieht – ein Verzicht auf Aufklärung unzulässig ist. Diese Anforderungen sind der Tat-
sache geschuldet, dass Lebendspenden ein durchaus gravierender Eingriff in einen
gesunden Körper sind. Eine Erweiterung der Aufklärungspflichten würde nicht
nur die Autonomie des Spenders, sondern auch die Transparenz und dadurch das Ver-
trauen der Bevölkerung in die Lebendorganspende stärken.
Das Transplantationsgesetz hat ferner formelle Erfordernisse für die Einwilligung
festgelegt. So wird vom Gesetzgeber für die Organlebendspende verlangt, dass ein
neutraler Arzt beim Aufklärungsgespräch anwesend ist. Es wird weiter ein individu-
elles Aufklärungsprotokoll und dessen Unterzeichnung gefordert.
Dies wirft die Frage auf, ob ein Verstoß gegen Formerfordernisse die Einwilligung
unwirksam macht. Der Bundesgerichtshof hat sich zu Recht auf den Standpunkt ge-
stellt, dass dies nicht anzunehmen ist. Zentral wird vom BGH als Argument ange-
führt, dass die gesetzlichen Vorgaben dafür sprechen, dass die formellen Vorausset-
zungen keine Zulässigkeitsvoraussetzungen der Lebendspende sind.14 Nach Mei-
nung des Bundesgerichtshofs sind das Aufklärungsprotokollerfordernis und das Er-
fordernis der Anwesenheit eines neutralen Arztes verfahrensrechtliche Vorgaben, die
die Aufklärungspflicht ergänzen.15 Den formellen Vorgaben kommt insoweit ledig-
lich eine Nachweisfunktion zu, was typischerweise, wie der BGH zu Recht sagt,
Kennzeichen einer rein formalen Vorschrift ist.16
Die Frage ist weiter, ob sich Transplantationsmediziner bei nicht hinreichender
Aufklärung des Organspenders mit dem Argument wehren können, dass der Organ-
spender auch im Falle ordnungsgemäßer Aufklärung mit der Organentnahme einver-
standen gewesen wäre. Die hypothetische Einwilligung würde damit die Strafbarkeit
nach § 19 Abs. 1 TPG verhindern. Es kann dabei dahingestellt bleiben, ob die hypo-
thetische Einwilligung insoweit den Tatbestand ausschließt oder als Rechtfertigungs-
grund fungiert. Der BGH hat sich zu Recht auf den Standpunkt gestellt, dass die
hypothetische Einwilligung bei nicht hinreichender Aufklärung hier keinerlei Be-
deutung hat. Der Schutzzweck der Aufklärungspflichten führt dazu, dass einer hy-
pothetischen Einwilligung keinerlei Relevanz zukommen kann, wenn Aufklärungs-
vorgaben nicht nachgekommen wird. Der Gesetzgeber wollte mit den Aufklärungs-
vorgaben des § 8 TPG den Spender davor bewahren, sich selbst einen größeren Scha-
den zuzufügen. Der Gesetzgeber wollte potenzielle Lebendspender in weich
paternalistischer Form durch Aufklärungspflichten vor nicht gewollten Gesundheits-
gefährdungen schützen. Dann ist es nicht sinnvoll, die Strafbarkeit wegen Aufklä-
14
BGH, Urteil vom 29. 01. 2019 – VI ZR 495/16, NJW 2019, 1076.
15
BGH, Urteil vom 29. 01. 2019 – VI ZR 495/16, NJW 2019, 1076.
16
BGH, Urteil vom 29. 01. 2019 – VI ZR 495/16, NJW 2019, 1076 mit weiteren Nach-
weisen.
Zur Legitimation der gesetzlichen Regelungen der Nierenlebendspende 1573

rungsdefiziten davon abhängig zu machen, ob sich der Spender auf jeden Fall als Or-
ganspender zur Verfügung stellen wollte.17 Es kann an dieser Stelle nicht ausführlich
auf die Diskussion der strafrechtlichen Relevanz der hypothetischen Einwilligung
eingegangen werden.18 Wenn der Gesetzgeber die Verletzung von Aufklärungs-
pflichten unter Strafe stellt, kann man schlecht argumentieren, dass eine Verletzung
der Aufklärungspflichten nicht zur Strafbarkeit führe, wenn der Organspender auch
bei hinreichender Aufklärung zur Organspende bereit gewesen wäre. Dies bedeutet:
Ein Arzt, der einen Lebendspender nicht angemessen aufklärt, handelt selbst dann
rechtswidrig im Sinne des § 19 Abs. 1 TPG, wenn man davon ausgehen kann,
dass der Organlebendspender auch bei umfänglicher Aufklärung eingewilligt
hätte. Geht man wie hier davon aus, dass sich die Organlebendspende zentral aus
der authentischen Entscheidung des Organlebendspenders ableitet, so lässt diese
Fallkonstellation keine andere Bewertung zu. Daran ändert auch § 630h Abs. 2
S. 2 BGB nichts. Einerseits enthält das Transplantationsgesetz keine entsprechende
Vorschrift, andererseits ist anzuführen, dass – versteht man die Lebendspende als le-
gitimiert durch die autonome Entscheidung des Spenders – Ärzte gewährleisten müs-
sen, dass der potenzielle Organspender eine autonome Entscheidung trifft. Autonom
ist aber nur eine Entscheidung, bei der der Spender umfassend informiert ist. Damit
muss der Gesetzgeber die umfassende Aufklärung sichern. Dies geschieht nur, wenn
sichergestellt wird, dass der Organspender auch alle Informationen erfahren hat, die
es ihm erlauben zu beurteilen, ob er in einem konkreten Fall Organspender sein will
oder nicht. Die Aufklärung des Arztes ist jedenfalls eine Voraussetzung dafür, dass
der Organspender eine Entscheidung treffen kann, die seinem Wertesystem ent-
spricht.19
Ob das im TPG enthaltene Volljährigkeitserfordernis für Lebendspender sinnvoll
ist, kann bezweifelt werden. Jedenfalls bedeutet es, dass ein 17-Jähriger seinem Zwil-
lingsbruder nicht spenden kann, auch wenn er hierfür hervorragend geeignet wäre.

IV. Subsidiarität der Lebendspende als sinnvolle Regelung?


Jeder Lebendspender muss selbstverständlich darüber aufgeklärt werden, wenn
der Organempfänger vor der geplanten Lebendspende in nächster Zukunft ein post-

17
Vgl. BGH, Urteil vom 29. 01. 2019 – VI ZR 495/16, NJW 2019, 1076.
18
Hierzu ausführlich Roxin, Hypothetische Einwilligung im Medizinstrafrecht?, medstra
2017, 135 ff.
19
Man kann sich natürlich fragen, ob auch die Nicht-Aufklärung über die ärztliche
Schweigepflicht oder die Nicht-Aufklärung über die Erhebung und Verwendung personen-
bezogener Daten relevant ist für die Selbstbestimmung des Organspenders. Wenn man dies
bestreitet – wofür es gute Argumente gibt – muss man die Vorschrift des § 19 Abs. 1 TPG
teleologisch reduzieren. Vgl. hierzu Scheinfeld, Organtransplantation und Strafrechtspater-
nalismus, S. 259 ff.
1574 Ulrich Schroth

mortales Organ erhalten kann. Sollte dem Lebendspender aber die Spende ethisch
oder juristisch verboten sein, wenn ein Leichenorgan zur Verfügung steht?
Meines Erachtens überzeugt eine derartige freiheitseinschränkende Regelung
nicht. Zunächst ist anzuführen, dass Organknappheit in Deutschland herrscht, d. h.
dass nicht jedem Schwerkranken ein Organ aus einer postmortalen Spende oder
aus einer Lebendspende zur Verfügung steht. Dem Schwerkranken das Organ
eines potenziellen Lebendspenders zu verweigern, weil er ein Leichenorgan bekom-
men kann, bedeutet, dass einem anderen Schwerkranken, bei dem dies nicht der Fall
ist und dem kein Lebendspender zur Verfügung steht, nicht geholfen werden kann.
Auch sollte man die Entscheidung eines Organlebendspenders, einem anderen ein
Organ schenken zu wollen, respektieren und diese Entscheidung als Gewissensent-
scheidung akzeptieren. Gegen die Subsidiaritätsregel bei der Lebendspende spricht
weiter, dass der Organempfänger auf eine schlechtere Behandlungsmethode verwie-
sen wird. Die Subsidiaritätsregel geht von einem Vorrang der postmortalen Trans-
plantation aus. Es ist aber zweifelsfrei erwiesen, dass von Leichen stammende Trans-
plantate – jedenfalls bei der Nierenspende – eine wesentlich geringere Haltbarkeit
haben als Organe aus Lebendspenden.20 In einem Staat, der in Art. 2 Abs. 2 S. 1
GG die körperliche Unversehrtheit als Grundrecht jedes Bürgers schützt, ist es völlig
unangemessen, Organempfänger – aufgrund gesetzgeberischer Regelung – auf eine
schlechtere Behandlungsmethode zu verweisen, zumindest solange die Risiken für
die Organlebendspende kalkulierbar sind. Auch ethisch gilt nach meiner Ansicht
nichts anderes. Hat sich ein Lebendspender zur Organspende entschlossen und
nimmt er eine kalkulierbare Schädigung in Kauf, so gibt es keinen Grund, dem Or-
ganempfänger dieses Organ zu verweigern. Als Argument für die Subsidiaritätsregel
wird angeführt, dass der Lebendspender jedenfalls bei irreversiblen Eingriffen in
seine Körperintegrität mit strafrechtlichen Mitteln vor sich selbst geschützt werden
müsse. Richtig ist, dass Eingriffe bei der Organlebendspende (z. B. Nieren- oder Le-
berteilspende) irreversibel sind. Jedoch schränkt diese Irreversibilität das praktische
Leben des Lebendspenders nicht ein. Zudem sind die Risiken bei Lebendtransplan-
tationen kalkulierbar. In sich schlüssig wäre die Begründung der Subsidiarität der
Lebendspende nur, wenn es eine staatliche Pflicht gäbe, den Einzelnen vor körper-
lichen Selbstschädigungen zu bewahren. Der Auffassung, dass Bürger die Rechts-
pflicht21 haben, sich selbst zu erhalten, ist aber der antipaternalistische Kant entge-
genzuhalten:
„Niemand kann mich zwingen, auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer
Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit
auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer,
einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach
20
Zu alledem Gutmann/Schroth, Organlebendspende in Europa – Rechtliche Regelungs-
modelle, ethische Diskussion und praktische Dynamik, S. 25 ff. mit weiteren Nachweisen.
21
Zu „Rechtspflichten gegen sich selbst“ insbesondere auch Fateh-Moghadam, Grenzen
des weichen Paternalismus – Blinde Flecken der Paternalismuskritik, in: Fateh-Moghadam/
Sellmaier/Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, S. 21 ff.
Zur Legitimation der gesetzlichen Regelungen der Nierenlebendspende 1575

einem möglichen allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, (d. i. diesem Rech-
te des andern) nicht Abbruch tut. Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwol-
lens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d.i. eine vä-
terliche Regierung (imperium paternale), wo also die Untertanen als unmündige
Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schäd-
lich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind […]“22 – eine solche Ordnung be-
zeichnet Kant als den größtmöglichen Despotismus. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Eine Verpflichtung, den Einzelnen vor einer Selbstschädigung zu bewahren, gibt
es jedenfalls als Rechtspflicht nicht. Eine Verpflichtung zur Selbsterhaltung aus
der Autonomie abzuleiten bedeutet, Freiheit zu postulieren und sie sogleich wieder
abzuschaffen.
Soweit ausgehend von kant’scher moralphilosophischer Systematik der Versuch
gemacht wird, eine Rechtspflicht gegen sich selbst zu begründen, ist dies nicht über-
zeugend, weil dieser Versuch das für Kant maßgebende Unterscheidungsmerkmal
zwischen Rechts- und Tugendpflichten nicht hinreichend berücksichtigt. Ist das
Recht mit der Befugnis zu zwingen verbunden, worauf Kant ausdrücklich besteht,
so wäre eine Rechtspflicht gegen sich selbst so etwas wie ein Rechtszwang gegen
sich selbst. Kant konstruiert in der Tugendlehre zwar das Selbstverständnis als auto-
nomes Wesen als einen Selbstzwang, dieser Selbstzwang ist jedoch ganz anderer Art
als der Rechtszwang.23 Er begründet sich aus dem Prinzip der inneren Freiheit. Wenn
es überhaupt eine Verpflichtung geben sollte, seinen Körper intakt zu halten, so ist
diese Verpflichtung eine Tugendpflicht, aber keine Rechtspflicht. Es sollte daher
auch kein rechtlicher Zwang ausgeübt werden, den Körper intakt zu halten, zumal
dann, wenn die vom Spender gewünschte Beeinträchtigung der Körperintegrität
für Dritte einen Gesundheitsvorteil erbringt. Dies bedeutet, dass jedenfalls die Sub-
sidiaritätsregel nicht staatlich erzwungen werden sollte.

V. Normative Angemessenheit der Spenderkreisbeschränkung


Das deutsche Transplantationsgesetz enthält das Verbot der Fremdlebendspen-
de.24 In § 8 Abs. 1 S. 2 TPG ist bestimmt, dass die Entnahme von Organen, die
sich nicht wiederbilden können, z. B. von Nieren, nur zum Zwecke der Übertragung
auf Verwandte ersten und zweiten Grades, Ehegatten, eingetragene Lebenspartner,
Verlobte oder andere Personen, die dem Spender in besonderer persönlicher Verbun-

22
Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für
die Praxis (1793), 5. Auflage, Hamburg 1992, S. 41.
23
Hierzu Ellscheid, Das Paternalismusproblem im System der Kant’schen Moralphiloso-
phie, in: Fateh-Moghadam/Sellmaier/Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus,
S. 182 ff.
24
Hierzu Gutmann, Probleme einer rechtlichen Regelung der Lebendspende von Organen,
MedR 1997, 147 (148) sowie Schroth, Stellungnahme zu dem Artikel von Bernhard Seiden-
ath: „Lebendspende von Organen – Zur Auslegung des § 8 I 2 TPG“, MedR 1999, 67.
1576 Ulrich Schroth

denheit offenkundig nahestehen, zulässig ist. Nach Auffassung des Bundesverfas-


sungsgerichtes25 verletzt die Beschränkung des Spenderkreises nicht das Grundrecht
auf körperliche Unversehrtheit. In Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG werde zwar eingegriffen,
jedoch sei dieser gesetzgeberische Eingriff gerechtfertigt. Die Spenderkreisbe-
schränkung sei legitimiert, da die Organentnahme dem Spender körperlich schade,
ihn gesundheitlich gefährden könne und das Verbot außerdem helfe, die Freiwillig-
keit der Spende sicherzustellen und jeder Form des Organhandels vorzubeugen. Was
die Spenderkreisbegrenzung mit der Freiwilligkeit zu tun hat, ist völlig unerfindlich.
Die Freiwilligkeit des Organspenders hat nichts zu tun mit der Frage, in welcher Be-
ziehung der Spender zu dem Empfänger steht.
Als zentrales Argument für die Begrenzung des Spenderkreises wird angeführt,
dass Lebendspender vor sich selbst geschützt werden müssten. Dieses Argument
ist aber rechtlich und rechtsethisch nicht angemessen. Es wäre nur dann ein sinnvol-
les Argument, wenn es eine rechtliche Verpflichtung gäbe, den Einzelnen in seiner
Integrität vor sich selbst zu schützen. Wie gerade dargelegt wurde, ist eine derartige
rechtliche Verpflichtung jedoch nicht begründbar. Auch die Notwendigkeit der Ver-
hinderung des Organhandels erfordert nicht, die Freiheit des Organspenders dahin-
gehend strafbewehrt einzuschränken, dass Fremden kein Organ gespendet werden
darf. Der Gesetzgeber schützt durch das Organhandelsverbot vor der Gefahr, dass
monetäre Kurzzeitinteressen bei der Entscheidung für oder gegen die Lebendspende
gegenüber gewichtigen Langzeitinteressen wie der eigenen Gesundheit in den Vor-
dergrund der Handlungsmotivation treten. Richtig verstanden ist das Organhandels-
verbot ein Gefährdungsdelikt.26 Wenn nun das Verbot der freiwilligen Fremdlebend-
spende vor den Gefahren des Organhandels schützen soll, so wird der Gesetzgeber im
Bereich des Vorfelds des Vorfelds des Rechtsgüterschutzes sanktionierend tätig.27
Ein in solchem Ausmaß vorverlagerter Rechtsgüterschutz wird der ultima-ratio-
Funktion strafrechtlicher Sanktionierung nicht gerecht und stellt keine verhältnismä-
ßige Bestrafung mehr dar. Dies gilt umso mehr, als vor jeder Organübertragung eine
externe Kommission gutachterlich dazu Stellung nehmen muss, ob Anhaltspunkte
für Organhandel erkennbar sind. Eine Bestrafung des Arztes, der eine Organentnah-
me vornimmt, zu der sich ein Spender freiwillig entschlossen hat, die auch der Or-
ganempfänger möchte und die erfolgreich durchgeführt wird, einzig weil der Organ-
spender nicht zum zugelassenen Spenderkreis gehört, verletzt ferner das Gebot an-
gemessener Verantwortungszuschreibung. Nach § 19 Abs. 1 i.V.m. § 8 Abs. 1 S. 2
TPG werden Ärzte mit Strafe bedroht, nur weil die abstrakte Gefahr besteht, dass
Dritte sich wegen Organhandels strafbar gemacht haben könnten. Einen Arzt, der

25
BVerfG, Beschluss vom 11. 08. 1999 – 1 BvR 2181/98 u. a., NJW 1999, 3399 ff.
26
Siehe ausführlich Schroth, Das Organhandelsverbot – Legitimität und Inhalt einer pa-
ternalistischen Strafrechtsnorm, in: Schünemann/Achenbach/Bottke/Haffke/Rudolphi (Hrsg.),
Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag am 15. Mai 2001, S. 879 ff.
27
Hierzu ausführlich Schroth, Das Gemeinwohl als verfassungsrechtliche Legitimation
strafrechtlicher Eingriffe in die Freiheit altruistischen Handelns, KritV Sonderheft 2000, 176
(179).
Zur Legitimation der gesetzlichen Regelungen der Nierenlebendspende 1577

einem Organempfänger geholfen hat, dafür zu bestrafen, dass Dritte eventuell straf-
rechtlich vorwerfbar gehandelt haben, ist mit den akzeptierten Prinzipien der Verant-
wortungszuschreibung, insbesondere dem Schuldprinzip, kaum mehr kompatibel.
Auch die angebliche Erforderlichkeit der Garantie des notwendigen Altruismus
der Lebendspende ist als Legitimation der paternalistischen Spenderkreisbeschrän-
kung verfehlt. Das Strafrecht ist kein angemessenes Mittel, um altruistisches Han-
deln zu sichern. Es dient dem subsidiären Schutz von Rechtsgütern, nicht aber der
Herstellung altruistischer Einstellungen. Weiter erscheint es normativ zweifelhaft,
ob eine Organlebendspende nur dann rechtlich und ethisch legitim ist, wenn die Ent-
scheidung des Spenders von rein altruistischen Motiven im Sinne einer Selbstlosig-
keit getragen ist. Warum sollen sich Ehepartner die Niere nicht deshalb spenden, weil
sie von dem Interesse getragen werden, wieder unbeschwert reisen zu können, oder
weil sie wollen, dass der andere wieder in die Lage versetzt wird, einen Beruf ausüben
zu können und damit zum Familienunterhalt beizutragen? Eine derartig „egoisti-
sche“ Einstellung ist doch eher ein Indiz dafür, dass der Organlebendspender die Or-
ganlebendspende auch wirklich will und sich für eine Lebendspende freiwillig ent-
schieden hat. Juristisch jedenfalls ist eine derartige Motivation nicht verwerflich,
sondern eher Anzeichen für eine Entscheidung, die die Gesellschaft akzeptieren soll-
te, da jeder berechtigt ist, seine wertbezogenen Interessen zu verwirklichen, wenn er
hierbei andere nicht beeinträchtigt. Eigensinn kann auch ein besonderes Zeichen
dafür sein, dass der Lebendspender eine Entscheidung getroffen hat, die in seinem
Wertesystem angesiedelt ist.
Schließlich muss gegen die Spenderkreisbeschränkung geltend gemacht werden,
dass medizinischer Fortschritt beeinträchtigt wird. Die Spenderkreisbeschränkung
schließt nämlich im Prinzip die Cross-over-Spende und den Ringtausch bei der Le-
bendspende aus. Bei der Cross-over-Spende spenden sich „zwei Spender-Empfän-
ger-Paare“ untereinander die Spenderorgane; beim Ringtausch spendet eine einem
Organempfänger nahestehende Person in einen Pool. Der Empfänger erhält dann
aus dem Pool ein Organ, was besonders gut für ihn passt. Diese Methoden erlauben
es Organempfängern besonders effektiv zu helfen. Man schätzt, dass in ein Drittel der
Fälle Organspender einem Organempfänger ein Organ spenden, das aufgrund von
Gewebe- bzw. Blutgruppenunverträglichkeiten defizitär ist.28 Die Cross-over-Spen-
de oder der Ringtausch können damit gewährleisten, dass Lebendempfängern ein op-
timaleres Organ übertragen werden kann. Selbst, wenn man bei der Zulassung der
Cross-over-Spende oder des Ringtausches vermutet, dass sie eine Einfallstür für Or-
ganhandel sind, lassen sich gesetzliche Regelungen finden dieser Gefahr entgegen-
zuwirken.29

28
Vgl. Halleck/Diekmann, Cross-over Transplantationen – immer (noch) sinnvoll?, Nie-
ren- und Hochdruckkrankheiten 2018, 204 (208).
29
Zum Problem der möglichen Verfassungswidrigkeit der Spenderkreisbeschränkung
ausführlich und überzeugend Scheinfeld, Organtransplantation und Strafrechtspaternalismus,
S. 90 ff.
1578 Ulrich Schroth

VI. Fazit
Die Regelungen der Lebendspende sollten reformiert werden.
Was die Lebendspende angeht, sind die Aufklärungspflichten meines Erachtens
zu ergänzen. Festgelegt werden sollte, dass der Organspender zusätzlich über den
konkreten Nutzen der Organspende für den Organempfänger aufgeklärt werden
muss. Auch sollten weitere Anforderungen an die Aufklärungspflicht gestellt wer-
den. Explizit festgelegt werden sollte, dass ein Aufklärungsverzicht rechtsunwirk-
sam ist. Auch muss er aufgeklärt werden über jegliche Art des erhöhten Risikos
für ihn. Schließlich sollte immer aufgeklärt werden über die Frage, welche Niere
mit welcher Leistung entnommen wird, wie dringlich die Lebendspende ist und wel-
che Spender eventuell sonst noch zur Verfügung stünden. Die Lebendspende ist nur
dann legitim, wenn dem Spender alle Informationen, die für ihn zur Selbstbestim-
mung wichtig sind, mitgeteilt werden.
Auf das Subsidiaritätsprinzip bei der Organlebendspende sollte verzichtet wer-
den. Aufzuheben ist ferner die Begrenzung des Spenderkreises. Lebendspendekom-
missionen sollten weitere Kompetenzen haben zu untersuchen, ob Anhaltspunkte für
Organhandel gegeben sind. Auf diese Weise lässt sich durchaus angemessen garan-
tieren, dass ein Organhandel nicht stattfindet.
Zur Widerspruchsregelung bei der Leichenorganspende
Gedanken zur Diskussion im Ethikrat und im aktuellen Schrifttum

Von Holm Putzke und Jörg Scheinfeld

I. Zielkonsens aller Diskutanten und


Konkretisierung der eigentlichen Frage
Gegenstand der folgenden Überlegungen ist eine Widerspruchsregelung, die eine
Organentnahme beim (zu Lebzeiten einwilligungsfähigen) Hirntoten dann erlaubt,
wenn nicht der Verstorbene zu Lebzeiten der Organentnahme widersprochen hat
oder wenn nicht sein nächster Angehöriger nach Todeseintritt widerspricht –
wobei allerdings eine zu Lebzeiten geäußerte Zustimmung des Verstorbenen dem
Willen der Angehörigen allemal vorgeht. Eine Gruppe Parlamentarier um den Bun-
desgesundheitsminister hatte 2019 einen Gesetzentwurf vorgelegt, wonach der
nächste Angehörige kein Widerspruchsrecht gehabt hätte, sondern nur gefragt wer-
den sollte, ob er etwas zur Aufklärung des mutmaßlichen Willens des Verstorbenen
beitragen kann.1 Dies gilt so beispielsweise in Österreich und Spanien (wenngleich
diese normative Strenge dort überhaupt nicht gelebt wird, sondern vor allem in Spa-
nien die Angehörigen denkbar stark einbezogen werden).2 Im Januar 2020 hat der
Bundestag der Widerspruchsregelung insgesamt eine Absage erteilt und stattdessen
ein Gesetz verabschiedet, das die Entscheidungsbereitschaft fördern soll; insbeson-
dere wird nun ein bundesweites Onlineregister für Spendeentscheidungen errichtet
und die Organspende bei der Ausweisbeantragung im Einwohnermeldeamt thema-
tisiert.3 Gleichwohl wollen die Befürworter der Widerspruchsregelung beizeiten
einen neuen politischen Vorstoß unternehmen (Karl Lauterbach). Nach unserer Ein-
schätzung wird eine Widerspruchsregelung dann aber nur Aussicht auf politischen
Erfolg haben, wenn sie den Angehörigen ein eigenes – rechtliches und nicht nur fak-
tisches – Widerspruchsrecht belässt. Nur um eine solche Widerspruchsregelung soll
es im Folgenden gehen.

1
BT-Drucks. 19/11096.
2
Es lässt sich unabhängig von der Rechtslage für deutsche Kliniken kaum vorstellen, dass
Ärzte dem Hirntoten (ohne dessen zu Lebzeiten erklärtes Einverständnis) Organe entnehmen,
wenn die Angehörigen das ablehnen.
3
Dazu https://www.bundesgesundheitsministerium.de/zustimmungsloesung-organspen
de.html#c17049.
1580 Holm Putzke und Jörg Scheinfeld

Im Ethikrat wie in der öffentlichen Debatte herrscht Einigkeit darüber, dass die
Spendezahlen erhöht werden sollen. Diese Gemeinsamkeit der Positionen hat im
Bioethik-Forum des Ethikrats noch einmal dessen Vorsitzender Peter Dabrock be-
tont.4 Ein weiterer Konsens besteht in dem Punkt, dass es für alle an der Organtrans-
plantation Beteiligten vorzuziehen ist, wenn der Spender zu Lebzeiten selbst eine
Entscheidung trifft. Diese Entscheidung verschafft allen Beteiligten entlastende
Klarheit. Eine solche Vorabentscheidung des Verstorbenen zu Lebzeiten ist aber –
aus diversen Gründen – faktisch vielfach nicht zu erreichen. Es geht daher in der Dis-
kussion um die Widerspruchsregelung allein um die Fälle, in denen eine solche Vor-
abentscheidung des Verstorbenen – trotz aller Aufforderungen von Behörden, Kran-
kenkassen und anderen Stellen – gerade nicht vorliegt.
In Bezug auf den Weg zur Steigerung der Spendezahlen ist man sich – und das
muss besonders betont werden – des Weiteren über ein Mittel zur Steigerung
einig: Die Organisation in den Krankenhäusern muss verbessert werden.5 Die An-
hänger der Widerspruchsregelung erwarten, dass neben einer solch verbesserten Or-
ganisation die Änderung des Entscheidungssystems zusätzliche Spenden zur Folge
haben wird. Allein darum geht es: Wirkt sich die Widerspruchsregelung neben
einem Optimieren der Krankenhausorganisation spendensteigernd aus? Und sollte,
wenn von einer solchen Steigerung auszugehen ist, der Gesetzgeber – rechtsethisch
gefragt – die Widerspruchsregelung Gesetz werden lassen?
Mancher Gegner der Widerspruchsregelung erweckt indes den Eindruck, als
hätten die Befürworter der Widerspruchsregelung den Hinweis nötig, dass es De-
fizite in der Organisation der Organgewinnung gibt.6 Dabei vertritt – so weit wir
sehen – niemand den Standpunkt, organisatorisch möge alles beim Alten bleiben,
man möge allein das Entscheidungssystem auf die Widerspruchsregelung umstel-
len. Die meisten Vertreter der Widerspruchsregelung sehen es sogar ausdrücklich
so, dass die Umstellung der Krankenhausstrukturen einen größeren Effekt zur Er-
höhung des Organaufkommens ausmacht als die Einführung der Widerspruchsre-
gelung.7 Im April 2019 ist denn auch ein Gesetz in Kraft getreten, das eben dies
leisten soll: die Verbesserung der Organisation in den Krankenhäusern.8 Es geht
bei der Debatte um die Widerspruchsregelung daher allein um die Frage, ob

4
Forum Bioethik am 12. 12. 2018 – Video und Präsentationen abrufbar unter https://www.
ethikrat.org/forum-bioethik/pro-contra-widerspruchsregelung-bei-der-organspende/.
5
Vgl. nur bei Dabrock, Stellungnahme für die öffentliche Anhörung des Ausschusses für
Gesundheit des Deutschen Bundestages am 25. September 2019, S. 7; Duttge, ZfmE 2019, 29,
37 – 39; Scheinfeld, medstra 2018, 321.
6
Dabrock (Fn. 5), S. 7 f.; Duttge, ZfmE 2019, 29, 37 – 39.
7
Etwa Scheinfeld, medstra 2018, 321.
8
Gesetz zur Stärkung der Organspende: Zweites Gesetz zur Änderung des Transplantati-
onsgesetzes – Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende
(GZSO), vom 22. März 2019, BGBl. I 2019, S. 352 ff.
Zur Widerspruchsregelung bei der Leichenorganspende 1581

man zusätzlich zur angestrebten Verbesserung der Krankenhausstrukturen die Wi-


derspruchsregelung einführen soll.9
In dieser Debatte hat Reinhard Merkel die beiden oben aufgeworfenen Fragen be-
jaht und sich für die Einführung der Widerspruchsregelung ausgesprochen: Eine Er-
höhung der Spendezahlen sei zu erwarten, und rechtsethisch sei die Widerspruchs-
regelung vorzuziehen, weil zum einen die moralische Pflicht zur Leichenorganspen-
de bestehe (für Personen, die keine Aversion gegen das Spenden haben) und weil zum
andern der mit einer Widerspruchsregelung geschaffene Zwang zum Sich-zur-Or-
ganspende-Erklären rechtlich zulässig sei.10 Merkel betont, dass die Spendeentschei-
dung eine höchstpersönliche ist, die der Einzelne ohne Angabe eines Grundes in Aus-
übung seines Freiheitsrechtes treffen kann.11

II. Die Sicht der Organbedürftigen: Bitten um Solidarität


Da transplantierbare Leichenorgane gemäß § 12 III 1 TPG vor allem auch nach
Dringlichkeit des Bedürfnisses zugeordnet werden (Grad der Todesgefahr), erlangen
Organbedürftige das Organ meist erst nach jahrelangem Warten.12 Viele versterben
„auf der Warteliste“, weil bekanntlich bei weitem nicht genügend Organe zur Verfü-
gung stehen.13 Wer sich die Lage der Organbedürftigen klarmachen und sich deren
körperliche und psychische Leiden konkret vor Augen führen möchte, was bei einer
folgenreichen rechtsethischen Entscheidung sicher geboten ist, sollte den Erfah-
rungsbericht des nierenkranken Bernhard Goetz lesen.14 Der Bericht legt dar, was
Nichterlangen und Erlangen eines Organs für die Betroffenen bedeuten – den Unter-
schied zwischen einem kaum erträglichen und einem nahezu normalen Leben. Hier
nur ein kurzer Auszug:
„Ich spürte bei mir die nachlassende Nierenfunktion und immer stärker meine ab-
nehmende Lebensfreude und Leistungsfähigkeit … Oft bekam ich unglaublich starke
Kopfschmerzen; in solchen Zeiten war mir jedes Geräusch zu viel … Das Umblättern

9
Mitgemeint ist in puncto Optimieren der Kliniksituation übrigens, dass das Klinikperso-
nal stärker und regelmäßig geschult wird, wie dies etwa in Spanien erfolgt.
10
Merkel, Vortrag im Forum Bioethik, ab Minute 0:16:00 (abrufbar unter: https://www.ethi
krat.org/forum-bioethik/pro-contra-widerspruchsregelung-bei-der-organspende/#c2316.)
11
Merkel, ebenda, Minute 0:24:15.
12
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung nennt für Nierenbedürftige eine
Durchschnittswartezeit von sechs Jahren (https://www.organspende-info.de/organspende/trans
plantierbare-organe/nierentransplantation.html).
13
Die DSO nennt für 2018 die Zahl von 7.526 Nierenbedürftigen (Jahresbericht, S. 11);
diese Zahl benennt aber nicht den tatsächlichen Bedarf, der um ein Vielfaches höher liegt und
Anfang 2019 mit 80.000 Patienten einer Nierenersatztherapie angegeben wurden (https://
www.pharmazeutische-zeitung.de/komplexe-medikation-bei-dialysepatienten/).
14
Goetz, ZfmE 2007, 49, 50 ff. – der allerdings eine Spenderniere von seiner Schwester im
Wege der Lebendorganspende erhalten hat.
1582 Holm Putzke und Jörg Scheinfeld

einer Buchseite durch meine Lebensgefährtin regte mich auf und tat mir im Kopf und
Körper weh … Der Blutdruck war manchmal sehr hoch, verbunden mit starken Kopf-
schmerzen. Selbst starke Schmerzmittel boten keine Linderung mehr … Ich roch in
meinem Mund nach Urin … Mit katastrophalen Kreatinwerten kam ich einen Monat
später an die Hämodialyse … Montag, Mittwoch und Freitag für sechs bis acht Stun-
den zur Dialyse in die Uniklinik … Nach acht Stunden Dialyse daheim angekommen,
hatte ich einen Abend zum Erholen, denn am nächsten Morgen hatte ich schon wieder
Kopfschmerzen, obwohl ich strikt die Trinkreduktion einhielt. Im heißen Sommer
1985 konnte ich am Tag höchstens 1/101 Flüssigkeit zu mir nehmen … Mir ging
es körperlich so schlecht, dass ich keine Treppenstufen mehr ohne Pause steigen
konnte … Ich glaube, keine nützliche und keine sinnlose Frage wurde damals von
meiner Umgebung, meinen Verwandten, Freunden und mir ausgeklammert … Ich
erinnere mich an die Zeit: Am Abend vor der Dialyse saß ich im Bett, da sich Wasser
in der Lunge eingelagert hatte. Ich konnte nicht liegen und nicht schlafen. Ich über-
legte, ob es nicht richtiger wäre, ohne all die Fragen und Belastungen für meine Fa-
milie mich hinzulegen und dann zu ersticken.“15
In solcher Lage beklemmenden Leids erbitten die Organbedürftigen gesellschaft-
liche Solidarität. Dabei zielt der Wunsch nach Solidarität nicht darauf, dass jemand,
der eine Abneigung gegen die Antastung seines Leichnams hat, sich gleichwohl zur
Spende bereitfinden möge. Es geht den Betroffenen – wie den Befürwortern der Wi-
derspruchsregelung – vor allem darum, dass die Gesellschaft sich mit der Änderung
des Entscheidungssystems einverstanden erklärt. Nur insoweit, bezogen also auf das
Entscheidungssystem, wird Solidarität gewünscht. Wer für seine Person eine Abnei-
gungen gegen die Leichenorganspende hegt, darf ja durchaus der Organentnahme
widersprechen. Ein Organbedürftiger könnte seine Bitte um Solidarität etwa so for-
mulieren: Wer der Organentnahme – aus welchen Gründen auch immer – widerspre-
chen möchte, möge dies ohne Angabe von Gründen tun. Niemand muss sich für sein
Widersprechen rechtfertigen. Doch erklärt euch bitte einverstanden mit der Ände-
rung des Entscheidungssystems! Denn diese Änderung lässt erwarten, dass die Vie-
len, die einer Leichenorganspende grundsätzlich positiv gegenüberstehen, keinen
Widerspruch erklären werden, sodass einige schwerkranke Organbedürftige ein
Spenderorgan erlangen können.
Bei Goetz lässt sich auch nachlesen, zu welchem Umschlagen der Lebensqualität
das Erlangen einer Spenderniere führt: „Ich hatte Zukunft … Die Niere … sprang bei
mir sofort gut an. 20 Liter Urin schaffte sie, in den ersten 12 Stunden auszuscheiden
… Ich spüre noch heute den Geschmack im Mund, endlich kein Harnstoff mehr auf
meiner Zunge … Da lag ich, glücklich im Intensivbett, an alle möglichen Geräte an-
geschlossen und konnte nach zwei Tagen schon wieder überglücklich einen Artikel
aus dem ,Spiegel‘ auswendig lernen, einfach so! … Vor der OP konnte ich kaum lesen
… Recht schnell kehrte meine Lebenskraft zurück. Mein Wunsch zu leben wuchs
und mit ihm der Drang bewusst zu leben. Von dem Tag meiner Transplantation an

15
Goetz, ZfmE 2007, 49, 50 ff.
Zur Widerspruchsregelung bei der Leichenorganspende 1583

koste ich jeden Tag aus, ich sage oft: ,Ich trinke den Tag bis auf den letzten Tropfen
aus.‘ Es kamen viele gesunde Jahre und ich hatte volle Leistungsfähigkeit in allen
Lebensbereichen.“16

III. Empirisches: Lässt die Widerspruchsregelung einen Anstieg


der Spendezahlen erwarten?
1. Ein Missverständnis

Bezogen auf die Bedeutung einer Steigerung der Spendezahlen ist es allerdings
nötig, zunächst ein Missverständnis auszuräumen. Worin das Missverständnis
liegt, lässt sich gut zeigen an einer Äußerung, die der Vorsitzende des Ethikrats,
Peter Dabrock, im April 2019 in einem Interview im Deutschlandfunk getätigt
hat: „Wir haben derzeit schlicht und einfach rein medizinisch nur 1.200 [potenzielle,
H.P./J.S.] Organspender identifiziert. Davon stehen dann im Jahr 2017, wo die Ver-
gleichszahlen vorliegen, 800, jetzt 900 … als potenzielle Organspender zur Verfü-
gung. Von denen haben wir dann 25 Prozent, also 300, wo wir keine Zustimmung
haben, und da gibt es dann 100 noch mal, die klarerweise sagen, nee, ich will
nicht, und dann bleiben 200 übrig, von denen man nicht genau weiß, was hat er ge-
meint. Diese 200 mehr wären der einzige Erfolg einer Widerspruchslösung und man
soll bitte aufhören zu reden, dass hier um das Zehn- oder Hundertfache die Zahl der
Organspender erhöht würde. Das geht, und ich würde mal sagen ums Doppelte ma-
ximal, durch die Strukturreformen, die im Übrigen heute in Kraft treten und die ich
sehr begrüße.“
Darin drückt sich wiederum die Sicht aus, das, was die Widerspruchsregelung an
Steigerung der Spendezahlen bewirken könnte, lasse sich allemal und darüber hinaus
mit der Strukturreform erreichen. Das diesem Standpunkt zugrunde liegende Miss-
verständnis kommt auch bei der Medizinethikerin Claudia Wiesemann zum Aus-
druck. In ihrem Vortrag im Bioethik Forum des Ethikrats wies sie darauf hin, dass
nach Feststellung des Hirntodes sich bei 76 % der Verstorbenen eine Zustimmung
zur Organentnahme ergibt – entweder aus dem Spenderausweis oder nach Befragung
der Angehörigen: „Ich glaube nicht, dass wir ernsthaft anstreben sollten, 100 % zu
erreichen. Das ist vielleicht nur in Ländern wie Nordkorea der Fall. Wir brauchen
eine gewisse Zahl von negativen Voten in dieser Situation, sonst würden wir alle ver-
muten, dass die Einwilligung gar nicht freiwillig erfolgt ist.“17 Für eine Medizinethi-
kerin und für ein Mitglied des Ethikrates ist das eine erstaunliche Aussage: Lieber
solle man auf die Rettung von Schwerstkranken verzichten (die dann weiter leiden
und von denen einige versterben), bevor eine Vermutung aufkommt, die Spende sei
16
Goetz, ZfmE 2007, 49, 50 ff.
17
Wiesemann, Vortrag im Forum Bioethik, Minute 1:14:22 (abrufbar unter: https://www.
ethikrat.org/forum-bioethik/pro-contra-widerspruchsregelung-bei-der-organspende/#c
2316) – der angegebene Prozentsatz an Zustimmungen gilt für das Jahr 2017.
1584 Holm Putzke und Jörg Scheinfeld

unfreiwillig. In der Diskussion, die sich seinerzeit ihrem Vortrag anschloss, bekennt
Wiesemann dann noch: „Selbst wenn wir es schaffen würden, die vielen, 76 % Zu-
stimmungen, auf 80 oder vielleicht 82 zu vergrößern, dann haben wir immer noch
von sehr wenigen Organen nochmal 5 % on top, das ist immer noch sehr wenig.“
Als Mitglied des Ethikrats wird Wiesemann wissen, dass die Warteliste auch bei
100 % Zustimmung (oder bei 0 % Widerspruch) nebst 100 %iger Organentnahme
bei weitem nicht vollständig abgebaut werden könnte. Deshalb wirkt sich eine
durch die Widerspruchslösung bewirkte Steigerung der Zustimmungsrate stets so
aus, dass sie Leben rettet. Darin liegt denn auch die Antwort auf die Frage, die Wie-
semann in der Diskussion ihres Vortrags auch noch stellt: „Wo ist das Problem, das
die Widerspruchsregelung lösen soll?“ Es geht nicht um den vollständigen Abbau der
Warteliste, nicht um eine Statistik. Es geht darum, jeden Organkranken zu retten, der
mit einer Organtransplantation zu retten ist. Man muss sich deshalb, lehnt man eine
Steigerung der Zustimmungsrate durch die Widerspruchslösung ab, dazu bekennen,
vermeidbare Tode nicht zu vermeiden.18 Es irritiert daher auch erheblich, wenn der
Vorsitzende des Ethikrats einen Erfolg kleinredet, der nach seiner eigenen Einschät-
zung möglicherweise darin bestünde, 200 zusätzliche Leichenorganspender und
damit einhergehende Lebensrettungen zu haben – und zwar jedes Jahr.19 Und an die-
sem Punkt sollte man obendrein, auch wenn es darauf ethisch nicht mehr besonders
ankommt, die Möglichkeit der Mehrfachspende bedenken: Der einzelne Verstorbene
kann mehrere Organe spenden und damit mehreren Schwerstkranken helfen.

2. Wirksamkeit der Widerspruchsregelung

Aber sind bei Einführung der Widerspruchsregelung zusätzliche Organspenden


zu erwarten? Dafür spricht zunächst der erste Anschein. Aus Umfragen weiß
man, dass über 80 % der Bürger einer Organspende positiv gegenüberstehen.20
Wer derzeit im Organspendeausweis seine Spendebereitschaft dokumentiert hat,
wird nicht mit Einführung der Widerspruchsregelung einen Widerspruch erklären.
Und als Spender kommen diejenigen hinzu, die an sich spenden wollen, aber bislang
keinen Spendeausweis ausgefüllt haben.21
Zudem wird man die sittenbildende Kraft des Rechts in die Überlegungen einbe-
ziehen müssen. Bei Geltung der Widerspruchslösung erklärt das Gesetz die Organ-

18
Scheinfeld, medstra 2018, 321.
19
Das Vorbeisehen am eigentlichen ethischen Problem verstrickt Dabrock sogar (wie
schon Wiesemann) in einen unplausiblen Zweifel an dem Begriff der „Widerspruchslösung“
(Dabrock, Fn. 5, S. 4). Aus Sicht des Organbedürftigen, der wegen der Einführung der Wi-
derspruchsregelung ein Organ erhält und also überlebt, ist – bezogen auf sein „Problem“ – der
Terminus „Lösung“ nicht falsch.
20
So eine Umfrage der Techniker Krankenkasse (siehe https://www.sueddeutsche.de/ge
sundheit/gesundheit-umfrage-hohe-generelle-zustimmung-zu-organspenden-dpa.urn-newsml-
dpa-com-20090101-200112-99-438188).
21
Scheinfeld, medstra 2018, 321.
Zur Widerspruchsregelung bei der Leichenorganspende 1585

spende Verstorbener zum Normalfall. Das gibt für das ethische Urteil der Bürger ein
wichtiges Signal: Spenden ist – bei Abwesenheit einer Aversion – ethisch vorzugs-
würdig.22 Dass diese sittenbildende Kraft wirksam ist, lässt sich noch in den Ausfüh-
rungen der Gegner der Widerspruchsregelung aufzeigen. So führt Duttge an: „Das
,Musterland‘ Spanien“ sei „kein Beleg“ für das Potential, „weil dort die Wider-
spruchslösung bereits seit 1970 geltendes Gesetz ist, die Organspenderrate jedoch
noch 10 Jahre bei lediglich 14 je Million Einwohner (dagegen 2016: 43,4) und
daher auf ähnlichem Niveau wie für Deutschland“ gelegen habe.23 Die höhere Spen-
dequote Spaniens führt Duttge dann aber unter anderem zurück auf „eine signifikant
stärkere Verankerung des Anliegens mitmenschlicher Solidarität innerhalb der spa-
nischen Gesellschaft“.24 Was Duttge hier beschreibt und selbst übersieht, das ist eben
die Steigerung nicht nur der absoluten Zahlen an entnommenen Organen, sondern
auch die Steigerung der Zustimmungsrate (Fehlen eines Widerspruchs). Wenn
sich das postmortale Spenden nach Jahrzehnten als Normalfall etabliert hat, steigen
die Zustimmungsraten.
Dem unbefangenen Blick drängen sich Fragen auf: Wo kommt denn das stärkere
Solidaritätsgefühl der Spanier nach Jahrzehnten der Geltung der Widerspruchsrege-
lung her? Und warum wohl ändern die Spanier nicht das Gesetz und implementieren
statt der geltenden strengen Widerspruchslösung die – wenn Angehörige des Verstor-
benen existieren – ohnehin gelebte erweiterte Zustimmungslösung? Weil sie um die
sittenbildende Kraft des Gesetzes wissen. Ohne dem Einzelnen die Entscheidungs-
macht zu nehmen, schiebt die Gesetzeslage den Einzelnen mit sanftem Druck zur
ethisch vorzugswürdigen Spende. Und das scheint zu funktionieren. Wenn Duttge
dagegen behauptet, bei einem Wechsel zur Widerspruchsregelung sei das Entschei-
dungsverhalten der Bürger „schlechterdings unkalkulierbar“, so ist das vor dem Hin-
tergrund der Umfrageergebnisse für Deutschland unplausibel, und vor dem Hinter-
grund der positiven Erfahrungen anderer Länder mit der Widerspruchsregelung ist es
nachgerade abwegig. Verrel fasst das Ganze in einem Interview so zusammen: „Ich
habe mir heute extra noch mal die Top Ten sozusagen der Länder angeschaut, die
deutlich höhere Spenderraten als Deutschland haben. Die haben ausnahmslos alle
die Widerspruchslösung. Das ist nicht das einzige Element, aber ein wichtiges Ele-
ment, um zu mehr Spenden zu kommen.“25 Der Schweizer Ethikrat schlussfolgert
immerhin, die Hinweise, dass eine Widerspruchsregelung die Spenderate positiv be-
einflusst, haben sich verdichtet.26 Parteiisch bleibt deshalb Dabrocks Stellungnahme
als Sachverständiger: Die Schweizer Kollegen sagen, es fehle eine klare Evidenz für
22
Ähnlich Rosenau/Knorre, ZfmE 2019, 45, 51 ff., die auf den Framing-Effekt verweisen
und weitere Argumente bieten.
23
Duttge, ZfmE 2019, 29, 36.
24
Duttge, medstra 2019, 66, 67.
25
Verrel, https://www.deutschlandfunk.de/widerspruchsloesung-bei-der-organspende-
schweigen-als.740.de.html?dram:article_id=457614.
26
Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin, Organspende – Ethische
Erwägungen der Modelle zur Einwilligung in die Organentnahme, 2019, S. 14 f.
1586 Holm Putzke und Jörg Scheinfeld

eine Wirkung des Entscheidungsmodells, die Hinweise des Nutzens der Wider-
spruchsregelung verdichten sich aber; Dabrock macht daraus, dass kein Kausalzu-
sammenhang bestehe.27 Redlich ist das nicht. Der Gesetzgeber ist insoweit nicht
auf Evidenzen angewiesen, sondern darf eine Eignung der Widerspruchsregelung
schon aufgrund der Verdichtung der Hinweise annehmen.
Die Erwartung der Organbedürftigen und der Befürworter der Widerspruchsrege-
lung, die Umstellung der Entscheidungsregel werde die Zustimmungsrate steigen
lassen, hat nach allem eine plausible empirisch-logische Basis. Die Widerspruchslö-
sung einzuführen, ist damit auch dann sinnvoll, wenn sich eine perfekte Kranken-
hausorganisation etabliert hat.

IV. Normatives: Gibt es eine moralische Solidarpflicht


zur Akzeptanz der Widerspruchsregelung?
1. Die Sicht der Befürworter

Eine moralische Solidarpflicht zur Akzeptanz der Widerspruchsregelung exis-


tiert, wenn eine moralische Pflicht zur Leichenorganspende begründbar ist und
wenn die Widerspruchsregelung eine Steigerung der Zustimmungsrate erwarten
lässt. Reinhard Merkel unterscheidet drei mögliche Quellen einer Solidarpflicht: So-
lidarität aus Eigeninteresse (als Form wechselseitiger sozialer Absicherung), Solida-
rität aus Fairness (Unterlassen von free riding) und Solidarität aus Opferbereit-
schaft.28 Für einschlägig erklärt er – im Großen und Ganzen – nur den letzten Gedan-
ken, den der Opferbereitschaft.29 Der könne denn auch ein Gebot des Ausübens von
gesellschaftlicher Mindestsolidarität begründen.
Dafür müssten fünf Voraussetzungen vorliegen. Erstens: Dem oder der betroffe-
nen Anderen droht die Gefahr einer schweren Schädigung, vor allem an Leib und
Leben. Zweitens: Die solidarische Hilfshandlung ist zur Rettung notwendig. Drit-
tens: Ihre Erfolgswahrscheinlichkeit ist hoch. Viertens: Der zu erwartende Nutzen
für den Gefährdeten ist erheblich gewichtiger als alle Risiken für den solidarisch Hel-
fenden. Fünftens: Die Risiken und Belastungen für den Helfenden sind insgesamt
gering (Bedingung der Zumutbarkeit dieser Pflicht). Die ersten vier Bedingungen er-
klärt Reinhard Merkel im Fall der postmortalen Organspende für ohne weiteres er-
füllt. Hauptaufgabe der fünften, der Zumutbarkeit, sei die Begrenzung der ethischen
Pflicht. Unter Betonung des Charakters der Höchstpersönlichkeit der Entscheidung
zur Organspende gelte dann: „Schon die moralische Prima-facie-Pflicht zur Organ-
spende endet … im Fall der höchstpersönlichen Ablehnung (aus welchen Gründen

27
Dabrock (Fn. 5), S. 6.
28
Merkel, Vortrag im Forum Bioethik (Fn. 10), Minute 0:22:00.
29
Merkel, ebenda (die anderen Aspekte spielen für ihn nur eine untergeordnete Rolle) –
dort auch zum Folgenden.
Zur Widerspruchsregelung bei der Leichenorganspende 1587

immer) an ihrer Unzumutbarkeit.“ Für eine denkbare Rechtspflicht gelte das erst
recht.
Die Annahme einer grundsätzlichen moralischen Pflicht zur Leichenorganspende
verdient Zustimmung. Dies erhellt der Blick auf die Interessenlage. Ausgangspunkt
ist die Überlegung, dass der Verstorbene mangels Erlebensfähigkeit nicht mehr ver-
letzbar ist30 und dass – wie Thomas Gutmann31 dargelegt hat – eine Verletzung des
Leichnams nur dann als Rechtsverletzung angesehen werden kann, wenn der Eingriff
bestimmte Interessen der ,,ehemals lebenden Person“ durchkreuzt. Werden die zu
Lebzeiten gebildeten Interessen missachtet, greift dies in sein – den Tod überdauern-
des – verfassungsrechtlich fundiertes Persönlichkeitsrecht ein (Art. 2 I mit Art. 1 I
GG). Derlei Interessen werden aber nur deshalb geschützt, weil ,,es im Interesse
der Lebenden liegt“ nicht gewärtigen zu müssen, dass Wünsche und Verfügungen
Verstorbener missachtet werden. Hat nun der Verstorbene zu Lebzeiten keine ,,expli-
zite Präferenz“ gegen die Organentnahme entwickelt, sei es, dass er nichts von der
Regelung wusste, sei es, dass er sich keine näheren Gedanken gemacht hat, dann wird
mit der Organentnahme gerade kein zu Lebzeiten vorhandenes Interesse durch-
kreuzt, das heißt, bei Nichtvorliegen einer Präferenz ist der Aspekt der Organentnah-
me nicht bedeutsam für die ,,Entfaltung der Persönlichkeit“ zu Lebzeiten. Wer indes
einen Willen gegen die Organentnahme entwickelt, hat die Sache – wie das BVerfG
betont –32 in der Hand, er kann per Widerspruch seine Interessen schützen; und er
verliert umgekehrt an Schutzwürdigkeit, wenn er zu widersprechen unterlässt. In
der Abwägung darf der betroffenen Person, in Auferlegung einer Solidarpflicht ge-
genüber den Organbedürftigen, zugemutet werden, aktiv zu werden und den Wider-
spruch zu erklären.
Wer sich dies vor Augen hält, erkennt zudem, dass die Widerspruchsregelung
nicht das Motto verfolgt: „Schweigen gilt als Zustimmung“. Schon gar nicht geht
es ihr um einen dahingehenden empirischen Befund – ersichtlich kann das Fehlen
eines Widerspruchs zahlreiche Gründe haben, also nicht nur den einen, dass der Be-
troffene eine Organentnahme gutheißt. Der Ansatz der Widerspruchsregelung ist ein
gestufter, der zwei Ebenen abdeckt: Wer zu Lebzeiten keine Präferenz gegen die
nach Todeseintritt erfolgende Organentnahme entwickelt hat, wird in der Entwick-
lung seiner Persönlichkeit nicht beeinträchtigt. Wer hingegen eine solche Präferenz
hat, der kann den Widerspruch erklären, hat es also in der Hand, für die Durchsetzung
seiner Präferenz zu sorgen.
Genügt demnach schon das letzte der drei von Merkel genannten Prinzipien zur
Begründung einer ethischen Organspendepflicht (Solidarität aus Opferbereitschaft),

30
Merkel, Der Hirntod ist der vernünftigste Begriff für den Tod des Menschen, in: Josu-
weit/Pothmann (Hrsg.), Zwischen Leben und Tod. Grundlegende Aspekte der Organspende,
2017, S. 11, 12.
31
Gutmann, Für ein neues Transplantationsgesetz, 2006, S. 165 – 167; der im Text fol-
gende Absatz ist übernommen von Scheinfeld, medstra 2018, 321 f.
32
BVerfG, NJW 1999, 858.
1588 Holm Putzke und Jörg Scheinfeld

so sind aber die ersten beiden nicht vollkommen irrelevant. Zum Eigeninteresse: Or-
ganbedürftig kann jeder, etwa wegen eines Unfalls, jederzeit werden. Fast alle Be-
troffenen wünschen in solcher Lage, ein Spenderorgan transplantiert zu bekommen.
Deshalb ist es – ein Stück weit – das Interesse eines jeden, die Zahl verfügbarer Spen-
derorgane zu erhöhen. Die normative Ausgangslage ist dieselbe wie bei der Regelung
zur Unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c StGB); in eine Notlage kann jeder schnell
geraten, weshalb die gesellschaftliche Verabredung, sich gegenseitig zu helfen,
wenn der Helfer nicht viel zu verlieren droht, einer am Eigeninteresse orientierten
Klugheitsregel folgt.33 Zur Fairness: Es wirft ersichtlich Fragen der Fairness auf,
wenn jemand weder die Bereitschaft zur Spende noch zur Einführung der Wider-
spruchsregelung hat, aber sobald er organbedürftig geworden ist, auf die knappe Res-
source der Spenderorgane zugreifen will. Selbst zur Knappheit der Organe beizutra-
gen, im Notfall aber vor anderen (die die nötige Bereitschaft hatten), mit einem
Organ versorgt zu werden, ist in einem gewissen Sinn unfair (free riding).34 Flankie-
rend stützen also auch die beiden anderen Prinzipien die Widerspruchsregelung.

2. Einwände

Einige der Einwände, die gegen die Widerspruchsregelung formuliert werden,


wurden bereits behandelt und als nicht durchgreifend verworfen. Im Folgenden sol-
len weitere Einwände entkräftet werden.

a) Zweifel am Ganzhirntodkonzept

Die Diskussion um die Widerspruchsregelung wird – erstaunlicherweise – zum


Anlass genommen, Zweifel am Konzept des Ganzhirntodes zu artikulieren.35
Dabei sieht man auf den ersten Blick, dass solche Zweifel, wenn sie denn durchgrei-
fen sollten, mit dem Entscheidungsverfahren der Organentnahme nichts zu tun
haben: „Wenn das Ganzhirntodeskonzept bei der Zustimmungslösung unbedenklich
ist, ändert die Einführung der Widerspruchslösung an dieser Unbedenklichkeit
nichts.“36 Weil jedoch manch einem das Ganzhirntodeskonzept unheimlich ist und
weil dieses Unbehagen offenbar vielfach mitschwingt bei rechtsethischen und
rechtspolitischen Entscheidungen, sei noch kurz darlegt, warum dieses Todeskon-
zept – im Verhältnis zum Konzept des Organismustodes – das fürs Recht allein trag-
fähige Konzept ist.

33
In diese Richtung auch Gaede, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetz-
buch, 5. Auflage 2017, § 323c Rn. 1: „wechselseitige Angewiesenheit“.
34
Vgl. dazu etwa bei Schockenhoff, ZfmE 2019, 19, 21; ferner noch unten im Text bei
Fn. 80.
35
Höfling, medstra 2019, 65; ders., ZRP 2019, 2, 3.
36
Scheinfeld, medstra 2018, 321, 322.
Zur Widerspruchsregelung bei der Leichenorganspende 1589

Die Rechtspraxis und die ganz herrschende Meinung in Rechtslehre und Rechts-
ethik erblicken den Eintritt des menschlichen Todes darin, dass erstens die Erlebens-
fähigkeit irreversibel verloren gegangen ist und dass zweitens das – freilich im Or-
ganismus nicht allein wirkende, aber gleichwohl – zentrale Integrationsorgan, das
Hirn, irreversibel ausgefallen ist.37 In diesem Zusammentreffen von irreversiblem
Ausfall der Erlebensfähigkeit und der körpereigenen Integrationsfähigkeit liegt
die Todesdefinition. Von ihr zu unterscheiden sind das Todeskriterium (Ausfall
aller Hirnfunktionen) und das Feststellungsverfahren (Untersuchungsgang).38 Die
Gegenansicht vertritt ein Konzept des Organismustodes.39 Dieser Todesbegriff er-
klärt die „Sicht der Biologie“ für maßgeblich und lässt sich so definieren: „Leben
hört auf, wenn ein Netzwerk der gegenseitigen Herstellung und Erhaltung zusam-
menbricht, und dies ist der Fall, wenn ein konstitutives Organ ersatzlos ausfällt“; er-
satzlos ausgefallen ist ein Organ erst, wenn es auch maschinell nicht ersetzt werden
kann, sodass sich „das Gehirn“ darstellt als „ein Organ wie jedes andere und deshalb
im Prinzip ersetzbar und entbehrlich“ ist.40 Diese Sicht bestreitet also den Status des
Gehirns als eines besonderen Integrationsorgans, was insbesondere dazu führt, dass
der Ganzhirn-„Tote“ noch lebt, solange die Integrationsleistung des Gehirns maschi-
nell ersetzt werden kann.
Die Anhänger des Organismustodeskonzepts verfehlen den spezifischen Rechts-
begriff des Todes. Die Begriffe „Mensch“, „Leben“ und „Tod“ mögen biologisch und
allgemeinphilosophisch definiert werden können, wie man das für richtig hält. Be-
gibt man sich hingegen auf das Feld der Rechtsethik und der Rechtsphilosophie – und
will man mit seinen Überlegungen den Gesetzgeber anleiten – müssen die Begriffe in
ihrer spezifischen Funktion als Rechtsbegriffe erkannt und umrissen werden.41 Es ist
daher irrig, wenn die „Sicht der Biologie“ für allein relevant erklärt wird.42 Die To-
desdefinition, sagt auch Reinhard Merkel, „beruht auf einer ethischen Entschei-
dung“.43 In der Biologie etwa hat das Definieren des Menschen keine weiteren Kon-
sequenzen. Die Definition des jeweiligen Rechtsbegriffes aber muss nicht nur „in
sich“ und allgemein begriffsphilosophisch stimmig sein, sondern einen angemesse-
nen Interessenschutz bieten, der Begriff muss zu bestimmten Rechtsfolgen passen.
Das heißt beispielsweise, dass die Definition des Begriffs „Mensch“ das entsprechen-

37
Vgl. die Sicht der Mehrheit des Ethikrats in: Nationaler Ethikrat, Hirntod und Ent-
scheidung zur Organspende – Stellungnahme, 2015, S. 66, 72 ff.
38
Zu der Unterscheidung Vollmann, Das Hirntodkriterium heute – Begriffserklärung und
medizinische Kontroversen, in: Schlich/Wiesemann, Hirntod – Zur Kulturgeschichte der To-
desfeststellung, 2001, S. 45 ff.; ferner Merkel, Jura 1999, 113, 114 f.
39
Noch recht aktuell die Minderheit des Ethikrats in: Nationaler Ethikrat (Fn. 37), S. 84 ff.
m.w.N. in Fn. 151.
40
Roth/Dicke, Das Hirntodproblem aus Sicht der Hirnforschung, in: Hoff/in der Schmitten,
Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und „Hirntod“-Kriterium, 1995, S. 51, 53.
41
Vgl. auch bei Fischer, StGB, 67. Auflage 2020, Vor §§ 211 – 217 Rn. 13 – 16.
42
So aber die Minderheit im Nationalen Ethikrat (Fn. 37), S. 86.
43
Merkel, Vortrag im Forum Bioethik (Fn. 10), Minute 0:17:00.
1590 Holm Putzke und Jörg Scheinfeld

de Merkmal des § 212 StGB sachangemessen ausfüllen muss. Daran scheitert der
biologistische Begriff des Organismustodes.
Zahlreiche Verwerfungen des biologistischen Todeskonzepts hat Reinhard Mer-
kel bereits in Auseinandersetzung mit Höfling dargelegt.44 Eine schlagende Wider-
legung und reductio ad absurdum dürfte diese Passage bieten: „In der internationalen
medizinischen Literatur zur Kinderchirurgie gibt es zahlreiche Berichte über soge-
nannte siamesische Zwillinge (,conjoined twins‘), die so eng fusioniert waren, daß
sie äußerlich als ,dizephal‘, als ein Körper mit zwei Köpfen erschienen. In solchen
Fällen sind chirurgische Trennungen, genauer: Abtrennungen des einen Kopfes, ,er-
folgreich‘ durchgeführt worden – wenn man das so nennen will; mit dem Erfolg näm-
lich, daß der andere Kopf mit dem zuvor gemeinsamen Körper weiterlebte. Es kann
wohl kein vernünftiger Zweifel bestehen, daß solche ,Trennungen‘ als Tötung des
jeweils geopferten Zwillings – seines Kopfes! – zu beurteilen sind. Die Gegner
des Hirntod- und Anhänger des Organismustod-Kriteriums müssen das bestreiten.
Nach ihrer These kann es hier überhaupt kein normatives Problem geben, jedenfalls
nicht das einer Tötung. Lediglich ein doppelter, also überflüssiger Teil ist entfernt
worden. Das gesamte Organsystem des Körpers lebt weiter; verschwunden ist nur
ein Stück Körpermasse. Ist dessen Funktion für die Frage des Lebens bedeutungslos,
wie die Hirntod-Gegner behaupten, dann natürlich auch sein bloßes physisches Vor-
handensein und somit auch sein anschließendes Fehlen.“45
Merkels Verweis auf diese Fälle führt ganz allgemein zu der strafrechtlichen
Frage: Wann ist der Todeseintritt im Rahmen der Tötungsdelikte zu bejahen?
Wann muss man sagen, dass der Täter seinem Opfer „das Leben“ genommen hat?
Auch hier wird man im ersten und unbefangenen Zugriff sagen, dass dem Tatopfer
das Leben genommen worden ist, wenn es nichts mehr erlebt und wenn die zentrale
Steuerungseinheit ausgefallen ist. Schon dann sind nämlich die für Tötungstaten vor-
gesehenen Sanktionen angemessen und geboten (etwa §§ 222, 212, 211 StGB). Sonst
ergebe sich nämlich eine gänzlich unplausible Konsequenz: Hat jemand fahrlässig
den Ganzhirntod eines anderen verursacht, könnte er dafür solange nicht wegen fahr-
lässiger Tötung nach § 222 StGB bestraft werden, wie das Opfer intensiv-medizi-
nisch behandelt und dessen Organismus aufrechterhalten wird. Mancher Gegner
des Hirntod-Kriteriums hält dem zwar entgegen, im Zustand des Ganzhirntodes
ende die Behandlungspflicht der Ärzte und die den Organismus „am Leben“ erhal-
tenden Geräte seien abzustellen.46 Doch ist das eine normativ unbeglaubigte Aussage
für den Fall, dass der Hirntote zuvor verfügt hatte, man möge ihn im Zustand des
Hirntodes stabilisieren, ihn also – aus Sicht der Anhänger des Organismustod-Krite-
riums – „am Leben“ halten: „Es wäre nicht nur schäbig, sondern verfassungswidrig“,
sagt Merkel, „Hirntoten einerseits das Grundrecht auf Leben zuzuschreiben und

44
Merkel, Jura 1999, 113 ff.; zu Höfling, MedR 1996, 6; ders., JZ 1996, 615.
45
Merkel, Jura 1999, 113, 117.
46
Höfling, MedR 1996, 6, 8 – mit der Folge baldigen „Todes“-Eintritts.
Zur Widerspruchsregelung bei der Leichenorganspende 1591

ihnen andererseits die Möglichkeit seiner Realisierung zu verwehren.“47 Wahrlich


bizarr wird es, wenn dem Hinweis auf eine Weiterbehandlungspflicht entgegnet
wird, die Weiterbehandlung sei „medizinisch nicht indiziert“.48 Normativ ausbuch-
stabiert hieße das: Der Patient und Grundrechtsträger hat verfügt, er wolle in diesem
Zustand weiterleben, aber dass er weiterlebt, ist medizinisch nicht indiziert.49 Allein
richtig will uns dagegen das Diktum Reinhard Merkels erscheinen: „Ob es für einen
Hirntoten, dem man das Grundrecht auf Leben zuschreibt, ,besser‘ ist, weiter zu
leben, das wird man nolens oder volens seiner Entscheidung zu überlassen
haben.“50
Die weltweite – und von Anhängern des Organismustod-Kriteriums anerkannte –
Praxis, Ganzhirntote (unabhängig von einer etwaigen Weiterbehandlungsverfügung
des Betroffenen) nicht weiter zu behandeln, lässt sich normativ nur unter Geltung des
Hirntod-Kriteriums begründen. Die Dinge so zuzuspitzen bietet dann den Vorteil,
sich klarzumachen, dass die intensivmedizinische Behandlung eines Hirntoten völlig
unabhängig von einer möglichen Organentnahme endet. Hirntote werden nicht wei-
terbehandelt, seien es nun Organspender oder nicht.51
Schon diese wenigen Aspekte genügen, um das Konzept des Organismustod-Kri-
teriums als ein für das Recht untaugliches zu erweisen. Trotz einiger anthropologi-
scher Zumutungen52 des Hirntod-Konzeptes verdient es den Vorzug, weil das Orga-
nismustod-Konzept in eklatante Wertungswidersprüche führt und weil es die Anfor-
derungen an den spezifisch juristischen Begriff des Todes aus genannten und weite-
ren53 Gründen nicht erfüllt.
An dieser Stelle sei noch darauf hingewiesen, dass mancher Gegner der Wider-
spruchsregelung zum Sophismus neigt, wenn er Begriffe wie „Tod“, „Sterben“
oder „Sterbenlassen“ im alltagssprachlich weiten Sinn und nicht im Rechtssinne ver-
wendet. Beim Hirntoten spricht etwa Höfling noch davon, dass diesem ein „palliativ
begleitetes Sterben“ 54 zu ermöglichen sei, oder Duttge beispielsweise spricht vom
möglichen Vorrang eines „pietätvollen Sterbenlassens“55. Der Hirntote ist schon ge-
storben, er ist im Rechtssinne tot. Der begrifflichen Klarheit wegen sollte man solch
ein Spielen mit der Vagheit von Alltagsbegriffen unterlassen.

47
Merkel, Jura 1999, 113, 120.
48
Höfling, medstra 2019, 65.
49
Scheinfeld, in: Schildmann/Fahr/Vollmann (Hrsg.), Entscheidung am Lebensende in der
modernen Medizin: Ethik, Recht, Ökonomie und Klinik, 2006, S. 161, 163.
50
Merkel, Jura 1999, 113, 120.
51
Die kurzzeitige Weiterbehandlung des Organspenders zur Erhaltung der Transplantier-
barkeit sei hier einstweilen noch beiseite gelassen (dazu unten bei Fn. 67).
52
Zu ihnen Merkel, Jura 1999, 113, 115 ff.
53
Zu ihnen siehe ebenfalls bei Merkel, Jura 1999, 113, 118 ff.
54
Höfling, medstra 2019, 65.
55
Höfling, medstra 2019, 65.
1592 Holm Putzke und Jörg Scheinfeld

b) Grundrechts- und Menschenrechtsverletzungen

aa) Ein entschiedener Fall: die Leichenöffnung (§ 87 StPO)

Die Diskussion um die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Widerspruchsrege-


lung lässt sich abkürzen, indem man sich einen vom Bundesverfassungsgericht ent-
schiedenen Fall des Eingriffs in die Integrität eines Leichnams vor Augen führt. Ge-
meint ist die Leichenöffnung zur Abklärung eines Straftatverdachts (§ 87 StPO). Be-
steht Unklarheit darüber, ob der Tod Folge einer strafbaren Handlung ist, erlaubt die
Vorschrift die Abklärung im Wege der Leichenöffnung. Der Eingriff in den Leich-
nam geht einher mit dem Öffnen des Schädels und des Torsos, der Eingriff ist
daher von der Intensität her vergleichbar einer Entnahme von Organen.56 Das Bun-
desverfassungsgericht erklärt § 87 StPO und die auf ihm beruhenden Eingriffe für
verfassungsgemäß, dies selbst für den Fall, dass der Verstorbene zu Lebzeiten jed-
wedem Obduziertwerden (in einer Verfügung) widersprochen hatte.57
Bezogen auf diese geltende Rechtslage wird offenbar übersehen, dass mit § 87
StPO ebenfalls – und dies für den Betroffenen sogar unabwendbar – Solidarität ein-
gefordert und verfügt wird, und zwar in Form eines Sonderopfers: Wer in seiner per-
sönlichen Abwägung dahin kommt, selbst im Falle zukünftigen Ermordetwerdens sei
eine Obduktion seines Leichnams zu unterlassen (vielleicht aus religiösen Gründen),
findet dieses Interesse an der Unversehrtheit seines Leichnams zurückgesetzt hinter
das Allgemeininteresse an der Aufklärung von Straftaten – und sogar hinter das In-
teresse an der Abklärung eines bloßen Straftatverdachts. Damit statuiert § 87 StPO
eine Solidarpflicht, die dahin geht, erhebliche Eingriffe in den eigenen Leichnam
im Gemeinschaftsinteresse hinzunehmen!58
Um das Verdikt der Verfassungsgemäßheit der Widerspruchsregelung zu entkräf-
ten, hatte Scheinfeld den Gegnern einen Wertungswiderspruch zu bedenken gegeben
und dazu folgende Situation geschildert: „Angenommen, ein Organbedürftiger hat
zu Lebzeiten einer Obduktion seines Leichnams für jeden denkbaren Fall widerspro-
chen und nach seinem ,Tod auf der Warteliste‘ kommt der Verdacht auf, dass der Arzt
mit einer falschen Medikation den Tod verursacht hat. Das hieße dann, die mögli-
cherweise sein Leben rettende Widerspruchslösung lehnt man aus Rechtsgründen
ab; aber über seinen – auf einen vergleichbaren Eingriff bezogenen – sogar expliziten
Widerspruch setzt man sich zur Abklärung eines Straftatverdachts hinweg.“59
Aufschlussreich ist, dass, wer die Verfassungsgemäßheit der Widerspruchsrege-
lung behauptet oder sie in Zweifel zieht oder sie zumindest rechtsethisch ablehnt,
56
So schon Scheinfeld, LTO 2011, Widerspruch gegen den Tod auf der Warteliste; ders.,
medstra 2018, 321, 322.
57
BVerfG, NJW 1994, 783.
58
Zu dem, was bei einer Leichenöffnung alles geschieht, vgl. bei Madea, Die ärztliche
Leichenschau, 4. Auflage 2019, S. 69 ff. – Rosenau/Knorre (ZmfE 2019, 45, 48) verweisen
noch auf § 25 Abs. 4 IfSG mit § 1 IfSG.
59
Scheinfeld, medstra 2018, 321, 322.
Zur Widerspruchsregelung bei der Leichenorganspende 1593

sich mit der verfassungskonformen Norm des § 87 StPO überhaupt nicht oder aber
nur ganz oberflächlich auseinandersetzt. Zur letzteren Gruppe zählt Duttge, wenn er
dem Argument entgegenhält, dass bei der Leichenschau nicht das Gesetz abstrakt den
Eingriff verfüge, sondern die Staatsanwaltschaft konkret und im Einzelfall entschei-
de.60 Mit dieser Entgegnung zeigt Duttge indes nur, dass er das unliebsame Argument
irgendwie erledigen und beiseiteschieben will. Denn mit seinem Ausgangspunkt, mit
der Selbstbestimmung des Betroffenen, hat der Unterschied „abstrakt/konkret“ rein
gar nichts zu tun. Eine Beeinträchtigung der Selbstbestimmungsfreiheit wiegt nicht
deshalb weniger, weil der Staat sie im Einzelfall verfügt – für den Betroffenen macht
das keinen Unterschied. Und obendrein schneidet in puncto Selbstbestimmung die
abstrakte Widerspruchsregelung sogar deutlich besser ab als die konkrete Einzelfall-
entscheidung im Rahmen des § 87 StPO: Die Widerspruchsregelung achtet die Ent-
scheidung des Bürgers, wohingegen die Einzelfallverfügung der Staatsanwaltschaft
einen gegen die Obduktion zuvor geäußerten Widerspruch gerade missachtet.
Warum jenes Vorgehen verfassungsrechtlich oder rechtsethisch schlechter abschnei-
den soll als dieses, bleibt Duttge zu begründen schuldig, dies allerdings zwangsläu-
fig, weil es nicht zu begründen ist.

bb) Die geltende Teil-Widerspruchsregelung

Nach geltendem Recht darf einem Hirntoten, über dessen Willen zur Organspende
nichts bekannt ist, ein Organ auch dann entnommen werden, wenn der nächste An-
gehörige der Entnahme zustimmt (§ 4 I 2 TPG). Diese Regelung entspricht struktu-
rell in einem entscheidenden Punkt der Widerspruchsregelung: Will der Einzelne
verhindern, dass ihm post mortem Organe entnommen werden, muss er zuvor wider-
sprechen, um die – dem Angehörigen vom Gesetz eingeräumte – Verfügungsmacht
auszuschließen.61 Das Bundesverfassungsgericht erklärt eine solche Rechtslage für
grundrechtskonform: Jeder habe es in der Hand, per Widerspruch die Organentnah-
me zu verhindern;62 und dass schon der Zwang zur Abgabe eines Widerspruchs (und
somit zur Beschäftigung mit dem Thema der Leichenorganspende) Grundrechte ver-
letze, sei schlicht nicht ersichtlich.63
Im Ergebnis verdient dies Zustimmung. Eine solche Regelung greift zwar in das
Persönlichkeitsrecht des Einzelnen ein, weil er gezwungen wird, sich mit der –
höchstpersönliche Fragen betreffenden – Thematik des eigenen Todes zu befassen.
Der Eingriff ist aber verfassungsrechtlich legitim, weil er fundamentale Interessen
der schwerkranken Organbedürftigen schützt. Da die Autonomie gewahrt bleibt,
ist der Eingriff hinzunehmen. Eine solche Opt-out-Regelung kannte das Recht
etwa noch bei der Wehrpflicht. Wollte man keinen Wehrdienst leisten, hatte man

60
Duttge, ZfL 2019, 29, 40.
61
Dazu schon Scheinfeld, medstra 2018, 321.
62
BVerfG, NJW 1999, 858.
63
BVerfG, NJW 1999, 3403 f.
1594 Holm Putzke und Jörg Scheinfeld

plausibel zu machen, dass das eigene Gewissen das Wehrdienstleisten nicht zulässt,
man musste mit aufwendiger Begründung „verweigern“, also wenn man so will,
einen qualifizierten „Widerspruch“ einlegen. Vor der Verfassung hatte das – um
der Allgemeinwohlbelange willen – sehr wohl Bestand. Die Rettung von (über die
Jahre gesehen) tausenden Schwerstkranken ist ebenfalls ein Allgemeinwohlbelang
von größtem Gewicht. Auf der Ebene der Rechtsethik bleibt die Gewichtung der In-
teressen erhalten, wie Thomas Gutmann und Reinhard Merkel dargelegt haben.64
Es gibt weiteren Umgang mit dem menschlichen Leichnam, der sich nur daraus
legitimiert, dass der Verstorbene dem spezifischen Umgang mit dem Leichnam nicht
zu Lebzeiten widersprochen hat. Dies gilt für Regelungen zur Bestattung Alleinste-
hender: In Berlin etwa sind Urnenbestattungen der Standard. Dieser Umgang mit
dem Leichnam ist normativ abstrakt verfügt. Will der Alleinstehende für seinen
Leichnam die Urnenbestattung vermeiden, muss er aktiv werden. Greift die Rege-
lung deshalb illegitim in sein Recht auf Selbstbestimmung ein? Nein, und zwar des-
halb nicht, weil er die ihm unliebsame Behandlung seines Leichnams mit einer ei-
genen Verfügung abwenden kann. Von Verfassungs wegen als legitim zu gelten
hat folgerichtig, neben der Urnenbestattung für Alleinstehende, sowohl die geltende
Teil-Widerspruchsregelung als auch die Widerspruchsregelung.

cc) Der vergleichbare Rechtsschutz des Art. 8 EMRK

Für eine Widerspruchsregelung bereits unüberwindbare rechtliche Hinderungs-


gründe zu sehen, überzeugt aus einem weiteren Grund nicht. Die EMRK bietet
einen – dem Grundgesetz vergleichbaren – Schutz fundamentaler Rechte. So umfasst
etwa Art. 8 EMRK unter dem Schutz des „Privatlebens“ das Selbstbestimmungs-
recht. Es erstreckt sich auf den postmortalen Achtungsanspruch.65 Die vielen Unter-
zeichnerstaaten, die eine Widerspruchsregelung haben, müssten nach Ansicht man-
cher dieses postmortale Persönlichkeitsrecht verletzen. Eine entsprechende Be-
schwerde zum EGMR hat es – soweit ersichtlich – noch nicht gegeben. Sie hätte
auch keinen Erfolg. Dies aus denselben Gründen, aus denen das Bundesverfassungs-
gericht die Teilwiderspruchsregelung vor Art. 2 I GG mit Art. 1 I GG hat bestehen
lassen. Kurz: Man ist nicht im Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit verletzt, wenn
man sich am Ende frei entfalten kann.66

dd) Sperrende Patientenverfügungen?

Vor der Organentnahme vom Toten kann es bei Inhabern eines Organspendeaus-
weises schon unter Geltung der erweiterten Zustimmungslösung Probleme bei der
Auslegung einer Patientenverfügung geben: Wenn die Patientenverfügung für eine

64
Dazu oben unter IV.1.
65
EGMR, NLMR 2016, 50 ff.
66
Dazu kurz schon oben unter IV.1.
Zur Widerspruchsregelung bei der Leichenorganspende 1595

infauste Prognose – von Schmerzlinderung abgesehen – jedwede medizinische Maß-


nahme untersagt, ist fraglich, wie im Verhältnis zu dieser Verfügung der im Organ-
spendeausweis bekundete Spendewille zu interpretieren ist. Sind organprotektive
Maßnahmen67, die als Eingriffe in den Körper rechtfertigungsbedürftig sind, vom do-
kumentierten Spendewillen gedeckt oder ist die Patientenverfügung absolut und also
das Untersagen von Eingriffen auch für diese spezielle Situation gemeint? Derlei In-
terpretationsprobleme können sich sogar aus ein und demselben Dokument ergeben,
was der Fall ist, wenn in der Patientenverfügung mitverfügt wird, dass nach dem Tode
Organe zum Zwecke der Organspende entnommen werden dürfen. In der Praxis legt
man die individuelle Patientenverfügung bislang im jeweiligen Einzelfall aus, ent-
scheidet also von Fall zu Fall.68 Höfling hat den Anhängern der Widerspruchsrege-
lung zunächst apodiktisch entgegengehalten, dass sich die Probleme unter Geltung
einer Widerspruchsregelung verschärfen würden.69 Das stimmt in gewisser Hinsicht,
weil nicht einmal ein Spendewille dokumentiert ist. Allerdings darf man dabei nicht
stehenbleiben. Es gilt, was Puppe einmal dem Studierenden einer wissenschaftlichen
Disziplin erklärt hat: Der „Wissenschaftler… ist verpflichtet, die Gegenposition zu-
nächst einmal in eine möglichst überzeugende Form zu bringen, so als sei er selbst ihr
Anhänger, ehe er sie zu Fall bringt.“70 Das gilt natürlich ebenso und erst recht, wenn
man, wo es um Leben und Tod geht, Einfluss auf die Entscheidung des Gesetzgebers
nehmen möchte.
Und wer nicht von vornherein bereit ist, die Widerspruchsregelung so oder so ab-
zulehnen, wer also daran interessiert ist, die ethisch vorzugswürdige Regelung zu fin-
den, der wird schnell zur Lösung des Problems vorstoßen: In Zukunft muss in Pati-
entenverfügungen der Fall der Leichenorganspende mitbedacht und ausdrücklich
mitverfügt werden, was zu gewährleisten vor allem auch Aufgabe der professionell
beratenden Akteure ist.71 Daneben kann der Gesetzgeber im Transplantationsrecht
Regelungen für Zweifelsfälle treffen.72 In anderen Stellungnahmen räumt denn
auch Höfling ein, dass eine Harmonisierung von Organspende und Patientenverfü-
gung möglich ist.73 Die Spannungen zwischen Organentnahme und manchen Patien-
tenverfügungen lassen sich faktisch oder normativ auflösen. Zu einer Verschärfung
der Problematik käme es bei Einführung der Widerspruchsregelung daher nur, wenn
man die Lösungen nicht gleich miteinführt.

67
Sie bedeuten im Grunde die Fortsetzung der Intensivtherapie unter Änderung des Be-
handlungsziels hin zum Schutz der Organe.
68
Schlums, Organspende durch Patientenverfügung – Verhältnis von Patientenverfügung
und Organspende, Konflikte und deren Bewältigung, 2015, S. 199 ff.
69
Höfling, medstra 2019, 65.
70
Puppe, JA 1989, 345, 358.
71
Schlums (Fn. 68), S. 268.
72
Schlums (Fn. 68), S. 269.
73
Höfling, ZRP 2019, 2, 4.
1596 Holm Putzke und Jörg Scheinfeld

c) Ethische Bedenken

aa) Vorrang der Organisationsoptimierung?

Vereinzelt wird behauptet, rechtsethisch bestehe ein Stufenverhältnis zwischen


der Optimierung der Abläufe im Krankenhaus auf der einen Seite und der Einführung
der Widerspruchsregelung auf der anderen Seite. So führt Duttge aus: „Entgegen
mancher Intuition, zwecks sofortiger Reduktion des Organmangels ,das eine zu
tun und das andere nicht zu lassen‘, besteht zwischen der Aufgabe zur organisations-
bezogenen Qualitätssicherung und einer verstärkten (rechtlichen) Inpflichtnahme
eines Jeden ein klares Vorrang-Nachrang-Verhältnis: Denn das opt-out-Modell be-
gründet ohne Autorisierung des Betroffenen eine rechtswirksame Zugriffsoption
der Rechtsgemeinschaft auf die sterblichen Überreste aller (soweit hieran ein Ge-
meinwohlinteresse besteht) und greift schon deshalb flächendeckend in deren Selbst-
bestimmungsrecht ein.“74
Dieser Einwand speist sich – wie manch anderer – aus dem Versäumnis, die Ge-
samtsituation des Organmangels vollständig in den Blick zu nehmen. Duttge ver-
nachlässigt nur wieder, dass es nicht darum geht, eine gewisse Quote an Organspen-
den zu erreichen, es geht nicht um Gewissensberuhigung im Verhältnis zu solidari-
scheren Gesellschaften, sondern darum, jeden vermeidbaren Tod zu vermeiden. Man
kann es anscheinend nicht oft genug betonen: Auch bei bester Organisation in den
Krankenhäusern werden nicht hinreichend viele Organe gewonnen, der Bedarf ist
zu groß. Wer dies nicht verdrängt, muss schon deshalb eingestehen, dass ein solches,
von Duttge behauptetes Vorrangverhältnis nicht besteht. Die Erforderlichkeit einer
Erhöhung der Zustimmungsrate bleibt bestehen auch bei Optimierung der Klinikor-
ganisation. Es geht bei der Einführung der Widerspruchsregelung deshalb ohnehin
um die Frage, ob neben einer Optimierung der Krankenhausorganisation die Zustim-
mungsrate erhöht werden kann und erhöht werden soll. Bezogen auf diejenigen Or-
ganbedürftigen, die auch mit einer perfekten Organisation in den Krankenhäusern
nicht zu retten wären, kann es deshalb keine solche Vorrangregel geben. Duttges
These geht daher an der Ausgangsfrage vollständig vorbei.75

74
Duttge, ZfL 2019, 29, 40 f.; ähnlich Kreß, MedR 2019, 192, 196.
75
Im Grunde dasselbe Versäumnis liegt einem weiteren Einwand zugrunde: „Aus rechts-
ethischer Sicht“, meint Duttge, „sollte jedenfalls selbstverständlich sein, dass die Transplan-
tationsmedizin zuerst ihre organisationsbezogenen Defizite beheben muss, ehe sie das Ver-
trauen der Menschen in Anspruch nehmen kann, diese bei fehlenden anderweitigen Abhilfen
regelhaft als potentielle Organspender in Anspruch zu nehmen“ (ZfL 2019, 29, 39). Dies geht
ebenfalls an der Empirie des Organmangels vorbei: Das Beheben von Organisationsdefiziten
führt nicht zur Beseitigung des Organmangels! Deshalb war von vornherein allein danach zu
fragen, ob neben einer Optimierung der Krankenhausorganisation die Widerspruchsregelung
eingeführt werden sollte.
Zur Widerspruchsregelung bei der Leichenorganspende 1597

bb) Drohen eines Vertrauensverlustes?

Dabrock76 und Lang77 befürchten, dass die Einführung der Widerspruchsregelung


zu einem (weiteren) Vertrauensverlust und einem Sinken der Spendezahlen führt.
Das Transplantationswesen sei, so lassen sich die Einwände deuten, von Skandalen
betroffen, die das Vertrauen erschüttert haben. So ist im Jahr 2010 der Essener Trans-
plantationschirurg Broelsch unter anderem wegen Nötigung zu drei Jahren Haft ver-
urteilt worden;78 und im Jahr 2011 traten Manipulationen der Warteliste zutage.79
Hierauf bezogen vermissen wir bei den Autoren die Klarstellung, dass die aufgetre-
tenen Skandale entweder mit der Leichenorganspende nichts zu tun hatten (Broelsch)
beziehungsweise aus ethischer Sicht einem Spendeentschluss nicht entgegenstehen
(Manipulation der Warteliste). Der Essener Skandal betraf das Abnötigen von Geld-
zahlungen bei der Lebendorganspende, was niemanden davon abhalten sollte, post
mortem seine Organe zur Verfügung zu stellen; denn die bei der Lebendorganspende
aufgetretenen Verfehlungen können für die Leichenorganspende nicht relevant wer-
den. Und bezogen auf den Manipulationsskandal könnte man als Rechtsethiker
durchaus einmal aussprechen, dass nicht jeder Skandal einen rationalen Grund lie-
fert, die Spende zu unterlassen. So liegt es etwa bei einer Manipulation der Warte-
liste, womit der Organbedürftige von Platz 12 der Organbedürftigen-Liste, indem
sein Arzt den Krankheitszustand als noch schlimmer behauptet, auf Platz 1 hoch-
rückt. Der Arzt begeht mit der Manipulation kein Unrecht gegenüber dem Organ-
spender! Er begeht zwar mittlerweile strafrechtliches Unrecht (§ 19 IIa TPG), dies
ist aber ein Unrecht allein gegenüber denjenigen Organbedürftigen, die wegen dieser
Manipulation erst später ein Transplantat erhalten werden oder gar keines, weil sie
vorher versterben. Das gespendete Organ jedoch kommt auch bei einer solchen Ma-
nipulation noch einem schwerkranken Menschen zugute, dessen Zustand sich damit
drastisch bessert. Deshalb besteht für den Spender in puncto Ethik des Helfens –
selbst wenn Manipulationen an der Tagesordnung wären – kein relevanter Unter-
schied. Wollte man dies anders sehen, müsste es eine ethisch plausible Position
sein, wie folgt zu denken: Ich würde dem Zwölften auf der Liste zwar dann mein
Organ spenden, wenn es die ersten Elf der Liste nicht gäbe (dann wäre der jetzige
Zwölfte ja der Erste); doch helfe ich diesem Menschen nicht, wenn der Arzt unred-
lich dafür sorgt, dass der Zwölfte mein Organ bekommt.
Davon abgesehen ist die Position von Dabrock und Lang in Sachen Vertrauen in
die Transplantationsmedizin schlicht widersprüchlich: Wir werben für die Bereit-
schaft und Zustimmung zur Organspende, aber eine Widerspruchsregelung schadet
dem Vertrauen. Wenn das System so vertrauenswürdig ist, dass ich um die Zustim-

76
Dabrock (Fn. 5), S. 13.
77
Lang, Stellungnahme für die öffentliche Anhörung des Ausschusses für Gesundheit des
Deutschen Bundestages am 25. September 2019, S. 2, 14 f.
78
LG Essen, Urteil v. 12. 3. 2010 – 56 KLs 20/08; BGH, Beschluss v. 13. 7. 2011 – 1 StR
692/10.
79
Vgl. nur den Sachverhalt von BGHSt 62, 223 (= NJW 2017, 3249).
1598 Holm Putzke und Jörg Scheinfeld

mungserklärung werbe, warum soll es dann in der Vertrauenswürdigkeit sinken,


wenn ich das Entscheidungssystem ändere? Entweder verdient das System Vertrau-
en, wovon offenbar auch Dabrock ausgeht, wenn er um Zustimmung zur Organspen-
de wirbt, oder es verdient kein Vertrauen. Da muss man sich entscheiden. – Der Ein-
wand des drohenden Vertrauensverlustes ist denn auch gesucht und der Vertrauens-
verlust wird herbeigeredet. Kein Land mit Widerspruchsregelung weist einen Ver-
trauensverlust auf.

cc) Motivation statt Entscheidungszwang?

Es ist hier nicht der Raum, eine Motivationslösung80 vollständig zu diskutieren. Es


soll nur kurz der Vorzug einer Widerspruchsregelung gegenüber einer Motivations-
lösung herausgestellt werden. In der aktuellen Debatte hat sich etwa Duttge für den
Motivationsgedanken ausgesprochen: Gegenüber einem – der Widerspruchsrege-
lung innewohnenden – Entscheidungszwang sei ein „hochwirksamer nudge“ vorzu-
ziehen, „der darin bestünde, den Kreis der potentiellen Organempfänger von der re-
ziproken eigenen Bereitschaft zur Organspende abhängig zu machen oder – in der
milderen Variante – mit einem ,Bonus‘ (i.S.e. verkürzten Wartezeit) zu versehen.“81
Lässt man verfassungsrechtliche Bedenken beiseite,82 sollte man für die ethische Ein-
ordnung durchaus ausbuchstabieren, welche Konsequenzen diese Regelung haben
kann: In der harten Variante kann diese Regelung ersichtlich zum Tod des Organbe-
dürftigen führen, der selbst keine Spendebereitschaft erklärt hat; für die mildere Va-
riante gilt das aber auch, weil eine Verkürzung der Wartezeit für andere mit einem
Versterben auf der Warteliste einhergehen kann – jedenfalls hätte die mildere Vari-
ante aber ein längeres Verharren in der beklemmenden Lage der Organbedürftigkeit
zur Folge.83
Damit ergibt sich in puncto persönliche Freiheit ein klares Plus der Widerspruchs-
regelung: Sie belässt dem Einzelnen (im Bedarfsfall) denselben Zugang zur lebens-
rettenden und gesundheitswirksamen Ressource der Spenderorgane und zugleich die
völlige Entscheidungsfreiheit, sich selbst zur Spende bereitzufinden. Dagegen
schränkt die Motivationsregelung die Entscheidungsfreiheit ein: Will man nicht ris-
kieren, in einer Lage existenzieller Bedrohung – wegen seiner Aversion gegen eine
Leichenorganspende, also wegen Fehlens der Spendebereitschaft – hinter einem
spendebereiten anderen in seiner Bedürftigkeit zurückgesetzt zu werden, wird
man von der Motivationsregelung gezwungen, seine Spendeaversion zu überwinden.
In Wahrheit geht es also gar nicht um die reinen Alternativen „Motivation oder Ent-
80
Zu ihr Kühn, Die Motivationslösung – Neue Wege im Recht der Organtransplantation,
1998.
81
Duttge, ZfmE 2019, 29, 46.
82
Zu ihnen Gutmann/Fateh-Moghadam, in: Gutmann/Schneewind u. a. (Hrsg.), Grundla-
gen einer gerechten Organverteilung, S. 59, 81 ff.
83
Zur Situation der Organbedürftigen siehe oben im Erfahrungsbericht von Goetz, im Text
bei Fn. 14.
Zur Widerspruchsregelung bei der Leichenorganspende 1599

scheidungszwang“, denn auch die Motivationsregelung schafft den aufgezeigten


Entscheidungszwang. Vor dem Hintergrund des in Rede stehenden Selbstbestim-
mungsrechts schneidet die Widerspruchsregelung besser ab. Sie schafft allein
einen Entscheidungszwang, die Motivationsregelung schafft zusätzlich den
Zwang, entweder ein höchstpersönliches Interesse preiszugeben oder handfeste
Nachteile hinzunehmen. Der vernunftbegabte Einwilligungsfähige (als rationaler
Rechtsgutsträger) hat indes – im Vergleich der beiden Regelungen – keinen Grund
der Motivationsregelung zuzustimmen: Es ist für seine eigenen Interessen als freier
Entscheider stets vorzugswürdig, nicht eine zusätzliche Einbuße an Freiheit hinzu-
nehmen (Motivationsregelung), sondern die völlige Entscheidungsfreiheit zu behal-
ten (Widerspruchsregelung).

dd) Sozialpflichtigkeit und anderes Negativ-Framing

Von Juristen sowie von Mitgliedern des Ethikrats darf man erwarten, dass sie ein-
schlägige Begriffe, insbesondere rechtliche oder ethische Begriffe richtig verwenden
und also eine unbegründete Zuschreibung einer negativen Konsequenz der Wider-
spruchsregelung vermeiden. In der aktuellen Debatte wird diese Erwartung vielfach
enttäuscht. Da ist die Rede davon, der Körper unterliege der „Sozialpflichtigkeit“84
oder es bestehe eine „Organbereitstellungspflicht“85. Derlei Kennzeichnungen ver-
zeichnen ersichtlich die normative Realität: Von einer Pflicht kann keine Rede
sein, wenn die Entscheidungsmacht darüber, ob etwas getan wird, vollständig
beim Einzelnen verbleibt, er es begründungslos ablehnen kann und deshalb kein Ri-
siko besteht, gegen seinen Willen „verpflichtet“ zu werden. So wäre sicher von
„Wehrpflicht“ zu sprechen, verfehlt gewesen, hätte seinerzeit jeder 18-Jährige –
statt aufwendig seine Gewissenentscheidung darzulegen – der Wehrdienstleistung
(und Zivildienstleistung) bloß begründungslos widersprechen müssen. Und gerade
so liegt es bei der Widerspruchsregelung. Von einer Spendepflicht kann keine
Rede sein. Es ist deshalb auch begrifflich ganz falsch, wenn davon gesprochen
wird, die Widerspruchsregelung fordere einen „unbegrenzten Altruismus“ und
dies täte sie auch noch im Wege des „Rechtszwangs“.86
Absichtsvolles Negativ-Framing findet sich auch sonst in der Debatte. So spricht
etwa Duttge vom „Mitnahmeeffekt“ der Widerspruchsregelung und meint damit,
dass Organe der Verstorbenen auch entnommen werden, wenn der Betreffende zu
Lebzeiten in puncto Spendebereitschaft unentschlossen oder gar ein stiller Gegner
der Spende war.87 Wer kurz nachdenkt, sieht sogleich, dass derlei Verfehlungen
84
Dabrock (Fn. 5), S. 10.
85
So das frühere Ethikratsmitglied Wolfgang Huber, http://www.wolfganghuber.info/519-
anne-will-09-09-2018-organspende.html.
86
Duttge, ZfmE 2019, S. 29, 46.
87
Duttge, ZfmE 2019, S. 29, 41 f. – Da jeder leicht selbst organbedürftig werden kann,
geht es nicht um reinen „Altruismus“; und wegen des Erhalts der Entscheidungsfreiheit wäre
ein Altruismus weder „unbegrenzt“ noch unterläge er einem „Rechtszwang“.
1600 Holm Putzke und Jörg Scheinfeld

des tatsächlichen Willens des Betroffenen auch umgekehrt, also bei Geltung der Zu-
stimmungslösung, vorliegen können: Überhaupt nicht bedacht wird nämlich für die
geltende Rechtslage der Fall, dass der Wille des Verstorbenen glatt verfehlt wird, weil
kein Angehöriger die – zu Lebzeiten favorisierte – Organspende gestattet. Duttge be-
denkt nur den Fall des Fehlens eines Widerspruchs, belegt ihn mit einer pejorativen
Vokabel („Mitnahmeeffekt“) und arbeitet das Ganze ethisch nicht auf. Die ethische
Aufarbeitung hätte zu der Einsicht geführt, dass es beim Schutz des postmortalen
Persönlichkeitsrechts, wie gesagt, um die Entfaltung der Persönlichkeit zu Lebzeiten
geht.88 Wer aber zu Lebzeiten keine explizite Präferenz gegen die Leichenorganspen-
de entwickelt, dem geschieht kein Unrecht, wenn ihm nach Todeseintritt Organe ent-
nommen werden. Dies als „Mitnahmeeffekt“ zu desavouieren, dazu besteht, wenn
man ethisch nicht an der Oberfläche bleibt, sondern nur ein klein wenig tiefer blickt,
wahrlich kein Anlass.

ee) Die Interessen der Hinterbliebenen

Für die Angehörigen des Hirntoten wäre es allemal vorzugswürdig, der Verstor-
bene hätte zu Lebzeiten selbst über die Organspende entschieden, dann müssten nicht
sie (und auch noch zur Unzeit) darüber entscheiden. Ursprung der ethischen Debatte
zur Widerspruchsregelung ist aber das empirische Faktum, dass eine solche Ent-
scheidung des Verstorbenen oder auch nur die Kenntnis seines Willens vielfach
fehlt.89 Eben auf diese und nur auf diese Fälle will die – hier als „erweiterte“ verstan-
dene – Widerspruchsregelung90 eine Antwort geben.
Die geltende erweiterte Zustimmungsregelung verlangt dem Angehörigen, der
den Willen des Verstorbenen nicht kennt, letztlich eine eigene Entscheidung ab
(§ 4 I 2 TPG). Die erweiterte Widerspruchsregelung dreht gewissermaßen die nor-
mative Erwartung um, indem sie das Spenden zum Normalfall erklärt. Wir sehen
darin einen psychologisch-ethischen Vorteil, weil diese Regelung es den Angehöri-
gen leichter macht, bei Abwesenheit einer eigenen Aversion das ethisch vorzugswür-
dige Spenden zuzulassen. Gegen diese Umkehrung wird eingewendet, dass sie den
Angehörigen belaste, weil er sich etwa im Zustand tiefer Trauer gegen die (norma-
tive) Erwartung stemmen müsse, um die persönlich bevorzugte Art des Abschiedneh-
mens leben zu können.91 Doch lässt sich eine dahingehende Überforderung der An-
gehörigen ein gutes Stück vermeiden. Dies zeigen die Erfahrungen in Spanien, wo
die Angehörigen denkbar stark einbezogen werden: Es liegt in erster Linie am Kli-
88
Dazu oben bei Fn. 31.
89
Dies ist vollends auch nicht mit einer Regelung zu beheben, die eine Pflicht zum Ent-
scheiden vorsieht, weshalb schon der Nationale Ethikrat im Jahr 2007 eine gestufte Erklä-
rungs- und Widerspruchslösung vorgeschlagen hatte (Stellungnahme abgedruckt in: Honne-
felder/Sturma [Hrsg.], Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 2007, S. 517, 530 ff.).
90
Die erweiterte Widerspruchsregelung belässt dem Angehörigen ein – nicht nur fakti-
sches, sondern normativ verankertes – Widerspruchsrecht (siehe dazu noch in der Einleitung).
91
Dabrock (Fn. 5), S. 10.
Zur Widerspruchsregelung bei der Leichenorganspende 1601

nikpersonal, den Angehörigen klarzumachen, dass jede Entscheidung akzeptiert


wird.
Am Ende wird man es so sehen müssen, dass die Angehörigen dem Entschei-
dungszwang nicht entkommen können, ob man nun der erweiterten Zustimmungs-
regel oder der erweiterten Widerspruchsregel folgt. Im Nachhinein kann jede Ent-
scheidung bedauert werden: das Entnehmenlassen des Organs bei erteilter Zustim-
mung genauso wie das Nichtretten einiger Organbedürftiger bei erklärtem Wider-
spruch. Dieses Risiko ergibt sich aber nicht aus der Entscheidungsregel, sondern
aus der Tragik des Moments.

V. Schluss
Die Widerspruchsregelung ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Ethisch vor-
zugswürdig ist sie, weil auf Seiten der Organspender niemand ein Interesse von Ge-
wicht aufopfern muss und weil auf Seiten der schwerkranken Organbedürftigen exis-
tenzielle Interessen geschützt werden. Unzumutbarkeiten sind, darauf hat Reinhard
Merkel deutlich hingewiesen, mit der Widerspruchsregelung nicht verbunden. Denn
schon bei Bestehen einer Aversion gegen die postmortale Organentnahme, sei es bei
einem selbst oder beim nächsten Angehörigen, greift die Entscheidungshoheit des
Einzelnen, die dieser ohne jedwede Begründung ausüben kann. Letztlich bitten
die Organbedürftigen, wenn sie für die Widerspruchsregelung votieren, daher nur
um Solidarität dahin, die Gesellschaft möge sich mit dem Wechsel der Entschei-
dungsregel einverstanden erklären. Mehr wird vom Zweifelnden nicht gewünscht.
Es wäre wahrlich traurig, wenn es bei der vor kurzem im Bundestag erklärten unso-
lidarischen Zurückweisung dieser Bitte dauerhaft bliebe.
Die Widerspruchsregel bei der Organspende –
Überlegungen zu Reinhard Merkels Position
Von Nikolaus Knoepffler

I. Ausgangspunkt
Im September 2018 schlug Gesundheitsminister Spahn vor, auch in Deutschland,
wie in vielen anderen Staaten, die Widerspruchsregelung bei der Organspende nach
Feststellung des Hirntods einzuführen. Am 5. April 2019 titelte die F.A.Z. Woche
hierzu: „Spahn will Dein Organ. Soll wirklich jeder Spender werden?“ Da jährlich
in Deutschland etwa 1.000 Menschen sterben, deren Leben durch eine Organspende
hätte gerettet werden können, kann die Antwort auf die gestellte Frage eigentlich nur
lauten: Es sollte jeder bereit sein, seine Organe nach dem eigenen Tod zu spenden.
Wie kostbar nämlich ein einzelnes Menschenleben ist, hat bereits der im 4. Jahrhun-
dert zusammengestellte Jerusalemer Talmud (Sanhedrin 23a-b12) betont: „Und wer
eine einzige Seele rettet, rettet die ganze Welt.“1 Und doch ist eine Maßnahme um-
stritten, die das Spendenaufkommen erhöhen könnte, nämlich die Einführung einer
Widerspruchsregelung in Deutschland.
Es ist eines der vielen Verdienste Reinhard Merkels, sich seit Jahren für die Wi-
derspruchsregelung einzusetzen. So gab er beispielsweise beim Forum Bioethik des
Deutschen Ethikrats am 12. Dezember 2018 eine bemerkenswerte Stellungnahme
für die Annahme einer solchen Widerspruchsregelung ab.2 In diesem Beitrag
werde ich seine Voraussetzungen für die Befürwortung dieser Regelung auf ihre
Stichhaltigkeit untersuchen und mich dabei mit alternativen Positionen auseinander-
setzen. Abschließend fasse ich zusammen, an welchen Weichenstellungen sich eine
ethische Bewertung der Widerspruchsregelung und ihrer jeweiligen Alternativen ent-
scheidet.

1
Hier zitiert nach: Wolfson, Ron: Was wir mit einer Tat der Güte alles erreichen können.
In: Jüdische Allgemeine, Ausgabe vom 25. 07. 2011 (https://www.juedische-allgemeine.de/reli
gion/etwas-bewirken/, zuletzt eingesehen: 28. 07. 2019).
2
Merkel, Reinhard: Recht und Ethik. Pro Widerspruchsregelung bei der Organspende
(Deutscher Ethikrat – Forum Bioethik, hier zitiert nach: https://www.ethikrat.org/fileadmin/
PDF-Dateien/Veranstaltungen/fb-12 - 12 - 2018-transkription.pdf, zuletzt eingesehen 28. 07.
2019), S. 5 – 8.
1604 Nikolaus Knoepffler

II. Reinhard Merkels Position zur Widerspruchsregelung


In seiner befürwortenden Stellungnahme zur Widerspruchsregelung geht Rein-
hard Merkel von der Prämisse aus, dass der Hirntod der Tod des Menschen ist.
Dabei beruht nach seiner Überzeugung dieser „Todesbegriff auf einer ethisch be-
gründeten Entscheidung, nicht auf einer naturwissenschaftlich beweisbaren Feststel-
lung“ (S. 5).
Seine zweite Voraussetzung ist faktischer Art, nämlich dass täglich drei Menschen
in Deutschland sterben, deren Leben hätte gerettet werden können, wenn genügend
Spendeorgane vorhanden wären. Diese Prämisse ist unumstritten und braucht darum
im Folgenden auch nicht weiter diskutiert zu werden.3
Seine dritte Voraussetzung besteht in der Annahme, dass die Widerspruchsrege-
lung dieses „Elend des vielfachen Todes auf der Warteliste […] erheblich verringern
würde“ (S. 5 – 6).
Darüber hinaus geht Merkel viertens davon aus, dass das Verhältnis des Menschen
zu seinem Körper kein Eigentumsrecht ist, sondern „das fundamentale, die Selbst-
beziehung der Person konstituierende Grundelement des Persönlichkeitsrechts“
(S. 6). Damit verbunden ist die explizite Ablehnung von Lockes Eigentumstheorie,
wonach auch der menschliche Leichnam als Eigentum zu betrachten sei, sodass Or-
gane praktisch enteignet werden könnten, wenn es dafür gute Gründe gibt. Diese
vierte Voraussetzung eines transmortalen Persönlichkeitsschutzes begründet Merkel
damit, dass das Selbstverhältnis zum eigenen Körper das „elementarste Recht der
Person“ (S. 6) ist, das als Freiheitsrecht grundsätzlich nicht gerechtfertigt werden
muss, selbst dann nicht, wenn dadurch der Notstand anderer behoben werden könnte.
Allerdings gebraucht Merkel hierbei „grundsätzlich“ als juristischen Terminus: Aus-
nahmen sind also möglich, beispielsweise, dass nach § 323c StGB die Unterlassene
Hilfeleistung in bestimmten Zusammenhängen strafbar ist oder nach § 87 Absatz 4
der Strafprozessordnung eine Autopsie der Leiche selbst gegen einen zu Lebzeiten
ausgesprochenen Willen bei jedem Verbrechensverdacht zulässig ist.
Jedoch geht Merkel gerade nicht soweit, auch für die Organentnahme in Analogie
zur geforderten Hilfeleistung oder zur Autopsie eine derartige Ausnahme zu konsta-
tieren. Er lehnt eine Rechtspflicht zu einer Organgabe nach dem Tod ab. Ist sie dann
aber zumindest eine moralische Solidaritätspflicht? Da die Organspende mit hoher
Erfolgswahrscheinlichkeit einem Menschen, dessen Leben bedroht ist, großen Nut-
zen bringt, während der Spender, da verstorben, kein Risiko mehr trägt, scheint die
Frage auf den ersten Blick positiv beantwortet werden zu müssen. Doch wird dabei
dann die entscheidende moralische Frage vernachlässigt: Was ist dem Einzelnen zu-
mutbar? Hier lautet die zentrale Überlegung Merkels: Man darf die Spende verwei-
gern, weil das Persönlichkeitsrecht, über den eigenen Körper zu verfügen, „frei von
3
Es sei nur ein weiteres Faktum angemerkt, nämlich dass eine langjährigen Dialyse viel
mehr Geld kostet als eine Nierentransplantation, einschließlich der mit der Transplantation
verbundenen Folgekosten.
Die Widerspruchsregel bei der Organspende 1605

externen Forderungen nach rationaler Begründung“ (S. 7) erlaubt, eine solche Spen-
de als unzumutbar zu empfinden und deshalb abzulehnen. Allerdings ist es jedem
aufgrund der moralischen Solidaritätspflicht zur Opferbereitschaft für andere zuzu-
muten, sich zumindest zu entscheiden, ob man Organe nach dem Tod zu spenden be-
reit ist oder nicht. Da es dabei um ein so hochrangiges Ziel wie die Lebensrettung
geht, darf bei einer fehlenden Willenserklärung, ob man bereit ist, Organe zu spenden
oder nicht, „als Ausdruck legitimen Rechtszwangs“ (S. 8) ein Schweigen trotz Auf-
forderung zur Erklärung als Zustimmung interpretiert werden. Aufgrund dieser
Überlegungen kommt Merkel zum Ergebnis, dass eine Widerspruchsregelung sinn-
voll und richtig ist.

III. Weiterführende Überlegungen


Merkels Annahmen und seine damit verbundene Schlussfolgerung, die Wider-
spruchsregel einzuführen, wurden bereits in der Veranstaltung des Deutschen Ethik-
rats sehr kontrovers diskutiert. So wurde bereits seine erste Voraussetzung, die An-
erkenntnis des Hirntodkriteriums in Frage gestellt. Merkel selbst behauptet, dass die
Anerkenntnis des Kriteriums eine ethisch begründete Entscheidung sei, keine natur-
wissenschaftliche. Diese Behauptung schließt freilich nicht aus, dass der bundes-
deutsche Gesetzgeber im Transplantationsgesetz der medizinischen Wissenschaft
überträgt, die Kriterien festzulegen, wann ein Mensch tot ist, sodass ihm Organe ent-
nommen werden können.4 Vielmehr macht Merkel deutlich, dass die Anerkenntnis
dessen, was die medizinische Wissenschaft festhält, eine moralische Entscheidung
des Einzelnen ist.
Die eigentliche Frage ist darum doch, ob es so überzeugende Gründe für das Hirn-
todkriterium gibt, dass die Akzeptanz dieses Kriteriums zumindest für unsere irdi-
sche Welt angemessen ist. Vielleicht kann es helfen, wenn man die Frage umformu-
liert: Wann bin ich tot?

1. Wann bin ich tot?

Der Tod stellt das Ende unseres Lebens dar. Mit ihm ist –irdisch gesehen– alles
aus. Doch wann ist das Ende meines Lebens erreicht? Die Antwort scheint so einfach
wie trivial: Wenn ich tot bin, bin ich tot. Doch was heißt das? Mein Leben als mei-
niges endet, wenn ich tot bin, wenn alle meine irdischen Lebensmöglichkeiten aus-
geschöpft sind. Ich bin tot, wenn ich mein Leben nicht mehr als meiniges leben kann.
Ich kann mein Leben als meiniges nicht mehr leben, wenn irreversibel kein Funken
von Bewusstsein gegeben ist, der noch irgendwie ein „Ich“ zu empfinden vermag.
Was dies bedeutet, lässt sich eindrucksvoll zeigen. Der demente Alzheimerpatient
in der Spätphase der Erkrankung mag nicht mehr wissen, wo er sich befindet. Er
4
Vgl. TPG §3 Abs. 2.
1606 Nikolaus Knoepffler

weiß weder seine Geschichte noch kennt er die Menschen, die ihn umgeben. Doch
hat er noch ein Bewusstsein, so dass er Wünsche auszudrücken vermag. Vielleicht
kann er nicht mehr „ich“ sagen, aber er kann ein „Ich“ leben. Der irreversibel Koma-
töse dagegen kann niemals mehr in dieser Form leben. Er empfindet nichts mehr. Wer
irreversibel komatös ist, ist nicht mehr ein „Ich“. Seine eigene Lebensgeschichte ist
in der Weise irreversibel beendet, als er selbst nichts mehr als ein „Ich“ zu empfinden
vermag. Für diejenigen, die an ein Weiterleben nach dem Tod glauben, ist in diesem
Sinn die irdische Existenz des Betreffenden, seine irdische Lebensgeschichte mit
Gott beendet. Der Ganzhirntod ist darum auch gut mit einer inneren Enthauptung ver-
gleichbar. So wie es nicht sinnvoll wäre, einen enthaupteten Menschen als noch le-
bend zu verstehen, selbst wenn die Medizin imstande wäre, den Restkörper (durch
Beatmung etc.) am Leben zu halten, so ist es nicht sinnvoll, Ganzhirntote noch als
lebendig, wenn auch in einem Sterbeprozess befindlich, zu verstehen.
Es war also sehr angemessen, dass das Ad-hoc Komitee der Harvard University
1968 irreversibel Komatöse als Tote verstand, wobei sie als Kennzeichen der Irrever-
sibilität den Ausfall des gesamten Gehirns annahmen. Dieses Umdenken hinsichtlich
der Definition des Todes war deshalb nötig geworden, weil das Herztodkriterium
nach der ersten Herztransplantation 1967 nicht mehr gültig sein konnte. Bis dahin
hatte nämlich gegolten: Ist das Herz irreversibel funktionsuntüchtig, ist ein Mensch
tot. Durch die Möglichkeit, das nicht mehr funktionierende Herz durch ein anderes
funktionstüchtiges Herz zu ersetzen, also das Herz eines Verstorbenen in einem an-
deren Körper wieder zum Schlagen zu bringen, konnte das Kriterium nicht mehr
sinnvoll weiter gelten. Ein besseres adäquateres Kriterium war nötig geworden,
weil einerseits ein Mensch trotz seines versagenden Herzens aufgrund einer Herz-
transplantation mit Hilfe des neuen transplantierten Herzens weiterleben konnte, an-
dererseits das Herz eines Verstorbenen in einem anderen Menschen wieder zu schla-
gen vermochte, also das Herz für sich eben nicht irreversibel funktionsuntüchtig war.
Dennoch haben beispielsweise sieben von 25 Mitgliedern des deutschen Ethikrats
in ihrer Stellungnahme von 2015 das Hirntodkriterium als Todeskriterium mit der
Begründung abgelehnt, es handele sich in diesem Fall um Menschen in einem irre-
versiblen Sterbeprozess.5 Begründet wird dies beispielsweise damit, dass das Im-
munsystem Hirntoter aktiv auf Infektionen mit komplexen Reaktionen antwortet.6
Auch Verfassungsrechtler wie Höfling, selbst Mitglied des Ethikrats, und Herdegen
mit Bezug auf Höfling, hatten bereits ein Jahrzehnt zuvor Hirntote als Sterbende ver-
standen.7 Man sollte sich aber der Folgen einer solchen Position bewusst sein. Wenn
es möglich wäre (und der technische Fortschritt weist in diese Richtung), dass man
5
Deutscher Ethikrat, Hirntod und Entscheidung zur Organspende. Stellungnahme, 2015,
84 – 96; vgl. Knoepffler, Nikolaus: Würde und Freiheit. Vier Konzeptionen im Vergleich.
2018, S. 171 – 173.
6
Knoepffler (Fn. 5), S. 94.
7
Vgl. mit Verweis auf Höfling Herdegen, M.: Art. I. Abs. 1.GG. In: Maunz/Dürig (Hrsg.):
Grundgesetz. Kommentar, München 2005, S. 1 – 68, Rn. 52: „Erst hirntote Menschen sind
todgeweihte Personen und noch keine Leichname.“.
Die Widerspruchsregel bei der Organspende 1607

Enthauptete genau wie irreversibel Komatöse am Leben wird halten können, dann
wäre eine Enthauptung keine Todesstrafe mehr, sondern nur eine besonders verab-
scheuenswürdige Form einer körperlichen Bestrafung. So wie früher einem Dieb
die Hand, die den Diebstahl durchführte, abgeschlagen wurde, so hätte eine derartige
Enthauptung zum Ziel, den Kopf, der so böse Gedanken gehabt hat, abzuschlagen.
Zwar führt die Überzeugung, Hirntote seien noch nicht verstorben, zu derartigen
kontraintuitiven Folgen. Sie hindert, wenn man den meisten dieser Vertreter Glauben
schenken möchte, jedoch nicht daran, Organe zu entnehmen, wenn die Betreffenden
zugestimmt haben. Doch handelt es sich dann nicht um aktive Sterbehilfe mit Ein-
willigung des Sterbenden?8 Nach Ansicht der Vertreter im Deutschen Ethikrat, die
einerseits das Hirntodkriterium als Todeskriterium ablehnen, aber dennoch eine Or-
ganentnahme akzeptieren, lautet die Antwort auf diese Frage: „Nein!“ Sie verstehen
diese Entnahme „als eine besondere Form des Sterbenlassens“9, „eingebettet in einen
größeren medizinethischen Diskurszusammenhang, in dem selbstbestimmten Ent-
scheidungen von Patienten über Leben und Sterben eine zentrale Bedeutung zuge-
wiesen wird.“ Daraus ergibt sich, dass „die Entnahme lebenswichtiger Organe bei
Menschen mit irreversiblem Ganzhirnversagen unter bestimmten Voraussetzungen
[…] ethisch wie verfassungsrechtlich legitim“ ist. Ob dies allerdings überzeugen
kann, die Organentnahme bei einem Sterbenden wirklich als „Sterbenlassen“ zu deu-
ten? Zumindest eine Nähe zur aktiven Sterbehilfe ist unbestreitbar, wie der Medizin-
ethiker und Arzt Giovanni Maio zugesteht: „Ohne Anerkennung des Hirntods rückt
also die Explantation in die Nähe der aktiven Sterbehilfe.“
Wenn man dennoch die Minderheitenposition des Ethikrats teilt und die Organ-
entnahme als ein mögliches Sterbenlassen deutet und wenn man zugleich in Analogie
zur „passiven“ Sterbehilfe für deren Rechtmäßigkeit eine zumindest mutmaßliche
Einwilligung zwingend voraussetzt, ist zwar eine Ablehnung einer Widerspruchsre-
gelung konsequent, zugleich aber müsste man dann auch das Herztodkriterium zu-
gestehen. Deutschland sollte dann wie in den USA, dem Vereinigten Königreich, der
Schweiz und den Niederlanden das sogenannte Herztodkriterium als weitere Mög-
lichkeit einer Organentnahme einführen, wenn die Betroffenen zugestimmt haben.
Allerdings entstehen durch das Herztodkriterium neue Herausforderungen, wie
die Debatte in den USA zeigte, als drei Kleinkindern die Herzen dreier anderer Klein-
kinder implantiert wurden, die zuvor nach Abbruch der Beatmung bei schwersten
Hirnschädigungen für herztot erklärt worden waren. Dabei hatten die Ärzte bei
dem letzten der drei Kinder nur 90 Sekunden gewartet, bevor sie den Herztod fest-
stellten und mit expliziter Einwilligung der Eltern das Herz entnahmen.10 Wären die
Explantationen nicht durchgeführt worden, so wären sowohl die Babys, deren Her-

8
Maio, Giovanni: Von der Gabe zur Bürgerpflicht? Zur gesetzlichen Regelung der Or-
ganspende, in: Herder Korrespondenz 66 (2012), 303 – 307.
9
Deutscher Ethikrat (2015), S. 97. Dort auch die folgenden Zitate.
10
Vgl. Boucek, Mark M. et al.: Pediatric Heart Transplantation after Declaration of Car-
diocirculatory Death, in: New England Journal of Medicine 359/7 (2008), 709 – 714.
1608 Nikolaus Knoepffler

zen aufgehört hatten zu schlagen, verstorben, als auch die Kinder, die die Organe be-
nötigten. Im Blick auf die durchgeführten Transplantationen bringt es Robert Veatch
auf den Punkt: „Man mag es letztlich für akzeptabel halten, entweder die Regel der
postmortalen Spende oder die Hirntoddefinition zu verändern. Aber ob es zu diesen
Gesetzesänderungen kommt oder nicht, kein erfolgreich transplantiertes Herz kann
von einer Person kommen, die aufgrund eines irreversiblen Herzstillstands (nach der
bisherigen Definition des Herztodes als irreversiblem Ausfall dieses Herzens) für tot
erklärt wurde.“11
Vor diesem Hintergrund legt sich die Entscheidung praktisch aller großen Ärzte-
organisationen, den Hirntod als Tod des Menschen zu akzeptieren und den Herztod
nur dann zu akzeptieren, wenn bereits das Gehirn aufgrund des Herzstillstands ab-
gestorben ist, nahe. Vertritt man jedoch die Überzeugung, der Ganzhirntod sei
nicht der Tod des Menschen, so kann man die Organentnahme entweder als eine
Form aktiver Sterbehilfe mit Einwilligung verstehen, was weitreichende Folgen
für die Frage der Zulässigkeit aktiver Sterbehilfe ganz allgemein zur Folge hätte,
oder als eine Form passiver Sterbehilfe bzw. eine Form des Sterbenlassens. In beiden
Fällen hat dies weitreichende Folgen für das Verständnis der elementaren Persönlich-
keitsrechte über den eigenen Körper.

2. Welche Bedeutung haben die elementaren Persönlichkeitsrechte


über den eigenen Körper?

Wenn der Hirntod als Tod des Menschen angesehen wird, so ließe sich fragen, ob
nicht die Verwendung der Organe zur Lebensrettung von solcher Wichtigkeit ist, dass
der Einzelne nicht nur nicht gefragt werden müsste, sondern sogar eine Wider-
spruchsregelung, wie sie Reinhard Merkel vertritt, zu liberal ist.
Einer solchen Position würde nicht entgegenstehen, dass das Transplantationsge-
setz von der Würde des Leichnams spricht. Dass hier der Begriff „Würde“ nicht die
Menschenwürde im strengen Sinn bezeichnen kann, sondern nur die mit der Würde
verbundenen postmortalen Persönlichkeitsrechte, sollte allein schon begriffslogisch
klar sein. Ein Toter kann kein Subjekt und kein Gleicher mehr sein, was die zentralen
Bestimmungen der Menschenwürde ausmachen. „Würde des Leichnams“ bezeich-
net eine relative Würde, den Nachhall der absoluten Menschenwürde. Das ist ge-
meint, wenn das Bundesverfassungsgericht in seinem „Mephisto-Urteil“ davon
spricht, dass die Menschenwürde nicht mit dem Tod endet.12 Ein einfaches Beispiel
kann dies verdeutlichen. Wenn zwei Boote auf dem Meer in Seenot geraten und in
dem einen Boot ein lebender Mensch ist, im anderen ein goldener Sarg mit einem

11
Veatch, Robert M.: Donating Hearts after Cardiac Death – Reversing the Irreversible. In:
New England Journal of Medicine 359/7 (2008), 672 f. (eigene Übersetzung).
12
Vgl. BVerfGE 30, 173 (194); vgl. Herdegen (2005, Rn. 54): „Der menschliche Leichnam
ist nicht Träger eines eigenen Würdeschutzes. Vielmehr äußert sich in der gebotenen Achtung
die nachwirkende Respektierung der Menschenwürde des Verstorbenen.“
Die Widerspruchsregel bei der Organspende 1609

Verstorbenen, dann gebietet das Prinzip der Menschenwürde immer und ohne Aus-
nahme den Lebenden zu retten. Es besteht also ein kategorialer Unterschied zwi-
schen der Würde der Lebenden im strengen Sinn von Menschenwürde und der
Würde der Toten als einer kontingenten sozialen Würde. Gerade die katholische Kir-
che, die aufgrund ihres Glaubens an die Auferweckung des ganzen Menschen lange
Zeit die Anatomie verbot, hat andererseits einen anderen Umgang mit Leichenteilen
für unproblematisch angesehen. Wer beispielsweise in Rom nahe der Piazza Barbe-
rini eine Kapuzinergruft besucht, stellt fest: Diese Krypta ist komplett mit Knochen
einschließlich der Schädel verstorbener Mönche ausgestaltet und soll so an die Ver-
gänglichkeit menschlichen Lebens auf Erden erinnern. Auch die katholische Tradi-
tion, Reliquien, also Körperteile verstorbener Heiliger in Altäre einzufügen und Kir-
chen damit auszugestalten, beweist, dass Leichenteile dann verwendet werden dür-
fen, wenn es um hochrangige Ziele (Erinnerung an die Vergänglichkeit menschlichen
Lebens, Heilswirkung von Körperteilen von Heiligen) geht.
Doch muss man diese katholische Tradition, nach der hochrangige Ziele, eine
Verwendung von Körperteilen Verstorbener rechtfertigen, nicht teilen und kann fra-
gen, ob eine Organentnahme nicht als unzulässige Instrumentalisierung eines Leich-
nams und so als Verletzung seiner Würde verstanden werden sollte, weil hier die
Selbstbestimmungsrechte der verstorbenen Person über den Tod hinaus missachtet
und der Leichnam der Betroffenen quasi vollständig instrumentalisiert und so als rei-
nes Mittel und nicht mehr als Zweck an sich angesehen wird.
Jedoch ist nach kantischem Verständnis und nach deutschem Recht das Verbot
einer vollständigen Instrumentalisierung mit der Menschenwürde Lebender verbun-
den. Ein Beleg hierfür ist die staatsanwaltlich angeordnete Obduktion, bei der eine
Instrumentalisierung des Leichnams selbst gegen den Willen des Betroffenen zuläs-
sig ist. Dieser Anordnung Folge zu leisten ist wirklich eine Pflicht, denn hier wird
kein Widerspruch geduldet.
Vor diesem Hintergrund könnte man sogar eine Pflicht zur Organgabe nach dem
Tod einfordern, wenn man folgende Annahmen teilt:
1. Der Hirntod ist ein hinreichendes Todeskriterium.
2. Nur Lebenden kommt Menschenwürde im vollen Wortsinn zu.
3. Tote haben keine Menschenwürde, auch wenn ihr Körper nicht einfach nur Ge-
genstand ist, sondern einen Verweisungscharakter auf die einst lebende Person
hat.
4. Das Leben von Patientinnen und Patienten, die ein Organ benötigen, ist in hohem
Maß gefährdet.
Zwischenkonklusion: Es ist legitim, Organe bei Toten zu entnehmen, wenn da-
durch Menschenleben gerettet werden können.
5. Die Rettung bedrohten menschlichen Lebens ist mindestens so wichtig wie die
Aufklärung von Verbrechen.
1610 Nikolaus Knoepffler

6. Die Autopsie einer Leiche ist bei jedem Verdacht auf ein Verbrechen zulässig,
auch gegen den ausdrücklichen Willen der Betroffenen.
Konklusion: Es besteht sogar die Verpflichtung, Organe bei Toten zu entnehmen,
wenn dadurch Menschenleben gerettet werden können.
Allerdings lehnen bereits sieben der 25 Mitglieder des Deutschen Ethikrats die für
diesen Syllogismus fundamentale erste Prämisse ab. Wenn aber Hirntote noch nicht
verstorben sind, dann kommt ihnen Menschenwürde im vollen Sinn zu und damit
verbunden das elementarste Recht auf den eigenen Körper. Selbst wer eine locksche
Eigentumstheorie vertreten würde, könnte eine Organentnahme gegen den Willen
noch nicht Verstorbener aufgrund des mit der Menschenwürde verbundenen Rechts
auf körperliche Unversehrtheit nicht rechtfertigen, denn das Eigentumsverhältnis
zum eigenen Körper einer lebenden Person lässt aufgrund der Menschenwürde
nicht zu, dass der Einzelne selbst für die höchsten Ziele gegen seinen eigenen Willen
geopfert werden darf.
Aus dem Grund, dass das Hirntodkriterium trotz seiner großen Plausibilität gesell-
schaftlich nicht allgemein geteilt wird, lässt sich, darin ist Merkel zuzustimmen, eine
Pflicht zur Organgabe nach dem Tod nicht rechtfertigen. Unser Todesverständnis ist
zu sehr durch unterschiedliche weltanschauliche und religiöse Sichtweisen mitbe-
stimmt, als dass sich eine postmortale Organgabe für alle verpflichtend machen
ließe. So ist beispielsweise in islamisch geprägten Gesellschaften die Bestattung
eines möglichst „intakten“ Körpers von großer Wichtigkeit, weswegen im Iran
sogar eine staatlich organisierte kommerzialisierte Nierenlebendspende eingerichtet
wurde. Es ist im Iran weniger anstößig, zu Lebzeiten seine Niere zu verkaufen, als
sich Nieren nach dem Tod entnehmen zu lassen.
Wenn also eine Pflicht zur Organgabe nach Feststellung des Ganzhirntod nicht
gefordert werden kann, stellt eine Widerspruchsregelung einen guten Kompromiss
dar. Sie kann auf folgende Weise gerechtfertigt werden.
1. Der Hirntod ist nach herrschender Ansicht aller großen Ärzteorganisationen ein
hinreichendes Todeskriterium.
2. Das Leben von Patientinnen und Patienten, die ein Organ benötigen, ist in hohem
Maß gefährdet.
3. Wer einer Organentnahme nicht widersprochen hat, von dem sollte die Solidarität
mit denjenigen angenommen werden, deren Leben durch seine Organe gerettet
werden könnte, zumal die Alternative hierzu darin besteht, dass die Organe zer-
setzt werden oder im Feuer verbrennen.
Konklusion: Darum ist es zumutbar, von denjenigen, die eine Organentnahme
(aus welchen Gründen auch immer) ablehnen, einen expliziten Widerspruch
gegen die Organentnahme zu verlangen.
Eine solche Widerspruchsregelung ist einer Entscheidungslösung aus mehreren
Gründen vorzuziehen. Für nicht wenige Menschen ist es nämlich eine größere Zu-
Die Widerspruchsregel bei der Organspende 1611

mutung, sich mit dem eigenen Tod beschäftigen zu müssen. Eine Widerspruchsrege-
lung ist in diesem Sinn humaner. Sie verlangt vom Einzelnen nicht, im Blick auf sei-
nen Tod, Verfügungen abzugeben. So wie der Einzelne nicht gezwungen wird, ein
Testament zu verfassen, so sollte er auch nicht gezwungen und gedrängt werden,
sich im Blick auf die Organtransplantation entscheiden zu müssen. Vielmehr ist es
eine zutiefst menschliche Annahme, dass jemand, der sich nicht geäußert hat, soli-
darisch mit denjenigen ist, deren Leben bedroht ist. Dies gilt umso mehr, je klarer es
vor dem Hintergrund einer Widerspruchsregelung wäre, dass eine Ablehnung der
postmortalen Organspende nicht nur legitim ist, sondern ohne Nachteile für die Ab-
lehnenden vollzogen werden kann.
Christen, die in der Bundesrepublik Deutschland immer noch die Mehrheit der
Bevölkerung ausmachen, haben einen weiteren guten Grund, ihre Organe zu spen-
den, denn in der Nachfolge Jesu, der sein Leben nach christlichem Verständnis hin-
gegeben hat, um die Menschheit zu erlösen, muss die Organspende eigentlich als ein
selbstverständliches Zeichen von Nächstenliebe verstanden werden.
Man sollte darum davon ausgehen können, dass diejenigen, die nicht ausdrücklich
einer Organentnahme zu ihren Lebzeiten widersprochen haben, solidarisch mit den-
jenigen sind, die Organe bedürfen, zumal die meisten Deutschen einer Organspende
positiv gegenüberstehen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sie deutlich sel-
tener die organisatorische Hürde nehmen, sich einen Organspendeausweis zuzule-
gen.13 Eine Widerspruchsregel trägt dem Rechnung. Dennoch wird eine solche Re-
gelung gerade auch von Theologen abgelehnt, zum Teil, weil sie das Hirntodkrite-
rium nicht teilen und deshalb durch eine solche Regelung die Persönlichkeitsrechte
verletzt sehen. Die Theologin Katharina Westerhorstmann geht dabei sogar so weit
zu fordern, „intensiver für Lebendspenden [zu] werben, da es sich beim weitaus größ-
ten Teil der benötigten Spenden um Nieren handelt, die von lebenden Angehörigen
oder Bekannten gespendet werden können.“14
Doch ist die Alternative „Lebendspende“ psychologisch problematisch, weil die
Spendenden oftmals in einem familiären Kontext nicht wirklich frei sind, sich gegen
lebensrettende Maßnahmen für Anverwandte auszusprechen, denn nur wenige wer-
den es ertragen können zu wissen, dass sie das Leben eines geliebten Menschen hät-
ten retten können, aber die Angst vor der eigenen Operation sie an ihrer Einwilligung
gehindert hat. Hier ist also das Persönlichkeitsrecht am eigenen Körper in einer fun-
damentalen Weise gefährdet. Aber auch die Empfänger haben oftmals die Schwie-
rigkeit, sich gegenüber den Spendern als Schuldner zu fühlen. Schließlich verdanken
sie ihnen ihr Leben. Darüber hinaus bestehen bei den Lebendspenden von Niere und

13
BZgA: Wissen, Einstellung und Verhalten der Allgemeinbevölkerung (14 bis 75 Jahre)
zur Organ- und Gewebespende. Bundesweite Repräsentativbefragung 2018 (https://www.or
ganspende-info.de/zahlen-und-fakten/einstellungen-und-wissen.html, zuletzt eingesehen am
29. 07. 2019).
14
Westerhorstmann, Katharina: Mehr Organspenden um jeden Preis?, in: Stimmen der
Zeit 11 (2018), 799.
1612 Nikolaus Knoepffler

Leber für die Spendenden nicht zu unterschätzende Risiken wie bei jedem größeren
operativen Eingriff.15 Es können Blutungen, Wundinfektionen, Thrombosen, Lun-
genembolien und Lungenentzündungen auftreten. Spätkomplikationen sind Narben-
probleme. Nierenspender haben ein etwa einprozentiges Risiko für schwerwiegende
Komplikationen, Leberspender sogar ein Risiko von etwa 15 Prozent. Das Risiko,
die Operation nicht zu überstehen, liegt für Nierenspender bei 0,02 – 0,05 Prozent.
Bei Leberspendern ist es ca. zehnfach höher. Da die Niere paarig angelegt ist, erhöht
das Entfernen der einen Niere für Nierenspender zudem das Risiko, später selbst dia-
lysepflichtig zu werden und ein Organ zu benötigen, z. B. wenn die verbleibende
Niere einen Tumor entwickeln sollte oder schwer verletzt würde. Darum wider-
spricht es dem ärztlichen Berufsethos, das das Nichtschadensprinzip als ein wesent-
liches Prinzip beinhaltet, unter normalen Umständen, einem Menschen ein Organ
ganz oder teilweise zu entnehmen, ohne dass dieser selbst davon einen gesundheit-
lichen Nutzen hat. Vor diesem Hintergrund ist es zudem gut verständlich, dass bei-
spielsweise in Deutschland für die Lebendspende eine Subsidiaritätsklausel gilt. So-
lange genügend postmortal entnommene Organe verfügbar und auch mit dem Organ-
suchenden kompatibel sind, sollte keine Lebendspende in Anspruch genommen wer-
den.
Allerdings stellt sich noch ein weiteres Problem im Hinblick auf die Wider-
spruchsregel. In manchen Fällen kann bereits vor einer Feststellung des Hirntods
eine Therapiezieländerung vorgenommen werden, um organprotektiv zu behandeln.
In diesen Fällen greift eine Widerspruchsregelung nicht mehr, sondern es wird eine
Einwilligung des Betroffenen benötigt, weil nur er selbst darauf verzichten kann,
dass die Therapie nicht mehr in erster Linie seinem Wohl dient, sondern dem
Wohl derer, die seine Organe benötigen. Diese Problematik gewinnt durch Patienten-
verfügungen zusätzlich an Gewicht. Wenn nämlich die Patientenverfügung für eine
praktisch aussichtslose Situation eine Einstellung intensivmedizinischer Maßnah-
men erfordert, andererseits aber organprotektive Maßnahmen intensivmedizinischer
Art sind, dann schließt die Patientenverfügung praktisch eine Organspende aus. Eine
Widerspruchsregel kann hier nicht mehr greifen. Selbst für den Fall eines positiven
Organspendeausweises ist rechtlich umstritten, ob nicht die Patientenverfügung
sogar gewichtiger ist als der Ausweis, sodass intensivmedizinische Maßnahmen ein-
zustellen sind.16 Da die Zahl von Patientenverfügungen zunimmt, die eine Weiterfüh-
rung intensivmedizinischer Maßnahmen für den Fall ablehnen, dass praktisch keine
Hoffnung auf Besserung besteht, lässt sich fragen, ob dann überhaupt eine Wider-
spruchsregelung Menschenleben retten würde. Das aber ist zentrale Voraussetzung,

15
Vgl. https://www.organspende-info.de/lebendorganspende/nierenlebendspende.html;
https://www.umm.de/transplantationszentrum-mannheim/nierentransplantation/lebendnie
renspende/ http://www.klinikum.uni-muenchen.de/Transplantationszentrum/de/patienten/
lebertransplantation/lebendspende/index.html, zuletzt eingesehen am 30. 07. 2019.
16
Vgl. zur Problematik die erschöpfende Dissertation von Schlums, Anne: Organspende
durch Patientenverfügung. Verhältnis von Patientenverfügung und Organspende, Konflikte
und deren Bewältigung, 2015.
Die Widerspruchsregel bei der Organspende 1613

um eine solche Regelung den Einzelnen zumuten zu können, ohne das elementare
Persönlichkeitsrecht, über den eigenen Körper zu verfügen, zu verletzen.

3. Rettet die Widerspruchsregelung Menschenleben?

Reinhard Merkel geht in seiner Argumentation für eine Widerspruchsregelung


von einer ganz wesentlichen Prämisse aus, nämlich dass diese Regelung zu einer grö-
ßeren Anzahl verfügbarer Organe führen und damit Menschenleben retten würde.
Dies ist, wie gerade geschrieben, eine ganz wesentliche Voraussetzung, da nur in
einem solchen Fall eine derartige Regelung überhaupt das Kriterium der Zumutbar-
keit erfüllt. Hierzu lässt sich sagen:17 In Deutschland wurde im Jahr 2018 in 498 Fäl-
len bereits vor einer Hirntoddiagnostik die Zustimmung zur Organspende verwei-
gert. In 340 Fällen wurde eine Spende nach erfolgter Hirntoddiagnostik abgelehnt.
Bei einer Anzahl von insgesamt 955 postmortalen Spendern bedeutet dies, dass die-
ser Zahl 738 potentielle Spender durch Ablehnung verloren gingen. Möglicherweise
würde eine Widerspruchsregelung hier eine Änderung bringen, da in allen Staaten,
bei denen eine Widerspruchsregelung gilt, deutlich mehr Organspender zur Verfü-
gung stehen. Gerade ein Deutschland geographisch und kulturell so nahestehender
Staat wie Österreich zeigt dies (mit 24,5 Spenden pro eine Million Einwohner
mehr als doppelt soviel Spenden wie Deutschland mit 11,5 pro eine Million im
Jahr 2018). Es gibt also Anhaltspunkte, dass eine Widerspruchsregelung die Zahl
der Organspenden anheben würde.
Wer behauptet, man solle auf eine Widerspruchsregel verzichten, weil es doch an-
dere Möglichkeiten gäbe, die Zahl verfügbarer Organe zu erhöhen oder gar meint, es
sei nicht diese Regelung, sondern andere Maßnahmen in den betreffenden Staaten,
verwendet eine Technik, die man im Englischen mit dem Begriff „Whataboutism“
bezeichnet. Man lenkt von der Fragestellung ab, indem man auf andere Mängel in
der Gewinnung von Organen hinweist, beispielsweise das zu wenig der möglichen
transplantablen Organe gemeldet werden. Doch so wichtig, vielleicht sogar wichti-
ger weitere Maßnahmen sein mögen, übersieht ein solches Whataboutism, dass man
auf eine gute Regelung nicht deshalb verzichten sollte, weil es weitere Möglichkeiten
gibt, zumal durch die Kombination verschiedener Verbesserungen sogar synergisti-
sche Effekte zu erzielen sind. So enthält gerade die Widerspruchsregelung einen An-
reiz, mögliche Spender zu melden, da die Gefahr geringer ist, dass alle Mühen um-
sonst waren und die Organentnahme abgelehnt wird.
Ein weiterer positiver Aspekt einer Widerspruchsregelung ist die emotionale Ent-
lastung der Angehörigen. Die Ausgangssituation wäre dann nämlich, dass die Organ-
spende die „normale“ Vorgehensweise wäre, außer die verstorbene Person oder die
Angehörigen an ihrer statt hätten Widerspruch eingelegt. Die Angehörigen können
so zusätzlich ihre eigenen Vorstellungen ergründen, jedoch mit größerer Gewissheit,
17
Vgl. zu den Zahlen die entsprechenden Seiten auf: https://www.dso.de (zuletzt eingese-
hen am 30. 07. 2019).
1614 Nikolaus Knoepffler

dem Willen des Verstorbenen nicht zuwider zu handeln. Im Falle einer erweiterten
Einwilligung dagegen fühlen sich die Angehörigen oft mit großer Verantwortung
konfrontiert, wenn über die Wünsche und Vorstellungen hinsichtlich der Organspen-
de nie gesprochen wurde und sie allein die Entscheidung treffen müssen, ohne den
genauen Willen des Verstorbenen zu kennen. Die Drucksituation ist in den meisten
Fällen größer, weil sich die Angehörigen verantwortlicher für die Folgen der Trans-
plantation fühlen.
Auch für Ärzte erleichtert eine Widerspruchsregelung die schwierige Situation
des Angehörigengesprächs. Sie sind dann nicht Bittsteller, die in einer solch schwe-
ren Situation auch noch möglichst schnell auf eine Entscheidung zur Organspende
drängen müssen. Die Zustimmungszahlen in den Angehörigengesprächen belegen
den Erfolg: Spanien verzeichnet die niedrigste Rate an Ablehnungen in den Ange-
hörigengesprächen, die dort nämlich trotz der geltenden Widerspruchsregel durch-
geführt werden.18

IV. Weichenstellungen einer ethischen Urteilsbildung


Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass für eine ethische Urteilsbildung ganz
wesentliche Entscheidungen nötig sind.
Die erste fundamentale Entscheidung betrifft die Frage der Anerkenntnis des
Hirntodkriteriums als Todeskriterium. Wer dieses Kriterium anerkennt, kann auf
jeden Fall Organspenden zustimmen. Wer dieses Kriterium ablehnt, steht vor
einer neuen Entscheidungssituation. Er kann kategorisch jede Form der Organspende
nach Hirntoddiagnostik und vor dem irreversiblen Ausfall des Herz-Kreislauf-Sys-
tems als eine Form aktiver Sterbehilfe ablehnen oder er kann die Organspende grund-
sätzlich zulassen, wenn die entsprechende Einwilligung des Sterbenden vorliegt,
weil er entweder die aktive Sterbehilfe bei Einwilligung für zulässig ansieht oder
den Hirntod so deutet, dass dieser einen irreversiblen Beginn eines Sterbeprozesses
bedeutet und dabei eine Organentnahme aufgrund der Einwilligung nicht als Tö-
tungshandlung, sondern als eine Form des Sterbenlassens versteht. Allerdings
würde diese Position, konsequent zu Ende gedacht, auch eine Organspende nach
dem Herztodkriterium hervorragend rechtfertigen, da hier die Dead-Donor-Rule
keine notwendige Voraussetzung für die Zulässigkeit der Organspende impliziert.
Geht man jedoch vom Hirntodkriterium aus, dann ist eine Organentnahme nach
Feststellung des Herztods erst möglich, wenn auch das gesamte Hirn abgestorben ist,
was in der Konsequenz das Herztodkriterium aufhebt.

18
Vgl. Rodríguez-Arias, David/Wright, Linda/Paredes, David: Success factors and ethical
challenges of the Spanish Model of organ donation, in: The Lancet 9746 (2010), S. 1109 –
1112 (https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0140673610613426, zuletzt eingese-
hen am 29. 07. 2019).
Die Widerspruchsregel bei der Organspende 1615

Da nach herrschender medizinischer Ansicht aller großen Ärzteorganisationen


der Hirntod tatsächlich der irdische Tod des Menschen ist, gibt es gute Gründe,
sich für eine Widerspruchsregelung zu entscheiden, weil eine Lebensrettung mindes-
tens ebenso wichtig sein dürfte wie eine Autopsie zur Verbrechensbekämpfung. Der
Verzicht auf eine verpflichtende Organgabe ist nur deshalb zu rechtfertigen, weil
eben das Hirntodkriterium nicht allgemein geteilt wird und auch weitere weltan-
schauliche Bedenken gegen eine Organgabe nach dem Tod vorstellbar sind. Insofern
ist Reinhards Merkels Argumentation für eine Widerspruchsregelung sehr gut nach-
zuvollziehen. Eine solche Regelung stellt keinen massiven Eingriff in die Persönlich-
keitsrechte dar und lässt hoffen, dass dadurch mehr Menschenleben gerettet werden
können.
IX. Varia
„Eine Zensur findet … statt“
Schlaglichter auf die Filmkontrolle
in der frühen Bundesrepublik Deutschland

Von Wolfram Höfling

I. Filmkontrolle in der frühen Bundesrepublik


Ein knappes Jahr bevor der Jubilar das Licht der Welt erblickte,1 hatte die Frei-
willige Selbstkontrolle der deutschen Filmwirtschaft (FSK), eine von der Spitzenor-
ganisation der Filmwirtschaft (SPIO) getragene Einrichtung, am 18. Juli 1949 ihre
Arbeit aufgenommen. Mit geradezu schlafwandlerischer Sicherheit hatte das Gremi-
um unter fünf vorliegenden Filmen als erstes Prüfobjekt die deutsche Komödie „In-
timitäten“ ausgewählt, einen harmlosen Streifen mit symboltriefendem Titel.2 Eine
breite Öffentlichkeit und mit ihr viele Journalisten standen dem unter Beteiligung der
Landesregierungen und Kirchen neu geschaffenen Selbstkontrollgremium der Film-
wirtschaft ausgesprochen positiv gegenüber. Ohne Scheu auch vor der Verwendung
des Zensurbegriffs3 wurde kurz nach Kriegsende erneut jener elitär-bürgerliche Ha-
bitus gegenüber dem den Jahrmärkten des ausgehenden 19. Jh. entstammenden Mas-
senmedium kultiviert.4 Das Menetekel der sog. zensurfreien Zeit 1918/19 mit ihrer

1
Diese Wendung diene – als etwas konstruierter – Anknüpfungspunkt für eine einleitende
persönliche Bemerkung: Hufeland, berühmter Arzt seiner Zeit, schrieb 1827 in seiner Studie
„Von den Krankheiten der Ungeborenen und der Vorsorge für das Leben und die Gesundheit
des Menschen vor der Geburt“: „Jedermann wird wohl mit mir übereinstimmen, dass es für
den Arzt sehr unschicklich sein würde, das Leben eines menschlichen Wesens erst wie die
Kirchenbücher von dem Zeitpunkt an zu datieren, wo es das Licht der Welt erblickt …“. – Es
waren Fragen nach Anfang und Ende des Lebens, an denen sich vor mehr als einem Viertel-
jahrhundert eine von gelegentlicher Polemik begleitete literarische Auseinandersetzung zwi-
schen Reinhard Merkel und dem Autor dieser Zeilen entzündete. Es war deshalb alles andere
als naheliegend, dass sich die gemeinsame Zeit im Deutschen Ethikrat (2012 bis 2020) so
spannungsfrei (nicht: dissensfrei) und freundschaftlich entwickelt hat. Dieser Beitrag ist des-
halb auch Ausdruck des Dankes.
2
S. auch Der Spiegel vom 22. September 1949: „Mit Intimitäten fing es an“.
3
So forderte etwa der Bundesfamilienminister Franz-Josef Würmeling ausdrücklich eine
„Volkszensur unseres kulturellen Lebens“: s. Franz-Josef Würmeling, Familie und Film, in:
Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 1954, 185 f.
4
S. dazu etwa Jürgen Kniep, „Keine Jugendfreigabe!“. Filmzensur in Westdeutschland
1949 – 1990, 2010, S. 42 ff.
1620 Wolfram Höfling

„Flut von Schundfilmen“ wurde vielfach beschworen.5 Die FSK als „Sündenfilter“,
ihre Prüfer als das „gute Gewissen des deutschen Films“: Mit derartigen Sprachbil-
dern kommentierte die Presse wohlwollend die Filmkontrolle der 1950er Jahre.6 Die
Süddeutsche Zeitung, die eine Pressemitteilung der SPIO fehlgedeutet und ange-
nommen hatte, die FSK habe in den zurückliegenden Jahren für über 88 Prozent
aller Spielfilme Schnitte verlangt, sah damit – ganz satirefrei – deren Daseinsberech-
tigung überzeugend nachgewiesen.7
Dass die Grenzen des Zeigbaren keineswegs ausschließlich aufgrund hoheitlicher
Interventionen markiert, sondern (auch) in einem komplexen gesellschaftlichen Pro-
zess ökonomischer Anreize, sozialer Kontrolle, von Inklusion und Exklusion gezo-
gen werden,8 zeigen eindringlich die weitgehend inszenierten Proteste gegen den
„Skandalfilm“ nicht nur der 1950er Jahre, sondern wohl der deutschen Filmge-
schichte schlechthin: Die Sünderin.9 In der Rezeptionsgeschichte des Films ist der
„Skandal“ – völlig zu Unrecht –10 auf wenige Sekunden reduziert worden, in
denen Hildegard Knef eher andeutungsweise nackt zu sehen war.11 Es war die in-
stinktsichere Kombination von vier Tabuthemen – Prostitution, „wilde Ehe“, sog.
Mitleidstötung12, Suizid – mit denen Willi Forst nicht nur Kirchenvertreter- und Uni-
onspolitiker, sondern auch zahlreiche Journalisten zu Entrüstungsaktionen provo-

5
S. mit Zitaten aus der zeitgenössischen Presse („Die Zote regiert, die Unflätigkeit sitzt im
Klubsessel … Der Wollustteufel jubelt …“) Gerrit Binz, Filmzensur in der deutschen Demo-
kratie, 2006, S. 73 ff.
6
S. mit Nachweisen Kniep (Fn. 4), S. 124.
7
S. erneut mit weiteren Nachweisen Kniep (Fn. 4), S. 124 f.
8
Zu einem solch umfassenderen Zensurbegriff, wie er insbesondere in der angelsächsi-
schen Literatur der 1980er Jahre entwickelt wurde, s Kniep (Fn. 4), S. 10.
9
Dazu beispielsweise Binz (Fn. 5), S. 317 ff.
10
Einer der kirchlichen Vertreter in der FSK, Werner Heß, der wegen der aus seiner Sicht
„entsittlichenden“ Wirkung des durch die FSK am Ende freigegebenen Films aus dem Gre-
mium austrat, stellte auf der Pressekonferenz der Evangelischen Kirchenleitung in Hessen-
Nassau am 30. 01. 1951 insoweit nur fest: „In optischer Hinsicht bietet der Film keine
Schweinerei. In dieser Hinsicht ist gar nichts los. Er wirkt nicht durch Nuditäten“; zitiert
insoweit bei Kirsten Burghardt, Werk, Skandal, Exempel: Tabudurchbrechung durch fiktio-
nale Modelle: Willi Forsts, „Die Sünderin“ (BR Deutschland, 1951), 1996, S. 213.
11
In einer filmwissenschaftlichen Analyse wird die einschlägige Szene wie folgt um-
schrieben: „Während Alex sie auf dem Arm zum Teich trägt, ist Marinas nackter Körper
allerdings nicht ganz zu sehen. Alex geht hinter dichten Büschen und Bäumen entlang, so daß
Marina halb von Ästen und Blättern verdeckt wird. Zudem ist sie so zur Kamera positioniert,
dass der Zuschauer von ihrem nackten Körper lediglich den Rücken wahrnehmen kann. Nur
für einen kurzen Augenblick, als Alex gerade hinter den Ästen zweier etwas weiter ausein-
anderstehende(r) Bäume vorbeigeht, sieht der Zuschauer den nackten Rücken bis zum Ansatz
des Gesäßes“; so Burghardt (Fn. 10), S. 212; zu den Szenen, in denen Marina als Aktmodell
fungiert, s. a.a.O., S. 219 f.
12
Insofern greift Die Sünderin das Thema von Wolfgang Liebeneiners Film „Ich klage an“
aus dem Jahr 1941 auf, mit dem die aufkommende Beunruhigung in Teilen der deutschen
Bevölkerung über die Tötung psychiatrischer Patienten durch ein suggestives Plädoyer für die
sog. Mitleidstötung besänftigt werden sollte.
„Eine Zensur findet … statt“ 1621

zierte: Vom Hirtenbrief des Kölner Kardinals über Interventionen des Bundesfami-
lienministers bis hin zu Demonstrationen mit mehr als 1.000 Teilnehmern.13
Nun liegt die Vermutung nahe, eine genauere Befassung mit der (Film-)Kultur der
1950er Jahre würde eine kollusive „Spießbürgersittlichkeit in Presse und Justiz“14
zutage fördern. Doch so einfach liegen die Dinge keineswegs. Zwar lassen sich
durchaus Beispiele finden, die dem Beobachter die dankbare Rolle als „Revisor
der sittlichen Justizschande“15 ermöglichen. Man denke nur an das groteske Urteil
des Bundesverfassungsgerichts zu § 175 StGB16, dessen Passagen zur spezifischen
Sexualität der Frau auf frappante Weise an (bloß?) satirische Einschätzungen von
Karl Kraus erinnern,17 oder an die nicht minder sinistre Entscheidung des Großen
Senats in Strafsachen zum sog. Kuppeleitatbestand.18
Doch das Grundsatzurteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Dezember
195419 in Sachen „Sünderin“ ist – ganz im Gegenteil – ein Meilenstein auf dem
Weg zu einer freiheitsakzentuierenden Grundrechtsdogmatik. Die durchaus überra-
schende Liberalität der verwaltungsrechtlichen Judikatur auf diesem Felde wird im
Übrigen wenig später bekräftigt in der causa „Das Schweigen“ von Ingmar Berg-
mann.20
So sehr auch eine Sittengeschichte des Umgangs mit dem Film der 1950er Jahre
ein lohnenswertes Forschungsobjekt sein mag: Die nachfolgenden Überlegungen
widmen sich weniger „Verfänglichem“ und nehmen die vergangenheits- und außen-
politische Filmkontrolle in den Blick. Hier wird deutlich, dass die jedenfalls partiell
selbstregulative Disziplinierung des Films von bedenklichen Staatsinterventionen
überlagert wird und damit auch nach Maßgabe eines traditionell eng verstandenen
verfassungsrechtlichen Zensurbegriffs Grundrechtsprobleme aufwirft.

13
Eingehend Kniep, (Fn. 4), S. 58 ff.
14
So eine Formulierung von Reinhard Merkel in einer Rezension zu Nike Wagners Buch
„Karl Kraus und die Erotik“ im Spiegel Nr. 36/1982.
15
Karl Kraus, Schriften, hg. v. Ch. Wagenknecht, Bd. 1 (Sittlichkeit und Verbrechen),
1987, S. 342
16
BVerfGE 6, 389 ff.
17
Dazu die große Studie von Reinhard Merkel (wessen juristische Dissertation erscheint
schon in der Reihe „stw“) Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus, 1998, S. 363 f., 366.
18
BGHSt 6, 46 ff.
19
BVerwGE 1, 303 ff.
20
OVG Koblenz, DVBl. 1966, 576 ff; aus strafrechtlicher Sicht: OLG Düsseldorf, UFITA
44 (1965), 37 ff; näher zu den Auseinandersetzungen um diesen Film in unterschiedlichen
Ländern; Marcel Kau, Polizeiliches Filmverbot im Spannungsfeld von Kunst- und Mei-
nungsfreiheit, AöR 140 (2015), 31 (44 ff.).
1622 Wolfram Höfling

II. Filmkontrolle als Form der Vergangenheitspolitik


1. Die Steuerung filmischer Vergangenheits“bewältigung“

Vergangenheitspolitische Motive21 bestimmten die Kontrolltätigkeit der FSK von


Anfang an. Roberto Rosselinis 1945 gedrehtem Film „Rom, offene Stadt“, eines der
Hauptwerke des italienischen Neorealismus,22 wurde 1950 die Freigabe verweigert.
Der Film schildert in drastischen Bildern die Grausamkeiten der deutschen Besetzer
Roms (etwa die Folterung eines kommunistischen Widerstandskämpfers und die Tö-
tung einer schwangeren Frau) und den italienischen Widerstand. Fünf Jahre nach
dem Ende des Krieges sah die FSK dadurch aber die sich entwickelnden internatio-
nalen Beziehungen der Bundesrepublik gefährdet. Erst 1961 konnte der Film in deut-
schen Kinos präsentiert werden – nach Schnitten und Änderungen in der Synchroni-
sation23 sowie der Einfügung eines von der FSK verlangten Textvorspanns: „Dieser
Film richtet sich nicht gegen das deutsche Volk. Er klagt nicht den deutschen Solda-
ten an. Er schildert den Kampf freiheitsliebender Menschen gegen die Willkür und
Tyrannei.“24 Immer wieder intervenierten auch Ministerien, um bestimmte Schnitt-
auflagen der FSK zu bewirken25 oder um die Aufführung von Filmen auf Festivals zu
verhindern. So versuchte das Auswärtige Amt den Film „Das Mädchen Rosemarie“
(1958) von Rolf Thiele auf der Biennale in Venedig zu verhindern, weil er mit seiner
Darstellung des Lebens der 1957 ermordeten Prostituierten Rosemarie Nitribitt
gleichsam ein Zerrbild vom wirtschaftlichen Aufstieg und moralischen Niedergang
der Bundesrepublik zeichne. Zwar scheiterte dieser Versuch; doch zwei Jahre zuvor
hatte die Bundesregierung über den deutschen Botschafter in Paris erreicht, dass der
Kurzfilm Nacht und Nebel, in dem der Regisseur Alain Resnais Wochenschau-Ma-
terial und Nachkriegsaufnahmen von Auschwitz zu einer eindringlichen Anklage
collagiert hatte, aus dem Programm der Filmfestspiele in Cannes genommen
wurde.26

21
Zum Begriff s. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik, 2. Aufl. 1997, S. 13 ff.
22
Dazu etwa Torunn Haaland, Italian Neorealist Cinema, 2012.
23
So wurden etwa aus den „deutschen“ Folterern nunmehr „Nazis“.
24
Zum Ganzen mit Quellennachweisen Stephan Buchloh, „Pervers, jugendgefährdend,
staatsfeindlich“. Zensur in der Ära Adenauer als Spiegel des gesellschaftlichen Klimas, 2002,
S. 197 f.
25
Beispielhaft Alfred Weidenmanns Film Canaris (1954), der um eine Wochenschau-Szene
vom umjubelten Einzug Hitlers 1938 in Wien „bereinigt“ werden musste; s. dazu etwa
Buchloh (Fn. 24), S. 198 f.
26
Hierzu etwa Kniep (Fn. 4), S. 107 ff.
„Eine Zensur findet … statt“ 1623

2. „Bis fünf nach 12“(1953) – oder:


Der Bundeskanzler als Filmzensor

Einen Fall gubernativer Filmzensur27 mit geradezu grotesken Dimensionen illus-


trieren die Vorgänge um den Film Bis fünf nach 12 (1953).28. Als im Herbst 1953 Ge-
rüchte über die Produktion eines „Hitler-Films“ aufkamen, bildete sich rasch eine
breite Abwehrfront. Der bayerische Innenminister kündigte schon einmal vorsorg-
lich ein Aufführungsverbot an und die FSK lud zur Sitzung ihres Arbeitsausschusses
am 13. 10. 1953, in der über die Freigabe des Films beraten werden sollte, einen „Gut-
achter“ aus dem Bundesinnenministerium ein. Bis fünf nach 12 war ein Dokumen-
tarfilm über das Leben Hitlers zwischen 1919 und 1945, dessen Material aus Wo-
chenschauen und Privataufnahmen (von Eva Brauns Schwester) bestand. Der doku-
mentarische Hauptteil war eingebettet in eine Spielhandlung, in der sich ein Paar
nach dem Krieg wiedertrifft und auf die Vergangenheit zurückblickt. Der Vertreter
des Bundesinnenministeriums konnte zwar keine „Renazifizierungstendenzen“ er-
kennen, befürchtete aber „im Unterbewusstsein schlummernde(n) Kräfte“ weiter
Teile der Bevölkerung, die noch immer zu einem „nationalen Totalitarismus“ neig-
ten. Nach fast neunstündiger Beratung verweigerte der Arbeitsausschuss der FSK die
Freigabe, stellte aber anheim, den Film nach Erfüllung bestimmter Auflagen bzw.
Empfehlungen erneut zur Prüfung vorzulegen. Dies geschah eine Woche später, wie-
der ohne Erfolg. Danach entschloss sich der Produzent zu einer grundlegenden Über-
arbeitung des Films, der nunmehr auf eine Rahmenhandlung verzichtete und in zahl-
reichen Details und dem Begleitkommentar geändert worden war. In dieser Fassung
erhielt Bis fünf nach 12 am 6. November 1953 die Freigabe, obwohl der Vertreter des
Auswärtigen Amtes darauf hingewiesen hatte, dass das Ansehen der Bundesrepublik
Deutschland bei einer Aufführung im Ausland beschädigt werden könne.29
Die in den folgenden Tagen veranstalteten Pressevorführungen in Berlin, Frank-
furt, Hamburg und Köln sowie die besonderen Begleitumstände der Entstehung des
Films30 bewirkten eine große öffentliche Aufmerksamkeit. In dieser Situation ent-
schloss sich der Bundeskanzler zu einer Intervention. Am 14. November 1953 ließ
er sich den Film zusammen mit Bundesinnenminister Schröder, Staatssekretär Hall-
stein und weiteren hohen Beamten in den Bonner Stern-Lichtspielen vorführen. Drei
Tage später drängte Adenauer in der Kabinettssitzung nachdrücklich darauf, alle zur
Verfügung stehenden Möglichkeiten auszuschöpfen, um die Präsentation des Films
zu verhindern. Das Kabinettsprotokoll vermerkt zu Adenauers Argumentation: Die-

27
Zum verfassungsrechtlichen Zensurbegriff noch unten sub III. 2.
28
Eingehende Darstellung unter Rückgriff auf Kabinettsprotokolle: Ulrich Enders, Der
Hitler-Film „Bis fünf nach 12“, in: Aus der Arbeit der Archive. Festschrift für H. Booms,
1989, S. 916 ff.
29
Zum Ganzen und zu weiteren Details Enders (Fn. 28), S. 919 – 924.
30
So gab es auch eine vom Bundesinnenministerium organisierte Filmvorführung in den
Bonner Gangolf-Lichtspielen, zu der sämtliche mit der Angelegenheit befasste Ministerien
und weitere Bundesbehörden sowie die Bundestagsfraktionen eingeladen wurden.
1624 Wolfram Höfling

ser Film in seiner Mischung aus Bildern über die Stärke und Geschlossenheit des Na-
tionalsozialismus und die Menschlichkeit Hitlers, aus grausigen Szenen in Berlin
und zweifelnden Fragen zu Jalta und Nürnberg sei eine versteckte Propaganda für
den Nationalsozialismus und gegen die Europäische Verteidigungsgemeinschaft.
Wenn er ins Ausland komme, werde die mühevolle Arbeit von vier Jahren Außen-
politik aufs ernsteste gefährdet.31 Der Bundesminister des Inneren vermochte zwar
keine nationalsozialistischen Tendenzen zu erkennen, hielt den Film allerdings für
„wehrzersetzend“. Da er aber nach geltendem Recht ein Verbot für nur schwer zu
legitimieren hielt, schlug er vor, dass der Bundestag auf schnellstem Wege eine ent-
sprechende Grundlage schaffe. Im Kabinett wurde daraufhin tatsächlich die Mög-
lichkeit einer Verfassungsänderung erwogen, doch Adenauer verlangte nochmals
nachdrücklich, so schnell wie möglich alles zu tun, um eine Aufführung zu verhin-
dern. Dem Bundesinnenminister wurde der Auftrag erteilt, mit den Innenministern
der Länder die Frage eines Aufführungsverbots zu erörtern. Diese Besprechung fand
am 20. November und damit an dem Tag statt, an dem die bereits mehrfach verscho-
bene Uraufführung in den größten Filmtheatern der Bundesrepublik Deutschland
vorgesehen war. Nachdem sich die Innenminister der Länder den Film gemeinsam
angeschaut hatten, wurden sie ins Kanzleramt geladen, wo ihnen Adenauer und Hall-
stein eindringlich die außenpolitischen Gründe vortrugen, die ein Verbot des Films
nahelegten. Vor allem in Frankreich könne der Film den Gegnern einer Europäischen
Verteidigungsgemeinschaft bei der bevorstehenden Debatte in der französischen Na-
tionalversammlung in dieser Situation Auftrieb verschaffen. Die Innenminister folg-
ten den Argumenten des Bundeskanzlers. In einer Pressemitteilung erklärten sie:
„Der Film 5 Minuten nach 1232 wirkt besonders in seinem ersten Teil als Verherrli-
chung des Nationalsozialismus. Der Begleittext vermag diesen Eindruck in keiner
Weise zu beseitigen. Die verbrecherische Tätigkeit des Nationalsozialismus ist im
Bild viel zu wenig dargestellt. Der Film ist geeignet, in politisch nicht genügend er-
fahrenen Kreisen nazistische Bestrebungen wiederzubeleben und dadurch den inne-
ren Frieden in unserem Volke zu stören. Der Film ist ferner geeignet, dem Gedanken
der Völkerverständigung Abbruch zu tun und dadurch der Bundesrepublik außenpo-
litisch Schaden zuzufügen. Bei dieser Sachlage stört der Film nach seinem Inhalt und
Aufführung auch die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Die Innenminister und Se-
natoren der Länder sind sich daher einig geworden, die öffentliche Aufführung des
Films oder von Teilen des Films und zwar auch im Fernsehfunk zu verbieten“.33
Das in jeder Hinsicht ungewöhnliche und auch verfassungsrechtlich höchst be-
denkliche Vorgehen scheiterte indes auf ganzer Linie. Als die gemeinsame Position
der Innenminister um 17 Uhr an die zuständigen Behörden der Länder kommuniziert
wurde, war der Film in den Uraufführungstheatern vielfach schon angelaufen. We-
nige Tage später scherte der Hamburger Senat – der Hamburger Innensenator hatte an
31
Das Kabinettsprotokoll zitiert Enders (Fn. 28), S. 924 f.
32
Der richtige Titel des Films lautet „Bis fünf nach 12“.
33
Mitteilung des Bundespresseamtes Nr. 1170/53 vom 20. November 1953; s. mit weiteren
Details Enders (Fn. 28), S. 925 – 928.
„Eine Zensur findet … statt“ 1625

der Sitzung am 20. November 1953 nicht teilgenommen – aus der Einheitsfront aus,
und am 8. Dezember 1953 hatte eine Klage gegen die Verbotsverfügung vor dem Ver-
waltungsgericht Düsseldorf Erfolg. Zur gleichen Zeit wurde mangels politischer Un-
terstützung nun auch der Versuch, eine Verfassungsänderung anzustoßen, aufgege-
ben. Ebenfalls im Sande verliefen Initiativen, die Aufführung des Films im Ausland
über Interventionen der Auslandsvertretungen und durch devisenrechtliche Be-
schränkungen zu unterbinden.34
Namentlich die Rolle Adenauers in dieser – wie soll man sagen – Farce ist auf-
schlussreich in dreierlei Hinsicht: medienpolitisch35, innenpolitisch36 und außenpo-
litisch.37 Das kann hier nicht näher entfaltet werden. Allein die Vorstellung aber, dass
ein Bundeskanzler sich vor der Uraufführung eines Films im Kino persönlich ein Bild
macht, um ggf. jenseits aller Kompetenzregeln ein Verbot durchzusetzen, erscheint
einigermaßen absurd.

III. Verfassungswidrige „Vorzensur“? –


Die Kontrolle von sog. Ostfilmen
Im Windschatten der hoheitlich begleiteten Tätigkeit der FSK agierte seit 1953
eine weitere Kontrollinstanz: der seit 1956 so bezeichnete „Interministerielle(r) Aus-
schuss für Ost/West-Filmfragen“. Als Institution des Kalten Krieges unterzog er alle
Filme aus den sog. Ostblockstaaten einschließlich der „Ostzone“ bei deren Einfüh-
rung einer systematischen Überprüfung auf mögliche „verfassungsfeindliche“ Ten-
denzen.

34
Im Einzelnen hierzu Enders (Fn. 28), S. 926 ff.
35
Seine Intervention in der Angelegenheit zeigt seine instinkthafte Einschätzung der gro-
ßen Bedeutung massenmedialer Kommunikation, die einige Jahre später mit der von ihm
initiierten Gründung der Deutschland-Fernsehen-GmbH noch einmal nachdrücklich unter
Beweis gestellt wurde, aber vor dem BVerfG scheiterte. S. dazu BVerfGE 12, 205 ff.; dazu
etwa Oliver W. Lembcke, Das BVerfG und die Regierung Adenauer – Vom Streit über den
Status zur Anerkennung der Autorität, in: R. Chr. van Ooyen, H. W. Möllers (Hrsg.), in: Das
Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2006, S. 83 ff.
36
Auch insoweit nimmt Adenauers – sehr zurückhaltend formuliert – unbekümmerter
Umgang mit der föderalen Kompetenzordnung, bei dem die gubernative Spitze der Zentral-
gewalt massiv Einfluss ausübt auf die Ausführung von Landesgesetzen, sein bundesstaats-
widriges Verhalten im sog. Fernsehstreit vorweg.
37
Zum Drama in drei Akten, als das man die verfassungsprozessuale Auseinandersetzung
in der EVG-Debatte bezeichnen kann und in dem Adenauer jeder verfassungsprozessuale
Winkelzug gerade gut genug war, s. BVerfGE 2, 79 ff. und 143 ff.; instruktive Darstellung bei
Oliver W. Lembcke, Hüter der Verfassung, 2007, S. 176 ff.
1626 Wolfram Höfling

1. Der Interministerielle Ausschuss (IMA)

Gründung wie Ende des Gremiums liegen weitgehend im Dunkeln. Zum Teil wird
die Aufnahme seiner Tätigkeit auf den Juli 1954 datiert.38 Als Gründungsdokument
kann aber wohl das als „streng vertraulich“ qualifizierte „Protokoll einer Sitzung im
Bundesministerium des Inneren am Montag, den (sic!) 5. Januar 1953 zur Frage des
Imports von Filmen aus sowjetisch dirigierten Ländern“ gelten. Die Teilnehmer
waren Beamte des Auswärtigen Amtes, des Bundeswirtschaftsministeriums, des
Presse- und Informationsamtes, des Bundesamtes für Verfassungsschutz und des In-
nenministeriums. Ebenfalls eingeladen waren der Bundeskanzler, das Bundeskanz-
leramt und das Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen, die aber keine Ver-
treter entsandt hatten. In dieser Besprechung einigte man sich auf folgendes Vorge-
hen:
„Grundsätzlich dürfen nur Filme eingeführt werden, die inhaltlich politisch einwandfrei
sind. Es wird auf einen schon früher vom Bundesministerium des Inneren gemachten Vor-
schlag zurückgegriffen, wonach innerhalb der Bundesregierung ein besonderer Überprü-
fungsausschuss eingesetzt werden soll, dessen Stellungnahme zur Frage, ob politische Be-
denken gegen die Einfuhr des Filmes bestehen, vom Bundesminister für Wirtschaft bei sei-
ner Entscheidung über den Einfuhrantrag zugrunde zu legen ist. (…) Dem Ausschuss sollen
angehören je 1 Vertreter des Presse- und Informationsamtes, des Auswärtigen Amtes, des
Bundesministeriums des Inneren, des Bundesministeriums für Wirtschaft, des Bundesmi-
nisteriums für Gesamtdeutsche Fragen und des Bundesamtes für Verfassungsschutz“.39

Im Dezember 1953 traf sich das Gremium dann erstmals im Bonner Kino „Stern“.
Vorgeführt wurde der sowjetische Film Maxim K, gegen dessen Einfuhr sich der IMA
aussprach.40 Doch erst zu Beginn des Jahres 1957 trat der Ausschuss – wohl unfrei-
willig – ans Licht der (parlamentarischen) Öffentlichkeit. In einer Fragestunde des
Deutschen Bundestages hatte der SPD-Abgeordnete Wienand – jener Politiker, der
beim Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Willi Brandt 1972 den CDU-Abge-
ordneten Julius Steiner mit der Zahlung von 50.000 DM zur Stimmenthaltung bewo-
gen haben soll und der später rechtskräftig wegen Spionage zugunsten der DDR zu
21/2 Jahren Haft und einer Geldstrafe von 1 Million DM verurteilt wurde – kritische
Fragen der Tätigkeit des IMA an die Bundesregierung gerichtet. Der damalige Bun-
deswirtschaftsminister und nachmalige Bundeskanzler Erhard verwies in seiner Ant-
wort einerseits auf eine devisenrechtliche Genehmigungsbedürftigkeit, zum anderen
aber auf die Notwendigkeit, jeden Film auf verfassungsfeindliche Tendenzen zu
überprüfen, um eine Verfolgung gemäß § 93 StGB sicherzustellen. Durch das Urteil
des BVerfG vom 17. August 195641 sei bei Filmen aus Ostblockstaaten mit derartigen

38
So Werner Wohland, Die politische Filmeinfuhrkontrolle vor dem BVerfG – Der Fall
„Kongo-Müller“, Film und Recht, 1969, S. 170; Manfred Rehbinder, Zur Verfassungsmäßig-
keit der interministeriellen Filmzensur, FuR, 1967, 47 ff. (47): „1952 oder 1954“.
39
Hier zitiert nach Buchloh (Fn. 24), S. 219.
40
A.a.O., S. 221.
41
Gemeint ist das KPD-Urteil s. BVerfGE 5, 85 ff.
„Eine Zensur findet … statt“ 1627

Tendenzen zu rechnen. Im Übrigen sei der Interministerielle Ausschuss lediglich ein


Sachverständigengremium, das keine Entscheidungsbefugnis habe.42 Die konstruiert
wirkende Argumentation mit straf- und außenwirtschaftsrechtlichen Elementen und
der Verweis auf das KPD-Urteil des BVerfGs, das offenkundig für die Kontrolltätig-
keit des Ausschusses in der Zeit von 1953 bis 1956 keinerlei Relevanz haben konn-
te,43 kann durchaus als das Eingeständnis verstanden werden, dass die verfassungs-
rechtliche Legitimation der Kontrolltätigkeit des IMA mehr als zweifelhaft war. Carl
Hermann Ule hat 1965 – „im Interesse der rechtstaatlichen Glaubwürdigkeit unseres
Staatswesens“ – die Filmwirtschaft aufgerufen, in einem Musterprozess eine Ent-
scheidung des Bundesamtes für gewerbliche Wirtschaft und des hinter ihm stehenden
„Interministeriellen Ausschusses für Ost/West Filmfragen“ anzufechten und auf die-
sem Wege eine Nachprüfung durch das BVerfG zu ermöglichen.44 Und in der Tat: In
mehrfacher Hinsicht kollidierte die Kontrolltätigkeit des Gremiums, dessen Bezeich-
nung zunächst wiederholt wechselte, doch bald schon jeden Hinweis auf seine ei-
gentliche Aufgabe vermied, mit verfassungsrechtlichen Vorgaben.45
Wohl erst nach Bildung der ersten Großen Koalition und der Einleitung einer
neuen Ostpolitik stellte der IMA seine Tätigkeit ein.46 In der 112. Plenarsitzung
des 5. Deutschen Bundestages teilte der Parlamentarische Staatssekretär beim Bun-
desminister des Innern (und spätere Präsident des Bundesverfassungsgerichts), Ernst
Benda, am 8. 6. 1967 im Parlament mit: „… der interministerielle Ausschuss für die
Zulassung von Ostfilmen besteht nicht mehr.“47 Bis dahin waren dem IMA etliche
Filme zum Opfer gefallen, darunter der auf einem Drehbuch von Stephan Hermlin
beruhende Film Ludwig van Beethoven (1957), der zweite und dritte Teil der Verfil-
mung von Michael Scholochows Roman Der stille Don, Wolfgang Staudtes Verfil-
mung von Heinrich Manns Der Untertan, der zunächst nur in studentischen Film-
clubs vorgeführt werden durfte.48

42
Protokoll des Deutschen Bundestages, a.a.O., S. 10748 (B).
43
Auf eine entsprechende Nachfrage des Abgeordneten Wienand, ob er irre, wenn er an-
nehme, der Ausschuss habe bereits vor dem Urteil des BVerfGs bestanden, antwortete der
Bundeswirtschaftsminister nur: „Ich kann Ihnen diese Frage datumsmäßig nicht exakt beant-
worten“; a.a.O., S. 1748 (C).
44
S. Carl Hermann Ule, Stellungnahme, 1965, 552; scharfe Kritik an der Film-Einfuhr-
kontrolle auch bei Manfred Rehbinder, Filmeinfuhrkontrolle und Grundgesetz, DVBl., 1965,
550 ff. – Erst 1972 kam es dann zu einer ihrerseits problematischen Mehrheitsentscheidung
des 1. Senats des BVerfGs; s. BVerfGE 33, 52 ff.
45
Bis Mitte November 1994 ließ das Gremium „Interministerieller Prüfungsausschuss“,
danach „Interministerieller Vorprüfungsausschuss für den Filmaustausch Ost – West“ und seit
1956 dann nur noch Interministerieller Ausschuss für Ost/West-Filmfragen; Buchloh (Fn. 24),
S. 223.
46
Vgl. auch bei Binz (Fn. 5), S. 401 f.
47
Protokolle des Deutschen Bundestages, 5. Wahlperiode, 112. Sitzung vom 8. 6. 1967,
S. 53, 59.
48
Dazu und mit weiteren Nachweisen Buchloh (Fn. 24), S. 225 ff., der von insgesamt
„etwa 130“ verweigerten Einfuhrgenehmigungen ausgeht.
1628 Wolfram Höfling

So geheimnisvoll Existenz und Arbeitsweise des Ausschusses waren, so unklar


blieben auch die normativen Grundlagen seiner Aktivitäten. Zunächst wurden devi-
sen- und wirtschaftsrechtliche Regelungen auf besatzungsrechtlicher Grundlage ge-
nannt, die indes den Film als Wirtschaftsgut, nicht als Kommunikationsmedium be-
trafen. Seit 1961 erfolgte die Kontrolltätigkeit im Wesentlichen nach Maßgabe von
§ 17 des Außenwirtschaftsgesetzes in Verbindung mit § 48 der Verordnung zur
Durchführung des Außenwirtschaftsgesetzes einerseits sowie auf der Grundlage
des sog. Überwachungsgesetzes (GÜV).49 Nach § 5 Abs. 1 in der Ursprungsfassung
des Gesetzes war es verboten, Filme, die nach ihrem Inhalt dazu geeignet waren, als
Propagandamittel gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder gegen
den Gedanken der Völkerverständigung zu wirken, in den räumlichen Geltungsbe-
reich des Gesetzes zu verbringen, soweit dies dem Zweck der Verbreitung diente.
Wer Filme in den räumlichen Geltungsbereich des Gesetzes verbrachte, hatte nach
Abs. 2 der Norm eine Kopie dieses Films dem Bundesamt für gewerbliche Wirtschaft
innerhalb einer Woche nach dem Verbringen vorzulegen. § 5 Abs. 1 Satz 2 GÜV er-
mächtigte die Bundesregierung, durch Rechtsverordnung zu bestimmen, dass Filme
aus bestimmten Ländern der Vorlagepflicht nicht unterlagen. In Umsetzung dieser
Ermächtigung hat die Bundesrepublik Filme von ca. 140 Staaten, die in Länderlisten
verzeichnet waren, von der Vorlagepflicht befreit. Von dieser Befreiung nicht erfasst
waren 15 sog. Ostblockstaaten.50 Nach § 5 Abs. 4 Satz 1 GÜV musste ein entgegen
dem Verbot nach Abs. 1 in den räumlichen Geltungsbereich des Gesetzes verbrachter
Film nach Feststellung eines entsprechenden Verbots durch das Bundesamt für ge-
werbliche Wirtschaft diesem auf Anforderung ausgehändigt werden. Dieses Verfah-
ren war eng verknüpft mit dem außenwirtschaftlichen Genehmigungsverfahren bei
der Filmeinfuhr gemäß § 17 Außenwirtschaftsgesetz und § 48 der entsprechenden
Ausführungsverordnung.51 Danach war der Erwerb von Vorführrechten an Spielfil-
men im Außenwirtschaftsverkehr von einer Genehmigung abhängig, wenn der Film
in der Bundesrepublik in deutscher Sprache vorgeführt werden sollte. Zuständige Be-
hörde war – erneut – das Bundesamt für Wirtschaft. Die Vorführung eines Spielfilms
ohne eine derartige Genehmigung stellte eine Ordnungswidrigkeit dar.
War eine derartige politische Filmkontrolle wirklich vereinbar mit dem Zensur-
verbot des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG?

49
Gesetz zur Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote vom 24. 5.
1961 (BGBl. I S. 607).
50
Dazu und zur Frage, ob die Ausfüllung der gesetzlichen Ermächtigung verfassungs-
rechtlichen Bedenken unterliegt, Wohland (Fn. 38), 1969, S. 158 f.
51
S. dazu auch Rehbinder, FuR, 1967, 47 ff.; Wohland (Fn. 38), S. 161 ff.
„Eine Zensur findet … statt“ 1629

2. „Kongo-Müller“, „Der lachende Mann“


und das Bundesverfassungsgericht

Lange Jahre vollzog sich die Ostfilm-Kontrolle in einer „verfassungsrechtlichen


Dämmerzone“.52 Erst 1966 kam es zu zwei Verfahren vor dem VG Frankfurt,53 das
schließlich dem BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 GG die Frage zur Entscheidung vor-
legte, ob § 5 Abs. 1 Satz 2 GÜV in Verbindung mit der Verordnung vom 12. Oktober
1961 die Artikel 5 Abs. 1, 19 Abs. 1 und 70 bis 75 GG verletzen.54 Ein Münchner
Filmclub („Filmforum Jugendfilmwerk München“) und ein Freiburger Versiche-
rungsvertreter, (ein nach eigener Einschätzung zum Pazifisten gewordener ehemali-
ger Wehrmachtsoffizier) wagten den Konflikt mit dem Bundesamt für Wirtschaft.
Streitthema in beiden Fällen: die dokumentarische Befassung mit dem Einsatz deut-
scher Söldner im Kongo und im Mittelpunkt der DDR-Filme der „Major“ Siegfried
Müller, genannt „Kongo-Müller“, den die Süddeutsche Zeitung als einen „zweifellos
… außerordentlich üble(n), Morde nicht scheuende(n) Landsknechtstyp“ charakte-
risierte.55 Der Münchner Filmclub hatte den Film „Kommando 52“ aus der DDR
1965 in die Bunderepublik verbracht und ihn gemäß § 5 Abs. 2 GÜV dem Bundes-
amt für Wirtschaft zur Prüfung vorgelegt. Die Bundesbehörde bejahte einen Verstoß
gegen das Einfuhrverbot gemäß § 5 Abs. 1 GÜV. Der Film konstruiere eine Verbin-
dung zwischen den als Mördern dargestellten kämpfenden Männern und den Reprä-
sentanten der Bundesrepublik Deutschland und bedeute damit einen Angriff auf die
demokratischen Einrichtungen der Bundesrepublik.56 Der lachende Mann (1966)
enthält im Wesentlichen ein in einem Münchner Hotel aufgenommenes Interview
mit besagtem „Kongo-Müller“, dem verheimlicht wird, dass seine Gesprächspartner
aus der DDR kommen. Eine Flasche Pernod, die am Ende des Interviews fast geleert
ist, lockert ihm ganz offenkundig die Zunge,57 und Müller brüstet sich damit, dass er
ggf. die westliche Freiheit auch in Magdeburg, Leipzig oder Dresden mit Aktionen
verteidigen werde, die er im Kongo bereits erfolgreich durchgeführt habe. Der Frei-
burger Versicherungsvertreter Helmut S. hatte den Film in Leipzig bei einer Veran-
staltung des FDGB gesehen und eine Kopie des Films leihweise erhalten. Die Auf-
forderung des Bundesamtes für Wirtschaft, eine Kopie des Films zur Prüfung vorzu-
legen, lehnte er ab. Seine Klage gegen das Bundesamt veranlasste das VG Frankfurt
schließlich zu dem bereits erwähnten Vorlagebeschluss an das BVerfG. Darin ver-
neinte das VG u. a. die materielle Grundrechtskonformität der einschlägigen Vor-
schriften des GÜV.
52
So Peter Lerche, Stichwort „Informationsfreiheit“, in: Ev. Staatslexikon, 2. Aufl. 1975,
Sp. 1004 (1006), zur politischen Einfuhrkontrolle; Lerche spricht auch von „im stillen arbei-
tende(n) Organe(n) der Exekutive“.
53
Hierzu Werner Wohland, Die politische Filmeinfuhrkontrolle vor dem BVerfG – Der Fall
„Kongo-Müller“, Film und Recht, 1969, 8 ff und 39 ff.
54
Zur Vorlagefrage s. BVerfGE 33, 52 (54).
55
Wilhelm Roth, Filme als Waffen, SZ Nr. 281 vom 24. 11. 1966, S. 15.
56
Zur Verfahrensgeschichte Wohland (Fn. 38), S. 181 f.
57
S. Roth, SZ, Nr. 281 vom 24. 11. 1966, S. 15.
1630 Wolfram Höfling

Fünf Jahre später erging mit sechs zu zwei Stimmen der Beschluss des Ersten Se-
nats des BVerfG.58 Diese erste zensurrechtliche Grundsatzentscheidung beendete die
bis dahin durchaus lebhafte Diskussion über die wesentlichen Elemente des Zensur-
begriffs im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG:59 „Als Vor- oder Präventivzensur wer-
den einschränkende Maßnahmen vor der Herstellung oder Verbreitung eines Geistes-
werks, insbesondere das Abhängigmachen von behördlicher Vorprüfung und Geneh-
migung seines Inhalts (Verbot mit Erlaubnisvorbehalt) bezeichnet. Bezogen auf
Filmwerke bedeutet danach Zensur das generelle Verbot, ungeprüfte Filme der Öf-
fentlichkeit zugänglich zu machen, verbunden mit dem Gebot, Filme, die öffentlich
vorgeführt werden sollen, zuvor der zuständigen Behörde vorzulegen, die sie anhand
von Zensurgrundsätzen prüft und je nach dem Ergebnis ihrer Prüfung die öffentliche
Vorführung erlaubt oder verbietet (sog. formeller Zensurbegriff)“.60 Einen Verstoß
gegen den so gedeuteten Artikel 5 Abs. 1 Satz 3 GG vermag die Senatsmehrheit
nicht zu erkennen. Auch der Zusammenhang zwischen der Inhaltsprüfung gemäß
§ 5 Abs. 2 GÜV und dem Genehmigungsverfahren nach § 48 AWV (bzw. den ein-
schlägigen Interzonenhandelsvorschriften im Blick auf DDR-Filme) lasse sich
nicht als eine einheitliche Gesamtregelung ansehen.61 In ihrem abweichenden
Votum kritisieren die Richterin Rupp-von Brünneck und der Richter Simon eine
„in der Methode an das Vorgehen des Prokrustes erinnernde Auslegung“.62 Sie lassen
zwar dahin stehen, ob die einschlägigen Vorschriften in „direkte(r) Kollision“ mit
dem Zensurverbot des Artikel 5 Abs. 1 Satz 3 GG stehen; doch entfalte, so die Min-
derheit, das Kontrollverfahren eine der Vorzensur nahekommende Wirkung. Sie
empfiehlt daher dem Gesetzgeber nachdrücklich, „die ganze einer freiheitlichen De-
mokratie wahrlich nicht zum Ruhme gereichende Regelung aus eigenem Antrieb zu
beseitigen“.63 In der Tat lässt sich festhalten, dass die Gesamtregelungen des § 5
Abs. 2 GÜV in Verbindung mit § 5 Abs. 4 Satz 1 GÜV zur damaligen Zeit dem
Staat über die generelle Vorlageverpflichtung nicht nur die Gelegenheit zur äußeren
inhaltlichen Kenntnisnahme verschaffte, sondern über die dem Einzelnen zusätzlich
auferlegte Aushändigungsverpflichtung im Falle eines Verstoßes gegen das Überwa-
chungsgesetz gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 GÜV zugleich die Möglichkeit eröffnete, eine
Verbreitung der ins Inland verbrachten Filme zu verhindern.64

58
Zur BVerfGE 33, 52 ff.
59
Kluge Analyse bei Thomas Nessel, Das grundgesetzliche Zensurverbot, 2004, S. 29 ff.
60
S. BVerfGE 33, 52, (72) unter Bezugnahme auf Noltenius, Die freiwillige Selbstkon-
trolle der Filmwirtschaft und das Zensurverbot des Grundgesetzes, 1958, S. 32 und S.106.
61
BVerfGE 33, 52 (75 f.).
62
BVerfGE 33, 52 (83).
63
BVerfGE 33, 52 (90).
64
So zu Recht Nessel (Fn. 59), S. 196; das Vorgehen als Zensur einschätzend: Helmuth
Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 3. Aufl., 2013, Art. 5
Rn. 170 mit weiteren Nachweisen in Fußnote 827.
„Eine Zensur findet … statt“ 1631

IV. Schlussbemerkungen: Gefährlicher Film


Der heute kaum noch intensiv erörterten Problematik kann hier nicht näher nach-
gegangen werden. Die Schlaglichter auf die Filmkontrolle der frühen Bundesrepu-
blik Deutschland sollten lediglich illustrieren, wie stark in dieser Phase die These
vom Film als einem gefährlichen Etwas immer noch Einstellungen, Einschätzungen
und Entscheidungen prägte. Zwar gab 1949 das Bezirksverwaltungsgericht für den
Britischen Sektor von Berlin der Klage des Inhabers eines Lichtspieltheaters statt, in
der dieser sich gegen eine Verfügung des Polizeipräsidenten wandte, für Filmvorfüh-
rungen Dienstplätze für Polizeibeamte zur Verfügung zu stellen. Wohltuend nüchtern
beschieden die Richter, es sei nicht ersichtlich, dass eine „Lichtspielvorstellung an
sich“ eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle.65
Doch die Filmkontrollpraxis in der Form einer manifesten inhaltlichen Einwirkung
auf das Massenmedium66 zeigte sich weitgehend unbeeindruckt von punktuellen ver-
waltungsgerichtlichen Interventionen67 zugunsten der Freiheit offener Kommunika-
tion. Sie vollzog sich vielmehr in der expliziten oder doch impliziten Überzeugung,
dass die Ausnahme vom Zensurverbot, die die Weimarer Reichsverfassung für den
Film ausgesprochen hatte,68 durch Artikel 5 Abs. 1 Satz 3 GG nicht beseitigt worden
war. Zwar formuliert die grundgesetzliche Norm unzweifelhaft eine umfassende,
d. h. medienindifferente Schrankenschrankenklausel.69 In den Beratungen des Parla-
mentarischen Rates war indes prominent die Auffassung vertreten worden, dass sich
am Weimarer Rechtszustand nichts geändert habe. So war Theodor Heuss davon
überzeugt, dass man beim Film auf eine gewisse Vorzensur nicht verzichten
könne.70 Und Hermann von Mangoldt fasste schließlich als Vorsitzender des Aus-
schusses für Grundsatzfragen und Grundrechte apodiktisch zusammen: Die Filmzen-
sur „wird auch in Zukunft … möglich sein“.71

65
Bezirksverwaltungsgericht für den Britischen Sektor von Berlin, DV 1950, 1954 (1955);
zur durchaus nicht unüblichen Praxis der sog. Theaterkontrollpolizei s. Jürgen W. Wehrhahn,
Theaterfreiplätze der Polizei, UFITA 23 (1957), 167 ff.
66
Zu dieser Charakterisierung unterschiedlicher Beeinträchtigungsstufen und zum Verbot
staatlicher Dominanz von Vermittlungsinhalten: Hans D. Jarass, Die Freiheit der Massen-
medien, 1978, S. 198 ff.
67
S. dazu schon oben bei Fn. 65.
68
Art. 118 Abs. 2 Satz 1 und 2 lauteten: „Eine Zensur findet nicht statt. Doch können für
Lichtspiele durch Gesetz abweichende Bestimmungen getroffen werden.“
69
Zum dogmatischen Charakter des Zensurverbots als Grundrechtsschrankenklausel s.
etwa Helmuth Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 3. Aufl., 2013,
Art. 5 Rn. 171.
70
Parlamentarischer Rat, Sitzungen des Ausschusses für Grundsatzfragen, 1. Bd., S. 47 f.
71
Anmerkung zum Stenographischen Bericht der 9. Sitzung des Parlamentarischen Rates
am 6. Mai 1949, Abschnitt Die Grundrechte, S. 9.
Von der Formung des Rechts
auf Weltanschauungsfreiheit
Von Jacqueline Neumann

I. Einleitung
Als Gründungsbeirat unterstützt der Jubilar Reinhard Merkel das von der Gior-
dano-Bruno-Stiftung (gbs) ins Leben gerufene Institut für Weltanschauungsrecht
(ifw) seit Anbeginn. Reinhard Merkel wäre nicht der kritische Geist, der er ist und
als den wir ihn im ifw schätzen, wenn er nicht zeitgleich mit seiner frühen Unterstüt-
zungszusage in der Gründungsphase für einen anderen Institutsnamen plädiert hätte.
Der Begriff des „Weltanschauungsrechts“ erschien ihm nicht selbsterklärend. Beob-
achter könnten zudem das „Institut für Weltanschauungsrecht“ als Vertretung eines
Rechts missverstehen, das auf einer bestimmten Weltanschauung gründe und deren
Bekenntnis einfordere. Hierzu wählte er die drastischen Beispiele vom gänzlich an-
tifreiheitlichen „Weltanschauungsrecht“ der nationalsozialsozialistischen und kom-
munistischen Diktaturen. Deswegen, so Merkel, habe der Begriff des Weltanschau-
ungsrechts für ihn einen unvermeidbar sinistren Unterton. Hingegen war und ist bei
uns das „Weltanschauungsrecht“ in einem freiheitlichen Sinn gemeint – aufbauend
auf Vernunft, Gerechtigkeit und Fairness. Unter dem Begriff „Weltanschauungs-
recht“1 verstehen wir die Gesamtheit aller staatlichen Normen, Einrichtungen und
Maßnahmen, die das Recht auf Weltanschauungsfreiheit betreffen. Klar und eindeu-
tig kann folgende Abgrenzung vorgenommen werden: Da der Begriff des Weltan-
schauungsrechts definitorisch nur in Verbindung mit dem Recht auf Weltanschau-
ungsfreiheit des Individuums zu denken ist, kann daraus niemals eine Pflicht zu
einer bestimmten Weltanschauung abgeleitet oder begründet werden, wie es in dik-
tatorischen2 oder theokratischen3 Staats- und Regierungsformen gegeben ist. Damit
ist das Recht auf Weltanschauungsfreiheit eng mit dem Prinzip des Säkularismus4
und dem des weltanschaulich neutralen Staates verbunden.

1
Ausführlich hierzu Neumann/Schmidt-Salomon, Was ist „Weltanschauungsrecht“?, in:
Neumann/Czermak/Merkel/Putzke (Hg.), Aktuelle Entwicklungen im Weltanschauungsrecht,
2019, S. 13 – 25.
2
Z. B. Nationalsozialismus, Maoismus, Marxismus-Leninismus.
3
Z. B. Islamische Republik Iran, katholische absolute Monarchie des Staates Vatikanstadt.
4
Vgl. Schmidt-Salomon, Die Grenzen der Toleranz, 2016, S. 121.
1634 Jacqueline Neumann

Mit dem Zusatz „Für säkulare Rechtspolitik“ fanden wir einen Kompromiss und
blieben beim geplanten Institutsnamen. In das Herausgeberkollegium der instituts-
eigenen „Schriften zum Weltanschauungsrecht“5 trat Merkel sodann ebenfalls ein.
Gemeinsam mit dem Jubilar wollen wir mit der Herausstellung des Begriffs „Welt-
anschauungsrecht“ die inhaltliche Verengung der bisher gebräuchlichen Begriffe
„Staatskirchenrecht“ oder „Religionsverfassungsrecht“ aufbrechen. Denn diese
sind inhaltlich unvollständig und unzulässig tendenziös, da sie die nichtreligiösen
Sinnsysteme nicht benennen und religiösen Weltanschauungen und Religionsgrup-
pen (z. B. Kirchen, Islamverbänden) bereits auf der sprachlichen Ebene eine Sonder-
stellung einräumen. Diese religionszentrierte Begriffswahl ist Ausdruck eines ver-
engten Blicks eines ganzen Rechtsgebiets zugunsten religiöser Weltanschauungen.
Es geht im ifw also um nichts Geringeres als die Weltanschauungsfreiheit und
oberste Verfassungsprinzipien in unserem Lande. Gut, dass man einen Juristen
wie Reinhard Merkel dabei an der Seite des Instituts weiß. Denn wie kaum ein zwei-
ter deutscher Jurist bewegt er sich nicht nur im universitären Umfeld auf olympi-
schem Niveau, sondern bringt seine analytisch brillanten Gedanken in eleganter
Sprache seit Jahrzehnten auch außerhalb des Elfenbeinturms ins Parlament und in
die Ministerien sowie über die Medien in die öffentliche Debatte ein. Eine Fähigkeit,
die wir vermutlich der „etwas extravaganten Schleife [s]einer beruflichen Biogra-
phie“6 als Zeit-Redakteur zu verdanken haben. Er operiert ein ums andere Mal mit
eingängigen realen Beispielen und Gedankenexperimenten.7 Denk- und Diskussi-
onsverbote liegen ihm fern. Begriffliche Klar- und logische Folgerichtigkeit hinge-
gen nah. Nicht nur seine Habilitationsschrift zur Früheuthanasie8, sondern sein ge-
samtes Schaffen scheint geleitet von der Maxime, alle erkennbaren rechtlichen
und ethischen Lösungsmöglichkeiten für die behandelten Probleme – unabhängig
von ihrer Popularität bei Regierung, Parteien, Medien oder der öffentlichen Meinung
– offen und unbefangen darzustellen. Von seinen streng rationalen Argumentationen
ließ er sich auch bei moralisierenden Vorwürfen, dass er in einer bestimmten Sach-
frage, bei der Kritik des VN-Migrationspaktes9, auf der politisch verfemten, der „fal-

5
Herausgegeben von Neumann/Czermak/Merkel/Putzke im Nomos Verlag. In der Schrif-
tenreihe erscheinen Monographien und Sammelbände zum Weltanschauungsrecht. Das Her-
ausgeberkollegium entwickelt die Schriftenreihe aus der Perspektive des säkularen, weltan-
schaulich neutralen Rechtsstaates des Grundgesetzes und in Orientierung am Leitbild des
Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw).
6
So die Selbsteinschätzung des Jubilars Merkel, Laudatio für Prof. Georg Meggle zur
Verleihung der Ehrenpräsidentschaft der Gesellschaft für Analytische Philosophie (gap),
Salzburg, 14. 7. 2019, Konzessionsloser Mut zur freien öffentlichen Rede.
7
Erinnert sei insofern nur an die Beispiele des eingeklemmten brennenden Autofahrers
(Merkel, Der Staat darf nicht zum Leben nötigen, ZEIT Online v. 17. 11. 2005) und des
brennenden Labors mit einem Säugling und zehn Embryonen (Merkel, Grundrechte für frühe
Embryonen?, in: Britz/Jung/Koriath/Müller (Hg.), FS für Heinz Müller-Dietz, 2001, S. 493,
510 f.).
8
Merkel, Früheuthanasie, 2001, S. 12 f.
9
Globaler Vertrag für sichere, geordnete und geregelte Migration vom Dezember 2018.
Von der Formung des Rechts auf Weltanschauungsfreiheit 1635

schen Seite“ stehen würde, nicht abbringen. In den Worten des Jubilars: „Ich bin Wis-
senschaftler und Philosoph. Ich würde die Dinge auch dann öffentlich sagen, wenn
ich Applaus von der falschen Seite bekäme. Ich denke mit meinem eigenen Kopf.“10
Merkel würdigte in einer Laudatio jüngst Georg Meggle als Philosophen mit „kon-
zessionslosem Mut zur freien öffentlichen Rede“11 – eine Analyse, die auf ihn als
Jubilar in ebensolchem Maße zutrifft.
Angesichts dessen erscheint es angezeigt, die Beiträge des Jubilars zu den von uns
im ifw bearbeiteten Themen in ihrer gesamten Breite (wenn auch angesichts des be-
grenzenten Umfangs dieses Aufsatzes nicht in ihrer gesamten Tiefe) anzuschauen –
und dabei aus seinen akademischen Schriften, über Zeitungsartikel bis hin zu Inter-
views zu schöpfen.
Was hat das Œuvre des Jubilars Reinhard Merkel in weltanschauungsrechtlicher
Hinsicht zu bieten?

II. Weltanschauungsrecht ist das Recht


auf Weltanschauungsfreiheit
Fragen der Selbstbestimmung – besonders am Lebensanfang und am Lebensende
– begleiten Reinhard Merkel von Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn bis
heute. Seine hierzu verfassten Beiträge von der Stammzellenforschung über die Prä-
implantationsdiagnostik (PID), den Schwangerschaftsabbruch bis zur Sterbehilfe
sind allesamt an Rationalität, dem Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutra-
lität und dem Recht auf Weltanschauungsfreiheit orientiert. Gleichwohl hat er sich
mit der Thematik nicht herausgehoben unter dem Begriff „Weltanschauungsrecht“
befasst (man findet diesen Begriff bei ihm kaum).
Merkels Werk hat jedoch wesentliche Beiträge zur Weiterentwicklung des Welt-
anschauungsrechts geleistet. Dazu gehört die immer wiederkehrende Frage, ob
Rechtspolitik und Rechtsprechung die im Grundgesetz verankerte Freiheit des Indi-
viduums, gemäß seinen eigenen weltanschaulichen Überzeugungen zu leben, in hin-
reichender Weise berücksichtigen. Das Recht auf Weltanschauungsfreiheit umfasst
dabei nach Art. 4 GG nicht nur das Recht, sich zu einer religiösen oder nichtreligiö-
sen Weltanschauung zu bekennen, sondern auch die Freiheit, das eigene Leben nach
diesen weltanschaulichen Überzeugungen zu gestalten, sofern dadurch keine Rechte
Dritter verletzt werden. Denn: Weltanschauungsrecht ist das Recht auf Weltanschau-
ungsfreiheit.

10
Reaktion des Jubilars auf den Vorwurf der ehem. BMJ Katarina Barley, den Rechtspo-
pulisten „argumentativ auf den Leim“ zu gehen. Disput zwischen Katarina Barley und Rein-
hard Merkel, SZ-Interview v. 8. 12. 2018.
11
Merkel, Laudatio für Prof. Georg Meggle zur Verleihung der Ehrenpräsidentschaft der
Gesellschaft für Analytische Philosophie (gap), Salzburg, 14. 7. 2019, Konzessionsloser Mut
zur freien öffentlichen Rede.
1636 Jacqueline Neumann

Ausgewählt sind im Folgenden mit Blick auf ihre Relevanz in aktuellen Debatten
drei de lege lata-Beispiele aus seinem Werk: 1. Der Status des Embryos und die Zu-
lässigkeit der PID, der Forschung an embryonalen Stammzellen sowie des Schwan-
gerschaftsabbruchs, 2. Rettungspflichten bei freiverantwortlichen Suiziden, 3. Ge-
schäftsmäßige Förderung der Selbsttötung und ein Beispiel de lege ferenda: 4. Ver-
bot religiöser Bekleidung.

1. Der Status des Embryos

Der Text des Grundgesetzes und die Judikatur des BVerfG sind laut Merkel für die
Klassifizierung des grundrechtlichen Status des Embryos unergiebig. Ein Grund-
recht auf Leben zum Zeitpunkt seiner biologischen Existenz und ein daraus resultie-
rendes Tötungsverbot lässt sich auf dieser Basis nicht begründen. Zwar hat das
BVerfG in seinen beiden Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch12 betont,
dass der frühe Embryo durch Art. 1 und 2 Abs. 2 GG geschützt sei. Überzeugend
legt Merkel jedoch dar, dass das Gericht diesen Grundrechtsstatus in der zweiten Ab-
treibungsentscheidung bereits selbst wieder derogiert hat und die daran anknüpfende
Rechtspraxis kein Lebens- und Würdegrundrecht des Embryos mehr kennt. Der „be-
ratene“ Schwangerschaftsabbruch soll in Deutschland flächendeckend ermöglicht
und unterstützt werden und wird ohne Einschränkungen als rechtmäßig behandelt.13
Das negative Ergebnis der verfassungsrechtlichen Analyse öffnet dem Brückenbauer
zwischen der Rechtsordnung und der Rechtsethik die Möglichkeit eines Rückgriffs
auf eine ethische Bewertung. Dabei stellt er vorab jedoch klar, dass die Anerkennung
eines grundrechtlichen Schutzes von frühesten Embryonen unter Verweis auf die
Gottesebenbildlichkeit alles menschlichen Lebens in einem weltanschaulich neutra-
len Staat als Grundlage einer verbindlichen Ethik von vornherein inakzeptabel sei.14
Ergebnis seiner eigenen ethischen Analyse: Der gebotene rechtliche Schutz des frü-
hen Embryos erfolgt nicht grundrechtlich, sondern einfachgesetzlich, d. h. in der
Form eines bloßen „Guts“, nicht aber als Leben einer Rechtsperson. Er kann argu-
mentativ über den Schutz seines Potenzials erreicht werden und gründet damit im
ethischen Prinzip der Solidarität. Jedoch ist dieser moralische Status nicht abwä-
gungsfest, so dass der Schutz im Rahmen der Abwägung hinter den therapeutischen
Zielen der Stammzellenforschung oder der PID zurücktreten kann.15 Nur auf diesem
Wege könne auch der „beratene“ Schwangerschaftsabbruch nach § 218a Abs. 1

12
BVerfG, Urt. v. 25. 2. 1975, Az. 1 BvF 1/74 u. a.; Urt. v. 28. 5. 1993, Az. 2 BvF 2/90 u. a.
13
Zum Vorstehenden Merkel, Forschungsobjekt Embryo, 2002, S. 26 – 112; ders., in:
Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hg.), StGB, 5. A. 2017, Vorb. zu § 218, Rn. 14 – 21 m.w.N.
14
Merkel, Forschungsobjekt Embryo, 2002, S. 17 f.
15
Merkel, Forschungsobjekt Embryo, 2002, S. 117 – 189; s.a. ders., Die Abtreibungsfalle,
ZEIT Online v. 13. 6. 2001.
Von der Formung des Rechts auf Weltanschauungsfreiheit 1637

StGB als rechtmäßig klassifiziert und können die Abwägungen des § 218a StGB er-
laubt werden, welche gegenüber Grundrechtsträgern eindeutig unzulässig wären.16
Vor dem Hintergrund seiner Bewertung des Status des Embryos begrüßte Merkel
auch das Urteil des BGH17 zur PID im Jahr 2010. Das Urteil sei zwar „juristisch
falsch, aber moralisch richtig“18. Zudem forderte Merkel den Gesetzgeber auf, die
Indikation für eine erlaubte PID mindestens so weit reichen zu lassen, wie die für
einen späten Schwangerschaftsabbruch nach pränataler Diagnose, um Wertungswi-
dersprüche zu vermeiden.
Im Rahmen der aktuellen Diskussion um die Aufnahme der nicht-invasiven Prä-
nataldiagnostik in den Leistungskatalog der Krankenkassen, löst Merkel zutreffend
das Missverständnis auf, dass ein Schwangerschaftsabbruch nach einer festgestellten
Trisomie 21 des Ungeborenen eine Diskriminierung von Menschen mit Down-Syn-
drom sei, denn der Embryo dürfe nicht wegen seiner „Behinderung“ getötet werden,
sondern weil er ein Embryo sei. Das Argument, dass die Kenntnis der Erkrankung des
Ungeborenen die Schwangere in eine Konfliktlage bringe, welche sie überfordere,
weshalb ihr diese Information nicht durch eine Kassenfinanzierung zugänglich ge-
macht werden solle, bezeichnet Merkel als abwegig.19
Dem ist zuzustimmen: Diese Form der paternalistischen Bevormundung hat ihre
Wurzeln nicht zuletzt im „lutherischen Staatspaternalismus“20 und kann in einem
weltanschaulich neutralen Staat keine Einschränkungen des Selbstbestimmungs-
rechts der betroffenen Frauen begründen. Im Gegenteil müssten diese gerade in
die Lage versetzt werden, sich eigenverantwortlich und unkompliziert ein Urteil
zu bilden und zu entscheiden.
Die Argumentation des Jubilars zum Schutzstatus des Embryos ist nachvollzieh-
bar, darüber hinaus sei aber auch darauf hingewiesen, dass die gegenwärtigen Be-
stimmungen zur Forschung an embryonalen Stammzellen und zum Schwanger-
schaftsabbruch nicht rational, evidenzbasiert und weltanschaulich neutral sind. His-
torisch betrachtet, gab es in der westlichen Zivilisation stets unterschiedliche, auch
politisch begründete, Grundpositionen. Für die griechisch-römische Antike liegen
keine Belege für ein generelles Abtreibungsverbot und die Verurteilung des Schwan-
gerschaftsabbruchs vor. Dies änderte sich mit dem Christentum, da die Verfügungs-
gewalt über das vorgeburtliche Leben dem Individuum nun zugunsten des Schöpfer-
gottes entzogen wurde. Zwar bekämpfte das Frühchristentum Abtreibung und Emp-
fängnisverhütung, legte dem aber die Prämisse der aristotelischen Lehre von der stu-
fenweisen Beseelung zugrunde. Obwohl die Beseelungsfrage mangels Evidenz seit
16
Merkel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hg.), StGB, 5. A. 2017, Vorb. zu § 218,
Rn. 22.
17
BGH, Urt. v. 6. 7. 2010, Az. 5 StR 386/09.
18
Merkel, Lebensrecht und Gentest schließen sich aus, FAZ v. 3. 8. 2010.
19
Zum Vorstehenden Merkel, Von wegen Selektion, FAZ v. 26. 4. 2019.
20
Hierzu und allgemein zum Begriff des Paternalismus Kreß, Paternalismus, in: Hilgen-
dorf u. a. (Hg.), Handbuch Rechtsphilosophie, 2017, S. 409 – 413.
1638 Jacqueline Neumann

jeher umstritten ist, herrschte im Mittelalter unter Theologen im Allgemeinen die


Auffassung, der männliche Embryo werde am 40. und der weibliche am 80. Tag be-
seelt. Kirchenrechtlich behandelte man dementsprechend im Hoch- und Spätmittel-
alter nur die Abtreibung der beseelten Feten als Totschlag, während die Abtreibung
der unbeseelten Leibesfrucht eine wesentlich geringere Verfehlung darstellte. Diese
Differenzierung des kanonischen Rechts fand Eingang ins römische Recht und wurde
von dort in die mittelalterlichen deutschen Kodifikationen übertragen. Erst durch
Papst Pius IX. wurde 1869 die Lehre von der Simultanbeseelung (Beseelung mit Be-
fruchtung) für maßgeblich erklärt. Diese Lehre wurde 1917 in das katholische Ge-
setzbuch übernommen, wird heute von Theologen allgemein vertreten und dient
als Begründung, bereits dem empfindungsunfähigen Embryo die Rechte aus Art. 1
und 2 Abs. 2 GG zuzusprechen.21 Indem der deutsche Gesetzgeber das katholische
Glaubensdogma der Simultanbeseelung des 19. Jahrhunderts (wenn auch in leicht
abgeschwächter Form) ausweislich der Regelung in § 219 Abs. 1 S. 3 StGB
(„… das Ungeborene in jedem Stadium der Schwangerschaft auch ihr gegenüber
ein eigenes Recht auf Leben hat …“) zur allgemein gültigen Norm erhebt, privile-
giert er Menschen, die mit den Vorgaben der katholischen Amtskirche übereinstim-
men und diskriminiert all jene, die diese Überzeugungen nicht teilen. Das sind neben
den vielen Menschen, die religiöse Konzepte per se ablehnen, beispielsweise auch
gläubige Juden (für die das menschliche Leben erst mit der Geburt beginnt22) oder
Muslime (für die der Fötus erst ab dem 120. Tag der Schwangerschaft beseelt
ist23). Überdies ignoriert er die empirische Faktenlage, dass erst mit der 20. Schwan-
gerschaftswoche die Entwicklung der Großhirnrinde beginnt und Embryonen im Ge-
gensatz zu entwickelten Föten bewusstseins- und empfindungsunfähig sind.24 Um
entwickelten Föten Leid zu ersparen, kann der Gesetzgeber mit rationalen, evidenz-
basierten, weltanschaulich neutralen Gründen verfügen, dass Spätabtreibungen nur
in Ausnahmefällen zulässig sind. Dabei kann er sich auch auf den Jubilar berufen, der
sich ausspricht für ein Anwartschaftsrecht des empfindungsfähigen Fötus auf den
künftigen Status als „Mensch“ ab der Mitte des 4. Schwangerschaftsmonats und
eine daraus resultierende Pflicht, seine Entwicklungsbedingungen bereits ab diesem
Zeitpunkt zu garantieren.25 Rationale, evidenzbasierte, weltanschaulich neutrale
Gründe liegen jedoch nicht vor, wenn der Staat bewusstseins- und empfindungsun-

21
Zum Vorstehenden Czermak, Religion und Weltanschauung in Gesellschaft und Recht:
Ein Lexikon für Praxis und Wissenschaft – Stichwort: Schwangerschaftsabbruch, Online-
Fassung, Stand 2017; zur rechtsgeschichtlichen Entwicklung s.a. Merkel, in: Kindhäuser/
Neumann/Paeffgen (Hg.), StGB, 5. A. 2017, Vorb. zu § 218, Rn. 1-12 m.w.N.
22
Werren, Bioethik und Judentum, 11. 12. 2014, Webseite der Bundeszentrale für politi-
sche Bildung.
23
Eich, Bioethik und Islam, 3. 12. 2013, Webseite der Bundeszentrale für politische Bil-
dung.
24
Zum Vorstehenden Schmidt-Salomon, Der blinde Fleck des deutschen Rechtssystems,
in: Neumann/Czermak/Merkel/Putzke (Hg.), Aktuelle Entwicklungen im Weltanschauungs-
recht, 2019, S. 64 – 69.
25
Merkel, Früheuthanasie, 2001, S. 510.
Von der Formung des Rechts auf Weltanschauungsfreiheit 1639

fähigen Embryonen „ein eigenes Recht auf Leben“ einräumt und dieses vermeintli-
che „Recht“ gegen die Selbstbestimmungsrechte der Frauen ausspielt und über ihren
Schwangerschaftsabbruch das Verdikt der Rechtswidrigkeit verhängt.26
Katholische Kirchenrechtler fordern auch heute noch, dass die Gesetzgebung des
säkularen Staates im Einklang mit den Vorgaben der katholischen Kirche und ihrer
Moral- und Soziallehre erfolgen soll,27 und der restriktive Umgang mit dem For-
schungsobjekt Embryo geht auch nach Einschätzung von Theologen zumindest in
Teilen auf kirchliche Einflussnahmen zurück28.
Am Rande sei erwähnt, dass sich die Neuregelung des § 219a StGB von 201929 in
das bestehende gesetzgeberische Schutzkonzept für das ungeborene Leben einpasst.
Das § 219a StGB zugrundeliegende Schutzkonzept entspricht jedoch, wie skizziert,
nicht dem Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates. Das In-
formationsverbot ist Teil einer moralisierenden, auf die Durchsetzung einer religiös-
weltanschaulich bestimmten Sittlichkeit bezogenen Strafnorm. Damit überschreitet
der Staat seine Kompetenzen30 und die Norm ist – nicht zuletzt aus diesem Grund31 –
als verfassungswidrig zu qualifizieren.32

2. Rettungspflichten bei freiverantwortlichen Suiziden

Entgegen der verfassungsrechtlichen Ausgangslage basierte die höchstrichterli-


che Rechtsprechung vor allem in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik in vie-
len Bereichen auf dem christlichen Naturrechtsdenken. So wurde beispielsweise
auch die dem Jubilar vertraute Frage der Strafbarkeit unterlassener Hilfeleistung
(jetzt: § 323c StGB) gegenüber einem Suizidenten vom Großen Strafsenat des
26
Zum Vorstehenden Neumann/Schmidt-Salomon, Stellungnahme zum Referentenentwurf
des BMJV für ein Gesetz zur Verbesserung der Information über einen Schwangerschaftsab-
bruch v. 28. 1. 2019, in: Neumann/Czermak/Merkel/Putzke (Hg.), Aktuelle Entwicklungen im
Weltanschauungsrecht, 2019, S. 357 – 360.
27
Kreß, Staat und Person, 2018, S. 21.
28
Kreß, Sterbehilfe: Die Sicht der Theologie, ihre Prämissen und ihre Schwierigkeiten,
MedR 2018, 790, 794.
29
Gesetz zur Verbesserung der Information über einen Schwangerschaftsabbruch v. 22. 3.
2019, BGBl. I, 350.
30
Vgl. allg. hierzu Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2. A. 2017, S. XXXIII f.
m.w.N.
31
Zahlreiche andere Gründe wurden vorgetragen, auch vom Jubilar. Vgl. nur Merkel,
Stellungnahme für die öffentliche Anhörung im Rechtsausschuss des DBT am 18. 2. 2019 zu
dem Thema „Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Information über einen Schwan-
gerschaftsabbruch“, in: Neumann/Czermak/Merkel/Putzke (Hg.), Aktuelle Entwicklungen im
Weltanschauungsrecht, 2019, S. 345 – 350.
32
Neumann/Schmidt-Salomon, Stellungnahme zum Referentenentwurf des BMJV für ein
Gesetz zur Verbesserung der Information über einen Schwangerschaftsabbruch v. 28. 1. 2019,
in: Neumann/Czermak/Merkel/Putzke (Hg.), Aktuelle Entwicklungen im Weltanschauungs-
recht, 2019, S. 357.
1640 Jacqueline Neumann

BGH im Jahr 1954 unter Rückgriff auf Prämissen des christlichen Naturrechts dis-
kutiert: „Es kann nicht bestritten werden, daß gegenseitige Hilfe in Notfällen einem
von jeher bestehenden sittlichen Gebot entspricht. Die Hilfe für den notleidenden
Nächsten war insbes. immer ein zentrales Gebot der christlichen Lehre. […] Da
jeder Selbstmord – von äußersten Ausnahmefällen vielleicht abgesehen – vom Sit-
tengesetz streng mißbilligt ist, da niemand selbstherrlich über sein eigenes Leben
verfügen und sich den Tod geben darf, kann das Recht nicht anerkennen, daß die Hil-
fepflicht des Dritten hinter dem sittlich mißbilligten Willen des Selbstmörders zu sei-
nem eigenen Tode zurückzustehen habe.“33 Damit ist eine rein axiomatische Behaup-
tung über die Geltung einer (verkappt) religiösen Forderung zur allgemeinverbind-
lichen Rechtsregel aufgestellt und mit einer Strafandrohung versehen worden.34 In
der Folgezeit wurde vom BGH die Auffassung vertreten, die straflose Suizidbeihilfe
zu einer eigenverantwortlichen Selbsttötung schlage in eine strafbare Tötung durch
Unterlassen um, wenn der „Täter“ eine „Garantenstellung“ gegenüber dem Suiziden-
ten innehabe und der Suizident die Möglichkeit zur Beherrschung des Geschehens-
ablaufes verliere, indem er bewusstlos wird („Tatherrschaftswechsel“).35 Das legt die
Vermutung nahe, dass die auf religiöser Naturrechtsauffassung basierende Ideologie
bei diesen Fragen bis in die jüngste Zeit wirksam war.
Erst im Juli 2019 hat der BGH sich mit einem Grundsatzurteil zum ärztlich assis-
tierten Suizid von der referierten Auffassung verabschiedet und die Freisprüche
zweier Mediziner (Christoph Turowski/Johann F. Spittler) bestätigt und damit das
Selbstbestimmungsrecht am Lebensende gestärkt.36 Die Revisionen der Staatsan-
waltschaft hatten argumentiert, dass die Angeklagten nach Eintritt der Bewusstlosig-
keit der Suizidentinnen zur Rettung ihrer Leben verpflichtet gewesen waren. Der
BGH verneinte jedoch in beiden Fällen eine Garantenstellung der Ärzte für das
Leben der Suizidentinnen. Im Fall Turowski befand sich der Arzt zwar zunächst auf-
grund der Übernahme der ärztlichen Behandlung in einer Schutzposition für das
Leben der Frau. Diese Pflichtenstellung änderte sich jedoch, als sie ihren Sterbe-
wunsch äußerte und mit ihm vereinbarte, dass er sie beim Sterben zuhause begleiten
solle. Von da an war seine Aufgabe nur noch die eines Sterbebegleiters. Auch eine
Garantenstellung aus Ingerenz lehnte das Gericht ab. Zwar hätte der Angeklagte sich
über die ärztliche Berufsordnung hinweggesetzt, jedoch entsprach seine Handlung
dem autonomen Willen der Suizidentin. Der Senat hielt grundsätzlich daran fest,
dass auch eine Selbsttötung ein Unglücksfall nach § 323c StGB sei. Vorliegend
sei der Tatbestand von den Ärzten indes nicht verwirklicht worden, da jegliche Ret-

33
BGH, Beschluss v. 10. 3. 1954, Az. GSSt 4/53.
34
So zutreffend Czermak, Religiös-konservative Ideologie als juristisches Erkenntnismit-
tel, Aufklärung und Kritik, SH 9, 2004, 234, 239.
35
BGH, Urt. v. 4. 7. 1984, Az. 3 StR 96/84.
36
BGH, Urt. v. 3. 7. 2019, Az. 5 StR 132/18 (Spittler) und 5 StR 393/18 (Turowski). Die
schriftliche Urteilsbegründung lag zum Zeitpunkt der Abfassung des vorliegenden Beitrags
noch nicht vor. Die Urteilsverkündung ist jedoch abrufbar auf der Facebook-Seite der ARD-
Rechtsredaktion.
Von der Formung des Rechts auf Weltanschauungsfreiheit 1641

tungsmaßnahmen von den Frauen untersagt worden waren und § 323c StGB nicht zu
einer dem erklärten Willen zuwiderlaufenden Hilfeleistung verpflichte. Bestätigt
sieht der Senat sein Ergebnis insbesondere durch § 1901a BGB, seine Rechtspre-
chung zum Behandlungsabbruch37, die Rechtsprechung des BVerfG38, welches
eine „Freiheit zur Krankheit“ anerkenne, die Rechtsprechung des EGMR39 zu
Art. 8 EMRK, wonach eine Person das Recht habe, selbst zu entscheiden, wie und
unter welchen Umständen sie sterben wolle, sowie die Rechtsprechung des
BVerwG40 zum Allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Suizidenten. Es stelle einen
ungerechtfertigten Eingriff in dieses Recht dar, dem ärztlichen Sterbehelfer bei
klar erkennbarem Sterbewunsch eine Pflicht zur Wiederbelebung aufzuerlegen.41
Als Turowski 2018 vom Landgericht Berlin42 freigesprochen worden war, hatte
Merkel betont, dass bereits die Anklage abwegig sei. Dies insbesondere auch des-
halb, weil in dem landgerichtlichen Verfahren neben dem Unterlassen von Rettungs-
maßnahmen eine Strafbarkeit wegen aktiver Sterbehilfe thematisiert worden war, da
der Angeklagte der Suizidentin nach Eintritt der Bewusstlosigkeit eine Spritze gegen
Erbrechen und Übelkeit verabreicht hatte.43 Dass die Unterscheidung zwischen indi-
rekter und aktiver Sterbehilfe unzulänglich ist und der objektive Charakter des Ver-
haltens des Arztes als aktiv oder passiv nicht von seiner subjektiven Absicht abhängen
könne, hat Merkel bereits früher expliziert.44
Bereits vor 30 Jahren, im Jahr 1989, plädierte Merkel in der Zeit45 für eine „ideo-
logiefreie Verständigung über die ethischen und rechtlichen Grundlagen des Lebens-
schutzes“. Die Annahme der Unantastbarkeit gottgegebenen menschlichen Lebens
könne nicht zur Verneinung der Möglichkeit einer Abwägung mit dem Interesse
an der Vermeidung unerträglicher Qualen führen. In Fragen der Sterbehilfe habe je-
weils eine Abwägung der Lebens- und Sterbensinteressen mit Blick auf die konkrete
Situation des Betroffenen zu erfolgen. In seiner Habilitationsschrift zur Früheutha-
37
Grundlegend BGH, Urt. v. 25. 6. 2010, Az. 2 StR 454/09.
38
BVerfG, Beschluss v. 7. 10. 1981, Az. 2 BvR 1194/80; Beschluss v. 2. 6. 2015, Az. 2 BvR
2236/14.
39
EGMR, Urt. v. 20. 1. 2011, Az. 31322/07.
40
BVerwG, Urt. v. 2. 3. 2017, Az. 3 C 19.15. Bestätigt durch Urt. v. 28. 5. 2019, Az. 3 C
6.17.
41
§ 217 StGB war zum Tatzeitpunkt noch nicht in Kraft. Ob die Norm beim BGH zu einer
anderen Entscheidung geführt hätte, namentlich zur Bejahung einer Ingerenzgarantenstellung
aufgrund der Pflichtwidrigkeit geschäftsmäßiger Suizidassistenz, kann hier nicht vertieft
werden (s. hierzu Hoven, Anm. LG Hamburg, Urt. v. 8. 11. 2017, Az. 619 KLs 7/16, NStZ
2018, 281). Abzuwarten bleibt insofern die für Herbst 2019 angekündigte Entscheidung des
BVerfG zu den Verfassungsbeschwerden gegen § 217 StGB.
42
LG Berlin, Urt. v. 8. 3. 2018, Az. 234 Js 339/13.
43
Zit. nach Kensche, Ein wegweisendes Urteil für die Sterbehilfe, WELT v. 8. 3. 2018.
44
Merkel, Aktive Sterbehilfe, in: Hoyer/Müller/Pawlik (Hg.), FS für Friedrich-Christian
Schröder, 2006, S. 297 – 321; ders., Der Staat darf nicht zum Leben nötigen, ZEIT Online v.
17. 11. 2005.
45
Zum Nachstehenden Merkel, Der Streit um Leben und Tod, ZEIT Online v. 23. 6. 1989.
1642 Jacqueline Neumann

nasie weist er darauf hin, dass „das Gebot Gottes“ selbstverständlich nicht als taug-
liche Grundlage für eine säkularisierte Rechtsordnung in Frage komme und als Mo-
ralfundament nicht für allgemein verbindlich erklärt werden könne.46 Doch diese –
für den Jubilar und viele andere – selbstverständliche Einsicht teilt der Gesetzgeber
(noch) nicht in hinreichender Weise. Als aktuelles Beispiel sei hierfür die im Jahr
2015 vom Bundestag beschlossene Kriminalisierung der Sterbehilfe in Form des
§ 217 StGB ins Feld geführt.

3. Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung

Durch die Verabschiedung des § 217 StGB hat der Gesetzgeber die Freiheit der
Bürgerinnen und Bürger, ihr Leben nach den eigenen Überzeugungen zu beenden,
stark beschnitten. Der Gesetzgeber folgte ausweislich der öffentlichen Stellungnah-
men führender Protagonisten des Gesetzes wie dem damaligen CDU-Gesundheits-
minister Hermann Gröhe oder der SPD-Abgeordneten Kerstin Griese dem christli-
chen Menschenbild und der christlichen Sittenlehre und erhob deren Werte zur all-
gemeinverbindlichen Norm. Dass § 217 StGB nicht weltanschaulich neutral ist, lässt
sich überdies auch aus seiner Entstehungsgeschichte ableiten. Die Vorlage für das
Gesetz stammt von einer Stiftung, die vom Malteserorden gegründet wurde. Ratio-
nale, evidenzbasierte und allgemein akzeptierbare Gründe wurden vom Gesetzgeber
für die neue Strafnorm nicht vorgelegt.47 Innerevangelisch wurde die Verabschiedung
des § 217 StGB als gesetzliche Umsetzung der evangelisch-kirchlichen Position zum
Thema Suizidassistenz durch Gröhe gewertet.48
Merkel49 wies bereits im Vorfeld der Verabschiedung des § 217 StGB darauf hin,
dass man je nach ethischer Orientierung den Suizid moralisch für verwerflich halten
könne, er juristisch indes kein Unrecht darstelle. Denn anderenfalls würde der libe-
rale Rechtsstaat den Bürgern eine Rechtspflicht zum Leben auferlegen. Dementspre-
chend dürfe der Staat auch nicht die Hilfe anderer zur autonomen Beendigung des
Lebens als strafrechtliches Unrecht werten. Auf die Frage, ob diese Unterstützung
in organisierter Form durch Vereine geleistet werde oder nicht, käme es dabei
nicht an.
Dass die weltanschauliche Schieflage von § 217 StGB vielen Parlamentariern
möglicherweise gar nicht bewusst war, rührt gewiss auch aus der Tatsache, dass
die Gesetzesvorlage das Recht auf Suizid nicht unmittelbar angriff, sondern bloß mit-
46
Merkel, Früheuthanasie, 2001, S. 468.
47
Zum Vorstehenden und für weitere Erläuterungen Schmidt-Salomon, Freitodhilfe im li-
beralen Rechtsstaat – Stellungnahme zu den Verfassungsbeschwerden gegen § 217 StGB,
27. 9. 2016.
48
Kreß, Sterbehilfe: Die Sicht der Theologie, ihre Prämissen und ihre Schwierigkeiten,
MedR 2018, 790, 793 f.
49
Merkel, „Der Staat darf niemanden zwingen zu leben“, Stern v. 17. 7. 2015; s.a. ders.,
Stellungnahme für die öffentliche Anhörung am 23. 9. 2015 im Ausschuss des DBT für Recht
und Verbraucherschutz.
Von der Formung des Rechts auf Weltanschauungsfreiheit 1643

telbar. De jure kriminalisiert die Norm den Suizid nicht als solchen, de facto aber
läuft die Untersagung der ärztlich assistierten Suizidhilfe auf ein Verbot der Selbst-
tötung und somit auf eine Rechtspflicht zum Leben hinaus.50
Im April 2019 in der mündlichen BVerfG-Verhandlung der Verfassungsbeschwer-
den gegen § 217 StGB konstatierte der Vorsitzende Richter Andreas Voßkuhle, dass
die Modalität des ärztlich assistierten Suizids prägend für die Freiheitswahrnehmung
sei.51 Das Dammbruch-Argument der Parlamentarier, dass in den Ländern, in denen
die Suizidbeihilfe straffrei ist, auch ein Anstieg der Suizidraten zu verzeichnen sei,
veranlasste Richter Johannes Masing zu dem Hinweis, dass das nicht per se eine be-
sorgniserregende Entwicklung sei, sondern vielleicht nur ein Zeichen dafür, dass
mehr Menschen von ihrem Grundrecht auf Selbstbestimmung am Lebensende Ge-
brauch machen würden. Richter Peter M. Huber kam auch auf die Sterbehilfevereine
zu sprechen. Auf Nachfrage von Vertretern der Ärzteschaft äußerte er, dass es natür-
lich keine Pflicht für Ärzte gebe, Suizidhilfe zu leisten. Aber was, wenn sich selbst
nach einem „Ärzte-Hopping“ kein Arzt findet, der den Suizidwilligen unterstützen
möchte? Dann bleiben womöglich nur noch die Sterbehilfevereine. Zu dem umstrit-
tenen Sterbehilfe-Urteil des BVerwG aus dem Jahr 2017 wollte sich der Senat trotz
ausdrücklicher Nachfrage eines Prozessvertreters nicht äußern. Diese Entscheidung
hätte, so Voßkuhle, keine Relevanz für das vorliegende Verfahren. Aus verschiede-
nen Gründen, die hier nicht ausgeführt werden können, ist dieser Hinweis für unzu-
treffend zu erachten.52 Insbesondere aber mit Blick auf die Argumentationskette Hu-
bers greift der Hinweis von Voßkuhle zu kurz. Denn wenn ein Arzt unter Berufung
auf sein Gewissen – richtigerweise – nicht verpflichtet werden kann, Suizidassistenz
zu leisten, so gilt diese Überlegung auch für einen Apotheker. Auch dieser kann mit
Blick auf Art. 4 Abs. 1 Alt. 2 GG nicht verpflichtet werden, dem Suizidwilligen ein
tödliches Medikament zu verkaufen. Dann bleibt aber womöglich nur noch ein An-
trag auf Abgabe von Natrium-Pentobarbital beim Bundesinstitut für Arzneimittel
und Medizinprodukte. Voraussetzung hierfür wäre, dass der Gesetzgeber in Umset-
zung des BVerwG-Urteils die einschlägigen Normen des Betäubungsmittelgesetzes
ändert. Im Rahmen der Änderung könnte auch die mögliche Kollision des BVerwG-
Urteils mit § 217 StGB im BtMG geklärt werden.53

50
Schmidt-Salomon, 㤠217 StGB dient nicht dem Lebensschutz, sondern selbsternannten
Lebensschützern!“ – Stellungnahme vor dem BVerfG, 16. 4. 2019.
51
Diese und die folgenden Fragen und Aussagen stammen aus den Notizen der Verfasserin
aus der mündlichen BVerfG-Verhandlung zu § 217 StGB (geschäftsmäßige Förderung der
Selbsttötung) vom 16./17. 4. 2019.
52
S. hierzu Merkel, Anm. BVerwG, Urt. v. 3. 2. 2017, Az. 3 C 19.15, MedR 2017, 828, 830.
53
Vgl. Merkel, Stellungnahme für die öffentliche Anhörung im Gesundheitsausschuss des
DBT am 20. 2. 2019 zu dem Antrag der FDP-Fraktion „Rechtssicherheit für schwer und un-
heilbar Erkrankte in einer extremen Notlage schaffen“, in: Neumann/Czermak/Merkel/Putzke
(Hg.), Aktuelle Entwicklungen im Weltanschauungsrecht, 2019, S. 198, 204.
1644 Jacqueline Neumann

Nach der zweitägigen Sitzung darf man annehmen, dass § 217 StGB in seiner jet-
zigen Form keinen Bestand haben wird.54 Es steht jedoch nicht zu erwarten, dass das
BVerfG die liberale Rechtslage, welche über 150 Jahre bis zum Inkrafttreten des
§ 217 StGB galt, in Gänze wiederherstellen wird. Wahrscheinlich ist eine prozedu-
rale Lösung dergestalt, dass die Richter dem Gesetzgeber aufgeben werden, ein Ge-
nehmigungsverfahren mit einer interdisziplinär besetzten Expertenkommission zu
etablieren. Die Berichterstatterin Sybille Kessal-Wulf fragte einen Facharzt für
Psychiatrie, wie lange es wohl dauern würde, bis eine interdisziplinäre Expertenkom-
mission Kriterien zur Beurteilung der Freiverantwortlichkeit eines Suizids aufstellen
könnte und Voßkuhle hakte nach, warum beim Behandlungsabbruch und beim ärzt-
lich assistierten Suizid unterschiedlich hohe Anforderungen an die Freiverantwort-
lichkeit gestellt werden würden und ob sich die Kriterien hierfür nicht angleichen
ließen. Richter Huber dachte offen über eine mildere Konstruktion ähnlich der Be-
ratungslösung beim Schwangerschaftsabbruch nach.
Doch auch eine prozedurale Lösung erscheint – je nach Ausgestaltung – nicht un-
problematisch. Namentlich dann, wenn der weltanschaulich neutrale Staat im Rah-
men dessen definieren würde, in welcher Lebenslage ein Suizid als verständlich gel-
ten und dessen Unterstützung dementsprechend straffrei sein könne. Ein weicher Pa-
ternalismus gegenüber dem Betroffenen ist nach Merkel zwar legitim, da die Antwort
auf die Frage nach einem verständlichen Grund zur Selbsttötung als Indiz für die
Ernsthaftigkeit und Stabilität des Suizidentschlusses dienen könne. Jedoch dürfe
der Gesetzgeber nicht abschließend definieren, welches Leid ertragbar sei und wel-
ches nicht.55 Hinzu kommt, dass die Erfahrungen mit den PID-Ethikkommissionen
unter Selbstbestimmungsgesichtspunkten durchaus kritikwürdig erscheinen. Die
ethische Beurteilung der PID obliegt am Ende des Tages nicht mehr den Betroffenen,
sondern der Kommission, welche über moralische, soziale und psychische Aspekte
befindet. Die Zustimmungsfunktion der Ethikkommission führt dazu, dass der Staat
vorab darüber entscheidet, in welchen Fallkonstellationen das vorgeburtliche Leben
auszutragen ist und in welchen der Embryo absterben soll. Damit ist ein unzulässiger
„staatlicher Moralpaternalismus“56 etabliert worden.

4. Verbot religiöser Bekleidung

Eingangs ist die Frage aufgeworfen worden, ob Rechtspolitik und Rechtspre-


chung die im Grundgesetz verankerte Freiheit des Individuums, gemäß seinen eige-
nen weltanschaulichen Überzeugungen zu leben, in hinreichender Weise berücksich-
tigen. Im Rahmen dessen wurden bisher drei Fälle betrachtet, in denen die Weltan-

54
Über die Verfassungsbeschwerden war bei Ablieferung dieses Beitrages noch nicht
entschieden.
55
Merkel, „Der Staat darf niemanden zwingen zu leben“, Stern v. 17. 07. 2015.
56
Zum Vorstehenden Kreß, Gesetz zur Regelung der PID – Ernüchterung und Korrektur-
bedarf nach fünf Jahren, Gynäkologische Endokrinologie 2016, 131, 132.
Von der Formung des Rechts auf Weltanschauungsfreiheit 1645

schauungsfreiheit der Bürger de lege lata in unzulässiger Weise eingeschränkt wird.


Ein Fall einer Einschränkung de lege ferenda wäre ein Burkaverbot für Frauen in der
Öffentlichkeit, wie es in immer mehr Ländern in Europa eingeführt wird und aktuell
in Belgien, Bulgarien, Dänemark, Frankreich, Lettland und Österreich besteht57, oder
aber auch ein Verschleierungsverbot für Repräsentanten des Staates.

a) In der Öffentlichkeit

Wäre ein Burkaverbot im öffentlichen Raum in einem weltanschaulich neutralen


Staat zulässig? Wäre es ggf. sogar erforderlich? Eine offene Gesellschaft kann nur
(fort-)bestehen, wenn der Staat sicherstellt, dass seine Rechtsnormen auch von allen
weltanschaulich-religiösen Gruppierungen beachtet werden. Der Staat muss jeder-
zeit unmissverständlich klarstellen, dass er religiöse oder kulturelle Relativierungen
der Menschenrechte nicht akzeptiert und Weltanschauungsgemeinschaften und ihre
Mitglieder nicht über oder neben dem Gesetz stehen, sondern sich ihm unterordnen
müssen.
Vor diesem Hintergrund stellte der Jubilar im Oktober 2018 nach der Veröffent-
lichung der Missbrauchsstudie der Deutschen Bischofskonferenz58 zusammen mit
fünf Kollegen59 und dem Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) Strafanzeigen
bei allen für die deutschlandweit 27 Diözesen zuständigen Staatsanwaltschaften.
Auf die Frage, ob die Staatsanwaltschaften möglicherweise auch deshalb so zurück-
haltend ermittelten, weil die Kirchen ein grundgesetzlich garantiertes Selbstbestim-
mungsrecht genießen, stellte Merkel klar: „Das hoffe und glaube ich nicht. Denn es
wäre skandalös, gäbe es in Deutschland Institutionen, deren Mitglieder de facto und
gegen das Recht als strafrechtlich immun behandelt würden. Das Selbstbestim-
mungsrecht betrifft nur die interne Organisation der Kirchen, nicht aber die selbst-
verständliche Geltung des Strafrechts. Kirchenmitarbeiter können strafrechtlich ge-
nauso zur Verantwortung gezogen werden wie jeder sonst.“60
Bereits im Rahmen der aufgeheizten Debatte um die Zulässigkeit ritueller Kinder-
beschneidung hatte Merkel vor der Einführung eines religiösen Sonderrechts ge-
warnt, gleichzeitig aber auch auf die singuläre Verpflichtung Deutschlands zur Sen-
sibilität gegenüber jüdischen Belangen hingewiesen und die betroffenen Religions-
gemeinschaften und den Gesetzgeber zur Erarbeitung einer pragmatischen und für
alle Seiten akzeptablen Lösung aufgefordert.61 Nachgekommen sind sie diesem Auf-
57
Wiget, Dänemark ist das sechste Land mit Burkaverbot, Tagesanzeiger v. 2. 8. 2018.
58
Studie „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone
und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ (MHG-
Studie) v. 25. 9. 2018.
59
Reinhard Merkel und Rolf Dietrich Herzberg, Eric Hilgendorf, Ulfrid Neumann, Holm
Putzke, Dieter Rössner.
60
Merkel, Ein Fall für den Staatsanwalt, ZEIT-Interview v. 10. 11. 2018.
61
Merkel, Bescheidung von Jungen ist religiöses Sonderrecht, Deutschlandfunk v. 23. 8.
2012; ders., Die Haut eines Anderen, SZ v. 30. 8. 2012.
1646 Jacqueline Neumann

ruf bislang nicht. Juristische und medizinische Experten kritisieren das 2012 verab-
schiedete Beschneidungsgesetz anhaltend62 und fordern dessen Aufhebung63.
Doch zurück: Auf die Frage, ob die Burka frauenverachtend sei, antwortet Merkel
mit einem klaren „Ja“.64 Die Burka sei aufgrund der dahinterstehenden dominanten
männlichen Religion, die die Frauen in den allermeisten Fällen als subaltern behan-
dele, frauenverachtend. Zwar könnte es Fälle geben, in denen Frauen autonom ent-
scheiden, eine Burka zu tragen, aber auch bei diesen relativ autonomen Entscheidun-
gen könne der zugrunde liegende dominante Einfluss durch den kulturellen Hinter-
grund nicht geleugnet werden. Dennoch könne der liberale Rechtsstaat gegenüber
erwachsenen Frauen kein öffentliches Burkaverbot verhängen. Dies würde einen un-
zulässigen Paternalismus bedeuten. Das ist nach hiesiger Auffassung und entgegen
der Rechtsprechung des EGMR65 richtig. Da aber erhebliche Teile des Islam einer
vormodernen Religion anhängen, so Merkel weiter, muss der säkulare Staat auch
im Streit um die Burka deutlich machen, dass eine religiöse Sondererziehung für
Kinder ausgeschlossen ist.

b) Im öffentlichen Dienst

Anders stellt sich die Rechtslage bezüglich Bekleidungsverboten im öffentlichen


Dienst dar. Von Interesse ist insofern auch ein im Juni 2017 neu in Kraft getretenes
Gesetz: das „Gesetz zu bereichsspezifischen Regelungen der Gesichtsverhüllung
und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften“66. Hiermit wird u. a. ein
dienstliches Verschleierungsverbot für Beamtinnen, Richterinnen und Soldatinnen
statuiert. Ausweislich der Gesetzesbegründung verletzt eine solche Verhüllung
von Beamtinnen das weltanschauliche Neutralitätsgebot des Staates, denn der
Staat sei verpflichtet, weltanschaulich-religiös neutral aufzutreten.67 Soweit ersicht-
lich, ist dieses Gesetz das erste Bundesgesetz in der Geschichte der Bundesrepublik,
welches explizit unter Verweis auf das weltanschauliche Neutralitätsgebot des Staa-
tes beschlossen worden ist. In vergleichbarer Stoßrichtung hat sich der Jubilar für ein
Vollverschleierungsverbot für Lehrerinnen in Grundschulen ausgesprochen.68 Ich
möchte noch einen Schritt weiter gehen und die Einführung von Neutralitätsgesetzen

62
Statt aller Albert, Ärzte kritisieren Beschneidungsgesetz, SPIEGEL v. 11. 12. 2017.
63
Statt aller Eschelbach/Franz/Scheinfeld, Kinderbeschneidung und politische Verant-
wortung, in: Neumann/Czermak/Merkel/Putzke (Hg.), Aktuelle Entwicklungen im Weltan-
schauungsrecht, 2019, S. 361 – 367; s.a. Merkel, Minima moralia, FAZ v. 25. 11. 2012, der
bereits zum Gesetzesentwurf zahlreiche Korrekturbedarfe aufgezeigt hat.
64
Merkel, Die Burka. Ein philosophischer Blick hinter den Schleier, SRF Sternstunde
Philosophie v. 4. 9. 2016.
65
Zuletzt EGMR, Urt. v. 11. 7. 2017, Az. 37798/13 u. a.
66
BGBl. I 2017, 1570.
67
BT-Drs. 18/11180, 1.
68
Merkel, Die Burka. Ein philosophischer Blick hinter den Schleier, SRF Sternstunde
Philosophie v. 4. 9. 2016.
Von der Formung des Rechts auf Weltanschauungsfreiheit 1647

in allen Bundesländern befürworten. An diesem Punkt konfligiert meine Auffassung


mit der des Jubilars, welcher muslimischen Lehrerinnen an öffentlichen Schulen das
Tragen eines Kopftuchs in Form eines grundgesetzlichen Verbots mit Erlaubnisvor-
behalt gestattet wissen will69. Doch darf die Regierung in staatlichen Gebäuden das
religiöse Symbol eines bestimmten Glaubens anbringen? Und dürfen Staatsvertreter
im Dienst mit auffälliger religiöser Kleidung für ihre Glaubensüberzeugungen wer-
ben – noch dazu vor minderjährigen, gesetzlich zur Anwesenheit verpflichteten
Schülern? Mit Blick auf das Neutralitätsgebot der Verfassung ist diese Frage zu ver-
neinen, da damit eine verbotene von ihm ausgehende (Kreuz) bzw. ihm zuzurechnen-
de (Kopftuch) Identifizierung des Staates mit einer bestimmten Weltanschauung ein-
hergeht. Gründe für eine unterschiedliche Behandlung dieser zwei Fallgruppen unter
dem Gesichtspunkt der staatlichen Neutralitätspflicht sind nicht ersichtlich. Weder
die Rechtsprechung des EGMR, noch die des BVerfG sind insofern konsistent.
Der EGMR70 hält – kurz gesagt – Kreuze in Klassenzimmern für zulässig, wohinge-
gen Lehrerinnen Kopftücher verboten werden dürfen. Das BVerfG sieht es genau an-
ders herum.71
Das BVerfG hat dabei 2015 insbesondere verkannt, dass die Grundrechte der Leh-
rerin von vorneherein von den zwingenden Erfordernissen der Amtsausübung und
des Schulfriedens sowie dem Neutralitätsgebot überlagert sind. Denn es ist doch
so: Die Schule ist für Lehrer nicht vorrangig ein Ort der Glaubensausübung, sondern
der Wahrnehmung dienstlicher Pflichten (Art. 33 Abs. 5 GG).72
Die fundamentale Bedeutung des Neutralitätsgebotes im säkularen Staat erkannte
hingegen der EuGH, als er 2017 urteilte, dass Arbeitgeber das Tragen von Kopftü-
chern in ihrem Unternehmen verbieten können. Der generelle Wille, im Verhältnis
zu den Kunden eine Politik der religiösen, philosophischen und politischen Neutra-
lität zum Ausdruck zu bringen, sei als berechtigtes Ziel zu qualifizieren und bilde
einen Bestandteil der unternehmerischen Freiheit. Dahinter habe die Religionsfrei-
heit der Arbeitnehmerin zurückzustehen.73 Was für einen privaten Arbeitgeber gilt,
welcher seine unternehmerische Freiheit in die Waagschale wirft, muss erst recht für
den Staat gelten, bei dem die Religionsfreiheit der Lehrerin gegen den öffentlichen
Erziehungsauftrag und die Integrationsfähigkeit des Staates abzuwägen ist.74 In
einem weiteren Urteil führte der Gerichtshof aus, dass für ein rechtmäßiges Kopf-
tuchverbot gerade nicht auf einen konkreten Konflikt im Einzelfall abgestellt werden
dürfe, sondern ein solches Verbot abstrakt gelten müsse, um rechtmäßig zu sein. Ge-
69
Merkel, Ein frommer Wunsch, FAZ v. 1. 4. 2015.
70
EGMR, Urt. v. 18. 3. 2011, Az. 30814/06 (Kreuz) und Urt. v. 15. 2. 2001, Az. 42393/98
(Kopftuch).
71
BVerfG, Beschluss v. 16. 5. 1995, Az. 1 BvR 1087/91 (Kruzifix) und Beschluss v. 27. 1.
2015, Az. 1 BvR 471/10 u. a. (Kopftuch).
72
Czermak, Anm. BVerfG, Beschluss v. 27. 1. 2015, Az. 1 BvR 471/10 u. a., Webseite des
ifw.
73
EuGH, Urt. v. 14. 3. 2017, Az. C-157/15.
74
Degenhart, Nachdenken über Religionsfreiheit, NJW 2017, 7.
1648 Jacqueline Neumann

rade ein Kopftuchverbot nur aufgrund der Beschwerde eines Kunden („bitte nächstes
Mal keinen Schleier tragen, sonst komme ich nicht wieder“) sei als nicht gerechtfer-
tigte unmittelbare Diskriminierung zu qualifizieren.75 Diese Rechtsprechung aus Lu-
xemburg ist von den deutschen Gerichten zu beachten.
Übrigens argumentierte der Jubilar im Rahmen seiner Kritik an der zweiten Kopf-
tuch-Entscheidung des BVerfG aus 2015 ganz ähnlich wie später der EuGH: Folge
des Beschlusses sei es, dass die Ausübung der Religionsfreiheit an der öffentlichen
Missbilligung durch andere ende, was mit dem Begriff eines subjektiven Rechts un-
vereinbar sei. Das bloße Tragen eines Kopftuchs in Ausübung der Religionsfreiheit
berührt nach dem Senat weder die verfassungsimmanente Schranke des Schulfrie-
dens noch das Erziehungsrecht der Eltern oder die negative Religionsfreiheit der
Schüler, weshalb ein generell-abstraktes Kopftuchverbot unverhältnismäßig sei.
Wenn durch eine zulässige Grundrechtsausübung dennoch Konflikte entstünden
und der Schulfrieden gestört werde, könne die Intoleranz der anderen der Kopftuch-
trägerin aber nicht zugerechnet und sie zur Abnahme verpflichtet werden, so Merkels
treffende Analyse.76
Am Rande: Diese Problematik erinnert stark an die Umkehrung des Täter-Opfer-
Verhältnisses bei § 166 StGB. Die etwaige Beschimpfung eines religiösen Bekennt-
nisses ist als solche nämlich nicht strafbar. Sie wird es erst dann, wenn sie den „öf-
fentlichen Frieden“ stört. Der beschimpfte Religionsangehörige entscheidet also, ob
er sich gestört fühlt, und begründet dadurch erst selbst die Strafbarkeit der „Be-
schimpfung“. Merkel schreibt in seiner Analyse des Werks von Karl Kraus, dass
das Delikt der Bekenntnisbeschimpfung in einer säkularen Rechtsordnung rational
nicht begründbar sei.77 Die Norm fördert falsche Erwartungen von Gläubigen an
den säkularen Staat. Um dem weltanschaulichen Neutralitätsgebot auch in der
Rechtspraxis eine stärkere Geltung zu verschaffen, votiert eine stetig wachsende
Zahl von Rechtswissenschaftlern für die Abschaffung des § 166 StGB.78 Doch das
ist ein anderes Thema.

III. Weltanschauliche Schieflage


Bei genauerer Betrachtung unseres Rechtssystems wird anhand der ersten drei
Beispiele deutlich, dass Rechtsnormen und staatliche Einrichtungen nicht weltan-
schaulich neutral gehalten sind, sondern auf spezifischen weltanschaulichen (zu-
meist christlichen) Prämissen beruhen. Wie das letzte Beispiel zur religiösen Beklei-

75
EuGH, Urt. v. 14. 3. 2017, Az. C-188/15.
76
Zum Vorstehenden Merkel, Ein frommer Wunsch, FAZ v. 1. 4. 2015.
77
Merkel, Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus, 2. A. 2016, S. 421.
78
Statt aller Fischer, Ist Gotteslästerung ein notwendiger Straftatbestand?, ZEIT Online v.
3. 3. 2015.
Von der Formung des Rechts auf Weltanschauungsfreiheit 1649

dung ausweist, kommen heute Tendenzen zur Durchsetzung der Scharia hinzu.79
Dies alles verstößt gegen oberste Verfassungsprinzipien.
Gesetze, die einer speziellen, religiösen Ethik entsprechen, stehen im Wider-
spruch zum Neutralitätsliberalismus und zum objektiven Verfassungsgebot der welt-
anschaulichen Neutralität des Staates und können mithin auch nicht mit dem Vorhan-
densein einer entsprechenden parlamentarischen Mehrheit gerechtfertigt werden.80
Das Neutralitätsgebot beinhaltet nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG ein
Identifikations-, Privilegierungs- und Diskriminierungsverbot: Dem Staat ist es ver-
wehrt, sich durch von ihm ausgehende oder ihm zuzurechnende Maßnahmen mit
einer bestimmten Weltanschauung zu identifizieren und dadurch den religiösen Frie-
den in einer Gesellschaft von sich aus zu gefährden.81 Eine inhaltliche Orientierung
am kulturgeschichtlichen Erbe des Christentums oder anderer religiöser und nicht-
religiöser Weltanschauungen ist nach dem Grundgesetz nicht zulässig.82 Der Text des
Grundgesetzes bietet – entgegen immer wieder vorgetragenen Behauptungen – keine
Anhaltspunkte für eine spezielle Privilegierung der christlichen Religion oder ihrer
Religionsgemeinschaften. Insbesondere hat der Gottesbezug in der Präambel des
Grundgesetzes keine normative Bedeutung und gestaltet den säkularen Inhalt der
Verfassung nicht um.83
Es sind umfassende rechtspolitische Anstrengungen erforderlich, damit das Neu-
tralitätsgebot nicht auch in Zukunft die wohl am stärksten missachtete Forderung der
Verfassung bleibt.84 Der Jubilar Reinhard Merkel hat sich immer als höchst aufmerk-
sam und unbeugsam bei jeglichen weltanschaulichen Schieflagen gezeigt.

IV. Fazit: Neutralitätsgebot von zwei Seiten unter Druck


Heute werden das Recht auf Weltanschauungsfreiheit und der weltanschaulich
neutrale Staat vor allem von zwei Seiten unter Druck gesetzt: Erstens von der evan-

79
Vgl. hierzu Bundesamt für Verfassungsschutz, Islamismus: Entstehung und Erschei-
nungsformen, 2013, S. 22: „Um ihre Vorstellungen umzusetzen, betreiben Funktionäre und
Unterstützer dieser Organisationen Lobbyarbeit. Sie nutzen dabei intensiv die Möglichkeiten
des deutschen Rechtsstaates („Gang durch die Instanzen“). Nach innen sollen für die Mit-
glieder umfassende und dauerhafte Freiräume für ein schariakonformes Leben geschaffen
werden. Dadurch können sich jedoch islamistisch geprägte Parallelgesellschaften entwi-
ckeln …“.
80
Czermak, Religion und Weltanschauung in Gesellschaft und Recht: Ein Lexikon für
Praxis und Wissenschaft – Stichwort: Liberale Rechtstheorie, Online-Fassung, Stand 2017.
81
Statt aller BVerfG, Beschluss v. 18. 10. 2016, Az. 1 BvR 354/11.
82
Germann, in: Epping/Hillgruber (Hg.), GG, Stand 1. 3. 2016, Art. 4, Rn. 16.
83
Siehe hierzu die umfassende Analyse von Czermak, Das System des Weltanschauungs-
rechts im Grundgesetz, in: Neumann/Czermak/Merkel/Putzke (Hg.), Aktuelle Entwicklungen
im Weltanschauungsrecht, 2019, S. 27 – 59.
84
Czermak/Hilgendorf, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2. A. 2018, S. 93.
1650 Jacqueline Neumann

gelischen und katholischen Kirche mit dem Beharren auf ihren überkommenen Nor-
men im staatlichen Recht. Zweitens vom legalistischen Islamismus zur Durchset-
zung der Scharia und den Forderungen von Islamverbänden, die sich an den Sonder-
rechten und Privilegien der christlichen Kirchen orientieren.85
Aus Merkels Argumenten in den genannten Beispielen de lege lata und de lege
ferenda lassen sich auch in Zukunft substantielle Anleihen nehmen, wenn es
darum geht, in der Arena des Weltanschauungsrechts das Neutralitätsgebot gegen-
über all den übergriffigen Normen und Forderungen juristisch zu verteidigen und
dabei das Recht auf Weltanschauungsfreiheit weiter dahingehend zu formen, dass
es der Selbstbestimmung des Menschen in einer freiheitlichen Gesellschaft dient.
Dabei geht es nicht um eine auch in der rechtlichen Wertung positive oder negative
Freiheit, sondern lediglich um Aspekte ein- und derselben Freiheit.
Die Freiheits- und Gleichheitsrechte der Verfassung sind im Sinne einer ethischen
Neutralitätsverpflichtung des Staates zu interpretieren: Im Interesse eines effektiven
Schutzes individueller Freiheit und Gleichheit verbieten sie nicht nur – über den
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – zu intensive Eingriffe, sondern auch Eingriffe
aus den falschen Gründen. Da aus dem Neutralitätsgebot folgt, dass Grundrechtsein-
griffe aufgrund religiöser Überzeugungen von vornherein unzulässig sind86, muss die
Prüfung der Einhaltung des Neutralitätsgebotes der Verhältnismäßigkeitsprüfung
vorgelagert sein und nach der Neutralität im Vorfeld der Abwägung unter dem Ge-
sichtspunkt der Legitimität des Regelungszweckes gefragt werden.87
Das bedeutet keineswegs, dass religiöses Gedankengut keine wesentliche Rolle
im demokratischen Prozess spielen dürfe. Sobald sich aber religiös motivierte Regeln
im Gesetzgebungsprozess durchsetzen, müssen sich diese Ergebnisse vor allen Bür-
gern rechtfertigen lassen. Der liberale Rechtsstaat darf sich nicht zum Anwalt einer
spezifischen religiösen oder nichtreligiösen Weltanschauung aufschwingen und
deren Werte zur allgemeinverbindlichen Norm erheben. Die einzigen Werte und
Prinzipien, welche sich die Bundesrepublik Deutschland in legaler und legitimer
Weise zu eigen machen und aktiv fördern sollte, sind die Grundrechte und sonstigen
Verfassungsgebote des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats.

85
Neumann/Schmidt-Salomon, Was ist Weltanschauungsrecht?, in: Neumann/Czermak/
Merkel/Putzke (Hg.), Aktuelle Entwicklungen im Weltanschauungsrecht, 2019, S. 23.
86
BVerfG, Beschluss v. 16. 10. 1968, Az. 1 BvR 241/66.
87
Zum Vorstehenden Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2. A. 2017, S. 653 – 657.
Publikationen Reinhard Merkel

I. Bücher
1. Monographien
1. Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus. Juristische Dissertation München; Nomos
Verlag Baden-Baden, 1994; ausgezeichnet als „Juristisches Buch des Jahres“ 1996; Ta-
schenbuchausgabe Suhrkamp Verlag, 1998
2. „Früheuthanasie“ – Rechtsethische und strafrechtliche Grundlagen ärztlicher Entscheidun-
gen über Leben und Tod in der Neonatalmedizin, Nomos Verlag Baden-Baden, 2001; un-
veränd. Nachdr. 2005
3. Forschungsobjekt Embryo – Verfassungsrechtliche und ethische Grundlagen der Forschung
an menschlichen embryonalen Stammzellen, dtv, 2002
4. Intervening in the Brain. Changing Psyche and Society (zusammen mit G. Boer, J. Fegert, T.
Galert, D. Hartmann. B. Nuttin, S. Rosahl), Springer Verlag Berlin/Heidelberg/New York,
2007
5. Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung,
Nomos Verlag Baden-Baden, 2008; 2. Aufl. 2014; „Juristisches Buch des Jahres“ 2008
6. Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1. Hamburger Examenskurs – Skriptenreihe Bd. 17,
Mauke & Schweitzer, 2008
7. Nutzen und Schaden aus klinischer Forschung am Menschen. Abwägung, Equipoise und
normative Grundlagen (zusammen mit Joachim Boos/Heiner Rasp/Bettina Schöne-Seifert),
Deutscher Ärzteverlag Köln, 2009

a) Gesetzeskommentierungen
8. Kommentierung §§ 218 bis 219b. des Strafgesetzbuchs, in: Urs Kindhäuser/Ulfrid Neu-
mann/Hans-Ullrich Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. II,
Nomos Verlag Baden-Baden , 5. Aufl. 2017 (1. Aufl. 2003; 2. Aufl. 2005; 3. Aufl. 2010;
4. Aufl. 2013), S. 1902 – 2106

b) Mitautorschaft an Stellungnahmen des Deutschen Ethikrats


9. Die Zukunft der genetischen Diagnostik – von der Forschung in die klinische Anwendung,
2013
10. Biosicherheit – Freiheit und Verantwortung in der Wissenschaft, 2014
1652 Publikationen Reinhard Merkel

11. Ad-hoc-Empfehlung: Stammzellforschung – Neue Herausforderungen für das Klonverbot


und den Umgang mit artifiziell erzeugten Keimzellen, 2014
12. Ad-hoc-Empfehlung: Zur Regelung der Suizidbeihilfe in einer offenen Gesellschaft: Deut-
scher Ethikrat empfiehlt gesetzliche Stärkung der Suizidprävention, 2014
13. Hirntod und Entscheidung zur Organspende, 2015
14. Embryospende, Embryoadoption und elterliche Verantwortung, 2016
15. Patientenwohl als ethischer Maßstab für das Krankenhaus, 2016
16. Suizidprävention statt Suizidunterstützung. Erinnerung an eine Forderung des Deutschen
Ethikrates anlässlich einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, 2017
17. Ad-hoc-Empfehlung: Keimbahneingriffe am menschlichen Embryo: Deutscher Ethikrat for
dert globalen politischen Diskurs und internationale Regulierung, 2017
18. Big Data und Gesundheit – Datensouveränität als informationelle Freiheitsgestaltung, 2017
19. Hilfe durch Zwang? Professionelle Sorgebeziehungen im Spannungsfeld von Wohl und
Selbstbestimmung, 2018
20. Eingriffe in die menschliche Keimbahn, 2019
21. Impfen als Pflicht?, 2019
22. Robotik für gute Pflege, 2020
23. Vernünftiger Umgang mit Tieren. Zum Schutz des Tierwohls in der Massentierhaltung,
2020
(Alle Stellungnahmen verfügbar unter: https://www.ethikrat.org/publikationen/. Herausge-
ber jeweils: Deutscher Ethikrat)

2. Herausgeberschaften
1. Moderne Medizin und Strafrecht (zusammen mit Arthur Kaufmann, Konstantin Papageor-
giou, Ulrich Schroth, Monika Voss), C.F. Müller Verlag Heidelberg, 1989
2. Zur Debatte über Euthanasie (zusammen mit Rainer Hegselmann), Suhrkamp Verlag Frank-
furt/M. 1991; 2. Aufl. 1992
3. „Zum ewigen Frieden“ – Über Grundlagen, Inhalt und Aussichten einer Idee von Immanuel
Kant (zusammen mit Roland Wittmann), Suhrkamp Verlag Frankfurt/M., 1996
4. Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht, Suhrkamp Verlag Frankfurt/M. 2000; 2. Aufl. 2001
5. Festschrift für Klaus Lüderssen (zusammen mit Cornelius Prittwitz u. a.), Nomos Verlag
2002
6. Strafrecht zwischen System und Telos. Festschrift für Rolf D. Herzberg (zusammen mit
Holm Putzke, u. a.), Mohr Siebeck Tübingen, 2008
7. Rationalität und Empathie. Kriminalwissenschaftliches Symposion für Klaus Lüderssen
zum 80. Geburtstag (zusammen mit Cornelius Prittwitz u. a.) , Nomos Verlag 2014
8. Aktuelle Entwicklungen im Weltanschauungsrecht, Nomos Verlag 2019 (zusammen mit
Jacqueline Neumann, Gerhard Czermak und Holm Putzke), Nomos Verlag 2019
Publikationen Reinhard Merkel 1653

a) Herausgeber Buchreihen
9. Serie Piper Porträt, zusammen mit Martin Gregor-Dellin; insgesamt 25 Bände mit Porträts
bedeutender Gestalten der Kultur-, Geistes- und Wissenschaftsgeschichte
10. Angewandte Ethik. Verlag Alber, Freiburg (zus. mit Nikolaus Knoepffler u. a.), seit 2007

b) Übersetzung und Neubearbeitung


11. Allan Janik/Stephen Toulmin, Wittgensteins Wien, umfassend neu bearbeitet, übersetzt
und mit einem Nachwort versehen von Reinhard Merkel, München 1984 (2. Aufl.
1985), Taschenbuchausgabe Piper Verlag München-Zürich 1987 (2. Aufl. 1988); 3. Auf-
lage 1998, Döcker Verlag, Wien

II. Aufsätze und Abhandlungen in Büchern und Zeitschriften


1. Rechtswissenschaftliche Arbeiten
1. „Là où contre la nature, ils font prévaloir les normes…“ – Remarques sur le rapport entre le
droit pénal et la satire dans l’ oeuvre de Karl Kraus, in: Austriaca, No. 22, „Karl Kraus“,
Paris 1986, S. 83 ff.
2. „Wo gegen Natur sie auf Normen pochten“ – Zum Verhältnis zwischen Strafrecht und Sa-
tire im Werk von Karl Kraus, in: Literatur und Kritik (Wien), 1987, S. 444 ff.
3. Dass. (erweitert und um Anmerkungen ergänzt), in: J. Schönert (Hrsg.), Erzählte Krimina-
lität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Pu-
blizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920, Tübingen 1991, S. 607 ff.
4. Der ärztliche Grenzbereich zwischen Leben und Tod, Einleitung, in: A.Kaufmann u. a.
(Hrsg.), Moderne Medizin und Strafrecht, C.F. Müller Verlag Heidelberg 1989, S. 113 ff.
5. Teilnahme am Suizid – Tötung auf Verlangen – Euthanasie. Fragen an die Strafrechtsdog-
matik, in: R. Hegselmann/R. Merkel (Hrsg.), Zur Debatte über Euthanasie, Suhrkamp Ver-
lag Frankfurt/M. 1991, S. 71 ff.
6. Politik und Kriminalität. Über einige vernachlässigte Probleme der deutsch-deutschen Ver-
gangenheitsbewältigung durch Strafrecht, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Politik ohne Pro-
jekt? Nachdenken über Deutschland, Suhrkamp Verlag Frankfurt/M. 1993, S. 298 ff.
7. Franz von Liszt und Karl Kraus, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 105
(1993), S. 871 ff.
8. Arthur Kaufmann zum 70. Geburtstag, in: Juristenzeitung 1993, S. 570 f.
9. Zaungäste? Über die Vernachlässigung philosophischer Argumente in der Strafrechtswis-
senschaft (und einige verbreitete Mißverständnisse zu § 34 StGB), in: Institut für Krimi-
nalwissenschaften Frankfurt a. M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts,
Frankfurt/M. 1995, S. 171 ff.
10. Tödlicher Behandlungsabbruch und mutmaßliche Einwilligung bei Patienten im apalli-
schen Syndrom. Zugleich eine Besprechung von BGH, NJW 1995, 204, in: Zeitschrift
für die gesamte Strafrechtswissenschaft 107 (1995), S. 545 ff.
1654 Publikationen Reinhard Merkel

11. Nürnberg 1945, Militärtribunal. Grundlagen, Probleme, Folgen, in: Rechtshistorisches


Journal 14 (1995), S. 491 ff.
12. Der Nürnberger Prozeß, in: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.), 200 Tage und
ein Jahrhundert. Gewalt und Destruktivität im Spiegel des Jahres 1945, Hamburger Edition
1995, S. 105 ff.
13. Das Recht des Nürnberger Prozesses: Gültiges – Fragwürdiges – Überholtes, in: Evangeli-
sche Akademie Tutzing/Nürnberger Menschenrechtszentrum (Hrsg.), Von Nürnberg nach
Den Haag. Menschenrechtsverbrechen vor Gericht, Europäische Verlagsanstalt – Wissen-
schaft, Hamburg, 1996
14. Strafzweck und Satire. Eine normtheoretische Analyse des satirischen Prinzips am Bei-
spiel der Fackel des Karl Kraus, in: C. Schildknecht/D. Teichert (Hrsg.), Philosophie in
Literatur, Suhrkamp Verlag. 1996, S. 299 ff.
15. „Lauter leidige Tröster“? – Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“ und die Idee eines Völ-
kerstrafgerichtshofs, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 82 (1996), S. 161 ff.
16. Ärztliche Entscheidungen über Leben und Tod in der Neonatalmedizin. Ethische und straf-
rechtliche Probleme, in: Juristenzeitung 1996, 1145 ff.
17. Ärztliche Entscheidungen im Grenzbereich zwischen Leben und Tod, in: Riccardo Bon-
franci (Hrsg.), Zwischen allen Stühlen. Die Kontroverse zu Ethik und Behinderung, Harald
Fischer Verlag, 1998, S. 133 ff.
18. Extrem unreife Frühgeborene und der Beginn des strafrechtlichen Lebensschutzes, in:
Rechtsphilosophische Hefte, hgg. von G. Orsi/K. Seelmann/S. Smid/U. Steinvorth, Bd.
VIII, 1998, S. 103 ff.
19. Universale Jurisdiktion bei völkerrechtlichen Verbrechen, in: Klaus Lüderssen (Hrsg.),
Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse?, Band III, Nomos Verlag
1998, S. 237 ff.
20. Die chirurgische Trennung sogenannter siamesischer Zwillinge. Ethische und strafrecht-
liche Probleme, in: Jan C. Joerden (Hrsg.), Der Mensch und seine Behandlung in der Me-
dizin, Springer Verlag 1998, S. 175 ff.
21. Hirntod und kein Ende. Zur notwendigen Fortsetzung einer unerledigten Debatte, in: Jura
1999, S. 113 ff.
22. Ärztliche Entscheidungen über Leben und Tod in der Perinatalmedizin, in: Gerd Bruder-
müller (Hrsg.), Angewandte Ethik und Medizin, Würzburg 1999, S. 131 ff.
23. Personale Identität und die Grenzen strafrechtlicher Zurechnung. Annäherung an ein un-
entdecktes Grundlagenproblem der Strafrechtsdogmatik, in: Juristenzeitung 1999,
S. 502 ff.
24. Das Elend der Beschützten. Über die Grundlagen der Legitimität sog. humanitärer Inter-
ventionen am Beispiel der Nato-Aktion im Kosovo-Krieg, in: Kritische Justiz 1999,
S. 526 ff.
25. Dass. (überarbeitet und erweitert), in: Reinhard Merkel (Hrsg.), Der Kosovo-Krieg und
das Völkerrecht, Suhrkamp Verlag 2000, S. 66 ff.
Publikationen Reinhard Merkel 1655

26. „Wrongful birth – wrongful life“: Die menschliche Existenz als Schaden?, in: Ulfrid Neu-
mann/Lorenz Schulz (Hrsg.), Verantwortung in Recht und Moral, Archiv für Rechts- und
Sozialphilosophie, Beiheft 74,, 2000, S. 173 ff.
27. Grundrechte für frühe Embryonen?, in: Heike Jung (Hrsg.) Festschrift für Heinz Müller-
Dietz, Beck Verlag, München 2001, S. 493
28. Grundrechte für frühe Embryonen? – Normative Grundlagen der Präimplantationsdia-
gnostik und der Forschung an embryonalen Stammzellen, in: Gisela Bockenheimer-Lucius
(Hrsg.) Forschung an embryonalen Stammzellen, 2001, Deutscher Ärzte Verlag 2002,
S. 41 ff.
29. Dass., in: Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen. Jahrbuch 2000/2001, S. 180 ff.
30. Grundrechte für frühe Embryonen?, in: Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (Hrsg.),
Wider die Natur, 2003, S. 23 ff.
31. Embryonenschutz, Grundgesetz und Ethik. Über verfassungsrechtliche Missverständnisse
und moralische Grundlagen im Streit um die Forschung an embryonalen Stammzellen, in:
Deutsche Richterzeitung 2002, S. 184 ff.
32. Dass., in: Walter Schweidler/Herbert A. Neumann/Eugen Brysch (Hrsg.), Menschenleben,
Menschenwürde, Lit Verlag 2003, S. 151 ff.
33. Gründe für den Ausschluss der Strafbarkeit im Völkerstrafrecht, in: Zeitschrift für die ge-
samte Strafrechtswissenschaft, 2002, S. 437 ff.
34. Wer war Rüttgerodt? Aus einigen bislang kaum inspizierten Geheimfächern der Literatur-,
der Kriminologie- und der Strafrechtsgeschichte, in: Cornelius Prittwitz u. a. (Hrsg.), Fest-
schrift für Klaus Lüderssen, Nomos Verlag 2002, S. 899 ff.
35. Verbrauchende Embryonenforschung und Grundgesetz – Rechtsphilosophische Anmer-
kungen zur verfassungsrechtlichen Debatte über die Forschung an embryonalen Stamm-
zellen, in: Thomas Hillenkamp (Hrsg.), Medizinrechtliche Probleme der Humangenetik,
Springer Verlag 2002, S. 35 ff.
36. Direitos fundamentales para a mórula? Fundamentos normativos do diagnóstica de préim-
plantação e da pesquisa de células-tronco de embriões, in: Draiton G. Souza/Bernardo
Erdtmann (Hrsg.), Ética e Genética. Coleção: Filosofia 165 (Brasilien), 2003, S. 45 ff.
37. Nichttherapeutische klinische Studien an Einwilligungsunfähigen: Rechtsethisch legitim
oder verboten?, in: Erwin Bernat/Wolfgang Kröll (Hrsg.), Recht und Ethik der Arzneimit-
telforschung, Manz Verlag 2003, S. 171 ff.
38. Verbot der Präimplantationsdiagnostik? – Zur Frage der rechtlichen und ethischen Legi-
timation, in: Eckart Klein/Christoph Menke (Hrsg.), Menschenrechte und Bioethik, Ber-
liner Wissenschaftsverlag 2004, S. 111 ff.
39. Willensfreiheit, Handlungsfreiheit und strafrechtliche Schuld, in: Bernd Schünemann/
Marie-Theres Tinnefeld/Roland Wittmann (Hrsg.), Gerechtigkeitswissenschaft. Festgabe
für Lothar Philipps, Berliner Wissenschaftsverlag 2005, S. 411 ff.
40. Aktive Sterbehilfe. Anmerkungen zum Stand der Diskussion und zum Gesetzgebungsvor-
schlag des „Alternativ-Entwurfs Sterbebegleitung“, in: Andreas Hoyer et al. (Hrsg.), Fest-
schrift für Friedrich-Christian Schroeder, C.F. Müller Verlag 2006, S. 297 ff.
41. Nürnberg 1945, Vojni tribunal, in: Bosna Franciscana 25, Sarajevo 2006, S. 90 ff.
1656 Publikationen Reinhard Merkel

42. „Reparaturanstalt für verletzte Normen“: Freier Wille und Strafrecht. Streitgespräch mit
Björn Burckhardt, in: Gehirn & Geist 2006/5, S. 30 ff.
43. Folter und Notwehr, in: Michael Pawlik/Rainer Zaczyk (Hrsg.), Festschrift für Günther
Jakobs, Heymanns Verlag 2007, S. 375 ff.
44. § 14 Absatz 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und warum darf der Staat töten?, in: Juristen-
zeitung 62 (2007), S. 373 ff.
45. Dass., in: Kurt Graulich/Dieter Simon (Hrsg.), Terrorismus und Rechtsstaatlichkeit. Ana-
lysen, Handlungsoptionen, Perspektiven, Akademie Verlag 2007, S. 173 ff.
46. Das Dammbruch-Argument, in: Frank Th. Petermann (Hrsg.), Sicherheitsfragen der Ster-
behilfe, Schriftenreihe Inst. für Rechtswissenschaft, St. Gallen 2008, S. 125 ff.
47. Die Abgrenzung von Handlungs- und Unterlassungsdelikt. Altes, Neues, Ungelöstes, in:
Holm Putzke et al. (Hrsg.) Strafrecht zwischen System und Telos. Festschrift für Rolf D.
Herzberg, Mohr Siebeck 2008, S. 193 ff.
48. Grundrechtsschutz für den menschlichen Embryo?, in: Zeitschrift für Lebensrecht 17
(2008), S. 38 ff.
49. The Law of the Nuremberg Trial, in: Guénael Mettraux (Ed.), Perspectives on the Nurem-
berg Trial, Oxford University Press 2009, S. 555 – 576
50. Willensfreiheit und Schuld, in: Studere. Rechtszeitschrift der Universität Potsdam, 2009
(2), S. 91 ff.
51. Neuartige Eingriffe ins menschliche Gehirn – Verbesserung der mentalen condicio humana
und strafrechtliche Grenzen, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 121
(2009), S. 919 ff.
52. Der Schwangerschaftsabbruch, in: Claus Roxin/Ulrich Schroth (Hrsg.), Medizinstrafrecht,
Boorberg Verlag, 2000; 4. Aufl. 2010, S. 295 ff.
53. An den Grenzen von Medizin, Ethik und Strafrecht: Die chirurgische Trennung sogenann-
ter siamesischer Zwillinge, in: Claus Roxin/Ulrich Schroth (Hrsg.), Medizinstrafrecht,
Boorberg Verlag Stuttgart-München, 2000, S. 137 ff.; 4. Aufl. 2010, S. 603 ff.
54. Über einige vernachlässigte Probleme des Kausalitätsbegriffs im Strafrecht und Ingeborg
Puppes Lehren dazu, in: Hans-Ulrich Paeffgen et al. (Hrsg.), Strafrechtswissenschaft als
Analyse und Konstruktion. Festschrift für Ingeborg Puppe, Duncker und Humblot 2011,
S. 151 ff.
55. Novedosas intervenciones del cerebro. Mejora de la condición humana mental y límites en
el Derecho Penal, in: Revista de Derecho Penal (Buenos Aires), 2011 – 1, S. 41 ff. (spani-
sche Übersetzung von 51)
56. Die Intervention der NATO in Libyen. Völkerrechtliche und rechtsphilosophische Anmer-
kungen zu einem weltpolitischen Trauerspiel, in: Zeitschrift für Internationale Strafrechts-
dogmatik (www.zis-online.com) 10/2011, 771 ff.
57. Dass. (überarbeitet), in: Claus Kreß (Hrsg.), 10 Jahre Arbeitskreis Völkerstrafrecht. Ge-
burtstagsgaben aus Wissenschaft und Praxis. Kölner Schriften zum Friedenssicherungs-
recht Band 5 2015, S. 153 ff.
Publikationen Reinhard Merkel 1657

58. „L’intervention de l’OTAN en Libye: quels fondements juridiques?“ Website des Institut
de la Démocratie et de la Coopération“, 2011. http://www.idc-europe.org/fr/-Intervention-
de-l-OTAN-en-Libye-:-avait-elle-les-fondements-juridiques
59. Schuld, Charakter und normative Ansprechbarkeit. Zu den Grundlagen der Schuldlehre
Claus Roxins, in: Manfred Heinrich/Christian Jäger et al. (Hrsg.), Strafrecht als Scientia
Universalis. Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag, De Gruyter 2012, Bd. 1,
S. 737 ff.
60. Ne bis in idem in der Europäischen Union – Zum Streit um das „Vollstreckungselement“
(zusammen mit Jörg Scheinfeld), in Lorenz Schulz et al. (Hrsg.), Festschrift für Imme
Roxin, 2012, S. 765 ff.
61. Dass., Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik (ZIS) 2012/5, S. 206 ff.
62. Die NATO-Intervention gegen das Gaddafi-Regime war illegitim. Bundeszentrale für po-
litische Bildung/Internationales: Dossier. http://www.bpb.de/internationales/weltweit/in
nerstaatliche-konflikte/140315/meinung-die-nato-intervention-gegen-das-gaddafi-regime-
war-illegitim
63. Aktive Sterbehilfe – Grundlagen und Grenzen der Legitimation, in: Selbstbestimmung am
Lebensende. Nachdenken über assisitierten Suizid und aktive Sterbehilfe. Heinrich Böll
Stiftung. Schriften zu Wirtschaft und Soziales, Band 10, 2012, S. 27 ff.
64. Die „kollaterale“ Tötung von Zivilisten im Krieg. Rechtsethische Grundlagen und Grenzen
einer prekären Erlaubnis des humanitären Völkerrechts, in: Ulrich Bielefeld/Heinz Bude/
Bernd Greiner (Hrsg.), Gesellschaft-Gewalt-Vertrauen. Jan Philipp Reemtsma zum
60. Geburtstag, Hamburger Edition 2012, S. 204 ff.
65. Dass. (überarbeitet und erweitert) in: Juristenzeitung 2012, S. 1137 ff.
66. After Cologne: Male circumcision and the law. Parental right, religious liberty or criminal
assault? (zusammen mit Holm Putzke), in: Journal of Medical Ethics 39, 2013: 444 – 449
67. Crimes against Minds: On Mental Manipulations, Harms and a Human Right to Mental
Self-Determination (zusammen mit Christoph Bublitz), in: Criminal Law and Philosophy
8 (2014), S. 51 ff.
68. Guilty Minds in Washed Brains? Manipulation Cases and the Limits of Neuroscientific
Excuses in Liberal Legal Orders (zusammen mit Christoph Bublitz), in: Nicole Vincent
(Ed.), Neuroscience and Legal Responsibility, Oxford University Press 2013, S. 335 ff.
69. Legitimation der Weltrechtspflege, in: Florian Jeßberger/Julia Geneuss (Hrsg.), Zehn Jahre
Völkerstrafgesetzbuch, Nomos Verlag/Stämpfli Verlag 2013, S. 45 ff.
70. Sind straflose Versuche rechtswidrig?, in: ZIS 2014/11, S. 565 ff.
71. Die „kollaterale“ Tötung von Zivilisten im Krieg, in: Cornelius Prittwitz et al. (Hrsg.), Ra-
tionalität und Empathie. Kriminalwissenschaftliches Symposion für Klaus Lüderssen zum
80. Geburtstag, Nomos Verlag 2014, S. 223 ff.
72. Neuroimaging and Criminal Law, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsre-
form 97 („Neurowissenschaften und Kriminologie“), 2014, S. 365 ff.
73. Neurolaw: Introduction, in: Jens Claussen/Neil Levy (Eds.), Handbook of Neuroethics
Vol. 3, Springer 2015, S. 1269 ff.
1658 Publikationen Reinhard Merkel

74. Neuroimaging and Criminal Law, in: Jens Claussen/Neil Levy (Eds.), Handbook of Neu-
roethics Vol. 3, Springer 2015, S. 1335 ff.
75. Zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Suizidhilfe. Stellungnahme für die öffentliche An-
hörung am 23. September 2015 im Ausschuss des Deutschen Bundestages für Recht und
Verbraucherschutz: https://www.bundestag.de/blob/388404/ad20696aca7464874f
d19e2dd93933c1/merkel-data.pdf
76. Setzt rechtliche Schuld die Freiheit des Willens voraus?, in: Ulrich Lüke/Georg Souvignier
(Hrsg.), Schuld – Überholte Kategorie oder menschliches Existential? Interdisziplinäre
Annäherungen. Herder 2015, S. 125 ff.
77. Grundlagenprobleme der „Leitprinzipien“ und der „Motivgeneralklausel“ des Mordtatbe-
stands. Ein Beitrag zur aktuellen Reformdiskussion, in: ZIS (Zeitschrift für Internationale
Strafrechtsdogmatik) 2015/9, S. 429 ff.
78. Willensfreiheit, Schuld und Strafe – Zusammenhänge, Grundlagen, Grenzen, in: Nahlah
Saimeh (Hrsg.), Abwege und Extreme. Herausforderungen der Forensischen Psychiatrie.
Medizinisch-Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2017, S. 167 ff.
79. Dass. In: Friedhelm Schmidt-Quernheim/Thomas Hax-Schoppenhorst (Hrsg.), Praxisbuch
Forensische Psychiatrie. Behandlung und ambulante Nachsorge im Maßregelvollzug,
Hogrefe, 3. Aufl. 2018, S. 77 ff.
80. Kopftransplantation, in: Frank Saliger (Hrsg.), Rechtsstaatliches Strafrecht. Festschrift für
Ulfrid Neumann zum 70. Geburtstag, C.F. Müller 2017, S. 1133 ff.
81. Anm. zu BVerwG, Urteil vom 3. 2. 2017, in: Medizinrecht 35 (2017), S. 828 ff.
82. Tödliche Gewalt gegen sich selbst. Editorial, in: Neue Juristische Wochenschrift 2018/9,
S. 3
83. Sterbensnot und Menschenwürde: ein wegweisendes Urteil des BVerwG. Editorial, in: Ju-
ristische Arbeitsblätter 2018/5, S. I
84. Stellungnahme für die öffentliche Anhörung zu § 219a Strafgesetzbuch am 27. Juni 2018
im Ausschuss des Deutschen Bundestages für Recht und Verbraucherschutz, https://www.
bundestag.de/blob/561798/6f95f886b06018ab273eeef86c6d7400/merkel-data.pdf
85. § 219a StGB – Zur notwendigen Korrektur eines kriminalpolitischen Irrwegs, in: Zeit-
schrift für Lebensrecht 27/3, 2018, S. 114 ff.
86. Stellungnahme für die öffentliche Anhörung im Ausschuss des Deutschen Bundestages für
Recht und Verbraucherschutz am 18. Februar 2019 zu dem „Entwurf eines Gesetzes zur
Verbesserung der Information über einen Schwangerschaftsabbruch“, in: Neumann/Czer-
mak/Merkel/Putzke (Hg.), Aktuelle Entwicklungen im Weltanschauungsrecht, Nomos
Verlag 2019, S. 345 ff.
87. Feindstrafrecht. Zur kritischen Rekonstruktion eines produktiven Störenfrieds in der Be-
griffswelt des Strafrechts, in: Urs Kindhäuser/Claus Kreß/Michael Pawlik/Carl-Friedrich
Stuckenberg (Hrsg.), Strafrecht und Gesellschaft. Ein kritischer Kommentar zum Werk
von Günther Jakobs, Mohr Siebeck 2019, S. 327 ff.
88. Anmerkungen zur Theorie der Handlung im Straftatmodell Urs Kindhäusers, in: Martin
Böse et al. (Hrsg.), Festschrift für Urs Kindhäuser zum 70. Geburtstag, Nomos Verlag
2019, S. 271 ff.
Publikationen Reinhard Merkel 1659

89. Stellungnahme für die öffentliche Anhörung im Gesundheitsausschuss des Deutschen


Bundestages am 20. Februar 2019 zu dem Antrag der FDP-Fraktion „Rechtssicherheit
für schwer und unheilbar Erkrankte in einer extremen Notlage schaffen!“, in: Neu-
mann/Czermak/Merkel/Putzke (Hg.), Aktuelle Entwicklungen im Weltanschauungsrecht,
Nomos Verlag 2019, S. 197 ff.
90. Die Rolle des Strafrechts in der (künftigen) Gesellschaft, in: Elisa Hoven/Michael Kubiciel
(Hrsg.), Symposion für Thomas Weigend zum 70. Geburtstag (im Erscheinen, 2020)
91. Rache – Vergeltung – Strafe. Zur Genealogie eines Grundbegriffs der Rechtslehre. Leopol-
dina-Vorlesung anlässlich der Feier zur Übergabe der Urkunden an die neuen Mitglieder
der Klasse IV (im Erscheinen, 2020)
92. [Beitrag zur eigenen Person], in: Eric Hilgendorf (Hrsg.), Die deutschsprachige Straf-
rechtswissenschaft in Selbstdarstellungen, de Gruyter (erscheint 2021)

2. Aufsätze zur Philosophie, Rechtsphilosophie,


Bioethik und Neuroethik
1. „Geistige Landschaft mit vereinzelter Figur im Vordergrund“: Ludwig Wittgenstein, in:
Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken 38 (428), 1984, S. 659 ff.
2. Karl Kraus, in: J. Jung (Hrsg.), Österreichische Porträts, Bd. 2, Salzburg 1985, S. 158 ff.
3. „Die Welt im Wort erschaffen“ – Karl Kraus als Sprachdenker, in: P. Berner/E. Brix/
W. Mantl (Hg.), Wien um 1900, Wien-München 1986, S. 127 ff.
4. „I’ll teach you differences“: Georg Henrik von Wrights Wittgenstein-Essays, in: Merkur
41 (461), 1987, S. 609 ff.
5. Amerikanische Philosophie, in: Merkur 41 (465), 1987, S. 965 ff.
6. „Denk nicht, sondern schau!“ Lichtenberg und Wittgenstein, in: Merkur 42 (467), 1988,
S. 27 ff.
7. „Du wirst am Ende verstanden werden“ – Zum 100. Geburtstag Ludwig Wittgensteins, in:
A.A. Scholl (Hrsg.), Zwischen gestern und morgen. Ein Lesebuch, München 1990,
S. 108 ff.
8. Der Streit um Leben und Tod, in: Till Bastian (Hrsg.), Denken, Schreiben, Töten. Zur
neuen Euthanasie-Diskussion, Stuttgart 1990, S. 182 ff.
9. Dass., wiederabgedruckt in: Christoph Anstötz/Rainer Hegselmann/Hartmut Kliemt
(Hrsg.), Peter Singer in Deutschland. Zur Gefährdung der Diskussionsfreiheit in der Wis-
senschaft, Lang Verlag Frankfurt/M. 1995, S. 195 ff.
10. Der Streit um Leben und Tod. Anmerkungen zur Euthanasiedebatte, in: Merkur 47 (536),
1993, S. 951 ff.
11. Ärztliche Entscheidungsprobleme zwischen Leben und Tod. Anmerkungen zur Debatte
über Euthanasie in Deutschland, in: H. J. Sandkühler (Hrsg.), Freiheit, Verantwortung
und Folgen in der Wissenschaft, Frankfurt/M, 1994
12. Ärztliche Entscheidungen über Leben und Tod in der Perinatalmedizin, in: Aufklärung und
Kritik, 2 (1995), Sonderheft, S. 49 ff.
1660 Publikationen Reinhard Merkel

13. Not Compassion Alone. On Euthanasia and Ethics. Gespräch mit Marion Gräfin Dönhoff
und Hans Jonas, in: The Legacy of Hans Jonas, Hastings Center Report, Vol. 25/7, 1995,
Spec. Issue ,The Legacy of Hans Jonas‘, S. 44 – 50
14. „Lauter leidige Tröster“? Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“ und die Idee eines Völ-
kerstrafgerichtshofs, in: Reinhard Merkel/Roland Wittmann (Hrsg.), „Zum ewigen Frie-
den“ – Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant, Suhrkamp
Verlag Frankfurt/M. 1996, S. 309 ff.
15. Nürnberg 1945, Militärtribunal, in: Merkur 50 (570/571), 1996, S. 918 ff.
16. Verbrauchende Embryonenforschung? Grundlagen einer Ethik der Präimplantationsdia-
gnostik und der Forschung an embryonalen Stammzellen, in: Reinold Schmücker/Ulrich
Steinvorth (Hrsg.), Gerechtigkeit und Politik, Akademie Verlag, 2001, S. 151 ff.
17. Rechte für Embryonen?, in: Christian Geyer (Hg.), Biopolitik, Suhrkamp Verlag 2001,
S. 51 f. (Nachdruck aus: Die Zeit, Nr. 5, 25. 1. 2001, S. 37 f.)
18. Das deutsche Embryonenschutzgesetz ist erbarmungslos, in: Das Magazin. Wissenschafts-
zentrum Nordrhein-Westfalen, 2001/12, S. 20 ff.
19. Verbrauchende Embryonenforschung? – Ethische Grundlagen, in: Theo Steiner (Hrsg.),
Genpool. Biopolitik und Körperutopien, Passagen Verlag 2002, S. 290 ff.
20. Humanitäre Intervention?, in: Demokratie und Menschenrechte. Bremer Universitätsge-
spräche 2002, 2003, S. 63 ff.
21. Können Menschenrechtsverletzungen militärische Interventionen rechtfertigen? Rechts-
ethische Grundlagen und Grenzen der „humanitären Intervention“, in: Gerhard Beester-
möller (Hrsg.), Die humanitäre Intervention – Imperativ der Menschenrechte?, Kohlham-
mer 2003, S. 29 ff.
22. Contra Speziesargument: Zum normativen Status des Embryos und zum Schutz der Ethik
gegen ihre biologistische Degradierung, in: Gregor Damschen/Dieter Schönecker (Hg.),
Der moralische Status menschlicher Embryonen, de Gruyter Verlag 2003, S. 35 ff.
23. Amerikas Recht auf die Welt, in: Dieter S. Lutz/Hans J. Gießmann (Hrsg.), Die Stärke des
Rechts gegen das Recht des Stärkeren, Nomos Verlag 2003, S. 37 ff.
24. Was Amerika aufs Spiel setzt. Ein Präventivkrieg mag der Logik imperialer Macht entspre-
chen, aber er untergräbt das Rechtsbewusstsein Menschheit, Kai Ambos/Jörg Arnold
(Hrsg.), Der Irak-Krieg und das Völkerrecht, Nomos Verlag 2004, S. 26 ff.
25. Verletzungsverbot oder Menschenwürde? Streitgespräch mit Ludger Honnefelder, in: In-
formation Philosophie, 2003 (2), S. 118 ff.
26. Können Menschenrechtsverletzungen militärische Interventionen rechtfertigen?, in:
Georg Meggle (Hrsg.), Humanitäre Interventionsethik, Mentis 2004, S. 107 ff.
27. Zur Frage der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen, in: Ethik in der Medizin 16
(2004), S. 298 ff.
28. Fremdnützige klinische Forschung an Einwilligungsunfähigen – Rechtsethische Grundla-
gen, in: Gerd Brudermüller u. a. (Hrsg.), Forschung am Menschen, Königshausen & Neu-
mann 2005, S. 137 ff.
Publikationen Reinhard Merkel 1661

29. Sondervotum zum Problem Patientenverfügung, in: Enquete-Kommission des Deutschen


Bundestags „Ethik und Recht der modernen Medizin“, Zwischenbericht Patientenverfü-
gung, BT-Drucksache 15/3700 (13. 9. 2004), S. 66 – 70
30. Sondervoten I und II zur Lebendspende von Organen, in: Enquete-Kommission des Deut-
schen Bundestags „Ethik und Recht der modernen Medizin“, Zwischenbericht Organle-
bendspende, BT-Drucksache 15/5050 (17. 3. 2005), S. 78 – 87
31. Grundrechte für frühe Embryonen? Normative Grundlagen der Präimplantationsdiagnos-
tik und der Forschung an embryonalen Stammzellen, in: Matthias Kaufmann/Lukas Sosoe
(Hrsg.), Gattungsethik – Schutz für das Menschengeschlecht?, Peter Lang Verlag 2005,
S. 375 ff.
32. Humanitarian Intervention? Juridico-ethical foundations of and limits to military violence
for the enforcement of human rights, in: Oliver Jütersonke/Peter Schaber (Eds.), Justifying
the Use of Force, Programme for Strategic and International Security Studies, Zürich 2005,
S. 55 – 82
33. Verbrauchende Embryonenforschung? Verfassungsrechtliche und ethische Grundlagen
und Grenzen, in: Konrad Paul Liessmann (Hrsg.), Der Wert des Menschen. Philosophicum
Lech, Bd. 9, Zsolnay Verlag 2006, S. 188 ff.
34. Kommentar zu „Schön warm zudecken …“ in: Ethik in der Medizin 18 (2006), S. 256 ff.
35. Innovations in neuroscience: prospects and perils (zusammen mit Th. Galert), in: Poiesis &
Praxis 4 (2006), S. 77 ff.
36. Handlungsfreiheit, Willensfreiheit und strafrechtliche Schuld, in: Helmut Fink/Rainer Ro-
senzweig (Hrsg.), Freier Wille – frommer Wunsch? Gehirn und Willensfreiheit, Mentis
2006, S. 135 ff.
37. Dass. (überarbeitet), in: Konrad-Paul Liessmann (Hrsg.), Die Freiheit des Denkens, Phi-
losophicum Lech, Bd. 10, Zsolnay Verlag 2007, S. 68 ff.
38. Handlungsfreiheit, Willensfreiheit und rechtliche Schuld (neu bearbeitet) in: Adrian Hol-
deregger et al. (Hrsg.), Hirnforschung und Menschenbild, Academic Press Fribourg/
Schwabe 2007, S. 317 ff.
39. Das „Strudlhof“-Symposion: Konsensus-Statement „Bedingungen spezieller pränataler
genetischer Diagnostik“, in: Ethik in der Medizin 19 (2007), S. 221 ff.
40. Dass. in: Speculum. Zeitschrift für Geburtshilfe, Frauenheilkunde, Strahlen-Heilkunde,
Forschung 25 (2007), S. 20 ff.
41. Gutachten für die Anhörung am 9. Mai 2007 vor demAusschuss für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestags zum Thema „Stammzellfor-
schung“, in: Drucksachen des Deutschen Bundestags/Ausschüsse, A-Drs. 16(18)193o
(2007), S. 1 – 20
42. Legal-Ethical Principles as a Tool for Normative Analysis in Neuromodulation, in: Pro-
ceedings of the Fourth Meeting of the Benelux Neuromodulation Society: Ethical and
Legal Aspects of Neuromodulation. On the Road to Guidelines, in: Neuromodulation
10/2 (2007), S. 177 – 178
1662 Publikationen Reinhard Merkel

43. The legal status of the human embryo, in: Robert G. Edwards (Ed.), Ethics, Law and Moral
Philosophy of Reproductive Biomedicine. In: Reproductive BioMedicine Online Vol 14,
Suppl. 1. 2007: 54 – 60
44. Handlungsfreiheit, Willensfreiheit und strafrechtliche Schuld (überarbeitet), in: Ernst-Joa-
chim Lampe/Michael Pauen/Gerhard Roth (Hrsg.), Willensfreiheit und rechtliche Ord-
nung, Suhrkamp Verlag 2008, S. 332 ff.
45. Basic Principles of Law as Normative Foundations of Military Enforcement of Human
Rights Across State Boundaries, in: Democratization, Vol.15/3, 2008, S. 472 – 486
46. Dass. in: Wolfgang Merkel/Sonja Grimm (Eds.), War and Democratization, Routledge
2009, S. 16 – 30
47. Consensus Statement: Science, Ethics and Policy Challenges of Pluripotent Stem Cell-De-
rived Gametes. The Hinxton Group. An International Consortium on Stem Cells, Ethics &
Law, Hinxton (UK) 2008 (Mitverfasser)
48. Konsensus-Statement II: Konsequenzen spezieller pränataler genetischer Diagnostik, in:
Speculum. Zeitschrift für Geburtshilfe, Frauenheilkunde, Strahlen-Heilkunde, Forschung
27 (2009), S. 23 ff.
49. Mind Doping?, in: Nikolaus Knoepffler/Julian Savulescu (Hrsg.), Der neue Mensch? En-
hancement und Genetik, Alber Verlag 2009, S. 177 – 212
50. Autonomy and Authenticity of Enhanced Personality Traits (zusammen mit Christoph Bu-
blitz), in: Bioethics 23/6 2009: S. 360 – 374
51. Memorandum: Das optimierte Gehirn. Chancen und Risiken des Neuroenhancement (zu-
sammen mit Thorsten Galert, Bettina Schöne-Seifert et al.), in: Gehirn & Geist, 2009,
S. 40 ff.
52. Priorisierung im Gesundheitswesen aus rechtlicher und ethischer Sicht, in: Allianz
Deutschland AG (Hrsg.), Priorisierung im Gesundheitswesen, Berlin 2009, S. 16 ff.
53. Der aufgeräumte Horizont, Dienstags. In: L. Giuliani (Hrsg.), Wissenschaftskolleg zu Ber-
lin. Jahrbuch 2008/2009 (2010), S. 143 ff.
54. Das Dammbruch-Argument in der Sterbehilfe-Debatte, in: Bijan Fateh-Moghadam/Ste-
phan Sellmaier/Wilhelm Vossenkuhl (Hrsg.), Grenzen des Paternalismus, Kohlhammer
2010, S. 285 ff.
55. Consensus Statement on Policies and Practices Governing Data and Materials Sharing and
Intellectual Property in Stem Cell Science. The Hinxton Group. An International Consor-
tium on Stem Cells, Ethics & Law, Hinxton (UK)/Atlanta (USA) 2011; zusammen mit
Sarah Cha/Ruth Faden/John Harris et al.
56. Misuse of the FDA’s Humanitarian Device Exemption in Deep Brain Stimulation for Ob-
sessive Compulsive Disorder, zusammen mit Joseph Fins/Helen Mayberg et al., in: Health
Affairs 30/2 2011: S. 302 – 311
57. Ethical guidance for the management of conflicts of interest for researchers, engineers and
clinicians engaged in the development of therapeutic deep brain stimulation, zusammen
mit Joseph Fins/Thomas Schlaepfer/Helen Mayberg et al., in: Journal of Neural Engineer-
ing 8/3 2011: article id. 033001
Publikationen Reinhard Merkel 1663

58. Das Gehirn auf der Anklagebank. Die Bedeutung der Hirnforschung für Ethik und Recht,
zusammen mit Hans Markowitsch, in: Peter Gruss/Tobias Bonhoeffer (Hrsg.), Zukunft Ge-
hirn, Beck Verlag 2011, S. 224 ff.
59. Dass. (gekürzt), in: Max Planck Forschung. Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-
Gesellschaft, 2.2011, S. 12 ff.
60. Plagiate und Wissenschaft. Ein Dialog, in: Hamburger Rechtsnotizen, 2011/2, S. 126 ff.
61. Rechte für Embryonen?, in: Urban Wiesing (Hrsg.), Ethik in der Medizin, Reclam Verlag,
S. 165 ff.
62. Ist Willensfreiheit eine Voraussetzung strafrechtlicher Schuld?, in: Gerhard Roth/Stefanie
Hubig/Heinz Georg Bamberger (Hrsg.), Schuld und Strafe. Neue Fragen, C.H. Beck Verlag
2012, S. 39 ff.
63. Consensus on guidelines for stereotactic neurosurgery for psychiatric disorders (zusam-
men mit Bart Nuttin/Hemmins Wu/Helen Mayberg et al., in: Journal of Neurology, Neu-
rosurgery & Psychiatry 2013, 85/9: S. 1003 – 1008
64. Nuevas intervenciones en el cerebro. Mejora de la condición mental humana y límites del
Derecho penal, in: Eduardo Demetrio Crespo/Manuel Maroto Calatayut (Hrsg.), Neuro-
ciencias Y Derecho Penal, Edisofer S.L. Madrid & Buenos Aires 2013, 71-103
65. Von Nachbarn, Töchtern und Pistolen. Ein Streitgespräch zur Annexion der Krim (mit Jan
Philipp Reemtsma u. a.), in: Mittelweg 36, 2014/4, S. 89 ff.
66. Ist der Schutz der eigenen Bevölkerung vor einem Anschlag ein legitimes Argument, um
Flüchtlingsrechte einzuschränken?, in: Philosophie Magazin 2016/2 (Dossier „Was tun?
Philosophen zur Flüchtlingskrise“), S. 50
67. Demokratischer Interventionismus? Zwei Modelle einer gescheiterten Idee, in: Polar. Ma-
gazin für Politik, Theorie, Alltag 19, 2015, S. 17 ff.
68. „Freier Wille“ als Bedingung strafrechtlicher Schuldfähigkeit? In: Sebastian Muders et al.
(Hrsg.), Willensfreiheit im Kontext. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Handeln, Men-
tis 2015, S. 109 ff.
69. Neuroenhancement aus normativ-rechtlicher Sicht, in: Spektrum der Wissenschaft. Spezi-
al Biologie, Medizin, Hirnforschung 2015, S. 74 ff.
70. Willensfreiheit und strafrechtliche Schuld, in: Hans-Edwin Friedrich/Michael Ort (Hrsg.),
Recht und Moral. Zur gesellschaftlichen Selbstverständigung über ,Verbrechen‘ vom 17.
bis zum 21. Jahrhundert, Duncker & Humblot 2015, S. 57 ff.
71. Dass., in: Recht und Gerechtigkeit bei Fjodor Dostojewskij. Jahrbuch der Deutschen
Dostojewskij-Gesellschaft Bd. 24, Lang 2017, S. 41 ff.
72. Killing or letting die? Proposal of a (somewhat) new answer to a perennial question, in:
Journal of Medical Ethics 42 2016: 353-360
73. Das Ende der Autonomie? Streitgespräch mit Harald Welzer, in: Philosophie Magazin
2016/3, S. 26 ff.
74. Genchirurgie am menschlichen Embryo? – Pro, in: Deutsches Ärzteblatt 113/33 – 34,
2016, A 1478
1664 Publikationen Reinhard Merkel

75. Ist ein freier Wille Bedingung strafrechtlicher Schuld?, in: Heiner Hastedt (Hrsg.), Macht
und Reflexion. Deutsches Jahrbuch Philosophie Bd. 6, Felix Meiner Verlag 2016, S. 285 ff.
76. Neurowissenschaften und Recht, in: Winfried Hassemer/Ulfrid Neumann/Frank Saliger
(Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 9. Aufl.
2016, C.F. Müller, S. 401 ff.
77. Der Hass des echten Satirikers, in: Dietmar Goltschnigg (Hrsg.), Karl Kraus im Urteil li-
terarischer und publizistischer Kritik, Bd. II: 1945 – 2016, Erich Schmidt Verlag 2017,
S. 475 ff.
78. Being open-minded about neuromodulation trials: Finding success in our ,failures‘ (zu-
sammen mit Joseph Fins/Helen Mayberg et al.), in: Brain Stimulation 10/2 2017:181 – 186
79. Der Hirntod ist der vernünftigste Begriff für den Tod des Menschen, in: Frauke Josuweit/
Joachim Pothmann (Hrsg.), Zwischen Leben und Tod. Grundlegende Aspekte der Organ-
spende, 2017, S. 11 ff.
80. Demokratischer Interventionismus? In: Jochen Bung/Armin Engländer (Hrsg.), Souverä-
nität, Transstaatlichkeit und Weltverfassung, ARSP-Beiheft 153, Franz Steiner/Nomos
Verlag 2017, S. 13 ff.
81. Tiefe Hirnstimulation in der Psychiatrie. Zur Weiterentwicklung einer neuen Therapie (zu-
sammen mit Jan C. Joerden/Bettina Schöne-Seifert/Wolf Singer). Nationale Akademie der
Wissenschaften „Leopoldina“, Diskussionspapier Nr. 8, 2017
82. „Das Recht auf Suizid gehört zu unserer Würde“. Interview. In: Philosophie Magazin
(Hrsg.), Gibt es einen guten Tod? Reclam Verlag 2017, S. 23 ff.
83. Zur Zukunft des Olympischen Sports. Eine unzeitgemäße Betrachtung, in: Elisa Hoven/
Michael Kubiciel (Hrsg.), Korruption im Sport, Nomos Verlag 2018, S. 109 ff.
84. Neuroenhancement, Autonomie und das Recht auf mentale Selbstbestimmung, in: Klaus
Viertbauer/Reinhart Kögerler (Hrsg.), Neuroenhancement. Die philosophische Debatte,
Suhrkamp Verlag Berlin 2019, S. 43 ff.
85. Dürfen wir uns genetisch optimieren? – Streitgespräch mit Peter Dabrock, in: Philosophie
Magazin 2019/5, S. 24 ff.
86. Über die Freiheit der Wissenschaften. Festrede zur Verabschiedung Bärbel Friedrichs als
Direktorin des Alfried Krupp Wissenschaftskollegs Greifswald (im Erscheinen, 2020)
87. Wissenschaftsfreiheit und Wissenschaftsverantwortung. Festrede zur Jahresversammlung
2019 der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina (im Erscheinen in: Nova
Acta Leopoldina. Neue Folge, 2020)
88. Humans, Cyborgs, Humanoid Robots: Challenges for Autonomy and Responsibility, in:
Anne Siegetsleitner, Andreas Oberprantacher, Marie-Luisa Frick (Hrsg.), Crisis and Cri-
tique: Philosophical Analysis and Current Events. 42nd International Wittgenstein Sym-
posium 2019 (im Erscheinen 2020)
89. Freiheit, Mut, Klarheit des Denkens: Laudatio auf Georg Meggle zum 75. Geburtstag; (in:
Christoph Fehige/Ulla Wessels u. a. (Hrsg.), Symposion für Georg Meggle zum 75. Ge-
burtstag, im Erscheinen, Mentis Verlag, 2020)
Publikationen Reinhard Merkel 1665

III. Wissenschaftliche Artikel und Aufsätze in Zeitungen


(Auswahl)
1. Ist Hacking strafbar? Unscharfe Grenzen der Computerkriminalität, in: Die Zeit Nr. 11,
1989, S. 7
2. Der Katzenkönig vom Möhnesee. Über einen Strafrechtsfall, in: Die Zeit Nr. 39, 1988,
S. 11 ff.
3. „Schon faul!“ – Heidegger und der Nationalsozialismus, in: Die Zeit Nr. 13, 1989, S. 72
4. „Du wirst am Ende verstanden werden“. Fünfhundert unbekannte Briefe an den Philoso-
phen Ludwig Wittgenstein sind in Wien entdeckt worden, in: Die Zeit Nr. 18, 1989,
S. 13 ff.
5. Der Streit um Leben und Tod – Zur Diskussion über Euthanasie, in: Die Zeit Nr. 26, 1989,
S. 13 ff.
6. Mitleid allein begründet keine Ethik. Gespräch mit dem Moralphilosophen Hans Jonas, in:
Die Zeit Nr. 35, 1989, S. 9 ff.
7. Dass, wieder abgedruckt in Hans Jonas, Dem bösen Ende näher, Frankfurt/M. 1993,
S. 59 ff.
8. Das Klappen der Schere des Haarschneiders. Zu den Versuchen eines neuen Blicks auf den
Philosophen Ludwig Wittgenstein, in: Die Zeit Nr. 36, 1989, S. 45
9. Die Placebo Paragraphen – Wie wirksam können Umweltschutzgesetze tatsächlich sein?,
in: Die Zeit Nr. 43, 1989, S. 66
10. Die Schmerzgrenze der Reform – Zur Frage der deutschen Hochschulreform nach Krite-
rien des Wettbewerbs, in: Die Zeit Nr. 49, 1989, S. 79
11. Wahnbild Nation – Philosophiegeschichtliche Bemerkungen über „Nation“, „Nationalge-
fühl“, „Nationalismus“, in: Die Zeit Nr. 11, 1990, S. 52
12. Dass, wieder abgedruckt in: Erwachsenenbildung in Österreich, Heft 2, 1990, S. 13 ff.
13. Schnürbrüste überall! Oder: Was Aufklärung ist. Über Georg Christoph Lichtenberg, Dan-
krede zur Verleihung des Jean-Amery-Preises für Essayistik, in: Die Zeit Nr. 46, 1991,
S. 71
14. Erich Honecker gehört nicht vor das Berliner Landgericht. Strafrecht und Regierungskri-
minalität, in: Die Zeit Nr. 36, 1992, S. 52
15. Dass., wieder abgedruckt in: Nomoi, Zeitschrift der Fachschaft Jura, Universität Würz-
burg, 2. Jgg, 1992, S. 22 ff.
16. Wozu der Lärm? Der Fall des sog. „Erlanger Babys“, in: Die Zeit Nr. 45, 1992, S. 19
17. Dass., als „Föten im Flugsand“ wieder abgedruckt in: ZEIT-Punkte 1995/2, hg. von Theo
Sommer, S. 26 f.
18. Was ist das Recht? Über: Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, in: Die Zeit Nr. 7,
1993, S. 57
19. Die Barbarei vor dem Weltgericht – Das Straftribunal der Vereinten Nationen in Den Haag
wäre ohne den Nürnberger Gerichtshof undenkbar, in: Die Zeit Nr. 47, 1995, S. 48
1666 Publikationen Reinhard Merkel

20. Die Fürsorge maskiert den Egoismus.– Zur Debatte über die Klonierung von Menschen;
Erwiderung auf Jürgen Habermas, in: Die Zeit Nr. 11, 1998, S. 37 f.
21. Das Elend der Beschützten. Über die Frage der Legitimität des Krieges im Kosovo, in: Die
Zeit Nr. 20, 12.5.99, S. 10
22. Rechte für Embryonen? Die Menschenwürde lässt sich nicht allein auf die biologische Zu-
gehörigkeit zur Menschheit gründen. Eine Antwort auf Robert Spaemann, in: Die Zeit
Nr. 5, 2001, S. 37 f.
23. Die Abtreibungsfalle. Es gibt in Deutschland keinen grundrechtlichen Schutz für den Em-
bryo. Das zeigt nicht die Verfassung, sondern das Abtreibungsrecht, in: Die Zeit Nr. 25,
13. 6. 2001, S. 42
24. Amerikas Recht auf die Welt – Verstößt ein Angriff auf den Irak gegen das Völkerrecht?,
in: Die Zeit Nr. 41, 2. 10. 2002, S. 37 f.
25. Was Amerika aufs Spiel setzt. Ein Präventivkrieg mag der Logik imperialer Macht entspre-
chen, aber er untergräbt das Rechtsbewusstsein der Menschheit, in: Die Zeit Nr. 12, 2003,
S. 41
26. Dass. (übersetzt unter dem Titel „Lo que arriesgan los Estados Unidos“) in: El Pais (Uru-
guay), 5. April 2003
27. Dass., in: Volker Ullrich/Felix Rudloff (Hg.), Fischer Weltalmanach: Pulverfass Irak
(2004), 55 ff.
28. Wenn der Staat Unschuldige opfert. Zu § 14 Abs. 3 des neuen Luftsicherheitsgesetzes, in:
Die Zeit Nr. 29, 8. 7. 2004, S. 41 f.
29. Der Staat darf nicht zum Leben nötigen. Zur Debatte um die aktive Sterbehilfe, in: Die Zeit
Nr. 47, 17. 11. 2005
30. Folter als Notwehr, in: Die Zeit Nr. 11, 6. 3. 2008, S. 46
31. Die Schuld des Oberst. Der Fall Kundus, in: Die Zeit Nr. 4, 21. 1. 2010, S. 11
32. Lebensrecht und Gentest schließen sich aus. Das Urteil, mit dem der Bundesgerichtshof die
Präimplantationsdiagnostik erlaubt hat, ist juristisch falsch, aber moralisch richtig. Jetzt
muss der Gesetzgeber endlich ehrlich werden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 3. Au-
gust 2010, S. 30
33. Die Militärintervention gegen Gaddafi ist illegitim, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung
22. März 2011, S. 31
34. Und nächste Woche Bomben auf Damaskus? Die Intervention in Libyen schafft falsche
Erwartungen, desavouiert die UN und beschädigt das Völkerrecht, in: Die Zeit Nr. 14,
31. März 2011, S. 15
35. Der illegitime Triumph. Warum die Nato-Intervention in Libyen Grundlagen des Völker-
rechts beschädigt, in: Die Zeit Nr. 37, 8. Sept. 2011, S. 60
36. Monstrum und Beute. Völkermord und seine Leugnung, in: Frankfurter Allgemeine Zei-
tung 26. Januar 2012, S. 8
37. Die Haut eines Anderen. (Zur frühkindlichen Beschneidung von Knaben), in Süddeutsche
Zeitung 25. August 2012, S. 12
Publikationen Reinhard Merkel 1667

38. Minima Moralia. (Zur frühkindlichen Beschneidung von Knaben), in: Frankfurter Allge-
meine Zeitung 26. November 2012, S. 8
39. Der Westen ist schuldig. Wie hoch darf der Preis für eine demokratische Revolution sein?
In Syrien sind Europa und die Vereinigten Staaten die Brandstifter einer Katastrophe, in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung 1. Aug. 2013, S. 28
40. Die kühle Ironie der Geschichte. Russland hat das Völkerrecht gebrochen. Aber man sollte
die Kirche im Dorf lassen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 8. April 2014, S. 13
41. Ein frommer Wunsch. Was aus dem Kopftuchbeschluss des Bundesverfassungsgerichts
folgt: Die Ausübung der Religionsfreiheit endet an ihrer öffentlichen Missbilligung, in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung 2. April 2015, S. 7
42. Das Leben der anderen – armselig und kurz. Die reichen Staaten sollten sich auf eine an-
dere, gewaltige Flüchtlingsbewegung gefasst machen: die Klimaflüchtlinge, in: Frankfur-
ter Allgemeine Zeitung 22. Sept. 2015, S. 9
43. Wen sollen wir denn da bekriegen? Die Franzosen müssen sich gut überlegen, ob sie jetzt
von einem Krieg gegen den IS sprechen wollen. Sie würde eine Menschheitsplage nobi-
litieren, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 19. Nov. 2015, S. 9
44. Wir können allen helfen. Wie man das Gute will, aber das Böse schafft. Die deutsche
Flüchtlingspolitik ist ein moralisches Desaster, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung
22. Nov. 2017, S. 9
45. Der Staat darf beim Suizid helfen. Die Freiheit, das eigene Sterben zu gestalten, in: Frank-
furter Allgemeine Zeitung 15. Febr. 2018, S. 6
46. Von wegen Selektion. In der Debatte über die nicht-invasive Pränataldiagnostik florieren
irrige Argumente und ein diskreditierender Kampfbegriff, in: Frankfurter Allgemeine Zei-
tung, 26. April 2019, S. 9
47. Wissenschaft: Freiheit und Verantwortung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. No-
vember 2019, S. 6
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Ambos, Kai, Prof. Dr. Dr. h.c., Georg-August-Universität Göttingen
Bayertz, Kurt, Prof. Dr., Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Beck, Susanne, Prof. Dr., Leibniz Universität Hannover
Becker, Christian, Prof. Dr., Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)
Birnbacher, Dieter, Prof. Dr. Dr. h. c., Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Bock, Stefanie, Prof. Dr., Philipps-Universität Marburg
Böse, Martin, Prof. Dr., Universität Bonn
Britz, Guido, Prof. Dr., Abel & Kollegen Rechtsanwälte
Bublitz, Jan Christoph, Dr., Universität Hamburg
Bung, Jochen, Prof. Dr., Universität Hamburg
Demko, Daniela, Prof. Dr., Universität Leipzig
Dorneck, Carina, Dr., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Duttge, Gunnar, Prof. Dr., Georg-August-Universität Göttingen
Engländer, Armin, Prof. Dr., Ludwig-Maximilians-Universität München
Erb, Volker, Prof. Dr., Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Eser, Albin, Prof. Dr. Dr. h.c. mult., Direktor (em.), Max-Planck-Institut für ausländisches und
internationales Strafrecht Freiburg i.Br.
Fahl, Christian, Prof. Dr., Universität Greifswald
Fischer, Thomas, Prof. Dr., Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a.D.
Gaede, Karsten, Prof. Dr., Bucerius Law School Hamburg
Gethmann, Carl Friedrich, Prof. Dr. Dr. h.c., Universität Siegen
Glover, Jonathan, Prof. Dr., King’s College London
Greco, Luís, Prof. Dr., Humboldt-Universität zu Berlin
Grünewald, Anette, Prof. Dr., Friedrich-Schiller-Universität Jena
Gutmann, Thomas, Prof. Dr., Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Haas, Volker, Prof. Dr., Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Harris, John, Professor Dr., Universität Manchester
Heger, Martin, Prof. Dr., Humboldt-Universität zu Berlin
Hein, Martin, Prof. Dr., Bischof i.R., Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck
1670 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Herzberg, Rolf, Dietrich Prof. Dr., Ruhr-Universität Bochum


Hilgendorf, Eric, Prof. Dr. Dr., Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Hillenkamp, Thomas, Prof. Dr. Dr. h.c., Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Höfling, Wolfram, Prof. Dr., Universität zu Köln
Hörnle, Tatjana, Prof. Dr., Direktorin, Max-Planck-Institut für ausländisches und internationa-
les Strafrecht, Freiburg i. Br.
Hoven, Elisa, Prof. Dr., Universität Leipzig
Hoyer, Andreas, Prof. Dr., Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Hufen, Friedhelm, Prof. Dr., Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Jahn, Matthias, Prof. Dr., Goethe-Universität Frankfurt am Main
Jakobs, Günther, Prof. Dr. Dr. h.c. mult., Universität Bonn
Joerden, Jan C., Prof. Dr. Dr. h.c., Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)
Keller, Rainer, Prof. Dr., Universität Hamburg
Kindhäuser, Urs, Prof. Dr. Dr. h.c. mult., Universität Bonn
Knoepffler, Nikolaus, Prof. Dr. mult., Friedrich-Schiller-Universität Jena
Koriath, Heinz, Prof. Dr., Universität des Saarlandes
Kreß, Claus, Prof. Dr. Dr. h.c. Dr. h.c., Universität zu Köln
Kubiciel, Michael, Prof. Dr. Dr. h.c., Universität Augsburg
Kudlich, Hans, Prof. Dr., Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Kuhli, Milan, Prof. Dr. Dr., Universität Hamburg
Leist, Anton, Prof. Dr., Universität Zürich
Levy, Neil, Prof. Dr., Universität Oxford
Magnus, Dorothea, PD Dr., Universität Hamburg
Mahlmann, Matthias, Prof. Dr., Universität Zürich
Mankowski, Peter, Prof. Dr., Universität Hamburg
Meggle, Georg, Prof. Dr., Universität Leipzig
Mitsch, Wolfgang, Prof. Dr., Universität Potsdam
Müller-Dietz, Heinz, Prof. Dr. Dr. h.c., Universität des Saarlandes
Murmann, Uwe, Prof. Dr., Georg-August-Universität Göttingen
Neumann, Jacqueline, Dr., Giordano-Bruno-Stiftung
Neumann, Ulfrid, Prof. Dr. Dres. h.c., Goethe-Universität Frankfurt am Main
Nida-Rümelin, Julian, Prof. Dr. Dr. h.c., Staatsminister a.D., Ludwig-Maximilians-Universität
München
Nordmann, Alfred, Prof. Dr., Technische Universität Darmstadt
Pauen, Michael, Prof. Dr., Humboldt-Universität zu Berlin
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 1671

Persson, Ingmar, Prof. Dr., Universität Göteborg


Pfordten, Dietmar von der, Prof. Dr. Dr., Georg-August-Universität Göttingen
Puppe, Ingeborg, Prof. Dr., Universität Bonn
Putzke, Holm, Prof. Dr., Universität Passau
Recki, Birgit, Prof. Dr., Universität Hamburg
Reemtsma, Jan Philipp, Prof. Dr. Dr. h.c., ehem. Direktor des Hamburger Instituts für Sozial-
forschung
Renzikowski, Joachim, Prof. Dr., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Rogall, Klaus, Prof. Dr., Freie Universität Berlin
Rönnau, Thomas, Prof. Dr., Bucerius Law School Hamburg
Rosenau, Henning, Prof. Dr., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Rotsch, Thomas, Prof. Dr., Justus-Liebig-Universität Gießen
Roxin, Claus, Prof. Dr. Dr. h.c. mult., Ludwig-Maximilians-Universität München
Saliger, Frank, Prof. Dr., Ludwig-Maximilians-Universität München
Savulescu, Julian, Prof. Dr., Universität Oxford
Scheichl, Sigurd Paul, Prof. Dr., Universität Innsbruck
Scheinfeld, Jörg, Prof. Dr., Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Schlehofer, Horst, Prof. Dr., Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Schöne-Seifert, Bettina, Prof. Dr., Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Schramme, Thomas, Prof. Dr., Universität Liverpool
Schroth, Ulrich, Prof. Dr., Ludwig-Maximilians-Universität München
Schulz, Lorenz, Prof. Dr., Goethe-Universität Frankfurt am Main
Schünemann, Bernd, Prof. Dr. Dr. h.c. mult., Ludwig-Maximilians-Universität München
Seelmann, Kurt, Prof. Dr. Dr. h.c., Universität Basel
Seher, Gerhard, Prof. Dr., Freie Universität Berlin
Simmert, Sebastian, Dr., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Singer, Peter, Prof. Dr., Princeton-Universität
Sowada, Christoph, Prof. Dr., Universität Greifswald
Steinvorth, Ulrich, Prof. Dr., Universität Hamburg
Sternberg-Lieben, Detlev, Prof. Dr., Technische Universität Dresden
Stier, Marco, PD Dr., Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Stoecker, Ralf, Prof. Dr., Universität Bielefeld
Stuckenberg, Carl-Friedrich, Prof. Dr., Universität Bonn
Walde, Bettina, PD Dr., Ludwig-Maximilians-Universität München
Walter, Tonio, Prof. Dr., Universität Regensburg
1672 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Weigend, Thomas, Prof. Dr., Universität zu Köln


Wohlers, Wolfgang, Prof. Dr., Universität Basel
Wolters, Gereon, Prof. Dr., Ruhr-Universität Bochum
Zabel, Benno, Prof. Dr., Universität Bonn
Zanetti, Véronique, Prof. Dr., Universität Bielefeld
Ziemann, Sascha, Prof. Dr., Universität Hannover
Zimmermann, Till, Prof. Dr., Universität Trier

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